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HAROLD R LEE LIYMAR
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PROVO, UTAN
Digitized by the Internet Archive
in 2011 with funding from
Brigham Young University
http://www.archive.org/details/dieelenden00hugo
Die Elenden
VICTOR AE O
Die Élenden
Mit 3eitgenoffifhen Abbildungen
von
INIETOR HUGO, DELACROTZ,
BANEARD,BRION, JEANNIOT,
CAZIN
oO EP rm — —
Karl Doegels Verlag ©. m. 6. D. - Berlin
In neuer Überfegung und mit Dormort von
Edmund Th. Rauer
1.—10, Zaufend
Koppright bn Karl Doegels Berlag G. m. b. 9.
Berlin O 27
Drud: Offizin Ludwig Braun, Leipzig
ls N Niserable:
Vorbemerkung
Wenn wir Victor Hugos „Epos in Romanform“, Die Elen-
den, dem deutſchen Publifum des 20. Jahrhunderts in der vor-
\ Tiegenden Geftalt barbieten, fo fol es nicht gefchehen, ohne über
die Art der Überfesung einiges Drinsipielle vorauszuſchicken.
Die Literaturentwiclung der legten 50 Jahre ftand im Zei-
chen des Pſychologismus. Eine neue Unbekannte wurde in die
Gleichung gezogen, ein modernes, febr bürgerlihes X: bie
\ Einzelfeele, der Mifrofosmos. Hiftorifer werden vielleicht der-
einft das Schrifttum unferer Zeit gering achten, unfere Jahr—
zehnte zu den literarifch unfruchtbaren zählen; gewiß aber wer-
den fie nicht abftreiten dürfen, daß wir die Typologie des
Menſchlichen unerhört bereichert haben.
Eine Folge diefer Entwidlung ift es, daß wir es heute zwar
nicht mit einer Kultur, aber mit einem Naffinement des Leſers
zu tun haben — einem Maffinement, bas fich zuſehends zu einer
Gefahr, einer Bedrohung der Urfprünglichkeit, der fpontanen
Empfänglichkeit auswächft.
Mir „willen Beſcheid“. Wir empfinden die Motivation der
‚Ereigniffe in älteren Literaturwerfen als Iempoverluft. Wir
haben eine neue Ionalität des Geelifhen (die wir vorläufig
‚gerne Atonalität nennen); brauchen Feine Modulationen mehr.
| Sie find, möchten wir fagen, ſchon in unferem Ohr vorausgefeßt.
Unfere Epik ift fprunghaft, balladesf. Der fmarte Epifer der
! Moderne will nichts von der ethifhen Notwendigkeit eines Ab-
| faufs wiſſen; oder er ahnt nichts von ihr. Er weiß — nein
es ift ihm befannt, daß es immer aud anders Eommen fann,
er Éennt nicht nur die Tüde des höchſt zufälligen telephonifchen |
Anrufs, der fünf Sefunden vor Schluß ein Schiefal nach einer |
anderen Richtung abbiegt — er ift fogar verliebt in ihn...
Es ift nicht leicht, der ſolchermaßen gefchulten — |
einen Roman Victor Hugos lesbar zu machen. Sofehr man
fi aud dagegen wehren mag, einen Roman, ein lebendiges
Gebilde, ein architektoniſches Gebäude wie die „Miserables“ |
ad usum Delphini zu redigieren, man wird fit der Mot-
wendigfeit nicht widerfeßen Fünnen, das Werf im weiteren Sinne
des Wortes zu „überſetzen“, Motivationen, die dem modernen |
Lefer felbftverftändlich und ermüdend erfcheinen, Furzerhand zu |
opfern. In der vorliegenden Ausgabe ift, wollen wir fagen, die |
Moute nicht geändert worden — aber wir haben einige Salte- |
ftellen, Mangierbabnbôfe von Anno 1860, vom Fahrplan ge- |
ftrichen.
Die erftaunlihe Anziehungskraft, die Victor Hugo auch auf |
den modernen Leſer ausübt, ift in der Vielgeſtalt feiner litera- |
rifchen Perfönlichfeit begründet. Man kann feine Bücher als |
Iozialfritifhe Studien, als Programmfchriften des — bamals |
revolutionären — Dürgertums und als Kolportage lefen. Die-
fer Mann, der als Noyalift begann und als Demofrat endete,
bat die ganze Skala der politifchen Leidenfchaften durchlaufen, |
bat fi von feiner inbrünftigen Phantafie in alle Gefinnungen
treiben und aus allen Gefinnungen fortloden laflen; und von |
überall bat er etlihe Argumente und reihlihe Sentiments mit-
genommen!
Er ift der Findlihfte Schriftfteller feines — im übrigen fo
furchtbar erwachſenen — Jahrhunderts. |
Er glaubt hundertprogentig an den Helden und feine Mif-
fion, darum werden alle Gläubigen, alle werdenden Mütter, |
alle Optimiften für ihn fein. Oft erfeht er Kenntnis des
Menfhlihen durch DBegeifterungsfähigkeit. Sein Moralismus |
ift vielleicht Flach, weil allzu pofitiv, aber nie peinlich; denn er
bedient fi, in feiner Schwarzweißmanier der Charakterzeich—
nung, des Schwarzen nur, um dem Weißen, das ja wahrhaftig
nicht allein eriftieren kann, Relief zu geben.
Er war, wenn diefes Einzelphänomen für das Ganze ftehen
mag, ein Nepublifaner, der für Mapoleon I. fhwärmte, die
Moyaliften begriff und den dritten Mapoleon nur haßte, weil
dem nichts gelang.
Diefes Liebenswürdige, phantafiebegabte Kind wurde drei-
undadhtzig jahre alt und ftarb hochgeehrt; er war mit Recht
ein Dichter, der feinen Enfeln drei Millionen Franfen vererbte.
Rauer.
Oorwort
Solange es fraft Gefes und Sitte eine foziale Verdammnis
gibt, die inmitten unferer Zivilifation künſtlich Höllen ſchafft
und der göftlihen Vorſehung ein menfchliches Fatum hinzu-
fügt; — folange die drei Probleme des Jahrhunderts, die Ent-
mwürdigung des Mannes dur bas Proletarierdafein, die
Schändung des Weibes durch den Hunger, die Verwahrlofung
des Kindes durch die geiftige Finfternis, in der es gehalten
wird, folange diefe drei Probleme nicht gelöft find; — folange
in gewiflen Lebensbezirfen der foziale Scheintod möglich ift,
oder, von einem noch allgemeineren Gefihtspunft aus betrachtet,
_ folange auf Erden Unwiffenheit und Elend herrfchen, dürften
Bücher wie diefes hier nicht unnüß fein.
Soutevilleboufe, 1862
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Erstes Buch
Lin Öerechter
1. Myriel
Sm Sjahre 1815 war Charles-Francois-Bienvenu Myriel
Bifchof von Digne. Er zählte damals etwa fünfundfiebzig Sabre
und hatte fein Amt feit 1806 inne.
Obwohl diefer Umftand nicht eigentlich zu unferer Erzählung
gehört, ift es vielleicht nicht überflüffig, und wäre e8 aud nur
um der Genauigfeit willen, hier gewiffe Bemerkungen und Ge-
rüchte zu erwähnen, die im Umlauf waren, als er in feiner
Diözefe eintraf. Was von Menfhen gefagt wird, gilt ja in
ihrem Leben, mag es wahr oder falfd fein, ebenfoviel wie ihre
Handlungen. Nun, Myriel war der Sohn eines Rates beim
Parlamentsgeriht zu Air, entftammte alfo dem DBeamtenadel.
Man erzählte, fein Vater babe ihm fein Amt vererben wollen
und babe ihn darum fon mit achtzehn oder zwanzig Jahren
verheiratet, wie dies wohl bei den Deamtenfamilien der Brauch
if. Iroß diefer Heirat hatte Charles Myriel, wie behauptet
wurde, viel von fih reden gemadt. Er war von gefälligem
Äußern, wenn aud von Eleiner Statur, elegant, gefehmeidig,
geiftvoll; der erfte Teil feines Lebens war zur Gänze weltlichen
Dingen und galanten Abenteuern gewidmet.
Da brad die Mevolution aus, die Ereigniffe überftürzten fic,
die DBeamtenfamilien wurden blutig verfolgt, verjagt, außer
Landes getrieben. Charles Myriel wanderte fhon zu Beginn
der Revolution nad Stalien aus. Seine Frau erlag dort einem
Lungenleiden, an dem fie fchon feit jahren Eranfte. Kinder
hatten fie nicf.
15
Was ging damals in Myriel vor? War es der Zufommen-
brud) der alten franzöfifhen Gefellfchaft, der Sturz feiner eige-
nen Familie, waren eg die tragifhen Ereigniffe des Jahres 93,
die den Ausgewanderten in der Fremde nod fchredlicher und
ungeheuerlicher erfcheinen mußten, war es dies, was ihn der
Melt entfremdete und zur Einſamkeit trieb? Oder hatte ibn
inmitten feiner Zerftreuungen und Vergnügungen, die fein Leben
ausfüllten, plößlich einer jener geheimnisvollen Schickſalsſchläge
getroffen, die zuweilen felbft ben Mann ins Herz treffen,
den allgemeine SKataftrophen nicht zu erfehüttern vermochten
— wenn fie auch fein Glück und feine Eriftenz vernichteten?
Niemand hätte diefe Trage zu beantworten gewußt; befannt
war nur, daß er, aus Italien zurüdfehrend, Priefter war.
1804 war er Pfarrer von Brignolles. Er war bereits alt
und führte ein febr zurückgezogenes Leben.
Zur Zeit der Kaiferfrönung führte ibn ein unbedeutendes
Amtsgefhäft feiner Pfarrei — es ift darüber nibts Näheres
befannt — nad Paris. Unter anderen einflußreihen Perſön—
lichkeiten mußte er aud den Kardinal Feſch auffuchen. Eines
Zages alfo, als der Kaifer feinen Onkel befuchte, wartete der
würdige Pfarrherr zufällig gerade im Vorzimmer, und fo traf
es fib, daB er unvermittelt Seiner Mojeftät gegenüberftand.
Napoleon fab, daß der Alte ihn mit einer gewiffen Neugierde
anftarrte, wandte fih um und fragte brügf:
„Ber ift der gute Mann, der mich fo anſieht?“
„Sire,“ erwiderte Myriel, „Sie feben einen guten Mann und
ich einen großen. So fommen wir beide auf unfere Rechnung.”
Am felben Abend fragte der Kaifer den Kardinal nad dem
Namen biejes Pfarrers, und einige Zeit fpäter war Muriel
nicht wenig verwundert zu hören, daß er zum Biſchof von
Digne ernannt worden fet.
Was an allen diefen Gefhichten firenge Wahrheit war,
fonnte niemand angeben, denn nur wenige Familien hatten vor
der Nevolution mit den Myriels in Verbindung geftanden.
Sp mußte Myriel das Schickſal aller teilen, die in einer
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Kleinſtadt neu angefommen find, wo viel gefprochen und wenig
gedacht wird. Er mußte es über fich ergehen laffen, obwohl er
Bifhof war, ja gerade weil er Bifchof war. Aber fchließlih
war alles Gerede, das fid mit ibm befchäftigte, eben nur auf
vage Vermutungen geftüßt — Geſchwätz, leere Worte; Pa-
lower, wie man in der energifchen Sprade des Südens fagt.
Mie dem auch fei, nah neun jahren, die er in Digne zu-
gebracht hatte, war all bas Geſchwätz, bas in Eleinen Städten
zuerft die Eleinen Leute befhäftigte, verftummt, und niemand
wagte e8 mehr aufjurühren.
Muriel war in Begleitung eines alten Fräuleins, Mabe-
moijelle Baptiftine, feiner Schwefter, die zehn Jahre jünger war
als er, nad Digne gekommen. Seine ganze Dienerfhaft beftand
aus einer Magd, desfelben Alters wie Fräulein Baptiftine, Frau
Magloire, die feinerzeit MWirtfchafterin des Pfarrers Muriel
gewefen war und jeßt bas Doppelamt der Rammerfrau Fräu-
lein Baptiftines und der Haushälterin von Monfignore verfab.
Mabemoifelle Daptiftine war eine hochgewachſene, blaffe,
bagere, fanfte Perfon; fie war die DVerförperung alles deflen,
was man ehrbar nennen möchte; denn um auf Ehrfurdt An-
fprud zu erheben, muß eine Srau Mutter fein. Hübſch wor fie
nie gewefen; aber ihr Leben, bas nur in einer langen Weihe
Wwobltätiger Werke beftand, hatte ihr fchließlich eine gewiffe
Meinbeit und Klarheit des Weſens verliehen, die man die
Schönheit der Güte nennen möchte. Wenn fie in ihrer Jugend
mager gemefen war, fo Eonnte man jeßt, in ihrem reiferen
Alter, faft von Durkfichtigkeit fprechen. Sie war eher eine
Seele als ein jungfräulichee Körper; gerade noch genug Leib,
daß man ihr ein Gefchlecht beilegen fonnte — ein Minimum
an Materie, das in Glanz gehüllt fhien. Ihre großen Augen
hatte fie immer zu Boden gerichtet, als fuche ihre Seele einen
Vorwand, nod auf Erden zu verweilen.
Frau Magloire war eine Eleine Alte, blaß, beleibt, ftets ge-
Ihäftig, immer außer Atem, und bas, einmal weil fie zu jeg-
licher Zeit befhäftigt war, dann aber auch infolge ihres Afthmas.
2 Hugo, Die Elenden. 7
As Herr Mvriel eintraf, wurde er im bifôflihen Palais
mit allen Ehren untergebracht, die von den faiferliben De-
freten feftgefeht waren; denn die Staatsweisheit wies den Bi-
Ihöfen den Rang gleich nad den Marfhällen zu. Der Bürger—
meifter und der Präfident machten ihm fofort ihre Aufwartung, er
aber, feinerfeits, befuchte zuerft den General und den Präfekten.
2. Myrielwird Bifhof Bienvenu
Das bifhöflihe Palais in Digne lag neben dem Hofpital.
Es war ein geräumiges, fhônes Gebäude, bas zu Beginn des
vorigen Jahrhunderts von Henri Puget, Doftor der Iheologie
an der Univerfität Paris, Abbe von Simore, feit 1712 Bifchof
von Digne, erbaut worden war. Es machte durchaus den Ein-
brud eines richtigen Herrenfißes. Alles war darin groß angelegt,
die Gemächer des Biſchofs, die Zimmer, der Seftfaal mit den
Mandelgängen, die ihn, zu altflorentinifhen Arkaden aus-
geftaltet, umliefen, und die mit berrlihen Bäumen bepflanzten
Gärten. In dem Speifefaal, einem prächtigen Naum, der im
Erdgefhoß lag und zu den Gärten binausfübrte, hatte Mon-
fignore Puget am 29. Vuli 1714 die hochwürdigen Herren
Charles Brülard de Genlis, den Erzbifhof Prinz d'Embrun,
Antoine de Mefgrigny, Biſchof von Graffe, Philippe de Ven—
döme, Grofprior von Frankreich, Abbe von Saint-Honoré de
Lérins, Francois de Berton de Grillen, Bifhof von Vence,
Céfar de Sabran de Forcalquier, Vifhof von Glancève, Sean
Soanen, Hofprediger und Biſchof von Senez bewirtet. Die
Bildniffe diefer fieben hochwürdigen Herren ſchmückten den
Saal, und das denfwürdige Datum, der 29. Juli 1714, war
mit goldenen Buchſtaben auf einer Marmortafel eingegraben.
Das Hofpital war ein enges, niedriges Gebäude, einftöcig,
mit einem Eleinen Gärtchen.
Drei Tage nad feiner Ankunft befihtigte der Biſchof bas
Hoſpital. Dann lief er den Direftor zu fich bitten.
„Herr Direktor,” fagte er, ‚mit wieviel Kranken ift hr
Spital augenblicklich belegt?’
18
„Wir haben fehsundzwanzig Patienten, Monfignore.‘’
„Soviel babe ih aud gezählt.’
„Bir haben die Betten recht eng aneinander rücen müflen‘‘,
meinte der Direftor.
„Ich babe es bemerkt.‘
„Die Kranfenfäle find nur Fleine Zimmer und fehwer zu
lüften.‘
„Das fheint mir aud fo.‘
„Selten fällt ein Sonnenftrahl in den Garten, und dann ift
zu wenig Plat da, die Kranfen darin unterzubringen.‘
„Das babe ih mir aud geſagt.“
„Wenn Epidemien ausbrehen — wir hatten heuer den
Typhus und vor zwei jahren das Fieber — , zählen wir manch—
mal bis zu hundert Kranfe und wiffen nicht, wo wir fie unter-
bringen ſollen.“
„Dieſer Gedanke ift mir auch gekommen.”
„Was wollen Sie, Monfignore? Man muß fi barein
ſchicken.“
Dieſes Geſpräch fand in dem Speiſeſaal im Erdgeſchoß ſtatt.
Der Biſchof ſchwieg einen Augenblick, dann wandte er ſich
unvermittelt an den Direktor.
„Wieviel Betten könnte man wohl in dieſem Saal unter—
bringen?“
„Im Speiſeſaal des biſchöflichen Palais?“ fragte der Di—
rektor verblüfft.
Der Biſchof überſchaute den Saal und ſchien die Maße zu
überrechnen.
„Man könnte hier ganz gut zwanzig Betten unterſtellen,“
ſagte er leiſe, als ob er mit ſich ſelbſt ſpräche; dann wieder laut:
„Ich will Ihnen etwas ſagen, Herr Direktor. Hier liegt
offenbar ein Irrtum vor. Sie ſind ſechsundzwanzig Leute in
fünf oder ſechs kleinen Zimmern, wir ſind unſer drei und
haben Platz für ſechzig; das kann nur ein Irrtum ſein, finde ich.
Gut, Sie haben mein Haus und ich das Ihre, ſo wird es ſein.
Geben Sie mir mein Haus zurück, dieſes hier gehört Ihnen.“
4 19
Am nähften Tag wurden die ſechsundzwanzig armen Kran-
Éen im bifbôflihen Palais untergebracht und der Biſchof bezog
das Hofpital.
De die Mevolution feine Familie ruiniert hatte, beſaß My—
viel Fein Vermögen. Seine Schwefter bezog eine Mente von
fünfhundert Franken, die, folange fie bei ihrem Bruder wohnte,
für ihre perfünlihen Ausgaben augreichten. Myriel empfing
vom Staat als Bifhof ein Gehalt von fünfzehntaufend Franken.
Un dem Tage, als er das Hofpital bezog, feßte er feft, wie biefe
Summe ein für allemal aufgeteilt werden follte. Wir geben
bier eine von ihm eigenhändig gefchriebene Aufftellung wieder.
. Ausgaben meines Haushaltes:
110.898 Tleine. Seimittar. „li... Au ale a a 1500 Livres
für die Miffionsfongregation . . . . . . . . .. 189702
für die Lazariften von Montdidier . . . . . . . . 10.
für das Seminar der ausmärtigenMiffionenin Paris 200 ,,
für die Kongregation des Heiligen Geiftes . . . . 150 ,,
für die Kirchen im Heiligen Lande . . . . . . . . 100 ne
für die Gefellfhaft zur Dflege der Wöchnerinnen 300 ,,
für die gleihe Gefellfhaft in Arles . . . . . . . 70. 0
Hilfswerk für die Verbefferung der Gefängniffe. 400 ,,
Hilfswerk für entlaffene Sträflinge . . . . . . - >50. 72
für die Befreiung von Samilienvätern aus dem
Gehmldgelangais SAR wi a Le 1000 7%
Unterftüßungsfonds für ſchlechtbezahlte Schul-
SEBter Der ADIDSCIE. à Lee ee > ue 2000 2
für die Getreidefpeicher des Departements Hautes
ES Li ne ne di 100, 1e
Kongregation zu Digne, Manosque und Sifteron
zur Erteilung unentgeltlihen Unterrihts an
Mittellinie) Mädchee rin Li 1500 7
DE SE, UNS 6 ee CR EE 6000 . +
verfontibe Aufwendungen cken era men 1000, >
Summa 15000 Sivres
20
Solange Myriel Bifhof von Digne war, änderte er nichts
an diefer Beftimmung. Das nannte er feinen Haushalt führen.
Sräulein Baptiftine unterwarf fi diefer Anordnung vor-
behaltlog. Für diefe Fromme Frau war Muriel zugleih Bruder
und Difhof, ein Freund, den die Natur ihr beftimmt hatte,
und ein Vorgeſetzter, dem die Kirche fie unterftellte. Sie liebte
und verehrte ibn. Wenn er fyrab, unterwarf fie fih; was er
tat, war wohlgeton. Nur die Haushälterin, Frau Magloire,
murrte ein wenig. Hatte doch der Bifchof, wie der Lefer wohl
bemerft bat, nur faufend Livres fid felbft vorbehalten, was —
mit Fräulein Vayptiftines Rente — fünfzehnhundert Franken
jährlich ausmachte. Damit follten die beiden alten Frauen und
der Greis ihren Lebensunterhalt beftreiten.
Und wenn ein Landpforrer nach Digne Fam, fand der Bifchof
no Mittel und Wege, ibn zu bewirten, danf der Haus—
haltungsfunft Frau Magloires und der gefchieften Wirtſchafts—
führung Fräulein Boptiftines.
Eines Tages, er war damals fon faft drei Monate in
Digne, jagte der Biſchof:
„Mit diefer Summe bin id denn doch ein wenig beengt.“
„Das denfe io wohl auch!“ rief Frau Magloire. „Monſignore
haben ja nicht einmal die Rente in Anfprud genommen, die Ihnen
das Departement für die Koften einer Equipage und Meifefpefen
fbulbet. Früher pflegten die Bifchöfe diefes Geld zu beheben.”
„Allerdings, fagte der Biſchof, „Sie haben recht, Frau
Magloire.!!
Und er forderte feine Rente an.
Der Generalrat prüfte einige Zeit fpäter feine Anſprüche
und bewilligte ibm eine jährlihe Zumendung von dreitaufend
Sranfen unter dem Titel: Gebühren des Herren Biſchofs für
Koften einer Equipage, Poftfohrten und Aufwendungen bei
Meifen in der Diözefe.
Bei der Bürgerſchaft gab es ein großes Gefhrei, und ein
Senator des Kaiferreiche, der ehemals Mitglied des Rats der
FSünfhundert gewefen war, am 18. DBrumaire für Napoleon
21
geftimmt und dafür in der Nähe von Digne ein präcdtiges
Gut gefhentt befommen hatte, fchrieb dem Kultusminifter,
Bigot de Préameneu, einen febr entrüfteten, vertraulichen
‘Brief, dem wir folgendes wörtlid entnehmen:
„Koſten einer Equipage? Wozu eine Equipage in einer Stadt
mit viertaufend Einwohnern? Reiſen in der Diözefe? Wozu
jollen die dienen? Und feit wann reift man in diefem Gebirgsland
mit der DPoftfutfhe? Es gibt ja gar Feine fahrbaren Straßen
hier! Hier reift man zu Pferd. Sogar die Durancebrüde bei
Chäteau-Arnour trägt kaum ein Ochfenfuhrwerf! Aber fo find
dieſe Geiſtlichen — bhabfüchtig und geisig. Der bier bat fi
zuerft als Apoftel aufgefpielt. Sekt macht er e8 wie die anderen,
braucht eine Equipage und eine Poftfutfhe! Will Lurus haben
wie die Bifchöfe von Anno dazumal. Ach, diefes ganze Pfaffen-
pad! Herr Graf, es wird uns nicht beffer gehen, folange der
Kaifer uns diefe Kerle nicht vom Halfe fhafft. Nieder mit
dem Papſt!“ (Man ftand damals fehleht mit Rom.) „Ich für
meinen Teil brauche nur den Kaifer und fonft nichts‘ uſw. ufw.
Dagegen war Frau Magloire febr erfreut.
„But, fagte fie zu Fräulein Baptiftine, „zuerſt bat Monfi-
gnore für die andern geforgt, jeßt denkt er aud an fib. Für
Mohltätigkeit ift genug gefchehen. Diefe dreitaufend Livres blei-
ben für uns. Endlich!”
Am felben Abend ftellte der Bifchof einen neuen Haus—
haltungsfalfül auf und übergab ihn feiner Schwelter.
Koften der Equipage und Meifefpefen:
für Bouillon dem Spital . . . . . . . . : . . . 1500 £ivres
für die Gefellfhaft zur Pflege der Wöchnerinnen
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für die Gefelfchaft zur Pflege der Wöchnerinnen
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Summa 3000 Livres
22
Das war Myriels Budget.
Was die Mebeneinfünfte des Epiffopats betraf, Aufgebote,
Dispenfen, Taufgelder, Predigtgebühren, Einweihungen von
Kirhen und Kapellen, Hochzeiten ufw., fo trieb der Bifchof fie
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von den Reichen um ſo ſtrenger ein, als er ſie insgeſamt den
Armen zuwandte.
Nach einiger Zeit floſſen ihm auch reichliche Hilfsgelder zu.
Beſitzende und Bedürftige klopften an ſeine Tür, um milde
Gaben zu ſpenden oder zu empfangen. Binnen Jahresfriſt war
23
der Bifchof der Schasmeifter der öffentlichen Wohltätigfeit, der
Bankier des Elends. Beträhtlihe Summen floffen durch feine
Hände, aber nichts Eonnte ihn veranlaffen, auch nur im gering-
ften feine Lebenshaltung zu verändern und dem Motwendigften
Überflüffiges hinzuzufügen.
Meit entfernt davon — immer war, da in der menfchlichen
Geſellſchaft mehr Elend als Brüderlichfeit herrſcht, alles bereits
vergeben, bevor e8 eingegangen; e8 war mit dem Gelde wie mit
einem Tropfen, der auf einen heißen Stein fällt. Soviel Myriel
au befam, nie hatte er etwas. Oft beraubte er fich jelbft.
Es ift Sitte, daß die Bifhöfe ihre Taufnamen an die Spike
ihrer Sendſchreiben und Hirtenbriefe feßen; mit einem Inſtinkt
der Dankbarkeit wählten die armen Leute von Digne unter
allen Vornamen ihres Bifhofs den, der ihnen am finnvollften
Ihien und nannten ihn Monfignore Vienvenu — Biſchof Will-
fommen. “Sbm gefiel diefe Benennung.
„Ich babe diefen Namen gern’, fagte er. „Bienvenu Elingt
beffer als Monſignore.“
Wir wollen nicht behaupten, daß bas Bild, bas wir hier ent-
worfen haben, fehr viel Wohrfcheinlichfeit für fih bat; darum
müſſen wir uns darauf befchränfen zu verfichern, daß es wahr-
heitsgetreu tft.
3. Ein guter Sifbof bat es nibt leibt
Obwohl der Biſchof feine Equipage in Almoſen verwandelt
hatte, war er oft amtlich auf Meifen. Und die Diözefe von
Digne ift ein Diftrift, in dem man nicht bequem reift. Es gibt
dort. wenig Ebene und viel Gebirge, überdies faft Feine Straßen,
wie fon erwähnt wurde; und dabei umfaßt fie zweiunddreißig
Pfarreien, einundvierzig Vifariate und zweihundertfünfundacdt-
zig Silialfirhen. Sie alle im Auge zu behalten, ift Feine Kleinig-
feit. Aber der Biſchof bradte es zuftande. Er ging zu Fuß,
wenn fein Ziel in der näheren Nahbarfchaft lag, fuhr in einem
Bauernwägelchen, wenn er auf dem flachen Lande zu tun hatte,
ritt auf einem Maultier ins Gebirge. Oft begleiteten ihn die
24
beiden Frauen. Wenn die Meife zu anftrengend war, blieb er
allein.
Eines Tages ritt er auf einem Efel in Senez, einer alten
Bifhofsftadt, ein. Das Geld war befonders knapp, und fo hatte
er fi Fein anderes Transportmittel leiften Fönnen. Der Bür—
germeifter empfing ihn am Zor des Difchofspalais und maß
ihn, wie er fo von feinem Eſel abftieg, mit empörten Bliden.
Einige Bürgersleute ringsum blieben ftehen und lachten.
„Herr Bürgermeifter,’ fagte der Bifchof, „und Sie, meine
Herren Dürger, id verftehe fon, warum Sie empört find;
Sie finden es unverfhämt, daß ein armer Geiftliher fich des
Meittiers Jeſu Ehrifti bedient. Aber feien Sie verfichert, ich
tat es aus Mot, nicht aus Eitelkeit.”
Auch auf feinen Amtsreifen war er immer geduldig und
nadhfihtig, feine Predigten Flangen eher wie Plaudereien. Bei
den Haaren berbeigezogene Argumente Eonnte er nicht aus-
ftehen.
Sm Geſpräch war er freundlich und heiter. Lachen Éonnte er
wie ein Schuljunge.
Frau Magloire liebte es, ihn ,,bober Herr‘ anzureden. Eines
Zages wollte er ein Bud von einem Megal holen, Éonnte es
aber nicht erreichen, da er von Fleiner Statur war. „Frau Ma-
gloire," rief er, „bringen Sie mir einen Stuhl! Der hohe
Herr reicht nicht bis zu dem Brett da oben.’
Eine entfernte Verwandte, die Gräfin von Lö, ließ ſich fel-
ten eine Gelegenheit entgehen, vor ihm von den „Hoffnungen‘
ihrer drei Söhne zu ſprechen. Sie hatte mehrere Derwandte,
die fdon an der Schwelle des Grabes ftanden, und deren Erbe
ihren Söhnen zufallen follte. Der jüngfte der drei follte von
feiner Großtante bunberttaufend Livres Mente befommen; der
zweite würde fogar den Herzogstitel feines Onfels erben; der
ältefte fchließlih würde in die Dairfhaft feines Großvaterg ein-
treten. Der Bifchof pflegte den unfchuldigen und verzeihlichen
Prablereien einer Liebenden Mutter ſchweigſam zuzuhören. Ein-
mal allerdings war er verfonnener als je, während Madame de
25
Lö fi) wieder in weitfchweifigen Erörterungen all ihrer Soff-
nungen erging. Ungeduldig unterbrad fie fid:
„Großer Gott, Better, woran denfen Sie nur?”
„Mir fällt da”, fagte der Biſchof, „ein fonderbarer Aus-
ſpruch ein, den ich, wenn ich mich recht erinnere, in den Schrif-
ten des heiligen Auguftinus gefunden habe: ‚Seßet eure Hoff-
nung in Shn, der ohne Nachfolger ift
Bei paflender Gelegenheit verftand er es, harmlos zu fpot-
ten, aber faft nie war fein Scherz ohne ernften Sinn. Wäh-
rend der Faftenzeit Fam einft ein junger Vikar nad Digne und
prebigte in der Kathedrale. Er war febr beredt. Seine Predigt
galt der Mildtätigkeit. Er forderte die Reichen auf, den Mot-
leidenden zu Hilfe zu fommen, denn nur fo fünnten fie der
Hölle entgehen, die er ihnen ebenfo fchauerlich fchilderte, wie er
bas Paradies lieblid und erftrebenswert darftellte. Unter feinen
Zuhörern war ein reiher Kaufmann, der fich bereits zur Ruhe
gefeßt hatte, ein gewiffer Géborand, ein Wucherer, der mit fei-
ner Quchmweberei zwei Millionen verdient hatte. Zeit feines
Lebens hatte Géborand feinem Unglüdlihen ein Almofen ge-
geben. Seit jener Predigt aber wurde beobadıtet, daB er jeden
Sonntag für die alten Bettlerinnen am Tor der Kathedrale
einen Sou fpendete. Und dabei waren es fes, die ſich in biefen
Betrag zu teilen hatten! Der Bifchof fab ihn eines Tages, wie
er folhermaßen Wohltätigkeit übte, und fagte lächelnd zu feiner
Schwefter:
„Sieh bob den Herrn Géborand, wie er für einen Sou
Paradies kauft!“
Menn es galt, Spenden einzutreiben, ließ er fi) auch durch
eine abſchlägige Antwort nicht zurücffchreefen und fand oft Eluge
Einwände. Einmal fammelte er in einem Salon für die Ar-
men. Aud der Marquis de Champtercier war zugegen, ein
reicher alter Geizhals, der e8 fertigbradhte, zugleich Ultraroyalift
und Ultravoltairianer zu fein. Auch das gibt es. Der Bifchof
berübrte feinen Arm und fagte:
„Herr Marquis, Sie müffen mir etwas geben.’
26
Der Marquis wandte fi um und ermiderte froden:
nMonfignore, id habe meine Armen.
„But, geben Sie fie mir.‘
Da er in der Provence geboren war, verftand er die Dialefte
des Südens gut. Das gefiel den Leuten und frug nicht wenig
dazu bei, daß feine Worte bei ihnen galten. Er war in der
Hütte und auf der Alm zu Haufe. Die erhabenften Dinge ver-
mochte er in die gewöhnlichften Worte zu Eleiden. Er ſprach
alle Dialefte und drang ein in alle Herzen.
Niemals urteilte er voreilig und ohne die Umftände zu prü-
fen. Gern fagte er: „Wir wollen fehen, welchen Weg die
Sünde genommen hat.’
Sid felbft nannte er fcherzhaft einen Erfünder; niemals gab
er fi fireng oder 309 nach Art der QTugendbolde feine Stirn
in düftere Falten; offen befannte er fi) zu feinen Fehlern und
hielt fih an einen Lehrfoß, den man ungefähr fo zufommen- |
faſſen Eonnte:
„Der Menſch ift von Fleifh, darum trägt er feine Laft und
feine Verſuchung immer bei fih. Sie lauert und er gibt ihr
nach.”
Gab es ein allgemeines Entrüftungsgefchrei, fo fagte er wohl
au: „Dh, das muß ja eine Sünde fein, die von vielen Leuten
begangen wird, daß alle Heuchler fo heftig proteftieren und ihr
Alibi nachweiſen.“
Gegen die Frauen und gegen die Armen, auf denen das Un-
recht der Geſellſchaft am fchwerften laftet, war er ftets nad-
fihtig. ‚„„Die Sünden der Frauen, der Kinder, der Vebienten,
der Schwachen, der Elenden und der Unwiſſenden“, fagte er,
„find immer die Schuld der Männer, der Eltern, der Brot—
geber, der Starken, Reichen und Wiflenden.‘
Dder: „Man muß die Unwiffenden belehren fo gut man
fann; die Gefellfchaft lädt eine große Schuld auf fich, indem fie
den Unterricht nicht unentgeltlich erteilt; fie ift verantwortlich
für die Sinfternis des Geiftes, in der fie die Menſchheit ver-
barren läßt. Wenn die Seele in Dunkelheit fhmacbtet, ift fie
27
der Sünde zugänglich. Nicht jener ift fhuldig, der die Sünde
begeht, fonbern der die Finfternig erzeugt hat.‘
Eines Tages hörte er in einem Salon von einem Kriminal-
prozeß fprehen, der damals in Vorbereitung war. Ein Unglüd-
lier hatte aus Liebe zu einer Frau und dem Kinde, dag fie
von ibm hatte, falſches Geld gemacht, weil er feinen anderen
Ausweg fab, dem Elend zu entgehen. Falfhmünzerei wurde zu
jener Zeit noch mit dem Tode beftraft. Man hatte die Frau bei
ihrem erften Berfud, das Falfehgeld an den Mann zu bringen,
verhaftet. Man bielt fie gefangen, aber Beweiſe Éonnte mon
nur gegen fie nicht erbringen. Sp lag es an ihr, ob fie ihren
Liebhaber belaften und dur ein Geftändnis dem Tode über-
liefern wollte oder nicht. Sie leugnete. Man drang in fie. Aber
fie bebarrte bei ihrer Ausſage. Da hatte der Eöniglihe Profu-
rator einen guten Einfall. Er Eonfteuierte eine Untreue des
Mannes und verftand es, Bruchſtücke aus Briefen von ihm fo
gefchickt zufammenzuftellen, daß die Unglückliche glauben mußte,
fie babe eine Otebenbublerin und würde von jenem Manne be-
trogen. In der Zat ließ fie fih von ihrer Eiferfucht verführen,
ihren Liebhaber zu verraten, alles zu geftehen und fogar Be—
weife zu liefern. Der Mann war verloren. Er follte demnächſt
zufommen mit feiner Mitfehuldigen in Air abgeurteilt werden.
Man unterhielt fi darüber, und alle rühmten die Gefhidlih-
Feit des Beamten. Indem er die Eiferfuht erregt hatte, war
es ihm gelungen, den Zorn zu feinem Derbündeten zu maden
und die Wahrheit zu erfahren. Er hatte die Rachſucht in den
Dienft der Juſtiz geftellt. Schweigend hörte der Biſchof dies
alles an. Endlich fragte er:
„Welches Gericht urteilt über diefen Mann und diefe Frau?”
„Die Aſſiſen.“
„Und welches über den Herrn Prokurator?“
Ein tragiſcher Fall ereignete ſich in Digne. Ein Mann
wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt. Es war ein Un—
glücklicher, der nicht wirklich gebildet, aber auch nicht ganz un—
wiſſend war; auf Jahrmärkten hatte er ſich als Clown zur
28
Schau geftellt, war aber aud als öffentliher Schreiber tätig
gewefen. Der Prozeß erregte in der Stadt großes Auffehen.
Am Vorabend der Hinrichtung erfranfte der Gefängniggeift-
lihe. Da aber ein Priefter den Delinquenten auf feinem leßten
Gange begleiten mußte, fandte man nad dem Pfarrer. Es
wurde berichtet, er babe fih mit der Begründung geweigert,
die Sache gehe ihn nichts an. „Mit Poffenreißern babe ich
nichts zu fun,” hatte er gejagt, „übrigens bin id aud Franf,
und dies ift nicht meines Amtes.’
Diefe Antwort wurde dem Biſchof hinterbradht, und biefer
fagte:
„Der Herr Pfarrer hat recht. Dies ift nicht fein Amt, fon-
dern meines.‘
Unverzüglich begab er fi in das Gefängnis, flieg in die
Zelle des Poflenreißers hinab, redete ihn mit Nomen an und
bot ihm die Hand. Den ganzen Tag blieb er bei ibm, vergaß
zu effen und zu fehlafen, betete für die Seele des Derurteilten
und ermahnte ihn, an fein Heil zu denfen. Er fagte ihm die
beften Wahrheiten — nämlich die einfachften. Er war Vater,
Bruder, Freund; Biſchof nur, um zu fegnen. Er belehrte ihn,
gab ihm die Sicherheit wieder und tröftete ihn. Diefer Menſch
war im Begriff, verzweifelt zu ſterben. Für ihn war der Tod
ein Abgrund, ein gähnender Schlund, vor dem er entfeßt zurück—
bebte. Er war nicht fo roh, daß er ftumpf geblieben wäre. Seine
Verurteilung Hatte ihn ſchwer erfchüttert und ibn einen Blick
tun loffen in jene geheimnisvolle Tiefe, die wir dag Leben nen-
nen und die fih zumeift unferer Erkenntnis entzieht. Er fuchte
um fi zu bliefen und fab nur Sinfternis. Der Bifchof Tieß ibn
das Licht erfennen.
As der Delinquent am nädften Tage abgeholt wurde, war
der Bifchof bei ihm. Er wich nicht von feiner Seite und zeigte
fi) der Menge in feinem violetten Kleid, mit dem Biſchofs—
kreuze am Halfe, neben dem gefeflelten Verbrecher. Mit ibm
beftieg er den Karren und bas Schafott. Der Unglückliche, der
no am DBorabend niedergefchmettert und verzweifelt gemefen
29
war, hatte Saffung gewonnen. Vielleicht empfand er, daß feine
Seele Gnade gefunden hatte. Der Bifchof umarmte ihn und
flüfterte ihm, als das Fallbeil ſtürzte, noch zu:
Ben der Menſch tötet, den erweckt Gott zu neuem Leben;
wen die Brüder von fih ftoßen, den nimmt der Vater auf. Geh
ein in bas ewige Leben, der Vater erwartet dich!’
As er vom Schafott herabftieg, war etwas in feinen Augen, -
wovor die Menge fheu zurückwich. Man wußte nicht, was er-
ftaunliher war, feine Bläſſe oder der heitere Frieden, den fein
Antliß ausftrablte.
Gerade das Erbabene wird felten verftanden; viele Leute
hielten das Detragen des Bifchofs für Affeftation. Das war
die Meinung der Salons. Das Volk allerdings, das fromme
Handlungen nicht mißdeutet, war gerührt und bewunderte den
Biſchof.
Ihn hatte der Anblick der Guillotine aufs tiefſte erſchüttert,
und lange konnte er ſich davon nicht erholen.
In der Tat hat das Schafott, wenn es hoch aufgerichtet vor
uns ſteht, eine unheimliche, die Phantaſie erregende Wirkung.
Man mag über die Todesſtrafe keine eigene Meinung haben,
ſich des Urteils enthalten, ſie bejahen oder verneinen, ſolange
man die Guillotine nicht mit eigenen Augen geſehen hatz; iſt
man ihr aber gegenüber geſtanden, ſo muß man ſich entſcheiden
und Partei nehmen. Der eine wird ſie bewundern wie de
Maiſtre, der andere ſie verabſcheuen wie Beccaria. Die Guillo—
tine iſt das verwirklichte Geſetz, die materialiſierte Rache; ſie iſt
nicht neutral und geſtattet uns nicht, neutral zu bleiben. Bei
ihrem Anblick können wir uns nicht dem geheimnisvollen
Schauer entziehen. Rings um das Fallbeil haben die ſozialen
Probleme ihre Fragezeichen wirkſam vor unſer Auge gerückt.
Das Schafott iſt eine Viſion. Es iſt nicht ein Gerüſt, eine
Maſchine, ein toter Mechanismus aus Holz, Eiſen und Seil.
Es iſt ein Lebeweſen, ſcheint es, ein Lebeweſen, das irgendeinem
dunklen Trieb folgt. Es iſt, als ob es ſähe, höre, begreife, als
ob dieſem Eiſen, dieſem Holz, dieſen Seilen ein Wille inne—
30
wohne. Unferer beängftigten Phantafie erfcheint es als furdt-
bares MWefen, bas wiflentlih handelt. Denn es ift der Komplice
des Henfers, es frißt Fleifh und fauft Blut. Es ift ein Un-
geheuer, bas der Richter und der Zimmermann heraufbefchworen
bat und bas mit dem Tode, den es gibt, fein fcheußliches Leben
beftreitet.
So war der Eindrudf tief und fhredlih geweien; am Tage
nach der Hinrichtung und noch viele Tage fpäter war der Biſchof
bedrückt. Die faft erzwungene Heiterfeit, die ihn in dem fchred-
lihen Augenblick beherrfcht bat, war wieder verfhwunden; bas
Schreckgeſpenſt der Juſtiz laftete auf ihm. Er, der fonft mit fo
firahlender Zufriedenheit auf alle feine Handlungen zu bliden
pflegte, fhien fih Vorwürfe zu machen. Zumweilen fprad er mit
fi felbft, murmelte büfter vor fih bin. Seine Schwefter hörte
ihn eines Abends fagen:
„Ich dachte nicht, daB es fo gräßlich wäre. Es ift ein Un-
recht, nur an bas göttliche Gefeß zu denken und das Menfchen-
gejeß zu vernachläffigen. Den Tod feftzufesen, ift Gottes Sache.
Mur ibm kommt es zu. Mit welchem Recht maßen die Men-
ſchen fih an, eine Strafe zu verhängen, die fie felbft nicht
fennen ?// |
4, Eravatte
Hier fügt fih eine Begebenheit ein, die wir nicht unerwähnt
laffen dürfen, denn fie gehört zu jenen, die den Charakter des
Bifhofs von Digne am deutlichften erfennen laffen.
Nachdem die Bande des Gaſpard Bes auseinandergetrieben
worden war, der die Täler um Ofioules unficher gemacht hatte,
- flob einer feiner Unterführer, ein gewiffer Cravatte, ins Ge-
birge. Er verbarg fit mit einigen verfprengten DBanditen ge-
raume Zeit in der Graffhaft Nizza, entfam nah Piemont und
tauchte plößlich wieder in Frankreich, bei Barcelonnette auf.
Zuerft fab man ibn in Jauziers, dann in Tuiles. Er verbarg
fi) in den Höhlen des Joug de l'Aigle, flieg von dort durch
die Schluhten der Ubaye und Ubayette zu den Hügeln und
31
Dörfern herab. Schließlih Fam er nah Embrun, drang des
Nachts in die Kathedrale ein und plünderte die Gafriftei.
Seine Raubzüge feßten das ganze Land in Schreden. Die
Gendarmen waren ibm auf den Serfen, aber vergeblih. immer
wieder entkam er; zuweilen leiftete er fogar bewaffneten Wider-
ftand. Er war tollfühn und elend.
Inmitten diefer Schreden traf der Bifchof ein. Er befand
fid gerade auf einer Amtsreiſe nah Chaftelar. Der DBürger-
meifter befuchte ibn und empfabl ibm, umzufehren. Cravatte
hielt bas Bergland bis zur Arche und darüber hinaus in Atem;
felbft mit einer Esforte zu reifen fei gefahrvoll. Es bedeute,
nußlos drei oder vier Gendarmen in Gefahr zu bringen.
„Allerdings, fagte der Biſchof, ‚ih wünſche aud ohne
Esforte zu reifen.”
„Aber was fallt Ihnen ein!” rief der Bürgermeifter.
„Doch, ic) lehne e8 ab, mit Gendarmen zu reifen, und id
brece in einer Stunde auf.”
„Sie bredhen auf?‘
„Allerdings.“
„Und allein?“
„Allein.“
„Monſignore, das werden Sie nicht tun.“
„Ich habe da“, erwiderte der Biſchof, „oben in den Bergen
eine kleine Gemeinde, die ich ſeit drei Jahren nicht beſucht habe.
Die Leute dort ſind mir gute Freunde. Sanfte, rechtſchaffene
Hirten. Von dreißig Ziegen, die ſie hüten, gehört ihnen eine,
und ſie flechten ſehr hübſche Wollſchnüre und ſpielen auf kleinen
Flöten mit ſechs Klappen Lieder aus den Bergen. Ich muß
ihnen von Zeit zu Zeit etwas von Gott erzählen. Was ſollten
ſie von einem Biſchof denken, der ſich fürchtet, was ſollen ſie von
mir halten, wenn ich nicht komme?“
‚Aber, Monſignore, die Räuber —?“
„Halt,“ ſagte der Biſchof, „die darf ich auch nicht vergeſſen.
Sie haben recht. Ich könnte ihnen begegnen. Die haben es be—
ſonders nötig, daß ich ihnen von Gott ſpreche.“
32
„Monfignore, bas find Danditen! Eine Horde Wölfe!‘
„Herr Bürgermeifter, vielleicht bat Jeſus mich über fie zum
Hirten eingefest. Wer begreift die Vorſehung?“
nMonfignore, fie werden Sie ausrauben.‘
„Ich babe ja nichts.‘
‚dann werden fie Sie totfchlagen.”
„Einen alten Priefter, der Iandein zieht und Gebete mur-
melt? Wozu?‘
„Mein Gott, wenn Sie ihnen begegnen!’
„Ich werde fie um ein Almofen für meine Armen bitten.’
Man mußte ihn gewähren laffen. Nur in Begleitung eines
Knaben, der fi ihm als Führer angeboten hatte, machte er fit
auf den Weg. Seine Unbeugfamfeit erregte im ganzen Lande
großes Auffehen und gab Anlaß zu fchlimmen Befürchtungen.
Meder feine Schwefter noh Frau Magloire nahm er mit.
Auf einem Maultier ritt er über das Gebirge, begegnete nie-
mand und Fam woblbebalten bei feinen Freunden, den Hirten,
on. Er blieb vierzehn Tage bei ihnen, predigte, erledigte feine
Amtsgefhäfte, gab ihnen nüßliche Lehren. Als er abreifen follte,
beſchloß er, ein feierliches Tedeum abzuhalten. Er ſprach bar-
über mit dem Pfarrer. Es ergab fi, daß Fein bifchöfliches
Ornat aufzutreiben war. Man Fonnte ibm ein einfaches Meß—
gewanb, wie es die Landpfarrer benüßen, mit verblihenen Da-
maftverbrämungen und falfchen Goldtrefien anbieten.
„Jun, Herr Pfarrer,” fogte der Bifchof, „kündigen wir
unfer Iedeum an. Alles wird fich finden.’
Man fragte ringsum in den Kirchen an, aber alle diefe dürf-
tigen Landpfarreien zuſammen Fonnten nicht genug Paramente
in ihren Safrifteien aufbringen, um einen Domfantor an-
ständig zu befleiden.
Während man fih nod den Kopf zerbrah, wie biefem
Mangel abzuhelfen wäre, wurde von zwei unbefannten Meitern,
die fi) fofort wieder davonmachten, eine mächtige Truhe in bas
Pfarrhaus gebracht und für den Heren Biſchof abgegeben. Man
‚öffnete fie und fand darin einen Cborrof aus goldgewirkftem
LS Hugo, Die Elenden. 33
Zud, eine biamantenbefehte Mitra, bas Kreuz eines Erz |
bifhofs, einen prunfvollen Krummftab, Furz, alle die bifchöf- |
lien Gewänder, die einen Monat vorher aus der Schakfam- |
mer von Motre Dame zu Embrun geraubt worden waren. In |
der Truhe lag ein Zettel, auf dem gefchrieben ftand: |
„Dies fendet Cravatte dem Bifhof Bienvenu.“ |
„Habe id nicht gefagt, daß alles fit finden wird! rief der |
Biſchof. Und lächelnd fügte er hinzu: „Wer fi mit dem Pfar- |
rerroc begnügt, dem fendet Gott das Ornat eines Erzbifchofs. |
5. Neues Licht
Einige Zeit ſpäter tat der Biſchof etwas, worüber die ganze |
Stadt noch mehr in Erftaunen geriet als über die Meife dur |
bas Gebiet der Banditen.
In der Umgebung von Digne führte ein Mann ein einfames |
Leben. Diefer Menfh, um das Furchtbare Furz herauszufagen,
war ein ehemaliges Mitglied des Konvents. Er hieß G. Von
dem Konventsmitglied G. fprad man in der Fleinen Welt, die |
Digne hieß, nur mit Abfeheu. Ein Mitglied des Konvents! — |
Mer bielte das für möglih?! Das hatte es zur Zeit gegeben, }
als jeder den andern duzte und Bürger nannte. Diefer Menfch
war faft ein Ungeheuer. Er hatte nicht für den Tod des Königs |
geftimmt, aber viel hatte nicht gefehlt! Faft ein Königsmörder!|
Es war ſchrecklich. Warum hatte man ihn nicht nach der Nüd-
fehr der angeftammten Familie vor das Profofengericht geftellt? |
Man hätte ibn ja nicht aufs Schafott bringen müffen, um jeden |
Preis, man hätte Milde walten laffen Eönnen, gut, aber eine
anftändige Verbannung auf Lebensdauer war bod dag minbdefte,
was man verlangen durfte. Man hätte fchließlih ein Erempel)
ftatuieren follen! Überdies war diefer Menſch noch dazu ein
Atheift, wie das ja bei feinesgleichen ſich von felbft verfteht.
Gänfegefhnatter über einen Geier.
War übrigens diefer G. ein Geier? Ja, wenigftens nad) der]
Wildheit zu ſchließen, mit der er fih in der Einfamfeit vergrub.
34
Da er nicht für den Tod des Königs geftimmt hatte, war er ja
von den Verbannungsdefreten nicht betroffen und durfte fi in
Frankreich aufhalten.
Er wohnte drei viertel Stunden von der Stadt entfernt,
abfeits von jeder menflihen Siedlung, fern von allen Wegen,
in einem verftecften Winfel eines einfamen Tales. Dort hatte
er, wie es hieß, ein Stüf Ader, eine Höhle — einen Zu-
fluhtsort. Keine Nachbarn; nicht einmal, daß jemand dort vor-
überfam. Seit er in jenem Tal wohnte, war bas Gras über
den Pfad gewachſen. Man fprad von jenem Ort mie vom
Haufe des Henfers.
Der Biſchof jedoh badte an ben Mann, fab von Zeit zu
Zeit hinab in jenes Tal und ließ feinen Blick auf der Baum—
gruppe verweilen, die am fernen Horizont bas Haus des alten
Konventsmitglieds bezeichnete. Dort ift eine Seele, dachte er,
die einfam ift.
Ich ſchulde ihm einen Beſuch, empfand er.
Doh wollen wir es offen einbefennen, diefer Gedanke bien
ihm, fo natürlich er auch im erften Augenblick war, nad Eurzer
Überlegung feltfam und unmöglich, ja widerwärtig. Im Grunde
genommen teilte er die allgemeine Meinung, und das Konvent:
| mitglied Flößte ibm, ohne daß er fi) beffen Élar bewußt war, ein
Gefühl ein, bas an der Grenze des Hafles Liegt.
Indeſſen, darf die Räude des Scafes den Hirten zurüd-
ſcheuchen? Mein. Aber wel ein Schaf war bas nun!
Der gute Bifhof befand fih in einer fehwierigen Lage.
| Mandmal mate er fih auf den Weg, um dorthin zu gehen,
I Fam aber unverrichteterdinge wieder zurück.
Eines Tages hieß es in der Stadt, ein junger Hirt, der
dem alten G. diente, fei um einen Arzt gekommen; der alte
Schuft fterbe, er fei bereits gelähmt und werde die Nacht nicht
‚ überleben.
Gott fei Dank, meinten manche.
Der Bifhof nahm feinen Stod, jhlüpfte in den Mantel,
denn feine Soutane war bereits allzu fchäbig, oder au, um
J 35
fid) nicht dem Falten Abendwind auszufeßen, und machte fich
auf den Weg.
Die Sonne berührte bereits den Horizont, als der Bifchof
den fluchbeladenen Ort erreichte. Nicht ohne HerzFlopfen fab er
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fi) endlich der Hütte gegenüberftehen. Er überquerte einen Gra-
ben, ftieg über eine Hede, gelangte burd einen Vorgarten an
einen Platz, von bem aus er zwifchen hohem Gefträud die Be—
baufung erfannte. Es war eine niedrige, einfache, faubere Hütte
mit einer vergitterten Safflade. Vor der Tür fab in einem Noll
36
ftuhl, wie ihn die Landleute gebrauden, ein Mann mit weißen
Haaren, der der Sonne zulächelte. Neben ihm ftand ein junger
Burfche, wohl jener Hirt, und reichte ibm eine Schale Mild.
Während der Blick des Bifchofs auf ihm ruhte, wandte fit
der Greis an den Knaben.
„Danke, fagte er, ‚ih brauche nichts mehr.” Sein freund-
liher Blick hatte fih von der Sonne gelöft und ruhte jeßt auf
dem Burſchen.
Der Biſchof trat näher. Das Geräufh feiner Schritte ver-
anlaßte den Greis, fih umzumenden, und fein Geficht zeigte alle
Verwunderung, die man nad einem langen Leben noch zu emp-
finden vermag.
„Seit ich hier bin,’ fagte er, ‚‚ift dies bas erftemal, daß man
zu mir fommt. Wer find Sie, mein Herr?’
„Ich heiße Bienvenu Myriel.“
„Dienvenu Myriel. Diefen Namen babe ich gehört. Sind
Sie der, den das Volk Bifhof Bienvenu nennt?”
„Derſelbe.“
Der Greis lächelte leiſe.
„Demnach ſind Sie mein Biſchof?“
„sn gewiſſem Sinne...”
„Treten Sie ein, mein Herr.”
Das Konventsmitglied bot dem Bifchof die Hand, aber der
nahm fie nicht. Er fagte nur:
„Ich freue mich zu fehen, daß man mich falfch berichtet bat.
Sie fheinen mir nicht krank zu fein.’
„Ich werde bald ganz gefund fein‘, erwiderte der Greis. Und
nach einer Paufe: „In drei Stunden fterbe id. Ich verftehe
mid ein wenig auf die Medizin. Sch weiß, wie der Tod fid
vorbereitet. Geftern waren nur die Füße Falt, heute ift die
Kälte bis zu den Knien hinaufgeftiegen; jest fühle ich, wie fie
langſam zum Leib hinanfteigt. Sobald fie das Herz erreicht,
wird es mit mir aus fein. Schönes Wetter heute, ja? Ich babe
mich berausfabren laffen, um einen leßten Blick auf all diefe
Dinge zu werfen. Sprechen Sie ruhig, es ftrengt mich nicht an.
37
Sie taten recht, einen Mann zu befuen, der ftirbt. Es ift
gut, in diefem Augenblick nicht allein zu fein. Man bat fo feine
befonderen Wünſche. Ich hätte gern bis Tagesanbruch gelebt,
aber ich weiß, daß meine Kraft kaum nod drei Stunden vor-
hält. Dann ift Nacht. Nun, was tuf 8? Sterben ift eine ein-
fahe Sade. Man braudt dazu Feine Morgenfonne. Sch werde
im Licht der Sterne fterben.‘
Der Greis wandte fih dem Hirten zu.
„Seh fblafen, du. Du haft geftern naht gewacht, bu bift
müde.’
Der unge trat in die Hütte. Der Alte folgte ihm mit den
Augen und fagte leife:
„Während er fehläft, werde ich fterben. Gute Nachbarschaft
für zwei Arten Schlaf.”
Der Bifhof war nicht fo tief gerührt, wie man es hätte
vieleicht erwarten follen. Das war eine Art zu fterben, in der
nichts von Gott zu fühlen war. Und um alles zu fagen — denn
auch die Éleinen Widerſprüche in großen Herzen dürfen nicht
unerwähnt bleiben —, er, der lachte, wenn man ihn „hober
Herr’ anfprad), empfand e8 doc ein wenig peinlich, daß er hier
nicht „Monſignore“ angefprochen wurde; faft fühlte er ſich ver-
fut, fein Gegenüber „Bürger anzureden. Er hatte eine An-
wandlung, mit dem Mann in jener groben Vertraulichkeit zu
iprechen, die bei Drieftern und Ärzten fo gewöhnlich ift, ihm aber
fonft fremd war. Diefer Mann, diefes Konventsmitglied, biefer
Volksvertreter war ein Mächtiger der Erde gewefen, und viel-
leicht zum erftenmal in feinem Leben fühlte der Bifchof eine
Meigung, hart zu fein.
Der Alte dagegen ließ feinen Blick befcheiden und herzlich
auf dem Fremden ruhen, und es war, als ob die Demut deflen
in ibm fühlbar würde, der ſich anſchickt, in Staub zu zerfallen.
Der Bifhof Fonnte fonft Neugierde nicht vertragen, fie galt
ihm beinahe als Beleidigung; doch Eonnte er fit diesmal nicht
verfagen, bas Konventsmitglied mit einer Aufmerkfamfeit zu
betrachten, die ihren Urfprung nicht in der Sympathie hatte
38
und die er fi fonft, jedem anderen Menſchen gegenüber, wohl
felbft verargt hätte. Aber ein Konventsmitglied ftand für ihn
gewiflermaßen außerhalb des Gefekes, fogar außerhalb des Ge-
bots der Liebe. Der alte G. mit feiner Ruhe, feiner faft auf-
rechten Haltung und Fräftigen Stimme war einer jener impofanten
Adtzigjährigen, die den Phyfiologen in Erftaunen feßen. Die
evolution bat viele Menfhen bervorgebracbt, die das Format
ihrer großen Zeit hatten. Man fpürte, daß diefer Greis feinen
Mann geftellt hatte. Noch an der Schwelle des Todes hatte er
feine männliche Kraft bewahrt. Sein flarer Blick, feine fefte
Sprache, fein Éräftiges Achfelzucden Eonnte den Tod in Ver—
legenbeit feßen. Asrael, der Zodesengel der Mohammedaner,
wäre vor feiner Schwelle umgekehrt und hätte geglaubt, er
ftehe vor einer falfhen Zür. ©. fhien zu fterben, weil er felbft
einverftanden war. Auch fein Iodesfampf hatte etwas Frei—
williges, Selbftgewolltes. Nur die Beine waren unbeweglich.
Sie waren tot und Falt, während der Kopf noch in voller Kraft
lebte, fie waren bereits ergriffen vom Reich der Schatten,
während das Haupt nod in das Licht ragte. m diefem Augen
blif glih G. jenem König aus dem orientalifhen Märden,
deflen Oberkörper Fleifh, deflen Unterförper aber Marmor ift.
Eine Steinbanf war da, der Bifchof feste fih. Unvermittelt
begann er zu fprecen.
„Ich beglükwünfhe Sie,” fagte er nicht ohne Vorwurf,
‚nenn Sie haben wenigftens nicht für den Tod des Könige
geſtimmt.“
Das Konventsmitglied ſchien den bitteren Beigeſchmack des
Wortes „wenigſtens“ nicht zu beachten. G. lächelte nicht mehr,
als er ſagte:
„Beglückwünſchen Sie mich nicht zu voreilig, mein Herr; ich
habe für den Tod des Tyrannen geſtimmt.“
Das war hart gegen hart geſprochen.
„Was wollen Sie damit ſagen?“ fragte der Biſchof.
„Daß der Menſch einen Tyrannen bat, die Unwiſſenheit.
Gegen ihn habe ich geſtimmt. Dieſer Tyrann hat das Königtum,
39
die verfalfte Autorität, erfonnen. Aber die Wiſſenſchaft ift
die wahre Autorität. Mur von ihr darf der Menſch fi führen
laſſen.“
„Und von ſeinem Gewiſſen“, fügte der Biſchof hinzu.
„Das iſt dasſelbe. Das Gewiſſen iſt jener Teil der Wiſſen—
ſchaft, der uns eingeboren iſt.“
Etwas erſtaunt hörte der Biſchof Bienvenu dieſe Sprache,
die ihm neu war.
„Was Ludwig XVI. betrifft,” fuhr das Konventsmitglied
fort, „ſo babe id gegen feinen Tod geftimmt. Ich halte e8 nicht
für mein Recht, Menfhen zu töten, aber e8 ift meine Pflicht,
bas Übel auszurotten. Sd babe für den Tod des Tyrannen ge-
ftimmt, für das Ende der Proftitution der Frauen, der Skla—
verei der Männer, der Unwiffenbeit der Kinder. Das war mein
Ziel, als ich für die Republik ftimmte, für Brüderlichkeit, Ein-
tracht, Aufftieg! Ich wollte mitwirfen am Sturz der Vorurteile
und Irrtümer. Ihre Vernichtung fol uns das Licht bringen.
Mir haben die alte Weltordnung geftürzt, diefes Gefäß allen
Elends, und fo ift aus ihr eine Freudenurne geworden.”
„Die Freude war gemifcht”, meinte der Bifchof.
„Sie mögen fagen, fie war getrübt; und heute, nach jener
verhängnisvollen Wiederfehr des Vergangenen, ift fie vollends
verfhmwunden. Ad, bas Werk ift unvollendet, ich gebe es wohl
zu. Wir haben das alte Regime zerftört, aber die Ideen, auf
denen es fußte, Eonnten wir nicht unterdrüden. Es genügte
nicht, den Mißbrauch abzufhaffen. Eine neue Gefittung mußte
entwickelt werden. Die Mühle ift nicht mehr, aber nod immer
weht derfelbe Wind.”
„Sie haben zerftört. Das mag nützlich fein, aber ich miß-
traue einer Zerftörung, die aus dem Zorn entfteht.”
„Auch das Recht Fennt den Zorn, mein Herr; der Zorn be-
leidigten Rechtsgefühls ift ein Element des Fortſchritts. Man
mag fagen, was man will, die franzöfifhe evolution ift feit
dem Erfheinen Cbrifti der gewaltigfte Schritt, den das Men-
fhengefchlecht vorwärts getan bat. Sie hat alles foziale Unredt
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ausgeglichen. Sie hat die Geifter befänftigt. Sie bat beruhigt,
verföhnt, aufgeklärt. Sie hat der ganzen Erde den Stempel
ihrer Zivilifation aufgedrüdt. Sie war gütig. Sie ift die Hei-
ligung des Menfchenbegriffe.‘
„Und dreiundneungig?”
Mit erbabener Feierlichfeit richtete fi) bas Konventsmitglied
in feinem Stuhle auf und rief, fo laut ein Sterbender zu
fprechen vermag:
„Ach, da wären Sie alfo! 1793! Darauf babe ich gewartet!
Dh, fünfzehn Jahrhunderte lang bat diefe Wolfe ſich zufam-
mengeballt, dann ift fie geborften, und nun Flagt ihr ben
Blitz an.”
Vielleicht fühlte der Biſchof, ohne felbft ganz bewußt zu
werden, daß etwas in ihm unficher wurde. Aber er bewahrte
Haltung.
„Der Richter fpriht im Namen der Gerechtigkeit, der Prie-
fter im Namen des Mitleids, bas nur eine höhere Gerechtigfeit
ift. Der Blitz darf fib nicht irren. Wie ftebt es mit Lub-
wig XVII?
Das Konventsmitglied ftreefte die Hand aus und ergriff den
Arm des Bifchofs.
„Ludwig XVII! Nun, wen beklagen Sie? Das unfhuldige
Kind? Gut, ich beflage es mit Ihnen. Das Königefind? Das
wäre zu erwägen. Für mich ift der Bruder des Cartouche,
diefes unfchuldige Kind, das auf dem Greveplak an den Achſeln
aufgehängt wurde, bis es ftarb, nur weil es eben der Bruder
jenes Cartouche war, nicht minder beflagenswert als der Enfel
jenes Ludwig XV., diefes unfchuldige Kind, bas im Temple zu
Zode gemartert wurde, eben weil es der Enkel jenes Lub-
wig XV. war.”
„Mein Herr,” fagte der Bifchof, ‚ich Tiebe es nicht, daß
Sie diefe Nomen in einem Atem nennen.‘
„Cartouche? Ludwig XV.? Welchen von beiden bevorzugen
Sie?!
41
Eine Paufe trat ein. Der Vifhof bedauerte faft, hierher ge-
fommen zu fein, und dod fühlte er fi feltfam berührt und
ergriffen.
„Ja, mein Herr,’ fuhr bas Konventsmitglied fort, „Sie
lieben nicht die Härte der Wahrheit. Chriſtus ... der liebte fie.
Der nahm eine Geißel und trieb bas Pad aus dem Tempel.
Seine Geifel fagte raube Wahrheiten. Wenn er fagte, sinite
parvulos, Yaffet die Kindlein zu mir Fommen, fo mate er
zwifchen den Kindern Feinen Unterfchied. Ihm war e8 nicht
peinlich, den ungen des Barabbas und den des Herodes ein-
zuloden. Die Unfchuld, mein Herr, Erönt ſich felbft. Sie bedarf
Feiner Auszeichnung. Sie ift an fich erhaben, berrlid — ob fie
in Lumpen gefleidet ift oder in GSeidengewänder, die mit den
Föniglichen Lilien geſchmückt find.’
„Das ift wahr”, fagte der Biſchof leife.
„Einen Augenblick,“ fagte das Konventsmitglied, „Sie er-
wähnten Ludwig XVII. Verftehen wir ung richtig: find es die
Unfchuldigen, alle die Fleinen Märtyrer, die niedrigen und die
hohen, die wir beflagen? Wenn es fo ift, dann will ich ein-
fiimmen. Gut, aber dann dürfen wir nicht bei 1793 ftehen-
bleiben, unfere Tränen müffen früher einfeßen. Ich will mit
Ihnen die Kinder der Könige beflagen, wenn Sie mit mir ein-
ftimmen in die Klage um die Kinder des Volkes.’
„Ich beflage alle‘, fagte der Biſchof.
„Gut,“ vief G., „und wenn die Wagfchale fih fenfen foll,
dann fei es auf die Seite des Volkes, denn es leidet feit
längerer Zeit.”
Mieder trat eine Paufe ein. Das Konventsmitglied brad fie.
Der Greis ftüßte fih auf den Ellbogen, Fniff mit Daumen
und Zeigefinger eine Falte in feine Wange, wie man e8 wohl
mechanifd fut, wenn man einen anderen verhört, und ftellte
den Bifchof ftreng zur Mede.
„Ja, mein Herr, feit langem leidet bas Volk. Sie aber
Éommen zu mir und fprechen mir von Ludwig XVII. ch Éenne
Sie nicht. Seit id in diefer Gegend lebe, bin ich einfam, feße
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meinen Fuß nicht vor meine Schwelle, febe niemand als biefen
ungen, der mir hilft. Wohl ift Ihr Name zu mir ge-
drungen, ih muß fagen, er Elang nicht übel, aber bas beweift
nichts. Gefchickte Leute haben es nicht ſchwer, bem braven Volk
etwas glaubhaft zu machen. Übrigens, id babe Ihre Equipage
nicht vorfahren gehört, Sie haben fie wohl da hinter dem
Wald, am Kreuzweg ftebengelaffen? ch Fenne Sie nicht, fage
ih Ihnen. Sie erflären, Sie feien der Bifchof, aber das gibt
mir für Ihre moralifhe Perfönlichkeit Feine Gewähr. Darum
wiederhole ich meine Frage. Wer find Sie? Sie find ein Bi-
fhof, ein Kirchenfürft, einer diefer mit ftattlihen Renten aus-
geftatteten Herren, denen es nicht fehlt an fetten Pfründen,
Sie haben als Bifhof von Digne fünfzehntaufend Franken
Gehalt und zehntaufend Franfen Nebeneinkünfte, alfo zufam-
men fünfundzwanzigtaufend Franken! Sie gehören zu jenen,
die eine gute Küche führen, denen es an livrierten Dienern
nicht fehlt, die Freitags Waſſerhühner effen, die in einer Gala-
Éutfe, Lafaien hinten auf, einberfabren — und bas im Na—
men Jeſu Ehrifti, der barfuß ging. Sie find ein Prälat. Ren—
ten, Palaft, Pferde, Diener, einen guten Tifb, alle Annehm-
lichfeiten des Lebens, all bas genießen Sie, aber bas fagt mir
nur wenig. Über Ihren inneren, wefentlihen Wert weiß ich
nichts, obwohl Sie bo zu mir gefommen find, um mir die
Zröftungen der Weisheit zu bringen. Mit wen fprehe ich?
Mer find Sie?’
Der Difhof fenfte den Kopf und fagte:
„Vermis sum.“
„Ein Erdenwurm, der in der Karofle fährt”, murmelte das
Konventsmitglied. Jetzt war der alte Rebell herriſch und der
Biſchof demütig.
„Mein Herr," fagte der Bifchof, ‚Tagen Sie mir doch, wiefo
meine Œquipage, die dort hinter den Bäumen wartet, mein
wohlbeftellter Iifh mit den Waflerhühnern, die ih Freitags
efle, und meine Rente von fünfundzwanzigtaufend Livres, wiefo
Ihließlih mein Palaft mit meinen Lafaien beweift, daß bas
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Mitleid Feine Tugend, die Milde feine Pflicht und das Jahr 93
nicht verabſcheuungswürdig ift?’‘
Das Konventsmitglied ftrih fih über die Stirn, wie um
eine Wolfe zu verfheuchen.
„Bevor ich Ihnen antworte, bitte ih Sie um DBerzeihung.
Ich tat unrecht, mein Herr. Sie find hier in meinem Haufe,
Sie find mein Gaft. Sch bin Ihnen Höflichkeit fhuldig. Sie
erörtern meine Gebanfen, alfo babe id mich darauf zu be-
fhränfen, Ihre Argumente zu befämpfen. Ihr Neichtum und
Ihr bebaglihes Leben bieten mir im Kampf einen Borteil,
den ich nicht benüßen darf. Es wäre gegen den guten Gefhmad.
Sch verfpreche Ihnen, es in Zufunft nicht mehr zu tun.‘
„Ich danfe Ihnen‘, fagte der Biſchof.
„But, Sie fagen alfo, das Jahr 93 fei verabfheuungs-
würdig? Wir feien erbarmungslos geweſen?“
„Erbarmungslos, das ift es. Was halten Sie von Marat,
der in die Hände Elatfchte, als er die Guillotine ſah?“
„Und was halten Sie von Boſſuet, der die Proteftanten-
meßeleien mit einem Iedeum feierte?’
Diefe Antwort war hart, aber fie traf fharf wie eine Degen-
fpiße. Der Bifhof fuhr zufammen und fand Feine Ermwiderung.
Es war ibm fhmerslih, Boſſuet in diefem Zufammenhang
nennen zu hören. Auch die beften Geifter haben ihren Fetifch
und fühlen ſich verleßt, wenn die Logik mit ihnen refpeftlos
umjpringt.
Der alte Nevolutionär begann ſchwer zu atmen; die Atemnot
des Todeskampfs würgten ihn in der Kehle; noch immer ftrahlte
bas Licht in feinen Augen.
„Bir Fönnen nod ein wenig fpreben. Sie verabjcheuen das
Jahr 93 und finden es erbarmungslog, aber wie war die Mon-
archie? Dh, ich beflage das Schickſal Marie Antoinettes, aber
aud jene arme Sugenottin verdient mein Mitleid, die 1685
unter Ludwig dem Großen, obwohl fie nod ihr Kind nährte,
nadt bis zum Gürtel an einen Pfahl gebunden und vor die
Wahl geftellt wurde, ihr Kind vor ihren Augen töten zu laffen
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oder gegen ihr Gewiſſen ihren Glauben abzuſchwören. Wie
beurteilen Sie diefe einer Mutter bereitete Tantalusqual?
Mein Herr, beachten Sie es wohl, die franzöfiihe Revolution
hatte ihren großen Sinn. Die Zufunft wird die Verirrungen
ihres Zorns entfehuldigen, denn ihr Ergebnis war eine Ver—
befferung der Welt. Sie bat graufam zugefchlagen, aber fie bat
dem Menſchengeſchlecht Wohltaten erwiefen. Doch ich will nicht
weiterfprechen, ich babe es allzu leid, und der Tod ift nahe.”
Er abnte nicht, daB er Schritt für Schritt die inneren Ver—
Ihanzungen des Bifhofs geftürmt hatte. Eine nur blieb ihm
noch, ein Lester Hort des Miberftandes.
„Der Fortſchritt muß an Gott glauben”, fagte er. „Das
Gute verträgt Feine unfrommen Diener. Der Atheift ift ein
Ihlechter Führer des Menſchengeſchlechts.“
Der alte DBolfsvertreter antwortete nicht. Ein Zittern durd-
fhauerte ihn. Er blidte zum Himmel auf, und eine Träne frat
in fein Auge. Faft ſtammelnd, den Blick in die Tiefe des Him-
mels gefenft, flüfterte er:
„O du, deal, nur du bift!‘
Der Biſchof empfand eine unausſprechliche Erfehütterung.
Mach einem Schweigen wies der Greis zum Himmel hinauf
und fagte:
„Es gibt eine Unendlichkeit dort droben. Wenn fie von Fei-
nem Ich belebt wäre, wäre das ch ihre Begrenzung; fie wäre
nicht mehr unendlich; mit anderen Worten, fie wäre nicht mehr.
Aber fie ift. Darum gibt es ein ch in ihr, bas Ich der Un-
endlichfeit — Gott.’
Der Sterbende hatte diefe Iekten Worte mit erhobener
- Stimme gefprohen, in efftetifher Verzückung, als ob er jenes
höhere Wefen erfhaue. Als er ausgefprocdhen hatte, fbloffen fic
feine Augen. Die Anftrengung hatte ibn erfchöpft. Offenbar
hatte er in einer Minute die Kraft verbraucht, die ihm ver-
blieben war. Seine Worte hatten ihn jenem genñbert, der im
Zode ift. Der lebte Augenblif war nahe.
Der Biſchof begriff; als Priefter war er bierbergefommen,
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war von Falter Ablehnung ftufenweife bis zu höchſter Rührung
gelangt; jeßt nahm er diefe zerfurchte, eifige Hand und beugte
fi) über den Sterbenden.
„Dies ift die Stunde Gottes. Wäre es nicht beflagenswert,
wenn wir einander vergeblich begegnet wären?’
Der Revolutionär blickte auf. Ernft, den Mißmut überfhat-
tete, lag auf feiner Stirn.
„Herr Biſchof,“ fagte er mit einer Langfamkeit, die vielleicht
mehr feiner Würde als der Schwäche feiner Todesftunde ent-
fprang, ‚mein ganzes Leben war dem Studium und der Be—
tradtung gewidmet. Sechzig Sabre war ich alt, als mein Vater-
land mic) rief und befahl, daB ich mich in feine Angelegenheiten
mifche. Ich babe gehorcht. Ich fab Mißbräuche und befämpfte
fie. Ich fab Tyrannei, und id babe fie niedergerungen. Für
Recht und Gefittung babe ich gefämpft. Linfer Land war vom
Feinde bedrückt, ich babe es verteidigt. Franfreich war bedroht,
ich babe mein Leben eingefeßt. Ich war nicht reich, und ich bin
jeßt arm. Ich war einer der Führer des Staates, die Schab-
fommern waren gefüllt mit Gold und Silber, fo daß wir die |
Mauern ftüsen mußten, aber ih af zu Mittag für zweiund- |
zwanzig Sous in der Mue de l'Arbre-Sec. ch habe den Un-
glücklichen geholfen, babe die Bedrückten aufgerichtet. Wenn id
Altartücher zerriß — und das habe ich getan — , fo gefchab es,
um die Wunde des Vaterlandes zu verbinden. Sooft das Men-
fhengefhhleht dem Licht entgegenftrebte, war id auf feiner
Seite. Wenn der Fortfhritt erbarmungslos war, ftellte ih mid
ihm entgegen. Es gefchah, daB ich meine eigenen Feinde, Leute
von euch, befhüste. in Peteghem, in Flandern, dort, wo die
Könige aus dem Merowingergefchleht den Winterpalaft hatten,
gibt es ein Klofter der Urbaniftinnen, die Abtei der Ste. Claire
en Beaulieu — die babe ih 1793 gerettet. ch tat meine |
Pflicht, fo gut ich Eonnte. Man hat mid) verjagt, geheßt, ver-
folgt, böfer Dinge bezichtigt, verleumdet, verflucht, proffribiert.
Seit vielen Jahren ſchon fehe ich, ein Greis mit weißen Haaren,
wie viele Leute auf mich verächtlich berabbliden, der armen, un-
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wiffenben Menge bin ich ein Gezeichneter; gut, id nehme mein
Schickſal an, ich haffe niemand. Aber jest zähle ich fehsundadht-
zig Jahre und werde fterben. Was wollen Sie nod von mir?”
„Ihren Segen’, fagte der Bifchof. Er Fniete nieder.
As er aufblidte, hatte das Antlis des Konventsmitgliede
einen erhabenen Ausdruck angenommen. Der Greis war tot.
6. Eine Einfhränfung
Es wäre verfehlt, wollte man aus dem Gefagten fchließen,
Monfignore Bienvenu fei ein „‚philofophifch veranlagter Geift-
licher” oder ein ,,çpatriotifher Pfarrer’ gemefen. Seine Begeg—
nung mit dem Konventsmitglied G. hatte ibn in Staunen ge-
febt und noch weicher geftimmt als je. Das war alles.
Obwohl Monfignore Bienvenu Fein Mann der Politik war,
muß vielleicht an diefer Stelle doch in aller Kürze gefagt wer-
den, wie er zu den Ereigniffen feiner Zeit Stellung nahm.
Gehen wir einige Jahre zurüd.
Kurz nad feiner Ernennung zum Biſchof hatte der Kaifer
Herrn Myriel zum Baron erhoben, zugleich mit einigen anderen
Bifhöfen. Wie befannt, wurde der Papft in der Nacht vom
5. auf den 6. Juli 1809 verhaftet. Bei diefer Gelegenheit wurde
Myriel von Napoleon in die Synode der franzöfifhen und ita—
lienifhen Biſchöfe berufen, die nach Paris einberufen worden
war. Diefe Synode tagte in Notre-Dame und trat am 15. Juni
1811 unter dem Vorſitz des Kardinals Feſch sufammen. Myriel
war einer der fünfundneungig Bifchöfe, die an diefer Sitzung
teilnahmen. Er erfhien nod drei» oder viermal bei ben Sikun-
gen, aber als Difbof einer Diözefe im Hochland, als Menſch,
der faft unmittelbar in der Natur lebte, an ländlihe Sitten ge-
wohnt, brachte er in diefe Gefellfhaft erhabener Herren Ideen
mit, die dort peinlich auffielen. Er wurde bald nad) Digne zu-
rückgeſchickt. Man fragte ihn, warum er fo rafch heimgefehrt fei,
und er fogte:
„Ich war ihnen peinlih. Die Luft der Außenwelt fam mit
mir in den Saal. Ich war ihnen unangenehm wie eine offene
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Zür. Was wollen Sie, diefe Herren find Fürften, ich bin nur
ein armer Bauernbiſchof.“
Er hatte in der Tat Mißfallen erregt.
Da wir nichts verbeimlihen wollen, müflen wir hinzufügen,
daß er Napoleons Niedergang Falt aufnahm. Seit 1813 nahm
er an den gegen den Kaifer gerichteten Rundgebungen teil und
fpendete ihnen Beifall. Als Napoleon von der Inſel Elba
zurücfehrte, wollte der Biſchof ihn nicht befuden und weigerte
fi, während der Hundert Tage in den Kirchen für den Kaifer
beten zu loflen. |
Außer feiner Schwefter, Fräulein Baptiftine, hatte er noch
zwei Brüder; der eine war General, der andere Präfeft. Er
ftand mit ihnen in lebhaftem Briefwechfel. Zu dem erfteren
aber hatte er einige Zeit lang die Beziehungen abgebrochen, weil
er na Napoleons Landung in Cannes an der Spike von zwölf—
hundert Mann, die den Kaifer verfolgen follten, es fo angeftellt
hatte, daß Napoleon ihm entwifchte. Mit bem anderen DBru-
der, dem ehemaligen Präfeften, einem waderen und würdigen
Manne, der in Paris Iebte, wechfelte er freundfchaftliche Briefe.
Im übrigen war er in allen Dingen gerecht, wahr, Elug, be-
fheidben und würdig. Ein guter Priefter, ein Weifer und ein
Mann. Auch in feinen politifhen Anfichten war er — von jener
Einzelheit abgefehen, die wir berichteten und die wir hart ver-
urteilen — folerant und einfihtsvoll, vielleicht mehr als wir.
Der Torwart des Stadthaufes war vom Kaifer in Amt und
Würden eingefeßt worden. Es war ein ausgedienter Unteroffi-
jier der alten Garde, einer, der Aufterliß mitgemacht und dorf
bas Kreuz der Legion befommen hatte, Bonapartift von Scheitel
bis zur Sohle. Gelegentlich entfchlüpften diefem armen Teu—
fel unbedachte Äußerungen, die damals als aufrührerifche Reden
bewertet wurden. Seit das Bildnis des Kaifers von bem
Kreuz der Ehrenlegion entfernt worden wor, frug er nie mehr
Uniform, um nicht bas Kreuz anlegen zu müflen. Er hatte das
faiferlihe Bildnis ehrfürdtig aus dem Kreuz entfernt, dag Na—
poleon ihm felbft an die Bruſt geheftet hatte, aber die freie
48
Stelle Tieß er leer. ‚Lieber fterben,”’ fagte er, „als die drei
Kröten auf meinem Herzen tragen.’
Dft mate er fich laut über Ludwig XVIII. Iuftig.
„Wenn der Alte mit feinem Podagra doch zum Teufel ginge!
Menn er fi) doch mit feinen englifhen Gamafchen und feiner
Perücke zu den Preußen fheren möchte!” So verftand er es, in
einem einzigen Fluch die beiden Dinge zu vereinen, die er auf
der Welt am meiften verabfcheute, England und Preußen. Er
trieb e8 fo toll, daß er aus feinem Amt gejagt wurde. Jetzt lag
er brotlos mit Weib und Kindern auf der Straße. Der Bifchof
lie ihn Eommen, fehalt ihn milde aus und machte ihn zum Tür-
büter der Hauptfirde. So war er in neun Jahren dank feiner
frommen Handlungen und feines gütigen Verfahrens in ganz
Digne Gegenftand zärtliher Verehrung. Sogar fein Verhalten
gegen Napoleon wurde von dem Volk, bas feinen Kaifer an-
betete, aber auch feinen Bifchof Tiebte, verziehen und ſchweigend
übergangen.
7. Monfignore Bienvenu ift einfam
Saft immer find die Bifchöfe von einem Schwarm junger
Geiftliher umbrängt wie die Generäle von jungen Offizieren.
Un ihrer Gefolgfchaft gedeihen diefe Priefter, die der heilige
Stanz von Sales, diefer feine Kopf, irgendwo Gelbiehnäbel-
priefter nennt. Jede Karriere entwicelt Streber, die den Hoch—
gefommenen den Hof machen. Jede Macht fhafft fih ihre Ge-
folgfhaft, jedes Glück feinen Hof. Wer immer es auf eine
glänzende Zufunft abgeſehen hat, fammelt fit um eine glänzende
Gegenwart. Keine Metropole ohne ihren Stationsfomman-
danten. Wenn ein Bifchof über einen gewiſſen Einfluß verfügt,
folgt ihm auf Schritt und Tritt eine Esforte junger Cherubim
aus den Seminaren, die um ibn einen undurchdringlichen Kreis
bilden und aufpaflen, daß fein Lächeln nicht einem Fremden zu-
fallt. Dem Biſchof gefallen bedeutet eine Anwartfchaft auf ein
Unterdiafonst. Man will feinen Weg machen, und das Avoftolat
ſchließt bas Canonicat nicht aus.
4 Hugo, Die Elenden, 49
Sp mie es bei den Veamten den Dreifpis gibt, fo unter
den Männern der Kirche die Mitra. Da find diefe Bifchöfe,
die bei Hof gut angefchrieben find, reich, in der Gefellfchaft
etwas gelten, ohne Zweifel zu beten verftehen, aber darum
nicht minder gefchieft find auch weltliche Bitten vorzutragen, und
nicht anfteben, in den Vorzimmern der Großen zu fißen; fie find
das Sinnbild der vereinigten GeiftlichEeit und Diplomatie, eher
Abbés als Priefter, eher Prälaten als Bifchöfe. Wohl dem,
der in ihrem Schatten gedeiht. Überall haben fie Einfluß, und
fie Taffen auf Günftlinge und Schmeichler, auf alle diefe ge-
fälligen jungen Leute fette Pfarreien, Pfründen, Arbibiafonate,
Almofenierftellen und Ämter in den Kathedralen und bifchöf-
lihen Palais herabregnen. indem fie felbft ihren Weg macen,
fhleppen fie ihre Satelliten hinter fi her; es ift wie bei der
Sonne, die ihre Planeten durd das Weltall fchleift. Bon ihrem
Glanz fällt etwas ab auf ihre Gefolgfhaft. Ve reicher die Diö—
zefe des Biſchofs, um fo fetter die Pfarre, die er feinem Günft-
ling bieten Fann. Und gar erft Nom! Ein Bifchof, der es ver-
fteht, Erzbifchof zu werden, ein Erzbifchof, der es zum Kardinal
bringt, nimmt dic als Ronflaviften mit, du frittft in die Mota
ein, befommft das Pallium, wirft Rammerberr, Monfignore
fogar, und wer erft Bifchof ift, bat nur mehr einen Schritt zur
Eminenz, und von der Eminenz zur Heiligkeit führt die Wahl-
urne. Dos Barett darf immer von der Tiara träumen. Heut-
zutage ift der Priefter der einzige Menfch, der e8 regelrecht zum
König bringen Fann — und zu weld einem König! Welch eine
Pflanzſchule der Hoffnungen ift doch ein Priefterfeminar! Wie
viele fhüchtern errötende Chorfnaben, wie viele junge Abbes
tragen auf dem Kopf bereits den berühmten Korb mit den Eiern
aus der Fabel? Wie oft wird gewöhnlicher Ehrgeiz für innere
Berufung gehalten, und das noch in feliger Selbfttäufhung?
Monfignore Bienvenu, diefer befcheidene, arme, dabei bôdft
eigenartige Menfch, wurde nicht zu den großen Männern der
Kirhe gezählt. Man erkennt es fchon daran, daß fich Feine
jungen Priefter um ihn drängten. Wir haben fchon gefagt, daß
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er in Paris nicht „gut ankam“. Rein zufunftsfreudiger Abbe
wünfchte fi an diefen greifen Einzelgänger zu Elammern. Kein
befheidenes Pflänzlein wollte im Schatten diefes Baumes
grünen. Seine Canonici und Großvifare waren gute alte Män-
ner, Leute aus dem Volk wie er, denen die Diözefe Fein Sprung-
brett zum Kardinalsamt war, die ihrem Biſchof glichen und fi
von ihm nur in dem einzigen unterfchieden, daß fie bereits am
Ende ihrer Karriere angelangt waren, während er bod ein
Ziel erreicht hatte. Man wußte, daB Monfignore Vienvenu nie-
manden hochbrachte, und die jungen Leute, die aus feinem Se—
minar bervorgingen, ließen fi bald ben Erzbifhöfen von Air
oder Auch empfehlen und machten fid aus dem Staube. Denn
Ihließlih, um es sufammensufaffen, man will vorwärtsgeftoßen
werden. Ein Heiliger, der die Selbftverleugnung übertreibt, ift
ein gefährlicher Nachbar; man Fönnte ſich leicht mit unheilbarer
Armut anfteden, oder ein fo fteifes Rückgrat befommen, daß es
ein für allemal aus wäre mit dem Avancement; Tugenden, die
man beffer meidet. Darum wurde Monfignore DBienvenu allein
gelaffen. Wir leben in einer dumpfen Gefellfchaft. Vorwärts—
fommen, bas ift die höchfte Weisheit der Korruption.
Nichts ift fheubliher als diefes deal des Erfolges. Seine
trügerifche Ähnlichfeit mit dem Verdienſt täufcht die Menfchen.
Für die Menge bedeutet Erfolg foviel wie geiftige Überlegen-
heit. In unferer Zeit ift eine faft offizielle Philofophie in feinen
Dienft getreten und ift noch ftolz darauf, feine Livree zu fragen.
Wer das große Los gewinnt, gilt für einen Élugen Mann.
Mer triumphiert, ift ehrenwert. Von fünf oder fechs glänzenden
Ausnahmen abgefehen, bat unfer Jahrhundert, Éurafibtig, wie
es ift, nur falfhe Helden bewundert. Wenn ein Notar Abge-
ordneter wird, ein falfher Corneille einen Ziridates fehreibt,
ein Eunuch fih einen Harem zulegt, ein Säbelraßler zufällig
eine Entſcheidungsſchlacht fblügt, ein Apotheker für eine Armee
Pappſohlen liefert und damit vierhunderttaufend Livres Mente
ftiehlt, ein Haufierer fih auf den Wucher legt und damit fieben
oder aht Millionen zufammenrafft, ein Intendant bei feinem
a 51
Amtsaustritt fo reich ift, daB er Finanzminifter werden Éônnte,
dann gilt er heute für ein Genie, und man verwechfelt, was
leicht vergoldet ift, mit dem maffiven Gold.
ZweitesBuch
Der fall
1. Abend nad einem Tagmarſch
An einem der erften Tage des Dftobers 1815 betrat ein
Mann, der zu Fuß reifte, etwa eine Stunde vor Sonnenunter-
gang die Fleine Stadt Digne. Die wenigen Leute, die fih um
biefe Zeit am Fenfter oder an der Türſchwelle zeigten, betrach—
teten den Fremdling mit einer gewiffen Unruhe. Es war fchwer,
fi) einen herabgefommeneren Menfchen als diefen vorzuftellen.
Er war von mittlerem Wuchfe, ſtämmig und bei Kräften. Sein
Alter hätte man mit fechsundvierzig oder achtundvierzig fahren
angeben können. Seinen Kopf bederfte eine Mütze, deren Leder-
ſchirm fein fonnenverbranntes, ſchweißbedecktes Geficht zum Teil
verbarg. Sein Hemd aus grober, gelber Leinwand, das am
Halſe burd einen Éleinen filbernen Anker zufammengehalten
wurde, ließ eine behaarte Bruft feben. Sein Halstuch hatte er
wie einen Strif zufommengedreht, feine Hoſen waren aus
blauem Zwillih, zerfohliffen und fhübig, bas eine Dein am
Knie blanf gefheuert, bas andere durchlöchert. Er trug eine 3er-
riffene, graue Joppe, deren Ärmel am Ellbogen einen liefen
zeigten, einen vollen, gutverfcehnürten Zornifter, einen wuchtigen
Rnotenftot, genagelte Schuhe, aber Feine Strümpfe. Das Haar
trug er Furzgefchoren, der Bart war lang.
Niemand Fannte ihn. Offenbar war er nur auf dem Durd-
marſch. Von wo er fam? Aus dem Süden. Bielleicht vom
Meere. Denn er betrat Digne durch basfelbe Tor, burd das
Napoleon fieben Monate früher auf dem Wege von Cannes
nad Paris eingezogen war. Sichtlih war er den ganzen Tag
unterwegs gewefen. Er fchien febr müde. Frauen aus der Vor-
AR
ftadt, die gegen den Fluß zu liegt, hatten gefeben, wie er am
Ende der Promenade, unter den Bäumen des Boulevard Gaf-
fendi, ftebenblieb und aus einem Brunnen trank. Der Durft
mußte ihn arg quälen, denn Kinder hatten beobachtet, daß er
zweihundert Schritte fpäter, am Marktplatz, wieder Wafler aus
dem Brunnen fchöpfte.
An der Ede der Nue Poichevert angelangt, bog er links ab
und wandte fih dem Stadthaus zu. Er trat ein und Fam erft
nad) einer Viertelftunde wieder heraus. Ein Gendarm ſaß neben
53
dem Eingang auf einer Steinbanf, auf die General Drouot
om 4. März geftiegen war, um der erregten Menge die Pro-
Elamation aus dem Golfe von Juan vorzulefen. Der Wanderer
nahm die Mütze ab und grüßte den Gendarmen fbeu. Der ant-
wortete nicht, folgte ihm mit einem forfehenden Blick und ging
dann in bas Haus.
Es gab damals in Digne eine hübfche Herberge, la Eroir-de-
Colbas, deren Wirt, ein gewifler Vacquin Labarre, in der Stadt
wegen feiner Derwandtfchaft mit einem anderen Labarre hoch
im Anſehen ftand, weil jener andere in Grenoble die Herberge
zu den Trois Dauphins unterhielt und bei der Garde gedient
hatte. Zur Zeit der Landung Napoleons im Golfe von Yuan
hatte man fic in jener Gegend viel mit der Herberge der Troins
Dauphins befhäftigt. Es wurde erzählt, General Bertrand habe,
als Fuhrmann verkleidet, im Januar dort zu den Stammgäſten
gehört, unter den altgedienten Soldaten Kreuze der Ehrenlegion
und unter den Bürgern Napoleondors verteilt. Tatſache ift, daß
der Raifer bei feinem Einzuge in Grenoble nicht in der Prä-
feftur abfteigen wollte, fondern dem DBürgermeifter antwortete:
„Ich Éenne bier einen braven Mann, bei dem Éebre ich ein.”
Und er war in ben Trois Dauphins abgeftiegen. Diefer Ruhm
jenes Tabarre aus Grenoble ftrablte fünfundzwanzig Meilen
weit, und es fiel auch etwas davon auf die Eroir-de-Colbas ab.
Man fagte von ihrem Wirt in der Stadt: er ift der Better
jenes Labarre in Grenoble.
Zu biefer Herberge, der beften am Ort, lenfte der Wanderer
feine Schritte. Er trat in die Küche ein, zu der man unmittel-
bar von der Straße aus gelangte. Alle Herde waren angeheizt,
und aud im Kamin brannte ein luftiges Feuer. Der Wirt, der
aud fein eigener Rod war, ftand über die Reffel gebeugt und
überwachte die Zubereitung eines üppigen Abendbrots, das für
eine Gefelfhaft vergnügter Subrleute beftimmt war, die im
Mebenzimmer warteten. Wer gereift ift, weiß, daB die Roll—
futfher viel auf gutes Effen halten. Am Bratſpieß ftaf ein
fettes Kaninchen, von Nebhühnern flanfiert, und in den Keffeln
54
brieten zwei mächtige Karpfen aus dem See von Tauzet und
eine Forelle aus dem See von Alloz.
Als der Wirt die Tür fich öffnen und einen neuen Gaft ein-
treten hörte, fragte er, ohne von feinen Keffeln aufzubliden:
„Was wünſcht der Herr?‘
„Ich möchte hier eflen und fchlafen.‘
„Nichts leichter als dag,” er wandte den Kopf, maß ben
Srembling mit einem flüchtigen Blick und ergänzte: ,,voraus-
gefekt, daß Sie bezahlen.”
Der Mann zog eine pralle Lederbörfe aus der Taſche feiner
Joppe und antwortete:
„Ich babe Geld.”
„In diefem Salle — ganz zu Ihren Dienften.”
Der Mann ftefte die Börfe wieder in die Taſche, entledigte
fit feines Torniſters, ftellte ihn neben der Tür zu Boden, be-
hielt feinen Stod in der Hand und fehte fih am Kamin auf
einen Schemel. Dftoberabende find dort Falt, denn Digne Tiegt
im Gebirge.
Sm Hinundhergehen beobachtete der Wirt den Meifenden.
„Bird bald gegeſſen?“ fragte der Mann.
„Gleich.“
Während der Neuankömmling ſich an dem Kamin wärmte,
an den er ſich mit dem Rücken gelehnt hatte, zog der wackere
Herbergsvater Jacqin Labarre einen Bleiſtift aus der Taſche
und riß von einem alten Zeitungsblatt, das auf der Fenſterbank
lag, eine Ecke ab. Auf dieſem Fetzen Papier ſchrieb er ein paar
Zeilen, faltete ſie, ohne zu ſiegeln, und ſteckte ſie einem Knaben
zu, der als Küchenjunge und Hausburſche diente. Der Wirt
flüſterte ihm ein Wort zu, und der Junge lief eilig in der Rich—
tung nach dem Stadthauſe fort.
Der Gaſt batte nichts davon bemerkt.
„Wird bald gegeſſen?“ fragte er neuerlich.
„Gleich“, ſagte der Wirt.
Der Knabe kehrte zurück. Er brachte ein Stück Papier, das
der Wirt haſtig entfaltete wie jemand, der eine Antwort erwartet.
55
Er fhien aufmerffam zu lefen, fehüttelte dann den Kopf und
blieb einen Xugenblif lang nachdenklich. Endlich trat er zu
dem Deifenden, der vor fih bin zu brüten fchien.
„Herr, ih kann Sie nibt aufnehmen.”
Der Mann richtete fich auf feinem Schemel auf.
„Fürchten Sie, daß ich nicht bezahle? Wollen Sie, daß ich
Geld erlege? Ich babe doch Geld, wie ich ihnen bereits ſagte.“
„Es ift nicht darum.‘
„Barum dann?‘
„Sie haben Geld... .”
‚Allerdings.‘
„Aber ich babe Fein Zimmer frei’, erklärte der Wirt.
„But, fo tweifen Sie mir einen Platz im Stall an’, er-
widerte der Mann ruhig.
„Das Éann ich nicht.”
„Warum?“
„Die Pferde nehmen den ganzen Platz ein.“
„Gut, alſo einen Winkel im Speicher. Eine Schütte Stroh.
Wir werden nach dem Eſſen darüber ſprechen.“
„Ich kann Ihnen nichts zu eſſen vorſetzen.“
Dieſe Erklärung, in ruhigem, aber feſtem Ton gegeben,
machte den Fremden ſtutzig. Er erhob ſich.
„Ha, ich ſterbe Hungers. Seit Sonnenaufgang bin ich unter-
wegs. Zwölf Meilen bin ich gelaufen. Ich zahle. Ich muß etwas
zu eſſen haben!“
„Ich habe nichts.“
Der Mann lachte auf und deutete nach dem Herd.
„Nichts? Und was iſt das dort?“
„Alles beſtellt.“
„Von wem?“
„Von den Herren Rollkutſchern.“
„Wie viele ſind es?“
„Zwölf.“
„Aber das reicht für zwanzig Leute aus.“
„Sie haben alles beſtellt und vorausbezahlt.“
56
Der Mann feste fih und fagte gelaffen:
„Ich bin in der Herberge, id babe Hunger und bleibe.‘
Der Wirt beugte fih zu ibm herab und fagte mit einer Be—
tonung, die den andern erzittern ließ:
„Sehen Sie!’
Der Meifende hatte fich gebücdt und ftieß mit feinem Stock
einige Kohlen ins Feuer. est wandte er fih lebhaft um, aber
als er den Mund auftat, um zu antworten, fab ihn der Wirt
feft an und fuhr leife fort:
„Keine überflüfligen Worte! Wollen Sie, daB ih Ihnen
Vbren Namen fage? Sie heißen Jean Daljean. Und foll id
Ihnen fagen, wer Sie find? Als ich Sie eintreten fab, babe id
Lunte gerochen und ins Stadthaus gefhidt. Hier ift die Ant-
wort. Können Sie Iefen?”
Er reichte dem Fremden das entfaltete Papier, bas den Weg
von der Herberge zum Stadthaus und zurück gemacht hatte.
Der Mann warf einen DBli darauf. Nah einem Furzen
Schweigen fagte der Wirt:
„Ich bin zu jedermann höflich, bas ift meine Gewohnheit.
Gehen Sie.’
Der Mann fenfte den Kopf, nahm feinen Tornifter vom Bo—
den auf und ging.
Er ging die Hauptftraße entlang. Er fehritt vor ſich bin, dicht
an den Häufern entlang wie einer, der gedemütigt und erniedrigt
worden ift. Nicht ein einziges Mal wandte er fih um. Hätte er
es getan, fo wäre ihm nicht entgangen, daß der Wirt der Eroir-
de-Eolbag auf der Schwelle erfhienen war, im SKreife aller
Gäfte feiner Herberge und vieler Leute von der Straße, und
daß er mit dem Finger auf ihn zeigte; aus den mißtrauifchen
und erfhredten ‘Blicken der Leute hätte er wohl erraten Éônnen,
daß feine Ankunft in Eurzer Frift ein Ereignis der Stadt fein
würde,
Aber von alledem merfte er nichts. Leute, die bedrückt find,
feben fi nicht viel um. Sie wiffen nur zu gut, daß ein fchlim-
mes Schickſal ihnen folgt.
57.
Einige Zeit ging er weiter, durchſchritt Straßen, die er nicht
fannte, achtete feiner Müdigkeit nicht, wie bas in großer Trauer
wohl gefheben mag. Plötzlich fühlte er Iebhaften Hunger. Die
Nacht brad herein. Er hielt Umfchau, ob er nicht irgendwo ein
Quartier für die Nacht fände.
Aus der guten Herberge hatte man ihn fortgefhidt, fie war
ihm verfchloffen; alfo fuchte er ein befcheidenes Quartier, irgend-
einen notdürftigen Unterjfchlupf.
In diefem Augenbli flammte am Ende der Straße ein Licht
auf, ein Kiefernzweig, der an einer Eifenftange hing, zeichnete
fi) auf dem fablen Himmel der Dämmerung ab. Dabin wandte
er feine Schritte. Es war in der Tat eine Schenfe, eine Éleine
Gaftwirtfhaft in der Rue de Chaffaut. Der Meifende blieb
einen Augenblick fteben und fab dur bas Fenfter in ein nie-
deres Gemach, das von einer Éleinen Lampe auf dem Tiſch und
von einem großen Feuer im Kamin erhellt wurde. Einige
Männer faben auf den Bänken und tranfen. Der Wirt wärmte
fit am Feuer. Im Kamin hing ein Eifenfeffel an einer Quer-
ftange. Man betritt diefe Schenke, in der man aud Quartier
finden Fann, von der Straße aus oder durch eine andere Tür
aus einem Hof, in dem Dünger liegt.
Der Reifende wollte nit die Straßenpforte wählen.
Er fblid in den Hof, zögerte einen Augenblick, legte dann
feu die Hand auf die Klinfe und öffnete.
„Wer iſt da?’ fragte der Wirt.
„Jemand, der zu effen und zu fchlafen begehrt.”
„Gut. Hier gibt's zu effen, und hier Éann man ſchlafen.“ À
Der Fremde trat ein. Die Irinfer wandten fih nad ihm um. |
Die Lampe beleuchtete ibn von der einen Seite, bas Ramin-
feuer von der anderen. Man befab ſich ihn, während er feinen
Zornifter abnahm.
„Hier ift Feuer”, fagte der Wirt. , Das Abendbrot kocht im
Zopf. Wärmen Sie fidy hier, Kamerad.“
Der Fremde feste fih an den Kamin und firedte feine
müden Beine aus. Ein wohliger Duft aus dem Keflel ftieg ibm
58
in die Naſe. Sein Geficht, foweit es unter der Kappe erfennbar
war, nahm einen Ausdrud von Behagen an, hinter dem jebod
die fharfe Schrift des Elends nicht unlesbar wurde.
Es war übrigens ein Gefibt, bas Feftigfeit, Energie und
Trauer erfennen ließ. Eine feltfome Mifhung aus Demut und
Strenge. Die Augen leudteten unter den Brauen wie Feuer
im Geftrüpp.
‚Unter den Gäften befand fih ein Fifehhändler, der eben durch
die Straßentür eingetreten war, nachdem er fein Pferd bei
Labarre im Stall untergebradht hatte. Diefer Mann winfte
den Wirt zu fit. Die beiden wechfelten flüfternd einige Worte,
während der Fremde verfonnen am Feuer foß.
Seht trat der Wirt wieder an den Kamin, legte dem Frem-
den brüsf die Hand auf die Schulter und fagte:
„Mach', daß du fortlommit!”
Der Fremde wandte fih um und fragte ruhig:
„Ab, Sie wiſſen ...?“
„Ja!“
„Man hat mich aus der anderen Herberge fortgejagt.“
„Und man jagt dich auch aus dieſer fort.“
„Und wohin ſoll ich gehen?“
„Sonſtwohin.“
Der Fremde nahm ſeinen Stock und ſeinen Torniſter und
ging.
Als er auf die Straße trat, wurde er von einigen Kindern
empfangen, die ihm von der Croix-de-Colbas nachgelaufen waren
und Steine nad ihm warfen. Er wandte fih um und drohte
- ihnen mit dem Stod. Wie aufgefheudte Vögel ftoben fie aus-
einander.
Er Fam an dem Gefängnis vorbei. An der Tür hing eine
eiferne Kette, an der die Glode befeftigt war. Er fhellte.
As der Schließer öffnete, bat er mit demütig gezogener
Kappe:
„Herr Schließer, wollen Sie mir nicht öffnen und für biefe
Nacht Unterkunft geben?’
59
„Ein Gefängnis ift keine Herberge‘, antwortete die Stimme.
„Machen Sie, daß Sie arretiert werden, dann laffe ih Sie
herein.”
Das Schiebefenfter wurde gefchloffen.
Es wurde dunfel. Kalter Gebirgswind wehte. Im Schein
des verlöfchenden Tages bemerkte der Fremde in einem der
Gärten, die an die Straße ftoßen, eine Hütte, die mit Mafen-
ftücfen belegt war. Kurz entfhloffen fprang er über den Zaun
und drang in den arten ein. Er näherte ſich der Hütte. Sie
hatte einen fehr niedrigen Eingang und war jenen Hütten nicht
unñbnlich, die Straßenarbeiter im Chauffeegraben zu bauen
pflegen. Er dachte wohl, dag wäre ein Unterfehlupf für einen
Arbeiter. Ihn fror, und er bungerte. Den Hunger wollte er er-
fragen, und hier würde er wenigftens Schuß gegen die Kälte
finden. Solche Hütten find zumeift des Nachts nicht bewohnt.
Er legte fih auf den Boden und froh hinein. Es war warm
darin, aud fand er eine gute Schütte Stroh vor. Einen Augen-
blick blieb er ausgeftrecft liegen, ohne fih zu rühren, fo müde
war er. Da aber fein Tornifter ibn ftörte, wohl aud ein ganz
gutes Kiffen abgeben mochte, madte er fih daran, ihn abzu-
nehmen. In diefem Augenblif war ein grimmiges Knurren zu
hören. Er blidte auf. Der Kopf einer gewaltigen Dogge er-
fhien im Eingang.
Es war eine Hundehütte, in die er geraten war.
Aber er war ftarf und furdtlos. Mit feinem Stod als Waffe
und feinem Tornifter als Schild bewehrt, kroch er aus der
Hütte fo gut er Fonnte, wobei er allerdings feine Lumpen noch
ärger zerriß.
Auch aus dem Garten entfam er, rückwärts fehreitend und die
Dogge in Schach haltend mit einem Manöver, bas die Stock—
fechter „die gefchloflene Roſe“ nennen.
Als er nicht ohne Mühe den Zaun überſtiegen und die Straße
wieder erreicht hatte, fab er ſich von neuem allein, ohne Da,
ohne Lager, fogar aus der Hundehütte mit einer Schütte Stroh
60
verjagt; er ließ fi auf einen Stein fallen, und ein Vorüber—
gehender hörte ihn aufftöhnen:
„Sicht einmal foviel wie ein Hund!’
Bald erhob er fi) wieder und wanderte weiter, Éam an der
Präfektur und dem Seminar vorbei. Als er den Domplak über-
querte, ballte er die Fauft. Erfhöpft und jeder Hoffnung bar,
fireefte er fi auf einer Steinbanf aus.
In diefem Augenblif Fam eine alte Grau vorüber, die eben
die Kirche verlaffen hatte. Sie bemerkte den Mann im Schatten.
„Bas tut Ihr ba, guter Freund?’ fragte fie.
„Das feben Sie wohl, gute Frau, ich lege mich fchlafen””,
antwortete er hart und zornig.
Diefe gute Frau verdiente die Bezeichnung wirflih. Es war
die Marquife de M.
„Auf diefer Bank?’ fragte fie.
„Neunzehn Sabre babe id auf Holzpritfchen gelegen,” fagte
der Mann, „heute bleibt mir nur Stein übrig.’
„Sie waren wohl Soldat?”
„Ja, gute Stau, Soldat.‘
nBoarum gehen Sie nicht in die Herberge?”
„Weil ich Fein Geld habe.’
„Aber Sie Éônnen doch nicht im Freien fblafen? Gewiß
haben Sie Hunger und frieren. Man wird Sie aus Mitleid
aufnehmen.’
„Ich babe an alle Türen geklopft.“
„Und?“
„Uberall hat man mich fortgejagt.“
Sie berührte ihn am Arm und deutete auf ein kleines,
niedriges Haus neben dem biſchöflichen Palais.
„Überall haben Sie angeklopft?“
„Ja.“
„Waren Sie auch dort?“
„Nein.“
„Dann gehen Sie dahin.“
61
2. Borfihtund Weisheit
An diefem Abend war der Bifchof von Digne nah feinem
Spaziergange in der Stadt lange in fein Zimmer eingefchloffen
geblieben. Er arbeitete fleißig, no als es acht Uhr fehlug, hatte
ein großes, aufgefhlagenes Sud auf den Knien liegen und
machte auf Fleinen Zetteln Notizen, als Frau Magloire eintrat,
um wie gewöhnlich das Silbergefhirr aus dem Wandſchrank
neben dem Bett zu holen. Als der Biſchof einen Augenblid
ſpäter merfte, daß der Tiſch gedeckt war und feine Schwefter
vielleicht fhon wartete, ſchloß er fein Buch, ftand auf und trat
in den Speifefaal.
Es war ein rechteckiger Raum mit einem Kamin, einer Tür,
die geradeswegs auf die Straße führte, und einem Fenfter auf
den Garten hinaus.
Srau Magloire hatte in der Tat fhon gedecft. Sie plauderte
jebt mit Fräulein Baptiftine. Auf dem Tiſch, der an den Kamin
gerückt war, ftand eine Lampe, und im Ramin brannte ein
Seuer. Als der Biſchof eintrat, erörterte fie gerade lebhaft ihr
Lieblingsthema, das aud Monfignore Bienvenu nicht mehr un-
befannt war. Es handelte fi um die Klinfe der Straßentür.
Als fie für das Abendbrot einholen gegangen war, hatte Frau
Magloire an verfhiedenen Orten fhlimme Nachrichten erhalten.
Von einem übelausfehenden Strolch war die Mede gemefen,
einem verdächtigen Landftreicher, der fi in der Stadt herum-
trieb; und wer heute nacht lange ausblieb, Fonnte fi) auf eine
unangenehme Begegnung gefaßt machen. Die Polizei, war ge-
fagt worden, fei doch recht leichtfertig, offenbar, weil der Herr
Präfeft und der Herr Bürgermeifter nicht gerade gut aufein-
ander zu ſprechen waren, und jeder dem andern zu ſchaden hoffte,
wenn irgend etwas vorfiel. Darum war es für vorfichtige Leute
am beften, felber für ihre Sicherheit zu forgen, und da fei es
die erfte Pflicht, fein Haus anftändig zu verfchließen, zu ver-
riegeln und zu verfperren, Eurz, feine Türen gut zu verwahren.
Srau Magloire legte eine gewiffe Betonung auf das Wort
62
Züren, aber der Bifchof hatte in feinem Zimmer gefroren, und
darum richtete er fi) jest am Kamin häusli ein; feine Ge-
danken hatten eine andere Richtung genommen. Darum achtete
er der Bemerkung nicht fonderlid, die Frau Magloire gemacht
hatte, fie mußte fie wiederholen. Fräulein Baptiftine wollte ihr
einen Gefallen tun, sugleid aber ihrem Bruder nicht miffallen,
und darum Außerte fie ſchüchtern:
„Bruder, haft du gehört, was Grau Magloire ſagt?“
„Mir ift fo, als ob ich etwas gehört hätte”, antwortete der
Bifhof. Er wandte fih in feinem Stuhl halb um, legte die
Hände auf feine Knie und richtete feinen heiteren, vergnügten
DBli auf die alte Haushälterin: „Nun, was gibt’8? Schweben
wir in großer Gefahr?”
Test begann Frau Magloire von neuem, wobei fie, wohl
ohne es felbft recht zu bemerfen, ein wenig ftärfer auftrug. Kurz
und gut, ein barfüßiger Bandit, ein gefährlicher Räuber oder
fo etwas Ähnliches trieb fih dem Vernebmen nach in der Stadt
herum. Zuerft babe er bei Jaquin Labarre um Quartier nach—
gefucht, aber dort hatte man ibn nicht aufnehmen wollen. Später
war er auf dem Boulevard Gaffendi gefehen worden und habe
fi aud fonft herum in den Straßen gezeigt. Ein Kerl, reif
für den Galgen, mit einem Gefiht — fo redbt zum Angft-
kriegen.
„Wahrhaftig?“ meinte der Biſchof. Diefe DBereitwilligfeit,
fie anzuhören, ermutigte Frau Magloire. DBielleiht war der
Biſchof bob auch beunruhigt. Iriumphierend fuhr fie fort:
„Ja, fo ift e8. Heute nacht gibt es gewiß ein Unglück in der
Stadt. Alle Welt fagt das. Und dabei ift die Polizei fo nadh-
läſſig“ (eine nüblihe Wiederholung!). , Man lebt in gebirgigem
Sand, und nicht einmal Laternen brennen des Nachts in den
Straßen! Da fol man fib binaustrauen. Stodfinfter ift es
draußen. Darum fage ih, Monfignore, und dag Fräulein meint
wie ich .../!
„Ich meine gar nichts,“ unterbrad die Schwefter, „was mein
Bruder entfheidet, wird gut fein.”
63
Frau Magloire fuhr fort, ohne diefen Einfprud zu beachten.
„ir fagen alfo, daß diefes Haus gar nicht fiber ift, und
wenn Monfignore erlauben, fo gehe ich fofort zu Paulin Mufe-
bois, dem Schloffer, damit er die alten Riegel wieder an der
Züre anbringt. Sie find nod zur Hand, das Ganze ift in einer
Minute gemaht. Wir müflen die Riegel haben, Monfignore,
und wäre es nur für heute nacht, denn eine Tür, die jeder von
außen mit der Klinfe aufbriüden Fann, der erfte befte, der vor-
beifommt, ift bas Schredflichfte von der Welt, noch dazu, wenn
man bedenkt, daß Monfignore die Gewohnheit haben, immer
gleich ‚herein‘ zu rufen. Und um Mitternacht, großer Gott,
braucht Feiner erft um Erlaubnis zu fragen...“
In diefem Augenbli wurde Fräftig an die Türe geflopft.
„Herein!’ rief der Bischof.
3. Heroifher Geborfam
Die Tür ging auf.
Heftig wurde fie aufgeriffen — ein Mann trat ein.
Mir Fennen diefen Mann. Es ift derfelbe, den wir eine
Stunde vorher auf der Suche nah einem Obdach gefehen
haben.
Er tat einen Schritt vorwärts und blieb dann fteben, ohne
die Tür hinter fich wieder zu verfchließen. Den Zornifter hatte
er auf dem Rücken, den Stock in der Hand; in feinem Blick
war etwas Rauhes, Kühnes, Erfehredliches. Licht vom Kamin-
feuer fiel ihm grell ins Gefiht. Er fab unheimlich aus.
Srau Magloire brachte nicht einmal die Kraft auf, einen
Schrei auszuftoßen. Sie zitterte und blieb mit offenem Munde
ftehen. Fräulein Baptiftine wandte fih um, warf einen Bli auf
den Fremden, zuckte erfehroden zufammen, fab aber fofort nad
ihrem Bruder, deflen Geficht tiefe Ruhe und Heiterfeit aus-
ftrablte.
Gelaffen betrachtete der Bifchof den Fremden. Als er den
Mund auftat, um den Ankömmling zu fragen, was er wünfce,
ftüßte diefer beide Hände auf feinen Stod, ließ den Blick baftig
64
über den Greis und die beiden Frauen bingleiten und fagte
dann laut, ohne eine Anrede abzuwarten:
„So ift e8, ich heiße jean Valjean. Sch bin ein Galeeren-
fträfling. Neungehn Vabre war ih im Bagno. Bor vier Tagen
bat man mid in Freiheit gefeßt, und jeßt gebe ih nah Pon-
tarlier, dag ift mein Beftimmungsort. Schon vier Tage bin ich
unterwegs, feit Toulon. Heute bin ich zwölf Meilen zu Fuß ge-
laufen. Als id heute abend bier anfam, war ich in einer Ser-
berge, aber man bat mich weggejagt, weil ich den gelben Pat
babe; den mußte id im Stadthaus vorzeigen. So ift die Vor—
Schrift. Dann war ich in einer anderen Herberge. Da haben fie
gejagt: pad” dich! Beim einen fo, beim anderen fo, Feiner will
mich. Ich war vor dem Gefängnis, der Scließer wollte mid)
nicht bereinlaffen. Auch in einer Hundehütte. Der Hund hat
mich gebiffen und verfcheucht, als wäre er ein Menſch. Als ob
er wüßte, wer ich bin. Hier auf dem Platz wollte ih mid) auf
eine Steinbanf legen, da Fam eine Frau, zeigte mir hr Haus
und fagte: Klopfen Sie da an. Ich habe es getan. Was ift das
für ein Haus hier? Eine Herberge? Ich babe Geld, bundert-
neun Sranfen und fünfzehn Sous. Die babe id in neungehn
Sahren, im Bagno, verdient. Sch will bezahlen. Was liegt mir
daran, ich babe ja Geld. Sehr müde bin ich, zwölf Meilen zu
Fuß — ! Und febr hungrig. Soll ich bleiben?”
„Noch ein Gedeck, Frau Magloire!’ fagte der Bischof.
Der Mann trat drei Schritte vor, bis an die Lampe heran,
die auf dem Tiſch ftanb.
„Hören Sie, fagte er, „Sie haben mid wohl nicht richtig
verftanden. Sch bin ein Oaleerenfträfling. Zwangsarbeit. Ich
komme von den Galeeren.” Er 309 ein gelbes Blatt Papier aus
der Taſche. , Das da ift mein Pas. Ein gelber, wie Sie fehen.
Das dient dazu, daß ich überall fortgejagt werde. Wollen Sie
ihn lefen? Ich kann Iefen, Herr, ich babe e8 im Bagno gelernt.
Das ift eine feine Schule für die, die Iernen wollen. Sehen
Sie doch, was da fteht: Jean Valjean, entlaffener Sträfling,
geboren zu... Nun, bas ift ja egal, Sie Fümmert das nit...
5 Hugo, Die Elenden. 65
Alſo: war neunzehn Jahre im Bagno. Fünf Jahre wegen Ein-
brudhsdiebftahl, vierzehn Sabre wegen verfuchten Ausbruchs.
Sehr gefährlih! Da fteht es. Jedermann wirft mich heraus.
Mollen Sie mid aufnehmen? ft das eine Herberge? Wollen
Sie mir zu effen und Unterfunft geben? Haben Sie einen Stall?”
„Frau Magloire, fagte der Bifchof, „überziehen Sie das
Bett im Alfoven mit neuen Laken.“
Frau Magloire ging hinaus, um zu fun, was ihr befohlen
worden war.
Der Biſchof wandte fih an den Fremden:
„Seen Sie fih, mein Herr, und wärmen Sie fih. Wir
werden gleich effen und man wird inzwifchen Ihr Bett bereiten.‘
est begriff der Mann erft ganz. Sein Geſicht, das bisher
hart und finfter gewefen war, verriet Verblüffung, Zweifel und
Freude. Er ftammelte wie ein Vrrer.
nBabrhaftig, Sie wollen mich bierbebalten? Sie werfen
mich nicht heraus? Mid, einen Sträfling, nennen Sie Herr?
Sie duzen mich nicht? ch war feft überzeugt, daB Sie mich
fortfhiden würden. Darum babe ich gleich gejagt, wer ich bin.
Das wor eine gute Frau, die mich bierbergefhidt bat. Und
effen werde ih auch! Und ein Bett haben mit Matratze und
Lafen! Ein Bett... neunsebn Sabre lang babe ich nicht in
einem Bett gelegen! Sie find gute Leute. Ich babe ja Geld, ich
werde Sie fon bezahlen. Verzeihung, Herr Wirt, wie heißen
Sie? Vh werde alles bezahlen, foviel e8 ausmacht. Sie find
bob Wirt, nicht wahr?‘
„Ich bin ein Priefter aus diefem Ort“, fagte der Bischof.
„Ein Priefter... ein waderer Priefter! Dann wollen Sie
wohl gar Fein Geld? Sie find Pfarrer? Pfarrer von der großen
Rirhe da? Ach, wahrhaftig, ich bin blöde, babe gar nicht be-
merft, daß Sie bas Käppchen fragen.’
Inzwiſchen hatte er feinen Zornifter abgelegt, ben Stod in
die Ede geftellt, feinen Paß eingeftecft und ſich gefeßt. Fräulein
Baptiftines Blick rubte fanft auf ihm. Er fuhr fort:
„Sie find menfohlih, Herr Pfarrer, Sie verachten mid
66
nicht. Das tut wohl — einmal ein guter Priefter. Sie brauchen
wohl auch Fein Geld?”
„Nein,“ erwiderte der DBifchof, „behalten Sie hr Geld.
Mieviel haben Sie übrigens? Sagten Sie nicht, e8 wären
hundertneun Franken?’
„Mund fünfzehn Sous.“
„Hundertneun Sranfen und fünfjehn Sous! Wie Tange
brauchten Sie, um bas zu verdienen?’
„Neunzehn jahre.‘
Der Bifchof feufzte tief.
„Ich babe noch alles’, fuhr der Fremde fort. „Seit vier
Zagen babe ich nur fünfundgwanzig Sous ausgegeben, und die
babe ich in Graffe verdient, beim Wagenladen. Da Sie Abbe
find, muß ich Ihnen fagen, daß wir im Bagno einen Almofenier
hatten. Auch einen Biſchof fab ich eines Tages, fo einen, der
Monfignore angeredet wird. Das mar der Biſchof von Ste.
Marie-Majore in Marfeille. Das ift der Pfarrer, dem die an-
dern Pfarrer geborhen müflen. Sie müffen mich entfchuldigen,
ich fage bas nicht gefchieft, aber unfereiner verfteht es nicht beffer.
Sie werden mic ſchon verftehen. Er bat im Bagno die Meffe
gelefen, und auf dem Kopfe hatte er einen fpißen Hut aus
Gold. Es war am bellihten Mittag, alles an ihm glißerte. Wir
ftanden ringsum in Reihen, vor ung hatte man Kanonen auf-
geftellt, mit brennender Lunte. Wir faben nicht fehr viel; er bat
auch gepredigt, aber er ftand weitab, man hörte nicht viel. Das
ift ein Bifchof, verftehen Sie.’
Während er fprah, war der Bifchof aufgeftanden und hatte
die Züre gefchloffen, die offen geblieben war. Grau Magloire
trat ein. Sie brachte ein Gedeck und legte es auf den Tifch.
„Frau Magloire,“ fagte der Bifchof, „decken Sie möglichft
nahe am Kamin.” Und zu feinem Gaft gewendet: „Der Nacht—
wind ift hart in den Alpen. Sie frieren wohl, Herr Valjean?“
Sooft er Herr fagte, leuchtete bas Geficht des Fremden auf.
Der Gedemütigte dürfter nach Achtung.
„Diele Lampe Teuchter febr ſchlecht“, fagte der Biſchof.
di 67
Frau Magloire begriff, ging in das Schlafzimmer des Bi-
fhofs und holte die beiden filbernen Leuchter vom Kamin; fie
ftellte fie brennend auf den Tiſch.
„Herr Pfarrer,’ fagte der Fremde, „Sie find gut, Sie
nehmen mich auf, Sie ftecfen fogar für mich hr Kerzen an.
Und id babe Ihnen dod gar nicht verfchwiegen, wo ich ber-
gefommen und daß ich ein Unglücflicher bin.’
„Sie brauchten mir bas nicht zu ſagen“, erwiderte der Bi—
Ihof und berührte fanft die Hand des Fremden. „Dies ift nicht
mein Haus, fondern das Haus Cbrifti. Wer hier eintritt, wird
nit um feinen Namen gefragt, er braucht nur zu fagen, Daß er
Mot leidet. Sie leiden, Sie haben Hunger und Durft, alfo
feien Sie uns willfommen. Danfen Sie mir nicht, fagen Sie
niet, daß id Sie in meinem Haufe aufnehme. Hier ift niemand
zu Haufe außer dem, der eine Zuflucht fut. Sie find hier mehr
zu Haufe als ih. Mas hier ift, gehört Ihnen. Wozu braude ich
Ihren Namen zu wiffen? ... Sie haben wohl viel Arges durd-
gemacht?‘
„Oh, die rote Yade, eine Ranonenfugel am Bein, ein Brett
als Nachtlager, Sie, Sroft, Arbeit, Prügel, um nichts und
wieder nichts die doppelte Kette, für ein Wort die Einzelzelle.
Und fogar im Kranfenbett nod die Kette. Die Hunde. . . Die
Hunde find beffer dran! Meunzehn Jahre! Ich bin jest ſechs—
undvierzig alt. Und jetzt ... der gelbe Paß. Das ift dag Ende.‘
„Sie fommen von einem Ort des Jammers“, erwiderte der
Bifhof. „Aber hören Sie, im Himmel ift mehr Freude über
die Tränen eines reuigen Sünders als über bas weiße Gewand
von hundert Gerechten. Wenn Sie von jenem Ort des Leidens
heimfehren mit Haß und Groll wider die Menfhen, fo find Sie
wohl zu beklagen; find Sie aber fanft, friedlih und wobl-
wollend, dann taugen Sie mehr als jeder von ung.’
Inzwiſchen hatte Grau Magloire das Abendbrot aufgetragen:
Brotfuppe, ein Stüf Sped, Hammelfleifh, Feigen, frifhen
Käſe und ein Noggenbrot. Sie hatte nod eine Flafche von des
Biſchofs altem Mauves beigefteuert.
68
Sofort fpiegelte bas Gefibt des Biſchofs jene Heiterkeit, die
gaftfreundlihen Menfhen eignet.
„zu Tiſch!“ rief er lebbaft, und er ließ den Fremden an
feiner rechten Seite Plab nehmen, wie er es zu tun pflegte,
wenn er einen Gaft bei fit hatte. Fräulein DBaptiftine nahm
ruhig und unbefangen zu feiner Linken ihren Plas ein. Der
Biſchof fprad bas Tifehgebet und teilte, wie es eine Gewohnheit
war, felbft die Suppe aus. Der Fremde af gierig.
Plöslich fagte der Biſchof: „Mir fheint, es fehlt etwas auf
dem Tiſch!“
Frau Magloire hatte in der Tat nur die drei nötigen Gedede
aufgelegt. Es war aber der Brauch des Haufes, daB alle ſechs
Silberbeftedfe aufgelegt wurden, wenn ein Gaft bewirtet wurde.
Harmlofe Eitelkeit. Liebenswürdiger, Eindlicher Lurus in diefem
ernften, ruhigen Haufe, in dem die Armut für Anftändigfeit
Halt.
Frau Magloire begriff, ging wortlos hinaus, und einen
Augenblick fpäter funfelten die drei Beſtecke auf dem Tiſchtuch.
4. Einzelheiten über die Käfereien
in Pontarlier
Um unfere Lefer wiffen zu laffen, was an jener Tafel vor-
ging, zitieren wir einen Brief Fräulein Baptiftines an ihre
Jugendfreundin, die Vicomteſſe de Bois-Chevron.
Der Mann achtete auf niemand. Er aß gierig wie einer, der
am Verhungern ift. Mad dem Effen fagte er endlich:
„Herr Pfarrer, das ift alles viel zu gut für mich, aber offen
geftanden, die Nollkutfcher, die mich nicht an ihrem Tiſch haben
wollten, lebten beffer als Sie.’
Unter uns gejagt, diefe Bemerkung ärgerte mich. Mein Bru-
der antwortete:
„Sie haben aud mehr Plage als ich.”
„Dein, das nicht," fagte der Mann, „aber mehr Geld. Sie
69
find arm, bas febe id wohl. Vielleicht find Sie nicht einmal
Pfarrer. Sind Sie wenigftens Pfarrer? Wahrhaftig, wenn der
liebe Gott gerecht wäre, müßten Sie Pfarrer fein.‘
„Der liebe Gott ift mehr als gerecht”, fagte mein Bruder.
Dann nad einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: „Herr
Baljean, Sie gehen nad Pontarlier ?//
„Mit vorgefchriebener Route.
So war, wenn id mich recht erinnere, der Ausdruf.
„Morgen, bei Zagesanbrudh, muß ich wieder unterwegs fein”,
fuhr er fort. „Es ift ein harter Marſch. Wenn die Nächte auch
Folt find, ift es bei Tag doch recht heiß.”
„un, meinte mein Bruder, „Sie kommen da in eine gute
Gegend. Meine Familie ift dur die Mevolution zugrunde ge-
richtet worden, und ich bin zunächſt in die Franche-Comté ge-
flohen; dort lebte ich einige Zeit lang von meiner Hände Arbeit.
Ich war gutwillig, und fo fond ih Beihäftigung. Man fann
dort frei wählen, in diefer Gegend. Es gibt Papiermühlen,
Gerbereien, Branntweinbrennereien, Ölpreffen, große Ubren-
fabrifen, Stahlwerfe, Rupfermerfe, mindeftens zwanzig Eifen-
bütten, deren vier recht umfangreich find, und zwar die in Lobs,
Châtillon, Audineourt und Beur ...“
Sch glaube mich nicht zu täuschen, dag waren wohl die Na—
men, die mein Bruder nannte, dann unterbrad er fih und
richtete das Wort an mid.
„Liebe Schwefter, haben wir nicht dort Verwandte?”
„Doch, antwortete ich, „wir hatten wenigftens welche, unter
andern Herrn de Lucenet, der bei der Torwache zu Pontarlier
Hauptmann war unter dem alten Regime.’
„Ja,“ meinte mein Druder, ‚aber Anno 93 war e8 nichts
mit den Verwandten, da mußte jeder fih auf feine eigenen
Hände verlaffen. Sch babe gearbeitet. Übrigens gibt es in der
Gegend von Pontarlier, Herr Valjean, eine recht patriarcha—
life und anheimelnde Ynbuftrie — die Käfereien . . .
Nun feste mein Bruder, während er den Fremden wieder
zuzugreifen nôtigte, auseinander, wie biefe Käfereien in Pon—
70
tarlier eingerichtet find. Man unterfheidet ihrer zwei Arten, die
großen, die reichen Leuten gehören und über vierzig bis fünfzig
Kühe verfügen, fo daß fie fieben- bis achttaufend Käfe im Jahr
liefern Éônnen; und dann die Genoffenfchaftskfäfereien, die den
Armen gehören; die Bauern des Mittelgebirges tun fih in
biefen Detrieben zufammen, liefern den Milchertrag ihrer Kühe
gemeinfom ein und teilen fi in den Gewinn. Sie nehmen auf
gemeinfame Rechnung einen Käfer in Dienft, deflen Aufgabe
es ift, dreimal täglich von den Mitgliedern der Genoffenfaft
Milk abzuholen und die gelieferten Mengen auf einem dop-
pelten Kerbholz zu vermerken. Gegen Ende April beginnt die
Arbeit der Käfereien; Mitte Juni führen die Käfer ihre Kühe
in die Berge.
Der Fremde wurde während des Effens zuſehends Tebhafter.
Mein Bruder hieß ihn von dem guten Mauves trinken, den er
felber niemals trinft, denn er ift zu teuer. Er ſprach mit biefer
verhaltenen Heiterkeit, die Sie ja an ihm Fennen, wobei er ge-
legentlid ein freundliches Wort für mich einflocht. Immer wie-
der Fam er auf die Annehmlichkeiten des Käferberufs zurück, als
ob er den Mann darauf binlenfen wollte, daß er vielleicht auf
diefem Wege ein Ausfommen finden würde — bod wollte er
ihn offenbar nicht unmittelbar darauf ftoßen.
Als wir bei den Feigen waren, wurde an die Tir geflopft.
Es war Mutter Gerbaut, die ihren Jungen auf dem Arm trug.
Mein Bruder Füßte den Kleinen auf die Stirn und lieh ſich
von mir fünfzehn Sous, die ich gerade bei mir hatte, um fie
der armen Frau zu geben. Unfer Gaft achtete mittlerweile nicht
darauf, was vorging. Er fprad nicht und fab fehr müde aus.
Als die arme alte Frau Gerbaut fortgegangen war, fprad mein
Bruder das Danfgebet, dann wandte er fich zu dem Gaft und
fagte:
„Sie bedürfen gewiß fehr des Bettes.“
Frau Magloire hatte raſch abgededt. ch begriff, daB wir
ung zurückziehen follten, um den Fremden fchlafen zu laffen. So
fliegen wir in unfere Schlafgemäcder hinauf. Doch fandte ich
71
Srau Magloire Fur nachher nod einmal hinunter, damit
fie ibm das Gemfenfell aus meinem Zimmer aufs Bett legen
möchte. Die Nächte find jest eifig und folh ein Fell hält warm.
Schade, daß es fon fo alt ift, alle Haare gehen ihm aus.
Mein Bruder bat es feinerzeit gekauft, als er in Deutfbland
war, in Zottlingen, in der Mähe der Donauquellen.
Frau Magloire Fam gleich wieder heraus, wir beteten zu-
fammen, und dann gingen wir, ohne ein Wort zu fprechen, jede
in unfere Schlaffammer.
5. Rube
Nachdem Monfignore Bienvenu feiner Schwefter gute Nacht
gefagt hatte, nahm er einen der beiden Silberleuchter vom Tifch,
gab den andern feinem Gaft und fagte:
„Ich werde Sie jest in hr Zimmer führen, mein Herr.”
Der Mann folgte ihm.
Das Haus war fo eingerichtet, daß man, um in bas Bet-
zimmer und in den Alkoven zu gelangen, bas Schlafzimmer des
Bifhofs durchqueren mußte. Als er durch diefes Zimmer fohritt,
war Frau Magloire gerade dabei, das Silber in dem am Kopf-
ende des Vettes ftebenden MWandfchranf zu verfchließen. Das
pflegte allabendlih ihre letzte Verrichtung zu fein.
Der Bifchof führte feinen Gaft in den Alfoven. Ein weißes,
frifhes Bett war dort gerichtet. Der Fremde ftellte feinen
Leuchter auf ein Éleines Tiſchchen.
„Und nun gute Macht, fagte der Biſchof. „Bevor Sie
morgen früh aufbrechen, follen Sie eine Taſſe Mil) von un-
feren Kühen befommen, nod warm.”
„Danke, Herr Abbe’, erwiderte der andere.
Kaum hatte er diefe friedvollen Worte ausgefproben, als
plüslid und ohne Übergang eine feltfame Regung ihn ergriff,
über die jene beiden frommen Frauen zu Eis erftarrt wären,
wenn fie fie hätten mit anfeben müflen. Mob heute wird es ung
ſchwer, Klarheit darüber zu gewinnen, was in jenem Augenblid
12
in ibm vorging. Wollte er warnen, wollte er drohen? Oder ge-
borte er ganz einfach einer inftinftiven, ihm felbft unverftänd-
liben NRegung? Er wandte ſich jäh nach dem Greis um, kreuzte
die Arme, richtete einen wilden Blick auf feinen Wirt und rief
laut:
„Wahrhaftig, Sie wollen mich bier fehlafen en gleich
neben Ihrer Tür?’
Er unterbrah fih, lachte unheimlih auf und fuhr fort:
„Haben Sie fit denn bas auch überlegt? Wer fagt Ihnen, daß
ich nicht ein Mörder bin?’
„Das ift Gottes Sache“, erwiderte der Bifchof.
Und er erhob zwei Singer der rechten Hand, fegnete den Gaft,
der regungslog blieb, und trat, ohne fi) umzumenden oder zu—
rüczublicfen, in fein Gemach.
6. Jean Baljean
Um Mitternaht ermachte Sean Daljeon. Sean Daljean ent-
ftammte einer armen Sauernfamilie aus der Gegend von Brie.
In feiner Kindheit hatte er nicht lefen gelernt. Als er in die
Fahre Fam, wurde er Baumfcherer in Faverolles. Seine Mutter
hieß Jeanne Mathieu; fein Vater Sean Valjean oder Vlajean,
ein Name, der offenbar aus einem Spitznamen entftanden war,
gufammengezogen aus voilà Jean, feht doch Sean.
Sean Valjean war von nachdenflichem, wenn auch nicht trüb-
finnigem Charakter, wie dies bei Tiebesfähigen Maturen fo
haufig vorkommt. Alles in allem wohl etwas verfhlafen und
matt, wenigfteng dem Außeren nah. Schon in frübefter Kind-
heit verlor er Vater und Mutter. Die Mutter war an einem
vernachläſſigtem Milchfieber geftorben, der Water, der gleich-
falls Baumfcherer gewefen, holte fich bei einem Sturz den Tod.
So verblieb Sean Valjean nur eine ältere Schwefter, die be-
reits Witwe war und fieben Kinder, Knaben und Mädchen, zu
ernähren hatte. Diefe Schwefter hatte Jean Valjean erzogen
und, folange ihr Gatte lebte, durcdhgebradt. Nun, der Mann
73
ftarb. Damals war bas ältefte der Kinder acht Vabre alt, bas
jüngfte eins. Sean nod nit fünfundzwanzig. Er trat an die
Stelle des Vaters und erhielt jeht die Schwefter, wie fie ihn
erhalten hatte. Das fat er ganz felbfiverffänblih, wie eine
Pflicht. Seine Tugend verbraudte er in fchwerer, fchlecht-
bezahlter Arbeit. Nie fab man ihn mit einer Freundin, er hatte
Feine Zeit, Liebfehaften anzufangen.
Des Abends Fehrte er müde nach Haufe zurück und af wort-
[os feine Suppe. Während er af, griff wohl Mutter Jeanne,
feine Schwefter, oft den ſchmackhafteſten Biffen aus feinem
Zeller, ein Stück Fleifh, eine Scheibe Sped, bas Herz eines
Kohlfopfs, um es einem ihrer Kinder zuzuſtecken; er blieb ruhig
über feinen Zeller gebeugt, ohne den Kopf zu erheben, achtete
deffen nicht. in Saverolles wohnte unweit von Daljeang Hütte,
auf der anderen Seite der Straße, eine Bäuerin, die Marie-
Claude hieß; die Kinder, die nie fatt werden Fonnten, liefen oft
zu ihr hinüber, um angeblih im Namen der Mutter eine Pinte
Milch auf Borg zu nehmen, die fie dann hinter einer Hecke oder
in einem Winkel der Allee baftig austranfen, wobei fie einander
den Napf aus der Hand zu reißen fuchten, fo daß fhließlich die
Hälfte über die Schürzen lief. Hätte die Mutter von diefem
Streich etwas erfahren, gewiß hätte fie die fleinen Sünder
ftreng beftroft. Der raube, mürrifhe Sean Valjean aber be-
zahlte hinter dem Rücken der Mutter die Schuld, und fo kamen
die Kinder ungeftraft davon.
In der Saifon verdiente er als Baumſcherer achtzehn Sous
täglich; fpäter nahm er Dienft als Melfer, Handlanger, Hirt.
Er tat was er Fonnte. Auch feine Schwefter raderte ſich ab,
aber die fieben Kinder ließen ihr wenig Zeit.
Es gefhah, daß ein Winter fireng war. Da fand Sean Feine
Beſchäftigung. Es fehlte der Familie an ‘Brot, buchſtäblich. Der
Familie mit ihren fieben Kindern.
Eines Sonntags am Abend wollte Maubert Iſabeau, Bäder
om Kirchplatz zu Faverolles, eben zu Bett gehen, als er von
dem Scaufenfter feines Ladens herauf heftigen Lärm hörte.
14
Er Fam gerade zurecht, um einen Arm zu fehen, der durd ein
Tod) eingedrungen war, das eben erft mit der Fauft in die Glas—
Iheibe gefchlagen worden war; eine Hand ergriff ein Brot und
309 e8 heraus. Iſabeau eilte hinaus. Der Dieb rannte, was feine
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Beine hergaben; aber Iſabeau befam ihn zu faffen. Zwar hatte
der Dieb bas Brot fortgeworfen, aber fein Arm war nod
blutig und zerfchunden. Es war Jean Valjean.
Dies trug fi Anno 1795 zu. Sean Valjean wurde vor Ge-
richt geftellt, weil er ‚des Nachts in ein bewohntes Haus
75
eingebrochen wäre”. Er befaß ein Gewehr, das er fehr wohl zu
handhaben verftand, denn er war aud ein wenig MWilddieb; das
belaftete ihn. Wie der Schmuggler, wird aud der MWilddieb
gern für eine Art Räuber angefeben. Doch, wir müſſen es
nebenbei erwähnen, befteht ein gewaltiger Unterfchied zwifchen
diefen Leuten und den fheußlihen Mördern, die die Städte be-
völfern. Der Wilddieb lebt im Wald, der Schmuggler im Ge-
birge oder auf dem Meer. Die Städte mahen den Menfchen
graufam und erzeugen Serderbnis, das Gebirge aber, das Meer,
der Wald, bringen wilde, menfchenfcheue Leute hervor, fie ent-
wiceln den rauhen Cbarafter, ertöten aber nicht alle Menſch—
lichkeit.
Sean Baljean wurde fhuldig gefprodhen. Der Wortlaut des
Geſetzes war Ear. Es gibt in unferer Zivilifation furbtbare
Augenblife — jene Momente, da der Schiffbrud eines Men-
fhen dur die Juſtiz feierlich verkündet wird. Wie düfter ift die
Minute, in der die Gefellfchaft fih von einem Menſchen ab-
wendet und ein benfendes Weſen unmiderruflih und für immer
aus ihrer Mitte verftößt!
Jean Daljean wurde zu fünf Vabren Arbeit auf den Ga-
leeren verurteilt.
Am 22. April 1796 wurde in Paris ein Sieg ausgerufen,
den der Oberfommandierende der Armeen in Italien bei Mon-
tenotte errungen hatte, jener General, den die Botfchaft des
Direftoriums an den Nat der Fünfhundert vom 2. Floreal des
Sahres IV Buona-Parte nennt; am felben Tage wurden in
Disetre eine Meihe von Strafgefangenen an die Kette gelegt.
Auch Sean Valjean wurde ein Glied diefer Kette. Ein alter
Schließer jenes Gefängniffes, der heute neunzig Jahre zählt,
erinnert fi noch jenes Unglüclichen, der damals in der Nord—
ee des Hofes an das Ende der vierten Kette gefchmiedet wurde.
Wie die andern, hatte er fih auf den Boden gefeñt. Offenbar
begriff er nicht, was mit ihm vorging, empfand nur, daß eg
etwas Schreckliches war. Vielleicht, wahrſcheinlich fogar, rang
unter den verfchiedenen Gedanfen, die biefen unmiflenden
76
Menfhen peinigten, einer fi allmählich durch. Während hinter
feinem Kopf mit ſchweren Hammerſchlägen fein Halseifen zu-
gefblagen wurde, weinte er fo heftig, daß er Faum zu fprechen
vermochte, und er fagte nur von Zeit zu Zeit: „Ich war Baum-
fherer in Faverolles!“ Dann erhob er fehluchzend feine rechte
Hand und fenfte fie, ftufenweife, fiebenmal, als ob er der Reihe
nad fieben Köpfe von Kindern berübre, und daraus errieten
die Leute, daß er, was immer er getan haben mochte, nur fchul-
dig geworden fei, weil er biefe fieben Kinder hatte ernähren und
befleiden wollen.
Er Fam nad Toulon nad einer Meife von fiebenundzwanzig
Zagen, die er, die Kette am Halfe, auf einem Karren zurück—
gelegt hatte. In Toulon zogen fie ibm die rote Yade an und
bier wurde fein ganzes früheres Leben ausgelöſcht, ja fogar auch
fein Name, denn er war jeßt nicht mehr Jean Valjean, fondern
Nummer 24601. Was wurde aus feiner Schwefter? Was
aus den fieben Kindern? Wer kümmert fih darum? Was wird
aus ein paar Blättern des Baumes, an deffen Fuß die Säge
gefeßt worden ift?
Es ift immer die gleihe Gefhichte. Diefe beflagengwerten
Geihöpfe, die nunmehr ohne Stüße und ohne Führer waren,
wurden auseinandergetrieben vom Zufall, vielleicht jeder wo-
anders bin. Sie verließen die Heimat. Der Kirchturm des
Ortes, der ihre Heimat gewefen war, vergaß fie; ihr Aer ver-
gaB fie; Tchließlich vergaß aud Sean Valjean fie, nachdem er
einige Sabre im Bagno zugebradht hatte. In feinem Herzen
war an Stelle der Wunde die Narbe getreten, das war es.
Kaum ein einziges Mal hörte er von feiner Schwefter. Das ge-
fab, glaube ich, gegen Ende des vierten Jahres feiner Ge-
fangenfhaft. Wie diefe Nachricht zu ihm gelangte, weiß ich
nicht mehr zu fagen. Irgendwer, der fie in der Heimat gekannt
hatte, war wohl der Schwefter begegnet. Sie wohnte in Paris,
in einer armfeligen Straße nahe der Kirche Saint Sulpice, in
der Aue du Geindre. Sie hatte nur mehr ein Kind bei fich,
einen ungen, wohl den jüngften. Wo waren die fechs anderen?
77
Vielleicht wußte fie e8 felbft nicht. Jeden Morgen ging fie in
die Druderei in der Mue bu Sabot Numero 3, wo fie als
Falzerin arbeitete. Sie mußte um ſechs Uhr morgens dort fein,
alfo zur Winterszeit lange vor Tagesanbruch. Im Haufe der
Druderei gab es aud eine Schule, dorthin brachte fie den
Eleinen jungen, der fieben jahre alt war. Da fie aber um fechs
Uhr in ihrer Druderei fein mußte, während die Schule erft um
fieben geöffnet wurde, mußte das Kind eine Stunde im Hof
warten; im Winter eine Nahtftunde im Freien. In die
Druderei ließ man das Kind nicht, weil e8 dort, wie gefagt
wurde, ftöre. Wenn die Arbeiter morgens in ihre Werfftätten
famen, faben fie den armen Kleinen auf dem Pflofter bocen,
Ihlaftrunfen, oft fogar im Dunkel eingenict, zufammenge-
fauert und über feinen Korb gebeugt. Wenn es regnete, er-
bormte fidh die Frau des Hauswarts feiner und ließ ihn in ihre
Loge eintreten, in der es ein fehmales Bett, ein Spinnrad und
zwei Stühle gab; der Kleine fchlummerte dort in einem Winkel
und ſchmiegte fih an die Rae, um es wärmer zu haben. Um
fieben öffnete die Schule ihre Tore, dann trat er ein. Das wer
alles, was man Sean Valjean fagen Fonnte.
Gegen Ende des vierten Jahres Fam die Meibe an Sean
Baljean, auszubrechen. Seine Kameraden halfen ibm, wie das
an jenem traurigen Ort üblich ift. Er entfam. Zwei Tage lang
ivre er frei umber — wofern man gebekt zu werden, jeden
Augenblick zurückzuſchauen, beim leifeften Geräufch zu erfehreden,
fi vor allem zu fürchten, einem rauchenden Schornftein, einem
vorübergehenden Menfchen, einem bellenden Hund, einem ga-
Ioppierenden Pferd, einer Uhr, die fchlägt.... wofern man dies
Sreiheit nennen will. Am Abend des zweiten Tages wurde er
wieder gefangen. Seit fechsunddreißig Stunden hatte er weder
gegeffen noch gefhlafen. Das Seegericht verurteilte ihn wegen
diefes Verbrechens zu einer Derlängerung feiner Strafe um
drei fahre, fo daß er insgefamt at Jahre zu verbüßen hatte.
Im fehlten Sabre war wieder die Meibe an ibm; aber es
gelang ihm nicht einmal, aus dem Gefängnis zu fommen. Beim
18
Appell hatte er gefehlt. Die Kanone gab den üblichen Signal-
Ihuß, und nachts fanden ihn die Leute der Munde unter dem
Kiel eines im Pau befindlichen Schiffes; er leiftete Wider—
ftand, wurde aber überwältigt. Das war Flucht und Widerſetz—
lichfeit. Den Beftimmungen des Strafgefehes gemäß, befam er
diesmal fünf Jahre, davon zwei in Doppelfetten. Macht zu-
fammen dreizehn jahre. Als er im zehnten jahre wieder an die
Reihe Fam, nahm er die Gelegenheit wahr, aber auch diesmal
war ihm dag Glück nicht hold. Drei Jahre für biefen neuer-
lihen Verſuch. Insgeſamt fechzehn jahre. Schließlich, im drei-
zehnten jahr, als er einen lebten Verſuch wagte und nad) vier
Stunden wieder gefaßt wurde, weitere drei Jahre. Drei Sabre
für vier Stunden. Alles in allem neungehn jahre. Im Oktober
1815 wurde er freigelaffen. Gefangengefeßt worden war er im
Jahre 1796, weil er eine Senfterfheibe eingefchlagen und ein
Brot geftohlen hatte.
7. Neue Qualen
As die Stunde feiner Befreiung fehlug, als diefes feltfame
Mort: ,Ou bift frei” an fein Ohr drang, ſchien ihm der Augen-
blief unerhört und unwahrfcheinlich, und ein Strahl Iebendigen
Lichts fiel in feine Seele.
Aber er follte bald verblaffen. Sean Daljean war von dem
Gedanken der Freiheit beraufcht gewefen. Nun beginne dag neue
Seben, hatte er gedacht. Aber nur zu bald erfuhr er, welche
Sreiheit bas ift, der man einen gelben Paß gibt.
Bitterfeit. Er hatte berechnet, daß er während feiner Ge-
fangenfhaft im Bagno hunderteinundfiebzig Franken verdient
haben müffe. Allerdings hatte er in biefer Rechnung die er-
zwungene Muße der Sonntage und Feiertage vergeflen, die,
auf neunsebn Jahre verrechnet, einen Verluſt von vierund-
zwanzig Franken ergaben. Wie dem aber auch fei, durch ver-
Ichiedene Abzüge blieben zu guter Lest nur bunbertneun Sran-
fen und fünfzehn Sous übrig, die ibm bei feiner Entlaffung
79
ausbezahlt wurden. Er begriff bas nicht, er glaubte fich ge-
Ihädigt oder, wenn wir bas Wort nicht fcheuen wollen, be-
ftoblen.
Am Tag nad feiner Entlaffung fab er in Graffe vor dem
Tor einer Deftillation Männer, die Warenballen verluden. Er
bot feine Dienfte an. Da die Arbeit eilig war, nahm man fie
on. Er mate fih ans Werk. Er war gefcheit, Eräftig und ge-
ſchickt. Er tat fein Deftes, und fein Dienftgeber bien zufrieden.
Während er arbeitete, Fam ein Gendarm vorüber, bemerfte ibn
und verlangte nach feinen Papieren. Er mußte den gelben Pat
zeigen. Dann machte fih Jean Valjean wieder an die Arbeit.
Kurz vorher hatte er einen der Arbeiter gefragt, was fie mit
folcher Arbeit wohl im Tage verdienten, und man hatte ihm
gefagt: dreißig Sous. Als der Abend Fam, ging er zu dem
Herrn der Deftillation und bat um feinen Lohn, da er am näch—
ften Morgen weiterwandern müßte. Der Herr fprad Fein Wort,
fondern händigte ihm fünfzehn Sous aus. jean erhob Ein-
fprud. Da wurde ibm gefagt: „Für dich ift bas genug.’ Er
beftand auf feinem Recht, aber da fab ihn der Meifter fharf
on und fagte: „Vorſicht, daß du nicht wieder ins Loch kommſt!“
Auch bier hatte man ihn offenbar beftohlen.
Die Gefellichaft, der Staat hatte ibn im großen geplündert,
jeßt Famen die Feinde einzelweife und beftablen ihn. Entlaffung
if nicht Befreiung. Man verläßt das Strafhaus, aber die Ver-
urteilung Éann man nicht loswerden.
So war es ihm in Graffe ergangen. Der Lefer bat gefeben,
wie er in Digne aufgenommen wurde.
8. Erwadben
As die Kirhturmuhr die zweite Stunde anzeigte, erwachte
Sean Valjean. Was ibn aus dem Schlaf aufjagte, war bas
allzu gute Bett. Zwanzig Jahre (ang hatte er nicht in einem
Bert gelegen, und obwohl er ſich nicht entfleidet hatte, war die
Empfindung jeßt doch allzu neu, um nicht feinen Schlaf zu ftören.
so
Mehr als vier Stunden hatte er gefhlafen. Die Müdigkeit
war von ihm gewichen. Er war nicht gewohnt, lange zu Schlafen.
Er fhlug die Augen auf, blifte im Dunfel um fib, dann
ſchloß er fie wieder, um von.neuem einzufchlafen. Aber er Éonnte
es nicht, und fo begann er nachzudenken. Er befand fi in einer
wirren Geiftesverfaflung. In feinem Gehirn war ein dunfles
Hin und Her, alte Erinnerungen und neue mifchten ſich durd-
einander, wuchfen jäh an und verfehwanden wieder. Diele Ge-
banfen kamen ihm, aber einer fchob fi hartnädig in den Vor—
dergrund und verdrängfe die andern. Wir wollen es unummwun-
den fagen, es war der Gedanfe an die ſechs Silbergedede und
den großen, filbernen Schöpflöffel, die Frau Magloire auf den
Tiſch gelegt hatte.
Das Silberzeug Tieß ihm Feine Ruhe. Es war da, nur einige
Schritte entfernt. Als er das Zimmer nebenan durhfcritten
hatte, um hierher zu gelangen, wo er fich jeßt befand, hatte die
alte Haushälterin es in den Wandſchrank am Kopfende des
Bettes gelegt. Sean hatte es wohl bemerkt. Es war, wenn man
aus dem Speifefaal eintrat, rechter Hand. Maflives Silber.
Altes, gutes Silber. Mit dem fehweren Schöpflöffel würde es
gewiß zweihundert Sranfen erbringen. Das Doppelte der
Summe, die er in neungebn Sjahren verdient hatte. Allerdings,
er hätte ja mehr verdient, wenn ihn die Verwaltung nicht be-
ftohlen hätte... . Eine gute Stunde lang befhäftigte fi fein
Geift mit diefen Dingen und Fampfte einen mühſamen Kampf.
Es ſchlug drei. Wieder öffnete er die Augen, fette ſich auf,
ftresfte den Arm aus, taftete nach feinem Tornifter, den er in
eine Ede gelegt hatte, Tieß die Beine herabhängen und blieb
regungslos auf dem Bettrand fisen. So verharrte er einige Zeit
in tiefe Gedanfen verfunfen; wenn ibn jemand fo, einfam
wachend, in diefem fehlafenden Haufe gefehen hätte, wäre er ein
unheimliches Gefühl nicht losgemorden. Plötzlich bückte fich
Sean, 309 die Schuhe ab, ftellte fie vorfihtig auf die Strob-
matte neben dem Bett, nahm wieder feine nachdenflihe Haltung
ein und verfanf in Regloſigkeit.
6 Hugo, Die Elenden. 81
Obne Unterlaß Eehrten die gleihen Gebanfen in fein Gehirn
zurück; gleichzeitig mußte er, ohne recht zu begreifen warum, an
einen Zwangsarbeiter namens Brevet denken, den er im Bagno
gefannt hatte und deflen Hofen nur dur ein einziges Iragband
bocgebalten wurden; bas Mufter diefes Iragbands Fam ibm
immer wieder in den Sinn. |
In diefer Stellung verharrte er, und vielleicht wäre er bis
zu Tagesanbruch fo verblieben, wenn nicht die Uhr wieder ge-
Ichlagen hätte. Ihm fhien, fie riefe ibm ein Vorwärts zu.
Er ftand auf, zögerte noch einen Augenblick und laufte.
Alles im Haufe war fil. Nun ging er aufrecht und in kurzen
Schritten zum Fenfter. Die Nacht war nicht fonderlich dunfel.
Der Vollmond fchien, nur zuweilen von Wolfen verdunfelt,
die der Wind über den Himmel peitfchte. Immerhin entftand
durch biefes Widerfpiel von Licht und Schatten eine Art Däm—
merung, die genügte, um fi zurechtzufinden.
Das Fenfter war nicht vergittert. Es führte in den Garten
und war, wie bas auf dem Lande Sitte ift, nur ſchwach ver-
klinkt. Er öffnete e8, aber da ihm ein Falter, fcharfer Wind ent-
gegenmwehte, fchloß er es fofort wieder. Aufmerffam fab er in
den Garten hinaus. Eine weiße, ziemlich niedrige Mauer, die
man leicht überfteigen Fonnte, umfchloß ihn. Im Hintergrund
waren jenfeits der Mauern in regelmäßigen Abftänden Baum-
fronen zu erfennen, woraus man entnehmen Fonnte, daß die
Mauer den Garten von einer Allee oder mit Bäumen be-
pflanzten Straße trennte.
Jetzt machte er eine entſchloſſene Bewegung, Fehrte in den
Alfoven zurüd, nahm den Tornifter vor, öffnete und durchſuchte
ibn, 309 einen Gegenftand heraus, den er auf das Bett legte,
fete feine Schuhe in eine der Torniftertafhen, verfchnallte
alles wieder, Iud den Sad auf die Schultern, feßte die Mütze
auf, wobei er nicht vergaß, den Schirm tief über die Augen zu
ziehen, fuchte taftend nad feinem Stock und ergriff endlich den
Gegenftand, den er eben erft auf bas Bett gelegt hatte. Er glich
einer Furzen, an einem Ende zugefpisten Eifenftange. |
82
In der Dunfelheit war es fehwer zu erfennen, wozu diefes _
Stück Eifen dienen mochte. War es ein Hebel, eine Keule? Im
vollen Iagesliht hätte man erfannt, daß es ein Sergmanns-
werfzeug war. Man verwendete damals die Strafgefangenen
auch dazu, in der Mähe von Toulon in den Steinbrüchen
zu arbeiten, und fo kam es, daß fie fih Bergmannswerfzeuge
verfaffen Fonnten.
Er nahm das Eifen in die echte, hielt den Atem an, näherte
fi) Teifen Schrittes der Tür des Nachbarzimmers, in dem, wie
der Lefer fich erinnert, der Biſchof fehlief, und fand fie halb an-
gelebnt. Der Biſchof hatte fie nicht verfchloffen.
Die tet
Sean Valjean laufhte. Nichts war zu hören.
Er ftieß die Tire an. Mit der Fingerfpiße fat er es, ganz
leife und mit einer flüchtigen, ängftlihen Vorſicht, wie eine
Rae, die in ein Zimmer fehleichen will.
Die Tür gab nach und ließ geräufchlos einen Spalt frei.
Sean wartete einen Augenblic, dann ftieß er fie ein zweites
Mal an, kühner jest. Wieder gab fie Tautlos nah. Der Spalt
war jest breit genug, daB man durdfchlüpfen Fonnte. Aber
neben der Zür ftand ein Fleiner Tiſch, der den Zugang ver-
iperrte. Sean Valjean erfannte die Schwierigfeit. Die Öffnung
mußte erweitert werden. Œntfhioffen ftieß er ein drittes Mal
zu, diesmal energifcher als vorher. Eine fehlechtgeölte Angel
freifehte auf. Es Flang in der Dunkelheit wie ein rauber, lang-
gezogener Schrei.
Jean Valjean zitterte.
Im erſten Augenblick, in dem der Schreck den Lärm phan—
taſtiſch vergrößerte, bildete er ſich faſt ein, die Türangel ſei ein
lebendiges Weſen, nehme plötzlich ein furchtbares Daſein an,
belle wie ein Hund, um alle Welt zu warnen und die Schläfer
zu wecken.
Verwirrt blieb er ſtehen und fiel auf die Ferſen zurück. Er
À 83
hörte das Blut in feinen Schläfen bimmern, hörte den Atem
wie einen Orkan aus der Sruft bervorbrehen. Ihm fehien es
unmöglich, daß bas furchtbare Kreifchen der Türangel nicht bas
gange Haus erfchüttert babe wie ein Erdbeben; die Türe hatte
Alarm gefhlagen, der Alte würde aufftehen, die beiden Frauen
mußten ein Gefchrei erheben, Fremde würden zu Hilfe Eommen,
in einer Énappen DViertelftunde war die ganze Stadt in Aufruhr
und die Gendarmerie auf den Deinen.
Einen Augenbli lang glaubte er fich verloren.
Wie verfteinert, wie zu einer Bildſäule erftarrt, blieb er reg-
108 fteben. Einige Minuten verftrihen. Die Tür war jeßt weit
offen. Er wagte einen Blick in das Zimmer zu werfen. Nichte
hatte ſich gerührt. Er lauſchte. Alles ftill, niemand war durd
bas Knaren der verrofteten Angel erwacht.
Die fhlimmfte Gefahr war vorbei, aber noch immer war er
febr erregt. Do ging er nicht zurück. Auch als er alles ver-
Ioren geglaubt hatte, war er nicht zurücfgewichen. Er wollte nur
raid zu Ende fommen. Er tat einen Schritt vorwärts und war
in dem Zimmer.
Es lag in tiefer Ruhe. Dort und da Éonnte man ungewiffe
Formen von Gegenftänden gewahren, in denen er des Tags auf
den Tiſch verftreute Papiere, aufgefchlagene Solianten, an ein
Pult gelehnte Bände, einen Lebnftubl, auf dem Kleidungsftüce
lagen, einen Betſchemel erfannt hätte, die aber jet nur als
dunfle Umriffe und belle Sleden zu unferfheiden waren. Behut-
fam drang jean Valjean vor, wobei er es forgfältig vermied,
an Möbel anzuftoßen. Im Hintergrund des Zimmers war der
ruhige, gleichmäßige Atem des fchlafenden Biſchofs zu ver-
nehmen.
Meiter drang er vor.
Plötzlich blieb er ftehen. Er ftand vor dem Bett. Er hatte es
früher erreicht, als er erwartete.
Die Natur mifcht zuweilen ihre Phänomene und Schaufpiele
faft planmäßig in unfere Handlungen, als ob fie ung nachdenf-
lich ftimmen wollte. Faſt feit einer halben Stunde bededte eine
84
große Wolke den Himmel. In dem Augenblie, ba Jean Val—
jean vor dem Bett baltmacbt, zerriß fie und ein Streifen Mond-
licht fiel dur das Fenfter auf bas blaffe Gefibt des Bifchofs.
Er fchlief friedlich. Auch im Bett war er faft beFleidet, trug —
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wohl infolge der Falten Mächte im Alpenvorlande — ein
braunes Baummollhemd, bas aud die Arme bis zu den Händen
bedeckte. Sein Kopf lag in der entfpannten Haltung der Ruhe
feitlich auf dem Kiffen; die linfe Hand, die den Hirtenring trug,
diefe Hand, die fo viele gute Werke vollbradt hatte, hing aus
85
dem Bett. Sein Antlis fpiegelte Zufriedenheit, Hoffnung und
Glück. Es war mehr als ein Lächeln, faft ein Strahlen. Auf
feiner Stirn ein unbefchreibliher Widerfchein eines unfihtbaren
Lichts. Vener geheimnisvolle Himmel, den die Seele der Ge-
rechten während des Schlafs durchwandelt.
Sean Valjean hatte niemals etwas Ähnliches gefehen. Es
war nicht zu fagen, was in ihm vorging; er felbft hätte es nicht
angeben können. Es war eine Art tiefes Staunen. Was er
dachte? Unmöglich zu erraten. Er war gerührt, tief beeindrudt.
Aber welcher Art war feine Nührung? Er fchien zugleich bereit,
den Schädel des Greifes einzufchlagen und ihm die Hand zu Füffen.
Plötzlich wandte er fih ab, ging, ohne fich weiter um den
Bifhof zu kümmern, an dem Bett entlang auf den Wand—
Ihranf zu und feßte fein Eifen an, um das Schloß aufsubreden.
Der Schlüſſel ftaf. Er öffnete. Das erfte, was er gewahrte,
war der Korb mit dem Silberzeug. Er nahm ihn, durchmaß mit
großen Schritten und ohne jegliche Vorficht bas Zimmer, achtete
nicht auf bas Geräuſch feiner Schritte, fondern erreichte die
Zür, trat wieder in das Betzimmer, öffnete bas Fenfter, nahm
feinen Stod, ftopfte das Silberzeug in feinen Iornifter, warf
den Korb fort, fprang in den Garten, feste über die Mauer
wie ein Tiger und floh.
10. Der Bifhof beider Arbeit
Bei Sonnenaufgang erging fih Monfignore Bienvenu in
feinem Garten. Frau Magloire Fam in höchſter Aufregung ber-
beigeeilt.
„Monfignore, rief fie, ‚willen Sie, wo der Korb mit ben
Silberſachen iſt?“
„Ja.“
„Gelobt ſei Jeſus Chriſtus!“ rief ſie, „ich wußte nicht, wo er
hingekommen war.“
Der Biſchof hatte den Korb auf einem Beet liegen geſehen.
Er deutete darauf.
86
„Da ift er,‘
„Leer! Und das Silber?’
„Ab, Sie meinen das Silber? Ich weiß nicht, wo es iſt.“
„Großer Gott, geftohlen! Der Mann von geftern hat es ge-
ſtohlen!“
Mit der ganzen Behendigkeit einer flinken Alten ſtürzte Frau
Magloire in das Gebetzimmer, lief in den Alkoven und kehrte
zurück. Der Bifchof hatte ſich über eine Staude gebeugt, die von
dem Korb gefnickt worden war, und betrachtete fie feufzend. Auf
Frau Magloires Gefchrei wandte er fih um.
„Monfignore, der Mann ift fort! Unfer Silber ift ge-
ſtohlen.“
Während ſie noch ſchrie, bemerkte ſie in der Ecke des Gartens
ein abgebröckeltes Mauerſtück.
„Seben Sie, da ift er hinübergeklettert. Er iſt in die Nue
Cochefilet gefprungen. Diefe Miedertracht! Unfer ganzes Silber
geſtohlen!“ |
Der Bifchof fchwieg einen Augenblid, dann fab er Frau
Magloire ernft an und fagte fanft:
„Bear es denn unfer Silber?”
Frau Magloire war fprablos. Mad einer kurzen Pauſe fuhr
der Bifchof fort:
„Frau Magloire, zu Unrecht babe ich diefes Silber folange
bei mir behalten. Es gehörte den Armen. Wer war denn jener
Mann? Ein Armer gewiß doch.’
„Ab, Herr Jeſus!“ rief Frau Magloire, ‚ich fag es ja
nicht um meinetwillen oder wegen des Fräuleing, uns fann es
ja recht fein, aber wie wollen Biſchöfliche Gnaden denn jet
eſſen?“
Verwundert ſah ſie der Biſchof an.
„Ach, als ob es nicht Beſtecke aus Zinn gäbe!“ Frau Ma—
gloire zuckte die Achſeln.
„Zinn riecht.“
„Gut, dann nehmen wir Eiſen.“
Frau Magloire ſchnitt ein Geſicht.
87
„Eifen ſchmeckt.“
„Auch recht,” fagte der Bifchof, ,alfo Holz.
Einige Augenblicke fpäter frühftücte er an demfelben Tifb,
an dem geftern abend “Sean Daljean gefeflen hatte. Seine
Schwefter fagte Fein Mort, Frau Magloire murrte dumpf.
Monfignore DBienvenu machte die beiden darauf aufmerffam,
daß er nicht einmal einen Holzlöffel oder eine Holzgabel be-
nôtigte, um fein Brot in die Milch zu ftippen.
„fo was fagt man dazu?” murrte Frau Magloire im Hin-
undhergeben, „ſo einen Menſchen nimmt man in fein Haus
auf! So einen läßt man im Mebenzimmer fhlafen! Ein Glüd,
daß er nur geftoblen hat. Die Deine zittern einem, wenn man
nur daran denkt.“
As Bruder und Schwefter vom Tifh aufftanden, wurde an
die Züre geflopft.
„Herein!“ fagte der Biſchof. Es wurde geöffnet, und eine
ſeltſame Gruppe von Menfhen drängte fih über die Schwelle.
Drei hielten einen vierten am Kragen gepadt. Es waren Gen-
darmen. Der vierte war Sean Baljean. Ein Wachtmeifter, der
die Truppe zu führen fehien, trat vor.
nMonfignore . . ., begann er.
Ber diefem Wort blickte Sean Valjean, der düfter und nieder-
gefchlagen fchten, auf.
Der Bifchof trat, fo rafh es ihm fein hohes Alter erlaubte,
näher.
„Ach, da find Sie ja,” fagte er zu Sean Valjean, „das ift
mir lieb, Sie zu fehen. Ich hatte Ihnen doch aud die Leuchter
gegeben, die filbernen, wiffen Sie, damit Sie zweihundert Fran-
fen befommen follten, worum haben Sie die Befterfe genommen
und die Leuchter hier gelaffen?’
Sean Valjean fchlug die Augen auf und fab den ehrwürdigen
Bifhof mit einem Ausdrud an, den Feine menfblibe Sprache
wiederzugeben vermöchte.
„Monfignore,” vief der MWachtmeifter, „ſo wäre alfo wahr,
was der Mann fagte? Wir trafen ihn, und er fab aus wie einer,
88
der etwas auf dem Kerbholz bat. Wir hielten ibn an und durd-
fuchten ihn. Da fanden wir diefe Silberſachen.“
„Und er bat Ihnen gefagt,” unterbrach der Bifchof Tächelnd,
„daß er fie von einem alten Priefter geſchenkt befommen bat,
bei dem er die Nacht verbrachte. Ich verftehe. Darum haben
Sie ihn hergeführt. Es ift ein Mißverſtändnis.“
„Und demnach können wir ihn wieder gehen laflen?’ fragte
der Wachtmeiſter.
„Gewiß.“
„Du kannſt gehen“, ſagte einer der Gendarmen zu Jean
Valjean. „Biſt du taub?“
„Halt,“ rief der Biſchof, „bevor Sie geben . . . die Leuch—
ter!“ Er trat an den Kamin, nahm die beiden Silberleuchter
und reichte ſie Jean Valjean. Wortlos, ſtarr, ſahen ihm die
beiden Frauen zu.
Jean Valjean zitterte an allen Gliedern. Mechaniſch griff
er nach den beiden Leuchtern.
„Und jest gehen Sie in Frieden“, ſagte der Biſchof. „„Übri-
gens, wenn Sie wiederkommen, mein Freund, brauchen Sie
nicht durch den Garten zu gehen. Sie können immer die
Straßentüre benützen, ſie iſt Tag und Nacht unverſperrt.“
Die Gendarmen zogen ſich zurück.
Noch immer ſtand Jean Valjean da wie ein Menſch, der
ohnmächtig wird. Der Biſchof trat nahe zu ibm und ſagte leiſe:
„Vergeſſen Sie niemals, daß Sie mir verſprochen haben,
Sie wollten dieſes Geld dazu verwenden, ein anſtändiger
Menſch zu werden.“
Jean Valjean konnte ſich nicht erinnern, etwas Derartiges
verſprochen zu haben, aber er blieb ſtill. Der Biſchof hatte mit
Nachdruck geſprochen. Feierlich fuhr er fort:
„Jean Valjean, mein Bruder, Sie gehören nicht mehr dem
Böſen, ſondern dem Guten. Ich kaufe Ihre Seele. Ich entziehe
Sie den ſchwarzen Gedanken und dem Geiſt der Verderbnis
und überantworte Sie Gott!“
89
DrittesBuch
Im Jahre 1817
1. Ein Doppelquartett
Sm Sabre 1817 lieferten vier junge Parifer „einen famofen
Streih”.
Bon diefen vier Parifern war einer aus Touloufe, der an-
dere aus Timoges, der dritte aus Cabors und der vierte aus
Montauban; aber alle vier waren Studenten, und wer in Paris
ftudiert, ift ein Parifer von Geburt.
Diefe vier jungen Leute waren unbedeutend; Gefichter, wie
man ihnen auf der Straße begegnet; weder gut noch fchlecht,
weder Élug noch dumm, Feine Genies, aber auch Feine ausgemach-
ten Zröpfe; hübſche Kerle, wie fie der April des Menfchen-
lebens, bas zwanzigfte Lebensjahr, hervorbringt.
Sie hießen Felir Iholomyes aus Touloufe, Liftolier aus
Cabors, Sameuil aus Limoges und enblih DBlachevelle aus
Montauban. Natürlich Hatte jeder feine Geliebte. DBlachevelle
die Favourite, die fo genannt wurde, weil fie in England ge-
wefen war, Liftolier die Dahlia, die einen Blumennamen zum
nome de guerre gewählt hatte, Sameuil Zephine — der Name
ift eine Abfürzung aus Joſephine; Tholomyès endlich Fantine,
die Blonde geheißen wegen ihrer fhônen, goldblonden Haare.
Favourite, Dahlia, Zephine und Fantine waren vier reizende,
frifhe, fröhlihe Geſchöpfe, noch immer ein wenig Arbeiter-
mädchen, denn fie hatten die Nadel nod nicht ganz weggeworfen,
wohl fchon ein wenig dur ihre Liebfehaften aus der Bahn ge-
fhleudert, aber noch mit einem Reſt jener Heiterfeit und Ehr-
barfeit im Antlis und im Wefen, die bei den Frauen den erften
Fall überdauert. Eine unter den vieren wurde die unge ge-
nannt, weil fie die jüngfte war, eine andere die Alte; die Alte
zählte dreiundzwanzig Jahre. Es fol nicht verfchwiegen werden,
daß die drei anderen erfahrener, leichtfinniger, ja fogar leicht-
90
fertiger waren als die blonde Fantine, die ihre erften Illuſionen
nod nicht überwunden hatte.
Das hätte man von Dahlia, Zephine und vor allem von Fa-
vourite wohl nicht behaupten können. Sie hatten jede in ihrem
jungen Lebensroman fon manche Epifode hinter fi, und der
Liebhaber, der im erften Kapitel Adolphe hieß, war im zweiten
ein Alphonfe und im dritten ein Guftave. Armut und Eitelfeit
find zwei fchlimme Ratgeber; der eine drängt, der andere lot;
und da ift Fein bübfhes junges Mädchen aus dem Volke, das
nicht beiden Gehör fhenfte. Diefe ſchlechtbewachten Seelen find
empfänglich. Daher rührt mander Sündenfall, daher mancher
Stein, der nach jenen Geſchöpfen geworfen wird.
Favourite war in England gewefen und wurde darum von
Zephine und Dahlia bewundert. Frühzeitig hatte fie es zu einer
eigenen Wohnung gebracht. Ihr Dater war ein alter, brutaler
Mathematiflehrer, der in jungen jahren einmal gefehen hatte,
wie bag Kleid einer Rammerjungfer an einem Kaminvorfas
hängenblieb; darüber war er in Glut geraten, und fo war Fa-
vourite entftanden. Zumweilen traf fie ihren Dater auf der
Straße, und er grüßte fie fogar. Eines Morgens empfing fie
den Beſuch einer alten Frau, die wie eine DBetfchwefter ausfah.
„Sie Éennen mich wohl nicht, Fräulein?“
„Stein.
„Ich bin deine Mutter.’
Die Alte warf fih auf den Speifefhranf, af und trank, ließ
eine Matrañe holen und blieb da. Diefe Mutter, eine mürrifche
und frömmlerifche Perfon, fprad niemals mit Favourite, aß
für vier, hielt mit dem Dortier vertraute Freundfhaft und
ſprach ſchlecht von ihrer Iochter.
Mas Dahlia zu Liftolier getrieben hatte — es hätte auch ein
anderer fein Eönnen — , kurz zur Untätigfeit, war nichts weiter,
als daß fie allerliebfte, rofige Fingernägel hatte. Wie follte fie
da arbeiten? Wer tugendhaft bleiben will, darf feiner Hände
nicht achten.
Und was Séphine betrifft, fo hatte fie es Famenil angetan
91
mit ihrer fhelmifhen und fhmeidlerifhen Art zu fagen „Ja,
mein Herr!’
Die jungen Leute waren Kameraden, die Mädchen Freun-
dinnen. Solche Liebe hält mit folder Freundſchaft Nach—
barſchaft.
Tugend und Philoſophie ſind verſchiedene Dinge; Favourite,
Zephine und Dahlia waren philoſophiſch veranlagt, Fantine
tugendhaft.
Tugendhaft? Und Iholomyes? Salomon würde fagen, daß
die Liebe ein Zeil der Tugend ift. Und wir wollen nur bemerfen,
daß es ja Santines erfte Liebe war, eine uneingefehränfte, freue
Liebe.
Santine war aud die einzige von den vieren, die fi nur von
einem duzen ließ.
Sie ftammte aus den Tiefen der Gefellfhaft. Sie war aus
der undurchbringlien Sinfternis der fosialen Miederungen ber-
vorgegangen und trug gewiflermaßen das Mal der Anonymität
auf der Stirn. In Montreuil fur Mer war fie geboren, von
welchen Eltern, wußte niemand zu fagen. Weder Vater noch
Mutter waren befannt. Sie hieß Fantine, hatte niemals einen
anderen Namen gehabt. Zur Zeit ihrer Geburt berrfhte noch
bas Direktorium. Einen Familiennamen hatte fie nicht, weil es
ihr an Familie gebrach, an einem Taufnamen fehlte es ihr, weil
damals nicht getauft wurde. So befam fie den Namen, den ihr
der erfte befte beilegte, bem die Kleine barfuß auf der Straße
in den Weg gelaufen war. Sie befam ihren Namen, wie ein
Megentropfen auf den Kopf fallt. Man nannte fie die Fleine
Santine; mehr wußte man nicht darüber. Diefes Menſchenkind
war eben fo auf die Welt gekommen.
Mit zehn fahren verließ Fantine die Stadt und nahm bei
einem Bauern Dienft. Fünfzehnjährig Fam fie nah Paris, um
bas Glü zu ſuchen. Sie war bübfh und blieb rein, folange fie
fonnte. Eine bübfhe Blondine mit fohönen Zähnen. Gold und
Perlen waren ihre Mitgift, Gold auf dem Kopf und Perlen
im Munde.
92
um zu leben,
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Mit ihren Händen erwarb fie fi) ihr Brot
liebte fie fchließlich, denn aud bas Herz ift hungrig. Sie liebte
Tholomyès.
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diefes Furzen Traums
[43
hügels, wo fo viele Abenteuer beginnen und enden, war Santine
Tholomyès lange davongelaufen, aber fie hatte es fo e
ingerichtet,
93
daß fie ihn immer wieder traf. Es gibt eine Art zu meiden, die
dem Suchen gleicht. Kurz, die Idylle Fam zuftande.
Blachevelle, Liftolier und Fameuil bildeten eine Gruppe, an
deren Spitze Tholomyes ftand. Er war gemwiffermaßen der Kopf.
Kein ganz junger Student mehr; und noch dazu reich, denn
er hatte viertaufend Franken Rente zu verzehren, ein Einfom-
men, das rings um Sainte Geneviève für fplendid gelten kann.
Iholomyes war ein Lebemann von dreißig Sahren und nicht
allzu gut erhalten. Er hatte Falten und ſchlechte Zähne. Auch
die Haare gingen ihm aus, und er felbft fagte ohne allzu große
Zrauer: Mit dreißig eine Slate, mit vierzig Éabl. Auch feine
Verdauung war mangelhaft, und fein Auge tränte. Aber im
Ausmaß, in dem feine Jugend erlofh, entzündete fi) feine
Heiterkeit; er erfeßte die Zähne durch Späße, die Haare durch
vergnügte Einfälle, die Gefundheit burd Ironie; und fein trä-
nendes Auge lachte ohne Unterlaß. Er war bereits entblättert
und ftand doch no in Blüte. Seine Jugend machte ſich vor-
zeitig auf den Weg, aber fie trat fogufagen einen geordneten
Rückzug an. Ein Stüd, bas er für das Vaudeville gefhrieben
hatte, war abgelehnt worden. Bon Zeit zu Zeit fhrieb er Verſe.
Auch verfchaffte es ihm eine gewifle Überlegenheit, daß er ein
großer Zweifler war, was ja ſchwachen Köpfen immer gewaltig
imponiert.
Eines Tages nabm Tholomys die drei andern beifeite und fagte:
„Es ift jeßt ein gutes Sahr, daß Fantine, Dahlia, Zephine
und Favourite verlangen, wir follten ihnen eine Überrafhung
bereiten. Wir haben es ihnen feierlich verfprochen. Jetzt be-
fommen wir es immer zu hören, zumal ich. So wie in Meapel
die alten Weiber dem heiligen Yanuarius zurufen: Faccia
gialluta, fa un miracolo, Gelbgefiht, tu ein Wunder, ebenfo
fagen unfere Schönen ohne Unterlaß: Iholomyes, wann kommt
die Überrafhung? Nun, gleichzeitig befommen wir von unferen
Eltern Briefe. Wir fisen zwifchen zwei Seuern. Der Fritifche
Augenblid ift da, wir müflen etwas tun.‘
Iholomyes fenfte die Stimme und fagte geheimnigvoll etwas
94
ſo Luftiges, daß alle vier zu lachen begannen, und Blachevelle
vergnügt ausrief:
„Das ift eine Idee!“
Das Ergebnis war, daß in einer verräucherten Kneipe für
nächſten Sonntag eine Tandpartie verabredet wurde, zu der die
vier jungen Mädchen eingeladen werden follten.
2. Dier und vier
Mir können uns heute Faum mehr vorftellen, wie fi) vor
fünfundzwanzig jahren fol eine Lanbpartie von Studenten
und Grifetten abfpielte. Paris bat heute nicht mehr diefelbe
Umgebung. Im letzten halben Jahrhundert hat fih rings um
Paris alles verändert, und wo früher der Kuckuck rief, rattern
jebt Waggons; wo die Poftkutfehe Érocb, fährt die Bahn, und an
Stelle des Poftfehiffs ift der Dampfer getreten; für ung heute
ift Fécamp, was damals Saint-Cloud war.
Die vier Paare begingen gewiflenhaft alle Zorheiten, die da-
mals bei Ausflügen aufs Land möglih waren. Die Ferien
hatten eben begonnen, es war ein warmer, fonnenbeller Tag. Fa-
vourite, die einzige, die fehreiben Eonnte, hatte im Namen der
vier Frauen an Iholomyes gefehrieben: früh aufftehen ift fein.
Darum waren auch fchon alle um fünf auf den ‘Beinen gewefen.
Sie fuhren in der Poftfutfche nah Saint-Cloud, bewunderten
den Waflerfall, der gerade troden lag, und meinten, er müfle
doppelt fhôn fein, wenn Waſſer darin wäre. Dann frühftücten
| fie in der QTete-Moire, leifteten fih eine Nundfahrt auf dem
Teich, befuchten die Laterne des Diogenes, fpielten Roulette an
der Bride von Sèvres, pflüdten in Putenur Blumen, Éauften
in Neuilly Pfeifchen, aßen überall Apfelfuhen und waren
befter Laune. |
Um ganz glücklich zu fein, fehlte nur eine Fleine Widerwärtig-
feit, etwa ein unvorbergefebener Regenguß; denn Favourite
hatte, als man aufbrach, in belebrendem und mütterlihem Ton
erklärt:
95
„Die Schneden Friechen über den Weg. Das bedeutet Negen,
Kinder!”
Iholomyes marfcdierte immer als leßter. Er war befter
faune, aber man merkte, daß er regierte. Sein Hauptſchmuck
waren Hofen mit „Elefantenbeinen“, Nanfinghofen mit Kupfer-
ftegen. In der Hand fhwang er einen mächtigen Spazierſtock,
der feine zweihundert Franken gefoftet haben mochte, und da er
fi alles erlaubte, hielt er fogar fo ein neumobifhes Ding, eine
Zigarre im Munde. hm war nichts heilig, er rauchte!
Iholomyes ift grandios, fagten die andern voll Bewunderung.
Diefe Hofen! Diefe Energie!
Was Fantine angeht, fo war fie die reinfte Freude. Gott
hatte ihr offenbar diefe prächtigen Zähne gegeben, damit fie
lachen follte. Ihr Strobbüthen mit den langen, weißen Bän—
dern trug fie lieber in der Hand als auf bem Kopf. hr dichtes,
blondes Haar, bas ſich leicht auflöfte und immer wieder auf-
gefteft werden mußte, hätte einer „Galatea auf der Flucht“
dienen können. Ihre rofigen Lippen sudten vor Lebendigkeit. Die
finnlid gefhmwungenen Lippen, die einer alten Erigonemasfe
nachgeahmt fchienen, mochten zu Kühnheiten herausfordern,
aber die langen, befcheiden gefenften Wimpern wirften mil-
dernd. Ihre ganze Toilette hatte irgend etwas Fröhliches, zu
Gefang und Heiterkeit Anregendes; fie trug ein malvenfarbenes
Baroͤgekleid, Eleine Goldkäferfchuhe, deren Bänder ein X auf
die weißen ajourierten Strümpfe zeichneten, und einen Muffe-
linfpenzer nah Morfeiller Art, der dort Canezou (ufammen-
gezogen aus quinze und août, fünfzehnter Auguft) genannt wird,
und diefer Name bedeutet, auf der Cannebière gefprocen,
Ihönes Wetter, Sonne, Süden. Die andern drei Freundinnen,
minder fhüchtern, wie wir fchon bemerften, waren tiefer aus-
gefchnitten, und gerade im Sommer wirft der tiefe Ausſchnitt
unter den großen, blumenbedecten Hüten anmutig und auf-
munternd; aber der Canezou der blonden Santine, diefes durd-
fihtige Kleidungsftück, bas fo viel verbirgt und doc wieder ver-
rät, verheimliht und zugleich preisgibt, war eine Föftliche
96
Erfindung der Schüchternheit, und der berühmte Liebeshof der
Vicomteſſe de Cette mit den grünen Meeraugen hätte gewiß
diefem Kleidungsftüd, das doh auf Schambhaftigfeit Anfprud
erhob, den großen Preis der Kofetterie zuerteilt. Die Naivität
ift manchmal die größte Gefhidlihfeit, bas kommt vor.
Santines Gefiht war ftrahlend und rein, ihr Profil fein, die
Augen zeigten ein tiefes Blau; Eleine, gutgeformte Füße, pracht—
voll angefeñte Gelenke, weiße Haut, die das Blau der Adern
durchſchimmern Tieß, Eindlih frifhe Wangen, der Hals Fräftig
wie jener der äginetifhen Juno, ein ftarfer, gefchmeidiger
Maden, Schultern, die ein Couftou modelliert haben Fünnte,
und in ihrer Mitte ein feines, dur den Muflelin erfennbares
Grübchen; Heiterfeit durh Iräumerei gedämpft — bas war
Santines Wefen; man ahnte unter diefen Bändern und Stoffen
eine Statue, in diefer Statue eine Seele.
Santine war ſchön, ohne es recht zu willen. Jene feltenen
Träumer, die nur die Vollfommenbeit anerfennen wollen, hätten
in diefer Éleinen Arbeiterin durch den Schleier der Parifer An-
mut die heilige antife Harmonie erfhaut. Diefe Tochter des
niedrigften Volkes hatte Raſſe. Sie war fhön auf doppelte
Art, ſchön als Stil und als Rhythmus.
Nachdem man fih auf der Rutſchbahn vergnügt hatte, mußte
man ans Effen denfen; man war müde und hielt fehließlich
feinen Einzug bei Bombarda, in jenem Reſtaurant, dag der be-
rühmte Bombarda auf den Champs-Elyſées als Filiale feines
Hauptgefhäfts in der Mue Mivoli an der Paſſage Delorme ein-
gerichtet hatte.
Tiſchgeſpräche und Liebesgeſpräche find gemeinhin ungegen-
ſtändlich; die Neden DVerliebter möchte man mit den Wolken,
die der Eſſer mit Maud vergleichen.
Sameuil und Dahlia trällerten; Iholomyes trank, Zephine
lachte, Fantine lächelte. Liftolier blies auf feiner Holztrompete,
die er in Saint-Eloud erftanden hatte. Favourite beunrubigte
Blachevelle mit zärtlichen Bitten und fagte:
7 Hugo, Die Elenden. 97
„Blachevelle, id bete did an!‘
Das ermunterte Blachevelle zu der Gegenfrage:
Bas täteft du, Favourite, wenn ich dich nicht mehr liebte?“
‚Das folft du nicht einmal zum Spaß fagen!” rief Favou-
rite. „Wenn du mich nicht mehr Tiebteft, Tiefe ich dir nach, würde
dir die Augen ausfraben, did mit Waſſer begießen und suleñt
ließe ich dich verhaften.”
An Blachevelles Lächeln war zu erfennen, daß diefe Antwort
feiner Eigenliebe wohl tat.
„Ja,“ fagte Favourite, ‚ich würde die Polizei rufen! Nicht
fhämen würde ih mich! Canaille!“
Blachevelle lehnte fih entzückt zurück und fhlof ſtolz die
Augen.
Dahlia flüſterte Favourite kauend zu:
„Biſt du wirklich ſo verrückt in dieſen Blachevelle?“
„Widerlich iſt er mir“, ſagte Favourite ebenſo leiſe und nahm
ihre Gabel. „Dieſer Geizkragen! Ich bin verliebt in den kleinen
vis-à-vis, weißt bu, bu kennſt ibn doch? Er kehrt ſehr ben
Schauſpieler heraus. Ich mag Schauſpieler gern leiden. Sooft
er nach Hauſe kommt, jammert ſeine Mutter: Mein Gott, mein
Gott, ſchon wieder hat man keine Ruhe! Gleich wird er zu
ſchreien anfangen. Liebſter, Beſter, du bringſt noch meinen Kopf
zum Zerſpringen! Er ſteigt nämlich immer bis zum Boden hin—
auf, ſo hoch es nur irgend geht, und ſingt und deklamiert da
oben, und weiß Gott was noch! Natürlich hört man ihn unten!
Und er verdient zwanzig Sous täglich bei einem Anwalt mit
Schreibarbeiten. Er iſt der Sohn eines alten Kantors von
Saint⸗Jacques bu Haut-Pas. Ein feiner Burſche. Er vergöt—
tert mich ſo ſehr, daß er eines Tages, als er mich Teig kneten
fab, herüberrief: Mamſell, machen Sie Kuchen aus Ihren
Handſchuhen, id werde fie eſſen! So etwas Nettes können doch
nur Künſtler ſagen. Ein prächtiger Menſch. Ich bin auf dem
beſten Wege, mich über die Ohren in ihn zu verlieben. Aber das
iſt gleichgültig, darum ſage ich Blachevelle doch, daß ich ihn an—
bete. Wie ich lieben kann, was?“
98
Und nad einer Paufe fuhr fie fort:
„Mir iſt recht elend, Dahlia. Den ganzen Sommer über bat
es geregnet, und immer gab es Wind, obwohl ich Feinen Wind
susftehen kann; Blachevelle ift furchtbar Enauferig. Auf dem
Markt kann man nicht einmal Bohnen befommen, man weiß
gar nicht mehr, was man auf den Tiſch bringen fol. Ich babe
den Spleen, wie die Engländer fagen. Und die ‘Butter ift au
nicht mehr zu bezahlen. Das Schredlichfte ift, daß wir in einem
Zimmer effen, in dem ein Bett fteht. Das vergällt mir das
ganze Leben.‘
Und jetzt wandte fie fih an Tholomyès und fragte energiſch:
‚Bo bleibt die verſprochene Überraſchung?“
„Ach ja, jebt wäre e8 wohl an der Zeit. Meine Herren, die
Stunde bat gefhlagen, die Damen follen ihre Überrafhung
haben. Meine Damen, warten Sie einen Augenblif auf ung.’
„Vorher noch einen Kuß“, verlangte Blachevelle.
„Auf die Stirn‘, mahnte Tholomyès.
Jeder Eüßte feierlich feine Geliebte auf die Stirn, dann mar-
chierten die vier Männer der Reihe nad) zur Türe hinaus, wo-
bei fie die Zeigefinger vielfagend auf die Lippen legten.
Favourite Flatfchte in die Hände.
„Das fängt ja luftig an”, fagte fie.
„Bleibt nicht zu lange weg, murmelte Fantine, ‚wir er-
warten euch!”
3. Luftige® Ende eines Scherzes
As die jungen Mädchen allein geblieben waren, legten fie fic
zu zweien in die Senfter, beugten fid) hinaus und begannen zu
- plaudern.
Sie fahen die jungen Leute aus dem Reſtaurant Bombarda
Arm in Arm binaugmarfhieren; die vier wandten fit um,
winften, lachten und verfchwanden in der ftaubbededten Menge
der fonntäglihen Spaziergänger auf den Champs-Elyſées.
„Bleibt nicht zu lange!” rief ihnen Fantine noch einmal nad.
„Was fie uns wohl bringen wollen?’ fragte Zephine.
| Wa 99
„Gewiß etwas Hübſches“, meinte Dahlia.
„Ich wollte, es wäre von Gold’, fagte Favourite.
Bald waren fie von dem Treiben am Ufer ganz in Anfprud)
genommen. Um diefe Zeit gehen dort die Poftkutfchen und Dili-
gencen. Die Champs-Elyfees waren damals Ausgangspunft |
aller Poftrouten nad) dem Süden und Weften; die meiften Dili-
gencen folgten den Seinequais und fuhren durd bas Tor von
Paſſy aus. Der Reihe na) raffelten diefe fhwarz-gelb Indierten
mächtigen, fehwerfälligen, mit Gepñd überladenen und mit Men-
ſchen vollgeftopften Gefährte in wilbem Galopp funfenfprühend
und ftaubaufwirbelnd dahin. Der Lärm beluftigte die jungen
Mädchen. Favourite rief:
„Welch ein Getöfe! Als ob ein Bündel Ketten zerriffen würden!”
Einmal hielt eine der Poftfutfhen, hinter den Ulmen ſchwer
erkennbar, plößlih an und feste fih dann rafch wieder in Be—
wegung. Santine wunderte fic.
„Sonderbar,“ fagte fie, ‚ih dachte, die Poftfutfhen halten
niemals auf der Strecke.“
Favourite zuckte die Achfeln.
„Dieſe Fontine ift wirflih vom Mond gefallen. Ich bin
immer neugierig, wenn ich fie befuche, man lernt nie aus. Die
einfachften Dinge find ihr rätfelbaft. Wenn ic ein Neifender
bin und zur Poft fage: ich geh’ ein wenig voraus, nehmen Sie
mic drüben am Quai auf, nun, dann hält die Kutfche, wo fie
mich gerade trifft, und läßt mich einfteigen. Das kommt doch alle
Tage vor. Du Éennft wirflic bas Leben nicht, Liebling.’
So verging einige Zeit. Plötzlich fhien Favourite aus ihrer
Nachdenklichkeit erwacht.
‚Sun, und unfere Überrafhung?’
„Ja, wo bleibt die berühmte Überrofhung?!‘ rief Dahlia.
„Sie find fon fo lange fort‘, fagte Fantine.
Während fie auffenfzte, trat der Kellner, der ferviert hatte,
ein. Er hielt etwas in der Hand, eine Sache, die einem Brief
ähnlich fab.
„Bas ift dag?‘ fragte Favourite.
100
„Ein Brief, den die Herren fürdie Damen zurückgelaſſen haben.‘
„Und warum haben Sie ihn nicht gleich gebracht?”
„Beil die Herren befohlen hatten, ihn erft nach einer Stunde
zu beſtellen.“
Favourite riß dem Kellner den Brief aus der Hand.
„Keine Adreſſe!“ rief fie, „aber ja, da fteht etwas: Dies ift
die Überraſchung!“
Sie erbrad den Brief, und da nur fie lefen Eonnte, las fie
ihn vor:
101
„zeure Freundinnen!
Miffet, daß wir Eltern haben. Was Eltern find, davon
babt Ihr wohl Feine rechte DVorftellung. Im bürgerlichen
Recht und im Ehrenfoder wird fo etwas Vater und Mutter
genannt. Nun, diefe Eltern jammern, die alten Leutchen ver-
langen nad) uns, diefe braven Männer und Frauen nennen
ung verlorene Söhne, wollen, daß wir heimfehren, und maden
ſich anheifchig, zu unferen Ehren ein Kälblein zu ſchlachten.
Da wir tugendhaft find, folgen wir dem Befehl. Zur Zeit,
ba hr dies lefet, bringen uns fünf madere Moffe zu Papa
und Mama. Wir hauen ab, wie der Dichter fagt. Wir ver-
duften — wir find fon verduftet! Die Zouloufer Poft reißt
uns aus dem Abgrund — und diefer Abgrund feid hr, hr
lieben Kleinen! Wir Éebren zurüd in die menfchliche Gefell-
fhaft, zur Pflicht und Ordnung, und wir haben es febr eilig,
machen drei Meilen in der Stunde. Das Vaterland will, daß
wir, wie jeder andere anftändige Menfch, irgend etwas wer-
den, Präfekten, Familienväter, Flurhüter oder Staatsräte.
Blicket auf zu uns in Verehrung, denn wir find Männer,
die fi zu opfern wiffen. Beweinet uns ohne Verzug, dann
forgt für Erfas. Wenn diefer Brief Eure Herzen zerreißt,
fo rächt Euch und zerreißt ihn. Lebt wohl!
Zwei jahre lang haben wir Euch beglückt. Nichts für ungut!
Blachevelle
Fameuil
Liſtolier
Tholomyes
P. S. Das Diner iſt bezahlt. —
Die vier Mädchen fahen einander an. Favourite war es, Die
bas Schweigen brad.
„Das ift wenigftens einmal ein guter Witz!“
„Sehr ſpaßhaft“, meinte Zephine.
„Das bat natürlich Blachevelle ausgeheckt“, vermutete Fa-
102
vourite. „Ich könnte mid in ibn verlieben. Kaum ift er weg,
fo verliebe ih mich. So geht es.’
„Dein, meinte Dahlia, ‚die dee ift von Iholomyes. Un-
verkennbar.“
In dieſem Falle — nieder mit Blachevelle! Und bob Tho—
lomyès!“ rief Favourite.
„Hoch Tholomyès!“ ftimmten Dahlia und Zephine ein.
Sie lachten laut. Fantine lachte mit ihnen.
Als fie aber eine Stunde fpäter nad Haufe Fam, meinte fie.
Es war, wir fagten es fhon, ihre erfte Liebe gewefen; fie hatte
fi) diefem Tholomyes mie einem Gatten gegeben, und das arme
Mädchen hatte ein Kind.
Viertes Buch
Anbertraut — ausgeliefert
l. Eine Mutter begegnet einer anderen
Sm erften Viertel diefes Jahrhundert gab es in Montfermeil
bei Paris eine Éleine Gaftwirtfhaft, die jet nicht mehr eriftiert.
Sie wurde von den Eheleuten Ihenardier unterhalten und lag
in der Muelle du Boulanger. Über der Tür war ein Brett an-
gebracht, das irgendein Bild zeigte, etwas wie einen Mann, der
‚einen anderen auf dem Rücken trägt, und biefer andere hatte
ungeheure Generalgepauletten aus Gold und breite Silber-
| fterne; rote Kleckſe ftellten das Blut dar; das übrige Gemälde
| beftand aus Maud, und das Ganze bedeutete wohl eine
Schlacht. Darunter fonnte man die Auffchrift fehen:
Zum Sergeanten von Waterloo.
Nichts ift gewöhnlicher als eine Fuhre oder ein Karren vor
der Tür einer Herberge. Das Gefährt aber, oder beffer gefagt,
\dag Bruchſtück von Gefährt, das vor der Kneipe „Zum
| Sergeanten von Waterloo‘ an einem Frühlingsabend des
Jahres 1818 ftand, hätte gewiß allein fhon burd feinen
103
Umfang die Aufmerffamfeit eines Malers auf fid gezogen, der
da zufällig vorbeigefommen wäre.
Es war das Vordergeftell eines Blockwagens, wie fie in be-
waldeten Gegenden zum Transport von DBaumftämmen benußt
werden. Diefes Geftell beftand aus einer mafliven Achſe aus
Eifen, in die eine mächtige Deichfel geftedt war, und die von
zwei riefenhaften Rädern getragen wurde. Das Ganze fab
plump und mißfürmig aus. Man hätte fagen können, es fei das
Sabrgeftell einer großen Kanone.
Wozu ftand diefes Gefährt dort auf der Straße? Zunädft
wohl, um den Verkehr zu hemmen, dann aber aud, um weiter-
zuroften. In der alten fozialen Ordnung gibt es eine Unmenge
von Dingen, die folhermaßen berumfteben und Feine weitere
Dofeinsberehtigung haben als eben die, daß fie eben bebinder-
lich find.
Unter der Achſe hing eine Kette fo tief herab, daß fie faft bis
zur Erde reichte, und in der Krümmung diefer Kette, wie auf
einer Schaufel, faßen an diefem Abend zwei Eleine Mädchen,
eines von etwa zweieinhalb jahren, dag andere, jüngere, viel-
leicht achtzehn Monate; die Kleinere in den Arm der Größeren
gelehnt. Ein gefhidt verfnotetes Tuch verhinderte, daß fie ber-
unterfielen. Eine Mutter hatte diefe Kette gefehen und hatte
gedacht: halt, bas ift ein Spielzeug für meine Kinder!
Die beiden Kleinen waren nett und fogar etwas gewählt an-
gezogen; ihre Augen Teuchteten, ihre frifhen Wangen ladbten;
die eine war Faftanienbraun, die andere brünett. bre naiven
Gefihter ftrablten Entzüden aus; ein Blumenbeet in der Nähe
fandte einen Duft aus, der den Vorübergebenden von den bei-
den Kindern zu kommen fhien. Die Kleine von achtzehn Mo-
naten zeigte mit der Feufchen Unbefangenheit des frübeften Kin-
des alters einen niedlichen Éleinen Pau.
Einige Schritte abjeits ſaß auf der Schwelle der Herberge
die Mutter, eine Frau von wenig einnehmendem Außern, die
aber in diefem Augenbli immerhin etwas Nührendes an fi
hatte; mittels eines langen Strids bradte fie die Kette zum
104
Schaufeln und überwachte babei ängftlih die beiden Kleinen
mit jenem halb tierifchen, halb himmliſchen Ausdrud, der der
Mutterfhaft eigentümlih ift. Bei jeder Bewegung Freifchten
die Eifenringe gellend auf, die Éleinen Kinder jubelten, und die
untergebende Sonne mifchte ihr Licht in all die Freude; es war,
als ob diefe Laune des Zufalls eine Titanenfette in eine Gir-
lande der Cherubim verwandelt hätte.
Während die Mutter die Kleinen wiegte, fang fie eine da-
mals berühmte Nomänze:
„So muß es fein, jagt der Soldat . . .”
Ihr Gefang und die Beobachtung der Kinder hinderte fie zu
hören oder zu feben, was auf der Straße vorging.
Inzwiſchen war, als fie die erfte Strophe jener Nomanze an-
ftimmte, jemand näher getreten, und plößlic hörte fie knapp
über ihrem Ohr eine Stimme.
‚zwei hübſche Kinderchen haben Sie, Frau!”
„. . . Zur fchönen, füßen Imogen“, fuhr die Mutter fort,
wie es im Text wohl lautete; dann wandte fie fih um.
Eine Frau ftand vor ihr. Auch fie Hatte ein Kind in den
Armen.
Überdies fchleppte fie einen recht umfangreichen Reiſeſack, der
ziemlich ſchwer zu fein fohien.
Das Kind diefer Frau war dag entzücfendfte Wefen, das man
fi nur vorftellen Eonnte. Ein Mädchen von zwei oder drei
Sahren. Und nicht weniger Fofett herausgepußt wie die beiden
andern Kleinen. Es trug ein Häubchen aus feinem Linnen, war
mit Bändern und Spitzen geſchmückt. Das Kleidchen war zurüd-
gefhoben und lief die weißen, prallen, wohlgeformten Schenfel
feben. Das Gefiht war rofig und verführerifh. Die Kleine
verlodte den Beſchauer, fie anzubeißen wie einen Apfel. Don
ihren Augen Éonnte man nur fehen, daß fie febr groß fein muß—
ten und ſchöne Liber zeigten; denn fie fchlief.
Sie fchlief den ungeftörten Schlaf ihres Alters. Mutterarme
find Zärtlichkeit; Kinder fchlafen darin tief.
105
Mas die Mutter betraf, fo mate fie einen ärmlihen und
traurigen Eindrud. Gefleidet war fie wie eine Arbeiterin, die
wieder Bäuerin werden will. Sie war jung. War fie auch ſchön?
Vielleicht, aber in diefer Kleidung Fam es nicht zur Geltung.
Ihr Haar, von dem nur eine blonde Tode fihtbar war, ſchien
fehr dicht, aber es war forgfältig unter einer Art Nonnenhaube,
die am Kinn zufammengebunden war, verborgen. Schöne Zähne
kommen nur beim Laden zum Vorſchein, und diefe Frau fchien
nicht frôblit geftimmt. Es war, als ob ihre Augen nod nicht
lange troden wären. Sie war blaß, fab müde und fränflid
aus. An der Art, wie fie das fchlafende Kind in ihren Armen
anfah, war zu erkennen, daß fie es felbft genährt hatte. Um ihre
Hüften hatte fie ein breites, blaues Tuch, wie es die nvaliden
gebrauchen, gefblungen. Sie hatte fonnenverbrannte, mit Som-
merfproffen bedefte Hände, und der Zeigefinger der Rechten
war hart und zerftohen; ein brauner Mantel aus difer Wolle
und ein LeinenÉleid war ihre Bekleidung.
Es war Fantine.
Kaum war fie zu erfennen. Mur wenn man näher zufah,
Eonnte man bemerfen, daß fie immer noch ſchön war. Eine trau-
rige Falte, die wie einer erften ironifhen Regung entfprungen
fhien, durdfehnitt die rehte Wange. Von der luftigen Muffe:
linEleidung und den Bändern, die früher ihre Heiterkeit, ihre
Marrbeit und Luft zu fingen zum Ausdrud gebradt hatten, war
jest nicht mehr zu bemerfen als von jenen Iautropfen, die in
der Sonne wie Diamanten glisern, aber bald verdunften und
den fchwarzen Zweig bervortreten laflen.
Zehn Monate waren feit jenem „guten Scherz‘ verftrihen.
Mas hatte ſich inzwifchen zugetragen?
Man errät es. Einfamfeit. Not. Fantine hatte Favourite,
Zephine und Dahlia bald aus dem Geficht verloren; fobald bas
Band geriffen war, bas jene Männer um fie gefhlungen, waren
fie augeinandergelaufen, und vierzehn Tage fpâter wären fie
fehr verwundert gewefen, wenn man ihnen gejagt hätte, fie feien
Freundinnen: das war jest überflüffig.
106
Santine war allein geblieben.
Der Vater ihres Kindes war fort, denn ad, ein folder Bruch
pflegt ja unwiderruflid zu fein... alfo war fie vollends ver:
einfamt, allein mit ihrer verringerten Arbeitsluft und ihrer ge
fteigerten Freude am Vergnügen. Durd die Verbindung mit
Tholomyes hatte fie fih daran gewöhnt, das fhlichte Gewerbe,
das fie auszuüben verftand, zu verachten, und hatte ihre Ver—
dienftmöglichfeiten vernadläffige. Nun war feine Hilfe zu er-
hoffen. Santine konnte faum lefen und nicht fhreiben. Man
hatte ihr in ihrer Kindheit nur beigebracht, ihren eigenen Namen
aufs Papier zu fesen. So ließ fie dur einen ôffentliben
Schreiber einen Brief an Tbolomnès richten, fpäter einen
zweiten und nod einen dritten. Iholomyes hatte nidt geant-
wortet. Eines Tages hörte Fantine einige Frauen über ihr
Töchterchen fagen:
„Nimmt man folbe Kinder ernft? Man fann nur die
Achſeln zucken.“
Damals war ihr Tholomyeg eingefallen, der auch die Achſeln
zudte und biefes Éleine, unfchuldige Lebewefen nicht ernft nehmen
wollte. Da dachte fie ſchlecht von ibm.
Aber was folte fie tun? Sie wußte fid Éeinen Mat. Sie
batte einen Fehltritt begangen, aber im Grunde ihres Herzens
war fie fhambaft und tugendhaft. Sie begriff ungefähr, daß fie
dem Elend und der Schmad verfallen müffe. Sie mußte fid)
ein Herz faffen, und fie tat es. hr Fam der Gedanke, na ihrer
Baterftadt, Montreuil fur Mer, zurüdzufehren. Vielleicht
würde fie dort einen Bekannten finden, der ihr Arbeit ver-
fhaffte. Allerdings... fie mußte ihren Fehltritt verbergen. Es
wurde ihr allmählih Élar, daß fie fih zu einer zweiten, nod
härteren Trennung werde verftehen müflen. hr Herz zudte
gufammen, aber fie rang ſich durch. Fantine befaß, wie der Lefer
finden wird, einen wilden Lebensmut. Schon hatte fie jeglichem
Schmuck entfagt, hatte fi in einen gefleidet und all ihre
Seide, ihre Stoffe, Bänder, Spisen dem Kinde, der einzigen
Eitelkeit, die ihr verblieben war, gefhentt. Sie verfaufte ihre
107
fleine Habe und löfte dafür zweihundert Franfen ein; nadbem
fie ihre Eleinen Schulden bezahlt hatte, blieben ihr etwa adıtzig.
Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, als fie an einem fchönen
Srühlingsmorgen Paris verließ und ihr Kind auf dem Miden
aus der Stadt binaustrug. Wer die beiden fo gefehen hätte,
wäre gewiß einer Regung des Mitleids zugänglich gewefen.
Diefe Frau befaß nichts auf der Welt als diefes Kind und die-
fes Kind nichts als diefe Frau. Fantine hatte das Kind genährt,
davon war ihre Bruſt efwas ermüdet, und fie buftete Leicht.
Mir werden Feine Gelegenheit mehr haben, von Felir Tho—
lomyes zu fprechen. Begnügen wir ung zu fagen, daß er zwanzig
Jahre fpäter unter Louis Philippe ein angefebener Provinz-
advofat war, einflußreic und begütert, ein verftändiger Wähler
und fehr ftrenger Gefehworener; und aud dann noch ein Lebe—
mann.
Gegen Mittag war Fantine, nachdem fie eine Strede in den
fogenannten Kleinfuhren für Paris und Umgebung, zu vier
Sous die Meile, zurüdgelegt hatte, in Montfermeil eingetrof-
fen. Als fie an der Herberge der Ihenardier vorüberfam, hatten
die beiden Eleinen Mädchen, die fih auf ihrer Kette ergößten,
Santines Aufmerkſamkeit erregt, und fie war vor ihnen wie vor
einer Vifion der Freude ftehengeblieben. Tief gerührt betrachtete
fie die beiden. Wo Engel find, Fann das Paradies nicht fern
fein. Sie glaubte, auf dem Schild der Herberge bas gebeimnis-
volle „Hier ift es!” der Vorfebung zu feben. Gewiß waren biefe
beiden Kinder glücklich. Fantine hatte fie mit Bewunderung und
Zärtlichkeit betrachtet und Fonnte fih nicht enthalten, in einem
Augenbli, da die Mutter zu einem neuen Ders anfekte, zu
fagen: „Zwei hübfche Kinderchen haben Sie, Frau!”
Selbft die roheften Kreaturen find entwaffnet, wenn man
ihre Kinder rühmt. Die Mutter bob den Kopf, dankte und Iud
die Fremde ein, auf der Bank Plat zu nehmen. Sie felbft blieb
auf der Schwelle fißen.
„Ich bin Grau IThenardier”, fagte fie. „Wir betreiben bier
diefe Gaſtwirtſchaft.“
108
Dann fummte fie wieder einen Vers ihrer Romanze:
„Bin ein Mitter, muß wohl ziehn
Sern nach Paläftina Hin..."
Diefe Frau Thénardier war eine rothaarige, fleifchige, plumpe
Perfon, ein rechtes Soldatenweib in ihrer mangelhaften Grazie.
Seltfam, fie liebte es dabei, fit zu zieren — eine Meigung,
die fie offenbar fleißiger Romanlektüre verdanfte. Sie ver-
Ihlang alte Bücher, und die bringen ja oft eine folhe Wirkung
zuſtande. Übrigens war fie noch jung, kaum dreißig Sahre. Wenn
fie, die da gebückt faf, aufgeftanden wäre, hätte ihre Rieſen—
geftalt, die fih auf einem Jahrmarkt hätte feben laflen Fönnen,
die Meifende gewiß in Angft verfeßt und ihr Zutrauen vermin-
dert: fo daß, was wir eben zu erzählen im Begriffe find, nie-
mals zuftande gefommen wäre. Ob ein Menfch fist oder auf-
recht fteht, an folhe Dinge Fnüpft fih manchmal ein Schidfal.
Die Meifende erzählte ihre Gefchichte, nicht ohne einige
Änderungen an ihr vorzunehmen. Sie fei Arbeiterin, ihr Mann
geftorben. In Paris gäbe es Feine Arbeit, und darum wolle
fie es anderswo verfuchen, zum DBeifpiel zu Haufe; fie ſei heute
morgen zu Fuß von Paris weggegangen, aber da fie das Kind
getragen habe, fei fie bald müde geworden und in den Wagen ge-
ftiegen, dem fie auf dem Wege nach Villemomble begegnet fei;
von Villemomble fei fie zu Fuß nah Montfermeil berüber-
gegangen. Die Kleine fei ein wenig gelaufen, aber nur eine
kurze Strede, und fie fei ja noch fo jung, dann babe fie fie wie-
der auf den Arm nehmen müffen. est fei der Schatz ein-
geſchlafen.
Darüber küßte ſie das Mädchen ſo leidenſchaftlich, daß es
erwachte. Das Kind ſchlug die Augen auf, große, blaue Augen,
die denen der Mutter glichen, und ſah um ſich. Was es ſah?
Nichts, alles — und mit dieſem ernſten, faſt ſtrengen Blick
kleiner Kinder, der das Geheimnis ihrer ſtrahlenden Unſchuld
unſeren dämmernden Tugenden gegenüberſtellt. Man möchte
ſagen, ſie wüßten, daß ſie Engel ſind, wir aber Menſchen.
109
Enblid begann die Kleine zu lachen, und obwohl die Mutter
fie zurückhielt, glitt fie zur Erde herab mit der unzähmbaren
Energie eines jungen Wefens, bas laufen will. Sie bemerfte
die beiden Kleinen auf ihrer improvifierten Schaufel, blieb
ftehen und fperrte, untrügliches Zeichen der Bewunderung, den
Mund auf.
Mutter Thénardier band ihre Mädchen Los, ließ fie von der
Schaufel berabfteigen und fagte:
„Spielt, ihr drei!”
In diefem Alter werden Sefanntfhaften rafh gefbloffen;
Feine Minute war vergangen, da waren die Éleinen Thénardierg
bereits mit der neuen Freundin in dem febr ernfthaften DBe-
fireben vereint, Löcher in die Erde zu kratzen, mobei fie ſich aufs
befte zu amüfieren fhienen.
„Wie heißt die Kleine?’ fragte inzwifchen Frau Thénardier.
„Coſette.“
Coſette ... bas heißt, eigentlich hieß fie Euphraſie. Aber aus
Euphrafie hatte die Mutter Eofette gemacht mit jenem an-
mutigen Inſtinkt der Mütter und des Volkes, der aus Joſepha
Pepita und aus Francçoiſe Sillette mabt. Das find Ableitun-
gen, die geeignet find, die ganze Etymologie auf den Kopf zu
ftellen. Ich babe eine Großmutter gefannt, die es zumege
brachte, aus Iheodore Gnon zu machen.
„Wie alt ift fie?‘
„Bald drei fahre.‘
„Wie meine Älteſte.“ |
Inzwiſchen hatten fich die drei Éleinen Mädchen in der Hal-
tung tiefer Beforgnis und doch zugleich beglüdender Spannung
zufommengedrängt; irgend etwas war paffiert. Ein dicker Regen—
wurm Fam aus der Erde gefrodhen. Sie fürdteten fid und
waren doch entzüct. |
„Ad diefe Kinder!” rief Mutter Ihenardier, „wie rafch die
einander Éennen! Wenn man fie fo fieht, möhte man doch
fhwören, daß es drei Schweftern find!‘
Dies Wort war der Funke, auf den die andere gewartet zu
110
haben fien. Sie nabm die Hand der Frau Thénarbdier, jah ihr
feft ins Auge und fragte:
„Wollen Sie mein Kind bei fit behalten?”
Srau Tbénardier antwortete mit einer Gebärde des Er-
ftauneng, die weder Einwilligung noch Ablehnung bedeuten
mußte.
Die Mutter Cofettes fuhr fort:
„Sehen Sie, id Éann die Kleine nicht mitnehmen. Die
Arbeit erlaubt es nit. Mit einem Kind findet man feine Be—
ihäftigung. Bei uns zu Haufe find die Leute fo Éomifh in diefer
Beziehung. Der liebe Gott bat mic zu Ihrer Herberge geführt.
As ich Ihre bübfhen, fauberen Kinderchen fab, denen es offen-
fihtlih fo gut geht, babe ich gleich biefes Gefühl gehabt, und
habe mir gedaht: Das muß eine gute Mutter fein. Wirklich,
die drei könnten Schweftern fein. Und dann fomme id ja aud
bald wieder. Wollen Sie mein Kind folange behalten?‘
„Man müßte fih’s überlegen”, meinte Frau Ihenardier.
„Ich würde febs Franken monatlich geben.
Vebt wurde aus der MWirtsftube eine Männerftimme hörbar.
„Sicht unter fieben Franken! Und fehs Monate voraus-
bezahlt!“
„Sechs mal ſieben wären zweiundvierzig ...“, meinte Frau
Thénardier.
„Das werde ich geben“, ſagte die Mutter.
„Und fünfzehn Franken Anzahlung für die erften Anfchaf-
fungen‘, ließ die Männerftimme fi vernehmen.
„Das wären zufammen fiebenundfünfzig Franken‘, fuhr
Srau TIhenardier fort. Mitten in ihre Berechnung hinein aber
fummte fie ihr:
„So muß e8 fein, fagt der Soldat...”
„Ich werde es bezahlen‘, fagte die Mutter. „Ich babe achtzig
Sranfen. Mir bleibt no ein Reſt, um nah Haufe zu fom-
men... wenn ich zu Fuß gebe. Wenn ic zu Haufe Geld ver-
dient babe, Éomme id wieder und befuche meinen Sat.
Die Männerftimme fragte von neuem:
111
„Iſt denn die Kleine ausgeftattet?/!
„Es ift mein Mann‘, fagte Frau Ebénardier.
ber gewiß bat fie eine Ausftattung, der Eleine Sas.
Ich hatte e8 mir gleich gedacht, daß es Ihr Mann wäre. Und
eine fhöne Ausftattung fogar, alles dutzendweiſe! Seidenfleider
wie eine Dame. Alles habe id hier in meinem Reiſeſack.“
„Sie müflen es ihr hierlaffen‘‘, antwortete die Männerftimme.
„Gewiß laſſe ich e8 ihr hier’, erwiderte die Mutter. , Das
wäre doc zu foll, wenn ic) mein Kind nadt Tiefe!’
Jetzt wurde der Hausherr fichtbar.
„Gut“, fagte er.
Man wurde banbelgeinig. Die Mutter verbrachte die Nacht
in der Herberge, erlegte das Geld, ließ das Kind zurück und
machte fi am nädhften Morgen mit ihrem fchlaff gewordenen
Reiſeſack wieder auf den Weg.
Eine Nachbarin der Ihenardier begegnete ihr, als fie aus
dem Ort hinausging, und erzählte fpäter: „Ich fab diefe Frau
weinen, daß es zum Steinerweichen war.’
Der Wirt aber fagte zu feiner Frau, als Cofettes Mutter
gegangen war:
‚Sun werde ich die hundertzehn Franken doch bezahlen Éôn-
nen, die morgen fällig find. Diefe fünfzig fehlten mir gerade
nob. Weißt bu auch, daß der MWechfel gewiß proteftiert worden
wäre? Wir hätten das Gericht auf den Leib gefriegt. Die haft
du gut gefödert mit deinen Kleinen!”
„Und ich dachte mir nicht einmal was dabei.”
2. Erfte Skizze zweier verdädhtiger Gestalten
Wer waren diefe Thenardierg?
Diefe Leute gehörten zu jener Zwitterart von Menfchen, die
fit aus ungebildeten Emporfömmlingen und berabgefommenen
Gebildeten zufammenfest, gewiflermaßen eine Mifchung ift aus
dem fogenannten Mittelftand und der Unterflaffe, und die Feh—
ler der leßteren mit den Laftern der erfteren verbindet — Éurz,
112
die zwar die großherzigen Regungen des Arbeiters nicht Fennt,
aber auch die Drdnungsliebe der Bürgerflafle eingebüßt bat.
Es waren verfrüppelte Seelen, die, wenn zufällig irgendein
Antrieb fie verführte, leicht zu Verbrechern entarten fonnten.
ES FE
Die Frau war eher roh, während der Mann einen richtigen
Lumpen abgeben fonnte.
Diefer Thenardier mußte dem Kenner der Phyſiognomik auf
den erften Slif miffallen. Manche Menfhen braudht man
nur anzufehen, um ihnen zu miftrauen. Sole Leute blidfen
8 Hugo, Die Elenden. 113
beunruhigt auf ihre Vergangenheit zurüd, brobend auf ihre Zu-
Eunft. Etwas Unbefanntes ift in ihnen. Man weiß nicht, was
fie getan haben oder no tun werden. Ein Schatten in ihrem
Blick verrät fie. Man braucht fie oft nur ein Wort fagen zu
hören, nur eine Gebärde von ihnen zu erhafhen, und man ahnt
ein bunfles Geheimnis in ihrer Vergangenheit oder büftere
Möglichkeiten ihrer Zufunft.
Ihenardier war, wenn man ibm glauben will, Soldat ge-
wefen, Sergeant, wie er behauptete; angeblich hatte er an dem
Feldzuge von 1815 teilgenommen und fit dabei ausgezeichnet.
Das Schild feiner Kneipe war eine Anfpielung auf eine feiner
Maffentaten. Er hatte es felbft gemalt, denn er Fonnte alles,
aber alles ſchlecht.
Die Thenardier war gerade Flug genug, um alberne Bücher
zu lefen. Sie lebte davon. Nichts anderes befchäftigte ihren
DVerftand; das hatte ihr feinerzeit, als fie nod jung war, ja
fogar no fpâter, den Schein einer gewiflen DBefinnlichfeit ver-
lieben, fo daß fie neben ihrem Mann, einem Scurfen von
Format und gefehulten Lumpen, geradezu angenehm wirfte. Sie
war zwölf oder fünfzehn Jahre jünger als er. Später, als ihre
romantifhen Schmadhtloden zu ergrauen begannen und aus der
Pamela eine Megäre wurde, war die Ihenardier nur nod eine
plumpe, böfe Frau, die dumme Bücher las.
Man befhäftigt fih nicht ungeftraft mit Albernheiten.
So geſchah es, daß die ältefte Tochter der Thénarbiers
Eponine getauft wurde; und die jüngere, das arme Gefchöpf,
follte gar Gülnare heißen; das Glück wollte, daß ein Roman
von Dusray-Dumenil diefe Schmach von ihr fernbielt; fie fam
mit dem Namen Azelma davon.
3. Die Lerche
Es genügt, um Erfolg zu haben, nicht, daß man ein Schuft
iſt. Die Herberge ging ſchlecht.
Dank der ſiebenundfünfzig Franken der Reiſenden aid
TIhenardier einem Proteft entgehen und feinen Wechſel hono-
114
rieren. Aber fhon im nächſten Monat braudte er wieder Geld.
Die Frau trug Eofettes Kleider nah Paris und verfeñte fie
auf dem Mont de Diété für fehzig Franken. Sobald diefe
Summe verausgabt war, gewöhnten fi die beiden daran, die
Kleine für ein Kind zu halten, das fie aus reiner Barmbherzig-
feit bei fit) behielten, und fie behandelten fie darnach. Da fie
jest Feine Ausftattung mehr befaß, mußte fie die alten Kleider
“und Hemden der Éleinen Thenardierg auftragen. ihre Nahrung
war, was übrigblieb — etwas beffer als die des Hundes und
etwas fchledhter als die der Kate. Hund und Rate waren
übrigens ihre Tifbgenoffen. Cofette af mit ihnen unter dem
Zifh aus einem Holznapf, der dem der beiden Tiere glich.
Die Mutter hatte fi, wie der Lefer noch feben wird, in
Montreuil fur Mer niedergelaffen. Allmonatlid ließ fie an die
Thénardiers fhreiben, um Nachrichten über ihr Kind ein-
subolen. Und unmwandelbar antworteten die Thenardierg:
„Sofette geht es glänzend.”
As die erften febs Monate abgelaufen waren, fandte die
Mutter fieben Franken für den fiebenten; monatlich Tiefen ihre
Zahlungen pünktlich ein. Aber das jahr war noch nicht voll, als
TIhenardier fagte:
„Bir find ja feine Wohltäter! Mas follen wir denn von
ihren fieben Sranfen alles leiſten?“
Und er fohrieb, fie müffe jeßt zwölf Franfen bezahlen. Da fie
der Mutter fagten, das Kind fer glücklich und gedeihe aufs befte,
fügte fie fid und fandte zwölf Franken.
Gewiſſe Maturen können nicht nad einer Seite lieben, ohne
nach der anderen zu baffen. Mutter Thénardier Tiebte ihre bei-
den Töchter leidenschaftlich, aber das hatte nur zur Folge, daß
fie die Fremde verabfheute. So wenig Platz Eofette au ein-
nahm, ihr ſchien immer, es fei Pla, der den eigenen Kindern
gebühre, und fie hatte ein Gefühl, als ob Cofette ihren Kindern
die Luft wegfchnappe. Diefe Frau hatte, wie viele ihrer Art,
ein gewiffes Quantum Liebe und ein gewifles Quantum Püffe
* 115
und Flüche täglich zu verausgaben. Wäre Cofette nicht im Haufe
gewefen, fo wären gewiß aud die Grobheiten den eigenen Kin-
dern, fo febr fie auch geliebt wurden, zugefallen; die Fremde
aber Teiftete ben beiden Mädchen den Dienft, alle Prügel auf
fid) abzuziehen. Cofette Fonnte nichts tun, ohne einen Hagel un-
verdienter und graufamer Züchtigungen auf ſich herabzuloden.
Da die Thenardier gegen Cofette ſchlecht war, taten Eponine
und Azelma desgleichen. In diefem Alter find die Kinder nur
Kopien der Eltern.
So verftrih ein Jahr, und noch eines.
Sm Dorf hieß es: diefe Ihenardiers find doc gute Leute.
Sie find nicht reich, aber fie bringen biefes arme Kind durd,
bas man bei ihnen Tiegengelaflen bat.
Denn man nahm an, Cofette fei von ihrer Mutter vergeffen
worden.
Inzwiſchen hatte Ihenardier erfahren — wir wiffen nicht,
auf weldhen dunklen Ummwegen — , daß das Mädchen unehelich
geboren war und daß die Mutter es verleugnen mußte. Sofort
verlangte er fünfzehn Franken monatlich, fehrieb, die Kleine
wachſe und efle für drei, drohte fogar, fie zurückzuſchicken.
Die Mutter zahlte auch die fünfzehn Franken.
Don Fahr zu Jahr wuchs bas Kind, wuchs au fein Elend.
Solange Eofette Elein war, hatte fie den beiden anderen
Kindern als Prügelfänger gedient; feit fie etwas größer war
(no nicht ganz fünf Vabre), diente fie als Hausmagd.
Cofette erledigte alle Gänge, fäuberte Stuben, Hof und
Straße, wuſch Gefbirre, trug fogar Eleine Laften. Die Thé-
nardiers fühlten fi zu diefen Forderungen um fo mehr berec-
tigt, denn die Mutter, die fih noch immer in Montreuil fur
Mer aufhielt, begann, unpünftlih zu zahlen. Sie blieb einige
Monate mit ihren Sendungen im Rückſtand.
Wenn fie damals, nad drei Vabren, noch Montfermeil ge-
fommen wäre, hätte fie ihr Kind nicht wiedererfannt. Die
niedliche, frifche, Eleine Eofette war jeßt mager und blaß. Sie
116
hatte etwas Unrubiges in ihrem Yefen, etwas „Tückiſches,
Falſches“, wie die Thénardiers fagten.
Die Ungerechtigkeit hatte fie verfchloffen, das Elend hatte fie
häßlich gemacht. Mur ihre fohönen Augen waren ihr verblieben,
aber e8 tat weh, in fie hineinzufchauen, denn fie fhienen nur fo
groß, um all das Unglück zu faffen.
. Sn der Gegend nannte man fie Lerche. Das Volk, das Bild-
vergleiche Tiebt, hatte fie fo genannt, weil biefes Geſchöpf, faum
größer als ein Vôgelben, allmorgendlich als erfte im Haufe
und im ganzen Dorfe aufftand.
Mur daß die arme Terche niemals fang.
Fünftes Buch
Der Abgrund
Meere Sortioriftinder sumurckie
des fhmarzen Glaſes
Mas war aus diefer Mutter, die nach der Anficht der Leute
von Montfermeil ihr Kind im Stich gelaffen hatte, geworden?
Nachdem fie die Eleine Cofette bei den Thénardiers zurüd-
gelaffen Hatte, war fie mweitergemanberf und fchließlih nad
Montreuil fur Mer gekommen.
Das war, wie der Lefer fi erinnert, im jahre 1818 ge-
wefen.
Zehn Sabre früher hatte Fantine ihre Heimat verlaffen.
Montreuil fur Mer batte fit fehr verändert. Während Fan-
tine immer tiefer ins Elend berabgefunfen war, hatte ihre Hei—
matftadt einen Auffhwung zu MWohlftand und Gedeihen genom-
men. Vor etwa zwei Jahren hatte fih ein Umſchwung in der
Induſtrie vollzogen, der für diefen Fleinen Ort ein großes Er-
eignis wurde. Diefe Einzelheit ift wichtig, und wir müflen auf
fie näher eingehen.
Seit undenflihen Zeiten war e8 das befondere Gewerbe von
Montreuil fur Mer, englifhen Gagat und beutfhes Schwarzglas
117
nachzuahmen. Diefe Induſtrie hatte immer ihr Leben ge-
friftet, aber infolge des hohen Preifes der Mohftoffe Eeinen
Aufſchwung nehmen Éônnen. Als Fantine zurüdfehrte, war eben
eine unerbôrte Umwälzung in den Arbeitsmethoden diefer In—
duftrie vollzogen worden. Gegen Ende des jahres 1815 war
ein Unbefannter in die Stadt gefommen und hatte die Idee
gehabt, in der Gagaterzeugung bas Harz durch Gummilad zu
erfeßen. Diefe geringfügige Anderung hatte genügt, eine Revo—
Iution hervorzurufen. Denn jest war billiger Mobftoff zur Ge-
nüge vorhanden, und fo Éonnten zunächſt die Löhne gefteigert
werden, ein DBorteil, der für den ganzen Ort fühlbar wurde;
dann fonnte die Ware verbeflert werden, was den Ronfumenten
zunuße Éam, und ſchließlich Éonnte fie im Preife gefenft werden,
obwohl der Sabrifant den dreifachen Gewinn einftrid.
In Enappen drei jahren war der Mann, der diefe Idee ge-
habt hatte, reich geworden, und reich auch die ganze Umgebung.
Er war fremd im Departement. Über feine Herkunft war nichts
befannt. Die Anfänge feines Aufftiegs lagen im Dunkel.
Man erzählte fih, er fei mit fehr wenig Geld, höchſtens ein
paar hundert Sranfen, in die Stadt gefommen. Aber mit die-
fem befheidenen Kapital, bas er in den Dienft einer guten
dee ftellte, hatte er ein Vermögen gemacht und dem Wohl-
ftande der Stadt gedient. Als er nah Montreuil fur Mer ge
fommen war, fchien er nah Kleidung, Haltung und Sprade
ein einfacher Arbeiter zu fein. Es hieß, er habe damals, an
jenem Dezemberabend, da er gänzlich unbeadhtet feinen Einzug
hielt, einen Tornifter am Müden, und einen Knotenſtock in der
Hand gehabt. Eben an jenem Abend war im Gemeindehaus ein
Brand ausgebrochen. Diefer Mann batte fi in bas Feuer ges
ftürgt und hatte, ohne die größte Gefahr zu feheuen, zwei Kin-
der — es waren die des Gendarmeriehauptmannes — gerettet;
fo war es vielleicht zu erklären, daß in der Aufregung niemand
nad feinem Paß gefragt hatte. In der Folge hatte man feinen
Damen erfahren. Er hieß Père Madeleine, Vater Madeleine.
118
2. Madeleine
Er war etwa fünfzig Jahre alt, fab aus, als ob er irgend-
einem geheimen Gedanken nahhinge, und war gütig. Das ift
alles, was man von ihm fagen Fonnte.
Dank des Auffhwungs der Induſtrie, den er veranlaßt hatte,
war Montreuil fur Mer ein anfehnliher Sanbelsplas gewor-
den. Spanien, das febr viel fhwarzen Jett Éonfumiert, fandte
alljährlich große Aufträge. Montreuil fur Mer begann fogar
London und Berlin Konkurrenz zu machen. Die Verdienfte, die
Vater Madeleine aus diefen Geſchäften 309, waren fo beträdt-
lib, daß er bereits im zweiten Yabre eine große Fabrik mit
zwei geräumigen Werkftätten, einer für Männer, einer für
Frauen, hatte einrichten Éônnen. Wer immer da Mot litt, Éonnte
dort vorfprehen und war gewiß, Arbeit und ‘Brot zu finden.
Vater Madeleine verlangte von den Männern nur Arbeits-
willen, von den Frauen Sittenreinheit und Ehrlichfeit. Er hatte
zwei Werfftätten eingerichtet, um die beiden Gefchlechter zu
trennen und die Frauen und jungen Mädchen von den Män-
nern fernzuhalten. %n diefem Punkt war er unbeugfam. Es
war die einzige ace, in der er geradezu unduldfam war. Ge-
wiß war diefe Strenge begründet, denn da Montreuil fur Mer
eine Garnifonftadt war, fehlte es nicht an Verlockungen und
Verderbnis.
Im ganzen genommen, war Mabeleines Ankunft eine Wohl-
tat, fein dauernder Verbleib ein Gefchenf der Vorſehung für
diefe Stadt. Früher war die ganze Gegend verelendet gemwefen;
jeßt gedieh alles in einem arbeitfamen Dafein. Der Puls eines
werftätigen Lebens belebte und ftärfte alles. Arbeitslofigfeit und
Elend waren unbefannt. Selbft die Armften hatten etwas, und
auch der befcheidenften Hütte fehlte nicht jegliche Freude.
Vater Madeleine befhäftigte alle.
Und inmitten al diefer Iätigfeit, die von ihm ausging, er-
warb er ein Vermögen, obwohl — höchſt fonderbarermeife —
nicht feine Hauptforge diefem Ziel zu gelten fhien. Er dachte
119
offenbar mehr an die andern als an fi felbft. 1820 wußte man,
daß er bei Saffitte 630 000 Franken deponiert hatte, aber be-
vor diefe Summe beifammen war, hatte er eine gute Million
für die Stadt und die Armen verausgabt.
Das Hofpital war in Schwierigkeiten. Er hatte zehn neue
Betten geftiftet. Er ließ zwei neue Schulen bauen, eine für
Mädchen, eine für Knaben. Den beiden Lehrern feßte er eine
Zulage aus, die ihr Gehalt um das Doppelte übertraf, und als
fi jemand darüber wunderte, fagte er:
„Die Amme und der Schulmeifter find die beiden höchften
Beamten des Staates.“
Auch hatte er auf eigene Koften einen Kindergarten eingerich-
tet — damals in Sranfreid noch etwas faft Unbefanntes —,
aud Unterftügungsfaflen für alte und invalide Arbeiter ge-
Ichaffen. Nings um feine Fabrik war ein neues Arbeiterviertel
entftanden, in dem viele mittellofe Familien Unterkunft fuchten;
hier hatte er eine Apotheke eingerichtet, in der Heilmittel un-
entgeltlicd) abgegeben wurden.
Zuerft hatten die guten Leute geglaubt, er wäre ein fchlauer
Kerl, bem es lebtlih doc nur auf den Neichtum ankäme. Als
dann aber der Segen des Wohlftands den Ort mehr traf als
Madeleine felbft, hieß es: ein Ehrgeizling. Und dafür ſprach
auch, daß er offenfichtlic religiös war und mit einer gewiflen
Megelmäßigfeit die Kirche befuchte (mas damals höchſten Ortes
gern gefehen wurde). Jeden Sonntag hörte er eine ftille Meffe.
Der Deputierte des Ortes, der einen Mebenbuhler witterte, fand
befonders diefe religiöfen Anwandlungen verdächtig. Er war
unter dem Kaiferreih Mitglied der gefeßgebenden Körperfchaft
gewefen und hing den religiöfen Anfhauungen jener Epoche an.
Als er aber den reichen Sabrifanten Madeleine fonntäglich um
fieben Uhr die ftille Meſſe befuchen fab, begriff er, was ihm
drohe, und entfchloß fi, den Mebenbuhler zu überbieten; er
nahm fi einen Yefuiten zum DBeichtvater und verfäumte weder
das Hochamt noch die Befper. Das war eine Zeit, in der, wer
ehrgeizig war, nicht ruhen durfte. Die Armen hatten davon
120
ebenfo ihren Vorteil wie der liebe Gott, denn der ebrenmerte
Deputierte ftiftete auch zwei Betten im Spital...
1819 ging eines Morgens das Gerücht burd die Stadt,
Dater Madeleine fei auf Empfehlung des Herrn Präfeften
und in Anfehung feiner großen Derdienfte um die Stadt zum
Bürgermeifter von Montreuil fur Mer vorgefhlagen worden.
Mer bisher gefagt hatte, der Alte fei nur ein Ehrgeizling, fand
die Gelegenheit günftig und hielt den Beweis für erbracht, daß
er recht gehabt hatte. Haben wir es nicht gefagt? Ganz Mon-
treuil fur Mer war außer fih. Und dag Gerücht war nicht un-
begründet. Einige Tage fpâter ftand die Ernennung im Moni-
teur. Am nädften Tag aber fhlug Water Madeleine die ihm
erwiefene Ehre aus.
Sm felben Jahre 1819 waren die von Madeleine erfundenen
neuen Erzeugnifle der Settinduftrie auf der Gemwerbeausftellung
vertreten; auf den Dericht der Jury bin ernannte der König
den Erfinder zum Ritter der Ehrenlegion. Neue Aufregung in
der Kleinftadt. Aha, bas war e8, worauf Madeleine hinaus-
wollte!
Aber er lehnte wieder ab.
Ein Nätfel, diefer Menſch. Die guten Leute zogen ſich aus
der Affäre, indem fie fagten: ‚Alles in allem eine Art Aben-
teurer.‘
Der Lefer bat gefehen, daB die Stadt ihm viel, die Armen
ihm alles verdankten; feine Arbeiter waren ihm febr zugetan.
Er nahm ihre Liebe mit fhwermütigem Ernft an. Als feftftand,
daß er reich fei, grüßten ihn die Leute aus der feinen Gefell-
fhaft von Montreuil fur Mer, und man nannte ihn jest Herr
Madeleine; die Arbeiter und die Kinder aber beließen es bei
Vater Madeleine, und ibm war es recht fo. Im Ausmaß, in
dem er feinen Aufftieg nahm, regnete es Einladungen. Jetzt
nahm die gute Gefellfbaft ihn in Anſpruch. Die Éleinen Salons
von Montreuil fur Mer, die dem Handwerfer immer verfchlof-
fen gewefen wären, öffneten ihre Türen dem Millionär. Aber
er blieb zurückhaltend.
121
Aud diesmal mwußten die ganz Gefcheiten eine Erflärung.
Er ift unmwiflend, fagten fie, ein Menfh ohne Erziehung. Wer
fennt feine Herkunft? Vielleicht wüßte er fih nicht in guter
Gefellfhaft zu bewegen. Man weiß ja nicht einmal beftimmt,
ob er lefen kann.
So war es: als man ihn Geld verdienen fab, hatte man ge-
fagt: ein Schadyerer. Später, als man ihn Geld verfhenfen fab:
ein Ehrgeizling. Als er die ihm angebotenen Ehrungen aus-
fhlug: ein Abenteurer. Und als er ſich von der Gefellfchaft ab-
ſchloß: ein ungebildeter Lümmel.
1820 aber, fünf Jahre nach feiner Ankunft in Montreuil
fur Mer, ftrahlten die Dienfte, die er feiner Stadt erwiefen,
in fo hellem Licht und die Meinung des Landes war fo ein-
heilig, daß der König ibn neuerlih zum Dürgermeifter er-
nannte. Wieder wollte er ablehnen, aber der Präfekt drängte
ihn, die Leute auf der Straße redeten ibm zu, bis er fchließlich
annahm. Entfcheidend für feinen Entfhluß war der ärgerliche
Ausruf einer alten Arbeiterin gemwefen, die zornig gefagt hatte:
„Ein guter Bürgermeifter ift eine nüßliche Sache! Darf man
nein fagen, wenn man Gutes tun fol?’
Dies war die dritte Stufe feines Aufftiegs. Vater Made:
leine war Herr Madeleine, Herr Madeleine Herr Bürgermeifter.
Zu Beginn des Jahres 1821 meldeten die Journale den
Tod des Bifhofs Myriel von Digne, genannt Monfignore
Bienvenu, der im Alter von zweiundadhtzig jahren und im
Rufe hoher Heiligkeit verfchieden war.
Der Bifhof war, um diefe Einzelheit hinzuzufügen, die von
den Zeitungen nicht erwähnt wurde, feit Jahren blind gewefen,
aber verfühnt mit diefem Schidfal, da ja feine Schweſter bei
ihm war.
Sofort nad) dem Erfcheinen der Todesanzeige im Stapdtblatt
von Montreuil fur Mer legte Herr Madeleine fhwarze Kleider
an und flang einen Trauerflor um feinen Hut.
Man bemerkte es in der Stadt und mutmaßte allerlei. Man
glaubte etwas über die Herkunft des Herrn Madeleine erfahren
122
zu haben. Offenbar war er mit bem Biſchof verwandt gewefen.
Das fteigerte fein Anfehen, und felbft in der guten Gefellfhaft
von Montreuil fur Mer dachte man beffer von ibm. Der mut-
maßliche Verwandte eines Bifchofs war in der Fleinen Nach—
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abmung des Saubourg Saint-Germain, die es in jeder fran-
zöfifhen Kleinftadt gibt, wohlgelitten. Alte Frauen behandelten
ihn mit Augzeihnung, junge lädhelten ibm zu. Eines Tages
leiftete es fich die ältefte der vornehmen Damen jenes Kreifes,
die bereits ein Altersrecht auf Neugierde hatte, die Frage:
123
„Sie find wohl ein Better des verftorbenen Bifchofs von
Digne, Herr Bürgermeiſter?“
„Nein, gnädige Fran.’
„Aber Sie tragen doch Trauer nad) ihm.”
„Ich ftand in meiner Jugend im Dienfte feiner Familie.
3. Bliseam Dyrigont
Allmählich erfhlaffte aller Widerftand. An feine Stelle trat
allgemeine aufrichtige Achtung. Es gab 1821 eine Zeit, in der
in Montreuil fur Mer die Worte „der Herr DBürgermeifter‘‘
nicht anders ausgefprocdhen wurden als 1815 die Worte ,, Seine
bifhöflichen Gnaden“ in Digne.
Ein einziger Menfh in der Stadt entzog fich diefer all-
gemeinen Gefühlseinftellung und blieb, was auch Vater Mabe-
leine tun mochte, widerfpenftig, als ob ein unbeftechlicher In—
ftinft ibn wad und mißtrauiſch halte. Es fcheint, als ob in ge-
wiffen Menfchen ein geradezu tieriſcher Irieb fi) geltend macht,
der Antipathien und Sympathien hervorbringt und fbidfalbaft
den einen vom andern frennt, der zwei Spielarten des Typus
Menſch gegeneinander fcheidet wie Hund und Katze, Fuchs und
Löwe.
Wenn Herr Madeleine ruhig, leutfelig und von allen achtungs-
voll begrüßt, die Straßen durchſchritt, gefhah es off, daß ein
hochgewachſener Mann in einem eisgrauen Nidingevat, mit
einem diefen Spazierfto und einem breitfrempigen Hute, fi
jäh hinter ibm umbrebte, ihm mit den Augen folgte, bis er um
eine Ecke gebogen war, die Arme verfhränfte und mit der
Unterlippe die Oberlippe faft bis zur Naſe hochſchob, als ob er
fagen wollte: wer das nur fein mag! Den babe id fchon einmal
in meinem Leben gefeben. Auf jeden Fall laſſe ih mir von ihm
nicht8 vormachen.
Diefer Mann mit feinem faft drohend-ernften Gefiht war
einer von jenen, die felbft auf einen flüchtigen Bli bin auf-
follen.
124
Er hieß Javert und war Polizift.
In Montreuil fur Mer verfah er den peinlichen, aber nüß-
lichen Dienft eines Ynfpeftors. Den Anfängen von Mabeleines
Aufftieg hatte er nicht beigewohnt. Denn Javert verdanfte
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feinen Poften der Proteftion des Herrn Cbabouillet, Sefretürs
des Staatsminifters Graf Angles. Als Vavert nah Montreuil
fur Mer Fam, hatte der Fabrifant bereits den Grunbftein zu
feinem Dermögen gelegt, und Vater Madeleine war fchon Herr
Madeleine geworden.
125
Javert war im Gefängnis geboren; feine Mutter war eine
Kartenlegerin, deren Gatte damals auf den Galecren faß. Als
er herangewachſen war, begriff er, daß er gewiflermaßen außer-
halb der menſchlichen Gefellihaft ftand und niemals in fie ein-
dringen werde. Er gewahrte, daß die Gefellfichaft zwei Klaffen
von Menfhen ftreng von fi fernhält, nämlich ihre Feinde und
ihre Derteidiger; zwifchen diefen beiden Klaffen hatte er die
Wahl. Zugleich aber fühlte er in fi eine Neigung zu Strenge,
Megelmäßigfeit und Rechtſchaffenheit, die noch durch feinen Haß
gegen das Zigeunergefindel beftärft wurde, dem er entftammte.
Alſo wurde er Polizift. Er hatte Erfolg, und mit vierzig Jah—
ren war er Inſpektor.
In feiner Jugend hatte er in den Kerfern des Südens
Dienft getan.
Er hatte eine Stumpfnafe mit zwei breiten Flügeln, zu
denen die Spiken feines gewaltigen Schnurrbarts aufftiegen.
Mer zum erftenmal diefes Haargeftrüpp und diefe Nafenhöhlen
fab, fonnte ſich eines unbeimlihen Gefühle nicht erwehren.
Menn Vavert lachte, was felten genug gefhah und fürdterlich
wirfte, [ôften fi feine dünnen Tippen voneinander und ließen
nicht nur die Zähne, fonbern aud das Sabnfleifdh fehen; fein
Schädel war Flein, das Kinn ftarf vorgebaut, die Haare wuchfen
über die Stirn bis zu den Brauen herab.
Den Charakter diefes Menfchen beftimmten zwei höchſt ein-
face und verhältnismäßig gute Empfindungen, die er indeffen
übertrieb und beinahe in fchlechte verzerrte: Reſpekt vor der
Obrigfeit und Haß gegen jede Nebellion. In feinen Augen war
Diebftapl, Mord, jedes Verbrechen überhaupt nur eine Form
der Mebellion. Wer indeflen ein Staatsamt befleidete, vom
Premierminifter bis zum Slurhüter herab, dem hing er in einer
faft blinden, tiefen Serebrung an. Dagegen empfand er die
tieffte Verachtung und Abneigung gegen jedermann, der aud
nur ein einziges Mal die Schwelle des Erlaubten überfohritten
hatte. Das war für ihn eine Megel, die Feine Ausnahmen zus
ließ. Sein erftes Dogma war: Der Beamte fann nit irren.
126
Die Behörde bat immer recht. Sein zweites: Die Verdorbenen
find unwiderruflich verloren. Von ihnen Éann nichts Gutes mehr
fommen.
Kurz, er war ein Anhänger jener überfpisten Denfer, die
dem Menfhengefes die myſtiſche Macht zuerfennen, etwas zu
bewirfen, was es doch nur feftzuftellen vermag. Er war Stoifer,
düfterer Träumer, demütig und hochmütig zugleich, wie alle
Sanatifer. Sein Bli war Falt und ftechend wie ein Bohrer.
Sein Leitfpruh: Wachen, überwachen! Er war feft überzeugt
von der Müslichkeit feines Wirkens, von der religiöfen Heilig-
feit feiner Amtsverrichtungen, fühlte fi, obwohl er nur ein
Spitel war, als Priefter. Wehe dem, der ihm in die Hände
fiel! Er hätte feinen Dater verhaftet, wenn er ihn auf der
Flucht von den Galeeren ertappt, feine Mutter verraten, wenn
er fie dabei erwifcht hätte, wie fie fi der Polizeikontrolle zu
entziehen fuchte. Und er hätte es getan mit jener inneren Be—
friedigung, die nur die Tugend verleiht. Und dabei war er ein
Mann, der feine Pflicht blutig ernft nahm, ein Mann der
Selbftbefheidung, Selbftverleugnung, Zucht und Strenge. Die
Fleiſch gewordene Pflichterfüllung, Polizei, wie die Spartaner
fie fi) gedacht hatten.
In feinen feltenen Mußeftunden las er, obwohl er nicht ge-
rade ein Freund der Bücher war; fo Fam es, daß er nicht jeg-
liher Bildung ermangelte.
Lafter fannte er nicht. Wenn er mit fich felbft zufrieden war,
bewilligte er fih eine Prife Tabaf. Das war die einzige
Schwäche, die ihn menfhenäbnlih machte.
Man wird unfchwer begreifen, daß Javert der Schreden
aller jener leute war, die im ftatiftifhen Sjahresbericht des
Fuftigminifteriums in der Mubrif „ohne feften Aufenthaltsort‘
geführt werden. Allein ſchon Javerts Name bradte fie aus der
Faſſung; tauchte er auf, fo erftarrten fie zu Stein.
Das war der Mann. Das war Vavert, der ein Auge auf
Herrn Madeleine hatte, ein argmöhnifches, mißtrauifches Auge.
Herr Madeleine hatte es wohl gemerkt, bod fchien er nicht
127
darauf zu achten. Er ftellte Javert nicht zur Mede, fuchte ibn
nicht, wie er ibn auch nicht mied, ertrug biefen peinlichen Blick,
ohne fi) darum zu Fümmern. Er behandelte Javert wie alle
anderen Menfhen, unbefangen und gütig.
Aus einigen Außerungen, die Savert entfchlüpften, Eonnte
man erfahren, daß er heimlich mit der eingeborenen Meugierde
feines Menfchenfchlags nad der Herkunft Herren Mabeleines
forſchte. Er fhien zu wiffen und ließ es fogar durchblicken, irgend
jemand babe irgendwo über eine verfhollene Familie Nad-
forfhungen angeftellt. Einmal fagte er im Selbftgefpräh ganz
laut:
„Ich hab's!“
Dann war er drei Tage lang verſonnen und ſchweigſam ge-
blieben. Offenbar war ihm der Faden, den er bereits in Hän-
den hielt, wieder abgeriffen.
Einmal aber ſchien Javerts feltfames Vefragen aud auf
Herrn Madeleine Eindruck zu machen. Und bas gefchah bei fol-
gender Gelegenheit.
4 Vater Saudelevent
Eines Morgens durbfritt Herr Madeleine eine ungepfla-
fterte Straße von Montreuil fur Mer. Er hörte Lärm und be-
merkte eine Anfommlung von Menfchen. Er trat näher und
fab, daß ein alter Mann, der Vater Fauchelevent genannt
wurde, unter einen Wagen geftürzt war, nachdem fein Pferd
die Subre umgeworfen hatte.
Diefer Fauchelevent war einer der wenigen Feinde, die Herr
Madeleine damals noch hatte. Als Madeleine in die Stadt ge-
kommen war, betrieb Fauchelevent, ein ehemaliger Amtsfchrei-
ber, einen Handel, der fchlecht zu gehen begann. So hatte
FSaucelevent feben müflen, wie ein einfacher Arbeiter reich
wurde, während er, der diplomiert war, herunterfam. Das hatte
ihn neidisch geftimmt, und feither nahm er jede Gelegenheit
wahr, um Madeleine zu fhaden. Als er banferott machte, blieb
128
ihm nur ein Pferd und ein Wagen, und fo mußte er, da er ohne
Samilie und Kinder war, als Fuhrmann fein ‘Brot fuchen.
Das Pferd hatte beide Beine gebrochen und Fonnte fi nicht
mehr erheben. Der Alte war zwifchen die Mäder geflemmt und
\ 9—
a AU Mill
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|
14
Tag fo unglüdli, daß die ganze ſchwere Fuhre auf feiner Bruft
laftete. Und der Wagen war fehwer beladen. Vater Fauchelevent
ftöhnte jämmerlich. Man hatte verfucht, ibn herauszuziehen,
aber vergebens. Ein falſch angefehter Stoß, eine ungefhidte
Hilfeleiftung Eonnten ihn ums Leben bringen. Man Eonnte ibn
| 9 Hugo, Die Elenden. 129
aus feiner gefahrvollen Lage nur befreien, indem man den
Wagen bobbob. Vavert, der im Augenblick des Unglüdsfalles
zur Stelle gewefen war, hatte um eine Winde gefhidt.
As Madeleine näher trat, wurde ibm refpeftvoll Platz ge-
macht.
„Iſt denn Feine Winde zur Hand?’ fragte er.
„Man bat bereits um eine geſandt“, erwiderte ein Bauer.
‚Bann wird fie kommen?“
„Es ift nicht weit, aber eine Diertelftunde wird es wohl
dauern.’
„Unmöglich, eine Diertelftunde!” rief Madeleine.
Es hatte am Tage zuvor geregnet, der Erdboden war auf-
geweiht, und bas umgeworfene Gefährt fanf von Augenblick
zu Augenblick tiefer ein, fo daß die Bruſt des alten Subrmanns
immer fchwerer belaftet wurde. Es fonnte Feine fünf Minuten
mehr dauern, bis feine Rippen zerfehmettert waren.
„Bir können unmöglich noch eine Diertelftunde warten’,
fagte Madeleine zu den Bauern, die ihn nicht aus den Augen
ließen.
„Es wird nichts anderes übrigbleiben.”
„Seht ihr denn nicht, daB der Wagen einfinft?‘'
„Weiß Gott, allerdings...”
„Hört, fagte Madeleine, „es ift noch genug Platz unter dem
Magen, daß ein Mann hineinfohlüpfen und das Gefährt mit
dem Mücken hochheben Éann. Er braucht e8 nur eine halbe Mi-
nute zu halten, inzwifchen wird der arme Menfh berausgezogen.
Iſt unter euch einer, der Muskel und ein Herz hat? Ich ſetze
fünf Louisdor aus.”
Niemand rührte fi.
„zehn Louisdor“, fagte Madeleine.
Alle blieften zu Boden. Einer murmelte:
„Dozu gehörte ja eine Teufelsfraft. Und man risfiert, zu
Brei zerquetfcht zu werden.”
„Vorwärts,“ rief Madeleine, ‚zwanzig Louis!’
Mieder fchwiegen alle.
130
„An gutem Willen fehlt es nicht”, fagte eine Stimme.
Madeleine wandte fih um und erfannte Javert. Diefer fuhr
fort:
„Es gehörte ein Miefenferl dazu, einen folhen Wagen mit
dem Rücken hochzuheben.“
Mit einem ſcharfen Blick auf Madeleine ſagte er:
„Ich babe nur einen einzigen Menſchen gekannt, Herr Mabe-
leine, der zuſtande gebracht hätte, was Sie da verlangen. Es
war ein Galeerenſträfling.“
„Oh“, ſagte Madeleine.
„Im Bagno, in Toulon.“
Madeleine erblaßte.
Inzwiſchen fuhr der Wagen fort, langſam zu ſinken. Vater
Fauchelevent keuchte und ſtöhnte.
„Ich erſticke! Das bricht mir alle Rippen entzwei!“
Wieder blickte Madeleine ringsum.
„Iſt keiner da, der zwanzig Louis verdienen und dem armen
Alten das Leben retten möchte?“
Wieder rührte ſich niemand. Javert aber ſagte:
„Ich kannte nur einen einzigen Menſchen, der eine Winde
erſetzen konnte — eben jenen Galeerenſträfling!“
„Es erdrückt mich!“ jammerte der Alte.
Madeleine blickte auf, begegnete dem Falkenauge Javerts,
ſah die Bauern unbeweglich ſtehen und lächelte traurig. Dann
kniete er wortlos nieder, und bevor noch jemand einen Schrei
ausſtoßen konnte, war er unter dem Wagen.
Ein Augenblick bangen Schweigens folgte.
Man fab Madeleine, der faſt flach auf dem Bauch lag und
ſich unter dem furhtbaren Gewicht zweimal vergeblich plagte,
: die Ellbogen den Knien zu nähern. „Vater Madeleine, laffen
Sie ab davon!’ wurde gerufen. Sogar der alte Fauchelevent
warnte ihn. „Herr Madeleine,” fagte er, „tun Sie es nidt;
„wenn ich fterben muß, dann foll es gefheben, ich will nicht, daß
Sie fih auch zerfhmettern laſſen.“
Madeleine antwortete nicht. Die Umftehenden feuchten. Die
a 131
Mäder waren fhon fo tief eingefunfen, daß Madeleine kaum
mehr unter dem Wagen hervor Éonnte.
Plöslih ging ein Zittern dur die gewaltige Mafle der
Ladung, langfam wurde der Wagen gehoben und die Räder
Töften fih halb vom Boden. Eine ftöhnende Stimme rief:
„Macht raſch!“ Und alle ftürzten herzu. Die Hingabe des einen
batte alle ermutigt. Zwanzig Arme hoben den Wagen. Der alte
Fauchelevent war gerettet.
Madeleine ftand auf. Er war blaß und fchweißüberftrömt.
Seine Kleider waren zerfeßt und kotbedeckt. Alle waren zu
Zränen gerührt. Der Greis umfing feine Knie und nannte ihn
feinen lieben Gott. In Mabeleines Antlis war ein Ausdrud
von himmliſchem befeligtem Weh, während er ruhig Javerts
Blick erwiderte.
5. Saudelevent wird Gärtner in Paris
Fauchelevent hatte fi bei feinem Sturz das eine Bein ver-
renkt. Dater Madeleine ließ ihn in das Spital bringen, dag er
in dem Sabrifegebäude für feine Arbeiter eingerichtet hatte und
in dem zwei barmherzige Schweftern befchäftigt waren. Am
nächften Morgen fand der Alte einen Taufendfranfenfhein auf
feinem Nachtſchrank, und dabei einen Zettel, auf den Madeleine
gefchrieben hatte:
„Ich Eaufe Ihren Wagen und hr Pferd.‘
Der Magen war zerbrocdhen, das Pferd tot. Fauchelevent
wurde gefund, blieb aber an einem Beine gelähmt. Madeleine
verfhaffte ihm durch DBermittlung der barmherzigen Schweftern
und des Pfarrers eine Anftellung als Gärtner im Nonnenklofter
zu Saint-Antoine in Paris.
Kurze Zeit nachher wurde Madeleine Bürgermeifter. Als
Vavert ibn zum erftenmal mit der Schärpe, die feine Würde
fennzeichnete, auf der Straße begegnete, zuckte er zufammen wie
eine Dogge, die einen Wolf in den Kleidern ihres Herrn wit-
tert. Seither mied er es nah Möglichkeit, ihm zu begegnen.
132
Wenn ihn feine dienftlihen Obliegenheiten zwangen, beim Bür-
germeifter vorgufprecen, fo benahm er fit ebrfurbtsvoll.
So lagen die Verbältniffe, als Gantine in ihre Heimatftadt
zurücffehrte. Niemand erfannte fie wieder. Das Tor der Mabe-
leinefhen Fabrik war ihr wie ein freundliches Antlitz. Sie mel-
bete fih und wurde in die Werfftätte der Frauen aufgenommen.
Die Arbeit war Fantine neu, fie ging ihr nicht leicht von der
Hand, und darum verdiente fie nicht allzuviel, aber genug, um
ihr Leben zu friften.
6. Frau VBieturnien gibt fünfunddreißig
Sranfen für die Moralaus
As Fantine fab, daß fie ausfommen Fonnte, war ſie glücklich.
Die Luft zur Arbeit ermadte. Sie Faufte fi) einen Spiegel,
freute fi zu feben, daß fie jung war, daß ihre blonden Saare
und ihre weißen Zähne gefallen Fonnten, vergaß vieles, dachte
nur mehr an ihre Eofette und an die Zukunft; es fehlte nicht
viel, und fie war glücklich. Sie mietete ein Éleines Zimmer und
faufte auf Kredit Möbel: Nüdfol in unordentlihe alte An-
gewöhnungen.
Da fie nicht fagen Eonnte, fie fei verheiratet, hatte fie fi) wohl
gehütet, von ihrem Töchterchen zu fprechen. Doc) zahlte fie menig-
ftens zu Anfang pünktlih ihre Schuld an Ihenardier. Da fie
nicht fchreiben Eonnte, mußte fie fih eines öffentlihen Schrei-
berg bedienen. Sie ſchrieb oft, und bas fiel auf. In den Werf-
ftätten für Frauen wurde geflüftert, Santine fchreibe Briefe,
und fie wolle fi wohl groß auffpielen.
Und unter ihren Freundinnen war nicht nur eine, die fie um
ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne beneidet hätte.
Sie bradten heraus, daß fie minbeftens zweimal monatlich
immer an die gleiche Adreffe rich. Es gelang ihnen, diefe
Adreffe zu erfahren. Sie lautete: Herrn — Wirt, in
Montfermeil.
Man ermittelte auch den Schreiber, und da der alte Bieder⸗
133
mann einer Flaſche Notwein nicht widerftehen konnte, erfuhr
man, daß Fantine ein Kind hatte.
„Alſo fo eine war fie!”
Es fand fi) fogar eine Frau, die eine Meife nah Mont-
fermeil nicht fheute und mit Ihenardier ſprach. Als fie zurück:
Fam, fagte fie:
„Es bat mid fünfunddreißig Franfen gefoftet, aber jest bin
ih im Bilde. ch babe das Kind geſehen.“
Diefe Frau war eine alte Here, eine gewiffe Victurnien, die
Qugendwädhterin aller Welt. Sie zählte fehsundfünfzig Vabre,
und die Masfe des Alters trat zurück hinter der der Häßlichkeit.
Sie mederte, und ihr Verftand war fehrullig. Auch fie war,
kaum zu glauben, einmal jung gewefen. Damals, Anno 93, hatte
fie einen entlaufenen DBernhardiner geheiratet, der die rote
Mütze genommen und zu den Jakobinern übergegangen war.
Sie war vertrodnet, boshaft, tüdifé, ihr Mönch, deflen Witwe
fie bereits war, hatte fie gehörig gezähmt und gemeiftert. Unter
der Neftauration Fehrte fie in den Schoß der Kirche zurück, und
fie tat es fo voll und ganz, daß die Priefter ihr ihren Mönd
verziehen. Ihre Fleine Habe hatte fie, nicht ohne großes Auf-
heben davon zu machen, einer frommen Gemeinde geftiftet. Im
Biſchofspalais zu Arras war fie gern gefehen. Das war die
Frau, die in Montfermeil gewefen war und fagen Fonnte: Ich
habe das Kind gefehen.
Alles bas nahm Zeit in Anfprud. Fantine war feit mehr als
einem Jahr in der Fabrik, als eines Morgens die Auffeherin
der Frauenwerfftätte ihr von dem Herrn Bürgermeifter fünfzig
Sranfen überbrachte und beftellte, fie folle fi hier nicht mehr
bliefen laffen; und der Herr Bürgermeifter laffe ihr fagen, fie
folle am beften anderswohin ziehen.
Das gefehah genau damals, als Ihenardier feine Forderung
neuerlich erhöhte und fünfzehn Sranfen monatlid verlangte.
Gantine war niedergefehmettert. Sie Fonnte nicht Montreuil
fur Mer verlaffen, denn fie war mit der Miete im Rückſtand
und hatte ihre Möbel noch nicht bezahlt. Fünfzig Franken
134
reichten nicht aus, um diefe Schulden abzugelten. Sie ftammelte
einige flehentlihe Worte, aber die Auffeherin bedeutete ihr, fie
babe fofort die Werkſtätte zu verlaffen. Fantine war ja aud nur
eine mittelmäßige Arbeiterin. Von Schmad und Verzweiflung
niedergedrückt, verließ fie die Sabrif und ging nad Haufe.
Offenbar wußten jest alle von ihrer Schande!
Man empfahl ihr, fih an den Herrn Dürgermeifter zu wen-
den, aber fie wagte es nicht. Er hatte ihr fünfzig Sranfen ge-
geben, weil er gut war, und er jagte fie aus dem Dienft, weil
er gerecht war . ..
7. Erfolge der Srau Victurnien
Die Witwe des Mönchs hatte ihre Sache alfo gut gemacbt.
Übrigens abnte Madeleine nichts. So verfnüpfen ſich die
Umftände. Es war nicht feine Gewohnheit, in die Srauenwerf-
ftätte zu gehen. Er hatte die Leitung dieſes Detriebes einem
alten Fräulein anvertraut, die der Pfarrer ihm empfohlen
hatte, und er hatte alles Vertrauen zu diefer wachfamen, wahr-
haft ehrenwerten, gerechten Frau, die fogar zu geben verftanb,
aber das Mitleid nicht fo meit trieb, zu verftehen und zu ver-
zeihen. Ihr überließ Madeleine die Leitung der Werkftätte.
Auch die beften Menfchen find zuweilen gezwungen, fi) eines
Zeils ihrer Obliegenbeiten zu entledigen. Aus eigener Macht:
vollfommenheit hatte die Auffeherin den Prozeß geführt, das
Urteil gefällt und Santine ihm unterworfen.
Mas die fünfzig Sranfen betraf, fo hatte fie fie aus einer
Kafle entnommen, die Herr Madeleine ihr zur Unterftüßung
, bedürftiger Arbeiterinnen anvertraut hatte, und über die fie
nicht Rechenſchaft abzulegen braudte.
Zunächſt ſuchte Fantine in Dienft zu treten; fie ging von
Haus zu Haus, aber niemand wollte fie nehmen. Fortziehen
hatte fie nicht Fünnen. Der Möbelhändler, dem fie ihre Einrich-
tung — weld eine jämmerliche Einrichtung! — fehuldete, hatte
geſagt: „Wenn Sie fortgehen, laſſe ih Sie als Diebin
135
verhaften.” Der Hauswirt, bem fie nod Miete fehuldete, hatte
gefagt: „Sie find jung und hübſch, Sie können zahlen.” So
teilte fie die fünfzig Sranfen unter dem Wirt und den Möbel:
händler, gab drei Viertel ihrer Einrichtung zurück, behielt nur
das Allernötigfte, und fand ſich ohne Arbeit, ohne Stellung und
mit ungefähr hundert Franken Schulden wieder.
Sie begann grobe Soldatenhemden zu nähen und verdiente
damit zwölf Sous täglich. Ihre Tochter Eoftete fie zehn. Damals
begann fie mit ihren Zahlungen an Thénardier in Verzug zu
geraten. Dod lehrte eine alte Grau, die ihr abends die Kerze
angiünbete, fie die Kunft des Lebens im Elend. Denn wenn man
aud mit wenig gelebt hat, fo gibt es aud noch eine Steigerung
— mit nihts auskommen.
Santine lernte, wie man einen Winter ohne Heizung durd-
hält, wie man einen Vogel los wird, der in feiner unergründ-
lihen Sreßgier alle zwei Tage für einen Heller Futter braudt,
wie man einen Unterrocd als Bettdecke und eine Bettdecke als
Unterrof benüßt, wie man an der Kerze fpart, indem man feine
Mahlzeit im Licht des bellerleucteten Fenfters von gegenüber
einnimmt.
Es wurde ein wahres Talent daraus. Fantine faßte fogar
wieder ein wenig Mut.
Anfänglich hatte Fantine kaum gewagt, auszugehen. Sobald
fie die Straße betrat, fühlte fie, daß die Leute fi nach ihr um-
wandten und mit dem Finger auf fie zeigten. Alle Welt fab fie
an, niemand grüßte. Diefe robe Mißachtung ſchnitt fie ins
Fleifh und fiel wie ein eifiger Wind in ihre Seele. In den
Kleinftädten ift, fcheint es, eine Unglücfliche nadt und webrlos
gegen den Hohn und die Neugierde aller. In Paris bleibt man un-
befannt, da ift die Dunfelheit wie ein ſchützendes Kleid. Wie fehr
fehnte fie fi danacb, wieder in Paris zu fein. Aber unmöglich . ..
Alſo mußte fie fih an die Verachtung gewöhnen, wie fie fi
an die Mot gewöhnte. Allmählich richtete fie fih ein. Mach zwei
oder drei Monaten fhüttelte fie die Scham ab und ging aus,
als ob nichts gewefen wäre. So fab Frau Victurnien fie bis-
136
meilen vom Senfter aus, aufrecht einberfreiten, mit einem bit-
teren Lächeln um die Tippen, überzeugte fi) von dem Elend
diefer Perfon, die fie „in ihre Schranfen gewiefen hatte‘, und
war ftolz.
Das Übermaß der Arbeit erfchöpfte Fantine; der leicte,
trodene Huften wurde ſchlimmer. Manchmal fagte fie zu ihrer
Nachbarin Marguerite:
nSüblen Sie dodb, wie meine Hände warm find!‘
Wenn fie aber des Morgens mit einem alten, zerbrochenen
Kamm ihre fhönen Haare ftrählte, die wie Seide Énifterten,
empfand fie einen Augenblick befeligter Eitelkeit.
Sie mar gegen Ende des Winters entlaffen worden; ein
Sommer verging und wieder ward es Winter. Kurze Tage,
weniger Arbeit. Winter, Kälte, Fein Licht, von Morgen bis
Abend nur eine Furze Spanne Zeit, draußen Mebel, Dämme—
rung, jugefrorene Senfter . . .
Und ihre Gläubiger quälten fie. Sie verdiente fehr wenig.
Ihre Schulden wuhfen an. Die Thénardies waren nicht die
Leute, um Außenftände zu dulden; fie fchrieben Briefe, die
Santine tief betrübten; allein das Porto erfhöpfte ihre geringe
Barſchaft. Eines Tages fehrieben fie ihr, die Fleine Cofette fei
troß der Kälte faft nat, fie brauche dringend eine Wolljade,
und dazu wären mindefteng zehn Franken nötig. Fantine empfing
biefen Brief und trug ibn einen ganzen Tag lang in der Hand.
Am Abend endlich ging fie zu einem Barbier und 309 ihren
Kamm aus der Frifur. Die herrlichen, blonden Haare fielen
ihr bis über die Hüften herab.
„Was würden Sie dafür geben?’ fragte fie.
„zehn Franken.”
„Schneiden Sie fie ab.’
Sie Faufte ein Wolljäckchen und fandte es den Thénarbiers,
die darüber in arge Wut gerieten, denn fie hatten e8 auf bas
Geld abgefeben. Das Jäckchen gaben fie Eponine, und die arme
Lerche mußte weiterfrieren.
Santine dachte: mein Kind friert nicht mehr. Ich babe es mit
137
meinen Haaren befleidet. Sie trug jet ein Éleines Häubchen,
bas ihren gefchorenen Kopf verhüllte und ihr recht gut ftand.
Inzwiſchen vollzog fih in Fantines Herz eine düftere Wand—
lung. Sie begann zu baffen. Lange Zeit hatte fie die Verehrung
aller für Vater Madeleine geteilt. Sekt aber bedachte fie, daß
er es doch war, der fie fortgejagt hatte, daß er ihr Unglück ver-
urfacht hatte, und fie begann ihn mit einem ganz befonderen
Haß zu verfolgen. Wenn fie an der Fabrik vorbeifam, zu einer
Zeit, da die Arbeiter an der Tür ftanden, lachte und fang fie
auffällig.
„Das wird Fein gutes Ende nehmen’, fagte eine alte Ar-
beiterin einmal.
Sie nahm fi einen Liebhaber, den erften beften, der ihr in
den Weg Fam, einen Mann, den fie nicht liebte, nur aus Wut.
Es war ein elender Kerl, eine Art Bettelmufifant, ein Nichts-
tuer, der fie ſchlug und den fie verließ, wie fie ihn genommen
hatte, mit Abſcheu. Ihr Kind Tiebte fie immer noch. Der Huften
wurde nicht beffer, oft hatte fie Schweißausbrüche auf dem Rücken.
Eines Tages erhielt fie von den Ihenardierg einen Brief,
der folgendermaßen lautete: Eofette bat eine Kranfheit, die jet
hier umgeht. Die Leute nennen fie Triefelfieber. Sie muß teure
Medifamente befommen. Wir haben Fein Geld, Fünnen nichts
auslegen. Wenn Sie uns nicht binnen acht Tagen vierzig
Franken fchiefen, ift die Kleine tot.
Sie begann wild zu lachen, dann fagte fie zu der Nachbarin:
„Die find gut! Vierzig Sranfen! Zwei Napoleons! Wo foll
ich die nur bernebmen! Blöd find diefe Bauersleute.“
Sie lief auf die Straße, tanzend und lachend. Jemand be-
gegnete ihr und fragte: „Was haben Sie nur, daß Sie fo
luſtig find?”
„Mir haben Leute vom Land eine rechte Dummheit ge-
fhrieben. Vierzig Franken wollen fie von mir. Dumme
Bauern dag!’
Als fie über den Platz ging, fab fie eine Menfchenmenge, die
einen feltfomen Wagen umftand, auf dem ein rofgefleideter
138
Mann eine Rede hielt. Es war ein Zahnarzt, der dem Publi-
fum Gebiffe, fhmerzftillende Mittel und Eliriere anbot.
Santine mifhte fih unter die Leute und begann mit den
andern über das Geſchwätz des Kurpfufchers zu lachen, der die
Sprache des gemeinen Pöbels mit der der Leute von Stand zu
einem feltfamen Kauderwelfch verband. Der Zahnreißer fab das
lachende Mädchen und rief plößlich:
„Sie haben bübfhe Zähne, Sie Kleine da unten! Wenn Sie
mir Ihre beiden Schneidezähne geben, zahle ich Ihnen für jeden
einen Napoleon.’
„Was find Schneidezähne?” fragte Fontine.
‚Die beiden vorderften oben‘, erwiderte der Zahnarzt.
„Mm Gottes willen!’ rief Fantine.
„Zwei Napoleon,” murrte eine zahnlofe Alte neben ihr, „Die
bat ein Glück!“
Santine Tief davon und hielt fi beide Ohren zu, um nicht die
heifere Stimme des Mannes zu hören, der ihr nadrief:
„Uberlegen Sie fih’s, meine Schöne, zwei Napoleons find
fein Scherz! Wenn Sie do noch Luft Friegen, kommen Sie
zum ‚Silbernen Kreuzer‘, dort finden Sie mid.”
Santine Fehrte nah Haufe zurück. Zu Marguerite, die neben
ihr arbeitete, fagte fie:
„Was iſt das eigentlich, Friefelfieber?”
„Sun, eine Krankheit.”
„Braucht man da viel Medifamente?”
„Schrecklich viel Medikamente.”
„Und das kriegen aud Kinder?’
‚Kinder beſonders.“
„Kann man daran fterben?’
„Ganz leicht”, meinte Marguerite.
Am Abend ging fie in die Parifer Straße, in der die Her-
bergen find.
As Marguerite am nähften Morgen vor Tagesanbrud —
die beiden arbeiteten zufammen bei einer gemeinfamen Kerze —
in Santines Zimmer trat, fond fie das Mädchen bloß und
139
Faltefhauernd auf ihrem Bett fisen. Die Haube war auf die
Knie berabgefallen. Sie hatte nicht gefchlafen. Die Kerze hatte
die ganze Nacht gebrannt und war faft ganz verbraudt.
„Großer Gott, rief Marguerite verblüfft, „die ganze Kerze
ift verbrannt! Was ift denn los?“
Dann fab fie Santine, die ihr den Furzgefchnittenen Kopf zu-
wandte. Sie war um zehn Yabre gealtert.
„Jeſus!“ rief Marguerite, ‚was haben Sie nur, Fantine?“
„Nichts,“ fagte Santine, „gar nichts. Mein Kind wird nicht
an biefer fchrecflichen Krankheit ſterben.“
Und fie wies auf die beiden Napoleons, die auf dem Tifch
lagen.
„Großer Gott!" fagte Marguerite, ‚ein Dermögen! Woher
haben Sie das Geld?’
„Ich babe es bekommen.“
Sie lädelte. Das Kerzenlicht erhellte ihr Gefiht. Ein blu-
tiges Lächeln. Rötlicher Speichel benchte ihre Mundwinfel, und
in ihrem Mund war ein ſchwarzes Loch. Zwei Zähne waren
herausgeriflen.
Vierzig Franfen fondte fie nah Montfermeil. Ihenardier
hatte fi diefes Kniffs bedient, um Geld zu befommen. Cofette
war nicht Franf.
Santine warf ihren Spiegel aus dem Fenfter. Sie hatte ihre
Scham verloren, jest gab fie aud nichts mehr auf ihre äußere
Erfheinung, vernadhläfligte fih. Sie ging mit fhmubigem
Häubchen aus. Aus Mangel an Zeit oder Gleichgültigkeit bef-
ferte fie ihre Wäſche nicht aus, flifte ihr altes Mieder mit
Rattunlappen, die fi bei der leifeften Bewegung wieder ab-
löften. Die Leute, denen fie Geld fhuldete, machten ihr Szenen
und ließen ihr Feine Mube. Überall, auf der Straße und auf der
Treppe ihres Haufes, lauerten fie ihr auf. Sie hatte fieberglän-
gende Augen und Schmerzen zwifhen den Schultern. Sie
buftete ftarf. Sie haßte Vater Madeleine aus ganzem Herzen,
aber fie Élagte nicht. Sie mußte fiebzehn Stunden täglich nähen,
denn ein Unternehmer, der in den Strafanftalten arbeiten ließ,
140
drückte die Preife und fenfte dadurd den Lohn der freien Ar-
beiterin auf neun Sous herab. Neun Sous für fiebzehn Stun-
| ben Arbeit. Und dabei waren die Gläubiger unerbittlicher als je.
Der Möbelhändler, der faft feine ganzen Möbel zurücdgenom-
| men hatte, verfolgte fie. Ihenardier fehrieb, er babe aus allzu
| großer Güte lange genug gewartet, jeßt aber müfle er den auf-
| gelaufenen Schulöbetrag, hundert Franken, fofort befommen,
fonft werde er Eofette, die noch von ihrer eben überftandenen
Krankheit ſchwach wäre, auf die Straße werfen; möge fie Ére-
| pieren, wenn fie wolle.
But,” fagte fie, „Ausverkauf!“
Und fie wurde Dirne.
| 8. Wenn Herr Bamataboisnihts zutun hat
In allen Kleinſtädten, und fo aud in Montreuil fur Mer,
| gibt es eine Sorte junger Leute, die mit fünfzehnhundert Livres
| Sahresrente in der Provinz ein Leben führen, wie man es in
| Paris mit zweihunderttaufend beftreitet. Leute, Parafiten, die
| ein wenig Land, ein großes Stüf Dummheit und ein Éleines
| Berftand befiten, in einem guten Salon für Bauernlümmel
| gelten würden, im Café aber den Edelmann herausfehren. Sie
| fprehen von ‚ihren‘! Wiefen, ‚ihren‘! Wäldern, „ihren Päd-
| tern, pfeifen Schaufpielerinnen aus, um fi als Kunftverftän-
| bige aufzufpielen, zanfen fih mit ben Offizieren der Garnifon
| herum, um ihren Mut zu beweifen, jagen, rauchen, gähnen,
| trinken, fbnupfen, fpielen Billard, ffarren aus dem Fenfter des
N Cafés, in dem fie leben, auf die Durchreifenden hinaus, die aus
| der Poftkutfche fteigen, fpeifen im Reſtaurant, halten fih einen
| Hund, der unter dem Tifch feinen Knochen frißt, und eine Ge-
liebte, hängen an jedem Sou, Éleiden ſich übertrieben, verachten
die Frauen, Fopieren London nah Parifer Kopien und Paris
nad Kopien aus Pont-à-Mouffon, arbeiten nie, taugen zu nichte
und fchaden auch nicht fonderlidh. |
Wären fie reicher, würde man fie elegante junge Leute nennen.
141
Wären fie ärmer, bloß Nichtstuer. So find fie ganz einfach Un-
befhäftigte. Und unter ihnen gibt es Langweilige, Gelangweilte,
Verſchlafene und Schufte.
Acht oder zehn Monate nad) den oben erzählten Vorfällen,
in den erften Iagen des Januars 1823, an einem verfchneiten
Abend, machte fi einer diefer eleganten Leute ein folcher Un-
befhäftigter, ein Vergnügen daraus, eine Perfon zu beläftigen,
die in einem tiefausgefchnittenen Ballkleid vor den Fenftern des
Cafés der Offiziere auf und ab ging. Er rauchte, denn es war
große Mode, zu rauchen.
Sooft die Frau an ihm vorüberfam, blies er ihr mit einer
Rauchwolke aus feiner Zigarre irgendeine Bemerkung zu, die
er für geiftvoll oder heiter hielt:
„Biſt bu aber häßlich!“ oder ,du follteft dich beffer ver-
ſtecken!“ oder ‚wo haft du denn deine Zähne vergeffen?//
Diefer Herr hieß Bamatabois.
Die Frau, eine traurige Erfoheinung, die im Schnee auf und
ab ging, antwortete nicht, warf nicht einmal einen Blick auf ibn,
fondern feßte gelaffen und regelmäßig ihre Promenade fort, die
fie alle fünf Minuten wie einen Spießrutenläufer an dem far-
faftifen Slaneur vorüberführte. Diefer geringe Erfolg verdroß
den Müßiggänger, der einen Augenblid, da fie fih ummandte,
benüßte, um ihr nachzufchleichen, fein Kichern zu unterdrüden,
eine Handvoll Schnee vom Boden aufzunehmen und ihr zwifchen
die nadten Schultern zu ftefen. Das Frauenzimmer fébrie auf,
wandte fih um, ftürzte fih auf den Mann, zerfrallte ihm das
Gefiht und goß eine Flut gemeiner Schimpfworte auf ihn aus.
Auf den Lärm kamen Offiziere in Mengen aus dem Café
heraus, Paffanten blieben ftehen, es bildete fich ein vergnügter
Kreis, der brüllend und applaudierend die beiden Kämpfenden
einfchloß. Der Mann wehrte fih nah Kräften, fein Hut war
bereits zu Boden gefallen; die Frau ftieß mit Händen und
Füßen nad ibm, brüllte vor Wut und Has.
Pröslic trat ein bobgemadfener Mann aus dem Kreife, griff
bas Frauenzimmer an ihrem fotbefprigten Seidenmieder und fagte:
142
„Komm mit.’
Sie blickte auf. Sofort verftummte ihre Freifhende Stimme.
bre Augen wurden ftarr, fie zitterte. Sie hatte Javert erfannt.
Der elegante junge Herr benüste diefen Zwifchenfall, um
fih aus dem Staub zu machen.
9, Probleme der ftädtifhen Polizei
Javert drängte die Zufehauer beifeite, durchbrach den Kreis
und ging in großen Schritten zum Polizeibüro, bas fib am an-
deren Ende des Platzes befand; die Unglücliche zerrte er hinter
fi) her. Sie wehrte fi nicht. Kein Wort wurde gewechfelt. Die
Zufchauer, aufs höchſte vergnügt, folgten ben beiden fcherzend
und lachend. Auch dag höchſte Elend ift eine Gelegenheit zu ge-
meinen Späßen.
Sm Polizeibüro angelangt, das aus einem niedrigen, über-
heizten Zimmer mit einem vergitterten Senfter und einer Glas-
türe beftand, trat Javert mit Fantine ein und verfperrte die Tür
zum großen Mißbehagen der Neugierigen, die fih auf die Zehen—
fpißen ftellten und ihre Hälfe recdten, um etwas zu fehen. Die
Meugierde ift eine Art Lecferei. Man fieht, wie man eine Deli-
fateffe verfehlingt.
Santine war in einer Ecke niedergefauert, wie eine furchtſame
Hündin. Der Sergeant brachte eine brennende Kerze herein
und ftellte fie auf den Tiſch. Javert feste fi, zog ein Stempel-
papier aus der Zafche und begann zu fehreiben.
Die Dirnen find durch unfere Gefesgebung vollfommen der
Willkür der Polizei ausgeliefert. Die Polizei fpringt mit ihnen
- um, wie fie will, beftraft fie nach Gutdünfen und vergewaltigt
nach Belieben die beiden traurigen Rechte, die von biefen
| Grauen ihr Gewerbe und ihre Freiheit genannt werden.
Javert war Éalt. Sein ernftes Gefiht verriet Feinerlei Er-
regung. Und doch war er ftarf in Anfpruch genommen. Das war
einer jener Augenblicke, wo er ohne Kontrolle, aber mit der
ganzen Gewiffenhaftigkeit feines Weſens, diefe furchtbare
143
Gewalt ausübte. Er fühlte, daß fein elender Polizeingentenftuhl
ein Zribunal war. Er hatte zu urteilen, zu verurteilen. Er
brachte alles, was an Gebanfen in feinem Kopf war, auf, um
diefer großen Sache gerecht zu werden. Je mehr er die Tat
jener Dirne prüfte, um fo tiefer war feine Entrüftung. Sie
hatte unverfennbar ein ſchweres Verbrechen begangen. Er felbft
hatte e8 gefeben, wie biefes Gefchöpf, bas außerhalb der Gefeñe
ftand, die Gefellfhaft — in Perfon eines Grunbbefisers und
Wählers erfter Klaffe — beleidigt und gefchändet hatte. Eine
Proftituierte hatte einen Dourgeois angegriffen. Er hatte es
felbft gefeben, Javert.
Schweigend fhrieb er.
Als er fertig war, unterzeichnete er bas Schriftſtück, faltete
es zufammen und übergab es bem Sergeanten mit den Worten:
„Nehmen Sie drei Mann und bringen Sie diefe Perfon
ing Loch.”
Zu Fantine aber fagte er:
„Du baft febs Monate abzubrummen.”
Die Unglüdlibe erzitterte.
„Sechs Monate! Sechs Monate Gefängnis! rief fie, „und
nur fieben Sous Verbdienft im Tag! Was foll aus Eofette wer-
den? Ich fehulde den Ihenardiers nod mehr als hundert Gran-
fen, Herr Inſpektor, wiffen Sie dag?’ |
Sie froh auf dem von den fhmubigen Stiefeln all biefer
Männer verunreinigten Boden mit gerungenen Händen zu
Javert bin und jammerte.
„Seien Sie gnädig, Herr Vavert! Sch ſchwöre es ihnen, ich
war nicht Schuld. Wenn Sie von Anfang an dabei gemefen
wären, hätten Sie es felbft gefehen. Diefer Herr, den ich nicht
fenne, bat mir Schnee in den Rücken geftopft. Darf man uns
denn Schnee in den Rücken ftopfen, wenn wir ruhig an ben
Leuten vorübergehen und niemandem etwas fun? Da bin ich
wütend geworden. Sch bin nicht ganz gefund. Und fhon feit
einiger Zeit bat er mir immer grobe Sachen gefagt. Du bift
häßlich, bat er gejagt, und du haft ja Feine Zähne. Ich weiß
144
bob, daß ich Feine Zähne babe. Ich babe nichts getan, id
dachte, laß den Herrn ſich amüfieren. Sch benahm mid anftändig
und fagte nichts. Da bat er mir den Schnee in den Rücken ge-
ftopft. Lieber, guter Herr Inſpektor, ift denn niemand dabei-
er
an
ll Win
ÿ N, 5
0) Fin $
D 11 —
In AN ix
1 En, 7.
17) MIN
gewefen, der beftätigen kann, daß es fo geweſen ift? Vielleicht
war es nicht recht von mir, in Wut zu geraten. Aber Sie wiffen
bob, im erften Augenblick ift man feiner felber nicht Herr. Es
geht einfach mit einem burd. Und dann plößlich biefe Kälte am
Rücken, wenn man fih’s gar nicht verfieht. Gewiß war es
10 Hugo, Die Elenden. 145
falfd, daB id dem Herrn den Hut beruntergeflagen babe.
Warum ift er nur weggegangen? ch würde ihn um Derzeihung
bitten. Mein Gott, e8 Fame mir nicht darauf an, ibn um Yer-
zeihung zu bitten. Laflen Sie mid diesmal noch durchrutſchen,
Herr Javert, bedenfen Sie do, im Gefängnis verdient man
fieben Sous täglich und ich babe hundert Franfen zu bezahlen,
fonft jagt man meine Kleine fort. Mein Gott, ich Éann fie bob
nicht bei mir haben. Mit dem gemeinen Beruf... Schicken Sie
mich nicht ins Gefängnis. Wenn die Kleine nicht gar fo jung
wäre, Eönnte fie ja felbft ihr Brot verdienen, aber in dem Alter
geht es doc no nicht. Ich bin von Natur aus gar Feine fchlechte
Frau. Nur die Faulheit und die Luft, gut zu leben, haben mid
fo weit gebracht. Branntwein babe ich getrunfen, aber nur, weil
ich im Elend war, ich mag ihn gar nicht, aber man vergißt alles,
wenn man davon trinkt. Als ich noch glücklicher war, hätte man
nur in meinen Schrank fhauen müffen, da hätte man fchon ge-
feben, daß ich nicht ein Eofettes Frauchen war, das unordentlich
lebt. Wäſche hatte ich, fo viel Wäſche! Erbarmen Sie fi, Herr
Javert!“
Man erweicht ein Herz aus Granit. Aber ein Herz aus Holz
ift nicht zu rühren.
„Vorwärts!“ fagte Javert, „ich babe dich angehört. Biſt du
fertig? Vorwärts jebt, du haft fehs Monate! Dagegen vermag
der liebe Gott felbft nichts.“
Die Gendarmen griffen nad ihr.
Seit einigen Minuten ſchon war ein Mann eingetreten, ohne
daß man feiner geachtet hatte. Er hatte die Tire wieder ge-
fhloffen, fih an die Wand gelehnt und den verzweifelten Bitten
Fantines gelauſcht.
Als die Gendarmen jetzt Hand an die Unglückliche legten, die
ſich nicht erheben wollte, trat er vor und ſagte:
„Einen Augenblick!“
Javert blickte auf und erfannte Herrn Madeleine. Er 309
den Hut und grüßte mit einer linkiſchen und ärgerlichen
Gebärde.
146
©
„Verzeihung, Herr Bürgermeifter.‘’
Diefe Worte löften in Fantine eine eigentümlihe Wirkung
aus. löslich wor fie aufgefprungen, ftief die Gendarmen bei-
feite, trat vor Madeleine bin, bevor man fie zurüdreißen Fonnte,
fab ihn ftarr und wütend an und fchrie:
„Ach, du bift alfo der Bürgermeifter !‘
Und fie fpie ibm ins Geficht.
Madeleine trocknete fein Gefiht und fagte:
„Inſpektor Javert, feßen Sie diefe Frau in Freiheit.”
Javert glaubte im Augenbli, er fei wahnfinnig geworden.
Auf einen Éursen Moment waren die heftigften Erregungen zu-
fammengedrängt, die er zeit feines Lebens empfunden hatte. Eine
Dirne fpie einem Bürgermeifter ins Geficht, das war fo unge-
heuerlich, daß er es für ein Safrileg gehalten hätte, derlei nur
für möglich zu halten. Gleichzeitig tauchte in ibm der Gedanfe
auf, diefe beiden Menfhen, die Dirne und der Bürgermeifter
feien vielleicht von demfelben Schlag, und biefes Attentat fei
vielleicht gar nicht fo entfeßlich. Als er aber den Bürgermeifter
fab, diefen Beamten, der fih in aller Ruhe das Gefibt ab-
trocknete und befahl, man folle diefe Frau in Freiheit feßen,
verlor er alle Saflung; er Fonnte im Augenblick weder einen Ge-
danken faffen, noch ein Wort über die Lippen bringen.
Hatte er vergeflen, daß der Bürgermeifter anwefend war?
Ober ſchien es ihm fchließlih unmöglich, ſich vorzuftellen, eine
Obrigfeit Fönne einen derartigen Befehl erteilen? War es fo, daß
der Bürgermeifter nur etwas anderes gejagt hatte, als er meinte?
Wie dem auch fei, er wandte ſich mit blaffem, kaltem Gefidht,
mit einem verzweifelten Blick und leife zitternd an den Bürger-
meifter und fagte, fo unerhört es aud Elingen mag, mit ge-
fenftem Blick, aber fefter Stimme:
„Herr Bürgermeifter, das ift unmöglich.”
„Wieſo?“ fragte Madeleine.
„Dieſe Elende bat einen anftändigen Mann beläftigt.”
„Inſpektor Javert,“ fagte Madeleine ruhig und verfühnlich,
„hören Sie mid an. Sie find ein Ehrenmann, ich fheue mich
10* 147
nicht, Ihnen Erklärungen zu geben. Es war fo: Auf dem Plas,
von dem Sie diefe Frau wegführten, ftanden noch Leute herum;
ich babe mich erfundigt und babe alles erfahren. Diefer anftän-
dige Herr war fhuld, und die Polizei hätte ibn arretieren
ſollen.“
„Aber dieſe elende Perſon bat den Herrn Bürgermeiſter be-
leidigt“, beharrte Javert.
„Das geht nur mich an. Eine Beleidigung, die mir angetan
wird, iſt doch wohl meine Sache. Ich kann tun, was ich will.“
„Verzeihung, Herr Bürgermeiſter, aber eine Beleidigung iſt
keine Privatſache, ſondern geht auch die Behörden an.“
„Inſpektor Javert, die höchſte Juſtiz iſt das Gewiſſen. Ich
weiß, was ich tue.“
„Und ich, Herr Bürgermeiſter, weiß nicht, wie ich das alles
verſtehen ſoll.“
„Dann begnügen Sie ſich damit, zu gehorchen.“
„Ich gehorche meiner Pflicht. Meine Pflicht iſt, dieſes
Weibsſtück auf ſechs Monate ins Gefängnis zu ſetzen.“
„Hören Sie wohl, was ich ſage“, antwortete Herr Madeleine
ſanft. „Sie wird nicht einen einzigen Tag abſitzen.“
Jetzt wagte Javert, den Bürgermeiſter ſcharf anzuſehen, und
ſagte mit einer noch immer ſehr ehrerbietigen Stimme:
„Es iſt mir ſehr unlieb, Herr Bürgermeiſter, Ihnen Wider—
ſtand leiſten zu müſſen. Es iſt das erſtemal in meinem Leben,
aber erlauben Sie mir gütigſt zu bemerken, daß ich innerhalb
der Grenzen meiner Befugniſſe handle. Ich habe ſelbſt geſehen,
wie dieſes Frauenzimmer Herrn Bamatabois, der Wähler und
Beſitzer des ſchönen Hauſes mit dem Balkon an der Ede der
Eſplanade iſt, eines Steinbaues von drei Stockwerken, be—
leidigte. Nun, wie dem auch ſei, Herr Bürgermeiſter, das iſt
eine Angelegenheit der Straßenpolizei, die mich angeht, und ich
behalte dieſes Frauenzimmer in Haft.“
Madeleine kreuzte die Arme und ſagte mit einer ſtrengen
Stimme, wie ſie von ihm noch niemals in der Stadt gehört
worden war:
148
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à“ nn —
„Der Vorfall, von dem Sie fpreden, fällt in die Kompetenz
der ftädtifchen Polizei. Laut Paragraph neun, elf, fünfzehn und
fehsundfechzig der Kriminalprogeßordnung bin ich es, der in
diefer Sache die Entfbeioung zu fällen hat. Sch ordne an, daß
diefe Fran in Freiheit gefeßt wird.”
Javert verfuchte eine leßte Anftrengung.
„Herr Bürgermeifter . . .!/
„Ich erinnere Sie an den Paragraphen einundachtzig des
Gefeßes vom 13. Dezember 1799 über willfürliche Gefangen-
ſetzung.“
„Herr Bürgermeiſter, erlauben Sie ...“
„Kein Wort mehr!“
„Abher
„Hinaus!“ rief Herr Madeleine.
Javert empfing den Schlag aufreht, und ohne mit der
MWimper zu suden, wie ein ruffifber Soldat. Er verneigte fi
tief und ging.
Santine trat zur Seite und fab ihn erftaunt vorübergehen.
Sie war eine Beute feltfamer Erregung. Eben noch hatten zwei
feindlihe Mächte um fie gefämpft: der eine, um fie in die
Sinfternis hinabzuftoßen, der andere, um ihr dag Licht zu brin-
gen. Während diefes Kampfes, der in ihren erfehrodenen Augen
gewaltigen Umfang angenommen hatte, waren ihr die beiden
Männer wie zwei Miefen erfhienen. Und er, den fie aufs
Ihändlichfte beleidigt hatte, war ihr Metter! Hatte fie ſich ge-
täuſcht? Mubte fie alles abſchwören, was fie feit langem emp-
funden hatte?
Sie fand fih nit zurecht. Faſſungslos blickte fie um fi,
fühlte, wie bei jedem Wort, das Madeleine ſprach, die furchtbare
Finfternis des Hafles fih aufhellte und eine neue Freude in
ihrem Herzen wach wurde.
Als Javert hinausgegangen war, wandte fi) Madeleine nad
ihr um und fagte mit langfamer Stimme, gepreßt, als ob er
Zränen unterdrüde:
„Ich babe alles gehört. Mir war bas alles ganz unbekannt.
149
Ich glaube wohl, daß es fo fein muß, ich fühle es. Ich wußte
gar nicht, daß Sie nicht mehr in meinen Merfftätten arbeiteten.
Warum haben Sie fih damals nicht an mich gewandt? ch
werde Ihre Schulden bezahlen, id werde hr Kind Fommen
laffen, oder Ste mögen es felbft holen. Sie Fünnen hier Ieben,
oder in Paris, oder wo immer Sie wollen. Ich werde für Sie
und hr Kind forgen. Sie follen wieder anftändig und glücklich
werden.’
Es war mehr, als Fantine ertragen Fonnte. Sie folle Cofette
wiederbefommen, jollte von diefem fehändlichen Leben befreit
werden! Frei fein, geachtet, mit Eofette! Sie fonnte nur
ſchluchzen. Ihre Knie Enidten ein, fie fanf vor Madeleine
nieder, und bevor er fie hindern Fonnte, fühlte er, wie fie feine
Hand nahm und ihre Tippen darauf preßte.
Dann fanf fie in Ohnmacht.
SechstesBuch
Javert
l. Erholung
Madeleine ließ Fantine in jenes Spital fhaffen, das er in
feinem eigenen Haufe eingerichtet hatte. Er übergab fie den
Schweftern, die fie zu Bett braten. Ein hisiges Fieber hatte
fie ergriffen. Sie delirierte einen Teil der Nacht, fhlummerte
aber endlich ein.
As fie am nähften Morgen erwachte, hörte fie dicht neben
dem Bett atmen, fhob den Vorhang beifeite und erfannte
Madeleine.
Vebt hatte fi Mabeleines Geftalt in Fantines Augen voll-
ftändig verändert. Er wor ihr ein Lichtwefen geworden. Lange
fab fie ihn an und wagte nicht, ibn anzureden. Endlich fragte
fie ſchüchtern:
„Bas tun Sie hier?’
Madeleine war fhon feit einer Stunde hier. Er wartete auf
150
Santines Erwahen. Sekt nahm er ihre Hand, fühlte ihren
Puls und fagte:
„ie fühlen Sie ſich?“
„But. Sch babe gefchlafen. Sch glaube, es geht fchon beſſer.“
Madeleine hatte die Naht und den Morgen damit sugebracbt,
Erfundigungen einzuziehen. Jetzt wußte er alles, Éannte alle
Einzelheiten aus Fantines frauriger Gefchichte.
„Sie haben viel gelitten’, fagte er. „Aber beklagen Sie fic
nicht, die Hölle, die Sie jeßt verlaffen, ift der Zugang zum
Himmel. Man muß immer fo anfangen.”
Er feufite fief.
Mod in derfelben Nacht fchrieb Vavert einen Brief. Er trug
ihn felbft am nächften Morgen zum Poftbüro von Montreuil
fur Mer. Die Anfchrift Iautete: „An Herrn Chabouillet, Se-
fretär des Herrn Polizeipräfeften.” Da der Vorfall fib be-
reits in der Stadt berumgefprochen hatte, vermutete die Poft-
halterin, die den Brief zu feben befam und Javerts Schrift
erfannte, er reichte feine Entlaffung ein.
Madeleine beeilte fih, an die Thénardiers zu fehreiben. Fan—
fine fehuldete ihnen hundertzwanzig Fronfen. Er fandte drei-
hundert, wies fie an, fich vollends bezahlt zu machen und bas
Kind fofort nach Montreuil fur Mer zu bringen, da die Mutter
erfranft ſei und es zu feben wünfche.
Das feste Thenardier in Staunen.
„Hol's der Teufel,“ fagte er zu feiner Frau, ,,biefes Kind
geben wir nicht fo ohne weiteres her. Das wird ja nod eine
Milchkuh. Mir wird allerlei Élar. Irgendein Idiot bat ſich in
die Mutter vergafft.”
Sao' ſandte er eine febr gefchieft aufgeftellte Rechnung über
© Fünfhundert und einige Sranfen. Sie enthielt unter anderem
zwei unanfechtbare Poften, eine AÄrzte- und eine Apotheferred-
nung; Eponine und Azelma hatten nämlich lange Krankheiten
überftanden. Cofette war, wir fagten es fchon, niemals Franf
gewefen. Man hatte nur die Namen ausgetaufhf. Auf der
Rechnung ftand, von Ihenardies Hand gefchrieben:
151
„Als Anzahlung erbalten . . . 300 Franken.“
Madeleine fandte unverzüglich weitere dreihundert Franken
und fohrieb:
„Bringen Sie fofort Cofette.!
„Himmelherrgott,“ fagte Tbénardier, „Died Kind be-
halten wir.”
Inzwiſchen verbefferte fit Santines Zuſtand nicht. Sie lag
nod) immer im Spital.
Madeleine befuchte fie täglich zweimal.
„Werde ich Eofette bald ſehen?“ fragte fie immer wieder.
„Vielleicht ſchon morgen früh‘, antwortete er. „Sie fann
jeden Augenblic eintreffen, id erwarte fie.‘
Dann ftrablte das Gefiht der Mutter.
„Oh, ich werde fehr glücklich fein!‘
Doch begann ihr Zuftand ſich jeßt fogar von Woche zu Woche
au verfehlimmern.
Diefe Handvoll Schnee, zwifchen den Schulterblättern auf
die nadte Haut gedrückt, hatte eine plößliche Unterdrückung der
ZIranfpiration zur Folge gehabt, und jeßt brad die feit Jahren
zurüctgehaltene Krankheit heftig dur. Man folgte damals in
der Behandlung der Bruftfranfheiten den Indikationen Laën-
necs. Der Arzt unterfuchte Fantine und fehüttelte den Kopf.
Madeleine befragte ihn: „Nun?“
„Hot fie nicht ein Kind, das fie zu fehen wünſcht?“
„Ja.“
„Nun, dann beeilen Sie ſich, es kommen zu laſſen.“
Madeleine zitterte. „Was bat der Arzt geſagt“, fragte
Fantine.
Madeleine bemühte ſich, zu lächeln.
„Er ſagt, wir ſollen Ihr Kind bald holen. Das wird Ihnen
die Geſundheit bald wiedergeben.“
„Oh, er bat recht! Was haben dieſe Thénardiers nur, daß fie
Eofette behalten? Ach, fie wird kommen. Dann werde id das
Glüd bei mir haben.‘
Thénarbdier indeflen behielt bas Kind und fand taufend Aus-
152
flüchte. Cofette fei ein wenig leidend, jeßt im Winter dürfe fie
nicht reifen. Auch wären nod einige unbedeutende Schulden zu
bezahlen, über die noch Feine Nechnungen vorlägen.
„Ich werde jemand um Cofette fchiefen”, entfehied Vater
Madeleine. „Wenn es fein muß, fahre ich felbft hin.”
Er fohrieb folgenden Brief und ließ Fantine unterzeichnen:
„Herr Tbénarbdier,
übergeben Sie Cofette dem Überbringer.
Die fleinen Neftfhulden werden Ihnen bezahlt werden.
Hochachtungsvoll
Fantine.“
2. Wie Jean zu Champ wird
Eines Morgens war Madeleine in feinem Arbeitszimmer da-
mit befhäftigt, einige dringende Angelegenheiten des Bürger—
meifteramts voraus zu regeln, für den Fol, daß er felbft nad
Montfermeil reifen müßte, als ihm gemeldet wurde, der Polizei-
infpeftor wünfche mit ihm zu fprechen. Als Madeleine diefen
Namen hörte, fonnte er fid einer peinlihen Empfindung nicht
erwehren. Seit dem Vorfall im Polizeibüro hatte Vavert ihn
heuer gemieden als je, und Madeleine hatte ibn nicht zu fehen
befommen.
„Laſſen Sie ihn eintreten‘, fagte er.
Madeleine blieb neben dem Kamin fißen, die Augen auf ein
Aftenbündel gerichtet, in dem er blätterte und Notizen eintrug.
Er unterbrach feine Arbeit wegen Javerts nicht. Er mußte an
die arme Santine denfen und wollte ihn eifig behandeln.
Javert grüßte refpeftvoll den Bürgermeifter, der ibm nod
immer den Rücken zuwandte. Er trat zwei oder drei Schritte
vor, dann blieb er ftehen, ohne dag Schweigen zu breden.
Ein Phyfiognomifer, der mit Javerts Art vertraut gewefen
wäre und diefen Wilden im Dienfte der Zivilifation, biefe
153
bigarre Mifhung aus Nömer und Spartaner, Mönd und Kor-
poral, diefen Spißel, der nicht zu Lügen vermochte, feit längerer
Zeit ftudiert hätte, ein ſolcher Phyſiognomiker, der nod dazu die
alte geheime Abneigung Javerts gegen Madeleine gefannt und
den Inſpektor in diefem Augenblick gefehen hätte, wäre vor die
Frage geftellt worden: Was ift mit diefem Mann vorgegangen?
Dffenbar hatte er eine heftige innere Erfehütterung überftanden.
Wie alle heftigen Menfhen, war er jähen Stimmungsum-
ſchlägen ausgefeht. Wie er fo eintrat und fid vor Madeleine
verneigte, mit einem Blick ohne Groll, Zorn und Miftrauen,
wie er einige Schritte hinter dem Lehnftuhl des DBürgermeifters
ftebenblieb, faft in der Haltung eines Schuljungen, in der
naiven Gebärde eines Menfchen, der nie fanft, aber immer ge-
duldig war, machte er einen höchſt feltfamen und verblüffenden
Eindruf. Er wartete, ohne ein Wort zu jagen oder fid zu be-
wegen, in aufrichtiger Demut und ruhiger Ergebung, bis es dem
Herrn DBürgermeifter belieben würde, fi) umzumwenden. Sein
ganzes Weſen atmete Miedergefohlagenheit und Entichloffenheit
zugleich.
Endlich legte der Bürgermeifter die Feder beifeite und wandte
fih Halb um.
‚Jun, was gibt's, Javert?“
Javert blieb einen Augenblick ftehen, als ob er ſich fammle,
dann fagte er mit trauriger Feierlichkeit, aber doch einfach:
„Herr DBürgermeifter, ein fchweres Vergeben ift begangen
worden.”
„Was denn?‘
„Ein niedriger Beamter bat es an Reſpekt gegen eine über-
geordnete PDerfönlichfeit fehlen laſſen. Ich Fomme zu Ihnen,
Herr Bürgermeifter, um Ihnen biefe re pflichtgemäß zur
Kenntnis zu bringen.”
„Ber ift der Beamte?’
„Ich“, ſagte Javert.
„Sie ſelbſt?“
„Jawohl, Herr Bürgermeiſter.“
154
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‚And wer ift der Vorgefehte, der fi) über Sie zu be-
flagen hat?‘
„Sie, Herr Bürgermeifter.‘
Madeleine richtete fih in feinem Lebnftubl auf. Javert fuhr
ernft und mit gefenften Augen fort:
„Herr Bürgermeifter, ich bitte Sie, meine Amtsentfeßung
zu beantragen.”
Madeleine wollte fprechen. Aber Javert fiel ihm ins Wort.
‚Sie werden fagen, Herr Bürgermeifter, daß ich meine Ent-
loffung einreichen Fünnte, aber das genügt nicht. Man nimmt
feinen Abfehied in allen Ehren. Ich aber babe ein Vergehen be-
gangen und muß beftraft werden. ch muß aus dem Dienft ge-
jagt werden’, und nad einer Paufe fuhr er fort: „Sie find
unlängft mit Unrecht ftreng gegen mich gewefen. Seien Sie es
diesmal mit Recht.“
‚Aber was denn?’ rief Madeleine, „was fol das alles nur?
Mo ift denn diefes Vergehen, das Sie gegen mich begangen
haben? Sie wollen aus dem Dienft ausscheiden ...“
„Entlaflen werden.’
„Gut, entlaffen werden. Aber ich verftehe Fein Wort.’
„Sie werden gleich verfteben, Herr Bürgermeifter.’ Er
feufate tief auf, dann fuhr er traurig und Falt fort: „Vor febs
Wochen, gleich nach jener Szene mit dem Mädchen, babe ich Sie
in meinem Zorn denunziert.“
„Denunziert?“
„Bei der Pariſer Polizeipräfektur.“
Madeleine pflegte nicht öfter zu lachen als Javert, aber jetzt
lachte er.
„Weil ich als Bürgermeiſter mich über die Polizei ge—
ſtellt habe?“
„Nein, als alten Galeerenſträfling.“
Der Bürgermeiſter erblaßte.
Ohne aufzublicken, fuhr Javert fort:
„Ich glaubte es ſelbſt. Seit langem ging mir das im Kopf
herum. Eine Ähnlichkeit, eine Auskunft, die Sie in Faverolles
155
eingeholt haben, Ybre Kraft, Ihr Bein, das ein wenig lahmt,
weiß Gott, was noch alles! Dummbeiten! Aber fchließlih Fam
ich fo weit, daß ich Sie für einen gewiffen Sean Valjean hielt.”
„Für einen gewiflen . . .? Wie war der Name?‘
„Sean Baljean. Das ift ein Galeerenfträfling, den id vor
zwanzig Sahren fab, als ich in Zoulon im Dienft war. Als er
aus dem Bagno entlaffen wurde, bat biefer Sean Daljean, wie
behauptet wird, bei irgendeinem Sifhof einen Diebftahl be-
gangen. Dann ift er verfhwunden, und feit acht Jahren bat
man ihn vergeblich gefucht. Sch hatte mir feft eingebildet . . .
nun, id babe es getan. Zum Schluß gab der Zorn den Aus-
flag, ich babe Sie bei der Präfektur angezeigt.”
Madeleine hatte das Aftenbündel wieder vorgenommen und
fragte vollfommen gleihgültig:
‚And was bat man Ybnen geantwortet?”
„Daß ih ein Narr bin.‘
„Stun und?‘
„Jun, man bat recht.”
„Es ift ein Glüd, daß Sie das einfehen.”’
„Ich muß wohl, denn der richtige Sean Baljean ift gefunden.‘
Das Blatt, das Herr Madeleine in Händen bielt, fiel auf
den Tiſch, er bob den Kopf, fab Savert feft an und rief mit
unbefchreiblihem Ausdrud:
„Im Ernſt?“
„Ss iſt es, Herr Bürgermeiſter. Irgendwo bei Ailly-Ie-
Haut-Clocher wohnt ein Kerl, der ſich Champmathieu nennen
läßt. Ein armfeliger Menfh. Niemand achtet auf ihn. Sole
Leute leben eben . . . wovon, dag weiß niemand. Kürzlich, im
legten Herbft, ift diefer Champmathieu verhaftet worden, weil
er bei irgendeinem . . . es ift ja gleichgültig... . Moftäpfel ge-
ftohlen bat. Alfo Diebftapl, Einbrud in einem Garten, Be-
Ihädigung eines Baumes durch Abbrechen von Äften. Mein
Champmathieu wird verhaftet, mit dem Aft in der Hand. Man
fperrt ihn ein. Das ift nichts weiter als ein Fleines Vergehen,
nicht der Dede wert. Aber hier febt die Vorfebung ein. Der
156
Polizeifutter war in unmôglibem Zuftand, darum läßt der
Unterfuhungsrichter Cbampmatbieu nach Arras ins Departe-
mentsgefängnig bringen. Dort fist ein alter Galeerenfträfling,
ein gewiflfer Brevet, den man noch immer zurücdhält, der aber,
weil er fid) gut geführt hat, Zellenauffeher geworden ift. Herr
Bürgermeifter, ftellen Sie fih vor: Diefer Champmathieu ift
noch nicht in der Zelle, da ruft biefer Brevet auch fon: ‚Ach,
den kenn' id ja! Der ift ‚Langjähriger‘. Schau’ mid bob nur
an, mein Befter! Du bift Jean Valjean. Jean Valjean? Der
Champmathieu tut ganz erftaunt. ‚Zu nicht, als ob du von
geftern wärft‘, fagt Brevet. ‚Du bift jean Valjean und warft
in Toulon im Bagno, vor zwanzig jahren. Wir Éennen uns von
dort!“ Cbampmatbieu Teugnet natürlih. Das ift ja begreiflic.
Man geht der Sache nad und findet folgendes: diefer Champ—
mathieu war vor dreißig Jahren Baumfcherer in verfhiedenen
Orten, unter anderm aud, wie ausdrüdlic feftgeftellt worden
ift, in Saverolles. Dann geht feine Spur verloren. Biel fpäter
taucht er in der Auvergne auf, dann in Paris, wo er, wie be-
hauptet wird, Zimmermann war und eine Tochter hatte, eine
Wäſcherin. Aber das ift nicht bewiefen. Was war alfo diefer
Sean Baljean, bevor er wegen erwiefenen Diebftabls auf die
Galeeren Fam? Baumfcherer. Wo? In Faverolles. Noch etwas.
Diefer Daljean hieß mit feinem Taufnamen Sean, und feine
Mutter mit Familiennamen Mathieu. Was ift begreiflicher, als
daß er nach feiner Flucht aus dem Bagno den Namen feiner
Mutter annahm, um feine Spur zu verwifchen, und fih Sean
Mathieu nannte? Gut, er ging in die Auvergne. Dort fagt man
nicht jean, man Spricht den Namen dort Shan aus und nennt
ihn kurzerhand Schan Mathieu. Das laßt fih der Mann gern
gefallen und fchreibt fih von nun an Champmathieu. Sind Sie
mir gefolgt? Nun, man zieht in Faverolles Erfundigungen ein.
Die Familie des Sean DBaljean eriftiert nicht mehr. Spurlos
verfhmwunden. Sie wiffen, in diefen Kreifen verfehwindet eine
Somilie, ohne daß etwas auffällt. Wenn folhe Leute nicht ge-
rade im Kot Ieben, fo do im Staub. Auch liegt diefe ganze
157
*
Gefhichte dreißig Jahre zurüd, und in Faverolles ift Fein
Menfh zu finden, der fih an Sean Valjean erinnert. Man
fragt in Toulon nad. Außer Brevet find nod zwei Sträflinge
ba, die Sean Valjean gefannt haben, zwei ‚Lebenglängliche‘,
Cochepaille und Chenildien. Man holt fie aus dem Bagno und
Ihafft fie nah Arras. Sie werden dem angeblihen Champ-
mathieu gegenübergeftellt. Ohne zu zögern, entfcheiden fie fid.
Er ift für fie, wie für Brevet, Sean Valjean. Dasfelbe Alter
— vierundfünfzig Jahre — biefelbe Figur, basfelbe Ausfehen,
nun, der gleihe Mann. Das war gerade in dem Augenblid,
als ich meine Denunziation an die Parifer Präfektur fandte.
Man antwortet mir, ich fei wohl verrücdt, der befagte Sean
Baljeon befinde fich in Arras und fei in den Händen der Juſtiz.
Sie begreifen, wie erftaunt id war, da ich doc glaubte, eben
diefen Sean Valjean hier am Wickel zu haben. ch fbrieb dem
Unterfuhungsrichter. Er läßt mid Fommen, id werde dem
Champmathieu gegenübergeftellt ...“
Mun?⸗
Unbeirrbar und traurig fährt Javert fort:
„Herr Bürgermeiſter, was wabr iſt, muß wabr bleiben. Es
tut mir leid, aber er iſt Jean Valjean. Auch ich habe ihn wie—
dererkannt.“
Mabeleine fragte ſehr leiſe: „Sind Sie deſſen ſicher?“
Javert lachte ſchmerzlich auf, wie jemand, der vollkommen
überzeugt ift.
„Ganz fiber. Und jest, nachdem ich den wirklichen Sean Val—
jean gefeben babe, begreife ich gar nicht, wie ich bas andere auch
nur glauben konnte. ch bitte Sie um Verzeihung, Herr Bür-
germeiſter.“
So flehend und ernſt er auch die Bitte an jenen Mann rich—
tete, der ihn vor ſechs Wochen vor ſeinen Untergebenen ge—
demütigt hatte, war doch feine Haltung ſtolz und, wenn auch un-
bewußt, voll Einfachheit und Würde. Madeleine antwortete nur
mit der jähen Frage:
„Und was ſagt der Mann?“
158
„Ja, Herr Bürgermeifter, das ift eine ſchlimme Sache. Da
er Sean Valjean ift, wird er als rüdfalliger Verbrecher be-
handelt. Wenn ein Junge eine Mauer überfteigt, einen Aft ab-
bricht und Äpfel Elaut, fo ift es ein dummer Streich; tut es ein
Mann, fo ift es ein Vergehen; für einen ehemaligen Sträfling
ift e8 ein Verbrechen. Einbruch und Diebftahl heißt bas dann.
Das geht nicht mehr die Polizei an, fondern die Affifen. Jetzt
geht es nicht mehr um ein paar Tage Haft, fondern um lebens-
länglichen Dienft auf den Galeeren. Hol's der Teufel, der Kerl
weiß, wozu er leugnet! Schwere Sache für einen andern als
diefen Sean Valjean. Aber der ift pfiffig. Auch daran erfenne
ih ihn wieder. Ein anderer würde e8 mit der Angft Ériegen,
würde jammern und fehreien, alles ableugnen, um feinen Preis
Sean Baljean fein wollen. Er aber tut, als ob er gar nichts be-
griffe. Er fagt: ich bin Champmathieu, mehr weiß ich nicht. Er
tut verwundert und fpielt den Blöden. Ein gefchiefter Kerl.
Uber es wird ibm nichts nüßen, man bat ja die Beweiſe in
Händen. Er ift von vier Perfonen wiedererfannt, der alte Gau-
ner, und wird unweigerlich verurteilt. Die Sache wird bei den
Affifen in Arras verhandelt. Ich felbft bin als Zeuge geladen.’
Madeleine hatte fi) wieder abgewandt, feine Aftenmappe
aufgefhlagen und las wie ein vielbefchäftigter Mann. Endlich
fab er ſich nach Javert um.
„Genug, Savert. Sm Grunde genommen find diefe Einzel-
heiten für mich unintereffant. Wir verlieren unfere Zeit, und
wir haben Dringenderes zu tun. Gehen Sie zunädhft zu Frau
Bufeaupied, der Gemüfehändlerin an der Ede der Rue Saint-
Saulve. Sagen Sie ihr, fie möchte ihre Klage gegen den Fuhr-
mann Pierre Chesnelong einreichen. Diefer Lümmel hat neulich
die Frau und ihr Kind verlegt. Er foll beftraft werden. Dann
gehen Sie zu Herrn Charcellay in der Rue Montre de Cham-
pigny. Er beflagt fi, daB eine Negentraufe des Nachbarhauſes
Waſſer auf fein Grundftüc ableitet und feine Bauten unter-
wäſcht. Aber haben Sie denn aud Zeit, alles bas zu erledigen?
Mann fahren Sie nah Arras?!
159
„Die Verhandlung ift morgen, ich reife heute abend mit der
Poſt.“
Mabeleine machte eine faſt unmerkliche Bewegung.
„Wie lange kann dieſe Verhandlung dauern?“
„Höchſtens einen Tag. Das Urteil wird ſpäteſtens am ſelben
Abend gefällt. Ich warte aber nicht darauf, der Ausgang iſt ja
unzweifelhaft. Sobald ich meine Ausſage gemacht habe, fahre
ich zurück.“
„Gut“, ſagte Madeleine und verabſchiedete Javert mit einer
Handbewegung. Aber der ging nicht.
„Verzeihung, Herr Bürgermeiſter ...“
„Was gibt's denn noch?“
„Ich muß doch aus dem Dienſt gejagt werden.“
Madeleine ſtand auf.
„Sie ſind ein Ehrenmann, Javert, und ich achte Sie. Sie
übertreiben Ihr Vergehen. Auch dies iſt eine Beleidigung, die
nur mich angeht. Ich wünſche, daß Sie auf Ihrem Platze ver-
bleiben.”
„Herr Bürgermeifter, das geht nicht.”
„Aber ich fage Ihnen doch, daß das meine Sache iſt.“
Javert, ganz feinen eigenen Gedanken nahhängend, erwiderte:
„Dein, ich übertreibe nicht. Für mich ftellt fih die Sade
folgendermaßen dar. Sch hatte Sie in falfhem Verdacht. Das
macht nihts aus. Schließlih ift es ja unfere Pflicht, jedem
Verdacht nachzugehen. Aber ohne Beweife in Händen, in einem
Anfoll von Zorn, aus reiner Rachſucht Sie, einen Ehrenmann,
einen DBürgermeifter, einen Beamten als Galeerenfträfling zu
benungieren, das ift febr fhlimm. % babe in Ihnen die Obrig-
feit beleidigt, ich, der ich ein Diener der Obrigkeit bin. Wenn
einer meiner Untergebenen fo etwas täte, würde ich ihn bienft-
unfähig erflären und fortjagen. Alſo ...! Und nod eines, Herr
Bürgermeifter, ich war oft fireng in meinem Leben, ftreng gegen
die andern. Das war nur gerecht. Wenn ic) aber nicht auch
gegen mich fireng wäre, wäre alle meine frühere Gerechtigkeit
nur Lumperei. Darf ich mich denn mehr fhonen als die andern?
160
Wäre ich dazu befähigt gemefen, irgend jemanden zu beftrafen,
wenn ich mich felbft ſchonte? ch wäre ja ein Schuft, id wünfche
nicht, daß Sie mich gütig behandeln, denn als Sie zu andern
gütig waren, babe ich es aud nicht gewollt. Darum darf ich es
auch nicht für mich annehmen. Eine Güte, die es zuwege bringt,
einer gemeinen Hure gegen einen Bürger recht zu geben, einem
Polizeingenten gegen einen Bürgermeifter, Furz, dem Miedrigen
gegen den Hocdgeftellten, dag ift eine fchlechte Güte; fold eine
Güte müßte die Grundfeften der Gefellfhaft zerftören. Seien
Sie verfihert, Herr Bürgermeifter, wenn Sie der wären, für
den ich Sie hielt, wäre ich gar nicht gut zu Ihnen, das hätten
Sie wohl gemerft! Im Intereſſe des Dienftes verlange ich, daß
ein Erempel ftatuiert wird. Ich verlange ganz einfach die Dienft-
enthebung des Inſpektors Javert.“
Alles das war in einem zugleich demütigen und ftolgen, ver-
zweifelten und feften Ton gefprochen.
„Jun, wir werden ja fehen‘‘, meinte Madeleine. Und er
reichte ihm die Hand. Javert fuhr zurück und rief zornig:
„Herr DBürgermeifter, das geht nicht, ein Bürgermeifter hat
einen gemeinen Spiel nicht die Hand zu geben.’
Dann verneigte er fi und ging.
Siebentes Buch
Der fall Champmathieu
1. Shwefter Simplice
An dem Nachmittage nad Javerts Befuh ging Madeleine
wie gewöhnlich zu Fantine. Bevor er an ihr Bett trat, ließ er
Schwefter Simplice rufen.
Die beiden Nonnen, die in Mabeleines Spital Dienft taten,
waren Tazariftinnen — wie alle barmberzigen Schweftern —
und hießen Schwefter Derpetua und Schwefter Simplicia.
Perpetua war eine Bäuerin wie jede andere auch, eine plumpe
Derfon, die bei Gott in Dienft getreten war, wie man fonftwo
11 Hugo, Die Elenden. 161
in Dienft tritt. Nonne war fie, wie man Köchin ift. Diefe Type
ift nicht befonders felten. Die Klöfter nehmen folhe Bauers—
leute gern auf und bilden aus ihnen leicht Kapuziner und Urfu-
linerinnen. Diefe groben Leute vom Land leiften gewiffermaßen
die religiöfe Hausarbeit. Man wird unfhwer vom Rubbirten
sum Karmeliter. Das Foftet Feine große Mühe. Das Leben auf
dem Dorf und im Klofter fest die gleihe Uniwiffenbeit voraus,
Mönch und Dauer fteben auf der gleihen Stufe. Man ver-
längere ein wenig den Kittel, und die Kutte ift fertig. So war
auch Schwefter Perpetun, die aus Marines bei Pontoife
ftammte, eine Nonne, die ihren Dialekt beibehalten hatte, mit
den Kranken nicht fonderlih fchonungsvoll umging und fogar
einem Sterbenden den lieben Gott ins Gefiht warf, wenn es
darauf ankam.
Schweſter Simplice war weiß wie Wade, und wenn man
fie mit Perpetua verglich, war fie eine Wachskerze gegen ein
Stearinliht. Wie alt fie war, hätte niemand anzugeben gewußt,
denn fie fab nicht aus, als ob fie jemals jung geweſen wäre oder
einmal alt werden follte. jedenfalls war fie ein Gefhöpf — wir
wagen nicht zu fagen, eine Frau — von großer Ruhe, gutem
Betragen, Fühlem Empfinden... und fie hatte nie gelogen.
So fanft war fie, daß fie gebredhlich feheinen Éonnte, aber doc
wieder hart wie Granit. Die Kranken faßte fie mit fanften,
weihen Fingern an. In ihrer Rede war, möchten wir fagen,
fhon das Schweigen, denn fie fprad nur das Allernötigfte, und
ihre Stimme war fo fanft, daß fie im Beichtftuhl ebenfo an-
genehm geflungen hätte wie im Salon. Wir fagten bereits, daß
fie niemals gelogen, oder aud nur aus berechtigtem Yntereffe
oder gleichgültig irgend etwas gefagt hatte, was nicht die reinfte
Wahrheit war; bas war ihr befonderer Wefenszug, ihre betonte
Tugend. Wegen diefer unbeirrbaren Wahrheitsliebe war fie in
der ganzen Kongregation berühmt. Als fie bei dem heiligen Vin—
cenz von Paula ihr Gelübde ablegte, hatte fie den Namen Sim-
plicia gewählt. Die Sizilianerin Simplicia ift, wie der Lefer
wohl weiß, jene Heilige, die fich lieber die Brüſte ausreißen ließ
162
als fagte, fie fei aus Segefta, ba fie bod in Syrakus geboren
war — obwohl biefe Lüge ihr das Leben gerettet hätte. Das
war die paffende Schußheilige für diefes Gefchöpf.
Als fie in den Orden eingetreten war, war fie mit zwei Flei-
nen Fehlern behaftet, von denen fie fi) allmählich etwas ent-
wöhnt hatte; fie liebte Süßigkeiten und befam gern ‘Briefe.
Diefes fromme Mädchen hatte eine Zuneigung zu Fantine
gefaßt, deren verborgene Tugend fie wohl fühlte, und hatte fic
zu ihrer befonderen Pflege erbötig gemacht. Madeleine nahm fie
beifeite und empfahl ihr Santine mit einem Nachdruck, der der
Schweſter fpäter nod oft in Erinnerung Fam.
Dann trat er zu Fantine.
Sie erwartete jeden feiner Befuche wie einen Lichtftrahl. Zu
der Schwefter hatte fie gefagt: „Ich lebe nur, wenn der Herr
Bürgermeifter da iſt.“ |
An diefem Tage hatte fie ſchweres Fieber. Als fie Madeleine
erkannte, fragte fie:
„Und Coſette?“
„Bald“, antwortete er lächelnd.
Er behandelte ſie auch diesmal wie gewöhnlich, nur blieb er
zu Fantines großer Freude eine ganze Stunde. Es wurde auch
bemerkt, daß er einmal plötzlich ſehr düſter wurde. Man erklärte
es ſich aber daraus, daß der Arzt ihm leiſe geſagt hatte: „Es
kann nicht mehr lange dauern.“
2. Schweſter Simplice
wird auf die Probe geſtellt
Santine verbrachte eine fchlechte Nacht. Der Huften war
Ihredlih, bas Fieber nahm an Stärfe zu. Sie phantafierte.
Als der Arzt am Morgen Fam, lag fie im Delirium. Er zeigte
fid) beunruhigt und ordnete an, daß er gerufen werden follte,
fobald Herr Madeleine Fäme.
Den ganzen Vormittag war fie ftumpf, fprad wenig, und
ihre Augen waren ftarr. Mur von Zeit zu Zeit Teuchteten fie
u 163
auf, wie von einem himmlifhen Licht burflutet. Wenn
Schweſter Simylice fie nad) ihrem Befinden befragte, fagte fie:
„Danke, es geht mir gut, aber id möchte Herrn Madeleine
ſehen.“
Gegen zwölf kam der Arzt, ſtellte einige Rezepte aus, erkun—
digte ſich, ob der Herr Bürgermeiſter im Krankenhaus geweſen
ſei, und ging kopfſchüttelnd weg.
Gewöhnlich erſchien Herr Madeleine gegen drei Uhr bei der
Kranken. Da Pünktlichkeit ein Teil der Güte iſt, war er auch
pünktlich. Schon gegen halb drei begann Fantine unruhig zu
werden. In einem Zeitraum von zwanzig Minuten fragte ſie
die Nonne wohl zehnmal:
„Wie ſpät mag es ſein, Schweſter?“
Es ſchlug drei. Beim dritten Schlag ſetzte ſich Fantine auf,
obwohl ſie ſich ſonſt kaum im Bett bewegen konnte, faltete
krampfhaft ihre fleiſchloſen, gelben Hände, und die Nonne hörte
ſie tief aufſeufzen. Dann wandte ſie ſich zur Seite und richtete
den Blick auf die Tür.
So verging eine halbe, eine ganze Stunde. Es wurde fünf.
Die Schweſter hörte, wie ſie leiſe ſagte: „Morgen muß ich fort,
er hätte heute kommen können.“ Auch Simplice war über
Mabeleines Verſpätung verwundert. Sie ſandte eine Magd in
die Fabrik, um ſich zu erkundigen, ob der Herr Bürgermeiſter
ſchon zu Hauſe ſei und ob er heute nicht ins Spital käme. Bald
war die Magd zurück. Fantine lag noch immer reglos und ſchien
ihren Gedanken nachzuhängen. Leiſe erzählte die Magd Schwe—
ſter Simplice, der Herr Bürgermeiſter ſei am ſelben Morgen
in einem kleinen Tilbury allein, ja ſogar ohne Kutſcher fort—
gefahren, ohne daß man wüßte, wohin er ſich gewandt habe.
Leute wollten ihn auf der Straße nach Arras geſehen haben,
während andere verſicherten, ſie ſeien ihm auf der Pariſer
Straße begegnet.
Während die beiden Frauen miteinander flüſterten, hatte ſich
Fantine, in der das Fieber wieder aufflackerte, im Bette auf—
164
gefest und lauſchte, mit geballten Fäuften auf bas Kiffen geftüst.
Plötzlich rief fie:
„Sie fprechen von Heren Madeleine. Warum fprehen Sie fo
leife? Was ift mit ihm? Warum Eommt er nicht?”
Ihre Stimme war fo raub, daB die beiden Frauen eine
Männerftimme zu bören glaubten und fih erfhroden um-
wandten.
„Antworten Sie do!” rief Santine.
Stammelnd fagte die Magd: „Die Frau des Hauswarts hat
mir gefagt, er Eönne heute nicht kommen.“
„Bleiben Sie ruhig, mein Kind,” fagte die Schwefter, ‚legen
Sie ſich wieder zurück.“
Obne ihre Haltung zu verändern, rief Fantine wieder mit
ihrer rauhen Stimme und in einem befehlenden Ion:
„Worum fann er nicht kommen? Sie wiffen den Grund. Sie
haben eben darüber flüfternd miteinander gefproden. % will
es wiſſen.“
Haftig flüfterte die Magd der Nonne zu: „Sagen Sie ihr
doch, er fei in der Stadtverordnetenverfammlung.’’
Schwefter Simplice errötete leifes man mutete ihr zu, fie
follte Tügen. Andererfeits begriff fie, daB die Wahrheit der
Kranken ein furhtbarer Schlag fein müßte und bei Fantineg
elendem Zuſtand böfe Folgen haben fonnte. Nicht lange ver-
weilte die Nöte auf ihren Wangen. Traurig und ruhig fagte fie:
„Der Herr Bürgermeifter ift verreift.”
Santines Augen funfelten. Eine unerhörte Freude verflärte
ihr vergrämtes Geficht.
nBerreift! Er holt Coſette.“
Und fie bob die Hände zum Himmel, ihr Gefiht nahm einen
verflärten Ausdrud an, ihre Lippen bewegten fich; leife betete fie.
„Schweſter,“ fagte fie, nachdem fie gebetet hatte, „ich will
mic wieder zurüclehnen, ich will alles fun, was man von mir
verlangt. Ich bin eben recht fchlecht gewefen. Verzeihen Sie mir,
daß ich fo laut gefproden babe, es ift nicht gut, fo laut zu
fpreden, das weiß ich wohl, Schweſter, aber fehen Sie, id bin
165
febr zufrieden jest. Gott ift gut, und Herr Madeleine ift aud
gut, benfen Sie fih nur, er ift nah Montfermeil gegangen,
meine Éleine Cofette abzuholen.”
Sie legte fib zurüd, half der Monne das Kiffen zuredht-
rüden und küßte das Fleine, filberne Kreuz, bas fie am Halfe
trug und das ihr Schwefter Simplice gefchenft hatte.
„Suchen Sie jest ruhig zu bleiben, Kind,” fagte die Schwe-
fter, „und fpreben Sie nicht.“
„Er ift heute morgen nad Paris gefahren. Er hätte eigent-
lic) gar nicht bis Paris fahren müffen. Montfermeil liegt, be-
vor man in die Stadt kommt, linfer Hand. Erinnern Sie fid
noch, wie er geftern, als ich nad Cofette fragte, geantwortet bat:
Bald. Er will mir eine Überrafung bereiten, darum ließ er
mid aud diefen Brief an die Thenardiers unterzeichnen. Die
Fönnen doch nichts dagegen einwenden, nicht wahr? Sie find ja
bezahlt. Die Obrigkeit buldet doch nicht, daß einer ein Kind
zurücfbehält, wenn er fein Geld gefriegt hat. Morgen früh,
Schwefter, morgen wird er fon zurüc fein, morgen ift ein
Fefttag für mid. Ja, Montfermeil ift ein Dorf. Ich bin zu
Fuß von dort herübergefommen, feinerzeit, und da fchien es mir
recht weit. Aber mit der Poſt ift es wohl eine kurze Strede.
Morgen wird er mit Eofette hier fein. Wie weit iſt Mont-
fermeil von hier?’
Die Schwefter, die Feine Ahnung davon hatte, antwortete:
„Oh, ich glaube ſchon, daß er morgen hier fein kann.“
Zwifchen fieben und acht Uhr Fam der Arzt. Da er Fein Ge-
räufch hörte, glaubte er, Santine fhlafe, und näherte fi auf den
Zehenfpisen dem Bett. Er 309 den Vorhang zurüd und fab fi
Santine gegenüber, die ibn mit großen, ruhigen Augen anfab.
„Nicht wahr, Herr Doktor," fagte fie, ‚man wird fie doc
in einem Eleinen Bett hier neben mir fhlafen laſſen?“
Der Arzt glaubte, fie fei wieder im Delirium.
„Sehen Sie,” fuhr fie fort, „es ift Plaß genug da.’
Der Arzt nahm Schwefter Simplice beifeite, die ihm den
Hergang erzählte.
166
Er billigte ihr Verbalten.
Mirflic ging es Fantine beffer. Der Druck war verringert,
der Puls ftärfer. Neues Leben befeelte diefen erfchöpften
Körper.
„Herr Doktor,” fragte fie, ,,bat die Schwefter Ihnen gefagt,
daß der Herr Bürgermeifter mir mein Püppchen bringen will?’
Der Arzt legte ihr Schweigen auf und ordnete an, daß jede
Aufregung von ihr ferngehalten werden fol. Auch verordnete
er ihr einen Aufguß von Cbinarinde und, falle bas Fieber in
der Nacht zunähme, ein Schlafmittel. Als er ging, fagte er zu
der Schwefter: „Es ftebt beffer mit der Kranken. Wenn das
Glück wollte, daß der Herr Bürgermeifter wirklich morgen mit
dem Kind kommt, wer weiß, die Krifen nehmen oft einen er-
ftaunlichen Ausgang, und wir Ärzte Eennen Fälle, in denen eine
plößlihe große Freude den Lauf einer Krankheit hemmt. Ich
weiß wohl, daß dies eine organifche, weit vorgefchrittene Krank—
heit ift, aber es gibt Geheimniffe, die ſich nicht ergründen laffen.
Vielleicht retten wir fie doch.”
3. Der Reiſende fommtan
undwillwiederabreifen
Es war faft acht Uhr abends, als der Wagen des Bürger-
meifters vor der Poftherberge in Arras vorfubr. Madeleine
ftieg aus, beantwortete zerftreut die Fragen der Herbergsleute,
ließ fein Pferd in den Stall bringen, trat in einen Billardſaal
zu ebener Erde und feßte fic.
Die Wirtin Fam.
„Wünſcht der Herr bier zu nädhtigen? Soll gedeckt werden?”
Er fhüttelte den Kopf.
„Der Stallknecht fagt, daß das Pferd des Herrn übermüdet
iſt.“
Jetzt brach er ſein Schweigen.
„Wird das Pferd morgen früh marſchfähig ſein?“
„Unmöglich, mein Herr, es muß mindeſtens zwei Tage ruhen.“
167
„Iſt bier das Poſtbüro?“
„Ja, mein Herr.‘
Die Wirtin führte ihn in dag Büro; er wies feinen Paß vor
und erfundigte fi, ob er no in derfelben Naht nad Mon-
treuil fur Mer zurücfahren Éônnte. Der Platz neben dem Ku-
rier war noch unbefeßt, er belegte und bezahlte ihn.
„Mein Herr, fagte der Poftbeamte, „ſeien Sie pünftlih um
ein Uhr nachts zur Stelle.’
Dann verließ Madeleine die Gaftwirtfchaft und ging in die
Stadt. |
Er kannte Arras nicht und durchſchritt aufs Geratewobl
einige unbeleuchtete Straßen. Offenbar wollte er niemanden
nach dem Weg fragen. Er überfohritt die Grinhonbrüde und
geriet in ein MWirrwarr enger Gaffen, in dem er fid verirrte.
Endlich, nach einigem Zögern, ſprach er einen Bürger an, warf
aber vorher einen ſcheuen Bli um fi, als ob er fürchte, ein
Fremder Fönne feine Frage hören.
„Wollen Sie mir bitte fagen, mein Herr, wo das Geribts-
gebäude iſt?“
„Sie find wohl nicht aus unferer Stadt?" antwortete der
Bürger, ein älterer Mann. „Folgen Sie mir. Ich gehe gerade
dahin. Zur Präfektur. Das Gerihtsgebäude wird gerade aus-
gebeffert, darum finden vorläufig die Derhandlungen in der
Präfektur ſtatt.“
„Sind aud die Affifen dort untergebracht?’
„Gewiß, mein Herr. Die Präfektur war vor der Mevolution
bas bifhöfliche Palais. Herr de Conzie, der Anno 82 Biſchof
war, hat darin den großen Seftfaal erbauen laffen, in dem jeßt
die Schwurgerichtsverhandlungen ftattfinden.”
Unterwegs fagte der Bürger:
‚denn Sie einem Prozeß beimohnen wollen, ift es wohl ziem-
lich fpät. Gewöhnlich wird die Sisung um fechs Uhr aufgehoben.”
Sie famen auf einen großen Plat, und der Bürger zeigte
Madeleine vier hohe, erleuchtete Fenfter in der Faflade eines
düfteren Gebäudes.
168
„Weiß Gott, mein Herr, Sie fommen noch zurecht. Da haben
Sie aber Glüf. Sehen Sie die vier Fenfter? Hier tagen die
Geſchworenen. Es ift nod Licht, alfo ift die Verhandlung noch
nicht zu Ende. Sind Sie an der Sache intereffiert? ft es ein
Kriminalprogeß? Sind Sie etwa Zeuge?”
„Ich babe damit nidhts zu tun,” antwortete Madeleine, ‚ich
möchte nur mit einem Rechtsanwalt ſprechen.“
„Das ift etwas anderes. Sehen Sie, mein Herr, dort die
Zür: wo der Poften fteht. Sie brauchen nur die große Treppe
hinaufzugehen.“
Mabeleine folgte dieſer Weiſung und befand ſich einige Mi—
nuten ſpäter in einem großen Saal, in dem eine Menge von
Leuten — darunter viele Advofaten — flüfternd in Gruppen
beifammen ftanden. Es ift immer ein bedrückender Anblick, diefe
fhwarzgefleideten Leute in den Gerichtsfälen murmelnd bei-
fammenfteben zu feben. Nur felten ift Erbarmen das Ergebnis
biefer Geſpräche. Mur zu oft ift die Verurteilung fon im vor-
aus befchloffene Sache.
Diefer Raum, der nur von einer Lampe erhellt wurde, war
ein altes Dorzimmer. Eine Flügeltür, die augenblidlih ver-
fhloffen war, trennte e8 von dem Saal, in dem die Aſſiſen
fagten. ;
In diefer Dunkelheit fheute fi) Madeleine nicht, den erft-
beften Anwalt, dem er begegnete, anzufprechen.
„Wie fteht die Sache?”
„Schon zu Ende.”
„zu Ende!”
Er hatte fo gefproden, daß der Advokat fit umiwanbte.
„Derzeihung, find Sie etwa ein Verwandter?’
„Dein, id Eenne niemand hier. Wurde der Angeklagte ver-
urteilt?’
„Selbftverftändlich, bas war nicht anders möglich.‘
„Zwangsarbeit?“
„Lebenslänglich.“
So leiſe, daß der andere ihn kaum verſtand, fuhr er fort:
169
„Iſt die Identität feftgeftellt worden?‘
„Welche Identität? ES war gar nicht von irgendeiner Iden—
tität die Rede. Es war ein ganz einfadher Fall: die Frau hatte
bas Kind getötet, der Kindsmord war bewiefen, aber die Ge-
fhworenen haben die Frage der Vorſätzlichkeit verneint, daher
mußte auf ‚lebenslänglich‘ erfannt werden.‘
„Alſo eine Frau?”
„Natürlich. Die unverebelihte Limofin. Wovon ſprachen
Sie?’
„Bon nichts Beſtimmtem. Aber warum ift der Saal nod)
beleuchtet, wenn alles aus iſt?“
„Das ift ein anderer Prozeß, der vor etwa zwei Stunden
begonnen hat. Ein Fall, der ebenfo Élar liegt. Es handelt fit
um irgendeinen Kerl, einen rücfälligen Verbrecher, der fchon
auf den Galeeren war und etwas geftohlen hat. Ich weiß nicht
einmal feinen Namen. Dem Kerl fieht man übrigens den Ban—
diten an der Mafe an. Für fein Gefiht allein fhon würde ich
ihn auf die Galeeren ſchicken.“
„Meinen Sie, mein Herr, daß man nod in den Saal Fom-
men fann?‘
„Das halte ich für ausgefhloffen. Es find fhon fehr viel
Leute drin. Aber vielleicht find nad dem Verhör einige meg-
gegangen, und Sie Fünnen, wenn die Sikung wieder eröffnet
wird, bineinfommen./
„Wo iſt die Tür?‘
„Die große da..."
Der Anwalt entfernte fih. In wenigen Augenblifen hatte
Madeleine alle möglihen Empfindungen faft gleichzeitig
burgefoftet. Die Worte diefes Unbeteiligten hatten fein Herz
wie eifige Nadeln und glühende Klingen durchbohrt.
Er trat zu einer der Gruppen und horchte. Da der Geribts-
bof eine große Anzahl von Prozeflen zu bewältigen hatte, hatte
der Präfident für heute zwei einfache und Eurze angefest. Mit
der Kindsmörderin war begonnen worden, und jet follte der
rücfälige Sträfling an die Reihe Fommen. Der Mann hatte
170
Äpfel geftoblen, und nicht einmal bas war hinreichend erwiefen;
was aber feftftand war die Tatfache, daß er fbon auf den Ga-
leeren gewefen war. Dadurch verfchlimmerte fi feine Lage.
Übrigens war bas DVerhör und die Vernehmung der Zeugen
bereits vorüber; e8 ftanden nur nod die Plädoyers des Ver—
teidigers und des Staatsanwalts aus; vor Mitternacht würde
man nicht zum Schluß fommen. Ohne Zweifel würde der An-
geflagte verurteilt, denn der Staatsanwalt war ein tüchfiger
Menſch und befam alle feine Opfer zu fallen; ein wißiger
Menſch, der fogar Verſe fehrieb! Ein Gerichtsdiener ftand neben
der Zür zum Gerichtsſaal. Madeleine wandte fib an ibn.
„Bird bald geöffnet?”
„Es wird nicht mehr geöffnet.”
„Wie, es wird nicht geöffnet, wenn die Verhandlung wieder
beginnt?’
„Sie bat fhon begonnen, aber e8 wird nicht mehr geöffnet.”
„Barum ?’
„Der Saal ift ſchon überfüllt.”
„Kein einziger Plat mehr?”
„Dein, es darf niemand mehr eintreten”, und, nad einer
Eleinen Paufe: „Es find vielleicht nod zwei oder drei Plätze
hinter dem Herrn DBorfißenden frei, aber die werden nur an
Beamte vergeben.”
Der Gerichtsdiener Fehrte ihm den Rücken.
Mit gefenftem Haupt entfernte fih Madeleine, durchſchritt
das Vorzimmer, flieg langfam die Treppe hinab. Offenbar über-
legte er. Ein heftiger Kampf, der in ibm feit geftern abend
fobte, war no nicht ausgetragen; jeden Augenblick Fonnte er
neu aufflammen. Als Madeleine am Zreppenabfaß angelangt
war, lehnte er fih an die Rampe und Éreugte die Arme. Plöß-
lich griff er in feine Rocktaſche, 309 ein Portefeuille heraus,
nahm einen Sleiftift, riß ein Blatt aus einem Motisbud und
fhrieb darauf:
„Madeleine, Bürgermeifter von Montreuil fur Mer.’
Dann eilte er die Treppe hinauf, drängte ſich durch die
171
Menge, trat auf den Gerichtsdiener zu und reichte ihm das
Blatt.
‚„Überbringen Sie dies dem Herrn Präfidenten.’
Der Gerichtsdiener nahm das Dlatt, warf einen Blick darauf
und gehordte.
4. Ein Ort,
andemmanfih Überzeugungen bildet
Einige Minuten fpäter ftand Madeleine in einem getäfelten,
von zwei Kerzen auf einem grünüberzogenen Tiſch erleuchteten
Kabinett von ftrengem Ausfehen. Er hatte noch die lesten
Worte des Gerichtsdienerg in den Ohren, der gefagt hatte:
„Dies bier ift das Deratungszimmer. Sie brauchen nur dort
die Tür mit der Kupferflinfe zu öffnen und befinden fih im
Verhandlungsfaal, unmittelbar hinter dem Stuhl des Herrn
Präſidenten.“
Mie dieſen Worten vermiſchte ſich eine vage Erinnerung an
ſchmale Korridore und dunkle Treppen, die er ſoeben durchquert
hatte.
Der Gerichtsdiener hatte ihn allein gelaſſen. Der entſchei—
dende Augenblick war gekommen. Madeleine bemühte ſich, ſeine
Gedanken zu ſammeln, konnte es aber nicht. Wenn es am nötig—
ſten iſt, reißen oft die Fäden, die im Gehirn die Gedanken ver—
binden. Er befand ſich an dem Ort, wo die Richter beraten und
ihr Urteil fällen. Mit ſtumpfer Ruhe ſah er in dieſem fried—
lichen und zugleich ſchrecklichen Zimmer um ſich, in dem ſo viele
Exiſtenzen vernichtet worden waren und in dem auch bald ſein
Name ausgeſprochen werden ſollte. Er ſtarrte die Wand an,
warf einen Blick auf ſich ſelbſt und wunderte ſich, daß er hier
ſtand.
Seit vierundzwanzig Stunden hatte er nichts gegeſſen, und
er war zermürbt von der Fahrt in dem groben Gefährt; aber
er fühlte nichts, empfand nichts.
Er näherte ſich einem ſchwarzen Rahmen, der an der Wand
172
hing und unter Glas einen alten, handfehriftlichen Brief des
Herrn Jean Nicolas Pace, DBürgermeifters von Paris und
Minifters, offenbar irrtümlich datiert vom 9. juni des Jah—
res II, enthielt. In diefem Brief überfandte Pace der Kom-
mune die Lifte der Minifter und Deputierten, die in Haft ge-
halten wurden. Ein Zeuge, der Madeleine in biefem Augenblid
beobachtet hätte, wäre ohne Zweifel zur Anficht gefommen, daß
diefer Brief ihn fehr intereffierte, denn er ließ ihn nicht aus dem
Auge, fondern las ihn wohl zwei- oder dreimal. Und doch begriff
er nichts von feinem Inhalt.
In Gedanken verfunfen, wandte er fih um, und fein Blick
fiel auf die Rupferflinfe der Tür zum Verbandlungsfaal. Er
hatte fie faft vergeflen. Sein Blick blieb an der Klinfe hängen
und wurde ftarr; Beftürzung fpiegelte fih in feinen Mienen.
Schweiß perlte von feiner Stirn und riefelte über feine Schlä-
fen herab.
Mit einer entfchloffenen Gebärde wandte er fi ab; e8 war,
als ob er fagen wollte: Großer Gott, muß ich denn? Er fab
vor fi die Tür, durch die er eingetreten war, ging mit feften
Schritten auf fie zu, öffnete fie und trat hinaus. Schon war er
im Korridor, einem langen, fhmalen Korridor mit Stufen und
Schaltern. Er atmete auf und laufchte. Nichts war zu hören.
Da begann er zu laufen, als ob man ihn verfolgte.
Er bog um mehrere Eden, endlich blieb er wieder ftehen und
taumelte, fo daß er fi) an die Wand lebnen mußte. Der Stein
war Falt, eifig lag der Schweiß auf feiner Stirn. Er fhaubderte.
So verging geraume Zeit. Endlich fenfte er den Kopf, feufzte
qualvoll auf, ließ die Arme berabfallen und ging langſam zurüd.
Es war, als ob jemand ihn eingeholt hätte und zurücführe.
Mieder gelangte er in bas Beratungszimmer. Sein Blick fiel
auf die Klinfe. Sie glißerte wie ein furdtbarer Stern. Er fab
fie an, wie das Schaf in bas Auge des Tigers blick.
Er Éonnte den Blick nicht davon wenden.
Schritt für Schritt näherte er fi der Tür.
Wenn er geborcht hätte, wäre wohl ein undeutlihes Gemurmel
173
aus dem Mebenraum an fein Ohr gebrungen; aber er
horchte nicht.
Saft ohne es felbft zu bemerken, ftand er plôblid vor der Tür
und griff Érampfhaft nach der Klinke. Er öffnete und befand
fi im Verhandlungsſaal.
Mechaniſch ſchloß er die Tür hinter fich, blieb ftehen und hielt
Umſchau.
Er befand ſich in einem geräumigen, ſchlechterleuchteten Saal,
in dem es bald lärmend zuging, bald wieder ſtill war; hier
wickelte ſich ein Kriminalprozeß mit ſeiner ganzen albernen und
düſteren Gewichtigkeit vor den Augen der Menge ab.
Auf der einen Seite des Saales, auf der auch er ſich befand,
ſah er Richter mit zerſtreuten Mienen in abgetragenen Talaren,
die an ihren Nägeln kauten und mit den Augenlidern klappten;
auf der anderen Seite eine Menge in Lumpen; Advofaten in
allen möglichen Haltungen; Juſtizſoldaten mit biederen, harten
Gefihtern; alte, ſchmutzige Täfelung, ein unfauberer Plafond,
Zifehe, die mit vergilbtem, ehemals grünem Serge überzogen
waren, Türen mit fhwarzen Fingerabdrüden. An Nägeln hän-
gende Lampen, die mehr Qualm als Licht verbreiteten; auf den
Zifhen Kerzen in SKupferleuchtern. Finfternis, Häßlichkeit,
Zraurigfeit.
Niemand achtete feiner. Alle Blicke waren auf einen Punft
gerichtet, eine Holzbank, die an eine Eleine Türe gelehnt war,
linfer Hand vom Platz des Präfidenten. Auf diefer Bank faß
ein Mann zwifchen zwei Gendarmen.
Diefer Mann war er.
Madeleine fuchte ihn nicht, er fab ihn fofort. Wie von felbft
richteten fich feine Slide auf ibn, als ob er im voraus gewußt
hätte, wo er war.
Er glaubte ſich felbft zu fehen, gealtert, nicht ganz mit dem-
felben Geſicht, aber dod ähnlich in der Haltung, mit ftruppigen
Haaren, mit diefem wilden, unfteten Blick, in diefer felben gro-
ben Joppe — er, wie er feinerzeit nad Digne gefommen war,
Haß im Herzen, forgfältig diefen furdhtbaren Schak häßlicher
174
ne à SA NS
Gedanken in feiner Seele verbergend, die er in neungehn Jahren
der Kerferhaft gefammelt hatte.
Diefer Menfdh fehien mindefteng fechzig Sabre alt zu fein.
Es war etwas Rohes, Blödes, Verfhredtes in feinem Werfen.
Als die Türe ging, war man zur Seite getreten, um Mabe-
leine Plat zu machen; der Präfident hatte ben Kopf gewandt,
hatte erraten, daß der Eintretende der Bürgermeifter von Mon-
freuil fur Mer fein mußte und hatte gegrüßt. Der Staats—
anwalt, der Madeleine in Montreuil fur Mer kennengelernt
hatte, wohin ibn minifterielle Aufträge geführt hatten, erkannte
ihn und grüßte gleichfalls. Madeleine bemerfte es Faum.
Richter, Schreiber, Gendarmen, eine Menge graufam neu-
gieriger Zufchauer, das hatte er alles fon einmal gefehen, da-
mals, vor fiebenundzwanzig Jahren. Sekt fand er diefe graufigen
Dinge wieder; fie erneuerten fich, fie eriftierten nod immer.
Nicht fein überreizstes Gedächtnis hatte ihm bas vorgefpiegelt,
dies waren wirflihe Gendarmen und wirflihe Micter, eine
wirflihe Menge — Menfhen von Sleifh und Blut. Jetzt er-
wachte die Vergangenheit rings um ibn, Gefpenfter tauchten
wieder auf, die graufigen Erinnerungen feiner Resp Ass
erftanden zu neuer, furchtbarer Wirklichkeit.
Dies alles war ein gähnender Abgrund vor ihm. Er ſchloß
die Augen, etwas in feiner Seele fagte ibm: Mie wieder!
Niemals!
Und burd eine tragifhe Fügung des Schickſals, bas ihn zum
Mahnfinn treiben wollte, war er felbft es, der da vor ihm ftand,
war er es — und biefer Mann, über dem man zu Gericht ſaß,
wurde von allen Sean Valjean genannt.
Alles war wieder auferftanden, diefelbe Mitternachtsftunde,
faft diefelben Gefichter der Nichter, der Vuftisfolbaten und Zu-
fhauer. Mur bing jest über dem Kopf des Präfidenten ein
Kruzifir, das war damals, als er verurteilt worden war, nicht
fo gewefen. Damals hatte man in Abwefenheit Gottes Recht
gefprochen.
Ein Stuhl ftand hinter ibm; er fanf darauf, von dem
175
Gedanken gepeinigt, man Fönne ibn feben. Er verbarg ſich hinter
einem Stayel von Kartons, die auf dem Richtertiſch Tagen.
Sest Eonnte er feben, ohne gefehen zu werden. Allmählich ge-
wann er Saflung. Er erlangte wieder das Gefühl für die Wirf-
lichkeit. Er war ruhig genug, um zuhören zu Eönnen.
Herr Bamatabois befand fit unter den Gefchworenen.
Jetzt fuchte Madeleine Javert, aber er fab ihn nicht, viel-
leicht, weil die Zeugenbanf durch den Tifd des Schreibers ver-
det war. Auch war der Saal, wie wir fon fagten, fpärlich
beleuchtet. Als Madeleine eintrat, hatte der Anwalt fein Plä—
doyer gerade beendet. Jetzt ſchickte fi der Staatsanwalt an, zu
antworten. Es war eine ebenfo energifche wie gezierte Rede,
die er hielt, die übliche NMede eines Staatsanwalts.
Zunächſt beglückwünſchte er den Verteidiger zu der Aufrichtig-
Éeit, mit der er gefproden, und machte fih die Zugeftändniffe,
die er aus der Mede des Advofaten herausgehört, zunuße. Was
der Advokat des Beſchuldigten einbefannt hatte, galt ihm als
Geftändnis des Angeklagten felbft. Diefer Anwalt fhien ein-
räumen zu wollen, daß der Angeklagte Sean Valjean fei. Das
ftellte der Staatsanwalt feft. Diefer Menfh war alfo Sean
Valjean. In diefem Punkte war die Anklage durchgedrungen,
und man brauchte nicht weiter darüber zu fprechen. Jetzt ging
er in einer gefchieften Abſchweifung auf die feelifchen Urfochen
und Quellen der Kriminalität zurüd, fbleuderte den Donner
der Verdammnis gegen die romantifhe Schule der Literatur,
die damals noch jung war und von den Kritikern der ,,Ori-
flamme’ und der ,, Quotidienne!’ als fataniftifche Schule ver-
dammt wurde, wies — nicht ohne alle Wahrfcheinlichkeit —
auf den Einfluß bin, den diefe perverfe Literatur auf Champ—
mathieu ausgeübt haben mußte, oder eigentlih, auf Sean Val-
jean. Nachdem er alles verbraucht hatte, was fit hierüber fagen
läßt, Éebrte er wieder zu Sean Baljean zurüd. Wer war diefer
Sean DBaljean? Ausführlihe Befchreibung des Mannes. Ein
Ungeheuer, ausgefpien... ufw. ufw. Den Urtert aller Be—
fhreibungen diefer Art findet man in dem Monolog des Thera-
176
PS ne u. De TOR Tr
— R
menes, der zwar auf der Bühne nicht viel taugt, aber der judi-
ziellen Beredfamfeit große Dienfte geleiftet hat und nod täg-
lich Teiftet. Sobald biefe Befchreibung beendigt war, rief der
Staatsanwalt in einer oratorifhen Wendung, die ganz darnad
angetan war, in der nächften Nummer des „Journal de Ia Pré-
fecture// rühmend erwähnt zu werden: Und ein folder Menſch
ufw. ufw., Vagabund, Bettler, ohne Eriftenzmittel, ufw. ufw.,
durch fein Vorleben allein fon befähigt zu allen Schandtaten
und durch einen Aufenthalt im Bagno Faum gebeflert, ufw. ufw.,
ein folher Menſch, in flagranti bei einem Diebftahl ertappt,
nur wenige Schritte entfernt von der Mauer, die er überftiegen,
den geftohlenen Gegenftand no in Händen, ein folder Menſch
leugnet fein Vergehen, den Diebftahl, den Einbruch, leugnet
alles, fogar feinen Nomen, ja fogar feine Identität.
„Bon hundert anderen Beweifen ganz zu ſchweigen,“ fuhr er
fort, ‚auf die wir hier nicht zurückkommen wollen, wird er von
vier Zeugen wiedererfannt, von Javert, dem untadeligen Polizei-
infpeftor Yavert, und von drei ehemaligen Genoffen feiner
Schande, den Sträflingen Brevet, Chenildien, Cocepaille.
Mas wagt er biefer niederfehmetternden Einftimmigfeit ent-
gegenzuftellen? Er leugnet! Welche Derftoctheit! Sie werden
Gerechtigkeit üben, meine Herren Gefchiworenen, ufw. ufw. . . .!!
Mährend der Staatsanwalt fprad, horchte der Angeflagte
mit offenem Munde, mit einem Staunen, dag an Bewunderung
ftreifte. Er war offenbar überrafcht, daß man fo ſchön ſprechen
fonnte. Manchmal, an befonders energifchen Stellen der Mede,
wenn die überftrömende DBeredfamfeit wie ein Orkan über den
Angeklagten bereinbrad und Epitheta dur die Luft wirbelte,
fhüttelte er leife den Kopf zum Zeichen feiner traurigen, ftum-
men Beſchwerde. Zwei- oder dreimal hörten die Zufchauer, die
ihm am nächſten faßen, wie er leife fagte: , Das fommt davon,
daß man Herrn Baloup nicht gefragt hat.” Der Staatsanwalt
machte die Gefchworenen auf diefes alberne, offenbar berechnete
Gebaren aufmerffam, das beileibe nicht Dummheit, fondern Ge-
ſchicklichkeit, Schlauheit, Gewandtheit und Betrug bemeife, und
12 Hugo, Die Elenden. 177
wies darauf bin, daß folhes Verhalten die tiefe Verderbtheit
de8 Angeklagten neuerlich ans Tagesliht bringe. Er beantragte
eine ftrenge Beftrafung.
Der Verteidiger erhob fib, begann mit einigen Komplimen-
ten über die bewunderungswürdige DBeredfamfeit des Staats—
anwalts, replizierte, fo gut er Éonnte, gegen einige Argumente,
fand aber Feine ftarfen Worte; offenbar hatte er das Gefühl
eines Mannes, dem der Boden unter den Füßen weggezogen
wird.
5. Alles leugnen
Sest waren die Plädoyers zu Ende. Der Prüfibent ließ den
Angeklagten auffteben und richtete an ihn die üblihe Frage:
„Haben Sie Ihrer Verteidigung etwas hinzuzufügen?’
Der Mann ftand da, drehte fein abjheuliches Hütchen zwi-
fhen den Händen und fchien nichts zu begreifen.
Der Präfident wiederholte feine Frage.
Diesmal verftand ihn der Angeklagte. Er machte eine Be—
wegung, als ob er aus dem Schlaf aufwache, ließ feinen Blick
ringsum fhweifen, fab bas Publifum, die Gendarmen, feinen
Advofaten, die Gefhworenen, den Gerichtshof an, legte feine
ungeheure Fauft auf den Bord der Barriere vor feiner Bank
und begann plößlich, mit einem Blick auf den Staatsanwalt, zu
fprehen. Es war wie der Ausbruch eines Vulfans. So un-
zufommenhängend braden die Worte aus feinem Mund ber-
vor, daß fie ins Gedränge Éamen und alle gleichzeitig über feine
Lippen zu gleiten verfuchten.
„Ich babe folgendes zu fagen”, begann er. „Ich war Zim-
mermann in Paris, nämlich bei Herrn Baloup. Es ift ein harter
Beruf. As Zimmermann arbeitet man immer im Freien, im
Hof, oder bei guten Meiftern in irgendeinem Schuppen, aber
niemals in gefchloffenen Werfftätten, denn diefe Arbeit braucht
Raum, verftehen Sie. Im Winter ift es fo Falt, daß man mit
den Armen um fi fehlagen muß, um ein wenig Wärme zu be-
kommen; aber die Meifter können das nicht leiden, denn fie
178
fogen, es ift verlorene Zeit. Eifen in der Hand zu halten, wenn
das Pflafter friert, ift hart. Das verbraudt einen Menfchen
raſch. In diefem Beruf wird man rafc alt. Mit vierzig ift einer
fertig. Ich babe es bis dreiundfünfzig gebracht, das war eine
große Plage. Und die Arbeiter find auch nicht gut. Wenn einer
nicht mehr ganz jung ift, dann nennen fie ihn alter Ærottel
und alter Efel. Sch babe nur dreißig Sous im Tag befommen,
den Meiftern war es recht, daß fie fit auf mein Alter aus-
reden Eonnten. Und dazu hatte ich noch meine Tochter, die Wä—
fherin. Sie verdiente natürlih aud ein wenig. So zufammen
ging’s gerade. Sie hatte es aud nicht leicht. Den ganzen Tag
mit dem halben Leib im Waſſer, ob es regnet oder fehneit, und
der Wind fährt einem ins Gefibt; fogar wenn e8 friert, immer
dasfelbe, immer wafchen! Manche Leute haben nicht viel Wäſche,
und denen ift es immer befonders eilig! Wäſcht man es nicht
gleich, ift man den Kunden los. Die Bretter find ſchlecht zu-
fammengefügt, überall träufelt es durch. Die ganzen Kleider
werden durch und durch naß. Das geht durd die Haut. Sie hat
aud) bei ben Enfants-Mouges gearbeitet, dort kommt das Waſſer
aus Möhren, man muß nicht felber im Waſſer ftehen. Vor fi
bat man bas fließende Waſſer, hinter fih den Bottih zum Spü—
len. Alles im gefchloffenen Raum — da bat man es nit fo
alt. Aber ein Dampf ift dort, fhrecdlih, und dag geht einem
in die Augen. Um fieben Uhr abends fam fie nach Haufe, und
gleich darauf bufd ins Bett! So mid’ war fie. Ihr Mann
prügelte fie. Sie ift ſchon tot. Wir find nicht befonders glücklich
gewefen. Sie war ein braves Mädel, ging nie auf den Ball,
war immer ruhig. Sch erinnere mich an einen Karnevalgabend,
ba legte fie ſich um act Uhr ins Dett, jamobl. Das ift die
reinfte Wahrheit. Sie brauchen nur zu fragen. Wenden Sie
fit an Herren Baloup. Fragen Sie den. Anfonften weiß id
nicht, was man von mir will.’
Er fhwieg. Seine Nede hatte er laut, rafh, beifer und raub
gehalten mit einer naiven, wilden Gereiztheit. Einmal hatte er
fib unterbrochen, um jemand in der Menge zuzuniden. Die
12* 179
Behauptungen Éamen rudiweife aus ibm heraus, und er befräf-
tigte fie mit Gebärden, als ob er Holz hadte. Als er zunde war,
begannen die Zuhörer fhallend zu lachen. Er fab um fi, und
als er alle lachen fab, begriff er nicht und begann auch zu lachen.
Es war unheimlid.
Der Präfident, ein aufmerffamer und wohlwollender Menſch,
begann zu fprehen. Er brachte den Geſchworenen in Erinnerung,
daß Herr Baloup, der ehemalige Brotherr des Angeklagten —
wenn man ibm glauben dürfe —, daß alfo Herr Baloup ver-
geblich geladen worden fei. Er hatte Bankerott gemacht und
war nicht mehr aufzufinden. Dann wandte fih der Präfident an
den Angeklagten, forderte ihn auf, aufmerffam zuzuhören, und
fagte:
„Sie befinden fid in einer Lage, in der man alles überlegen
muß. Schwerer Verdacht laftet auf Ihnen, das Schlimmfte
ftebt zu befürdten. In Ihrem Intereſſe fordere ih Sie no
einmal auf, erklären Sie fi über diefe zwei Punkte: erftens,
haben Sie, ja oder nein, die Mauer des Gartens des Herrn
Pierron überftiegen, einen Aft abgebrochen und die Apfel ge-
ftohlen, alfo Einbruhsdiebftahl begangen? Zweitens, ja oder
nein, find Sie der entlaffene Galeerenfträfling Sean Valjean?“
Der Angeklagte fchüttelte den Kopf wie einer, der wohl ver-
fteht, was er antworten fol, tat auch den Mund auf, wandte
fid) dem Präfidenten zu und fagte:
„Alſo zunächſt mal...”
Dann ſah er zunächſt ſeinen Hut, dann den Plafond an und
verſank in Schweigen.
„Angeklagter,“ rief der Staatsanwalt ſtreng, „paſſen Sie
auf. Sie antworten auf nichts, was man Sie fragt. Ihre Ver—
wirrung allein verurteilt Sie. Es iſt klar, daß Sie nicht
Champmathieu heißen, ſondern der Galeerenſträfling Sean Val—
jean ſind, der ſich zunächſt unter dem Mamen Jean Mathieu zu
verbergen ſuchte, dem Namen ſeiner Mutter, der dann in der
Auvergne war, ebenſo in Faverolles — und dort Baumſcherer.
Es iſt vollkommen klar, daß Sie bei einem Einbruchsdiebftahl
180
RTE BEST DIT
reife Äpfel aus dem Garten des Herren Pierron geftoblen haben.
Die Herren Gefchworenen werden fih barnad zu richten
wiſſen.“
Der Angeklagte hatte ſich geſetzt. Jetzt aber ſprang er auf
und ſchrie:
„Sie ſind ein ganz ſchlechter Menſch! Das wollte ich ſagen.
Und noch anderes, aber ich fand nicht die Worte. Geſtohlen habe
ich gar nichts. Ich bin einer, der nicht alle Tage ißt. Ich kam
von Ailly, es war nach einem Regen, der Boden war ganz gelb,
und überall ſtand noch Waſſer; gerade daß am Wegrand die
Grashalme hervorſtanden. Ich fand am Boden einen abgebroche—
nen Aſt, auf dem noch Apfel waren, den habe ich aufgehoben,
weil ich nicht dachte, daß man dadurch in Schwierigkeiten kommt.
Jetzt ſitze ich drei Monate im Gefängnis, und man ſpringt mit
mir ſo um! Man ſagt allerlei, verlangt, ich ſoll antworten, der
Gendarm, der ein guter Kerl iſt, ſtößt mich mit dem Ellbogen
an und flüſtert mir zu: So red' doch! Ich weiß aber nicht, wie
ich es ſagen ſoll, ich bin kein Studierter. Das iſt falſch, daß nie—
mand das ſehen will. Geſtohlen habe ich nichts, ich habe etwas
von der Erde aufgehoben, was dort lag. Sie reden von Jean
Valjean und Jean Mathieu. Ich kenne dieſe Leute nicht. Das
ſind Dörfler, ich aber habe bei Herrn Baloup gearbeitet, in der
Spitalſtraße. Ich heiße Champmathieu. Wenn Sie mir ſagen,
wo ich geboren bin, da müſſen Sie recht ſchlau ſein, denn ich
weiß es ſelber nicht. Nicht alle Leute haben Häuſer, worin ſie
zur Welt kommen. Das wäre ja verdammt gemütlich. Ich
glaube, mein Vater und meine Mutter waren Leute, die auf
der Landſtraße lebten. Mehr iſt mir davon nicht bekannt. Als
ich ein Kind war, nannte man mich Kleiner, jetzt werde ich
Alter gerufen. Das ſind meine Taufnamen. Halten Sie es da—
mit, wie Sie wollen. Ich war in der Auvergne, ich war in
Faverolles, aber du lieber Himmel, kann man nicht dort ge—
weſen ſein, ohne ein Sträfling zu ſein? Ich ſage Ihnen, daß ich
nichts geſtohlen habe und daß ich Champmathieu bin. Ich war
bei Herrn Baloup in Dienſt und hatte eine eigene Wohnung.
181
Machen Sie endlib Schluß mit diefem Unfinn. Warum ift
denn alle Welt darauf aus, mir etwas anzutun?‘
Der Staatsanwalt war ftehengeblieben. est wandte er fi
an den Präfidenten:
„Herr Präfident, in Anbetracht der wirren, aber fhlauen
Verſuche des Angeflagten, alles abzuleugnen, in Anbetracht der
Tatſache, daß er für einen Idioten gehalten werden möchte, was
ibm allerdings nicht gelingt: und bas möge er fi gejagt fein
laſſen — ftellen wir den Antrag, der Gerichtshof möchte neuer-
dings die Sträflinge Brevet, Cobepaille und Chenildieu fowie
den Polizeiinfpeftor Javert vorrufen und fie ein letztes Mal
über die Ydentität des Angeklagten mit dem Sträfling Sean
Valjean befragen.’
Auf die Ermiderung des Präfidenten, daß der Inſpektor Ja—
vert fofort nach feiner Dernehmung wieder die Stadt verlaffen
habe, wozu ibm au die Erlaubnis erteilt worden fei, be-
ſchränkte fi) der Staatsanwalt auf den Antrag, die drei Zeugen
Brevet, Chenildieu und Cochepaille noch einmal zu vernehmen.
Der Präfident wies einen Geribisdiener an, und einen
Augenblick ſpäter öffnete fi die Tür des Zeugenzimmers. Der
Gerichtsdiener, von einem Gendarmen begleitet, führte den
Sträfling Brevet herein. Der alte Galeerenfträfling trug die
Ihwarzgraue Yade der Zentralgefängniffe. Er mochte etwa fech-
zig Jahre zählen und fab halb wie ein Kaufmann, halb wie ein
Schuft aus. Es befteht ja zuweilen eine Ähnlichkeit... Nun,
in dem Gefängnis, in bas neue Verfeblungen ihn gebradt hat-
ten, war er faft fo etwas wie ein Schließer geworden. Jeden—
falls war er ein Mann, von dem die Vorgefesten fagen: er fucht
fit nüßlich zu machen. Die Gefängnisgeiftlichen beftätigten, daß
er religiös war. Man darf nicht vergeflen, daß diefe Vorfälle
in der Zeit der Reſtauration fpielen.
„Brevet,“ fagte der Präfident, „Sie haben eine entehrende
Strafe abzubüßen und dürfen daher feinen Eid ablegen.”
Brevet blidte zu Boden.
„Immerhin,“ fuhr der Präfident fort, „kann auch in einem
182
Menfhen, den das Gefek entehrt bat, mit Gottes Einwilligung
ein Gefühl für Recht und Ehre wach bleiben. An diefes Gefühl
appelliere ich in biefer entfcheidenden Stunde. Wenn es, wie ich
hoffe, in Ihnen no lebt, dann überlegen Sie, bevor Sie ant-
worten, und ziehen Sie in Betracht, daß diefes Wort einerfeits
den Mann dort verderben, andererfeits aber die Juſtiz aufklären
fann. Der Augenblick ift feierlich, noch immer haben Sie Zeit,
fi zurückzuziehen, wenn Sie einen Irrtum aud nur für mög-
lich halten. — Angeflagter, ftehen Sie auf! — Brevet, fehen
Sie den Angeklagten an, fammeln Sie Ihr Gedächtnis und
fagen Sie bei Ihrem Gewiffen und dem Heil Ihrer Seele, ob
Sie bei Ihrer Ausfage verharren und diefen Mann als Ihren
alten Kameraden aus dem Bagno, Jean Baljean, erfennen.”
Brevet fab den Angeklagten an, dann wandte er fih dem
Gerichtshof zu.
„Ja, Herr Präfident, ich babe ihn gleich erfannt, und es ift
jest aud nicht anders; biefer Mann ift Jean Valjean. Er Fam
1796 nad Toulon und wurde 1815 entlaffen. Ich wurde im
nächften Jahre freigelaffen. Er fieht jest blöd aus, aber bas ift
eine Folge des Alters; im Bagno war er ein rechf gewißigter
Kerl. Ich erfenne ihn ganz beſtimmt.“
„Segen Sie fi," fagte der Präfident, „Angeklagter, bleiben
Sie ſtehen.“
Jetzt wurde Chenildieu hereingeführt, ein „Lebenslänglicher“,
wie die rote Yade und die grüne Müse erkennen ließen. Er
verbüßte feine Strafe in Toulon, von wo er hierher geholt
worden war. Er war Flein, etwa fünfzig Sabre alt; lebbaff,
fred, hatte fiebrige Augen und viele Falten in feinem gelben
Gefiht. Bei feinen Gefährten im Bagno hieß er Ohnegott.
Der Präfident richtete etwa diefelben Worte an ihn wie an
Brevet. Als er ihn daran erinnerte, daß fein Ehrverluft ibn des
Rechtes beraube, den Zeugeneid zu fchwören, bob Chenildieu
den Kopf und ließ feinen Blick über die Menge hinfchweifen.
Der Präfident forderte ihn auf, fi zu fammeln, und fragte ihn,
ob er den Angeklagten Éenne.
183
Chenildieu lachte laut.
„Ob ich den Eenne! Fünf Sabre lang find wir an berfelben
Kette gebangen! Du nimmft es mir bob nicht übel, Alter?’
„Sesen Sie ſich“, fagte der Präfident.
Sept führte der Gerichtsdiener Cochepaille herein. Auch er
war ein „Lebenslänglicher“ und trug biefelbe Tracht wie Chenil-
dien. Er war ein Dauer aus Lourdes und plump wie ein
Pprenäenbär. Oben in den Bergen war er Hirt gewefen und
fpäter Näuber geworden. Cochepaille war nicht weniger wild als
fein Vorgänger, aber um fo dümmer. Er gehörte zu jenen Un-
glücfliyen, die von der Natur als wilde Tiere gefhaffen und
von der Geſellſchaft als Galeerenfträflinge gehalten werden.
Der Präfident verfuhte aud ihn mit pathetifchen und ernften
Morten zu beeindruden und fragte endlich, ob aud er den An-
geflagten erkenne.
„Das ift Valjean“, fagte Cochepaille.
Jede der drei Ausfagen — fie waren offenbar aufribtig und
guten Glaubens abgegeben — hatte in der Zuhörerfchaft ein
Gemurmel zur Folge, bas dem Angeklagten nichts Gutes weis-
fagte; von Mal zu Mal war diefes Gemurmel ftärfer geworden
und hatte länger gedauert. Der Angeklagte hörte mit erftaunten
Gefiht zu. Mach der erften Ausfage hatten die Gendarmen ihn
murmeln gehört: „Na, das wäre einer.” Mad der zweiten,
etwas lauter und faft befriedigt: „Gut. Mad der dritten hatte
er gerufen: ‚Ausgezeichnet!‘
Der Präfident fragte ihn:
„Angeklagter, Siehaben gehört. Was haben Siedazu zu ſagen?“
„Ich fage — ausgezeichnet!‘
Eine Unruhe ging durd bas Dublifum. Auch die Gefchmwore-
nen Fonnten fi der allgemeinen Erregung nicht entziehen. Der
Mann war verloren.
„Gerichtsdiener!“ rief der Präfident, ‚Schaffen Sie Ruhe.
Sch fchließe die Verhandlung.”
In diefem Augenblick entftand rings um den Präfidenten eine
Bewegung. Man hörte jemand laut rufen:
184
„Drevet, Chenildieu, Cochepaille, febt hierher!’
Alle, die diefe Stimme hörten, glaubten zu Eis zu erftarren,
fo beklagenswert und furchtbar Flang fie. Alle Augen wandten
fit nad der Stelle, von wo fie erflungen war. Da ftand ein
Mann, der unter den bevorzugten Zuhörern Plaß gefunden hatte
und jest langfam vordrang. Der Präfident, der Staatsanwalt,
Herr Bamatabois und zwanzig andere, die ihn erkannten, ſchrien
einftimmig auf:
„Herr Madeleine!’
6. Champmathieu wundert ſich noch mehr
Er war es in der Tat. Die Lampe des Gerichtsſchreibers
warf ihr volles Licht auf ibn. Er hielt feinen Hut in der Hand,
feine Kleider waren in Ordnung, fein Nindingeoat war forg-
fältig zugefnöpft. Er war febr blaß und zitterte leicht. Seine
Haare, die grau geweſen waren, als er nad Arras Fam, waren
jest weiß.
Alle fahen nah ihm. Die Aufregung war unbefchreiblid.
Einen Augenblid lang war etwas wie ein Zögern in der Menge.
Die Stimme hatte fo grell geflungen, der Mann aber fab fo
ruhig aus, daß man zunächft nicht begriff. Man fragte fih, wer
geihrien babe. Man wollte nicht glauben, daß ein Mann, der
fo ruhig ausfab, fo furchtbar auffhreien Fönne.
Aber diefe Unentfchiedbenbeit dauerte nur Sefunden. Bevor
der Präfident oder der Staatsanwalt ein Wort jagen Eonnten,
war der Mann, den jeßt noch alle Herr Madeleine nannten, zu
den Zeugen Cocepaille, Brevet und Chenildieu getreten.
„Erkennt ihr mich nicht?”
Die drei blieben betroffen ftumm und fchüttelten die Köpfe.
Der verfhüchterte Cochepaille grüßte militärifh. Herr Mabde-
leine wandte fi zu den Gefchworenen und zum Gerichtshof und
fagte gelaflen:
„Meine Herren Gefchworenen, laffen Sie den Angeklagten
185
frei. Herr Präfident, laffen Sie mic verhaften. Ich bin der
Mann, den Sie fuben, ih bin Sean Valjean.“
Miemand wagte zu atmen. Der erften Negung des Staunens
war Grabesftille gefolgt. Man fühlte im Saal etwas wie jenen
religiöfen Schauer, den das Große zu erregen vermag.
Sm Gefiht des Präfidenten war nur Sympathie und Trauer
zu erfennen. Er hatte dem Staatsanwalt einen Wink gegeben
und Sprach leife mit feinen Beifißern. Dann wandte er fih an
das Publifum und fragte mit einer Betonung, die von allen
verftanden wurde:
„Iſt vielleicht ein Arzt im Saal?”
„Ich danfe ihnen, fagte Madeleine, ‚aber ich bin nicht
verrückt. Sie follen e8 gleich fehen. Sie waren eben im Begriff
einen großen Irrtum zu begehen. Laſſen Sie diefen Mann frei.
Sch tue meine Pflicht, ich bin der unglückliche Verurteilte. Ich
bin der einzige, der hier Élar fieht, und ich fage Ihnen die Wahr-
heit. Was ich in diefem Augenblick tue, fieht Gott da broben,
und bas genügt. Sie Fünnen mich verhaften, denn id bin ja
bier. ch habe alles getan, was ich fun Fonnte. ch babe mid)
unter einem falfchen Namen verborgen, ich bin reich geworden,
Bürgermeifter . .. wollte wieder zu den anftändigen Leuten ge-
hören. Es fheint, daB das nicht geht. Nun, ich kann Ihnen dag
nicht alles fagen, ich will Ihnen aud nicht mein Leben erzählen,
beizeiten kommt aud bas ans Licht. Ich babe wirflid jenen
Biſchof beftoblen, es ift wahr. Man bat nicht unrecht, wenn man
fagt, daB Jean Valjean ebenfo fchleht wie unglüdlic war.
Vielleicht laſtet nicht alle Schuld auf ihm. Hören Sie mid) an,
meine Herren Nichter! Ein Mann, der fo tief gefunfen ift wie
ih, darf wohl die Vorfebung nicht belehren, ihm fteht es nicht
an, der menſchlichen Gefellfhaft Ratſchläge zu erteilen, aber
feben Sie, die Schande, der id zu entfommen fuchte, ift eine
reht fhädlihe Sade. Die Galecren bringen den Oaleeren-
fträfling hervor. Bedenken Sie das, wenn Sie wollen. Bevor
ih dahin Fam, war ich ein armer Bauer, fehr wenig intelligent,
eine Art Idiot, dort babe ich mich geändert. Ich war blöde, ich
186
wurde fchlecht, aber verzeihen Sie, Sie Fünnen das nicht ver-
ftehen, was ich ba fage. Ich babe nichts hinzuzufügen. Ver—
haften Sie mi. Mein Gott, Herr Staatsanwalt, Sie fagen,
Madeleine ift verrüdt geworden, Sie glauben mir nicht. Das
ift fehr traurig. Derurteilen Sie menigftens diefen Menfchen
hier nicht. Diefe drei erfennen mid nit. Wäre doch Javert
hier, er würde mich erkennen.‘
Seht wandte er fih an die drei Sträflinge.
„Ich erkenne Sie, Brevet, erinnern Sie ſich ...?“ Zögernd
fuhr er fort: „Erinnerſt bu did an die Hofenträger aus Trikot
mit dem Damenbrettmufter, die du im Bagno hatteſt?“
Brevet war verblüfft und fab ihn von Kopf bis zu den
Füßen erfhroden an. Er aber fuhr fort: „Chenildieu, Ohnegott,
du haft auf der rechten Schulter eine Brandwunde, weil du did)
einmal felbft in die Koblenpfanne gelegt haft, um die drei Buch—
ftoben T. F. D. auszubrennen. Sag’, ift das wahr?”
„Allerdings“, erwiderte Cbenildieu.
„Und du, Cochepaille, du haft gleich neben der Schlagader
am linfen Arm in blauen Buchftaben das Datum der Landung
Napoleons in Cannes, den 1. März 1815, eingebrannt. Schieb
deinen Ärmel zurück!’
Cochepaille fhob den Ärmel zurüd, und alle Bliefe richteten
fih auf den nadten Arm. Ein Gendarm näherte eine Lampe,
bas Datum wurde fichtbar.
Test wandte ſich der Unfelige mit einem Lächeln, das alle ins
Herz fbnitt, an die Nichter. Es war ein Lächeln des Triumphes
und der Derzweiflung zugleich:
„Sie feben wohl, id bin Jean Valjean.“
Und jest waren in diefem Saal weder Richter, nod An-
Eläger, not Gendarmen: nur erftaunte Augen und bewegte
Herzen. Keiner gedachte der Molle, die er bier zu fpielen Hatte.
Der Staatsanwalt hatte vergeflen, daß es feine Pflicht war,
Sühne zu heifhen, der Präfident, den Vorſitz zu führen, der
Derteidiger, zu verteidigen. Seltfam, niemand fragte, Feine Be—
hörde griff ein. Alle waren wie betäubt.
187
Miemand Éonnte mehr bezweifeln, daB man Jean DBaljean
vor fit hatte. Plöslih war Licht in biefe ganze Angelegenheit
gefommen, die eben nod im tiefften Dunkel gelegen hatte.
„Ich will die Verhandlung nicht weiter ſtören,“ fagte Sean
Baljean, ‚da niemand mich verhaftet, gehe ich. Sch babe noch
Angelegenheiten zu erledigen. Der Herr Staatsanwalt weiß,
wer ich bin und wo er mich findet; er wird mid verhaften
loffen, wann es ihm beliebt.‘
Er ging auf die Türe zu. Niemand erhob feine Stimme, fein
Arm firedte fi aus, ibn aufzuhalten. Alle wichen zurüd. Lang-
fam fohritt er durch die Menge. Es wurde nie feftgeftellt, wer
ihm die Türe geöffnet bat, aber Tatſache ift, daß die Türe offen
war, als er zu ihr Fam.
Er wandte fih noch einmal um und fagte:
„Sie alle hier, Sie finden wohl, daß ih Mitleid verdiene,
nicht wahr? Mein Gott, wenn ic) mir vorftelle, was id faft
getan hätte, fo erfcheint mir mein jeßiges Leben beneidenswert.“
Er ging hinaus, und die Türe wurde gefhloffen, wie fie ge-
öffnet worden war; feine Stunde verging, da war Cbamp-
mathieu von jeglicher Anklage freigefprodhen; er wurde unver-
züglih in Freiheit gefeßt. Tief erftaunt machte er fi davon,
überzeugt, alle Menfchen wären verridt.
AchtesBuch
Der Gegenitoé
1. Santine glücklich
Der Morgen dämmerte. Fantine hatte eine fchlaflofe Fieber-
nacht verbracht, umgaufelt von befeligenden Bildern; gegen
Morgen fchlief fie ein. Schwefter Simplice, die bei ihr gewacht
hatte, machte fich diefe Gelegenheit zunuße, um ihr einen neuen
Chinarindenaufguß zu bereiten. Die gute Schwefter befand fi)
feit Augenblicfen im Laboratorium des Spitals, über ihre Phi-
olen und Fläſchchen gebeugt, weil fie im ſchwachen Licht der
188
Morgendammerung die Gegenftände nur ſchwer zu unterfheiden
vermochte. Plöslic wandte fie fi um und ftieß einen leifen
Schrei aus. Madeleine ftand vor ihr. Er war ftill eingetreten.
„Sie find es, Herr Bürgermeifter !”
Seife fragte er:
„Wie geht es der armen Frau?‘
„Sicht Ichleht im Augenblick. Aber wir waren nicht wenig
beſorgt.“
Sie erzählte ihm, was vorgefallen war. Die Schweſter wagte
nicht zu fragen, ob er in Montfermeil geweſen ſei, aber ſie ſah
wohl, daß er nicht von dort kam.
„Gut,“ ſagte er, „Sie taten recht, die Arme nicht zu ent-
täuſchen.“
„Ja, aber jetzt, Herr Bürgermeiſter, wenn ſie Sie ſieht, aber
nicht das Kind, was ſollen wir ihr dann ſagen?“
Er blieb einen Augenblick nachdenklich.
„Gott wird uns das Rechte in den Mund legen.“
„Aber wir können doch nicht lügen“, murmelte die Schweſter
leiſe.
Es wurde heller im Zimmer. Das Tageslicht fiel auf Made—
leines Geſicht. Zufällig blickte die Schweſter gerade auf.
„Mein Gott,“ rief ſie, „was iſt Ihnen geſchehen? Ihre
Haare ſind ganz weiß!“
„Weiß?“
Schweſter Simplice beſaß keinen Spiegel. Sie ſuchte im
Gerätekaſten des Arztes und fand darin einen kleinen Spiegel,
deſſen ſich der Arzt bediente, um am Hauch feſtzuſtellen, ob ein
Kranker tot ſei oder noch atme. Madeleine nahm den Spiegel,
ſah ſeine Haare an und ſagte:
„Wahrhaftig ...“
Aber er ſagte es ſo gleichgültig, als ob er an etwas anderes
dächte.
„Kann ich ſie ſehen?“ fragte er dann.
„Wollten Sie lieber nicht erſt das Kind holen laſſen, Herr
Bürgermeiſter?“ fragte die Schweſter.
189
„Doch, aber bas wird zwei bis drei Tage dauern.‘
‚Wenn fie nicht erfährt, daß Sie zurücgefommen find, wird
fie Geduld haben; und wenn das Kind dann Fommt, denft fie
natürlich, daß Herr Bürgermeifter eben mit dem Kind zurüd-
gefommen find. Man braudte alfo nicht zu lügen.‘
Madeleine dachte einen Augenblif nad, dann fagte er mit
rubigem Ernft:
„Dein, Schwefter, id muß fie feben. Vielleicht eilt e8 ſehr.“
Die Nonne fhien diefes Wort vielleicht nicht zu beachten, das
der ganzen Erflärung des Bürgermeifters einen feltfom dunklen
Sinn gab. Sie fagte:
„Sie Ihläft. Sie können eintreten, Herr Bürgermeiſter.“
Er trat in Fantines Zimmer und fehlug den Vorhang ihres
Bettes zurück. Einen Augenblif ftand er reglos vor dem Bett
und betrachtete abmwechfelnd die Kranfe und bas Kruzifir. Es
war wie damals, vor zwei Monaten, als er fie bas erftemal im
Spital beſucht hatte: fie fehlief, er betete. Nur war ihr Haar
grau, feines weiß geworden.
Plötzlich ſchlug Fontine die Augen auf und fragte mit einem
friedlichen Lächeln:
„Und Coſette?“
Das war nicht überraſchend, nicht eine Regung der Freude:
es war die Freude ſelbſt. Dieſe einfache Frage „und Coſette?“
war mit fo tiefer Überzeugung, fo fiber im Glauben vorgetragen,
daß er Feine Antwort fand.
„Ich wußte bob, daß Sie hier waren”, fuhr fie fort. „Ich
babe gefchlafen, aber ich babe Sie dot gefeben. Schon lange
febe id Sie. Während der ganzen Nacht bin id Ihnen mit
meinen Augen gefolgt. Aber fagen Sie mir doch, wo ift Cofette?
Warum haben Sie fie mir nit aufs Bett gelegt, damit ich fie
gleich fehe, wenn ih aufwache?“
Glücdlihermeife trat in diefem Augenbli der Arzt ein. Er
fam Herrn Madeleine zu Hilfe.
„Mein Kind, fagte der Arzt, „beruhigen Sie fib. ihre
Kleine ift da.”
190
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Santines Augen leuchteten auf und ein Elares Licht ver-
breitete fi über ihr ganzes Gefiht. Sie faltete die Hände mit
einem Ausdruck, der alles in ſich fchloß, was ein Gebet an fanfter
Ergebung und dringendem Verlangen auszudrüden vermag.
„Oh,“ vief fie, „bringen Sie fie mir!’
Rührende Illuſion einer Mutter. Cofette war für fie nod
immer bas Fleine Kind, das man bringt.
„Noch nicht,” fagte der Arzt, ,nidt in diefem Augenblid.
Sie haben nod immer Fieber. Der Anblick des Kindes würde
Sie erregen und Ihnen fhaden. Sie müſſen zuerft gefund
werden.‘
„Aber ich bin doch gefund!’ rief fie heftig, ‚‚ift bas doch ein
Efel, diefer Arzt! Sch will mein Kind ſehen!“
„Sie ſehen,“ fagte der Arzt, ‚wie fie fit bereits aufregt.
Solange Sie fi) in diefem Zuſtand befinden, werde id nicht
erlauben, daß man Ihnen das Kind bringt. Es handelt fi) nicht
darum, daß Sie das Kind fehen — Sie follen für das Kind
leben. Sobald Sie vernünftig find, werde ich es felbft hierher
bringen.”
Sie ließ den Kopf hängen.
„Derzeihen Sie, Herr Doktor, wirklich, ich bitte Sie um
Verzeihung. Früher hätte ich nicht fo geſprochen, wie ich es
jeßt getan babe, aber mir ift fo viel Unglück zugeftoßen, daß ich
mandımal gar nicht mehr weiß, was ich rede. Ich begreife, daß
Sie die Aufregung fürchten, und ich werde warten, folange Sie
es wünſchen.“
Madeleine hatte fih auf einem Stuhl neben dem Bett nie-
dergelaffen. Sie wandte fih nad ibm um; offenbar foftete es
fie große Mühe, ruhig und gefaßt zu erfcheinen. Wenn man fie
fo friedlich fähe, date fie, würde man ihr ohne Schwierigfeit
Cofette zuführen. Doch Eonnte fie fih nicht enthalten, taufend
Tragen an Madeleine zu richten.
„Haben Sie denn eine gute Neife gehabt, Herr DBürger-
meifter? D wie gütig find Sie, daß Sie fie felbft geholt haben.
Sagen Sie mir nur, wie fie ausfiebt. Hat fie die Meife gut
191
ausgebalten? Ach, fie wird mich ja gar nicht erÉennen. Während
all der langen Zeit hat fie mich beftimmt vergeflen. Diefe Kin-
der haben ja Fein Gedächtnis. Wie gern möchte ich fie feben.
Herr Bürgermeifter, finden Sie fie ſchön? ft fie nicht hübſch,
meine Kleine? Gewiß haben Sie febr in der Poft gefroren!
Könnte man fie nicht auf einen Eleinen Augenblick berbringen?
Do, man Eönnte fie ja gleich wieder forttragen. Sie find doc
bier der Herr, wenn Sie nur wollen. . .”
Er nahm ihre Hand.
„Sofette ift bübfh, es geht ihr gut, Sie werden fie bald
fehen. Aber jest find Sie ruhig. Sie ſprechen zu lebhaft, und
Sie ftrefen die Arme aus dem Bett. Sie werden wieder
buften müſſen.“
In der Tat unterbradhen Huftenanfälle Santine faft bei jedem
Wort.
Santine murrte nicht, denn fie fürchtete, durch ihre allzu
leidenfchaftlihen Worte das Vertrauen in ihre Selbftbeherr-
ſchung erfhüttert zu haben. Darum begann fie von gleichgül-
tigen Dingen zu fprechen.
„Ein recht bübiher Ort, Montfermeil, nicht wahr? Im
Sommer maht man fogar Landpartien dahin. Machen diefe
Ihenardiers denn anftändige Gefhäfte? Diel Leute kommen
dort nit hin. Es ift ja auch eine recht ſchlechte Budike, ihre
Wirtſchaft.“
Madeleine hielt noch immer ihre Hand. Offenbar war er zu
ihr gefommen, um ihr Dinge zu fagen, vor denen er jet zurüd-
ſchreckte. Der Arzt hatte feine Vifite beendigt und fich zurück—
gezogen. Mur Schwefter Simplice war noch zugegen.
Piôblih, inmitten des Schweigens, fbrie Fantine auf:
„Ich höre fie! Mein Gott, id höre fie!‘
Unten im Hof fpielte ein Kind, die Tochter der Portierfrau
oder irgendeiner Arbeiterin. Die Kleine lief bin und her, lachte
und fang.
„Oh, es ift Cofette! Sch erkenne ihre Stimme.’
Das Kind lief wieder weg mie es gekommen war, die Stimme
192
verballte. Fantine laufchte nod eine Zeitlang, dann wurde ihr
Gefiht düfter, und Mabeleine hörte fie flüftern:
„Wie ſchlecht von dem Arzt, daß er mein Kind nicht zu mir
läßt! Er ift nicht gut, diefer Menſch.“
Indeſſen wurde fie bald wieder heiter. Sie preßte den Kopf
an das Kiffen und begann mit fi felbft zu ſprechen.
„Ganz glüdlih werden wir fein. Und fogar einen Eleinen
Garten werden wir haben. Herr Madeleine hat es mir ver,
proben. Meine Kleine Éann dann im Garten fpielen.”
Sie lade.
Madeleine hatte Fantines Hand losgelaffen, er lauſchte ihren
Morten, wie man dem Winde laufht, die Augen zu Boden ge
richtet, in abgründige Gedanfen verfunfen. Plötzlich hörte fie
auf zu fprehen. Er blidte auf. Fantine {bien entfeßt zu fein.
Sie fagte nichts, fie atmete Faum mehr; fie hatte fit halb auf:
gerichtet, ihre magere Schulter hatte bas Hemd zurückgeſchoben;
ihr Gefiht, eben noch ftrahlend, war totenfahl, und ihr ftarrer
Blick ſchien auf irgend etwas Furchtbares gerichtet.
„Mein Gott, rief er, „was haben Sie, Fantine?“
Sie antwortete nicht, ließ den Gegenftand nicht aus dem
Auge, den fie zu feben fbien und berührte nur mit der Hand
feinen Arm, während fie mit der andern in den Hintergrund
deutete. Er wandte fih um und fab Yavert.
2, Die Obriäkers fritt in thre Nee
Santine hatte Vavert feit dem Tage, da der DBürgermeifter
fie aus den Händen jenes Mannes geriffen hatte, nicht mehr
gefeben. Ihr krankes Gehirn Éonnte fi Feine Rechenſchaft ab-
legen, aber fie ahnte, daß er fie holen komme. Sie Éonnte diefes
fhredlihe Antlig nicht ertragen, fie verbarg ihr Gefibt in
beiden Händen und fhrie angftvoll:
„Herr Madeleine, retten Sie mid!”
Sean Baljean — wir wollen ihn nunmehr fo nennen — war
aufgeftanden. Sanft und ruhig fagte er zu Fantine:
13 Hugo, Die Elenden. 193
„Seien Sie rubig, Kind. Er fommt nidt um Ihretwillen.“
Dann wandte er fid zu Javert und fagte:
„Ich weiß, was Sie wollen.”
„Los, raſch!“ befahl Javert. Etwas Wildes, Frenetifches war
in dem Ton feiner Worte. Er tat nicht, wie gewöhnlich, äußerte
fi nicht, wies Feinen Haftbefehl vor. Für ihn war Sean Val-
jean ein geheimnisvoller, unfaßbarer Feind, ein Kämpfer im
Dunkel, mit dem er feit fünf Jahren gerungen hatte, ohne ihn
bezwingen zu können. Diefe Verhaftung war nicht ein Anfang,
fondern ein Schluß. Darum befhränfte er fih darauf, zu fagen:
„208, raſch!“
Dabei trat er nicht vor; er warf Sean Daljean nur diefen
fofzinierenden, tierifchen Sid zu, mit dem er feine Opfer an
fi zu ziehen pflegte. Es war der ‘Blick, ben Fantine eben erft
bis in ihr Mark dringen gefühlt hatte.
Auf Javerts Ruf hatte Fantine die Augen wieder geöffnet.
Aber der Herr DBürgermeifter war doch da. Was hatte fie zu
befürdten?
Javert trat in die Mitte des Zimmers und rief:
‚Stun, kommſt du bald?’
Die Unglüdlihe blickte um fih. Es war nur die Nonne und
der Herr Bürgermeifter im Zimmer. Wen Eonnte das rohe „du“
gelten? Mur ihr. Sie fchauerte. Und jekt fab fie etwas Un-
erhörtes, etwas fo Unerhörtes, daß ihr felbft in ihren ſchwär—
seften Fieberträumen nichts Ähnliches erfhienen war. Sie fab,
wie der Spißel Vavert den Herrn DBürgermeifter am Kragen
faBte; fab, wie der Herr Bürgermeifter den Kopf beugte. hr
war, als ginge die Welt unter.
Wirklich hatte Vavert Jean Valjean am Kragen gepadt.
„Here Bürgermeiſter!“ fchrie Fantine.
Javert lachte laut auf — fein widerwärtiges Lachen entblößte
alle Zähne. |
„Hier ift Fein Bürgermeifter mehr!’
Sean Daljean fuchte die Hand nicht abzuwehren, die den
Kragen feines Ridingeontg fefthielt. Er fagte:
19
Javert
„Du haſt Herr Inſpektor zu mir zu ſagen!“
„Mein Herr, ich möchte mit Ihnen ein Wort unter vier
Augen ſprechen.“
„Laut! Sprich laut! Mit mir ſpricht man laut.“
Jean Valjean fuhr leiſe fort:
„Ich muß Sie etwas bitten.“
„Ich ſage dir, du ſollſt laut ſprechen.“
‚Aber bas ſollen nur Sie allein hören ...“
„Was liegt mir daran? Ich höre nicht auf dich.“
Jean Valjean wandte ſich nach ihm um und ſagte raſch und
ganz leiſe:
„Geben Sie mir drei Tage! Ich will nur das Kind dieſer
armen Frau hier holen. Ich werde alles bezahlen. Sie können
mich begleiten, wenn Sie wollen.“
„Du willſt dich wohl über mich luſtig machen!“ ſchrie Javert.
„Na, für ſo blöd hätte ich dich nicht gehalten. Drei Tage willſt
du, damit du auskneifen kannſt? Und um das Kind dieſer Perſon
da zu holen! Ausgezeichnet! Ein guter Witz!“
Fantine zitterte.
„Mein Kind!“ rief ſie, „mein Kind holen? Alſo iſt es noch
nicht hier? Schweſter, ſagen Sie mir, wo iſt Coſette? Ich will
mein Kind. Herr Madeleine! Herr Bürgermeiſter!“
Javert ſtampfte mit dem Fuß.
„Jetzt reißt die auch noch das Maul auf, die! Schweig du,
Weibsſtück! Ein Schweineland das, in dem die Galeerenſträf—
linge Beamte ſind und die Dirnen gepflegt werden wie Grä—
finnen! Aber das wird ja jetzt anders. Es war auch ſchon die
höchſte Zeit.“
Er ſah Fantine ſcharf an und rief:
„Daß du es nur weißt, von einem Herrn Madeleine iſt hier
nicht die Rede, und von einem Herrn Bürgermeiſter ſchon gar
nicht. Der da ſteht iſt nur ein Dieb, ein Bandit und Bagno—
ſträfling namens Jean Valjean. Und den habe ich am Kragen.
Das iſt alles.“
ni 195
Santine richtete fi im Bett auf, fab Jean Valjean on,
dann Javert, dann die Monne; fie tat den Mund auf, als ob
fie fprechen wollte, ein Röcheln Löfte fi aus ihrer Kehle, ihre
Zähne ſchlugen aufeinander, fie griff mit krampfhaft geöffneten
Händen um fih wie ein Ertrinfender und fiel dann auf das
Kiffen zurüd. Ihr Kopf ftieß gegen die Bettkante und fanf auf
die Bruft herab; der Mund ftand offen, die Augen waren leer
und erlofehen. Sie war tot.
Sean Valjean legte feine Hand auf Javerts Hand, preßte fie
auf wie die eines Kindes und fagte zu Javert:
„Sie haben diefe Frau getötet.’
„Schluß! fbrie Javert wütend. „Wir find nicht hier, um
uns zu unterhalten. Das Éônnen wir uns erfparen. Die Wache
wartet unten. Log, oder ich laffe dir Daumfchrauben anlegen!’
In einer Ede des Zimmers ftand ein altes Eifenbett, bas
in ziemlich elendem Zuftand war und den Schweftern des Nachts
als Mubeftätte diente. Sean Daljean trat an diefes Bett, brach
im nächften Augenblick die Kante, die bereits Ioder war, ab —.
was feinen Musfeln nicht fehwerfiel — , erhob diefe Waffe und
bliefte Yavert an. Der Inſpektor 309 fih zur Türe zurüd.
Mit feiner Eifenftange in der Fauft, trat Sean Valjean
langfam an Santines Bett. Dort angefommen, wandte er fi
um und fagte mit faum hörbarer Stimme:
„Ich empfehle Ybnen nicht, mich jest zu ſtören.“
Sicher ift nur, daß Vavert zitterte.
Ihm fiel ein, er Fönnte die Wache rufen, aber da mußte er
befürchten, jean Valjean könne die Gelegenheit benüßen und
enfipringen. Er blieb alfo fteben, hielt feinen Stod feft in der
Hand und lebnte fit an den Türpfoften, ohne Sean Valjean
aus den Augen zu laffen.
Der ftüste feinen Ellbogen auf den Bettrand, feine Stirn in
feine Hand; fo betrachtete er Fantine. Stumm, feinen Ge-
danken hingegeben, vermeilte er fo. In feinen Mienen war nur
ein unausfpreblihes Mitleid zu Iefen. Endlich beugte er fic
über Santine und fprad leife zu ihr.
196
Mas er fagte? Was Fonnte der unglüdlihe Mann der toten
Frau fagen? Miemand hat feine Worte vernommen. Oder die
Tote? Es gibt rührende Ylufionen, die vielleicht höchſte Wirk-
lichkeiten find. Außer Zweifel ift nur, daß Schwefter Simplice,
die einzige Zeugin biefes Vorgangs, oft erzählte, in biefem
Augenbli, als Sean Daljean fih zu dem Ohr der toten Fan-
tine neigte, fei ein Lächeln über ihre blaffen Lippen gehufcht.
Sean Valjean nahm Fantines Kopf in feine Hände und legte
ihn forgfam, wie eine Mutter ihr Kind, zurecht; er ſchob ihre
Haare unter der Haube surebt und Enüpfte bag Band ibres
Hemdes zu. Dann fblof er ihre Augen.
Santines Antlig fhien in dieſem Augenblick von einem felt-
famen Licht überftrahlt. Der Tod ift der Eintritt in bas große
Meid des Glanzes. Ihre Hand hing aus dem Bett. Sean Val—⸗
jean Éniete nieder und drüdte einen Kuß auf fie. Dann wandte
er fih um und fagte zu Javert:
„Jetzt ftehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.”
3. Ein anftändiges Grab
Javert lieferte Sean Daljean ins Stadtgefängnig ein.
Die Verhaftung des Herrn Madeleine war für Montreuil
fur Mer eine Senfation, ein außerordentlihes Ereignis. Wir
müffen leider einbefennen, daB das einzige Wort ,,Galeeren-
fträfling” genügte, um alle Welt ihm abfpenftig zu machen. In
faum zwei Stunden war alles Gute vergeflen, was er getan
hatte, und er war eben nur ein Zuchthäusler. Um der Gerebtig-
feit willen müffen wir feftftellen, daß nod niemand wußte, was
fit in Arras abgefpielt hatte.
Einen ganzen Tag lang wurden Gefpräche wie etwa die fol-
genden geführt.
Miffen Sie fhon, ein entlaffener Sträfling! Wer? Der Bür-
germeifter. Herr Madeleine? Allerdings. Nicht möglich? Er hieß
gar nicht Madeleine, er hat irgendeinen gemeinen Namen, Vé-
jean, Bojean, Boujean oder fo ähnlich. Großer Gott! Nun, er
197
ift verhaftet. Berbaftet?! Im Stadtgefängnis. Man wird ibn
bald abholen. Wohin denn? Er kommt wegen Straßenraubs
vor die Affifen. Nun, bas dachte ih mir immer. Diefer Menfch
war zu gut, zu vollfommen, zu tadellos. Das Kreuz lehnt er ab,
verteilt überall Almofen. Ich dachte mir’s doch immer, daß da
etwas dahinterftect!
Zumal in den Salons wurde fo gefprochen. Eine alte Dame,
eine Abonnentin des „Drapeau blanc’, äußerte folgende Bemer-
fung, deren ganze Tiefe nicht abzuſchätzen tft:
„Dos ift mir ganz lieb. Es mag für diefe Bonapartiften eine
Lehre fein!”
So verfhwand das Phantom, das fi Madeleine genannt
hatte, aus Montreuil fur Mer. Nur drei oder vier Leute in der
Hanzen Stadt bewahrten ibm ein treues Andenken. Zu diefen
zählte die alte Portiersfrau, die ihm gedient hatte.
Am Abend desfelben Tages faß diefe wadere Alte in ihrer
Loge, noch ganz beftürzt und traurigen Gedanken nahhängend.
Die Fabrif war den ganzen Tag über gefbloffen gewefen, das
Haupttor verriegelt, die Straße leer. Im Haufe waren nur noch
die beiden Nonnen, Perpetun und Simplicia, die bei der toten
Santine wachten.
Zur Stunde, da Herr Madeleine nah Haufe zu kommen
pflegte, ftand die brave Portiersfrau mechaniſch auf, nahm den
Schlüffel zu feinem Zimmer aus einer Tode und ftellte den
Leuchter bereit, als ob fie ihn erwarte. Dann feßte fie fich wieder
und verfanf in Nachdenken. Sie hatte alles bas ganz unbewußt
getan.
Erft zwei Stunden fpäter ermachte fie aus ihrem Sinnen.
Mein Gott, dachte fie, wie kommt es nur, daß ich den Schlüffel
bereitgelegt babe?
In diefem Augenblick wurde das Glasfenfter aufgedrückt, eine
Hand griff herein, nahm den Schlüffel und den Leuchter und
entzündete die Kerze an dem Licht in der Loge.
Die Portiersfrau unterdrüdte einen Schrei.
Sie Fannte biefe Hand, diefen Arm, diefen Rockärmel. Es
198
war Madeleine. Sefunden vergingen, bevor fie fpreden Eonnte,
denn fie war, wie fie fpäter felbft erzählte, ganz außer fic.
„Mein Gott, Herr Bürgermeiſter,“ fagte fie endlich, ‚ich
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Sie hielt inne, denn das Ende des Satzes, der fo refpeftvoll
begonnen wurde, wäre peinlich gemwefen. Sean Valjean war für
fie no immer der Bürgermeifter.
Er beendete ihren Gedanfen.
„Sie dachten, id wäre im Gefängnis. Ich war es. Sch babe
199
bas Fenftergitter ausgebroden und bin vom Dad berabgejprun-
gen. So, jest bin ich da. Ich gehe in mein Zimmer. Holen Sie
mir Schwefter Simplice, fie ift gewiß noch bei der Teiche diefer
armen Frau.‘
Eilig gehorchte die Alte.
Er gab ihr Feine weitere Anweifung. Er wußte gewiß, daß fie
beffer auf ihn achten würde als er felbft.
Er ftieg inzwifchen die Treppe hinauf, die in fein Zimmer
führte. Oben angelangt, ließ er feinen Leuchter auf der höchſten
Stufe fteben, öffnete geräufchlog die Tür und trat ein. Taſtend
ſchloß er die Fenfterläden, dann holte er feinen Leudter. Dieſe Vor—
fiht war nötig, denn fein Senfter war von der Straße aus zufehen.
Es wurde an die Tür geflopft.
„Herein!“ rief er.
Es war Schwefter Simplice. Sie war bleih, hatte gerötete
Augen, und die Kerze in ihrer Hand zitterte. Die Erfchütte-
rungen des Tages hatten diefe Nonne wieder zur Grau gemacht.
Sean Valjean fchrieb einige Zeilen auf ein Stüd Papier und
reichte es der Monne: „Schwefter, überbringen Sie dies dem
Herrn Pfarrer.”
Das Blatt war nicht zufammengefaltet. Sie warf einen
Bli darauf.
„Sie können eg leſen“, fagte er.
Und fie [as folgendes:
„Ich bitte den Herrn Pfarrer, über alles, was ich hier zurüd-
laffe, zu wachen. Es mögen aus dem Ertrag des Verkaufs die
Koften meines Prozeſſes und die Beerdigung der Frau be-
ftritten werden, die heute geftorben ift. Der Reſt fomme den
Armen zu.”
Die Schwefter wollte fprechen, aber fie Fonnte nur einige un-
artifulierte Saute bervorbringen. Endlich fagte fie:
„Wünſchen der Herr Bürgermeifter noch einmal biefe arme
Tote zu ſehen?“
„Dein, id werde verfolgt, man könnte mich dort verbaften.
Es würde ihre Ruhe ftören.”
200
Kaum hatte er gefprochen, als ein lautes Geräufch auf der
Treppe hörbar wurde. Von unten erfcholl die Stimme der Por-
tiersfran, die gellend rief:
„Suter Herr, ih ſchwöre Ihnen bei Gott, daB den ganzen
Tag und Abend über niemand hierhergefommen ift! Ich habe die
Türe nicht aus dem Auge gelaſſen.“
„Es ift aber Licht im Zimmer‘, antwortete eine Männer-
ftimme.
Es war die Stimme Javerts. |
Die Tür wor fo im Zimmer angebracht, daß fie, geöffnet, die
rechte Ede verdedte. Sean Valjean trat in diefe Ecke. Schwefter
Simplice Éniete an dem Tiſch nieder.
Die Tür wurde aufgeriflen, Vavert trat ein. Man hörte das
Flüftern von Männern und die heftige Einrede der Portiersfrau
im Korridor. Die Monne blickte nicht auf. Sie betete.
Javert fab die Schwefter und blieb betroffen fteben. Man er-
innert fib, daß fein tieffter Wefenszug, bas Element, in dem er
atmete, die Verehrung jeglicher Autorität war. Und die Autori-
tät der Kirche war für ihn die höchſte; er war religiös — ober-
flächlich, aber Eorreft, hierin wie in allen anderen Punkten. In
feinen Augen war ein Priefter ein Geift, der nicht irren Fonnte,
eine Tonne ein Gefchöpf, das der Sünde unfähig if.
As er die Schwefter gewahrte, war feine erfte Negung, fi
zurüdzuziehen. Aber fein Pflichtgefühl wurde wach, trieb ihn
gebieterifch nach der anderen Richtung. Wenigftens eine Frage
wollte er wagen.
Das war jene Schwefter Simplice, die nie in ihrem Leben
gelogen hatte. Javert wußte es und zollte diefer Tugend feine
befondere Verehrung.
„Schweſter,“ fagte er, „find Sie allein?’
Es war ein fchredlicher Augenblid. Die arme Portiersfrau
glaubte ohnmächtig zu werden.
Die Schwefter blidte auf und antwortete:
„Ja.“
„Verzeihen Sie, Schweſter, wenn ich weiterfrage. Ich tue
201
nur meine Pflicht. Haben Sie heute abend nicht einen Mann
hier gefeben, einen Entfprungenen, den wir fuchen, einen ge-
wiffen Sean Valjean?“
‚Stein‘, antwortete die Schwefter.
Sie Iog. Sie Iog zweimal, Schlag auf Schlag, ohne zu
zögern.
„Verzeihung“, fagte Javert und 309 fi mit einer tiefen
Verneigung zurüd.
Eine Stunde fpäter wanderte ein Mann mit rafhen
202
Schritten durch die Nacht, von Montreuil fur Mer nad Paris;
es war jean Valjean. Mad der Zeugenausfage von zwei oder
drei Subrleuten, die ibm begegnet waren, trug er ein Felleifen
und war mit einem Kittel bekleidet. Woher er ihn hatte? Man
bat es nie erfahren.
Und no ein Wort über Santine.
Der Pfarrer glaubte richtig zu handeln (und vielleicht fat er
es auch), indem er von Jean Valjeans Nachlaß foviel wie mög-
li für die Armen ficherte. Un alles in allem, worum ging es?
Ein Zudthäusler, eine öffentlibe Dirne...
Darum vereinfachte er die Deerdigung Fantines, befhränfte
fie auf das unvermeidlih Notwendigſte und beftimmte ihr einen
Pas im Maffengrab.
Santine wurde alfo in einem Winfel des Friedhofs, für den
feine Pacht verlangt wird, der allen und niemand gehört, be-
graben. Glücdlicherweife weiß Gott, wo er feine Seelen zu
finden bat.
203
ECofette
Erstes Buch
Der Kreuzer „Orion“
1. Nr.2460 1wır8 Nr.9430
Sean Daljean war wieder gefangen worden.
Man wird uns Dank wiffen, wenn wir die peinlichen Einzel-
heiten biefes Vorfalls nur flüchtig ftreifen. Darum befhränfen
wir ung darauf, zwei Zeitungsnotizen wiederzugeben.
Sie find ein wenig fummarifc gehalten. Aber man möge be-
denfen, daB es damals not feine ,, Gazette des Tribunaur‘’ gab.
Die erfte Notiz entnehmen wir dem ,, Drapeau blanc, Sie
ift datiert vom 25. Juli 1823.
„Ein Arrondiffement des Pas-de-Calais wurde foeben Schau-
plaß eines ungemôbnlihen Borfalls. Ein im Departement Un-
befannter, ein gewifler Madeleine, hatte im Laufe der Testen
Jahre vermittels eines neuen Verfahrens eine alte Lofal-
induftrie, die Fabrikation von Jett und ſchwarzem Glas, be-
deutend gehoben. Damit hatte er feinen und, wir müſſen es offen
zugeben, des Arrondiffements Wohlftend begründet. In An-
erfennung feiner Derdienfte war er zum Bürgermeifter ernannt
worden. Die Polizei bat feftgeftellt, daB diefer Madeleine ein
alter Galeerenfträfling ift, ein gewifler Sean Valjean, der 1796
wegen Diebftahls verurteilt wurde. jean Valjean ift wieder
dem Bagno zugeführt worden. Vor feiner Verhaftung fcheint es
ihm gelungen zu fein, einen Betrag von über einer halben
Million, ben er bei Laffitte deponiert hatte, abzuheben, Geld,
bas er allem Anfchein nad) durchaus ehrlich erworben hatte. Es
war nicht zu ermitteln, wo Sean Daljean diefe Summe ver-
borgen hat, bevor er wieder nad Toulon gebracht wurde.”
205
Der zweite Artikel, etwas ausführlicher, erfchien unter dem
gleihen Datum im Journal de Paris‘.
„Ein entlaffener Sagnofträfling, ein gewifler Sean Valjean,
erfien unlängft vor den Affifen von Var unter Umftänden, die
geeignet waren, die allgemeine Aufmerkffamfeit zu erregen. Es
war diefem Derbrecher gelungen, die Wachſamkeit der Polizei
zu täufchen. Er hatte feinen Nomen gewechſelt und war fchließ-
lib fogar zum DBürgermeifter einer Kleinftadt im Norden er-
nannt worden. Dort hatte er ein recht einträgliches Gefchäft ge-
gründet. Seine Entlarvung und Verhaftung ift dem unermüd-
lichen Eifer des Minifteriums zu danken. Zur Konfubine hatte
er eine öffentlihe Dirne, die bei feiner Feftnahme vor Schred
ftorb. Der Verbrecher, der mit herfulifhen Kräften ausgeftattet
ift, fand ein Mittel zu entfpringen; aber fon drei oder vier
Zage fpäter Eonnte ibn die Polizei wieder aufbringen, eben als
er in Paris in die Poftkutfche ftieg, die den Verkehr der Haupt-
ftadt mit Montfermeil (Seine-et-Dife) vermittelt. Man fagt,
daß er fich diefe drei oder vier Tage der Sreiheit zunuße gemacht
bat, um wieder in den Beſitz einer beträchtlichen Summe zu ge-
langen, die er bei einem unferer größten Bankiers hinterlegt
hatte. Diefe Summe wird mit feche- oder fiebenhunderttaufend
Sranfen angegeben. Mad dem Anflagenft fol er das Geld an
einem nur ibm befannten Ort verborgen haben; in der Tat bat
man es nicht wieder auffinden können. Jedenfalls ift der befagte
Sean Valjean den Affifen des Departements Dar vorgeführt
worden. Der Bandit verzichtete darauf, fid zu verteidigen. Das
Gericht Fonnte den Beweis erbringen, daß er feine Näubereien
in Gemeinfhaft mit andern vollbradht bat und Mitglied einer
Mäuberbande im Süden war. Demgemäß ift Sean Valjean,
fchuldig befunden, zum Tode verurteilt worden. Der Verbrecher
bat darauf verzichtet, die Michtigkeitsbefchwerde zu erheben.
Seine Mojeftät haben in ihrer unerfhôpfliben Güte gerubt,
diefe Strafe in lebenslänglihen Dienft auf den Galeeren umzu-
wandeln. Sean Valjean ift unverzüglich dem Bagno zu Toulon
zugeführt worden.”
206
Unfere Lefer haben nicht vergeffen, daß Jean Valjean in
Montreuil fur Mer zu den Kirchenbefuchern gezählt hatte. Nur
fo ift es zu erflären, daß einige Journale, unter anderem der
„Sonftitutionnel”, diefe Strafummwandlung für einen Triumph
der kirchlichen Partei erflärte.
Sean Valjean befam eine neue Nummer. Er hieß jest im
Bagno 9430.
Übrigens wollen wir, um nicht nod einmal darauf zurüd-
fommen zu müffen, feftftellen, daB mit Herrn Madeleine auch
der Wohlftand von Montreuil fur Mer verfhwand. Nach feinem
Sturz Fam es zu einer fehr egoiftifhen Teilung, einer Zer-
ftücfelung des blühenden Werfs, wie derlei fih in der menſch—
lien Gefellfhaft tagtäglich vollzieht, obwohl die Geſchichte nur
einen einzigen folchen Fall, die Aufteilung des aleranbrinifhen
Reichs, notiert bat. Wenn fi) damals die Unterführer zu Kö—
nigen gekrönt hatten, fo wollten jeßt die Werkmeifter Sabri-
fanten werden. Wilde Konkurrenz war die Folge. Mabeleines
geräumige MWerkftätten wurden gefchloflen, die Bauten verfielen,
die Arbeiter zerftreuten fih. Manche verließen die Stadt, andere
gingen zu anderen Befchäftigungen über. Alles wurde Flein,
ftatt zu wachſen. Es fehlte an einem Zentrum. Madeleine hatte
alles geleitet. Sobald er gefallen war, zog jeder an feinen Seilen
— dem Geift der Organifation folgte der des eiferfüchtigen
MWettftreits, dem der freudigen Zufammenarbeit der der Miß—
gunft. Die von Madeleine angefnüpften Verbindungen riffen ab.
Schließlich wurden die Produkte verfälfcht, dag Vertrauen der
Konfumenten ging verloren; der Abfas fanf, es gingen Feine
Aufträge mehr ein. Die Löhne fielen, Arbeitslofigfeit war die
Folge, der Bankerott das Ende. Alles verfiel.
2. Boulatruelle
Kurze Zeit nachdem der Sträfling Sean Valjean fi), wie das
Minifterium in Erfahrung brachte, in der Gegend von Mont-
fermeil herumgetrieben hatte, wurde in eben jenem Dorfe beob-
207
achtet, daß ein alter Straßenarbeiter, ein gewiffer Soulatruelle,
fit) im Walde auffällig zu fchaffen made. Es hieß im Dorf,
Boulatruelle babe im Bagno gefeflen. Er wurde von der Polizei
beobachtet, und da er nirgends Arbeit fand, wurde er von der
Vermwaltungsbehörde als Straßenarbeiter auf der Strede zwi-
fhen Gagny und Lagny befchäftigt.
Diefer Boulatruelle war in der Gegend nicht mwohlgelitten;
er war allzu höflich, allzu befcheiden, allzu raid bereit, jedermann
zu grüßen oder den Gendarmen höflich zuzuläheln. Offenbar
war er mit einer Näuberbande im Komplott und im Ernftfoll
durchaus geneigt, jemand des Nachts zu überfallen. Zu feinen
Gunften war nur zu fagen, daß er ein Säufer mar.
Nun war folgendes beobachtet worden:
Seit einiger Zeit entfernte fih DBoulatruelle früh am Tage
von feiner Befhäftigung, die Straße zu pflaftern und in Ord-
nung zu halten; dann ging er mit einem Spaten in den Wald.
Man fab ihn des Abends auf einfamen Libtungen, beobachtete
ihn in entlegenen Dieichten, wie er offenbar etwas fuchte, zu-
weilen fogar Löcher grub. Brave Frauen, die ihm begegneten,
hielten ihn fchlanfweg für Beelzebub; erfannten fie dann Boula-
truelle, fo waren fie durchaus nicht etwa beruhigt. Auch fchien
es, daß ibm foldhe Begegnungen unlieb waren. Augenfcheinlich
ſuchte er fi zu verbergen und wollte feine Sade unerkannt be-
treiben.
Im Dorfe wurde gefagt, es fei nicht mehr daran zu zweifeln,
daß bem Boulatruelle der Teufel erfchienen fei. Darum fuche er
jest. So ein Lumpenkerl ift imftande, noch fein Glüd zu machen,
wurde vermutet. Anhänger Doltaires meinten: wird Voula-
truelle den Ieufel fangen, oder der Teufel Boulatruclle? Alte
Frauen befreuzigten fich eifrig.
Schließlich hörten Boulatruelles geheimnisvolle Arbeiten im
Malde auf, er betreute wieder regelmäßig feine Straße. Mie.
mand fprad weiter von der Sache.
Einige Leute allerdings blieben neugierig, dachten, es gehe hier
wohl nicht um die fabelbaften Schäße aus dem Märchen, viel-
208
leicht aber um eine recht folide Sache, eine beffere als Wechfel
auf des Teufels Bank; der Straßenarbeiter babe vielleicht ein
Geheimnis zur Hälfte aufgededt. Am lebbafteften intereffiert
waren der Schulmeifter und der Gaftwirt Thenardier, der aller
Melts Freund war und darum aud Boulatruelle nicht mied.
Eines Abends meinte der Schulmeifter, in früheren Zeiten
würde fich die Juſtiz Doch wohl mit der Frage befbäftigt haben,
was diefer Boulatruelle im Walde treibe. Und damals hätte
mon ibn fon zum Meden gebracht, man hätte eine geeignete
Zortur angewendet, und, falls Soulatruelle noch immer wider-
ftanden hätte, die Befragung burd das Waſſer gewählt.
„Nun, dann wählen wir die Befragung burd den Wein’,
meinte Ihenardier.
Man feste fid) sufammen und Tieß den alten Arbeiter faufen.
Er trank furchtbar — und ſprach wenig. Er verband den Durft
eines MWanderers in der MWüfte mit der Verſchwiegenheit eines
Richters.
Aber man drang in ihn, entlockte ihm einzelne dunkle Worte,
und ſchließlich konnten Thénardier und der Schulmeiſter ſich
etwa folgenden Sachverhalt zuſammenreimen.
Als Boulatruelle ſich eines Morgens auf ſeinen Arbeitsplatz
begeben hatte, war er zu feiner Verwunderung an einer ent-
legenen Stelle, im Geftrüpp, auf eine Schaufel und eine Hacke
geftoßen. Es fab ganz fo aus, als ob diefes Gerät dort verfteckt
worden fei. Dod hatte er geglaubt, e8 gehöre vielleiht Water
Sir-Foures, dem Wafferträger, und hatte fih darüber Feine Ge-
danken gemacht. Am Abend desfelben Tages aber hatte er, hinter
einem Baume ftebend — und ohne felbft gefehen zu werden —
einen Menfchen bemerkt, der nicht aus dem Dorfe war, ben er,
Boulatruelle, aber recht gut Éannte, wie Ihenardier behauptete,
alfo ein Kamerad aus dem Bagno. Diefer Mann fei in das
dichtefte Dididt des Waldes eingedrungen. Poulatruelle wollte
um feinen Preis den Namen nennen. Diefer Mann trug ir-
gend etwas Viereckiges, vielleicht eine große Schachtel oder eine
Eleine Truhe. est war Boulatruelle verwundert gewefen. Doc
14 Hugo, Die Elenden. 209
fom ihm erft nad fieben oder acht Minuten der Gedanke, er
folle bem „Betreffenden“ nachgehen. Es war zu fpät, der war
fon verfhwunden, und als Nacht war, konnte DBoulatruelle
ihn nicht mehr finden. Er befhloß alfo, am Waldrand zu
warten. Der Mond fhien. Zwei oder drei Stunden fpäter fab
Boulatruelle feinen Mann wieder aus dem Walde Éommen,
diesmal ohne die Éleine Truhe, aber mit Spaten und Sade.
Boulatruelle war gar nicht auf den Einfall gefommen, den
Mann anzureden, denn feiner Behauptung na war diefer wohl
dreimal ftärfer als er und überdies mit einer Hade bewaffnet;
fobald er ihn erfannte oder fid von ihm erfannt wußte, würde
er gewiß zufchlagen. Man kann fagen: Nührendes Gefühl des
alten Kameraden, der feinen Freund nach langer Zeit wieder-
fiebt. Nun, Jade und Schaufel waren für Boulatruelle ein
Fingerzeig. Schon am nädhften Morgen drang er felbft in bas
Geftrüpp ein, und da er weder Sade und Schaufel wiederfand,
glaubte er, an biefem Plase fei wohl etwas vergraben worden.
Mun war der Koffer zu Flein gewefen, um einen Leichnam zu
enthalten. Demnad war er mit Geld gefüllt. Darum hatte
Boulatruelle fih auf die Suche gemadt. Er hatte den ganzen
Wald durchgewühlt, aber vergeblih. Er hatte nichts gefunden.
3. Die Kette bridt niht auf den Hammerſchlag
Gegen Ende DÉtober des jahres 1823 fahen die Einwohner
von Toulon nad einem fehweren Sturm den Kreuzer „Orion“ in
ihren Hafen einlaufen, der fpäter in Breſt als Schulſchiff ver-
wendet wurde, damals aber noch zum Mittelmeergefchwader zählte.
Die Einfahrt eines Kriegsfhiffs in einen Hafen ruft immer
eine Menge auf die Quais. Diefer Anblif hat ftets etwas
Großes, und die Menge liebt das Große.
Nun, der „Orion“ war feit langer Zeit Franf gemwefen.
Während langer Fahrten hatten fih ganze Mufchelbänfe um
feinen Kiel gelagert, fo daß feine Gefhwindigfeit wohl auf die
Hälfte ihres urfprünglichen Standes herabgefunfen war. Darum
210
hatte man ibn [don im Vorjahre trodengelegt, war aber dann
fpâter doch genötigt gewefen, ibn wieder in See ftehen zu
laſſen. est war ein Led entftanden, und infolge diefer Havarie
war der „Orion“ nad Toulon zurüdgefommen.
Er war am Arſenal vor Anker gegangen. Bald wurde an
feiner Wiederherftellung gearbeitet. Wenigftens am Steuerbord
war der Numpf unverlebt, doch hatten fich einige Verkleidungen
abgelöft, fo daß man, wie das üblich ift, die Lufen öffnen mußte,
um Luft eindringen zu laffen und die Augtrodnung zu be-
Tchleunigen.
Eines Morgens nun war die neugierige Menge Zeugin fol-
genden Vorfalls:
Die Mannfhaft war gerade damit befchäftigt, die Segel feft-
zumachen. Da verlor der Marsgaft, der eben dabei war, bas
Hauptmarsfegel über Steuerbord hochzuziehen, bas Gleich—
gewicht. Man fab ihn taumeln, die Menge auf dem Arfenalquai
fhrie auf, Fopfüber ftürzte der Mann mit ausgeftreeften Armen
in die Tiefe; halbenwegs befam er zuerft mit einer, dann mit
beiden Händen die falfche Pertleine zu faffen und blieb hängen.
Zief unter ihm das Meer. In feinem Fall hatte er die Pertleine
zum Schwingen gebradt. Er hing am Ende des Taues und
fhaufelte in der Luft.
Ihm zu Hilfe zu eilen, bedeutete, fi einer furchtbaren Ge-
fahr ausfeßen. Keiner der Matrofen, die übrigens ausnahmslos
neugepreßte Fifcher aus dem Küftenland waren, wagte, fich diefer
Aufgabe zu unterziehen. Schon ermüdete der Marsgaft, man
fonnte fein angftverzerrtes Gefiht, feine Erfhöpfung erfennen.
Seine Arme zitterten in furchtbarer Anftrengung. jeder Ver—
fuch, ſich hochzuziehen, verfhlimmerte nur die Schaufelbewegung
der Pertleine. Er ſchrie nicht, weil er befürchtete, Kraft zu ver-
lieren. jeden Augenblick mußte er fallen, und ſchon wandten alle
die Augen ab, um ihn nicht im Sturz zu feben. Es gibt Augen-
bliefe, in denen bas Ende eines Strids, der Zweig eines
Baumes ein Leben hält, und es ift furchtbar, ein Lebeweſen ab-
reißen und fallen zu feben wie eine reife Frucht.
14” 211
Möglich bemerkte man einen Mann, der mit der Gewandtheit
einer Tigerfage den Maft hinauffletterte. Er trug die rote Klei-
dung des Sträflings; feine grüne Mütze ließ erraten, daß er ein
„Lebenslänglicher“ war. Auf der Höhe des Marsfegels an-
gelangt, verweilte er einen Augenblick; ein Windftoß trug ibm
die Kappe fort, und man fah, daß er weiße Haare hatte.
In der Tat hatte fi fofort nad dem Unfall ein Sträfling,
der an Bord DBagnodienft tat, an den Wachtoffizier gewandt
und inmitten des Zögerns und der Verwirrung der ganzen Be—
ſatzung um die Erlaubnis gebeten, jein Leben risfieren und den
Marsgaft retten zu dürfen. Auf einen bejahenden Winf des
Offisiers hatte er mit einem Hammerſchlag die Kette, die fein
Fußgelenk umfchloß, zerfehmettert, einen Strid ergriffen und
war bis zu den Nahen emporgeflettert. Niemand beachtete in
diefem Augenblick die Leichtigkeit, mit der er die Kette zerfchlagen
hatte. Erft fpäter erinnerte man fich diefes Umftandes.
Im nächſten Augenblid, wie gefagt, war er auf den Nahen.
Er hielt einen Augenblif inne und maß mit den Augen den
Abftand. Diefe Sekunden — der Wind fchaufelte inzwifchen
den Marsgaft am Ende des Taues — fhienen den Zufchauern
am Quai Sahrhunderte. Endlich blifte der Sträfling zum
Himmel auf und fat einen Schritt vor. Die Menge atmete auf.
Er Tief die Nahen lang. An der Spiße angefommen, büdte er
fi, band das eine Ende des mitgebrahten Seiles feft und Tieß
bas andere in die Tiefe fallen. Im nähften Moment Eletterte
er an diefem Geil hinab, zum unausſprechlichen Entſetzen
der Sufhauer, die jeßt zwei Menfchen über dem Abgrund
hängen fahen.
Man mußte ihn, wenn man ihn fo berabflettern fab, für eine
Spinne halten, die eine Fliege fange — nur bradte biefe
Spinne das Leben, nicht den Tod. Zehntaufend Blicke waren auf
die beiden gerichtet. Kein Schrei, Fein Wort, nicht einmal ein
Wimpernzucken ... alle hielten den Atem an, als ob fie fürchten
müßten, der geringfte Hauch Eönne die beiden Gefährdeten ver-
nichten.
212
Endlich hatte der Sträfling den Matrofen erreibt. Es war
aud die höchſte Zeitz eine Minute fpäter hätte der Mann, er-
ſchöpft und verzweifelt, fih in den Abgrund fallen laflen. Der
Sträfling band ihn an dem Seil feft, an dem er ſich felbft mit
der einen Hand hielt, während er mit der anderen arbeitete.
Schließlich fab man ihn wieder zu den Nahen emporFlettern und
den Matrofen nachziehen. Er ließ ihn dort einen Augenblid auf-
atmen, um Kräfte zu fammeln, nahm ihn dann in die Arme und
trug ibn bis nad dem Mars, wo er ibn den Händen feiner Ka-
meraden übergab.
Die Menge brad in ftürmifchen Beifall aus. Alte Rerfer-
meifter hatten Tränen in den Augen, Frauen fanfen einander
in die Arme, alle verlangten in höchfter Erregung, der Held folle
begnadigt werden.
Diefer hatte fib angefhidt, wieder binabzufteigen, um fi
fofort wieder an die Kette legen zu laffen. Vielleicht um rafcher
zu fein, ließ er fih an dem Maft hinab, bis er zur nächſten
Rahe Fam und lief an biefer entlang. Alle Augen folgten ihm.
Es gab einen Augenblick der Beforgnis. Sei es, daß er über-
müdet war, fei es, daß ihm fehwindelte, man glaubte ihn zögern
und fallen zu feben. Plötzlich gellte ein einziger Schrei aus der
Menge auf: der Sträfling fiel ins Meer.
Der Sturz mar gefährlih. Die Fregatte „Algeciras“ war
neben dem „Orion“ vor Anker gegangen; der unglüdlihe Ga-
leerenfträfling war alfo zwiſchen biefe beiden Schiffe gefallen.
Man mußte befürchten, daß er, auftauchend, unter eines der
beiden geraten würde. Eilig fprangen vier Mann in ein Boot.
Die Menge feuerte fie an, wieder peitfhte die Angft alle Geifter.
Aber der Mann tauchte nicht an der Oberflähe auf. Er war im
Meere verfunfen, ohne eine Spur zu binterlaffen, als ob er in
eine Tonne DI gefallen wäre. Man fudbte nad ihm, vergeblich.
Bis Abend wurden die Bemühungen fortgefeßt, aber auch feine
Leiche konnte nicht geborgen werden.
Am nädhften Tag widmete bas „Journal de Toulon“ diefem
Vorfall einige Zeilen:
245
17. Movember 1823.
Geftern fiel ein Sträfling, der an Bord des „Orion“
Dienft tat, nachdem er einem Matrofen Hilfe gebradht hatte,
ins Meer und ertranf. Die Leiche Fonnte nicht geborgen wer-
den. Man nimmt an, daß fie an den Pfeilern des Arfenals
hängengeblieben ift. Diefer Mann war im Megifter unter
Mr. 9430 eingetragen und hieß Sean Valjean.
ZweitesBuch
Einlöſung eines Verfpretbens, das der Toten
gegeben wurde
1. Waffermangelin Montfermeil
Montfermeil liegt zwifchen Livry und Chelles, am Südrand
des Plateaus zwifchen Durcq und Marne. Heutzutage ift e8 ein
recht ftattlicher und bübfher Plas, in dem es nicht an ſchönen
Villen und Sonntags an Ausflüglern fehlt. 1823 aber gab es
dort weder weiße Häufer noch vergnügte Bürgersleute; damals
war Montfermeil ein Dorf, das im Walde verloren lag. Wohl
gab es einige Landhäufer aus dem 18. Jahrhundert, erfennbar
an ihrem vornehmen Ausſehen, ihren Gußeifenbalfong und
hoben Senftern, aber darum war der Ort doch nur ein Dörfchen.
Noch hatten ihn nicht die reihen Tuchhändler, die fich zur Ruhe
feßen, entdeckt. Ruhig und gefällig lag er da, ohne Verkehr, ein
Dies, an dem es fit billig, einfam und gemächlich leben läßt.
Mur fehlte es wegen des hochgelegenen Plateaus an Waffer.
Es mußte von ziemlich weit berbeigefhafft werden. Das
Ende des Dorfes, das gegen Gagny bin liegt, bezieht fein
Waſſer aus den prächtigen Ieichen, die im Walde liegen; das
andere, rings um die Kirche und gegen Chelles bin, mußte fi
bas Trinkwaſſer aus einer Eleinen Quelle befchaffen, die, etwa
eine Diertelftunde von Montfermeil entfernt, an der Cheller
Straße lag.
214
Daher Fam es, daß die Mofferverforgung oft ref ſchwierige
Aufgaben ftellte. Die vornehmen Haushalte, die Ariftofratie von
Montfermeil, sablten einen Liard für den Scheffel Wafler und
ließen es von einem Mann beranfhaffen, der fi nur biefer
Aufgabe widmete und mit der MWofferverforgung von Mont-
fermeil etwa acht Sous täglich verdiente. Aber der gute Mann
arbeitete im Sommer nur bis fieben Uhr abends, im Winter
gar nur bis fünf, fo daß, wer bei Einbrudh der Naht Fein
Waſſer im Haufe hatte, entweder felbft welches holen oder fi
den Durft verfneifen mußte.
Dos war der Schreden diefes armen Geſchöpfs, das unfere
Lefer gewiß nicht vergeffen haben, der fleinen Eofette. Man
erinnert fi), daß Cofette ben Thénarbdiers doppelt nützlich war,
denn einerfeits mußte ihre Mutter Koftgeld bezahlen, anderer-
feits leiftete das Kind Dienfte. Als nun die Mutter mit ihren
Zahlungen in Verzug geriet, behielten, wie in den vorigen
Kapiteln auseinandergefeßt worden ift, die Ihenardiers Cofette.
Sie erfeßte ihnen eine Magd. Darum auch hatte fie, wenn es
an Waſſer fehlte, welches zu beforgen. Und da das Kind fi
nicht wenig davor fürchtete, des Nachts zu jener Quelle zu
gehen, achtete es um fo aufmerffamer darauf, daß bas Waſſer
fhon des Tages im Haufe nicht ausging.
Weihnachten des Jahres 1823 waren für Montfermeil be-
fonders glänzend. Der Winter hatte mild eingefest. Mod hatte
es nicht gefchneit. Parifer Afrobaten hatten von dem Bürger:
meifter die Erlaubnis erhalten, in der Hauptftraße des Dorfes
Buden aufzuftellen, und eine Menge wandernder Händler hatte
von der gleichen Erlaubnis Gebraud gemacht und auf dem
Kirchplatz, ja bis zur Bäckergaſſe hinab, wo die Thénardiers
ihre Wirtfhaft betrieben, Hökerbuden aufaeftellt. So Fam
Leben in die Gaftwirtfhaften und Budifen, und das Tiebe
Dörfchen fab fröhliche und erregte Tage.
Am Weihnachtsabend foßen mehrere Männer, Fuhrleute und
Haufierer, an dem mit vier oder fünf Kerzen beftellten Tiſche
des Gaftsimmers. Es war ein Speiferaum, wie ibn alle
215
Budiken diefer Art aufweifen. Tiſche, Zinnfrüge, Flaſchen,
Trinfer und Raucher; wenig Licht, viel Lärm. Die TIhenardier
überwachte das Abendbrot, dag noch an einem hellen Feuer
fhmorte. Herr Thénardier trank mit feinen Gäften und beftritt
die Koften des politifchen Geſprächs.
Eofette befand fih an ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort,
fie bocte unter dem Küchentifch neben dem Kamin. Ihre Klei-
der waren zerlumpt, an den nadten Füßen hatte fie Holzpan-
tinen. Sm Schein des Kaminfeuers ftridte fie an Moll
ftrümpfen, die für die Éleinen Töchter der Thénardiers beftimmt
waren. Aus einem Mebenzimmer hörte man das Laden und
Scherzen zweier Kinderftiimmen. Das waren Eponine und
Azelma.
Sm Kaminwinkel hing auf einem Nagel eine Karbaͤtſche.
Zuweilen übertönte der Schrei eines kleinen Kindes, das in
einem anderen Raum des Hauſes untergebracht ſein mochte,
den Lärm in der Gaſtſtube. Das war der kleine Knabe, den
die Thenardier in einem der vorigen Winter befommen hatte,
„ohne zu wiffen warum, offenbar ale MWirfung der Kälte”,
wie fie fagte. Er war jekt etwa drei jahre alt. Die Mutter
hatte ibn genährt, aber fie Fonnte ihn nicht leiden. Wenn das
Geſchrei unerträglich wurde, fagte Ihenardier wohl zu ihr:
„Dein unge jault fhon wieder. Sieb bob nah, was
er will.’
„Ab laß doch,” antwortete die Mutter, „er langweilt mid.’
Und der vernadhläffigte Kleine jammerte in der Dunfelbeit
weiter.
2. Dervollftändigung zweier Porträts
Wir haben bisher die Tbénardiers gewiffermaßen nur im
Profil gezeigt. est ift es an der Zeit, ſich wieder mit diefem
würdigen Paar zu befhäftigen und es von allen Seiten zu be-
tradıten.
Thenardier hatte die Fünfzig überfchritten. Frau Ihenardier
mochte bald Dierzig erreichen. Aber da Frauen mit Viersig
216
ebenjo weit find wie Männer mit Fünfzig, Eonnte man fagen,
die beiden feien gleich alt.
Unfere Lefer erinnern fih vielleicht nod der erften Schilde—
rung diefer Frau, einer großen, blonden, geröteten, vierfchrö-
tigen Perfon. Sie beforgte die ganze Wirtfhaft, hielt die
Zimmer in Stand, führte die Küche. Ihre einzige Bediente
war Cofette: das Mäuschen im Dienfte eines Elefanten. Alles
zitterte, wenn die Ihenardier ſprach, Fenfterfheiben, Möbel
und Menfchen. hr breites, mit Sommerfproffen überfätes Ge-
fiht gli einem Sieb. Auch hatte fie einen Bart. Sie fab aus
wie ein Schwerathlet, der fih als Mädchen verkleidet bat.
Sluden Éonnte fie prachtvoll, und fie rühmte fi, daß fie eine
Nuß mit der Fauft fprengen Éonnte. Wenn fie nicht ihre Ro-
mane gelefen hätte — wovon eine gewiſſe Geziertheit und
Zimperlichfeit ihres Weſens herrührte —, wäre wohl niemand
darauf verfallen, fie für ein Weib zu halten. Hörte man fie
reden, fo dachte man: ein Gendarm. Sah man fie trinken, fagte
man wohl: ein Fuhrmann. Molträtierte fie Cofette, fo dachte
man: ein Henfer.
Menn fie fchlief, ftand ftets ein Zahn aus ihrem Munde
hervor.
Thénardier war ein Éleiner, magerer, ſchwächlich ausfebender
Mann, der Frank zu fein fhien; dabei fühlte er fi glänzend,
fogar feine Kranfheit war nur Betrug. Er pflegte vorfihts-
halber immer zu lächeln und war faft zu allen Leuten höflich,
fogar zu dem Bettler, bem er einen Pfennig verweigerte. In
feinem DBlif war etwas von einem Marder, und dem Gefibt
na hätte man ibn für einen Schriftfteller Halten können. Eine
gewiffle Ähnlichkeit mit den Bildniffen des Abbe Delille fiel
auf. Bei den Fuhrleuten Fehrte er den großen Trinfer heraus.
Mod nie hatte ihn jemand unter den Tiſch trinken können; er
rauchte aus einer großen Pfeife.
Unter einer Blufe trug er ein ſchwarzes Gewand. Gern
wollte er für literarifch gebildet gelten und Éebrte den Mate-
rialiften heraus. Oft berief er fih auf irgendwelche große
217
Damen, wenn er einen eigenen Gebanfen befräftigen wollte,
nannte Voltaire, Raynal, Parny und feltfamerweife auch den
heiligen Auguftinus. Er behauptete feft und fteif, er babe eine
MWeltanfhauung. Er war halb Philoſoph, Halb Schurke. Wie
unfere Lefer fi erinnern, behauptete er, gedient zu haben.
MWeitfehweifig erzählte er, wie er bei Waterloo als Sergeant
der Sechfer allein gegen eine Esfadron Zotenfopfhufaren ge-
kämpft hätte; und fehliehlich hatte er im Feuer einer Kugel-
fprise mit feinem Leibe einen gefährlich verwundeten General
gedeeft und gerettet. Daher rührte auch die Darftellung auf
feinem Wirtshausfehild und der Name feiner Rafhemme, die
„Wirtshaus des Sergeanten von Waterloo” hieß. Iatfache ift,
daß er am 18. uni 1815 bei Waterloo als Leichenfledderer
einen Stabsoffizier, einen gewiflen Pontmerey, beftohlen, und,
als diefer zu Bewußtfein gefommen war, zur Meinung ge-
bracht hatte, er fei fein Retter.
Er war liberal, bonapartiftifh gefinnt. Er hatte fih an dem
218
Volksbegehren für das Aſyl beteiligt. Im Dorf hieß es, er fei
in einem Priefterfeminar erzogen.
Unferer Meinung nach war er in Holland zum Kellner aus-
gebildet worden. Aller Wahrfcheinlichfeit nach war er ein Slam-
länder aus Lille, der in Paris den Franzofen, in Brüffel den
Belgier fpielte: ftets nad beiden Seiten bin gedeckt. Mas feine
Heldentaten betrifft, fo übertrieb er wohl. Das Abenteuer war
jein Lebengelement. In Wirklichkeit hatte er an jenem Juni—
tage 1815 zu den Fledderern und Marfetendern gehört, die
jedem verfauften, jeden beftablen und hinter jeder Truppe ber-
liefen, meift mit dem guten Inſtinkt für den Sieger. Diefer
Feldzug hatte ihm, wie er ſich ausdrüdte, Quibus eingebracht,
und damit hatte er feine Gafiwirtfhaft in Montfermeil ge-
gründet.
Aber Quibus, geftohlene Börfen und Uhren, goldene Ringe
und filberne Kreuze, der Ertrag eines Schlachtfeldes, reichte
nicht aus, um es wirklich weiterzubringen. Thenardier batte im
Sahre 1823 etwa fünfzehnhundert Franfen Schulden an-
gefammelt, und die Sorgen drohten ihn zu verflingen.
3. Wein für Menfhen, Waffer fürdie Pferde
Vier neue Gäfte waren eingetreten.
Eofette war in trübfinniges Nachdenken verfunfen; denn ob-
wohl fie erft acht Jahre zählte, hatte fie fon fo viel durch—
gemacht, daß fie düfter wie eine Greifin zu grübeln verftand.
Ihr eines Auge war von einem Fauftfchlage der Thenardier
blau angelaufen, was jener Tiebenswürdigen Frau Gelegenheit
gegeben hatte zu äußern, die Kleine febe do wirflih allzu
häßlich aus.
Cofette dachte darüber nad, daB es jetzt Naht fei, pech-
ſchwarze Nacht, und daB die Karaffen und Krüge in den Zim-
mern der Neuankömmlinge wohl gefüllt werden müßten; und
daß Fein Wafler mehr im Zuber war.
Eine gewiſſe Beruhigung bereitete es ihr, daß im Haufe
219
Théènardier nicht viel Waſſer getrunfen wurde. An Durft fehlte
es den Leuten ja nicht, die hier vorbeifamen, aber fie hielten fit
doc lieber an den Weinfrug als an die Waflerflafche. Wer
hier inmitten fo vieler Weintrinfer ein Glas Waſſer verlangt
hätte, wäre für einen Tropf gehalten worden.
Und bob gab es einen Augenblid, in dem das Mädchen zit-
terte. Das war, als die Thenardier den Dedel von einer Raffe-
rolle hob, die auf dem Herd ftand, ein Glas nahm und rafch zu
dem Zuber trat. Sie drehte den Hahn auf, und bas Kind, das
den Kopf gehoben hatte, beobachtete fcharf den dünnen Faden
Maflers, der auslief. Das Glas wurde nur zur Hälfte gefüllt.
„Hola, Fein Wafler mehr!" hatte die Thenardier gefagt. Das
Kind atmete nit.
„Ad was,” fagte die Thenardier und prüfte ihr halbgefülltes
Glas, „es wird auch fo gehen.”
Cofette wandte fich wieder ihrer Arbeit zu, aber eine Viertel-
ftunde lang Flopfte ihr Herz, als ob es zerfpringen follte.
Zuweilen fat einer der Trinfer einen Blick auf die Straße
hinaus und rief etwa:
„Sinfter wie in einem Badofen! oder „Sin eine foldhe
Sinfternis getraut fi wohl nur eine Katze ohne Laterne.”
Dann begann Eofette von neuem zu zittern.
Sekt trat einer der Haufierer in die Gaſtſtube und fagte
ärgerlich:
„Mein Pferd bat Eein Waſſer befommen!”
„Doch“, fagte die Thenardier.
„Und ich fage ihnen, daß es Feines befommen bat, Frau’,
antwortete der Haufierer.
Eofette war unter dem Tiſch bervorgefrochen.
nDob, Herr,’ rief fie, „das Pferd bat getrunfen, einen
ganzen Eimer voll. Ich felbft babe ihm den Eimer gebracht.”
Eofette Iog.
„Was, du Éleiner Däumling, du lügſt ja ſchon wie eine
Große!’ rief der Haufierer, „ich fage dir, daß bas Pferd Fein
220
Waſſer befommen bat, free Mange! Es bat eine Art zu
fhnaufen, wenn es fein Wafler befommen bat, die ich febr
wohl kenne.“
Mit einer Stimme, die vor Angft beifer war, beftand
Cofette darauf:
„Doch, es bat getrunken.‘
„Schluß! rief der Haufierer wütend, „mein Pferd muß
Waſſer Eriegen, mehr ift darüber nicht zu fagen.”
Coſette kroch wieder unter den Tifch.
„Natürlich,“ fagte die Ihenardier, „wenn das Tier Fein
Waſſer gefriegt bat, fo muß es jetzt welches kriegen.“
Sie blickte um fic.
„Wo iſt denn die Kleine?’
Sie bückte fit und fab Eofette, die ſich unter dem Tiſch faft
zwifchen den Deinen der anderen Zecher verfrochen hatte.
„Willſt du wohl hervorkommen!“ ſchrie fie.
Cofette tauchte aus dem Toh auf, in dem fie fi ver-
borgen hatte. |
„un, du MWechfelbalg, hol’ Waffer für das Pferd!‘
„Aber es ift doch Fein Waſſer mehr da’, fagte Eofette
ſchwach.
Die Thénardier riß die Türe auf.
„Nun, dann hol' welches.“
Coſette ließ den Kopf hängen, dann holte fie aus der Ramin-
ecke einen leeren Zuber. Er war größer als ſie, das Kind hätte
ſich bequem hineinſetzen können.
Die Ihenardier trat wieder an den Herd und koſtete mit
einem Holzlöffel aus der Rafferolle.
„Das ift ganz gut,’ murmelte fie, „das kann gar nicht
fhaden. Ich glaube, ich hätte meine Zwiebel paifieren können.“
Sie 30g eine Lade auf und fuchte zwifchen Kleingeld, Pfeffer
und Cbarlotten eine Minze heraus.
„Da, du Affel, am Rückweg holft du vom Bäder ein großes
Brot. Hier find fünfzehn Sous.“
224
Eofette Hatte eine Eleine Taſche in ihrer Schürze, wortlos
nahm fie die Münze und ftedte fie ein.
Dann blieb fie fteben, den Zuber in Händen, fpähte durch die
offene Tür hinaus. Es war, als ob fie von irgendwo Hilfe er-
wartete.
„Los, was ftehft du noch dal’ ſchrie die Thénarbdier.
Cofette ging.
4. Eine Puppe erfbeint auf der Szene
Auf dem Wege zur Kirche waren die Höferbuden in langer
Zeile aufgereibt. Da die Stunde des Gangs zur Mette bevor-
ftand, waren in zahlreihen Lampions Kerzen angezlindet, was
der Straße, wie der Schulmeifter von Montfermeil fagte, ein
magifches Ausfehen gab. Dafür war Fein Stern am Himmel
zu feben.
Die Iekte der Buden, die gerade Ihenardiers Tür gegen-
überftand, hatte allerlei bunte Slitter, Glasfaben und glißern-
des Blechzeug ausgeftellt. In der vorderften Meihe aber ftand
eine ungeheure, faft zwei Fuß hohe Puppe, die in ein rofa
Kreppkleidhen gehüllt war, ein Golbbäubhen auf dem Kopf
trug, Emailleaugen und echte Haare hatte. Den ganzen Tag über
war diefes Wunder die Augenweide aller zehnjährigen Mädchen
von Montfermeil gewefen, ohne daß fi) auch nur eine einzige
Mutter gefunden hätte, die fo reich oder fo verfehwenderifch
war, ihrem Kinde ein folches Geſchenk zu maden. Eponine und
Azelma hatten Stunden damit verbracht, fie anzufchauen, und
aud Cofette hatte ihr einen, wir miüffen e8 der Mahrheit
halber feftftellen, flüchtigen Blick zugeworfen.
As Cofette nun aus dem Haufe trat, bedrüdt und nieder-
gefhlagen, wie fie war, Éonnte fie es fi bo nicht verfneifen,
biefer herrlichen Puppe, der „Dame“, wie fie fie nannte, einen
Blick zu gönnen. Wie verfteinert blieb das arme Kind ftehen.
Aus der Nähe hatte fie diefes Wunderwerk noch nicht geſehen.
222
Für fie war die Höferbude ein Palais, die Puppe eine Viſion.
Sie war Pracht, Neihtum, Glück, fie erfchien diefem arınem,
von düfterem Elend niedergedrücdten Kind wie ein fehimärifch
firahlendes Wefen. Cofette maß mit dem naiven und zugleid
Are,
ih
alu
nl
Ve
traurigen Eifer der Kindheit die Kluft, die fie von diefer Puppe
trennte. Sie begriff, daB man Königin oder mindeftens Prin-
zeffin fein müßte, um fo etwas befißen zu dürfen. Sie betrachtete
das Schöne rofa Kleidchen, das herrlihe Haar und dachte: wie
glüklih muß diefe Puppe fein!
223
Sie Éonnte die Augen nit von der Zauberbude abwenden.
Se mehr fie binfab, um fo rätfelhafter war der Bann. Sie
glaubte einen Bli in das Paradies zu fun. Hinter der großen
waren noch andere Puppen, die Feen und Genien glichen. Der
Krämer, der hinten in der Bude auf und ab ging, fehien ihr
etwa wie der bimmlifhe Vater. |
Sn ihrer Verzückung vergaß fie alles, fogar den Auftrag, den
fie erhalten hatte. Plößlich aber rief die raube Stimme der
Thenardier fie zur Wirklichkeit:
„Biſt bu noch nicht fort, Faulpelz! Na warte nur! Was haft
du dort zu fuhen? Vorwärts, Balg!“
Die Ihenardier hatte einen Blick auf die Straße hinaus-
geworfen und hatte die verzückte Cofette gefehen. Nun rannte
die Kleine mit ihrem Zuber, fo rafd fie Éonnte, in die Nacht
hinaus.
5. Die Kleine allein
Da die Gaftwirtfhaft der Ihenardiers in jenem Teil des
Dorfes lag, der um die Kirche gruppiert ift, mußte Cofette das
Waſſer aus der Quelle am Wege nach Chelles holen.
Sie fab fi) Feine von den Duden mehr an. Solange fie in
der Bäckergaſſe und in der Nähe der erleuchteten Buden war,
deren Lampions ihr Licht auf den Weg warfen, ging es gut;
bald aber wurde es rings um fie dunkel. br wurde bang zumut,
fie begann den Zuber heftig an feinem Henkel zu ſchwenken. So
entftand ein Geräuſch, das ihr Gefellfhaft leiftete.
Ve weiter fie ging, um fo undurddringlider wurde die Fin-
fternis. est war Fein Menſch mehr auf den Straßen. Solange
zu beiden Seiten nod Häufer oder wenigftens Gartenmauern
waren, blieb fie ziemlich tapfer. Hier und da fab fie burd ver-
fhloflene Fenfterläden den Schimmer einer brennenden Kerze.
Das war Leben, Licht, und flößte ibr Mut ein. Ve weiter fie
aber in die Finfternis vordrang, um fo langfamer wurde ihr
224
Schritt. Und als fie bas leßte Haus erreicht hatte, blieb Cofette
fteben.
Es war ihr fon ſchwer genug gefallen, an der legten er-
leuchteten Bude vorbeizufommen. Nun aud bas Iekte Haus
hinter fih zu laffen, war fier unmöglid. Sie ftellte den
Zuber auf den Boden, vergrub ihre Finger in den Haaren und
begann langſam den Kopf zu Fragen, eine Gefte, die bei Kin-
dern Unentfehiedenheit bedeutet. Was fie da vor fih fab, war
nicht mehr Montfermeil, bas waren die Felder, eine fchwarze,
öde Wüſtenei. Verzweifelt fpähte fie in die Dunfelheit hinaus,
in der es feine Menfchen mehr gab, wohl aber Tiere, vielleicht
auch Gefpenfter. Sie fonnte die Tiere im Grafe hören, in den
Baumwipfeln fab fie deutlich die Gefpenfter. Da nahm fie ihren
Zuber auf, die Furcht flößte ihr Mut ein.
„Ab was,” fagte fie, ‚ich werde fagen, daß Fein Waſſer
mehr da war.’
Kurz entfhloffen Eehrte fie nah Montfermeil zurüd.
Aber fie war Feine hundert Schritte gegangen, da blieb fie
ſchon fteben und begann wieder den Kopf zu Fragen. Jetzt fab
fie die Ihenardier, diefes fheuflihe Weib mit dem Hpänen-
maul und den wutflammenden Augen. Kläglich blickte fie um
fih. Was tun? Wohin gehen? Vor ihr dag Gefpenft der Thé-
nardier, hinter ihr die böfen Geifter der Naht und des Waldes.
Sie entfchied fi) gegen die Thenardier. Wieder nahm fie die
Richtung zur Quelle und begann zu laufen. Laufend verlieh fie
bas Dorf, laufend durdquerte fie den Wald, fab und hörte
nichts. Als ihr der Atem ausging, blieb fie nicht fteben, fon-
dern ging wenigftens im Schritt weiter.
Sie hatte große Luft zu weinen.
Das nächtliche Weben des Forftes hüllte fie ein. Sie wagte
feinen Gedanfen zu faffen, wagte nicht, um fich zu bliden.
Vom Waldrand bis zur Quelle hatte fie fieben oder act
Minuten zu gehen. Eofette Fannte den Weg gut genug, mußte
fie ihn doc) täglich mehrmals zurüclegen. Sie verirrte fih nicht.
Ein Inſtinkt führte fie. Obwohl fie nicht aufblifte, aus Furcht,
15 Hugo. Die Elenden. 225
in den Zweigen oder im Geftrüpp etwas zu feben, ging fie den
richtigen Weg. Sie erreichte die Quelle.
Es war ein etwa zwei Fuß tiefes, natürliches Becken, rings-
um moosbewachſen. Murmelnd ſchoß das Wafler hervor.
Cofette nahm ſich nicht einmal die Zeit, aufsuatmen. Es war
ftotfinfter. Aber fie Fannte fid ja hier aus. Mit der Linfen
taftete fie nach einer jungen, über dag Wafler geneigten Eiche,
die ihr gewöhnlich als Stüßpunft diente, griff einen Aft, hing
fit daran, beugte fi) vor und tauchte den Zuber ins Waffer.
Die Erregung verdreifachte ihre Kräfte. Während fie fo über
bas Wafjer gebeugt war, bemerkte fie nicht, daB der Inhalt
ihrer Schürzentafche hineinfiel. Das Fünfzehnfousftüd war ver-
loren. Eofette bemerkte es nicht. Sie zog den faft gefüllten
Eimer hoch und ftellte ibn ins Gras.
Gebt bemerkte fie, daB fie erfhôpft war. Gern wäre fie fofort
zurücgelaufen, aber die Mühe, den Zuber hochzuziehen, hatte
ihr alle Kraft genommen. Sie mußte fid einen Augenblick nie-
derfeßen. Gebückt hockte fie im Graſe.
Sie fhloß die Augen und fhlug fie wieder auf, ohne zu
wifjen warum; fie Eonnte nicht anders. Das Waſſer neben ihr,
von der ‘Bewegung aufgefheucht, 309 Kreife, die Schlangen
glihen. Der Himmel über ihr war mit ſchwarzen Wolfen über-
zogen, die Rauchſäulen ähnlich waren. Die Dunkelheit fhien
fi über fie zu beugen, nach ihr zu greifen.
Supiter ging gerade unter. Das Kind fab mit erfchredten
Augen diefen großen Stern, den fie nicht Fannte, und der ihr
Furcht einflößte. Der Planet ftand Enapp über dem Horizont
und fhimmerte durch eine dichte Mebelfchicht unheimlich groß.
Man hätte ibn für eine blutige Wunde halten Eönnen.
Kalter Wind ftrid über die Ebene bin. Nur das Raſcheln
der Blätter war zu vernehmen. Etwas bemädhtigte fi) des
Kindes, fürdterliher als Furcht. Eifiger Schauer erfaßte fie.
Ihr Blick fiel auf den Zuber, wieder Fam ihr die Angft vor
der Ihenardier zu Hilfe. Mit beiden Händen umflammerte fie
den Henkel. Mühſam hob fie das Gefäß bob. Sie tat etwa ein
226
Dusend Schritte, aber der Zuber war zu ſchwer, fie mußte ihn
wieder abfeten. Nachdem fie Atem gefchöpft hatte, bob fie ihn
wieder auf und lief diesmal eine etwas größere Strede. Mod
einmal mußte fie ftehenbleiben. Wieder einige Sefunden Ruhe.
Vorgebeugt, den Kopf gefenft wie eine Greifin, machte fie fi
wieder auf den Weg. Das Gewicht des Zubers zerrte an ihren
mageren Armchen. Tief gruben fih die Henkel des Eimers in
ihre Eleinen, feuchten Hände. Von Zeit zu Zeit mußte fie
ftehenbleiben, und jedesmal fehwippte Waſſer über den Rand
des Zubers und benäßte ihre nadten Deine.
Ihr Keuchen Élang wie ein qualvolles Röcheln. Schluchzen
fhnürte ihre Kehle zu. Uber fie wagte nicht, zu weinen, jo
febr fürchtete fie, fogar aus der Ferne, die Ihenardier. Es war
ihre Gewohnheit, fi immer vorzuftellen, diefe Frau wäre zu-
gegen.
Raſch Fonnte fie auf diefe Weiſe nicht vorwärts kommen.
Mochte fie ihre Ruhepauſen nod fo fehr Fürzen und jedesmal
bis zur Erfhöpfung weiterlaufen! Mit Angft und Entfeßen
wurde fie fit bewußt, daß fie eine Stunde brauchen würde, um
fo nach Montfermeil zurücdzufommen und daß die Thenardier
fie fhlagen würde. Diefe Angft paarte fih mit dem Grauen
vor der nähtlihen Einfamfeit im Walde. Sie war müde zum
Umfinfen, als fie den Wald noch nicht Hinter fib hatte. Unter
einem alten Kaftanienbaum machte fie eine lete, längere Sta—
tion, dann fammelte fie all ihre Kräfte und begann tapfer
gegen das Dorf zu auszufchreiten.
In diefem Augenblif fühlte fie, wie der Eimer plößlic
leicht wurde. Eine Hand, die ihr ungeheuer groß fhien, hatte
den Henkel ergriffen. Sie bliefte auf. Etwas Großes, Schwar-
je8 ging in der Sinfternis neben ihr. Es war ein Mann, der
hinter ihr bergefommen war und den fie nicht gehört hatte.
Mortlos hatte er den Henkel des Zubers ergriffen.
Es gibt einen Inſtinkt, der bei der erften Begegnung das
Richtige weift.
Das Kind fürtete fih nicht.
zu 227
6. Vielleicht iſt Boulatruelle Dodb Flug
Am Nachmittag desfelben Weihnachtstages 1823 durchſchritt
ein Mann langfam den entlegenften Teil des Boulevard de
PHôpital in Paris. Diefer Mann fab aus wie einer, der eine
Wohnung fut, und er fhien die befheidenften Häufer diefes
dürftigen Stadtviertelg zu bevorzugen.
Der Lefer wird beizeiten erfahren, daß diefer Mann wirf-
li ein Zimmer in jener Gegend gemietet hatte.
Seiner Kleidung wie auch feiner ganzen Perfünlichfeit nad)
war er der Typus deflen, was man „bettelarm aber anftändig‘
nennt: außerfte Armut mit peinlichfter Sauberfeit verbunden.
Das ift eine feltene Mifchung, die Elugen Beobachtern dop-
pelte Achtung einflößt und bemeift, daß, wer fi fo trägt,
ebenfo würdig wie arm ift. Der Mann trug einen fehr alten
und ftarf abgebürfteten runden Hut, einen Mod aus grobem,
ockergelbem Tuch, der fchon fadenfcheinig war, eine Weſte mit
ungebeuerlien Zafchen, ſchwarze Hofen, die bereits an ben
Knien grau geworden waren, ſchwarze Wollftrümpfe und derbe
Schuhe mit fupfernen Schnallen. Man hätte ihn für einen
alten Sauslebrer einer guten Familie halten können. An feinen
weißen Haaren, feiner gefurchten Stirn, feinen blaffen Lippen
und feinem Gefiht, das Kummer und Tebensmüdigfeit er-
fennen Tieß, hätte man den Sechziger erkennen können, bot
ließen fein ficherer, wenn auch bedädhtiger Gang, feine ent-
Ihiedenen Bewegungen erfennen, daß er kaum fünfzig zählte.
Die Falten auf feiner Stirn waren gut gezogen und Fonnten
einen aufmerffamen Beobachter für ihn einnehmen. Seine
Lippen wurden von einer fcharfen Salte umrahmt, die auf
Strenge fchließen Tieß, aber Demut bedeuteten. In der Tiefe
feines Blickes war eine büftere Ruhe. In der Linfen trug er
ein in ein Tuch verfnotetes Paket. Die Rechte ftüßte fih auf
einen Stod, den er wohl jelbft aus einer Hede gefhnitten
hatte.
Der Boulevard war wenig belebt, zumal zu bdiefer winter:
228
lichen Zeit. Doch fhien unfer Mann, wenn auch unauffällig,
felbft diefe wenigen eher zu meiden als zu fuchen.
Gegen viertel fünf, mit Einbrud der Dunfelheit, fam er
an dem Theater der Porte-St.-Martin vorüber, wo an diefem
Sage „Die beiden Sträflinge” gegeben wurden. Das Pro-
gramm, von den XIheaterlampen erleuchtet, intereffierte ihn
offenbar, denn obwohl er jest rafch ging, blieb er einen Augen-
blick fteben, um es zu Iefen. Eine Sefunde fpäter bog er in die
Sadgaffe la Planchette ein und näherte ſich dem Poftbüro der
Strede nad Lagny. Die Poftkutfhe mußte um halb fünf ab-
fahren. Die Pferde waren fhon angefpannt, und die Paffagiere,
von dem Poftillion berbeigerufen, Eletterten eilig die hohe Eifen-
treppe zu den Dedffißen empor.
„Haben Sie nod einen Platz frei?” fragte der Mann.
„Einen einzigen, gleich hier neben mir, auf dem Kutſchbock.“
„Ich nehme ihn.”
„Steigen Sie auf.‘
Bevor die Poftfutfhe fih in Bewegung fete, warf der Do-
ftillion einen ‘Blick auf die dürftige Kleidung feines Paflagiers
und den geringen Umfang feines Gepäds; er verlangte fein Geld
im voraus.
nSabren Sie bis Lagny?!’ fragte er.
ra."
Der Reiſende bezahlte bis Lagny.
Das Gefährt febte fih in Dewegung. Nachdem man bas
Meichbild der Stadt verlaffen hatte, wollte der Kutfcher eine
Unterhaltung anfnüpfen, aber der Meifende antwortete ein-
filbig. So mußte der Kutfcher ſich damit begnügen, vor fih bin
zu pfeifen und den Pferden Fräftige Flüche zuzurufen.
Bald wurde es Falt, der Kutfeher hüllte fih in feinen Man-
tel. Der Reiſende fchien nichts zu fpüren. So Fam man durd
Bournay und Neuilly fur Marne.
Gegen febs Uhr abends war man in Chelles. Der Kutfcher
hielt an, um feine Pferde verfchnaufen zu laffen.
229
„Ich fteige hier ab”, fagte der Fremde. Damit nahm er
Bündel und Stod und fprang aus dem Wagen.
Sm nächſten Augenbli war er verfhwunden.
In die Gaftwirtfhaft, vor der die Poftkutfche hielt, war er
nicht eingetreten.
Als der Wagen einige Minuten fpäter in der Richtung nad)
Lagny weiterfuhr, begegnete man dem Unbekannten nicht auf
der Chauſſee nah Chelles.
Der Kutfcher wandte fih nad den Paflagieren im Innern
des Magens um.
‚Der Mann ift nibt von bier, ich Éenne ibn nicht. Sieht
aus, als ob er feinen Sou befäße. Aber ihm liegt nichts an
Geld, er zahlt bis Lagny und fteigt in Chelles aus. Es ift
Nacht, alle Häufer find verfhloffen. Er war nicht in der Her-
berge, und bier ift er auch nicht. Offenbar ift er in den Erd—
boden verfhwunden.”
Dun, der Reiſende war nicht verfhmwunben, aber er hatte
baftig in der Dunkelheit die Hauptftraße von Chelles durd-
fhritten und war dann vor der Kirche in den Seitenweg ein-
gebogen, der nah Montfermeil ging; offenbar Fannte er doch
die Gegend.
Raſch fehritt er aus. An der Stelle, wo fein Weg die alte
Allee von Gagny nad Lagny Freuzt, hörte er Stimmen. Raſch
trat er in den Straßengraben und wartete, bis die Paſſanten
vorüber waren. Diefe Vorfiht war übrigens überflüffig, denn
die Dezembernadt war, wie wir fchon gefagt haben, außer-
ordentlih dunkel. Man fab Faum zwei oder drei Sterne am
Himmel.
Test begann der Weg anzufteigen. Der Unbefannte feßte
aber den Weg nah Montfermeil nicht fort; er wandte fih zur
Rechten und erreichte mit großen Schritten querfeldein ben
Wald.
Aufmerffam fpähte er dur den Mebel und betrachtete die
Bäume, als ob er fit zurechtfinden wolle. Er ging jest lang-
famer, Schritt für Schritt, wie wenn er einen geheimnisvollen
230
Weg fuden wollte, den nur er Éannte. Einen Augenblif lang
blieb er unentſchloſſen fteben. Schließlich taftete er fich zu einer
Lichtung burd, in der ein Haufen Steine lag. Lebbaft trat er
näher. Mur einige Schritte von dem Steinhaufen entfernt ftand
ein bider Baum, der mit Auswüchſen, gleihfam den Warzen
der Pflanzen, bededt war. Der Fremde ftreichelte die Rinde,
als ob er diefe Auswüchſe wiederzuerfennen fuchte.
Gegenüber diefem Daum, einer Eſche, ftand ein Kaftanien-
baum, beffen Rinde fi abfhälte; man hatte ihm darum eine
Zinfmanfchette gegeben. Der Fremde ftellte fih auf die Zehen-
fpisen und betaftete dag Metallftüd.
Eine Weile lang ging er zwifchen dem Baum und dem Stein
bin und her, prüfte den Boden, ob er nicht jüngft aufgewühlt
worden fei. Dann fuchte er fich zu orientieren und feßte feinen
Marſch durch den Wald fort.
7. Eofette gebt mit bem Unbefannten
durch die Nacht
Sie empfand, wir ſagten es ſchon, keine Furcht.
Der Mann redete ſie an. Seine Stimme war tief und leiſe.
„Kind,“ ſagte er, „das iſt nicht leicht, was du da trägſt.“
Coſette blickte auf und antwortete:
„Ja, guter Herr.“
„Gib her, ich trag' es für dich.“
Coſette ließ den Zuber los. Der Mann ging neben ihr her.
„Wirklich verdammt ſchwer“, murmelte er. „Wie alt biſt du,
Kleine?“
„Acht Jahre, guter Herr.“
„Und kommſt du weit her damit?“
„Von der Quelle im Wald.“
„Und wie weit gehſt du noch?“
„Eine gute Viertelſtunde von hier.“
Eine Zeitlang blieb der Fremde wortlos.
231
„Demnach haft du alfo Feine Mutter?’ fragte er ſchließlich
unvermittelt.
„Ich weiß nicht”, fagte das Kind.
Der Mann blieb fteben, feßte den Eimer auf den ‘Boden,
beugte fi) über bas Kind und legte feine beiden Hände auf ihre
Schultern; er bemühte fi, in der Finfternis ihr Gefibt aus-
zunehmen.
Sm Schwachen Licht der Sterne war bas magere, Elägliche
Geſicht Cofettes undeutlich zu erkennen.
ie heißt du?’
„Coſette.“
Es war, als ob ein elektriſcher Schlag den Mann treffe. Er
ſah ſie noch einmal an, griff dann wieder nach dem Zuber und
begann zu gehen.
„Wo wohnſt du?“ fragte er nach einiger Zeit.
„In Montfermeil.“
„Gehen wir hier richtig?“
„Ja, guter Herr.“
Nach einer Pauſe begann er wieder zu fragen:
„Wer ſchickt dich denn um dieſe Zeit nach Waſſer in den
Wald?“
„Frau Theénardier.“
Offenbar ſuchte der Mann ſeine Erregung zu verbergen, aber
ſeine Stimme zitterte eigentümlich.
„Wer iſt denn das, dieſe Frau Thénardier?“
„Meine Gnädige“, ſagte bas Kind. „Sie bat die Wirt—
ſchaft.“
„Die Wirtſchaft? Nun, ich werde heute nacht dort ſchlafen.
Führe mich!“ |
„Bir find gerade auf dem Wege dahin.”
Der Mann ging ziemlich rafch, aber Eofette folgte ihm mühe-
los. Sie fühlte ſich jeßt nicht mehr müde. Mehrmals blidte
fie ruhig und vertrauensvoll zu ihm auf. Man batte fie nicht
gelehrt, zur Vorſehung aufzubliden und zu beten. Doch emp-
fond fie jeßt etwas wie Hoffnung oder Freude.
232
So verftrihen einige Minuten.
Der Mann begann wieder zu fragen:
„Hat denn Frau Ihenardier Feine Magd?“
„Nein.“
„Alſo biſt du allein?“
„Ja, guter Herr.“
Wieder folgte eine Pauſe.
„Eigentlich, ſie hat ja die zwei Mädchen“, begann diesmal
Coſette.
233
„Welche Mädchen?’
nDonine und Zelma.“
So kürzte das Kind die romantifhen Namen ab, die der
TIhenardier fo feuer waren.
„Wer ift das, Ponine und Zelma?“
„Das find die Fräuleins von Frau Ihenardier; ihre Töchter.’
„Und was tun die beiden?’
„Oh, fie haben fhöne Puppen, Goldfaden, alles mögliche.
Sie fpielen und unterhalten ſich.“
„Den ganzen Tag?’
„a, guter Herr.’
„And du?‘
„Ich arbeite. Manchmal, wenn die Arbeit zu Ende ift und
wenn man es mir erlaubt, unterhalte ih mich auch.”
„Die mabft bu das?
„Wie es geht. ch babe nicht viel Spielzeug. Ponine und
Zelma wollen nicht, daß ich mit ihren Puppen fpiele. Vh babe
einen Bleifäbel, fo lang”, und fie zeigte den Fleinen Finger.
„Schneidet er denn?‘
„Doch, guter Herr, Salat und Köpfe von Fliegen.’
Sie erreichten das Dorf. Cofette führte den Fremden durd
die Straßen. Sie famen aud an der Bäckerei vorüber, aber
Cofette dachte nicht an das Brot, bas fie mitbringen follte. Der
Mann Hatte aufgehört zu fragen und ſchwieg bumypf. Als fie
aber die Kirche hinter fi) hatten, bemerkte er die Hökerbuden
und fragte:
„Iſt denn hier Jahrmarkt?“
„Nein, guter Herr, Weihnachten.‘
Sie näherten ſich jest der Herberge. Scheu berührte Eofette
feinen Arm.
„Suter Herr...
„Sun?
„Dir find jeßt gleich zu Haufe.”
a, und?“
„Wollen Sie mir jeßt den Zuber geben?”
234
„Warum?“
„Wenn Frau Thenardier ſieht, daß man ibn mir getragen
hat, prügelt ſie mich.“
Der Mann gab ihr den Zuber. Im nächſten Augenblick ſtan—
den die beiden vor dem Eingang der Herberge.
8. Unannehmlichkeit, einen Armen bei fic
aufzunehmen, der vielleihtreih ift
Cofette Eonnte fih nicht enthalten, einen DBli nah der
großen Puppe zu werfen, die noch immer in der Schaubude
bellbeleuchtet ftand, dann Élopfte fie. Es wurde geöffnet. Die
Thénardier ftand mit einer Kerze in der Hand auf der Schwelle.
„Ab, da bift bu ja, Éleines Aas! Du haft ja ſchön lang ge
braudt! Wo haft bu dich denn herumgetrieben, Fratz?“
„Da ift ein Herr, der bier fchlafen will”, fagte Coſette
jitternd.
Sofort wechfelte die Thenardier ihre Miene, wurde liebens-
würdig, wie das bei den Gaftwirten üblich ift, und faßte den
Sremden ins Auge.
„Iſt das der Herr?‘
„Ja, rau‘, fagte der Mann und führte die Hand zum
Hute.
Reiche Reiſende pflegen nicht fo höflich zu fein. Diefe Ge-
bärde, des weiteren auch der kurze Blick, den die Ihenardier
auf Kleidung und Gepäck des Fremden warf, ließ die liebens-
würdige Miene wieder verfchwinden, und fie fagte troden:
„Treten Sie ein, guter Mann.
Der „gute Mann’ folgte. Die Thenardier warf ihm einen
zweiten Blick zu, prüfte den Mod, der fon ganz fadenfcheinig
war, bemerkte, daB der Hut bereits die Form verloren hatte
und wandte fi dann mit einem Zwinfern und Rümpfen der
Mafe zu ihrem Mann, der noch immer mit den Fuhrleuten
zechte. Thénarbier antwortete mit einem kaum merflihen Winf
des Zeigefingers und zugleich mit einem verädhtlichen Herab-
237
ziehen der Mundwinkel; das bedeutete in diefem Falle: Herr
Sabenibts!
Jetzt wandte fi die TIhenardier wieder dem Fremden zu.
„Ich babe leider Feine Schlafftelle mehr frei, guter Mann.”
„Bringen Sie mid unter, wo immer Sie wollen, auf dem
Boden oder im Stall. Ich werde fo viel zahlen wie für ein
Zimmer.”
nRoftet vierzig Sous.“
„Gut, vierzig Sous.
„Nun denn, von mir aug.’’
nBierzig Sous,“ fagte ein Kutfcher leife zu Thénarbier,
„das ift doch zuviel? Es Éoftet bot nur einen Franken!“
„Für den zwei’, erwiderte die Ihenardier in gleichem Ton.
„Ganz Arme nehme id billiger nicht an.”
„Das ift ganz richtig,” fügte ihr Gatte freundlich Hinzu, „das
fchadet dem Haufe, wenn man foldhe Gäfte hat.”
Inzwiſchen hatte der Mann fein Bündel und feinen Stod
abgelegt und an einem Tiſch Plat genommen; Cofette beeilte
fih, eine Flafche Wein und ein Glas vor ihn hinzuftellen. Der
Haufierer, der Waſſer für fein Pferd verlangt hatte, ging in
den Stall. est nahm Cofette ihren Platz unter bem Küchen—
tif wieder ein und griff nach der Striderei.
Der Fremde hatte kaum an dem Wein genippt; mit felt-
famer Teilnahme betrachtete er bas Kind.
Eofette war häßlih. Wenn fie glücklich geweſen wäre, hätte
fie ein hübſches Kind fein können. Wir haben bas traurige
Éleine Geſchöpf ſchon gezeichnet. Sie war mager und blaß, fab
troß ihrer acht Jahre kaum wie fes jahre alt aus. Ihre gro-
Ben, tiefliegenden Augen waren vom Weinen faft erlofchen.
Ihre Mundwinfel waren gekrümmt, wie man es bei Menfhen
findet, die viel Angft ausftehen, zumal bei Derurteilten und
unbeilbar Kranken. ihre Hände waren von Froftbeulen ent-
ftellt. Das Kaminfeuer, deffen Licht auf die Kleine fiel, bob die
fharf vorfpringenden Knochen deutlich hervor und betonte die
Magerfeit des armen Gefhöpfs. Da dag Kind immer fror,
236
hatte es fit daran gewöhnt, die beiden Knie gegeneinander zu
preffen. Seine Kleidung beftand aus einem elenden eben, der
im Sommer Mitleid, im Winter Grauen erregen mußte. Sie
hatte nur ein zerfchliffenes Stück Leinwand auf dem Leibe, Fein
Stückchen Wolle. Stellenweife Fam die bloße Haut zum Vor-
fhein, und man Fonnte die blauen und fchwarzen Fleden er-
fennen, die von Frau Ihenardiers Mißhandlungen herrührten.
Die nadten Beine waren gerötet. Die ganze Erfheinung des
Kindes, fein Gehaben, der Klang feiner Stimme, die langen
Paufen zwifchen den Worten, fein Blick, jede Gefte, alles ver-
riet den einzigen Trieb, der bas unglidlihe Weſen beherrfchte
— die Surbt.
Alles an ihr war Furcht; die Burt ließ Eofette die EI-
bogen an die Hüften preffen und die Ferſen an fich ziehen, den
Atem anhalten und eine Haltung einnehmen, in der fie mög-
lihft wenig Raum brauchte. In der Tiefe ihrer Augen lag
Verwunderung und Schreien.
Der Mann in dem gelben Mot lie fie nicht aus den Augen.
Plöslich rief die Thénardier:
„Jun, und dag Brot?‘
MWie immer, wenn die Tbénardier laut ſprach, Fam Cofette
unter dem Tiſch hervor. Sie hatte das Brot vollftändig ver-
geflen. So 309 fie fih in die Derteidigungsftellung aller ver-
ängftigten Kinder zurück — fie log.
„Der Bäder hatte fchon gefchloffen.”
„Dann mufbteft du anflopfen.”
„Ich babe geklopft, aber er bat nicht geöffnet.‘
„Ich werde ihn morgen fragen, ob das wahr ift. Wenn du
gelogen haft, fo folft du etwas zu fpüren befommen. Jetzt gib
mir die fünfzehn Sous zurück.“
Eofette griff in die Iafche und wurde totenblaß. Die fünf-
zehn Sous waren nicht mehr ba.
„Vorwärts,“ fbrie die Thenardier, „haſt du gehört!”
Cofette wandte ihre Taſche um. Nichts. Wo mochte die
251
Münze bingefommen fein? Die Kleine brachte Fein Wort über
die Lippen. Sie war wie zu Stein erftarrt.
„Haft du es vielleicht verloren?’ fchrie die Thénarbier, „oder
willft du es mir ſtehlen?“
Und fie fredte die Hand nad) der Karbatfche aus, die in der
Raminede hing.
Sest fand Cofette die Kraft zu fchreien.
„Dein, ic tu’s nicht wieder!‘
Schon hatte die Tbénarbier die Karbatfche in der Hand.
Der Mann in dem gelben Mod hatte in feine Weftentafche
gegriffen, ohne daß jemand darauf geachtet hätte. Übrigens
waren die anderen Gäfte mit Trunk und Spiel befhäftigt und
fümmerten fih nicht um das was vorging.
Eofette drüdte fih angftvoll in die Raminede und fuchte ihre
armen balbnadten Glieder nah Möglichkeit zu decken. Die The-
nardier holte aus. |
„Einen Augenblid, Frau,” fagte der Mann, „aber da ift
der Kleinen eben etwas aus der Taſche gefallen und unter den
Tiſch gerollt. Vielleicht ift es die Münze, die Sie ſuchen?“
Er büdte fih und fhien nad) etwas zu greifen.
„Richtig, da ift es“, fagte er und reichte die Münze der
TIhenardier.
„Allerdings ...“
Coſette kroch unter den Tiſch zurück, in „ihren Winkel“, wie
es die Thénardier nannte; ihr großes Auge war erſtaunt auf
den Fremden gerichtet und nahm einen Ausdruck an, den es bis—
her nicht gekannt hatte.
„Wollen Sie nicht etwas eſſen?“ fragte die Thénardier den
Gaſt.
Er antwortete nicht. Offenbar dachte er tief nach.
Eine Tür ging auf, Eponine und Azelma traten ein.
Die Kleinen waren wirklich hübſch und glichen eher Bürger—
mädchen als Bauerntöchtern; die eine hatte glänzendes, kaſta—
nienbraunes Haar, die andere lange, ſchwarze Zöpfe, die auf
238
den Mücken herabhingen; beide waren lebhaft, fauber, friſch und
e8 war eine Freude, fie anzufchauen. Sie waren warm und fo
geſchickt geFleidet, daß die Dicke des Mollftoffs nicht ungefchmei-
dig wirkte. Auch bewies das fibere Auftreten der Kinder, daß
fie nicht ſchüchtern waren. Als fie eintraten, hatte die Thénar-
dier mürrifch, aber doch vol zärtlicher Liebe gejagt:
„Ab, da feid ihr ja wieder!‘
Dann bob fie eine nad der andern auf den Schoß, ſtrich
ihnen die Haare aus dem Geficht, glättete die Schleifen und
feßte fie fanft, wie es nur Mütter fun, wieder auf die Erde.
Die beiden Mädchen hatten eine Puppe mitgebracht, mit
der fie aufs anmutigfte fpielten. Zumeilen blickte Eofette von
ihrer Stridarbeit auf, ihr Blick war büfter.
Eponine und Azelma achteten nicht darauf. Für fie war Co—
fette wie ein Hund. Diefe drei Mädchen zählten zufammen
feine vierundzwanzig Sabre, und doch waren fie fon eine Kopie
der menfchlichen Gefellfhaft: hier Neid — bier Verachtung.
Die Puppe der Schweftern Thénardier fab recht abgeriffen
und alt aus, aber nichtsdeftoweniger mußte fie Coſette bewun-
derungsmwürdig erfcheinen, da fie doch in ihrem Leben niemals,
wenn wir das Kinderwort gebrauchen wollen, eine richtige
Puppe beſeſſen hatte.
Plötzlich bemerkte die Thénardier, die in der Gaſtſtube auf
und ab ging, daß Coſette nicht arbeitete, ſondern den beiden
ſpielenden Mädchen zuſah.
„So arbeiteſt du!“ ſchrie ſie. „Ich werde dich mit der Kar—
batſche arbeiten lehren!“
Ohne aufzuſtehen, wandte ſich der Fremde der Thénardier zu.
„Laſſen Sie ſie doch ſpielen“, ſagte er faſt ängſtlich.
Von einem Reiſenden, der eine Hammelkeule und zwei Fla—
ſchen Wein beſtellt hätte und nicht wie ein elender Schnorrer
ausſah, hätte dieſer Wunſch einen Befehl bedeutet. Aber daß
einer mit einem verbeulten Hut und einem abgeſchabten Rock
etwas wolle, glaubte die Thénardier nicht dulden zu dürfen.
Darum ſagte ſie grob:
239
„Sie bat zu arbeiten, denn fie ißt ja auch. ch ernähre fie
nicht, damit fie faulenzt.“
‚Bas arbeitet fie denn da?” fragte der Fremde mit einer
fanften Stimme, die nicht zu feinen Laftträgerfchultern paßten.
„Strümpfe, wenn es Ihnen paßt”, antwortete die Ihenar-
dier. „Strümpfe für meine Töchter, die Feine mehr haben und
bald nadt laufen müſſen.“
Der Fremde ftreifte die rotgefrorenen Beinchen Cofettes mit
einem Blick und fuhr fort:
„ie lange braudt fie, um fol ein Paar fertigzuſtricken?“
„Dei ihrer Faulbeit gewiß drei oder vier Tage.“
„Und was mag ein folhes Paar Strümpfe wert fein, wenn
es fertig iſt?“
Die Ihenardier warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
„Mindeftens dreißig Sous.“
„Würden Sie es mir für fünf Franken ablaffen?‘
„Himmelherrgott!“ rief einer der Fuhrleute, „für fünf Fran-
fen? Denke wohl! Für fünf Plemper!“
Sekt glaubte Thenardier, ein Wort zur Sache Jagen zu müffen.
„Nun, mein Herr, wenn es Ihre Laune will, follen Sie dies
Paar Strümpfe für fünf Franfen haben. Wir fhlagen unferen
Gäften nicht gern etwas ab.’
„Aber das Geld muß gleich bezahlt werden”, fagte die Ihe-
nordier furz und entfchieden.
„Ich Kaufe alfo diefes Paar Strümpfe”, erwiderte der
Mann, z0g ein Fünffranfenftüf aus der Tafhe und legte es
auf den Tiſch. „Hier ift das Geld.‘
Dann wandte er fih an Eofette:
„Jetzt gehört deine Arbeit mir. Geh fpielen, mein Kind!‘
Thenardier trat an den Tifb und nahm wortlos das Fünf-
franfenftüd. Seine Frau fand ihre Sprache nicht wieder. Sie
biß fi in die Lippen, und ihr Gefibt verriet Haß.
Eofette zitterte, aber fie wagte doch zu fragen:
„Darf ich fpielen?”
„Spiel? ſchon!“ fhrie die Thénardier wütend.
240
„Danke, flüfterte die Kleine.
Ihr Mund dankte der Wirtin, aber ihre Fleine Seele
wandte fi bem Fremden zu.
Thénarbier hatte fid wieder an den Tifh der Zecher gefekt.
Seine Frau flüfterte ihm ins Ohr:
„Wer mag der Gelbe fein?‘
„Ich babe Millionäre geſehen,“ erwiderte Ihenardier pañig,
‚Die Nöde wie diefen anhatten.”
Cofette hatte ihren Strumpf beifeitegelegt, war aber auf
ihrem Pas verblieben. Sie rührte fih immer fo wenig als
möglih. Aus einer Schadtel, die hinter ihr fand, hatte fie
einige alte Quchlappen und einen Éleinen Dleifäbel genommen.
Eponine und Azelma achteten nicht darauf, was vorging.
Ihre ganze Aufmerffamfeit galt einer fehr wichtigen Maß—
nahme, fie hatten fih der Kate bemächtigt. Die Puppe war
weggelegt worden, und Eponine, die Ältere, verfuchte bas
Kästchen, fo febr es ſich auch fträubte und fo febr es minute, in
eine Menge Fleiner roter und blauer Lappen zu wideln. Wäh—
rend fie biefe ernfte und fchwierige Arbeit vollbrachte, erklärte
fie in diefer füßen und Tiebenswürdigen Sprache der Kinder,
deren Anmut ebenfo unnadabmlih ift wie der Glanz der
Flügel eines Schmetterlinge, den Zweck ihres Werkes:
„Siehft bu, diefe Puppe ift luftiger als die andere. Sie be-
wegt fi, fie fehreit, fie ift foger warm. Verſtehſt bu, wir
wollen mit ihr fpielen. Sie ift meine Tochter, ich bin eine
Dame. Ich Fomme zu dir zu Vefud und du fiehft fie. Da
merfft du, daß fie einen Schnurrbart bat und tuft erftaunt.
Hernach fiehft du die Ohren, und den Schwanz, und ftaunft
noch mehr. Und du fagft: Mein Gott, und ich fage darauf: Va,
Madame, das ift meine Tochter, und ich babe fie fo befommen.
Heute find die Eleinen Mädchen fo.”
Azelma hörte diefen Vorſchlag Eponines mit Begeifterung.
Inzwiſchen hatten die Zecher begonnen, ein zotiges Lied zu
fingen, und fie brüllten fo laut, daß die Dede davon zitterte.
Thenardier ftimmte ein und feuerte fie an.
16 Hugo, Die Elenden. 241
Mie die Vögel aus allem ein Meft zuftande bringen, machen
Kinder aus den unmôglidbften Dingen eine Puppe. Während
Eponine und Azelma die Kate als Fräulein herauspußten, be-
Éleidete Cofette ihren Säbel. Dann nabm fie ihn auf den Arm
und wiegte ihn in den Schlaf.
Die Ihenardier war wieder zu dem Gelben zurücfgefehrt.
Mein Mann bat recht, dachte fie, vielleicht ift der Kerl ein
Rothſchild. Die Meichen find oft fo fbrullig!
„Mein Herr . . .", fagte fie.
242
Auf diefe Anrede wandte fi) der Fremde um. ‘Bisher hatte
die Ihenardier ihn „guter Mann“ angeredet.
„Sehen Sie, mein Herr,” fuhr fie fort und fete ihre füß-
libfte Miene auf, die noch abftoßender wirfte als ihre wütende,
‚ich will ja gern, daß das Kind fpielt, ich hab’ gar nichts da-
gegen, aber es geht bo nur einmal, weil Sie freigebig find.
Verſtehen Sie, die hat nichts, darum muß fie arbeiten.‘
„Ach, fie ift wohl nibt Ihr Kind?‘
„Beileibe nein, Herr, es ift eine Eleine Arme, die wir aus
purem Mitleid aufgenommen haben. Und ein wenig blöd tft
bas Kind auch. Wahrfcheinlich bat es Waller im Kopf. Sehen
Sie nur den großen Kopf an! Wir tun für fie, was wir können,
aber wir find nicht reich. Da ift es leicht, Briefe in ihre Heimat
zu freiben, man Ériegt doc Feine Antwort. Schon febs Mo—
nate! Die Mutter muß geftorben fein.”
„So“, meinte der Mann und verfanf wieder in feine träu-
merifche Stimmung.
„An der Mutter war auch nicht viel’, fuhr die Ihenardier
fort. „Sie bat bas Kind im Stich gelaſſen.“
Während diefes Geſprächs hatte Cofette, der ein Inſtinkt zu
fagen fhien, daß von ihr die Rede war, fein Auge von der
Thénarbdier gewandt. Vielleicht fehnappte fie ein oder das andere
Wort auf.
Endlid gab der „Millionär dem Drängen der Wirtin nad
und willigte darein, ein Abendbrot zu beftellen.
Bas befehlen der Herr?’
„Brot und Käſe.“
Er iſt doch ein Schnorrer, dachte die Thénardier.
Die Trinker waren noch immer bei ihrem Geſang, und auch
Coſette ſummte unter dem Tiſch vor ſich hin. Plötzlich ſtockte
fie. Sie hatte fi) umgedreht und bemerkte die Puppe der kleinen
TIhenardierg, die zugunften der Katze vernachläffigt worden war
und am Boden lag.
Sie ließ ihren Säbel fallen, der doch immer nur ein halbes
Kind abgeben Eonnte, und blifte zunächſt feu um fih. Die
16*
243
Thenardier ftand bei ihrem Mann und flüfterte, Ponine und
Zelma fpielten mit der Katze, die Gäfte foffen und grölten;
niemand achtete auf fie. Es hieß Feinen Augenblick verlieren.
Sie Érod auf Händen und Füßen unter ihrem XIifc hervor,
verficherte fid no einmal, daß niemand aufpaßte, glitt dann
rafd zu der Puppe bin und ergriff fie. Im nächſten Augenblid
war fie wieder auf ihrem Plas; fie hatte fich fo gefeßt, daB ihr
Schatten auf die Puppe fiel. Das Vergnügen, mit einem fo
Föftlichen Gegenftand zu fpielen, war für fie offenbar fo außer-
ordentlich, daß fie fit mit höchſtem Eifer daranmadıte.
Niemand hatte fie bemerft, nur der Fremde, der langfam
fein dürftiges Mahl verzehrte, beobachtete fie.
Diefes Glück dauerte faft eine Diertelftunde. Aber fo vor-
fibtig Cofette auch gewefen war, fie bemerfte nicht, daß ein Fuß
der Puppe aus dem Schatten hervorftand, und daß bas Feuer
des Kamins grell darauf fiel. Diefer bellbeleuchtete, rofige Fuß
lenkte [chließlich auch Azelmas Blicke auf fib, und fie fagte zu
Eponine:
„Aufgepaßt!“
Verblüfft hielten die beiden Kleinen in ihrem Spiel ein.
Coſette hatte gewagt, ihre Puppe anzugreifen.
Eponine ſtand auf und ging, ohne die Katze loszulaſſen, zu
ihrer Mutter. Sie zupfte die Thénardier am Rock.
„Laß mich in Ruhe“, ſagte dieſe. „Was willſt du denn?“
„Sieh doch, Mutter!“
Und ſie deutete auf Coſette.
Das Kind, von dem Genuß dieſes ſeltenen Beſitzes ganz be—
rauſcht, merkte nichts.
Das Geſicht der Thénardier nahm einen wütenden Ausdruck
an. Ihr beleidigter Stolz war noch wilder als ihr Zorn. Co—
fette hatte ſich unterſtanden, den ungeheuerlichen Abſtand nicht
zu wahren, der fie von der Familie ihrer Brotherren trennte.
Sie hatte die Puppe der Fräulein angetaftet. Eine Zarin, die
einen Muſchik dabei ertappt, wie er bas blaue Ordensband des
Zarewitſch probiert, Fönnte nicht tiefer empört fein.
244
Heifer vor Wut frie fie:
„Coſette!“
Coſette nahm die Puppe und legte ſie mit einer Gebärde, in
der Verzweiflung und Bewunderung lag, wieder auf den
Boden. Dann aber tat ſie, was ſie dieſen ganzen an Auf—
regungen ſo reichen Tag über nicht getan hatte, weder auf dem
Wege durch den Wald, noch als ſie das Geld verlor, noch als
die Karbatſche drohte — ſie brach in Tränen aus.
Der Fremde war aufgeſtanden.
„Was gibt's denn?“ fragte er.
„Sehen Sie es denn nicht?!“ rief die Thénardier und deu—
tete auf das corpus delicti, das zu Füßen Coſettes lag.
„Was denn?“
„Dieſes Bettelkind hat ſich unterſtanden, die Puppe meiner
Kinder anzufaſſen.“
„Darum all der Lärm? Was iſt denn dabei, wenn ſie mit
dieſer Puppe ſpielt?“
„Mit ihren dreckigen Fingern hat ſie ſie angegriffen, mit
ihren ſcheußlichen Händen“, ſchimpfte die Thénardier.
Coſette ſchluchzte nur noch lauter.
„Ruhig, du!“ ſchrie die Thénardier.
Der Fremde trat zur Tür, öffnete ſie und ging hinaus. Dieſe
Abweſenheit des Beſchützers der Kleinen machte die Thénardier
ſich zunutze, um Coſette unter dem Tiſch einen Tritt zu ver—
ſetzen, der das arme Kind laut aufſchreien ließ.
Gleich darauf ging die Türe wieder auf, und der Fremde
kehrte zurück; in den Händen hielt er die märchenhafte Puppe,
von der wir ſchon geſprochen haben und die ſeit dieſen Morgen
das Entzücken aller Kinder des Dorfes war. Er ſtellte ſie vor
Coſette hin und ſagte:
„Da, ſie iſt für dich.“
Coſette blickte auf; ſie hatte den Fremden mit der Puppe wie
eine aufgehende Sonne angeſtarrt, hörte ſprachlos die unfaß—
lichen Worte „ſie iſt für dich“ — und jetzt verkroch ſie ſich, zog
ſich ängſtlich unter den Tiſch zurück.
245
Sie weinte nicht mehr; vielleibt wagte fie Éaum mehr zu
atmen.
Die IThenardier, Eponine und Azelma waren ftarr. Sogar
die Zecher waren aufmerffam geworden. Eine feierlihe Stille
herrfchte in der Kafchemme.
Wieder begann die Ihenardier nachzudenken. Wer mochte
nur diefer Alte fein? Ein Armer? Ein Millionär? Oder eine
Miihung aus beiden, ein Gauner?
Das Gefibt ihres Mannes nahm jenen Ausdrudf an, der im
Antlis des Menfhen die Vorherrſchaft gewinnt, fobald fein
tieriſcher Inſtinkt burbbridt. Der Kafchemmenwirt betrachtete
bald die Puppe, bald den Fremden. Er fchien zu wittern. Das
dauerte nur eine Sekunde. Dann trat er zu feiner Frau und
flüfterte:
„Das Zeug Éoftet mindeftens dreißig Sranfen. Keine Dumm-
heiten! Der Mann muß in Watte gewickelt werden.’
Plumpe Cbaraftere haben es mit naiven gemeinfam, daß fie
feine Übergänge Eennen.
„Na, Eofette,' fagte die Ihenardier in dem füßlichften Ton,
deflen fie fähig war, „willft du denn das Püppchen nicht
nehmen?”
Endlich wagte Cofette fih aus ihrem Schlupfwinfel heraus.
„Kleinchen,“ ermunterte fie die Ihenardier zärtlich, „der
Herr fchenft dir eine Puppe. Nimm fie doc, fie gehört dir.
Eofette betrachtete das Wunderding faft mit Schreden. Noch
war ihr Geficht mit Tränen beneßt, aber ihre Augen leudteten
jeßt auf wie der Himmel bei Sonnenaufgang. Was fie empfand,
war nicht anders, als wenn man ihr unvermittelt gefagt hätte:
Kleine, du bift die Königin von Sranfreih.
Und doch fchien fie zu befürchten, der Blitz müſſe fie treffen,
wenn fie nad diefer Puppe griff.
Endlich wagte fie fih näher und murmelte ſchüchtern:
„Darf ich?“
Der Fremde nickte Coſette zu und legte die Hand der Puppe
in die ihre. Sofort zog ſich das Kind zurück, als ob „die Dame“
246
fie verbrennen müßte, und blidte verlegen zu Boden. Um auf:
richtig zu fein, müflen wir fogar hinzufügen, daß fie dabei die
Zunge aus dem Mund hängen lie. Plöslic griff fie nad der
Puppe und fagte:
„Ich will fie Katherine nennen.”
Es fab bizarr genug aus, wie biefes Kind in elenden Lumpen
nach der Puppe in rofa Muflelin griff.
„Darf ich fie auf einen Stuhl feßen?’ fragte fie.
„Doc, mein Kind‘, antwortete die Ihenardier.
Fest war es an Eponine und Azelma, neidifhe Slide zu
werfen. Eofette feßte Katherine auf einen Stuhl, hodte dann
vor ihr auf dem Boden nieder und betrachtete fie in REN.
tigem Staunen.
„Spiel bob, Eofette”, fagte der Fremde.
„Ich fpiele ja.”
Die Ihenardier empfand es unerträglich, biefe Szene weiter
mit anzufehen. Darum bat fie den Fremden um die Erlaubnis,
ihre Kinder und auch Eofette zu Bett zu fhiden, „denn die
Kleine bat fi heute febr geplagt”, wie fie mütterlih bin-
zufügte.
Der Fremde hatte fih wieder an den Tifch gefeht und ver-
fanf in nadbenflihes Iraumen. Die Zecher waren von ihm
abgerüct und fangen nicht mehr. Aus der Ferne betrachteten
fie ibn mit refpeftvoller Schen. Diefer Sonderling, der fo elend
angezogen war, die Fünffranfenftüce aber fo locker in der Taſche
fisen hatte, war gewiß eine unheimliche Erfcheinung.
Stunden verftrihen. Die Mette war vorüber, der Mabt-
wächter hatte Schlafengzeit ausgerufen, die Zecher waren ge-
gangen, und die Kneipe war gefchloffen worden. Schon war das
Feuer im Kamin erlofchen, aber der Fremde ſaß noch immer in
der gleihen Stellung an feinem Platz. Von Zeit zu Zeit wech-
felte er den Arm, auf den er fich ftüßte. Aber er hatte, feit
Eofette nicht mehr da war, Fein Wort gefproden.
Die Ihenardierg waren, fei es aus Höflichkeit, fei es aus
Meugierde, in der Gaftftube geblieben.
241
„Will er fo die Macht verbringen?’ murrte die Thénarbdier.
Als es zwei Uhr fblug, gab fie fit befiegt und fagte zu ihrem
Gatten:
„Ich gebe ſchlafen. Tu du, was du willſt.“
Der Gatte feste fi) an einen Tiſch in der Ecke, zündete eine
Kerze an und begann den „Courier Francais‘ zu ftudieren.
MWieder verging eine gute Stunde. Der wadere Wirt hatte
feine Zeitung bereits dreimal vom Datum bis zum Drudver-
merk durchftudiert. Noch immer rührte fih der Fremde nicht.
Thénardier hüftelte, räufperte fi, ſchneuzte fih, Enarrte mit
feinem Stuhl; vergebens.
Er ift wohl eingefchlafen, dachte er.
Endlih nahm er feine Mütze ab, trat vorfihtig näher und
fragte:
‚Wollen der Herr fih nicht zur Ruhe begeben?’
Sich zur Ruhe begeben fchien ihm vornehmer als fchlafen
gehen. Schlafen gehen klang fo vertraulich, ja fogar familiär.
Sich zur Ruhe begeben ift ein Lurus und feßt Reſpekt voraus.
Es ift einer von jenen Ausdrücken, der die myſtiſche Macht be-
fist, fih am nächſten Tag auf der Rechnung geltend zu machen.
Ein Zimmer, in dag man flafen geht, Foftet zwanzig Sous,
ein Zimmer, in bas man ſich zur Ruhe begibt, zwanzig Franken.
„Ab ja, fagte der Fremde, „Sie haben recht. Wo ift Ihr
Staff?’
„Ich werde den Herrn führen, fagte Ihenardier lächelnd.
Er nahm bas Licht, der Fremde ergriff fein Bündel und
feinen Stock; dann führte Thenardier ihn in ein Zimmer in der
erften Etage, das mit erftaunlihem Lurus eingerichtet war; die
Möbel waren aus Mahagoni, das gewaltige Doppelbett von
einem Himmel überdacht.
„Bas fol dag?” fragte der Meifende.
„Es ift unfer Brautzimmer,“ fagte der Wirt, ‚wir be-
wohnen es jeßt nicht. Ich vergebe es höchſtens brei- oder viermal
im Jahre.“
„Der Stall wäre mir ebenfo recht geweſen“, ermwiderte der
248
Fremde brüsk. Doc fhien Ihenardier diefe wenig verbindliche
Äußerung zu überhören. Er zündete zwei neue Wachslichter an,
die auf dem Kamin ftanden. Im Alfoven brannte ein lebbaftes
Feuer. |
Auf bem Kamin ftand unter einer Glasglocke der Kopfpus
einer Frau, Silberdraht und Drangenblüten.
„Was ift denn dag?’ fragte der Fremde.
„Der Brautfranz meiner Fran.‘
Der Sremde betrachtete das Schauftüc mit einem Blick, der
zu fagen fhien: Diefes Ungeheuer ift alfo einmal Jungfrau
gewesen! |
Übrigens log Thenardier. Alg er diefes Haus gemietet hatte,
um eine Herberge daraus zu machen, war biefes Zimmer fehon
fo eingerichtet gewefen, er hatte es mit allen Möbeln und aud
dem Brautſchmuck gekauft, wobei er vielleiht dachte, biefer
Schmuck würde feiner Gattin ein Air von zarter Anmut ver-
leihen und dem ganzen Haus etwas von jener, wie es die Eng-
länder nennen, Wohlanftändigfeit geben.
Als der Gaft fih ummwandte, war der Wirt verfhwunben.
Thénardier hatte fich diskret zurückgezogen, ohne auch nur gute
Macht zu wünſchen. Er wollte einen Gaft nicht mit refpeftlofer
- Herzlichfeit behandeln, dem er morgen eine halsabfehneiderifche
Rechnung zu präfentieren gedachte.
Als der Gaftwirt in fein Zimmer trat, fond er feine Frau
bereits im Bett. Sie fchlief noch nicht. Beim Geräufd feiner
Schritte wandte fie fih um und fagte:
„Und daß bu e8 gleich weißt, morgen fhmeif” ich Cofette
hinaus!“
„Soſo“, antwortete Thenardier kalt. Weitere Reden wurden
zwifchen den beiden nicht ausgetaufcht, und einige Minuten
fpäter war die Kerze ausgelöfcht.
Der Fremde feinerfeits feste fib, nachdem der Wirt ge-
gangen war, in einen Tehnftuhl und blieb eine Weile nachdenf-
lib. Dann 309 er feine Schuhe aus, nahm eine der beiden
Kerzen, verlöfchte die andere, öffnete die Tür und ging hinaus.
249
Er fam durd den Korridor bis zur Treppe. Hier hörte er ein
ſchwaches Geräufh, das mie der Atem eines Kindes Flang.
Diefem Geräufh folgte er und gelangte zu einem breiedigen
Verſchlag, der unter den Stufen der Treppe zwifchen alten
Körben, zerbrohenem Gefbirr, Spinnweben und Staub frei-
gelaffen war; wenn man einen zerfchlifienen Sad voll Stroh
ein Dett nennen will, fo lag bier ein ‘Bett, und darin fchlief
Eofette.
Er beugte fit über fie und betrachtete fie.
Sie ſchlief tief. Ihre Lumpen hatte fie nicht abgelegt. Im
Winter ſchlief fie immer befleidef, um weniger zu frieren.
Die Puppe, deren große glänzende Augen offen fanden und
im Sinftern leuchteten, hielt fie an fich gedrüdt. Don Zeit zu
Zeit ftieß fie einen fhweren Seufzer aus, als ob fie aufmachen
wollte. Neben ihrem Bett ftand nur einer ihrer Holzfchuhe.
Eine offene Türe neben Cofettes Verſchlag gab den Eintritt
in ein siemlih geräumiges Zimmer frei. Im Hintergrund fab
man durch die Glastüre zwei Éleine, weißüberzogene Bettchen.
Hier fhliefen Azelma und Eponine.
Der Fremde trat ein. Er bedachte, daß diefes Zimmer an den
Schlafraum der Ihenardier grenzen mochte und wollte fit eben
zurücfziehen, als fein Blick auf den Kamin fiel, einen biefer un-
geheuerlihen Serbergsfamine, in denen zumeift nur ein Éleines
Feuerchen brennt und die fo Falt ausfehen. In diefem war Fein
Feuer, nicht einmal eine Spur von Afche, aber etwas anderes
309 die Aufmerkſamkeit des Fremden auf fih: zwei Éleine, nied-
lihe Kinderfehuhe von verfhiedener Größe. Er erinnerte fid
der uralten, reigenben Sitte, daß die Kinder am Weihnadhts-
tage einen Schuh in den Kamin ftellen, in den dann eine gute
See ein Geſchenk für fie legen fol. Eponine und Azelma hatten
nicht verfäumt, fo zu fun, und haften jede einen ihrer Schuhe
in den Kamin geftellt.
Der Fremde beugte fid vor.
Die Fee, ihre Mutter, war fchon dagemwefen; in jedem der:
Schuhe funfelte ein neues Zehnfousftüd.
250
Eben wollte der Fremde fich wieder zurückziehen, als er ab-
feits, in einem dunklen Winfel des Ramins, einen anderen
Gegenftand bemerkte. Es war ein fhmuiger, grober Holzſchuh.
Cofette hatte in jenem rührenden Zutrauen der Kinder, das
oft getäufcht, nie gänzlich entmutigt wird, auch ihre Pantine in
den Kamin geftellt.
Wie füß und erbaben ift doch die Hoffnungsbereitfchaft eines
Kindes, das nur die Verzweiflung Fennengelernt bat!
Der Holzſchuh war leer.
Bevor der Fremde leife in fein Zimmer zurücffehrte, griff er
in feine Weftentafche, 309 einen Louisbor hervor und ftecfte ihn
in Cofettes Pantine.
9, Thénardier am Werf
Am nächſten Morgen, wohl zwei Stunden vor Sonnenauf-
gang, ſaß Herr Ihenardier bei einer Kerze im Gaftsimmer,
hielt eine Feder in der Hand und bereitete die Rechnung von
dem Herrn im gelben Mod vor.
Seine Frau ftand hinter ihm, beugte fib vor und folgte
feiner Schrift mit den Augen. Die beiden wechfelten fein Wort.
Der eine fhwieg aus tiefer Nachdenflichfeit, der andere wohl
aus jener frommen Andacht, mit der der Menfchengeift dem
Wunder gegenüberfteht.
Mad einer guten Diertelftunde vollbrabte Thénardier fol-
gendes Meifterwerf:
Rechnung für den Herrn von Wr. 1:
Abenbbest, 7 au court NON
en kun ae
lem a Yun alten ONE
688
DDRM
Summa 23 Franken
Statt Bedienung war geſchrieben Bedinnung.
271
„Dreiundzwanzig Franken! rief Grau Tbénardier mit einer
Begeifterung, der eine gewifle Bedenklichkeit beigemifcht war.
Wie alle großen Künftler, war Ihenardier mit feinem Werk
nicht zufrieden.
„Noch immer zuwenig‘, murrte er. Seine Miene glich der
Caftlereaghs, der auf dem Wiener Kongreß die Kriegsfchulden
Frankreichs feftfest.
„Herr Tbénardier, du haft ganz redht. So muß mans
machen,” murmelte die Frau, die fih der Puppe erinnerte.
„Nur fürchte ich, er wird’s nicht bezahlen.”
Mit kaltem Lächeln erwiderte Thenardier:
„Er wird bezahlen.’
Diefes Lachen war ein Zeichen höchſter Sicherheit. Was fo
gefagt wurde, mußte ftimmen. Die Frau madte aud Feine Ein-
wendungen mehr. Sie rüdte die Stühle zurecht, während ihr
Mann in der Stube auf und ab ging.
„Ich babe fünfzehnhundert Franken Schulden’, fagte er.
„Vergiß aber nicht,” fagte die Frau, ‚daß ich heute Eofette
fortjage. Diefes Scheufal! Wenn ich ihre Puppe fehe, werde ich
rofend. Ich möchte lieber Ludwig XVIII. heiraten, als fie einen
Zag länger unter meinem Dad dulden.‘
Thénardier ftedte feine Pfeife an und fagte zwifchen zwei
Zügen:
„Du bringft dem Mann die Rechnung.“
Damit ging er.
Kaum war er draußen, als der Fremde eintrat. Ihenardier
tauchte fofort wieder in der balboffenen Tür auf. Der Gelbe,
der ihn wohl nicht gefehen Hatte, trug Stof und Bündel in
der Ham.
„So früh fhon auf den Beinen?‘ fragte die Ihenardier.
„Wollen der Herr uns fchon verlaffen?/!
Dabei drehte fie verlegen die Rechnung in den Händen und
fniff mit ihren Mägeln das Blatt. Ihr Geficht zeigte zwei
Gefühle, die ihr ganz fremd waren, Schüdternheit und Be—
252
denfen. Offenbar fchien e8 ihr gewagt, einem Gaft, der fo ärm—
lib ausfah, eine folhe Rechnung zu präfentieren.
Der Fremde dagegen fab nachdenklich und zerſtreut aus.
„Ja, ich gehe.‘ |
„Hat denn der Herr nicht Gefhäfte in Montfermeil ?/!
„Dein, ich bin nur auf der Durchreife. Was bin ich Ihnen
ſchuldig?“
Wortlos reichte ſie ihm die Rechnung.
Der Fremde entfaltete das Blatt und ſah es an; aber ſeine
Gedanken weilten offenbar anderswo.
„Machen Sie denn gute Geſchäfte hier in Montfermeil?“
fragte er plötzlich.
„Es geht, mein Herr“, erwiderte ſie erſtaunt, keine Abfuhr
zu bekommen. „Allerdings, die Zeiten find ſchwer“, fuhr fie
flagend fort. „Bürgerliche Herrfchaften Fommen fo felten zu
ung. Alles Fleine Leute. Wenn wir öfters reiche und freigebige
Gäfte wie Sie hätten . . . die Ausgaben find fo groß. Die
Kleine zum Beiſpiel, was bas Foftet, man Fünnte den Kopf
verlieren.’
„Welche Kleine?’
„Jun, die Kleine, Sie wiffen doch, Coſette.“
„Ach fo."
‚Mon verdient nichts, aber Steuern foll man zahlen, Ge-
- werbefteuer, Einfommenfteuer, Gemeindefteuern für Türen und
Senfter, Pachtfteuer! Der Herr weiß, wie unerfättlich die Re—
gierung ift. Und dann babe ich doch aud meine Töchter. An-
derer Leute Kinder zu ernähren habe ich wirklich nicht nötig.’
Mit einer Stimme, die gleichgültig Elingen follte, aber doch
zitterte, fragte der Fremde:
‚Denn man fie Ihnen wegnähme?‘
Das gerötete Gefiht der Wirtin ftrablte.
„Ad, guter Herr, nehmen Sie fie doch, nehmen Sie fie
gleich mit, wickeln Sie fie in Zuefer und Butter und feien Sie
von der heiligen Sungfrau und allen Heiligen im Paradies
geſegnet!“
253
„Abgemacht!“
„Sie wollen ſie ſofort mitnehmen?“
„Sofort, rufen Sie ſie.“
„Coſette!“ ſchrie die Thénardier.
„Inzwiſchen kann id ja die Rechnung bezahlen. Wieviel
macht es?“
Er warf einen Blick auf die Rechnung und konnte eine Be—
wegung des Erſtaunens nicht unterdrücken. „Dreiundzwanzig
Franken?“
Dieſer Satz ſchloß mit einem Rufzeichen und einem Frage—
zeichen.
Doch die Thénardier hatte ſich inzwiſchen gefaßt. Ruhig er-
widerte ſie:
„Ja doch, mein Herr, dreiundzwanzig Franken.“
Der Fremde legte fünf Fünffrankenſtücke auf den Tiſch.
„Holen Sie die Kleine“, ſagte er.
In dieſem Augenblick trat Thénardier vor und ſagte:
„Der Herr bat ſechsundzwanzig Sous zu bezahlen.”
„Sehsundzwanzig Sous?’ fragte die Frau.
„Zwanzig für bas Zimmer und fechs für das Abendbrot.
Und was die Kleine betrifft, muß ich mit dem Herrn nod
Iprechen. Laß uns allein.”
Die Thénardier hatte eine jener Ahnungen, die blißhaft in
einem wachen Gehirn auftauchen. Sie fpürte, daß jeht der Star
die Bühne betrat, und ging wortlos hinaus.
Als die beiden allein waren, bot Thénarbier dem Fremden
einen Stuhl an. Diefer feste fih, während Ihenardier ftehen-
blieb; fein Geſicht drückte Gutmütigfeit und Einfalt aus.
„Ich möchte Ihnen nur jagen, mein Herr, begann er, „daß
ich biefes Kind von Herzen gern habe. Es ift Fomifch, aber man
gewöhnt fi an fo etwas. Was fol diefes Geld da? Mehmen
Sie bob die Fünffranfenftüde weg. Wahrhaftig, ich mag die
Kleine ſchrecklich gern!”
„Wen?“
254
„Na, die kleine Eofette. Sie wollen fie ung wegnehmen?
Nun, ich will mit Ihnen ganz offen fprechen, fo aufrichtig, wie
Sie ein Ebrenmann find. Ich Fann dag nicht zugeben. Sie
würde mir fehlen. Bon Elein auf war fie bei uns. Wohl wahr,
daß fie uns teures Geld Foftet, fie bat auch ihre Fehler, und wir
find weiß Gott nicht reih! Wahr ift au, daß ich, als fie krank
war, vierhundert Franken für fie ausgegeben babe. Aber ver
liebe Gott will, daß man aud einmal etwas Gutes tut. Sie hai
weder Vater noh Mutter. Ich babe fie aufgepäpelt. Für fie
und für mich babe ih immer Brot. Wirklich, ich hange an ihr.
Man gewinnt fo etwas lieb, werftehen Sie. Sich bin vielleicht
nicht febr gefcheit, aber ein gutmütiger Kerl bin ich. Bei mir
geht nicht alles nad der Rechenmaſchine. Ich babe fie gern, die
Kleine, und wenn meine Frau aud etwas heftig ift, fie mag
fie au. Für uns ift fie wie ein eigenes Kind. Ich möchte gar
nicht mehr leben, wenn ich ihr füßes Geplapper nicht mehr im
Haufe hören folte.”
Der Fremde fab ihn fbarf an.
„Begreifen Sie bob, mein Herr, man Éann fein Kind nicht
fo ohne weiters einem Durchreifenden mitgeben. Habe ich nicht
recht? Und außerdem, Sie find reich, es wäre ja ein Glück für
die Kleine, aber man müßte es doc fiber wiflen. Wenn wir
annehmen, daß ich fie bergebe und das Opfer bringe, gut, aber
ih muß doc wiflen, wohin fie fommt, ich kann fie nicht aus dem
Auge verlieren. Don Zeit zu Zeit muß ich fie doch befuchen
Éônnen, mich überzeugen, daß ihr guter Pflegevater aud auf
fie aufpaßt. Es gibt Dinge, die man nicht machen Fann. Ich
weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen. Wenn Sie fie wegführen
würden, müßte ich immer denken: was mag wohl aus unferer
fleinen Serde geworden fein? Man müßte doch irgendwas
Schriftliches feben, einen Zipfel von einem Paß oder fo etwas.”
Der Fremde hatte Ihenardier nicht aus den Augen gelaffen.
„Herr Wirt, fagte er, „wenn man fünf Meilen weit aus
Paris herausfährt, nimmt man Feinen Paß mit. Wenn id
Cofette nehme, fo nehme id fie eben, und Schluß. Sie brauchen
255
dazu weder meinen Namen zu wiffen, noch meinen Aufenthalts-
ort. Mein Wunſch ift, daß fie Sie nie wiederfieht. ch fehneide
das Band burd, bas fie an Sie bindet. Paßt es ihnen? Va
oder nein?”
Mie die Dämonen und Genien an gewiffen Zeichen die
Gegenwart eines übergeordneten Gottes erkennen, fo begriff
aud Thenardier, daß er e8 hier mit einem robuften Willen zu
tun hatte. Schon geftern abend hatte er ihn beobachtet, Feine
Gefte, feine Bewegung des Mannes im gelben Mod war ihm
entgangen. Bevor der Unbekannte fo deutlich feine Anteilnahme
an Cofette befundete, hatte Ihenardier etwas geabnt. Mit
Überrofhung hatte er bemerkt, daß die Slide des Alten immer
wieder zu dem Kinde zurücffehrten. Wer war diefer Menfch?
Warum Fleidete er fich fo ſchäbig, wenn er über fo beträchtliche
Geldmittel verfügte! Der Vater Cofettes Éonnte er nicht fein.
Der Großvater? Warum batte er fi dann nicht fofort vor-
geftellt? Wer ein Recht bat, macht es geltend. Diefer Menſch
hatte offenfichtlich Fein Anrecht auf Eofette.
Thenardier verlor fih in vagen Vermutungen. Alg er aber
begriff, daß diefer Mann ein Intereſſe daran hatte, ungenannt
zu bleiben, fühlte er fih ftarf; und als dann der Fremde fo
far und unmißverftändlich erflärte, was er zu fun gedenfe,
fühlte er fi wieder ſchwach. Darauf war er nicht gefaßt ge-
wefen. Seine Vermutungen waren entkräftet. Er dachte eine
Sekunde nah. Ihenardier war einer von jenen Menfchen, die
eine Situation fofort überfchauen. Dies war, dachte er, der
Augenblick, um rafch vorzugehen. Wie alle großen Feldherren,
demagfierte er im entfeheidenden Augenblick feine Batterie.
„Fünfzehnhundert Franken“, fagte er.
Der Fremde 309 ein altes Portefeuille aus ſchwarzem Leder
aus der Taſche, dem er drei Banfnoten entnahm. Er ftüßte
feinen Daumen auf die Scheine und fagte:
„Jetzt laſſen Sie Cofette kommen.“
Einen Augenblick ſpäter trat ſie in die Gaſtſtube. Der
Fremde ſchnürte fein Bündel auf und entnahm ibm ein Woll—
256
Fleid, eine Schürze, ein Jäckchen, einen Unterrod, Wolftrümpfe
und Schuhe; eine vollftändige Bekleidung für ein fiebenjähriges
Mädchen. Ganz in Schwarz. |
„Stimm bas, Kind, und zieh dih raſch an.’
Der Morgen graute bereits, als die Einwohner von Mont-
fermeil, die eben ihre Türen öffneten, auf der Straße nad)
Paris einen armgefleideten Mann ausfchreiten fahen, der ein
fleines, in Trauer gefleidetes Mädchen an der Hand führte.
Da Eofette nicht mehr ihre Lumpen trug, erfannten viele
fie nicht.
10. Oft serihledtertiich,
wer fi zu verbeffern ſucht
Gemwohnheitsmäßig hatte die Ihenardier ihrem Gatten freie
Hand gelaffen. Sie mar auf große Dinge gefaßt. Als der
Fremde mit Cofette fortgegangen war, ließ Ihenardier eine gute
DViertelftunde verftreichen, bevor er fie beifeite nahm und ihr die
fünfzehnhundert Sranfen zeigte.
„Das iſt alles?’ fragte fie.
Seit ihrer Hochzeit war es bas erftemal, daß fie eine Hand-
lung ihres Herrn zu Fritifieren wagte.
Der Schlag traf.
„Du haft recht,” fagte er, „ih bin ein Ybiot. Gib mir
meinen Hut.’
Er faltete die drei Banknoten zufammen, bob fie in die
Taſche und eilte davon; aber er Tief zunächſt in der falfchen
Richtung, nad rechts. Einige Nachbarn, bei denen er fi er-
funbigte, brachten ihn auf die richtige Spur, denn die Lerche
und ihr Begleiter waren auf dem Wege nad SLivry gefeben
worden. Er folgte diefem Hinweis und ging, vor fih bin
Iprechend, mit langen Schritten weiter.
Diefer Menſch ift unzweifelhaft eine Million in einem
gelben Mod, murmelte er, und ich bin ein albernes Vieh. Erft
17 Hugo, Die Elenden. 257
bat er zwanzig Sous gegeben, dann fünf Franken, dann fünfzig,
Ihließlih fünfzehnhundert, immer mit der gleihen Bereit-
willigfeit. Er hätte aud fünfzehntaufend gegeben. Ich werde
ihn fon noch einholen.
Aud war e8 fonderbar, daß er für die Kleine bereits Kleider
mitgebracht hatte. Sicher ftecfte da ein Geheimnis dahinter. Und
fol ein Geheimnis läßt man fit nit wieder entkommen,
wenn man es einmal am Wickel bat. Die Geheimniffe der
Reichen find Schwämme von Gold, man braudht fie nur aus-
zupreflen.
Diefe Erwägungen befhäftigten ihn, und er Fam neuerlich zu
feiner Schlußfolgerung: id bin ein albernes Vieh.
Wenn man Montfermeil auf der Straße gegen Livry zu ver-
läßt, bat man einen weiten Ausblif auf die Hochebene. Er
hatte erwartet, daß er den Mann und die Kleine fehen würde,
aber fo gefpannt er auch Ausfhau hielt, er Fonnte nichts be-
merken. Wieder fuchte er Erfundigungen einzuholen, aber damit
verlor er nur Zeit. Man fagte ihm, der Mann und das Kind
hätten die Richtung nad den Wäldern um Gagny eingefchlagen.
Alfo folgte er ihnen dahin.
Sie hatten einen Vorfprung, aber ein Kind geht langfam,
und er lief fhnell. Auch war ihm die Gegend vertraut.
Plötzlich blieb er fteben, ſchlug fih vor die Stirn, wie
jemand, der die Hauptfadhe vergeflen bat und halbenwegs wie-
der umfehren möchte.
„Ich hätte mein Gewehr mitnehmen müffen!” rief er.
Dann aber nad einem kurzen Zögern:
„Ad, inzwifchen entwifchen fie mir.’
Er madte fi) wieder auf den Weg und lief, faft fiber, die
beiden einzuholen, haftig weiter; wie ein Fuchs lief er, der eine
Kette Birkhühner wittert.
Und wirflih, als er an den Zeichen vorübergefommen war
und die große Lichtung zur Mechten der Straße von Bellevue
überquerte, bemerfte er hinter einem Straud einen Hut, der
258
ihn mit großen Erwartungen erfüllte. Yn der Tat, Eofette und
der Unbefannte hatten fi) hier niedergefeßt. Die Kleine war
nicht zu feben, aber der Kopf der Puppe ragte über dem
Straud hervor.
Ihenardier täufchte fid nicht. Offenbar hatte der Mann bier
Daß genommen, um Cofette ein wenig Naft zu gönnen. Im
nächften Augenblick ftand der Wirt vor ihnen.
„Entfhuldigen Sie, mein Herr, rief er atemlos, „hier
haben Sie Ihre fünfzehnhundert Franken wieder!”
Und er reichte dem Fremden die drei Vanfnoten.
Bas bedeutet dag?’ fragte der Alte.
„Das bedeutet, daß ich Coſette wiederhaben will”, antwortete -
Ihenardier refpeftwoll. Cofette erzitterte und fehmiegte fih an
ihren Beſchützer. Diefer fab Ihenardier tief in die Augen und
fragte gedehnt:
„Sie wollen Eofette wiederhaben?’’
„Ja, mein Herr, id will fie wiederhaben. Und ich will ihnen
aud jagen, wiefo ich dazu komme. Ich babe nicht dag Recht, fie
Ihnen abzutreten. Ich bin ein Ehrenmann, verftehen Sie? Die
Kleine gehört nicht mir, fie gehört ihrer Mutter. Ihre Mutter
bat fie mir anvertraut, id Fann fie nur ihr wiedergeben. Sie
werden fagen: die Mutter ift tot. Möglich. Aber auch in diefem
Salle Éann id das Kind nur jemand geben, der mir einen
friftlihen Auftrag der Mutter vorzeigt, daß ich das Kind ihm
aushändigen fol. Das ift klar.“
Mortlos 309 der Fremde das Portefeuille heraus. Der Wirt
war von freudigem Schreck durchſchauert.
Soſo, dachte er, da hätten wir ihn. Er will mid) beftechen.
Bevor der Fremde fein Portefeuille öffnete, blickte er um
fih. Kein Menſch war zu fehen. Erft nachdem er fid) davon
überzeugt hatte, Elappte er das Portefeuille auf, 309 aber nicht
bas erwartete Danfnotenbündel heraus, fondern ein Fleines
Blatt Papier, das er entfaltete und dem Wirt binbielt.
„Sie haben rest. Lefen Sie.‘
en 259
Thénarbdier nahm das Blatt und las:
Montreuil fur Mer, 25. März 1823.
Herr Ihenardier,
übergeben Sie Cofette dem Überbringer. .
Die Heinen Meftfbulden werden Ihnen bezahlt werden.
Hochachtungsvoll
Fantine.
„Kennen Sie dieſe Unterſchrift?“ fragte der Fremde.
Es war Fantines Hand. Ihenardier erkannte fie. Er konnte
feinen Einwand erheben. Ein doppelter Ärger regte ſich in ibm,
der Ärger, die erhoffte Beftehungsfumme zu verlieren, und der,
geflagen zu fein.
„Sie Eönnen das Blatt zu Ihrer Rechtfertigung behalten.‘
TIhenardier trat einen wohlgeordneten Rückzug an.
„Die Unterfchrift ift ja ganz gut nachgeahmt“, murmelte er.
„But, ſei's darum!’
Uber er wagte nod einen leßten verzweifelten Verſuch.
„Mag es hingehen”, fagte er. „Sie find ja wohl der Mann.
Aber Sie müffen mir alle meine Eleinen Auslagen erfeßen,
man fehuldet mir einen beträchtlichen Betrag.”
Der Fremde erhob fich und fagte, während er mit der Finger-
fvibe etwas Staub von feinem Armel fortfchnellte.
„Herr IThenardier, im Januar fehuldete Ihnen die Mutter
hundertzwanzig Franken. Im Februar fandten Sie eine Rech—
nung über fünfhundert Franken. Sie erhielten im Februar
dreihundert, Anfong März wieder dreihundert. Seither find
neun Monate verfloffen, das macht, da fünfzehn Franfen mo-
natlid verabredet worden waren, hundertfünfunddreißig Fran-
fen. Da Sie damals hundert Sranfen zuviel erhalten haben,
können Sie jest fünfunddreißig beanfpruden. Ich habe Ihnen
fünfzehnhundert gegeben.’
Thenardier hatte bas Gefühl eines Wolfes, der in die Falle
gegangen ift. Wer ift diefer Teufelskerl? dachte er.
260
Und er fat, was jeder Wolf getan hätte, er zerrte an der
Salle. Schon einmal hatte die Unverfrorenheit gefiegt.
„Herr Dhnenamen,” fagte er kurz entfchloffen, und diesmal,
ohne feinen höflihen Ton beizubehalten, „ich werde Cofette
wieder an mich nehmen, wenn Sie mir nidf faufenb
Zaler geben.’
Ruhig fagte der Fremde:
„Komm, Cofette.!!
Er nahm Eofette an der Hand und hob feinen Stod auf,
der noch am Boden lag.
Thenardier fab den ftarfen Knüttel und bedadhte, daß die
Gegend einfam war. Er verftand, daß alle weitere Mühe unnüß
fei, und kehrte um.
11. Mr. 9430 tauht wieder auf und Cofette
sieht bas große Los
Sean Valjean war nicht tof.
As er ins Meer fiel (oder eigentlich, als er fi ins Meer
fallen ließ), war er ohne Kette. Er ſchwamm bis an ein Schiff,
bas vor Anker Tag, und Eletterte in ein Boot, bas ausgefekt
war. Dort verbarg er fih bis zum Abend. Mit Einbrud der
Macht warf er fid) wieder in die Wogen und erreichte die Küfte
unweit von Cap Brun. Da er etwas Geld bei ſich hatte, Eonnte
er ſich Kleider verfhaffen. Ein Kafhemmenmwirt in der Nähe
von Balaguier trieb damals das einträglihe Geſchäft, ent-
fprungene Sträflinge zu befleiden. Dann marfdierte Sean
Valjean, wie alle Derfolgten, die fih dem Geſetz entziehen
müffen, auf unbegangenen Mebenmwegen nad Paris. Sein erfter
Unterfhlupf war Pradeaur, fpäter Fam er nad Veauffet,
Briançon, in die Hochalpen. Es war eine unftete, gewagte
Flut. Er erreichte Paris, und in Montfermeil haben wir ihn
wiedergefunden.
Seine erfte Sorge in Paris war es gewefen, für ein Eleines
Mädchen von fieben oder acht Jahren Zrauerfleider zu beforgen
261
und ein Quartier zu mieten. Dann war er nad Montfermeil
gegangen. Man erinnert fi, daß er fon anläßlich feiner erften
Flucht eine geheimnisvolle Meife in jene Gegend unternommen
hatte, mit der fit aud die Juſtizbehörden befchäftigten. Aber
man bielt ihn ja für fot, und diefer Umftand begünftigte bas
Dunfel, bas er um ſich zu verbreiten ftrebte. In Paris war ibm
aud ein Zeitungsblatt in die Hände gefallen, bas die Nachricht
von feinem Tode gebracht hatte. Das berubigte ibn und brachte
ihm faft ben Frieden, als ob er wirklich geftorben wäre.
Mod am felben Abend, an dem Jean Valjean Eofette den
Klauen der Ihenardierg entriffen hatte, Fam er nad) Paris zu-
rück. Bei einbrehender Mat hielt er burd das Tor von
Monteaur feinen Einzug. Hier nahm er eine Drofchfe, die ibn
nad) der Efplanade des Obfervatoriums brachte. Dort entlief
er fie wieder, bezahlte ben Kutfcher, nahm Cofette an der Hand,
und die beiden marfchierten burd eine Reihe dunfler Straßen
nad dem Boulevard de l'Höpital.
Drittes Buch
Das Haus Öorbeau
1. Das Meftdes Ubus und der Serbe
Das Haus auf bem Boulevard de l'Hoͤpital, das die Brief—
träger nur nah der Nummer fünfzig bis zweiundfünfzig
fannten, war bei den Einwohnern des traurigen Vorftabtquar:
tiers Marhe-aur-Cheveaur unter dem Namen Haus Gorbeau
befannt, und damit hatte es folgende Bewandtnis:
Um 1770 waren in Paris, am Châtelet, zwei Fönigliche
Profuratoren tätig gewefen, deren einer Corbeau, der andere
Menard hieß — Nabe und Fuchs; eine Fügung, die Iofen Mäu-
lern Gelegenheit gab, Lafontaines Fabel [herzhaft auf fie anzu-
wenden. Den Sammlern luftiger Anefboten ift nicht unbefannt,
daß die beiden Würdenträger fih an Ludwig XV. mit der Bitte
um Abänderung ihres Namens wandten, und tatfählih wurde
262
bem Naben Corbeau geftattet, fih binfürder Gorbeau zu ſchrei—
ben, während Menard, minder glücklich, nur die Erlaubnis er-
hielt ein D vor feinen Namen zu feßen, fo daß er, peinlid
genug, den Namen Prenard tragen mußte.
Mad der Iofalen Tradition war Meifter Gorbeau der Er-
bauer und Eigentümer jenes geräumigen, öden Haufes auf dem
Boulevard de l'Hôpital, vor dem Sean Daljean jest ftehen-
blieb. Wie ein fheuer Vogel hatte er diefen entlegenen Plas
gewählt, um hier fein Meft zu bauen.
Er griff in feine MWeftentafche, zog einen Schlüffel hervor,
Ihloß die Türe auf und flieg, nachdem er forgfältig wieder ab-
gefperrt hatte, die Treppe hinauf. Eofette trug er noch immer
auf dem Arm.
Auf dem Treppenabfaß angelangt, zog er einen anderen
Schlüffel hervor und öffnete eine Türe. Das Zimmer, das er
betrat, glicd) eher einer Werkſtätte und war ziemlich geräumig;
eine Matrabe lag auf dem Boden. Das übrige Mobiliar beftand
aus einem Tiſch und einigen Stühlen. Ein eiferner Ofen glübte
im Winfel. Der Widerfchein einer Straßenlaterne beleuchtete
fpärlich die dürftige Einrichtung. Im Hintergrund, in einer Art
Verfehlag, ftand ein Gurtbett. Sean Valjean trug das Kind
dahin und legte es nieder, ohne daß es aufwadhte.
Er mate Feuer und zündete eine Kerze an, die auf dem
Tiſch bereitftand. Dann begann er, Eofette mit einem Blick voll
Entzüden und innigfter Zärtlichfeit zu betrachten. Die Kleine
Ichlief in jener ungetrübten Dertrauengfeligfeit, die nur der
höchſten Kraft und der äußerften Schwäche möglich ift, ohne zu
wiflen, wo fie fit befand.
Er beugte fi über fie und Füßte ihre Hand.
Es war fhon heller Tag, als das Kind ermadte. Das fable
Licht einer Dezembermorgenfonne fiel durch das Fenfterfreuz
und 309 lange Streifen über den Plafond. Plötzlich polterte
eine fchwerbeladene Fuhre an dem Haufe vorbei und erfchütterte
wie ein Sturm die Grunbfeften des Gebäudes.
„Ja, Frau!’ rief Cofette und fuhr bob, „ich bin Schon da!“
263
Und fon war fie aus dem Bett gejprungen, taftete, während
ihre ſchlafſchweren Augen no halb gefchloffen waren, an
der Wand. |
„Mein Gott, mein Beſen!“ jammerte fie.
est öffnete fie die Augen ganz und blidte in bas lächelnde
Gefiht Jean Valjeans.
„Ach richtig! fagte fie. „Guten Tag, mein Herr.”
Kinder machen fid raid mit Freude und Glück vertraut, denn
Freude und Glück ift ihre zweite Natur.
Cofette bemerkte Katherine zu Füßen ihres Vettes, nahm fie
auf und begann Sean Daljean auszufragen. Wo fie fei, und ob
Paris wirflid fo groß fei, und ob Madame Tbénardier be-
fiimmt nicht hierher Fame. Und plötzlich rief fie aus:
„Wie hübſch es hier iſt!“
In Wirklichkeit war es ein recht ungemütlicher Aufenthalt
— aber ſie fühlte ſich frei.
„Soll ich nicht auskehren?“ fragte ſie.
„Du ſollſt ſpielen“, ſagte Jean Valjean.
2. Beobachtungen der Wirtin
Jean Daljean gebrauchte die Vorſicht, niemals bei Tage aus—
zugehen. Erſt in der Dämmerung wagte er einen Spaziergang
von ein oder zwei Stunden, zuweilen allein, oft mit Coſette; er
bevorzugte dann die entlegenſten Seitenalleen der Boulevards
und trat erſt nach Einbruch der Nacht in eine Kirche ein. Am
liebſten beſuchte er die des heiligen Medardus, die am nächſten
lag. Wenn er Coſette nicht mitnahm, blieb ſie bei der Alten,
der Verwalterin des Hauſes, von der Valjean das Quartier
gemietet hatte. Doc zog es Coſette vor, mit Valjean fpazieren-
zugehen. Sogar einem vertraulihen Stündchen mit Katherine
entjagte fie gern zugunften eines Ausflugs.
Es erwies fi, daß Cofette von heiterer Natur war.
Die Alte führte die MWirtfehaft, Fochte und beforgte die
Einkäufe.
264
Man lebte einfach, dod wurde der Kamin nie Falt, wie es
wohl bei den Allerärmfien gefchehen mag. An dem Mobiliar
änderte jean Valjean nichts, doc lief er die Glastüre, die
zu Cofettes Verſchlag führte, durch eine Holztüre verſchließen.
Er trug noch immer feinen gelben Mod, feine ſchwarze Knie—
bofe und feinen alten Mod. Auf der Straße hielt man ihn für
einen Bettler. Zuweilen gefhah es, daß mildtätige Frauen ihm
einen Sou in die Hand drüdten. Sean Valjean nahm die
Münze an und verneigte fi tief. Oder es ereignete fich, daß er
jelbft einem “Bettler begegnete; dann hielt er zuerft fürforglic
Umſchau, ob niemand ihn fehe, frat dann zu dem Armen und
drückte ihm rafch eine Münze, oft fogar ein Silberftüd in die
Hand. Daraus entftanden unangenehme Folgerungen. Man be-
gann ihn in der Gegend den Bettler, der Almofen gibt, zu
nennen.
Die alte Dermieterin, eine mißgünftige und miürrifche,
fhwerhbörige DPerfon, beobachtete Sean Valjean aufmerkfam,
ohne daß er es bemerfte. Ihr ſchlechtes Gehör hatte zur Folge,
daß fie zur Gefhwäsrigfeit neigte. Sie befaß noch zwei Zähne
aus ihrer befieren Dergangenheit, einen im Oberfiefer, einen
im Unterkiefer, und biefe beiden pflegte fie gegeneinanderzu-
preffen. Urfprünglih hatte fie Coſette auszufragen verfucht,
aber nur wenig berausbefommen, da die Kleine nur anzugeben
wußte, fie fei aus Montfermeil. Eines Morgens aber bemerkte
die Spionin, daß Jean Valjean auf fonderbare Weife fi in
dem unbewohnten Teil des Haufes zu fhaffen machte. Mit bem
Schritt einer alten Kate folgte fie ihm, und Éonnte, ohne felbft
bemerft zu werden, burd einen Türſchlitz beobachten, wie er,
offenbar aus Vorficht, mit bem Nüden gegen die Tür ftebenb,
ein Etui aus der Taſche zog, diefem Mabel und Zwirn entnahm
und den Schoß feines Modes aufzutrennen begann; dann nahm
er ein gelblihes Papier, bas er entfaltete, aus dem Verſteck.
Mit Schreden erfannte die Alte einen Iaufendfranfenfchein.
Es war wohl der zweite oder dritte, den fie in ihrem Leben zu
jehen befam. Außer fih vor Erregung lief fie davon.
265
Kurz nachher Fam Jean Valjean zu ihr und bat fie, biefen
Zaufendfranfenfhein zu wechfeln; er babe, wie er fagte, geftern
abend feine halbjährlihen Zinfen erhalten. Wo nur? dadıte
die Alte — ift er doch erft um fes Uhr ausgegangen, und um
diefe Stunde halten die Raffen der Staatsbank doch gewiß
nicht offen.
Die Alte wedfelte den Schein, hielt aber nicht reinen Mund.
Diefe Banknote, reihlih Éommentiert und vervielfältigt, gab
den Gevatterinnen aus der Rue des Vignes-Saint-Marcel
Anlaß zu erregten Disfuffionen.
An einem der folgenden Tage trug es fih zu, daß Sean
Valjean in Hemdsärmeln auf dem Korridor Holz fägte. Die
Alte war gerade im Zimmer und räumte auf. Sie benüßte die
Gelegenheit, näherte fih dem Rock Jean Valjeans, der an
einem Magel hing und unterfuhte ibn. Die Naht war wieder
vernäht. Die madere Frau betaftete dag Kleidungsftüf und
glaubte in den Schößen und Taillen Papierbündel zu fühlen.
Dffenbar wieder Zaufendfranfenfcheine!
Überdies bemerkte fie, daß noch fonft allerlei in den Taſchen
fete. Da waren nicht nur das Nähzeug, das fie ſchon gefehen
hatte, fondern aud eine bide Brieftaſche, ein fehr großes
Mefler und — verdächtig genug — einige Perücen in verfchie-
denen Farben. Es war, als ob in jeder Modtafhe eine Mas—
fierung für beftimmte, unvorhergefehene Fälle vorbereitet wären.
3. Ein Fünffranfenftüd
rollt lärmend über den Doden
Bei Sankt Menardus gab es einen Bettler, der auf dem
Randſtein eines zugefehütteten Brunnens zu boden pflegte und
dem Jean Valjean oft ein Almofen zuſteckte. Nie ging er an
ihm vorbei, ohne ihm einige Sous zu reihen. Zumweilen ſprach
er fogar mit ihm. Andere Bettler, die diefem offenbar mißgün-
ftig waren, behaupteten, er fei ein Polizeifpisel. Tatfade ift,
266
daß er ein ehemaliger Kirchendiener und fünfundfiebzig Jahre
alt war; faft nie hörte er auf, Gebete vor fih bin zu murmeln.
Eines Abends Fam Jean Daljean dort vorbei. Er hatte Co-
fette nicht bei fi. Unter einer Laterne, die eben angezündet
1
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worden war, bemerfte er den Bettler an feinem gewohnten
Plat. Wie immer, betete er, tief vorgebeugt, vor fih bin. Sean
Daljean trat zu ihm und bot ihm fein gewöhnliches Almofen.
Plötzlich blickte der Bettler auf, fab Sean Valjean fharf ins
Gefiht und beugte fi unverzüglich wieder vor. Diefe blishaft
267
Schnelle Bewegung gemügte, um Sean Valjean erzittern zu
laffen. Ihm war, als ob er im Schein der Laterne nicht das
Ichieffalgergebene, gutmütige Gefiht des alten Kirchendienerg,
fondern ein furchtbares, nur zu befanntes Geficht gefehen hätte.
Ihm war zumute wie einem Manne, der fih unverfebens einem
Tiger gegenüberftehen fieht. Erfchroden, faft zu Stein erftarrt,
fuhr er zurück; er wagte weder zu atmen noch zu fprecen, konnte
weder bleiben noch enteilen. Der Bettler hielt den Kopf wieder
vorgebeugt und fhien nicht weiter auf ibn zu achten. Ein In—
ftinft, vielleicht der geheimnisvolle Trieb der Selbfterhaltung,
hielt Sean Valjean davon ab, ein Wort zu fprechen. Der Bett-
ler hatte die gleiche Figur, die gleiche Haltung, diefelben Lum—
pen wie immer.
Sch bin verrüdt, dachte Sean Valjean. Ich träume. Es ift
unmöglich.
Tief beeindruckt ging er nach Haufe.
Kaum wagte er fich felbft einzubefennen, daß er glaubte,
Javert erfannt zu haben.
Als er nachts darüber nachdachte, bedauerte er, den Mann
nicht noch einmal angefprocen und dadurd gezwungen hatte, ein
zweites Mal aufzubliden.
Am nädften Tage kehrte er bei einbrecdhender ‘Dunkelheit
wieder an jenen Platz zurück. Der Bettler war zur Stelle.
„Guten Tag, Mann”, fagte Sean Daljean entfbloffen und
reichte ihm einen Sou.
Der Bettler blidte auf und fagte mit Elägliher Stimme:
„Danfe, guter Herr!
Es war der alte Kirchendiener.
Sean Valjean fühlte ſich vollkommen beruhigt. Er begann zu
lachen.
„Wo, zum Teufel, glaubte id nur biefen Javert zu ſehen?“
fragte er fi, „habe ich jeßt erft Flare Augen?’
Und er dachte nicht weiter darüber nad.
Einige Tage fpäter, an einem Abend — es mochte acht Uhr
268
fein — ſaß er in feinem Zimmer und ließ Cofette mit lauter
Stimme budftabieren; da hörte er die Haustüre gehen. Das
war fonderbar. Die Alte, die aud im Haufe wohnte, pflegte
bei Einbruch der Dunkelheit zu Bett zu gehen, um Licht zu
Iparen.
Sean Valjean gab Eofette ein Zeichen, fie folle ſchweigen. Er
hörte, wie jemand die Treppe hinaufftieg. Es Fonnte immerhin
die Alte fein, die, von einem Unmwoblfein betroffen, vielleicht
zum Apotheker gegangen war. Er laufchte. Es waren fehwere
Zritte, die von einem Manne herzurühren fchienen; aber die
Alte trug plumpe Schuhe, und der Gang alter Frauen ift dem
der Männer nicht unähnlich.
Sean Valjean blies die Kerze aus. Er hieß Cofette ins ‘Bert
gehen und fagte leife: „Geh ganz ftill ins Bett, Kleine. Wäh—
rend er fie auf die Stirn Füßte, wurden die Schritte unhörbar.
Sean Valjean blieb reglos, den Rücken gegen die Tür, auf dem
Stuhl fisen; in der Dunkelheit hielt er den Atem an. Nach
einiger Zeit wandte er fih, da er nichts hörte, geräufhlos um,
und als fein Blick die Tür traf, fab er im Schlüſſelloch Licht.
Der Schein glih einem unheimlichen Stern in der Sinfternis
der Mauer. Offenbar ftand da jemand mit der Kerze in der
Hand hinter der Tür und horchte.
Mieder vergingen Minuten. Vebt verſchwand das Licht.
Doch waren Feine Schritte zu vernehmen. Offenbar hatte der
Unbefannte feine Schuhe ausgezogen.
Sean Baljean Iegte ſich angefleidet auf fein Bett und tat die
ganze Nacht lang Fein Auge zu.
As er gegen Morgen einzufchlummern begann, wedte ihn
das Ruarren einer Tür, die am Ende des Korridorg zu einer
Manfarde führte; wieder hörte er diefelben Schritte wie geftern
abend. Sie näherten fih. Er fprang aus dem Bett und legte
fein Obr an das Schlüffelloh, bas ziemlich groß war; gewiß
würde er im Dorübergehen den Fremden, der die Macht in
biefem Haufe zugebraht und an der Türe gehorcht hatte, feben
fonnen.
269
Es war wirflid ein Mann. Diesmal ging er, ohne ftehen-
zubleiben, an jean DBaljeans Tür vorüber. Im Korridor war
es noch zu dunkel, man konnte dag Gefiht nicht ausnehmen.
Als der Mann aber auf den Treppenabfaß trat, fiel ein Licht—
ftrabl auf ihn und zeichnete fharf die Umriffe feiner Geftalt
ab; Sean Daljean Eonnte den Rücken ganz überfhauen. Der
Fremde war hochgewachſen, trug einen langen Rock und einen
ftarfen Knüttel unter dem Arm. Der Stiernaden erinnerte
an Javert.
Sean Valjean hätte verfuchen können, ihm durch bas Fenfter
nachzuſehen, aber dazu hätte er es öffnen müflen, und bas
wagte er nicht.
Dffenbar war der Fremde mit einem Schlüffel in bas Haus
gefommen, als ob es fein eigenes wäre. Wer hatte ihm den
Schlüffel gegeben? Und was bedeutete bag?
Als die Alte um fieben Uhr morgens Fam, um aufzuräumen,
warf ihr Jean Daljean einen durchdringenden Blick zu, aber
er fragte nichts. An der Frau war nichts Ungemöhnliches zu
bemerfen. |
Mährend fie fegte, fagte fie:
„Hat der Herr nicht heute nat jemand ins Haus gehen
gehört?"
Für diefes Alter und in jener Stadtgegend ift at Uhr
abends fpäte Nacht.
„Richtig ja’, antwortete er ganz unbefangen. „Wer war
es denn?’
„Unſer neuer Mieter.‘
„Wie heißt er denn?’
„Ich Éann es nicht einmal genau fagen. Dumont oder Dau-
mont. Ein gewöhnliher Name.’
„Und was ift biefer Herr Dumont?!
Die Alte fab ihn tüdifh an und antwortete:
„Rentner, wie Sie.”
270
Vielleicht meinte fie nichts damit, aber Sean Valjean miß—
traute ihr. Als die Alte gegangen war, nahm er aus dem
Schrank eine Hundertfranfenrolle und fteefte fie in die Zafche.
Obwohl er dabei recht vorfihtig zu Werke ging, fiel eine Münze
sur Erde und rollte laut über den Boden.
Als es dunfelte, flieg er die Treppe hinab und hielt na bei-
den Seiten auf dem Voulevard Ausfhan. Er fab niemand.
Offenbar war die Straße vollftändig verödet. Allerdings Éonnte
fih jemand hinter den Bäumen verborgen halten.
Er ftieg die Treppe wieder hinauf.
„Komm, Coſette“, fagte er.
Er nahm fie bei der Hand und führte fie fort.
Viertes Buch
Jagd im Dunkeln, ſtumme Meute
l. Strategifdher 3id3ad
Sean Valjean verließ alsbald den Boulevard und bog in
eine Seitenftraße ein; fooft er nur Fonnte, wählte er Seiten-
wege, ging aud mandmal ein Stück zurück, um fi zu über-
zeugen, daß er nicht verfolgt werde.
Diefes Manöver ift dem Hirfch, dem die Jäger auf den
Ferfen find, eigentümlich. Zumal auf Streden, wo die Fährte
fi) tief in den Boden einprägt, hat es den Vorzug, die Jäger
und die Hunde zu täufchen. Man nennt diefen Solid in der
Sägerfprache den „falſchen Rückweg“. Es war eine Vollmond-
nacht. Sean Valjean fühlte fi dur diefen Umftand begün-
ftigt. Der Mond fand noch fief am Horizont und fchnitt
fharfe Schatten in die Straßenfaflfade. Sean Daljean Eonnte
im Dunkel an den Wänden entlang gleiten, zugleich aber die
belferleuchtete Gegenfront fharf beobachten. Vielleicht bedachte
er nicht zur Genüge, daß ihm dermaßen die dunfle Seite ent-
ging. Als er aber in dem Straßengewirr rings um die Rue de
271
Poliveau untergetaudht war, glaubte er gewiß zu fein, daß er
nicht verfolgt werde.
Eofette Tief neben ihm her, ohne Tragen zu ftellen. Die Lei-
den, die fie in ihren erften fes Lebensjahren ausgeftanden
batte, hatten zur Folge gehabt, daß fie einen pafliven Charakter
entwidelte. Sie hatte fib — ein Umftand, auf den wir no
des öfteren zurückkommen werden — , ohne e8 recht felbft zu be-
merfen, an die Schrullen ihres Beſchützers und an die Launen
des Schickſals gewöhnt. Auch fühlte fie fi in Sicherheit, wenn
er nur bei ihr war.
Sean Valjean wußte ebenfowenig wie Cofette, wohin diefer
Weg ihn führte. Er Iegte fein Schiefal in Gottes Hand mie
fie das ihre in feine. Ihm war, als ob auch er geführt werde
wie fie; er glaubte ein unfichtbares Weſen zu fühlen, das ibn
lenkte. Er hatte Feinen feften Plan, Feine Elar umriffene Ab—
fit. In diefem Augenblick war er nod nicht einmal feft über-
zeugt, daß er es mit Yavert zu fun hatte, und wenn biefer
Sremde aud wirklich Javert war, ob Javert ihn erfannt babe.
Mar er denn nicht verkleidet? Glaubte man ibn nicht tot?
Allerdings, feit einigen Tagen gefhahen Dinge, die bedenf-
lih fhienen. Mehr war nicht nötig. Er hatte fi) entfhloffen,
nie wieder in bas Haus Gorbeau zurüdzufehren. Wie ein Tier,
bas aus feinem Verſteck aufgefheucht ift, fuchte er zunächſt ein
Loch, in dem er fid verbergen Fünnte, und dachte, er würde
fpäter ein dauerndes Verſteck finden.
Sean Valjean durbquerte im Zickzack das Quartier Mouf-
fetar, das fon im Dunkel lag, als ob dort noch die Polizei-
ordnung des Mittelalters gälte. In firategifher Vorſicht
freuzte er zu mehreren Malen die Rue Zenfier und die Nue
Eopeau, dann die Mue du Pattoir-Saint-Victor und die Rue
du Puits-PHermite. Es gibt in diefer Gegend Herbergen, aber
er wollte in feine eintreten, denn er fand Feine paflende. Doc
war er überzeugt, daB man, falls man ihm nachgegangen fein
jollte, feine Spur Tängft verloren babe.
Als es elf Uhr fchlug, ging er gerade die Rue de Pontoife
272
entlang und Fam an dem Polizeifommiffariat vorbei, bas in
Nummer 14 untergebracht ift. Einige Sefunden fpäter hieß
ihn ein Inſtinkt fi ummenden. Ym Schein der Laterne, die
an dem Kommiffariat angebradt war, Fonnte er drei Männer
erfennen, die in biefem Augenbli der Meibe nah an dem
Bureau vorbeifamen. Einer der drei trat in den Hauseingang.
Der Mann, der an der Spike marfhierte, fhien Daljean
höchſt verdächtig.
„Komm, Kind”, fagte er zu Cofette und beeilte fih, aus der
Rue de Dontoife hinauszufommen. Er wählte wieder einen
Umiveg, umging die Paflage des Patriardes, die zu biefer
Nachtſtunde Schon gefperrt war, durchmaß die Rue de l'Epée de
Bois und die Mue de l’Arbalète; endlich verfhwand er in der
Nue des Poftes.
Es gibt dort an der Stelle, wo heute das Kolleg Rollin ift,
an der Abzweigung der Rue Neuve Ste.-Genevieve eine Weg-
kreuzung. Der Mond fhien grell herab. Sean Valjean trat in
ein Haustor und bebachte, daß er die drei Leute, falls fie ihn
noch verfolgen jollten, hier febr gut erfennen würde, wenn fie
auf dem hellbeleuchteten Platz träten.
In der Tat vergingen Feine drei Minuten, als die Männer
fhon erſchienen. Es waren jest ihrer vier, alles hochgewachſene
Leute in langen braunen Röcken, mit runden Hüten und Knüt-
teln in der Fauft. Ihre Größe war nicht minder unheimlich
wie die Art, in der fie fih im Dunfeln vorwärts bewegten.
Man hätte fie für vier Gefpenfter halten Eönnen, die fib als
Bürger verkleidet hatten.
Inmitten der Wegfreuzung blieben fie fteben und fchienen zu
beraten. Sie faben unentfchloffen aus. jener, der fie zu führen
fhien, deutete mit der Nechten nad der Richtung, in der Jean
Valjean weitergegangen war; ein anderer fhien nach der ent-
gegengefehten Seite gehen zu wollen. In dem Augenblid, als
der erftere fi ummandte, fiel bas Mondlicht voll auf fein Ge-
fibt. Jean Valjean erfannte deutlih Vavert.
18 Hugo, Die Elenden. 273
2. Glücklicher weiſe fahren auf der
Aufterliger Brüde Wagen
Vebt war für Jean Valjean alles Har. Für jene Männer
allerdings dauerte die Ungewißheit nod an. Er machte fi) alfo
ihr Zögern zunuße, denn was jene an Zeit verloren, Fonnte
er als Gewinn buden. Er trat aus dem Haustor, in dem er
fid) verborgen hatte, und eilte in der Richtung gegen den Jardin
des Plantes weiter. Cofette begann zu ermüden, er bob fie auf
und trug fie. Nächtliche Spaziergänger waren nicht zu feben,
die Laternen hatte man wegen des Mondfcheins nit an-
gezündet.
An der Rue de la Clef und dem Jardin des Plantes vorbei
kam er zum Quai. Hier wandte er ſich um. Weit und breit
kein Menſch. Auch in den Seitenſtraßen war niemand zu ent—
decken. Er atmete auf.
Jetzt ging er auf den Pont d'Auſterlitz zu. Damals gab es
dort noch einen Wächter, der Mautgeld erhob. Er näherte ſich
dem Mann und reichte ihm einen Sou.
„Zwei Sous!“ ſagte der Invalide, der den Dienſt verſah,
„Sie tragen ein Kind, das gehen kann. Sie müſſen für zwei
zahlen.“
Es war ärgerlich, daß fein Übergang über die Brücke Gegen-
ftand einer Erörterung geworden war. Daljean bezahlte. Lieber
wäre es ihm gewefen, wenn feine Flucht glatter vonftatten ge-
gangen wäre.
Gleichzeitig mit ihm fuhr ein großer Laftwagen zum rechten
Ufer hinüber. Das war günftig. Er fonnte im Schatten der
Fuhre gehen.
Mitten auf der Brücke begehrte Cofette, deren Füße erftarrt
waren, zu geben. Er feste fie zu Boden und nahm fie an
die Hand.
Sobald er die Brücke überfohritten hatte, bemerkte er zur
Rechten einige Lagerpläße. Um dahin zu gelangen, mußte er
einen breiten, bell vom Mond beleuchteten Raum überfchreiten.
214
Er zögerte nibt. Seine Verfolger waren offenbar einer falfhen
Spur gefolgt. Jean Valjean glaubte fih außer Gefahr. Er
wurde gefucht, aber nicht verfolgt. Eine Heine Gaffe, die Rue
du Chemin-Bert-Saint-Antoine, zog fi zwiſchen hohen
Mauern dahin. Ein dunkler, enger Weg, wie für ihn ge-
Ihaffen. Bevor er eintrat, blickte er fih um. Er fonnte von
feinem Standplas aus die Aufterlißer Brücke in ihrer ganzen
Länge überfchauen. Eben tauchten am anderen Ende der Brücke
vier Schatten auf. Sie kamen vom Jardin des Plantes ber-
über und wollten offenbar das rechte Ufer erreichen.
Dier Schatten — vier Männer! Sean Valjean erfehauerte.
Die Spürhunde hatten das Wild wieder aufgefcheucht. Aber
noch blieb eine Hoffnung. Bielleiht hatten die vier Männer
ihm nicht gefeben, als er mit Cofette den hellen Plas über-
Ihritten hatte. Er braudte nur in die Eleine Straße einzu-
biegen, bis zu den Lagerpläßen vorzuftoßen und zwifchen den
Gemüfefeldern und Schutthalden zu verfehwinden.
Ihm fhien, man könne ſich biefer Eleinen ftillen Straße
anvertrauen.
3. Umbertaften.
Nach ungefähr breibundert Schritten Fam er an eine Stelle,
wo die Straße fit gabelte. Er hatte vor ſich gewiffermaßen die
beiden Zweige eines Y.
Wohin ſollte er fih wenden? Er zögerte nicht, fondern bog
rechts ab.
MWarım?
Gegen linfs mußte er in die Vorftadt gelangen, alfo in be-
wohntes Gebiet, rechts aber auf unbebautes Land, in eine ver-
faffene Ode. Doch gingen die beiden nicht mehr befonbers
ſchnell. Eofettes kurze Schritte verzögerten Sean Valjeans
Gang. Er mußte fie wieder aufnehmen. Sie Iegte den Kopf
an feine Schulter und fchwieg.
Don Zeit zu Zeit Échrte er fi um und hielt Ausfchau.
* 275
immer war er beftrebt, fit auf der dunklen Seite der Straße
zu halten. Als er ſich die erften Male ummwandte, fab er nichts;
ringsum war tiefes Schweigen. Schon fühlte er fih etwas
fiherer. Plösli bemerfte er, daß fich nicht meit hinter ibm
etwas bewegte. est begann er zu laufen, hoffte, eine Quer-
ftraße zu erreichen und dort die Spur fälfchen zu Éônnen.
Er erreichte eine Mauer. Doch war der Weg nicht vollends
verfperrt. Die Mauer fehloß eine Querftraße ab, wieder mußte
Sean Valjean fich entfcheiden, ob er nad) rechts oder nad) linfs
weitergeben follte.
Er fab nad rechts. Hier lief die Straße zwifchen Schuppen
und Scheunen weiter und endete in einer Sadgafle. Der Hin-
tergrund, eine hohe weiße Mauer, war deutlih zu erkennen.
Dann fab er nad linke. In diefer Richtung war die Straße
offen. In einem Abftand von etwa zweihundert Schritten ging
fie in eine andere über. Vielleicht war dort bas Heil zu finden.
In dem Augenblick, als er eben weitergehen wollte, bemerfte
er an der nächſten Ede in diefer Straße etwas Regungsloſes,
eine Art ſchwarze Statue.
Das war unverkennbar ein Mann, ein DPoften, den man
ausgeftellt hatte, um ihm den Weg zu fperren.
Jean Valjean fuhr zurüd.
Gleichzeitig wurde ein Geräufch hörbar. Jean Valjean wagte
einen Blick um die Straßenede und bemerfte fieben oder acht
Soldaten, die in der Rue Poloneau vordrangen. Er fonnte
ihre Bajonette aufblisen fehen.
In ihrer Spike erkannte er Javert. Sie marfchierten lang-
fam und vorfibtig. Oft blieben fie ftehen. Wahrſcheinlich durd-
fuhten fie alle Mauerwinfel und Haustore.
In der Art, wie fie fi) bewegten, Eonnten fie eine Viertel—
ftunde brauden, um an dem Ort zu gelangen, an dem Sean
Valjean fi jest befand. Es war ein furbtbarer Augenblid,
nur einige Minuten trennte jean Daljean vor dem Abgrund,
der fih zum drittenmal vor ihn auftat. Und diesmal drohte ihm
nicht nur das Bagno, diesmal würde man ibm Cofette ent:
276
reißen; er würde zu einem Leben verurteilt werden, dem das
Grab vorzuziehen war.
So ftand ibm nur ein Ausweg offen.
Sean Daljean war in gewiffenm Sinne ein Doppelmenfch;
zur Hälfte hegte er die Gedanken eines Heiligen, zur anderen
Hälfte befab er die furchtbaren Fähigkeiten eines Sträflings.
Mad Bedarf Éonnte er feine Perfünlichfeit wechfeln.
Bei feinen zahlreichen Ausbrücen aus dem Bagno war er,
wie der Lefer fi wohl erinnert, ein Meifter in der Kunft ge-
worden, fi ohne Leiter aus reiner Musfelfraft an Mauern
hodyzuarbeiten, indem er nur die ſchwachen Unebenheiten des
Bauwerks als Griffe und Stüßen benüßte. Er maß die Mauer
vor fi) mit den Augen und bemerkte, daB fie von einer Linde
überragt wurde. Die Mauer mochte etwa achtzehn Fuß hoc
fein. Es war nur ſchwer, Cofette da hinauf zu befommen. Sie
Fonnte nicht Elettern. Sie im Stich laffen? Er dachte nicht
daran. Sie mitnehmen war unmöglih. Ein Mann braudt
feine ganze Kraft, um allein einen folhen Weg zurüczulegen.
Die geringfte Laft mußte das Gleichgewicht verfehieben und
feinen Sturz zur Folge haben.
Va, wenn er ein Seil hätte! Jean Valjean hatte Feines.
Mie Fommt man um Mitternacht in der Rue Polonceau zu
einem Seil? Gewiß hätte jean DBaljean, wenn er ein König-
reich befeflen hätte, in diefem Augenblid ein Königreich für
ein Seil gegeben.
Aber gerade die Fritifcheften Situationen erleuchten ung zu-
weilen blishaft, fei es, um uns zu blenden, fei es, ung ben
ribtigen Weg finden zu laffen. Der verzweifelte Bli jean
Valjeans fiel auf die Laterne in der Sackgaſſe Genrot.
Es gab damals noch feine Gaslaternen in den Straßen von
Paris. Ber Einbruch der Nacht wurden Lampen in kurzen Ab-
ftänden ausgeftellt, die an Seilen aus der Straßenmitte herab-
gelaflen wurden.
Mit dem Mut des Entfheidungsfampfs ftürzte fit Sean
Valjean in die Sadgafle, ftieß den Éleinen Schranf auf, in
277
dem das Seil verfnotet war, fehnitt es mit bem Meſſer durch
und war im nächften Augenblic wieder bei Cofette. Sekt hatte
er fein Seil. Zugleich) aber begann die vorgerüdte Stunde,
der unheimliche Ort und die Dunkelheit, endlich aud Sean Val:
jeans feltfames Gehaben Cofette zu beunrubigen. Jedes andere
Eleine Kind hätte wohl längſt fon zu fchreien begonnen. Sie
beſchränkte fi darauf, Sean Valjean am Schoß feines Modes
zu zupfen. Die Schritte der anmarfchierenden Patrouille war
jeßt deutlich zu hören.
„Vater,“ fagte fie Teife, ‚mir ift fo bang. Wer Fommt
denn dort?’
„Still! Es ift die Thénardier! Sag’ Fein Wort, laß mid)
nur machen. Wenn du fhreift oder weinft, erwifcht fie bib. Sie
will dich holen.”
Gleich darauf begann er ohne Haft, aber aud ohne Zeitver-
luſt mit jener feltfamen Präzifion, die folhen Augenblicen
eigentümlich ift, fein Halstuch abzulöfen; er band es um Cofet-
tes Achſeln und trug Sorge, daB das Kind nicht gequeticht
werde. Dann band er bas andere Ende des Tuches an dag Seil,
nahm bas Gegenftücd des Seils zwifchen die Zähne, zog feine
Schuhe und Strümpfe ab, warf fie über die Mauer und be-
gann mit der Sicherheit eines Mannes, der eine Leiter er-
fteigt, die Mauer zu erflimmen. Nach einer Énappen halben
Minute Fniete er auf der Mauerbrüftung.
Mortlos fab ihm Eofette zu. Sean Valjeans Nat und der
Name der Ihenardier hatten fie zu Eis erftarren laffen.
est hörte fie ihn leiſe rufen:
„zehne dich an die Mauer!’
Sie gehorchte.
„Sag' Fein Wort und fürchte dich nicht!”
Gleich darauf fühlte fie, daB fie hochgehoben wurde. Bevor
fie begriff, was mit ihr gefehah, war fie auf dem Gipfel der
Mauer. Sean DBaljean ergriff fie, nahm fie auf den Rüden,
legte fi platt auf den Bauch und Frod an der Brüſtung ent-
278
lang. Wie er erraten hatte, ftieß die Mauer bier an ein Ge-
bäude, deflen Dad ſchräg abfiel und die Linde faft ftreifte.
Die Situation war für ihn fehr günftig. Gegen den Garten
zu reichte das Dach viel tiefer hinab als ſtraßenwärts.
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Sm felben Augenblik Tieß ibn Lärm auf der Straße er-
roten, daß die Patrouille angefommen war.
„Sucht die Sadgaffe ab!’ befahl Javert. , Die Rue Droit-
Mur und die Fleine Rue Picpus find bewacht. Ich bürge dafür,
daß er in der Sackgaſſe iſt.“
279
Die Soldaten mahten fih auf die Suche.
Sean Daljean aber Tieß fih an dem Dad) hinabgleiten, be-
fam die Linde zu faflen, Eletterte ein letztes Stück und fprang
zu Boden. Eofette hatte aus Mut oder Angft nicht einmal laut
zu atmen gewagt. Ihre Hände waren ein wenig serfunbden.
4. Anfang eines Rätſels
Sean Valjean befand fih in einem geräumigen, recht eigen-
artigen Garten; einem jener traurigen Gärten, die für den
Winter und die Nacht beftimmt zu fein fheinen. Er war redt-
edig und endete in einer Pappelallee; au in allen Winkeln
ftanden Bäume, die Mitte aber war fhattenlos; hier Eonnte
man einen vereinzelten fehr hoben Baum, einige verfrüppelte
Dhftbäume, Beete und eine alte Senfgrube erfennen. Hier
und da waren von Moos bewachſene Steinbänfe zu fehen.
Zur Seite hatte Jean Valjean das Gebäude, von deflen
Dad er abgeftiegen war; an der Mauer ftand eine Statue,
deren arg verftümmeltes Geficht in der Dunkelheit kaum er-
fennbar war.
Das Haus gli eher einer Ruine, doch fhienen einzelne
Räume noch als Schuppen benüßt zu werden.
Das Hauptgebäude in der Rue Droit-Mur machte um die
Ede der Rue Piepus einen Bogen und bildete fomit gegen den
Garten einen rechten Winfel. Alle Senfter waren vergittert;
nirgends war Licht zu fehen. Aud war von einem anderen Ge-
bäude nichts zu bemerfen. Der Garten verlor fih in Finfternis
und Naht. Nur ganz undeutlih waren Mauerftüde zu er-
fennen — vielleicht die niedrigen Dächer der Rue Polonceau.
Nichts Wilderes, Einfameres Éonnte man fi) vorftellen als
diefen Garten. Daß fi hier niemand aufhielt, war zu biefer
Stunde weniger erftaunlib, aber e8 war faum anzunehmen,
daß auch zur Mittagszeit hier jemand einen angenehmen Auf-
enthalt finden Eönnte.
Sean DBaljeans erfte Sorge war es, feine Schuhe wieder
280
zu juhen und wieder anzuziehen. Dann brachte er Coſette in
den Schuppen. Wer eben feinen Verfolgern entfhlüpft tft,
fühlt fit nirgends fiber genug. Cofette, die nod immer an bie
Ihenardier dachte, wünſchte gleihfalls nichts Beſſeres als ein
möglichft fiberes Verſteck.
Zuerft hörte man von draußen Larm und Rufe. Mach einer
Viertelftunde aber ſchien fi die Truppe der Verfolger zu ent-
fernen. Sean Valjean atmete nod immer faum. Er hatte fanft
feine Hand auf Cofettes Mund gelegt.
281
Plötzlich wurde aus der tiefen Stille des Gebäudes ein an-
deres Geräuſch hörbar, ein Gefang, der ebenfo himmliſch und
göttlich Élang wie eben erft der Straßenlärm entferlih. Es war
eine Hymne, ein Gebet, das in die fchweigende Nacht aufftieg;
Baljean glaubte Frauenftimmen zu erfennen, aber Stimmen,
die zugleih von ungfrauen und von Kindern berzurühren
fhienen. Unverfennbar Flangen fie aus dem Gebäude neben dem
Garten herüber. Es war, als ob nad der Herenmufif der Dä—
nonen ein Chor der Engel erklingen follte.
Eofette und Jean Daljean Énieten nieder.
Sie wußten nicht, wo fie fit befanden, aber fie fühlten, der
Mann und das Kind, der Büßer und die Unfchuldige, daß fie
niederfnien mußten.
Der Gefang Fang wie übernatürlihe Muſik in einem un-
bewohnten Gebäude. Solange er anhielt, date Jean Valjean
an nichts anderes. Erft als er verftummte, fchien er zu er-
wachen. Wie lange das gedauert haben mochte, hätte er nicht
angeben können. Die Stunden der Verzückung find Sekunden.
Alles verſank wieder in tiefe Stille; weder auf der Straße
nod im arten irgendein Geräuſch.
5. Mobimmer bas Rätſel
Der Morgenwind fefte ein. jean Valjean ſchloß daraus,
daß es gegen ein oder zwei Uhr fein mochte. Cofette war ftill.
Da fie neben ihm foß und den Kopf an feine Bruſt gelehnt
hatte, dachte er, fie fei eingefchlafen. Er beugte fi über fie
und fab fie an. Ihre Augen fanden weit offen, fie [bien nad»
zudenfen. |
Immer noch zitterte fie.
„Möchteſt du ſchlafen?“
„Mir iſt ſo kalt!“ antwortete ſie. „Iſt ſie denn noch
immer da?“
„Wer?“
„Frau Theénardier.“
282
Sean Baljean hatte längft vergeffen, welchen Mittels er fi
bedient hatte, um Cofette fhweigen zu machen.
„Ach, die ift fort! Fürchte dich nicht weiter.‘
Das Kind feufzte, als ob ihm eine große Laft von der Bruſt
genommen würde.
Der Boden war feucht, der Schuppen nad allen Seiten
offen, der Wind von Augenblik zu Augenblick froftiger. Jetzt
309 Sean Valjean feinen Mod aus und hüllte Cofette darein.
„Iſt dir jeßt weniger kalt?“
„Ja, Vater.“
„Gut, dann warte einen Augenblick. Ich komme gleich
wieder.“
Er trat aus der Ruine und begann an dem Hauptgebäude
entlang zu gehen, um einen beſſeren Unterſchlupf ausfindig zu
machen. Er ſtieß auf Türen, aber ſie waren verſperrt. Die
Fenſter im Erdgeſchoß waren mit Eiſengittern verſehen.
Als er den inneren Winkel des Gebäudes erreichte, bemerkte
er einige Bogenfenſter, die ſchwach erleuchtet waren. Er hob
ſich auf die Zehenſpitze und ſah hindurch. Das Fenſter führte
zu einem großen, mit mächtigen Steinflieſen gepflaſterten
Saal, der durch Arkaden und Säulen geteilt ſchien. Das Licht
kam von einer kleinen Lampe, die in einer Ecke brannte. Nichts
in dem Saal rührte ſich. Doch glaubte er, wenn er ſeine Augen
ſchärfer anſtrengte, auf dem Boden etwas zu bemerken, einen
Gegenſtand, der mit einem Laken bedeckt war und die Form
eines menſchlichen Körpers andeutete. Dieſe Geſtalt lag mit
dem Geſicht gegen den Boden, die Arme kreuzweiſe ausgeſtreckt,
reglos wie ein Leichnam. Etwas neben ihr ſah wie eine
Schlange aus, offenbar ein Strick, den jene unheimliche Ge—
ſtalt um den Hals trug.
In dem ganzen Saal webten die Schauer des Halbdunkels.
Jean Valjean hat ſpäter oft geſagt, daß ihm in ſeinem
Leben manches Schauerliche widerfahren ſei, nie aber habe
etwas ſein Blut ſo ſehr zu Eis erſtarren laſſen wie dieſe rätſel—
hafte Geſtalt, die im Dunkel der Nacht ein unbekanntes
283
Mofterium vollzog. Furchtbar war ihm die Vorſtellung, dies
fei eine Iote, fbredliher noch aber der Gedanfe, daß dort ein
lebendiges Weſen liege.
Er hatte immerhin den Mut, die Stirn gegen die Fenfter-
fcheibe zu preffen und zu beobachten, ob die Geftalt fich bewege.
Ihm ſchien eine beträchtliche Zeit verfloffen, als er noch immer
nicht die leifefte Bewegung bemerft hatte. Plöslih padte ihn
ein unausfprechliches Grauen und er entflob. Ohne fih umzu-
Ihauen, Tief er in ben Schuppen. Wenn er fih umfähe, würde
er — davon war er überzeugt — die Geftalt hochaufgerichtet,
mit den Armen fchlenfernd, einherfchreiten feben.
Keuchend erreichte er die Ruine. Seine Knie fchlotterten,
Schweiß perlte von feinem Körper.
Mo befand er fih? Wer hätte ſich je vorftellen mögen, daß
es inmitten von Paris eine derartige Grabftätte gab? Und was
bedeutete biefes feltfame Haus, diefer Bau voll nächtlicher Ge-
beimniffe, der in der Dunkelheit verängftigte Seelen mit Engel-
ftimmen an fi lodte und ihnen, wenn fie näher traten, die
furchtbare Bifion einer Gruft vorhielt? Und bod war dies ein
Haus, bas auf der Straße eine gewöhnliche Nummer führte!
Kein Traum . . .
Er mußte die Wand berühren, um ſich davon zu überzeugen.
Mieder beugte er fi über Eofette. Sie ſchlief.
6. Immer rätfelbafter
Das Kind hatte den Kopf auf einen Stein gelegt und war
eingefchlafen. Er feste fih neben fie und begann fie anzu-
Ihauen. Je länger er fie betrachtete, um fo ruhiger wurde er.
Bald war er wieder im Defiß feines Fühlen Geiftes. Er begriff,
daß von nun an diefes Gefhöpf der Sinn feines Lebens war.
Er brauchte nichts, was nicht ihr Bedarf war, hatte nichts zu
fürdten, was nicht ihr drohte.
Während er fo nadfann, hörte er zumeilen ein feltfames
Geräufh. Es war dag Geflingel einer Éleinen Glode und Fam
284
aus dem Garten. Man fonnte es fchwach, aber deutlich er-
fennen. Es erinnerte an das Schellen der Gloden einer Herde
auf nächtlicher Heide.
Jetzt wandte fi Sean Valjean um. Sofort erfannte er,
daß jemand im Garten war. Ein Gefchöpf, das einem Manne
nicht unähnlich war, ging in einem Melonenbeet auf und nieder,
bückte fi, richtete fit wieder auf, blieb zumeilen ftehen; Sean
Valjean erzitterte. In diefem Augenbli war es ihm Elar, daß
Javert und die Spikel nicht einfach forfgelaufen waren, ohne
Beobachter in der Gegend zurüdzulafien. Sobald diefer Mann
im Garten ihn bemerfen würde, dag war gewiß, würde er um
Hilfe rufen und ihn als Einbrecher dem Poliziften übergeben.
Er nabm Coſette fanft auf und frug fie hinter eine Anhäu-
fung alter, bereits außer Gebraud gegogener Möbel im Hinter-
grunde des Schuppens. Cofette rührte fih nicht.
Jetzt begann er den Mann im Melonenbeet zu beobadıten.
Sonderbar war, daß jede feiner Bewegungen das feltfame Ge-
Elingel bervorbradte. Ram er näher, fo verftärfte fit der Saut
des Glöckchens, entfernte er fi), fo wurde er ſchwächer. Machte
er eine überftürgte Bewegung, fo war fie von einem kurzen
Tremolo begleitet. Blieb er fteben, fo wurde es ganz ftill.
Dffenbar hatte man diefem Mann das Glöckchen umgebunden,
aber was follte es bedeuten? Wer war diefer Mann, dem man
ein Glöckchen umgebunden hatte mie einem Teithammel oder
einer Leitkuh?
Mährend er fi diefe Frage ftellte, berührte er Cofettes
Hand. Sie war eifig.
„Großer Gott!’ flüfterte er.
Leife rief er fie an.
„Coſette!“
Sie tat die Augen nicht auf.
Er ſchüttelte ſie.
Sie rührte ſich nicht.
Im nächſten Augenblick war er aufgeſprungen. Furchtbare
Gebanten durchfreugten fein Hirn. Es gibt Augenblide, in
285
denen fhredliher Argwohn über uns hereinbricht wie eine Ko-
borte von Furien. Gerade wenn wir lieben, begeht unfere Vor—
fiht die tollften Marrbeiten.
Mod immer lag Cofette blaß und reglos vor ihm.
Sie atmete. Er hörte ihren Atem, einen ganz ſchwachen
Atem, der, wie ihm fchien, jeden Augenblick erlöfchen Eonnte.
Mie follte er fie wärmen? Wie fie aufwecken?
Diefer Gedanke verdrängte jede andere Erwägung. Entfest
eilte er aus der Ruine. Eofette mußte um jeden Preis binnen
einer DBiertelftunde in ein Bett, in einen warmen Raum ge-
bracht werden.
7. Der Mann mitdem Glöckchen
Jean Daljean ging auf den Mann im Garten zu. Er hielt
die Geldrolle, die er zu fich geftecdft hatte, in der Hand.
Der andere ftand gebüct und fab ihn nit. Mit einigen
Schritten war jean Daljean bei ihm.
„Hundert Franken!’ rief er.
Der Mann fuhr zurück und blickte auf.
„Sie können hundert Franken verdienen, fagte Sean Val—⸗
jean, „wenn Sie mir für eine Nacht ein Obdach geben.”
Test fiel der Mond bell auf bas verfhredte Gefiht Sean
Valjeans.
„Ach Sie ſind's, Vater Madeleine!“ ſagte der andere.
Dieſer Name, zu dieſer Stunde an dieſem ſeltſamen Ort
ausgeſprochen, ließ Jean Valjean zurückſchrecken.
Alles hatte er erwartet, nur das nicht. Der Mann, der ge—
fproden hatte, war ein gebeugter, halb lahmer reis, bäuerlich
gekleidet, mit einem Glöckchen an einem Lederriemen, der um
fein Tinfes Knie gefchlungen war. Sein Gefiht war in der
Dunfelheit nicht zu erfennen.
Vebt nahm er die Mütze ab und fagte zitternd:
. „Großer Gott, wie fommen Sie denn hierher, Vater Made-
leine? Wie find Sie denn bier bereingefommen, um Cbrifti
286
willen! Sind Sie denn vom Himmel gefallen? Und wie jehen
Sie denn aus? Kein Halstuh, feinen Hut, nit einmal einen
Rod? Willen Sie, wenn einer Sie nicht Éennen würde, möchte
er ja Angft Friegen! Großer Gott, werden denn alle Heiligen
heutzutage verrüdt? Aber wie find Sie denn nur bier berein-
gekommen?”
Er fprah, ohne den andern zu Wort Fommen zu laffen.
Dabei verriet er eine fo ländlihe Gutmütigkeit, daß Daljean
fih beruhigen Fonnte.
„Wer find Sie und was ift bas für ein Haus?’ fragte Sean
Valjean.
„Du lieber Gott, das iſt aber doch ſtark! Sie ſind es, der
mich hierher gebracht hat, in dieſes Haus, und jetzt erkennen
Sie mich nicht?“
„Nein. Und wie kommt es, daß Sie mich kennen?“
„Sie haben mir doch das Leben gerettet.“
In dieſem Augenblick fiel ein Strahl des Mondlichts auf
ſein Geſicht und Jean Valjean erkannte den alten Fauchelevent.
„Ach, Sie ſind es! Jetzt erkenne ich Sie.“
„Das iſt ein Glück“, murmelte der Alte vorwurfsvoll.
„Ja aber, was machen Sie denn hier?“
„Nun, ich decke meine Melonen zu.“
Der alte Fauchelevent hielt in der Tat in dem Augenblick,
da Jean Valjean zu ihm getreten war, eine Strohhaube in der
Hand, die er eben über eine Melone ſtülpen wollte. Offenbar
hatte er ſchon feit etwa einer Stunde im Garten dieſer Be—
Ihäftigung obgelegen, und bei diefer Bewegung hatte er die felt-
famen Gebärden gemadt, die jean Valjean beobachtet hatte.
„Nun,“ fuhr der Alte fort, „ich dachte mir, bei diefem Elaren
Mondliht kann es leicht frieren. Ob ich nicht meinen Melonen
ihre Röcke anziehe? Und Sie, Sie hätten aud den Ybren
nicht zu Haufe laffen follen. Aber wie kommen Sie nur
hierher?’ |
As Jean Daljean fi von diefem Manne wenigftens unter
dem Namen Madeleine erfannt fab, befhloß er vorfibtig zu
287
fein. Er begann felbft zu fragen. Ihre Nollen waren vertaufbt,
er, der Eindringling war es, der den andern zur Mede ftellte.
„Wozu brauden Sie denn die Glodfe da an Ihrem Knie?‘
„Die? Na, die habe ich, damit man mir aus dem Meg geht.”
„Damit man Ihnen aus dem Meg geht?’
Der Alte zwinkerte mit einem unausfpreblihen Ausdrud.
„Wiſſen Sie, es find nur Frauen in diefem Haus, und viele
junge Mädchen. Offenbar könnte ich denen gefährlich werden.
Darum trage ih die Glode. Die fol fie warnen. Wenn id
fomme, laufen fie fort.”
‚Aber was ift denn das für ein Haus?’
„Das wiffen Sie ganz genau, denfe ich.’
„Ich babe Feine Ahnung ...“
„Und Sie haben mich doch hier als Gärtner untergebracht!”
„Antworten Sie mir, als ob ih nichts wüßte.‘
„Jun, das Rlofter Petit-Dicpus doch!“
est erinnerte fih Sean Valjean. Der Zufall, alfo die Vor—
fehung, hatte ibn genau in biefes Klofter gebracht, in dem vor
wer fahren der alte Fauchelevent nah feinem Sturz unter
dem Wagen untergefommen war.
„Alſo dag Klofter Petit-Picpus“, fagte er leife.
„Aber wie zum Teufel, find Sie nur hier hereingefommen,
Vater Madeleine? Sie find zwar ein Heiliger, aber immerhin
bo ein Mann? Und Männer fommen bier nie herein.”
„ber Sie find ja doch hier?’
„Ich bin auch der einzige.‘
„Und dabei muß ich fogar hierbleiben!‘
„Ad du lieber Gott!’ rief Fauchelevent.
Sean Valjean trat auf den Alten zu und fagte ernft:
„Vater Fauchelevent, ich babe Ihnen bas Leben gerettet.‘
‚And ich babe mich zuerft daran erinnert.‘
„But, Sie Eönnen heute für mid fun, was ich damals für
Sie tat.”
Sauchelevent nahm die Éräftigen Hände Sean Valjeans in
feine faltigen, zitternden.
288
„Verfügen Sie über mich!‘
Eine unausfpreblihe Freude fhien fein Gefiht zu verflären. :
„Was ſoll ic tun?’ fragte er wieder.
„Das will ich Ihnen gleich fagen. Haben Sie eine eigene
Stube?’
„Ich babe eine eigene Barade da hinter der Nuine des alten
Klofters, in einem Winkel, in den fein Menſch kommt. Dort
find drei Zimmer.’
Diefe Baracke war in der Tat fo gut hinter der Ruine ver-
filet, daß auch Sean Valjean fie nicht gefehen hatte.
„But, fagte er, ,,jett babe ih Sie um zwei Dinge zu
bitten.’
„Und zwar, Herr Bürgermeiſter?“
„Eritens fagen Sie niemand, mas Sie von mir wiffen.
Zweitens fuhen Sie nicht mehr von mir zu erfahren.‘
„te Sie wollen. Ich weiß, daß Sie nihtsllnanftändiges tun
fönnen und immer ein guter Mann waren. Übrigens haben Sie
mich ja bierhergebradht. Sch ftehe Ihnen ganz zur Verfügung.”
„Abgemacht. Und jest fommen Sie mit mir. Wir wollen das
Kind holen.’
„Was, ein Kind gibt es da auch noch?’
Aber er fragte nicht weiter, fondern folgte Yean Valjean
wie ein Hund feinem Herrn.
Mod war Feine halbe Stunde vergangen, als Eofette, deren
Wangen fih an einem Kaminfeuer wieder gerötet hatten, be-
reits im Bett des alten Gärtners fchlief. Sean Daljean hatte
fein Salstud und feinen Mod wieder an fih genommen;
Fauchelevent hatte jet den Riemen mit dem Glöckchen abge-
ſchnallt und die beiden Männer faßen an dem Tiſch, auf dem
der Gärtner ein Stück Käfe, ein Brot, eine Flaſche Wein und
zwei Gläfer hingeftellt hatte. Und jest fagte der Alte, indem er
Sean Valjean die Hand aufs Knie legte:
„Ach, Dater Madeleine, Sie haben mic gar nicht erfannt!
Erft retten Sie den Leuten das Leben und dann vergeflen Sie
fie? Sie find ja undanfbar.”
19 Hugo, Die Elenden. 289
8. Wie die Beute Savertentging
Die Ereigniffe, die wir eben von der Kehrfeite gefeber
haben, waren unter den denkbar einfadften Umftänden zuftand:
gekommen.
As Sean Valjean in jener Nacht, da ihn Vavert am Ber:
der toten Santine verhaftet hatte, aus dem Stadtgefängnis vor
Montreuil fur Mer entfprang, hatte die Polizei vermutet, dei
Flüchtling babe fih nad Paris gewandt. Paris ift ein Mal
from, in dem alles fit verliert, jeder in der Unmenge der an
deren verfehwindet. Kein Wald Fann einen Menfhen fo gu
verbergen wie die Menfchenmenge von Paris. Alle Flüchtling:
wiffen bas. Gern tauchen Sie in Paris unter, aber aud bi
Polizei ift fi darüber im Elaren und fut, was anderswo ent
Ihlüpft ift, bier. In Paris ſuchte fie aud den ehemaliger
Bürgermeifter von Montreuil fur Mer. Vavert wurde nad
Paris zitiert, um an den Nachforſchungen teilzunehmen, uni
wirklich trug er dazu bei, daB jean Valjean wieder ergriffen
wurde. Sein Eifer und feine Klugheit fielen bei diefer Ge
legenbeit Herrn Cbabouillet, dem Sekretär der Präfektur auf
der ja auch fon früher Javerts Proteftor gewefen war uni
der den Polizeiinfpeftor aus Montreuil fur Mer zur Parifa
Polizei verfegte. Und bier machte ſich Javert auf mannigfad
und achtbare Weife (wenn folk ein Wort in einer folden Stel
lung am Paste ift) nützlich.
Er dachte nicht mehr an Jean Valjean, fo wie diefe Jagd:
hunde den Wolf von geftern vergeflen, um dem von heute nad
zufpüren, als er, der fonft niemals Journale lag, im Dezember
1823 ein Blatt in die Hände befam; als begeifterter Mon
archiſt wollte er Einzelheiten über den triumphalen Einzug dei
Königlichen Hoheit, des Generaliffimus, in Bayonne erfahren
Mährend er den Artikel las, fprang ibm der Name Year
Valjean, der weiter unten auf der gleichen Seite genann
wurde, in die Augen. Die Zeitung meldete, daß der Sträfling
Sean Valjean ums Leben gefommen fei, und der Bericht wat
290
fo beftimmt formuliert, daß Javert nicht zweifeln fonnte. Er
begnügte fih zu fagen: Ma, eine Sorge weniger. Dann warf
er das Dlatt weg und dachte nicht weiter daran.
Einige Zeit fpäter ging von der Präfektur des Departements
Seine-et-Dife ein Bericht über die Entführung eines Kindes
ein, dag, wie gefagt wurde, unter eigenarfigen Umftänden aus
der Gemeinde Montfermeil verfchleppt worden war. Eine
Kleine von fieben oder acht jahren, die von ihrer Mutter
einem Wirt in jenem Ort anvertraut worden war, fchien, wie
es in dem Bericht hieß, von einem Unbefannten verfchleppt
worden zu fein. Diefes Kind hörte auf den Namen Eofette und
war die Tochter einer gewiffen Fantine, die in einem Spital
geftorben fein follte. Einzelheiten hierüber fehlten. Diefer Be—
richt Fam Javert unter die Augen, und er wurde nachdenklich.
Der Name Fantine war ibm wohlbefannt. Er erinnerte fic,
daß Sean Valjean ihn lächerlicherweife um eine Frift von drei
agen gebeten hatte, weil er vorgebli bas Kind jenes Ge-
ſchöpfs abholen wollte. Er entfann ſich auch, daß Sean Valjean
in Paris verhaftet worden war, als er eben in die Poftfutfche
fteigen wollte, die nach Montfermeil fährt. Gewiffe Anzeichen
hatten fogar darauf bingebeutet, daB er damals fon zum
zweitenmal in jenen Wagen geftiegen war und daß er fi ſchon
früher in Montfermeil herumgetrieben hatte. Was er dort zu
Ihaffen hatte? Man Eonnte es nicht erraten. Jetzt aber begriff
Javert. Dort war Fantines Kind. Sean Daljean fuchte es.
Und diefes Kind war von einem Unbekannten geftohlen? Wer
fonnte diefer Unbekannte fein? %ean Saljean? Der war
doch tof!
Immerhin fuhr Javert, ohne jemand etwas zu verraten,
nah Montfermeil. Er hoffte große Aufflärungen zu erhalten,
aber er fand nichts.
Sn den erften Tagen hatten die Thénardiers aus Ärger
allerlei erzählt. Das Verſchwinden der Lerche hatte im Dorfe
Aufſehen erregt. Verſchiedene Derfionen tauchten auf, fblief-
lih hieß es, bas Kind fer geftohlen worden. So war jener
* 291
Polizeibericht zuftande gefommen. Nachdem aber die erfte Wut
verraucht war, hatte Ihenardier mit feinem fharfen Inſtinkt
herausgefühlt, daB es gar nicht in feinem Intereſſe lag, die
Behörden auf fib aufmerffam zu maden; wenn biefe „Ent—
führung‘ Cofettes erft Staub aufwirbelte, Eonnte es nicht aus-
bleiben, daß viele fragwürdigen Gefchäfte der IThenardiers in
den Blickwinkel der Juſtiz gerückt wurden. Der Ubu kann es
nicht leiden, daB man ihm eine Kerze binftellt. Was follte er
auch) fagen, wenn man ihn fragte, warum er die fünfzehnhundert
Sranfen angenommen hatte? Er änderte alfo feine Taftif, ver-
bot feiner Frau über die Sade zu ſprechen und fat verwundert,
wenn von dem geftohlenen Kind geredet wurde. Er begriff ein-
fady nicht, was man von ihm wollte. Gewiß war er traurig ge-
wefen, als man ihm eines Tages die liebe Kleine fortgefchleppt
hatte, gewiß hätte er fie aus ZärtlichFeit noch gerne ein paar
Sage bei fi gehabt, aber fchließlich war es bob dag Natür—
libfte von der Welt, daß ihr Großvater — und der war es ja
geivefen — fie abgeholt hatte.
Bis zu diefer Verſion war der Bericht gereift, als Vavert
nad Montfermeil Fam. Der Großvater Tieß Sean DBaljean
verblaflen.
Wohl ftellte Javert einige Fragen, um zu prüfen, wie weit
Ihenardiers Bericht ftihhaltig war. Wer war denn biefer
Großvater und wie hieß er?
Aber Ihenardier hatte ganz unbefangen geantwortet:
„Ein begüterter Bauer. ch babe feinen Pas gefehen. Wenn
id mich nicht irre, hieß er Guillaume Lambert.‘
Lambert ift ein Dame, der gutmütig und beruhigend wirft.
Javert fuhr nad Paris zurüd.
Sean Valjean ift tot, dachte er und ich bin mit der Naſe
gegen eine Mauer geftoßen.
Er war eben dabei, diefe Gefchichte wieder zu vergeflen, als
er im Mär; 1824 von einer abfonderlihen Perſönlichkeit
hörte, die in der Pfarrei Saint Medard wohnte und „der
Bettler, der Almofen verteilt‘ genannt wurde. Diefer Menſch
292
fei, wurde gefagt, ein Nentner, deffen Name man nicht genau
anzugeben wiffe und der mit einem Fleinen, achtjährigen Mäd-
en zufammen lebe, von dem auch nicht mehr befannt fei, als
daß es aus Montfermeil ftamme.
Montfermeil!
Savert ftußte.
Ein alter Bettler, der Spißeldienfte leiftete, ein ehemaliger
Kirchendiener, dem jener Unbefannte Almoſen zuſteckte, gab
noch weitere Einzelheiten. Diefer Mentner fei ein ganz abfon-.
derliher Menfch, gebe nur des Abends aus, fprede mit nie-
mand, außer einigen DBettlern, und laffe feinen an ſich beran-
fommen. Er trage einen fehauerlichen alten, gelben Mod, der
einige Millionen wert fei, denn der Alte habe ihn ganz und
gar mit Iaufendfranfennoten ausgeftopff.
Diefer Bericht reiste Sjaverts Neugierde. Um diefen Rentner
aus nächfter Nähe zu feben, ohne ihn Eopffcheu zu machen, ent-
lieh er eines Tages diefem Kirchendiener feine Kleider und
hodte fih an dem Platz, den fonft der alte Spitzel einnahm,
Gebete vor fih hinnäſelnd und fpionierend, nieder.
Das verdähtige Individuum näherte fich wirflich dem alfo
verÉleideten Javert und bot ihm ein Almoſen. Javert bob den
Kopf und war, als er Sean Daljean zu erfennen glaubte, nicht
weniger außer fi als jener felbft.
immerhin war es möglich, daß die Dunkelheit ibn getäufcht
hatte. Schließlih war jean Valjeans Tod offiziell gemeldet.
Savert zweifelte ernfthaft. Als gewiffenhafter Mann wollte er
niemand am Kragen paden, bevor er feiner Sahe nit
fiher war.
Er ging dem Manne alfo bis zum Gorbeaufhen Haus nad
und verfuchte ‚die Alte”, die Bermicterin, zum Sprecden zu
bringen. Das war nicht fehwer. Die Alte beftätigte die Sache
mit den verborgenen Millionen und erzählte ihm die Gefchichte
von dem Taufendfranfenfchein. Sie hatte ibn gefehen, ja, fie
hatte ibn mit ihren eigenen Händen berührt! Javert mietete
ein Zimmer in dem Haus. Am felben Abend hielt er feinen
293
Einzug. Er laufhte an der Tür des geheimnisvollen Mieters,
weil er hoffte, ibn am Klang feiner Stimme wiederzuerfennen,
aber Sean Valjean Hatte den Kerzenihimmer durch das
Schlüffelloh bemerft und bewahrte Stillfehweigen. Am nächſten
Tage mate fi Jean Valjean davon. Aber der Lärm des
Sünffranfenftides, das zu Boden gefollen war, hatte die Alte
aufmerffam gemacht, die fofort auf den Gedanken Fam, ihr
Mieter wolle ausrüden, und Javert fchleunigft davon in
Kenntnis feste. Als Jean Valjean abends fortging, erwartete
ihn Javert bereits mit zwei anderen Leuten hinter den Bäumen
des Doulevards.
Er hatte auf der Präfektur angegeben, daß er eine Verhaf—
fung vornehmen wollte, hatte aber den Namen des Indi—
viduums nicht genannt, bas er zu greifen hoffte. Den hielt er
geheim, und dazu bewogen ihn drei Gründe. Erftens Fonnte die
geringfte Ynbisfretion Sean Daljeon alarmieren; zweitens be-
deutete einen alten entfprungenen Sträfling, der früher zu
den gefährlichften Verbrechern gezählt worden war und jest für
tot galt, wieder einzubringen einen glänzenden Erfolg, den die
Parifer Poliziften gewiß einem Neuling aus der Provinz, wie
Vavert, nit gönnen würden; er mußte alfo befürdten, daß
man ibm den Galecrenfträfling wegſchnappen würde; drittens
und letztens war Javert ein Künftler. Er Tiebte das Unvorber-
gefebene und bafte die Erfolge, deren Reiz durch vorherige
Ankündigung berabgemindert ift. Gern arbeitete er feine
Meifterwerfe im Dunflen aus und enthüllte fie dann mit einer
einzigen Gebärde.
So war Javert Sean Valjean von Baum zu Baum, von
Straßenefe zu Straßenedfe gefolgt und Hatte ihn Éeinen
Augenbli Yang aus der Sicht verloren; aud als Jean Daljean
fi in Sicherheit wiegte, hatte Javerts Auge auf ihm gerubt.
Warum verhaftete Vavert Daljean nicht?
Meil er noch immer zweifelte.
Man muß in Betracht ziehen, daß die Polizei in jener Zeit
feinen guten Stand hatte; die liberale Preſſe fab ihr fharf
294
auf die Singer. Einige willkürlihe Verhaftungen, von denen in
den Zeitungen ein großes Aufheben gemacht worden war, waren
fogar in der Kammer erörtert worden, und die Präfektur war
verfhüchtert. Ein Attentat auf die perfönlihe Freiheit war
fein Scherz. Die Agenten fürhteten febr, fih zu vergreifen,
denn im Ernftfalle hielt der Drüfeft fih an fie. Ein Irrtum
fonnte die Dienftentlaffung bedeuten. Man ftelle fih nur die
Mirfung einer Furzen Nachricht, die durch zwanzig Blätter
läuft und folgendermaßen lautet, vor:
„eltern wurde ein bejabrter Mann, Großvater, ein ehren-
werter Rentner mit weißen Haaren, der fein achtjähriges
Enkelkind fpazierenführte, verhaftet und als entiprungener
Galecrenfträfling in der Polizeidirektion eingeliefert.”
Wenn wir alfo wiederholen, daß Javert feiner Sache nod
nicht ganz ficher war, fo wird begreiflich, daß die Stimme des
Gerviffens, verbunden mit der des warnenden Präfekten, ihre
Wirkung tun mußte.
Sean Daljean zeigte ibm den Rücken und marfchierte durch
die Sinfternis. Seine traurige Gemütsverfaffung, feine Unruhe,
die Angft, der Umſtand, daß er obdachlos durch die Nacht
wanfen mußte, und gar noch die Notwendigkeit, feine Gangart
dem des Kindes anzupaflen, alles das verurfachte, ohne. fein
Miffen, eine derartige Veränderung in Sean Valjeans ganzer
Haltung und verlieh ihm etwas fo Greifenbaftes, daß felbft die
Polizei, felbft ein Javert unfiher werden konnte und wurde.
Dazu Fam, daß man nicht allzu nahe an die Verfolgten beran-
gehen durfte, fchließlich die Erklärung des Ihenardier, der ihn
den wirklichen Großvater der Kleinen genannt hatte und die
amtliche DBeftätigung des Iodes im Bagno.
Einmal verfiel er darauf, einfad an Daljean heranzufreten
und fi feine Papiere zeigen zu laflen. Wenn jener Mann aber
nicht Sean Valjean war, zugleich aber aud nicht der brave alte
Rentner, fondern irgendein anderer Gauner, der womöglich mit
irgendweldhen Parifer Verbrecherbanden in dunfler Verbindung
ftand, vielleicht fogar das Haupt einer gefährlichen Bande — ?
295
vielleicht hatte er Bertraute, Komplicen, nicht nur einen Unter-
fhlupf, der ihm offen ftand?
Die Umwege, die der Unbekannte machte, fhienen allerdings
darauf hinzudeuten, daß man es hier nicht mit der Arglofigfeit
in Perfon zu tun babe. Aber fein Opfer vorzeitig feftnehmen,
hieß bas nicht den Braten vom Feuer nehmen, bevor er gar
war? Was Fonnte denn paffieren, wenn man wartete? Yavert
war feiner fiber genug, um ein neuerlihes Entfehlüpfen nicht
zu befürdten.
Er ging alfo hinter ihm ber, und taufend Fragen beftürmten
fein Gehirn. Als aber der Verfolgte in der Rue de Pontoife
an einer hellerleuchteten Schenfe vorüberfam, fab Yavert ibm
ins Gefiht und erfannte Sean Valjean endgültig. Es gibt auf
diefer Welt zwei Gefchöpfe, die fo zittern Fönnen: die Mutter,
die ihr Kind wiederfindet, und den Tiger, der feine Beute fieht.
Auch avert erfchauerte.
Sobald er endgültig wußte, daß er es mit dem furchtbaren
Galeerenfträfling zu tun hatte, bedadte er auch, daß er nur
zwei Leute bei fi hatte, und forderte darum in dem Kommif-
fariat in der Rue de Pontoife Verftärfung an. Wer einen
Dornenftof ergreifen will, muß ſich mit guten Handſchuhen
verfeben.
Diefer Aufenthalt und die Veratung am Kreuzweg Rollin
hätten Javert bald feine Spur verlieren laffen. Mafd aber er-
riet er, daß es Valjeans erftes Beftreben fein mußte, den Fluß
zwifchen fit und feine Verfolger zu bringen. Sein fiherer In—
ftinkt führte ibn geradeswegs zur Aufterliger Bride. Eine ein-
fache Anfrage an den Mautwächter klärte ihn vollftändig auf.
So erreihte der Polizift die Brücke rechtzeitig, um Sean
Valjean mit Cofette den hellerleuchteten Platz am anderen Ufer
überqueren zu feben. Er bemerfte, daß die beiden in die Rue
bu Cbemin-Vert-Saint-Antoine einbogen. Da fiel ibm ein,
daß die Sadgaffe Genrot am anderen Ende diefer Straße nur
den Ausgang zur Nue Droit-Mur offen läßt. Er verfiberte
fi) alfo diefer Ausbruchsſtelle und fandte eiligft auf einem Um-
296
wege einen der Agenten dorthin. Eine Patrouille, die zum Ar-
jenal zurücmarfchierte, Fam ihm in den Weg, er verlangte ihre
Unterftüßung. Ber folhen Unternehmungen find Soldaten die
beften Zrümpfe, die man ausfpielen Fann. Auch ift es ein altes
Prinzip, daß man auf der Jagd nach dem wilden Eber die Ge-
ſchicklichkeit des Jägers mit der Kraft der Spürhunde verbindet.
As Javert die Situation foweit geflärt hatte und wußte,
daß fein Opfer rechts in eine Sackgaſſe geraten, linfs auf den
ausgeftellten Poften ftoßen mußte, bemwilligte er fi eine Prife
Zabaf.
Und jest begann er zu fpielen. Das war für ibn ein höllifcher
und doch Eöftliher Augenblick. Er ließ fein Opfer vor ſich ber-
laufen, wußte, daß er e8 in Händen hielt, wollte aber den
Augenblick der Verhaftung fo weit als möglich hinausfchieben.
Er brauchte ja nur zuzupaden. An einen Widerftand des Ver—
folgten war in Anbetraht der Patrouille nicht zu denken, jo
energifch, ftarf und vom Mut der Verzweiflung beflügelt jean
Valjean aud fein mochte.
Als aber Javert, der unterwegs alle Winfel der Gaffe wie
die Taſchen eines Diebes durchſucht hatte, in die Mitte des
ausgemorfenen Netzes Fam, fand er die Fliege nicht. Man ftelle
fih feine Wut vor!
Er fragte feinen Poften in der Rue Droit-Mur, aber der
war, ohne fi zu rühren, an feinem Plate geblieben und hatte
niemand vorbeifommen gefehen.
Nun, gewiß bat Napoleon in Rußland, Merander in In—
dien, Caefar in Afrika, Cyrus in Senythenlande Fehler be-
gangen. Auch Javert durfte es tun. Wer ift vollfommen auf
diefer Welt?
Attila bat zwifchen Orient und Okzident gefchwanft, Hanni-
bal in Capua die Entfheidungsftunde verfäumt, Danton ift in
Arsis-fur-Aube eingefchlafen.
Mie dem auch fei, in dem Augenblick, als Javert begriff,
daB Sean Valjean ihm entfchlüpft fei, verlor er nicht den Kopf.
Er wußte nur zu gut, daß der alte Sträfling nicht weit fein
297
fonnte, ftellte daher Poften auf und organifierte die Über.
wachung des Quartiers. Das erfte, was ihm auffiel, war bas
abgefhnittene Laternenfeil. Das war ein wertvoller Fingerzeig,
der ihn allerdings irreführte, weil er feine Aufmerkſamkeit auf
bas Sackgäßchen Genrot ablenfte. Es gibt in diefer Sackgaſſe
ziemlich niedrige Mauern, hinter denen Gärten liegen. Sean
Valjean mochte fih dahin gewandt haben.
Gewiß hätte Valjean, wäre er aud nur einen Augenblid
früher in der Sadgaffe gewefen, einen folhen Verſuch unter-
nommen und wäre verloren gewefen. Javert durchſuchte die
Gärten fo gründlich, daß er eine vermißte Stecknadel gefunden
hätte.
Bei Zagesanbrud ließ er zwei tüchtige Leute als Beobachter _
zurück und begab fib, zutiefft befhamt, von einem Verbrecher
irregeführt worden zu fein, zur Präfektur.
Fünftes Buch
Die Friedhöfe nehmen, was man ihnen gibt
1 Wie maninein Klofter fommt
Sean Daljean begriff, daß er und Coſette verloren waren,
wenn fie nad Paris zurückkehrten. Da ein glüfliher Wind ihn
hierher verfchlagen hatte, in biefem Klofter verborgen, durfte
er nicht daran benfen, e8 wieder zu verlaffen. Für einen Un-
glüdlihen in feiner Lage war biefes Klofter zugleich der ge-
298
fährlichfte und doch auch der ficherfte Aufenthalt; der gefähr-
lichfte, denn Fein Mann durfte hier eindringen, bei Gefahr,
entdeckt und der Polizei ausgeliefert zu werden; der ficherfte,
denn bier würde man ibn gewiß nicht vermuten. Und wer follte
aud Eintritt erhalten, um ihn bier zu fuchen? Sid an einem
unmöglichen Ort aufhalten, bedeutete das Heil.
Auch Fauchelevent Eonnte in diefer Naht feinen Schlaf
finden. Viele Gedanken befhäftigten ibn. Das einzige, was er
verftand, war, daß er nichts begriff. Wie Eonnte Herr Made—
leine über diefe Mauern gekommen fein? Man überfteigt ſolche
Mauern nicht. Und ganz gewiß nicht mit einem Kind in den
Armen! Und was war das für ein Kind? Woher Famen die
beiden?
Seit Fauchelevent im Klofter war, hatte er aus Montreuil
fur Mer Feine Nachrichten mehr erhalten. Dater Madeleine
machte ein Geſicht, dag einen Frager nicht gerade ermunterte,
und überdies dachte fib Fauchelevent: Man foll die Heiligen
nicht ausfragen. Aus einigen Worten, die jean Valjean ent-
fhlüpft waren, glaubte der Gärtner entnehmen zu dürfen, Herr
Madeleine fei vielleicht infolge der allgemeinen wirtfchaftlichen
Schwierigfeiten zufommengebrodhen und befinde fid auf der
Flucht vor feinen Gläubigern. Oder er babe fid in einer poli-
tien Sade Fompromittiert und wünfche fih darum zu ver-
bergen. Und bas gefiel Fauchelevent recht gut, ba er, wie die
meiften Bauern in Mordfranfreich, im Grunde feines Herzens
Bonapartift war.
Aber wie follte er ihn hier im Klofter erhalten? Das war
die Frage. Fauchelevent ſchreckte vor diefen fier wahnfinnigen
Unterfangen nicht zurück; diefer arme pifardifhe Bauer, den
nur feine Ergebenheit, fein guter Wille und eine gewifie
Bauernſchlauheit unterftüßte, machte fid daran, die Schwierig-
feiten zu überwinden, die ihm die ftrenge Megel des heiligen
Benediktus in den Weg legte.
Bei Tagesanbruch tat Vater Fauchelevent, der alles reiflich
erwogen hatte, die Augen auf und fab Madeleine, der auf
299
feinem Strohſack ſaß und die fchlafende Cofette betrachtete.
Auch Fauchelevent feßte fid auf und fagte:
„Da Sie nun einmal bier find, wie macht man es, daß Sie
auch hereinkommen?“
Diefer Ausdruck Éenngeihnete die ganze Situation und
wecte Jean Valjean aus feiner Träumerei. Die beiden Män-
ner begannen zu beraten.
„Zunächſt“, erklärte Saucelevent, „dürfen Sie feinen Fuß
aus diefem Zimmer feßen, weder Sie noch die Kleine. Ein
Schritt in den Garten, und alles ift aufgeflogen.”
„Sehr richtig.‘
„Sie find allerdings in einen fehr guten, will fagen, in einen
fehr ſchlechten Augenblick bierbergefommen, Vater Madeleine,
denn eine der Damen ift gerade fhmwer Franf. Folglich wird
nicht fo leicht jemand fi um uns Fümmern. Allem Anfchein
nad ftirbt fie gerade. Das vierzigftündige Gebet ift bereits an-
gefagt. Die ganze Gemeinde ift in Aufregung. Alfo find die
Tonnen befhäftigt. Die Frau, um die es fib handelt, ift eine
Heilige. Wir find alle Heilige bier. Der einzige Unterfchied ift,
daß die Nonnen fagen: ‚meine Zelle‘, während ich fage: ‚meine
Bude‘. est wird alfo dag Gebet für die Sterbende gefpro-
hen, und dann fommt das Totengebet und die Totenwache. Für
heute haben wir Ruhe, aber für morgen Fann ich nicht bürgen.“
‚Allerdings ift diefe Parade in einem Mauerwinfel ein-
gebaut,” bemerkte Sean Daljean, ‚und hinter diefer Nuine und
den Bäumen fo gut verborgen, daB man fie vom Klofter aus
gar nicht ſieht.“
„Wozu ich noch bemerken möchte, daß die Tonnen niemals
hierherkommen.“
„Alſo?“
Dieſes Fragezeichen ſchien zu bedeuten: demnach kann man
ja hier ſehr gut verborgen bleiben. Und darauf antwortete
Fauchelevent:
„Aber da ſind die Kleinen zu bedenken.“
„Welche Kleinen?“
300
As Fauchelevent den Mund auftat, um zu antworten, ließ
fi ein Glockenſchlag vernehmen.
„Die Nonne ift tot. Das ift das Zeichen.”
Mod einmal fchlug die Glode an.
„Ja, das ift dag Zeichen, Herr Madeleine. Und fo wird die
Gode jede Minute anfchlagen, vierundzwanzig Stunden lang,
bis die Teiche aus der Kirche binausgetragen wird. Ja fehen
Sie, fo fteht’s: bei der Mefreation, wenn die Kleinen Er-
bolungsftunde haben, verfteben Sie, braudt nur ein Ball bier-
herzurollen, dann kommen die Kleinen alle troß des ftrengen
Verbots und treiben hier ihre Späße. Es find die reinften
Zeufel, diefe Engelchen.“
„Wovon fprehen Sie denn?’
„un, von den Kleinen. Die werden Sie gleich entdeden.
Dann gibt es ein großes Gefhrei: Hallo, ein Mann! Heute
allerdings befteht diefe Gefahr nicht. Heute wird nur gebetet.//
„Ich begreife, Vater Fauchelevent. Sie fprechen von Pen-
fionärinnen.‘ Und Jean Valjean dachte: Das wäre ja eine
Sade für Cofette!
„Natürlich, rief Fauchelevent, „Penſionärinnen! Und die
würden hübfh um Sie herumfpringen. Hier ein Mann zu fein
ift Schlimmer als die Peft befommen. Sie feben do, daß man
mir biefes Glöckchen umgebunden bat, als ob ih ein Dich
wäre.”
Sean Daljean wurde immer nachdenflicher. Diefes Klofter,
dachte er, wäre ein gutes Aſyl.
„Ja, 88 ift nur ſchwer, hierzubleiben‘’, fagte er laut.
‚Dein, die größte Schwierigkeit ift die, hinauszukommen.“
Sean Valjean fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen drang.
„Hinaus?“
„Ja, Herr Madeleine, denn um wieder hereinzukommen,
müſſen Sie doch erſt mal draußen ſein. Hier dürfen Sie ſich
nicht finden laſſen. Für mich find Sie vom Himmel gefallen,
weil id Sie Fenne, aber diefe Nonnen ziehen es vor, wenn
man durch die Tire hereinkommt.“
301
Plötzlich wurde ein längeres Glocdenläuten hörbar.
„Ach,“ fagte Saudelevent, ‚die Mütter werden ins Kapitel
gerufen. Das Kapitel wird immer zufammenbeftellt, wenn eine
geftorben ift. Sie ift bei Tagesanbruch geftorben. Man ftirbt
meift um diefe Zeit. Können Sie nicht eben dort hinausgehen,
wo Sie hereingefommen find? Ich frage ja nicht, um Sie aus-
zuborchen, aber wie find Sie nur hier bereingefommen ?/
Sean Baljean wurde blaß. Der bloße Gedanfe, fich wieder
in diefe Straße hinauszumwagen, ließ ibn erfhauern. Wenn man
aus einem Wald, in dem es von Tigern wimmelt, entfloben ift,
nimmt man nicht gern den Dat eines Freundes an, der uns
wieder hineinfchiefen will. Sean Valjean ftellte fit vor, daß
die Polizei nod das ganze Quartier unter Auffiht halte und
überall Poften aufgeftellt babe; von allen Seiten griffen
Fäuſte nad feinem Kragen, und Javert Iauerte wohl in der
Sackgaſſe.
„Das iſt ganz unmöglich“, ſagte er. „Vater Fauchelevent,
ſtellen Sie ſich vor, daß ich vom Himmel gefallen bin.“
„Natürlich glaube ich das. Sie brauchen mir ſo etwas gar
nicht erſt zu ſagen. Der liebe Gott hat Sie in die Hand ge—
nommen, um Sie einmal aus der Nähe zu beſehen, und dann
hat er Sie wieder fallen laſſen. Nur wollte er Sie in ein
Männerkloſter bringen und hat ſich geirrt. Hören Sie, ſchon
wieder ein Glockenzeichen! Das gilt dem Pförtner. Er ſoll die
Behörden verſtändigen, daß der Totenbeſchauer benachrichtigt
wird. Das iſt ſo das Zeremoniell des Sterbens. Die guten
Frauen können dieſe ärztliche Viſite nicht leiden. So ein Arzt
iſt gemeinhin ein Ungläubiger, will von allem den Schleier
wegziehen. Manchmal kümmert er ſich um Dinge, die ihn gar
nichts angehen. Wie eilig ſie es diesmal haben, nach dem Arzt
zu ſchicken. Was das nur bedeutet? Ihre Kleine ſchläft noch
immer. Wie heißt ſie denn?“
„Coſette.“
„Iſt ſie Ihre Enkelin? Sind Sie der Großvater?“
„Ja.“
302
„Die können wir leicht binausfriegen. ch babe eine Tür,
die in den Hof geht. Wenn id da Élopfe, öffnet mir der Pfört-
ner. Sch babe meine Butte am Puel, da ftedfe ich die Kleine
vorher hinein, fo trage ich fie hinaus. Papa Fauchelevent geht
mit feiner Butte aus. Das ift nichts Befonderes. Wir fagen
bloß der Kleinen, fie folle fi ruhig verhalten. Sie kann unter
der Plane ganz gut verftedft bleiben. So bringe td fie für die
Zwifchenzeit zu einer guten alten Freundin, einer Gemiife-
händlerin in der Rue du Chemin-Vert, die taub ift und ein
Feines Bett bat. Der ſchrei' ich ins Ohr, daß dies eine Michte
von mir ift, und fie fol fie mir bis morgen gut aufheben. Dann
fann die Kleine mit Ihnen zufammen wieder bereinfommen.
Herein bring’ ih Sie fchon wieder. Das muß ich wohl. Aber
Sie, wie bringe ih Sie nur hinaus?’
Sean Valjean fchüttelte den Kopf.
„Mich darf niemand feben. So fteht die Sade, Vater
Sauchelevent. Suchen Sie mich auch wie Eofette in der Butte
und unter der Plane hinauszuſchmuggeln.“
Sauchelevent Fraste fi) mit dem Mittelfinger hinterm Ohr,
was bei ihm höchſte Derlegenheit bedeutete.
Mieder gab die Glocke ein Zeichen.
„Der Totenbefhauer geht wieder. Er bat gejagt: fie ift tot,
ausgezeichnet. Wenn der Arzt den Daf nah dem Paradies
vidiert bat, fenden die Teichenbeftattungsanftalten eine Bahre.
Wenn die Tote eine Mutter war, wird fie von den anderen
Müttern in den Sarg gelegt, war fie eine Schwefter, von den
Schweftern. Dann komme id und nagle den Sarg zu. Das
gehört auch zu meinen Gärtnerpflichten. Ein Gärtner ift immer
aud ein wenig Zotengräber. Dann Fommt die Teiche in den
niedrigen Saal in der Rire, der eine Verbindungstür zur
Straße bat. Nur der Iotenarzt darf da bereinfommen. Mich
und den Leichenträger rechnen fie namlich nicht zu den Män-
nern. In diefem Saal vernagle ich den Sarg. Dann holen ibn
die Zotengräber ab und hü, Kutfcher! fchon geht die Fahrt in
den Himmel. Kurz, man bringt eine Schachtel hierher, in der
303
nichts ift, und trägt eine volle wieder hinaus. Das ift bas
Leihenbegängnis. De profundis!“
Ein Sonnenftrahl glitt über Cofettes fchlafendes Antlis.
Sie hielt den Mund halb offen und glich einem Engel, der
Licht bringt. Sean Valjean hatte fid wieder ihr zugewandt und
hörte nicht mehr auf Sauchelevent.
Aber daß einem niemand zuhört, muß Fein Grund fein zu
fchweigen. Der wackere Gärtner feste gemädlich feine Aus—
führungen fort.
„Degraben wird fie auf dem Friedhof Vaugirard. Angeblich
fol er aufgelaffen werden, diefer Friedhof. Er ift fbon febr alt
und widerfpricht ben jehigen Meglements. Er bat Feine Uniform
mehr und fol penfioniert werden. Schade, er war fo bequem.
Ich babe dort einen Freund, den Iotengräber, Papa Meftienne.
Die Nonnen von bier haben das Privileg, bei Einbrud der
Naht auf den Friedhof binausgebradt zu werden. Es gibt
eine Sonderverordnung der Präfektur für fie. Was alles feit
geftern abend paffiert ift! Mutter Crucifirion ift tot und Vater
Madeleine..."
„Begraben“, fagte Sean Daljean traurig lächelnd.
„Weiß Gott, wenn Sie wirflid ganz hier wären, könnte
bas einem Grab ziemlich ähnlich werden”, meinte Fauchelevent.
Zum viertenmal lautete die Glode. Fauchelevent nahm feinen
Glodenriemen von der Wand und band ihn um fein Knie.
„Diesmal gilt es mir. Die Mutter Priorin verlangt nad mir.
Herr Madeleine, warten Sie hier und rühren Sie ſich folange
nicht. Wenn Sie Hunger haben, dort ift Wein, Brot und Käſe.“
Einige Minuten fpäter Flopfte Fauchelevent, deſſen Glödlein
die Nonnen ringsum aus dem Wege gefheucht Hatte, an eine
Eleine Tür, und eine fanfte Stimme antwortete:
„Herein!“
Es war die Tür des Sprechzimmers, das für die dienſtlichen
Meldungen des Gärtners beſtimmt war. Es grenzte an den
Kapitelſaal. Die Priorin ſaß auf dem einzigen Stuhl des
Raumes und erwartete Fauchelevent.
304
2. Saubelevent der Shwierigfeitgegenüber
In Eritifhen Fällen fofort den nötigen Ernft und die an-
gemeffene innere Bewegtheit zur Schau zu ftellen, ift ein Vor—
recht gewifler Charaktere und Berufe, insbefonders aber der
Priefter und der Nonnen. Als Fauchelevent eintrat, war beides,
Ernft und Bewegtheit, auf dem Gefiht der Priorin, der liebens-
würdigen und gelehrten Mabemoifelle de DBlemeur, genannt
Mutter Innocentia, die fonft fo heiter war, zu erfennen.
Der Gärtner grüßte fie fheu und blieb auf der Schwelle
ftehen. Die Priorin Tieß den Roſenkranz durch ihre Finger
gleiten, blickte auf und fagte:
„Ad, Sie find es, Vater Fauvent!“
Diefe Abfürzung war im Klofter üblich.
Fauchelevent grüßte zum zweitenmal.
„Ich babe Sie rufen laffen, Vater Fauvent.”
„Hier bin ich, ehrwürdige Mutter.’
„Ich babe mit Ihnen zu fprechen.”
„Und auch ich möchte der ehrwürdigen Mutter etwas ſagen“,
erwiderte Fauchelevent mit einer Kühnbeit, die ihn felbft in
Erftaunen feßte.
Die Priorin fab ibn an.
„Ad, haben Sie mir eine Mitteilung zu machen?‘
„Eine Bitte.’
„Gut, ſprechen Sie.’
Der madere Fauchelevent gehörte zu jener Sorte von
Bauern, die gern den Stier bei den Hörnern fafflen. Unwiffen-
heit, mit Gefchieflichkeit gepaart, ift zumeilen eine Mabt. Man
achtet ihrer nicht, und fchon bat fie uns untergefriegt. Seit
mehr als zwei Jahren wohnte er im Klofter und erfreute fid
allgemeiner Beliebtheit. Da er faft immer einfam und in feinem
Garten wenig befhäftigt war, hatte er nichts anderes zu fun
als feine Neugierde zu ftillen. Zwar fab er in dem Abftanp,
der ihm auferlegt war, die verfchleierten Frauen, die vor ihm
famen und gingen, nur wie wandelnde Schatten. Danf der
20 Hugo, Die Elenden. 305
Aufmerffamfeit, die er ihnen widmete, waren biefe Gefpenfter
für ihn bald Fleifh und Blut geworden, und die er für tot ge-
halten, fhienen ibm jeßt lebendig. Es war wie bei den Tauben,
deren Gefihtsfinn fhürfer wird, oder wie bei den ‘Blinden, die
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beffer hören. Bald hatte er die Bedeutung der verfehiedenen
Glockenzeichen begriffen, und jeßt bot ibm bas rätfelbafte ver-
Ihwiegene Klofter Feine Gebeimniffe mehr. Die Sphinr plau-
dere ihm ihre Nätfel aus. Fauchelevent wußte alles, ſchwieg
über alles. Das war fein Trick. Man hielt ibn im Klofter für
306
blöde. Blöde fein, das ift im Klofter ein großes Verbienft. Die
Mütter hielten große Stüde auf ibn. Er war ein fonderbarer
Kauz von einem Stummen. Flößte Vertrauen ein. Überdies
war er verläßlich und ging nur aus dem Klofter, wenn glaub-
bafte Notwendigfeiten und Amtspflihten als Gemüfe- und
Dbftgärtner ihn dazu zwangen. Diefe Zurüdhaltung wurde ihm
bo angerechnet. Michtsdeftoweniger hatte er zwei Männer zum
Sprechen gebradt, im Klofter den Pförtner, der mancdherler
aus dem Sprechzimmer verraten Fonnte, auf dem Friedhof den
ZIotengräber, der Einzelheiten über die Begräbnisftätte wußte;
fo wußte er doppelt über feine Nonnen Befcheid, über ihr
Leben und über ihren Iod. Doch mißbrauchte er diefe Kennt-
niffe nicht. Die Kongregation hing an ibm. Alt, lahm, Furz-
fihtig, ein wenig taub — mehr DBorzüge Fonnte ein einziger
Mann wirflih nicht aufmweifen!
Mit dem Selbftbewußtfein eines Mannes, deflen Wert an-
erfannt wird, begann er jeßt eine ebenfo Fonfufe wie tiefgrün-
dige Mede vom Stapel zu laffen. Er verbreitete fih zunächſt
über fein Alter, allerlei Gebrechen, daß zum Deifpiel die letzten
Jahre geradezu doppelt zählen, dann über die Beſchwerden der
Arbeit, die Größe des Gartens, die Nachtarbeit (wie unlängit,
da er wegen des Mondlihts die Melonen hatte einwideln
müffen), und Fam endlich zu folgendem Ergebnis: er babe einen
Bruder (Unruhe der Priorin), beileibe Feinen jungen Bruder
(die Priorin gibt Zeichen der Beruhigung), und diefer Bruder
würde, wenn es erlaubt wäre, ganz gern zu ibm ziehen und
ihm bei der Arbeit behilflich fein. Diefer Bruder fei ein ber-
vorragender Gärtner, der der Kloftergemeinde große Dienfte
tun würde, beffere, als er, Sauchelevent, tun Eönne. Wenn man
aber diefen ‘Bruder nicht in Dienft nehmen wolle, müfle er,
wenn aud mit Bedauern, ausfcheiden, denn er fühle fich feiner
Aufgabe nicht mehr gewachfen. Überdies habe diefer Bruder
auch eine Éleine Enkelin, die er mitbringen möchte, um fie im
Klofter erziehen zu laflen. Wer könne wiffen, ob fie nicht der-
einft eine gute Monne würde.
20° 307
As er mit diefer Rede fertig war, lief die Priorin den
Roſenkranz ruhen und fagte:
„Können Sie fih für heute abend eine ftarfe Eifenftange
verfhaffen ?//
„Wozu?“
„Um ſie als Hebel zu benützen.“
„Doch, ehrwürdige Mutter“, antwortete Fauchelevent.
Ohne ein Wort hinzuzufügen, ſtand die Priorin auf und ging
in das Nachbarzimmer, den Kapitelſaal, wo die Mütter offen—
bar verſammelt waren. Fauchelevent blieb allein.
3. Mutter Innocentia
Eine Viertelſtunde verſtrich. Endlich kam die Priorin zurück
und nahm Platz.
Beide, die Priorin und Vater Fauchelevent, fhienen ernften
Gedanken nadhzuhängen. Wir wollen bas Geſpräch, das fich er-
gab, nach unferem beften Können wiedergeben, als ob wir mit-
ftenographiert hätten.
„Vater Fauvent?“
„Ehrwürdige Mutter?“
„Sie kennen die Kapelle?“
„Ich habe eine kleine vergitterte Bank darin, um dem
Gottesdienſt beizuwohnen.“
„Waren Sie ſchon einmal im Chor?“
„Zwei⸗ oder dreimal.”
„Es handelt fih darum, eine Steinplatte zu heben.‘
„Iſt fie Schwer?”
„Es ift die Steinfliefe neben dem Alter.”
„Der Stein, der das Grabgewölbe abſchließt?“
„Ja.“
„Wieder ſo eine Gelegenheit, wo zwei Männer beſſer am
Platz ſind als einer.“
„Mutter Aſcenſion iſt ſtark wie ein Mann. Sie wird Ihnen
helfen.“
308
„Eine Frau ift niemals ein Mann.”
„Wir können Ihnen aber nur eine Frau als Helferin zur
Verfügung ftellen. jeder tut, was er kann. Weil Mobillon vier-
bundertundfiebzehn Briefe des heiligen DBernardus und Mer-
lonus Horftius nur dreihundertfiebenundfechzig Briefe desfelben
mitzuteilen weiß, verachte ich den Merlonus Sorftius doch nicht.‘
„Ich auch nicht.”
„Das Berbienft befteht darin, nach beften Kräften zu wir-
fen. Ein Klofter ift Feine Zimmermannswerfftatt.’
„Und eine Frau ift Fein Mann. Mein Bruder, der ift ſtark!“
„Außerdem haben Sie ja einen Hebel.’
„Das ift der einzige Schlüffel, mit dem man ſolche Türen
aufkriegt.“
„Und in dem Stein iſt ein Ring.“
„Da ſtecke ich den Hebel hinein.“
„Und die vier erſten Sängerinnen unter den Müttern vom
Chor können Ihnen helfen.“
„Wenn wir aber das Gewölbe offen haben?“
„Dann muß man es wieder zumachen.“
„Das iſt alles?“
„Nein.“
„Ich bitte um Ihre Befehle, ehrwürdigſte Mutter.“
„Fauvent, Sie genießen unſer Vertrauen.“
„Ich bin hier, um alles zu tun.“
„Und um über alles zu ſchweigen.“
„Jawohl, ehrwürdige Mutter.“
„Wenn das Gewölbe geöffnet iſt ...“
„Dann mach' ich es wieder zu.“
„Aber vorber ...“
„Was, ehrwürdige Mutter?“
„Man muß etwas hinunterlaſſen.“
Schweigen trat ein. Die Priorin ſchob die Unterlippe vor,
als ob ſie zögere, dann nahm ſie das Geſpräch wieder auf.
„Vater Fauvent?“
„Ehrwürdige Mutter?“
309
„Sie wiflen, daß eine Mutter im Haufe geftorben ift, heute
morgen.‘
„Nein.“
„Haben Sie denn die Glocke nicht gehört?“
„Hinten im Garten hört man nichts.“
„Wahrhaftig nicht?“
„Kaum daß ich es höre, wenn Sie nach mir ſchellen.“
„Sie iſt bei Tagesanbruch geſtorben.“
„Uberdies weht der Wind um dieſe Zeit nach der anderen
Seite.“
„Es iſt Mutter Crucifixion, eine Selige.“
Die Priorin ſchwieg, bewegte die Lippen wie zu einem ſtillen
Gebet, dann fuhr ſie fort:
„Vor drei Jahren hat ſich eine Janſeniſtin, Madame de
Béthune, zum wahren Glauben bekehrt, nachdem ſie Mutter
Crucifixion beten geſehen hatte.’
„Ah, jetzt höre ich auch die Glocke, ehrwürdige Mutter!“
„Die Mütter haben ſie in die Totenkammer getragen, die
an die Kirche ſtößt.“
„Ich weiß.“
„Kein anderer Mann als Sie kann und darf dieſen Raum
betreten. Das wäre ja ſchön, wenn ein Mann in unſere Toten-
fammer käme!“ Die Priorin wechfelte das Thema. „Bei ihren
Lebzeiten fhon bat Mutter Crucifirion Befehrungen vollbrabt.
Mad ihrem Tode wird fie Wunder tun.”
„Unbedingt“, erwiderte Sauchelevent.
„Vater Fauvent, unfere Gemeinde ift in Mutter Erueifirion
gefegnet. Ohne Zweifel ift es nicht aller Welt gegeben, zu
fterben wie Kardinal Berulle, den der Tod antrat, während er
die Mefle las; er baucdbte feine Seele bei den Worten ‚Hanc
igitur oblationem‘ aus. Aber wenn Mutter Crucifirion aud)
eines folhen Glücks nicht teilhaftig wurde, fo hat fie doch einen
febr Schönen Tod gehabt. Sie blieb bis zum lebten Augenblic
bei vollem Bewußtſein. Sie ſprach mit uns und fpäter mit den
Engeln. Auch Eonnte fie uns ihren Iekten Willen aufgeben.
310
Wenn Sie etwas mehr Glauben hätten und ın der Zelle ge-
wefen wären, gewiß hätte fie mit einer einzigen Berührung ihr
Dein geheilt. Sie lächelte. Man fühlte, wie fie fib Gott
näherte. In diefem Tode war ein Vorgeſchmack vom Paradies.’
Fauchelevent glaubte, dies fei dag Ende eines Gebetes.
„Amen“, fagte er.
„Vater Fauvent, man muß den Willen der Ioten erfüllen.‘
Mieder nahm fie einige Kügelhen ihres Roſenkranzes durd.
Fauchelevent fchwieg.
„Ich babe heute nacht über diefe Trage mit mehreren Got-
tesgelahrten gefprochen,” fuhr fie fort, ‚die mit den Regeln
bes geiftlichen Lebens vertraut find. Überdies handelt es fi
hier nicht um eine gewöhnliche Iote, fondern um eine Heilige.”
„Wie Sie, ehrwürdige Mutter.’
„Sie fchlief feit zwanzig Jahren in ihrem Sarg. Sie hatte
eine befondere Erlaubnis unferes heiligen Vaters Pius VII.’
‚Desfelben, der den Rai . . ., den Bonaparte gefrönt hat.’
Für einen gefhidten Burfhen wie Fauchelevent war diefe
Erwähnung ein arger Bot. Glüdlihermeife war die Priorin
fo in ihren Gedanfen verfunfen, daß fie nichts bemerkte.
„Vater Fauvent?“
„Ehrwürdige Mutter?“
„Der heilige Diodorus, Erzbiſchof von Capadocien, befahl,
daß auf ſeinem Grabe das einzige Wort acarus ſtehen ſollte.
Das bedeutet: Wurm auf der Erde. Und es wurde ſo getan.
Iſt das etwa nicht wahr?“
„Unzweifelhaft, ehrwürdige Mutter.“
„Der ſelige Mezzocane, Abt von Aquila, wollte unter einem
Galgen begraben ſein. Auch ſeinem Willen wurde gefolgt.“
„Sehr richtig.“
„Der heilige Terentius, Biſchof des Hafens an der Tiber—
mündung, verlangte, auf ſeinem Grabſtein ſolle das Zeichen
ſtehen, mit dem man die Grabſteine der Vatermörder kenntlich
machte. Das tat er in der Hoffnung, die Vorübergehenden
311
würden auf fein Grab fpeien. Und fo geſchah es. Man muß
den Toten gehorchen.“
„Sp ift eg.’
„Der Leihnam des Sernarbus Guido, der in Frankreich ge-
boren war, bei Roche-Abbeille, wurde, wie er es verlangt hatte,
und obwohl der König von Kaftilien Einſpruch erhob, in die
Dominifanerfirde nad Limoges gebracht und das, obzwar Ber-
nardus Guido Bifhof von Tuy in Spanien war. Darf etwa
jemand das Gegenteil behaupten?’
„Gewiß nicht, ehrwürdige Mutter.”
„Plantavit de Ia Foſſe bezeugt diefen Tatbeſtand.“
Mieder glitten einige Derlen des Roſenkranzes durch ihre
Finger.
„Vater Sauvent, Mutter Erueifirion muß in demfelben
Sarge beftattet werden, in dem fie zwanzig Jahre lang ge-
fhlafen hat.”
„Das iſt nur recht und billig.’
„Es ift die Fortfeßung ihres Schlafes.“
„Demnach fol ich alfo diefen Sarg zunageln.”
„Ja.“
„Und den von der Beſtattungsanſtalt laſſen wir beiſeite?“
„So iſt es.“
„Ich ſtehe der ehrwürdigen Gemeinde zur Verfügung.“
„Die vier Mütter Sängerinnen werden Ihnen helfen.“
„Um einen Sarg zu vernageln? Dazu brauche ich ſie nicht.“
„Nein, aber um ihn hinabzulaſſen.“
„Wo hinab?“
„In das Gewölbe.“
Fauchelevent fuhr auf.
„In das Gewölbe unter dem Altar?“
„Unter dem Altar.“
PAIE, ARR
„Sie haben eine Eifenftange.‘
a. aber...
312
„Sie heben den Stein, indem Sie die Stange in den Ming
ſchieben.“
He. 1.1
„Den Toten muß Gehorfam werden. Es ift der letzte Wunſch
der Mutter Crucifirion, in dem Gewölbe unter dem Altar be-
ftottet zu werden, und nicht in profaner Erde zu ruhen. Sie
bat ung darum gebeten. Das bedeutet: fie bat e8 ung befohlen.”
„Das ift aber doch verboten.‘
nBerboten von den Menfchen, befohlen von Gott.’
„Wenn das aber herausfommt?‘
„Wir vertrauen Ihnen.“
„Oh, ich bin ein Stein in Ihrer Mauer.“
„Das Kapitel iſt verſammelt. Ich babe die Mütter befragt,
und ſie haben entſchieden, daß Mutter Crucifixion ihrem Ge—
lübde gemäß in ihrem Sarg und unter unſerem Altar be—
ftattet wird. Sagen Sie ſelbſt, Vater Fauvent... wenn bier
in diefem Haufe Wunder gefheben follten?! Welcher Ruhm
für die Gemeinde! Wunder fteigen aus den Gräbern auf.”
‚Aber, ehrwürdige Mutter, wenn der Agent der Sanitäts-
fommiffion . . .//
‚Der beilige Denedistus II. bat in der DBegräbnisfrage
dem Conftantinus Pogonatus Widerftand geleiftet.‘
„Doch der Polizeifommiflär . . .”
„Shonodemariug, einer der fieben deutfchen Könige, die unter
der Regierung des Conftantius in Gallien einfielen, hat aus-
drücklih das Recht der Klofterinfoflen anerkannt, in ihren Klö—
ftern begraben zu werden: alfo unter dem Hochaltar.‘
„Aber der Inſpektor von der Präfektur...”
„Die Welt vermag nichts wider das Kreuz. Martinug, der
elfte General der Kortäufer, gab feinem Orden diefen Wahl-
fprud: Stat crux dom volvitur orbis.“
„Amen“, fagte Sauchelevent. Er war nicht davon abzubrin-
gen, fih fo aus der Affäre zu ziehen, wenn in feiner Mähe
Latein gefprochen wurde.
Seder Zuhörer genügt einem Spreder, der lange fehmweigen
313
mußte. Der Rhetor Gymnastoras blieb, als er aus dem Ge-
fängnis entlaffen wurde, vor dem erftbeften Baum fteben und
gab fi) die größte Mühe, ibm alle die Probleme und Syllo—
gismen zu erklären, die er inzwifchen hatte bei fi) behalten
müffen. Auch die Priorin unterftand bem Schweigegebot. Ihre
Schleuſen waren unter höchſtem Drud, und fo ergoß fie denn
wie einen Strom folgende Rede über den alten Vater Fauche—
levent.
„Zu meiner Nechten habe ih Benedictus, zu meiner Linfen
Bernardus. Wer ift diefer DBernardus? Der erfte Abt von
Clairvaur. Fontaines in Burgund ift der gefegnete Ort, an
dem er zur Welt fam. Sein Vater hieß Tecelin, feine Mutter
Ulethe. Er begann mit Citeaur und vollendete fein Werf mit
Clairvaur. Von dem Bifhof von Chälons-fur-Saöne, Guil-
laume de Cbamypeaur, wurde er zum Abt geweiht. Er hatte
fiebenhundert Movizen und gründete hundertfehzig Klöfter. Er
war es, der 1140 auf dem Konzile zu Sens Abeilard, Pierre
de Bruys und feinen Schüler Henry niederfämpfte, fpäter auch
noch eine andere Art von Abtrünnigen, die fib Apoftolifer
nannten. Er wiberlegte den Arnaldo von Brescia, fprad den
Bann aus wider den Mönch Raoul, den Judenſchlächter, be-
herrfchte 1148 bas Konzil zu Reims, ließ den Gilbert de la
Porée, Bifhof von Poitiers, verurteilen, item den Eon de
l'Etoile, ſchlichtete Streitigkeiten zwifchen den Fürften, war der
Matgeber König Ludwigs des ungen und des Paypftes
Eugen III. ordnete die Angelegenheiten des Templerordens,
predigte den Kreuzzug und fat nicht weniger als zweihundert-
fünfzig Wunder in feinem Leben; einmal bradte er es an
einem Tage bis auf neununddreißig. Und wer ift Benedictug?
Der Patriarh von Monte Caffino; er ift der zweite Begründer
des Klofterwefens, der Dafilius des Weftens. Sein Orden bat
vierzig Päpſte, zweibundert Kardinäle, fünfzig Patriarchen,
taufendfehshundert Erzbifchöfe, viertaufendfehshundert Bi—
fhôfe, vier Kaifer, zwölf Kaiferinnen, fehsundvierzig Könige,
einundvierzig Königinnen, dreitaufendfehshundert Éanonifierte
314
Heilige hervorgebracht und befteht über vierzehnhundert Sabre.
Die Sanct Bernardus, bie Sanitätsfommiffion! Hie Sanct
Benedictus, hie Inſpektorat der Wegepolizeil Der Staat, die
Polizei, die Leichenbeftattungsanftalt, Fennen wie diefe Dinge
überhaupt? Nicht wenige Leute wären recht erbittert, wenn fie
feben müßten, wie man uns behandelt. Man laßt uns nicht
einmal dag Net, unferen Staub Yefus Chriſtus zu geben.
Ihre Sanitätsfommiffion ift eine Erfindung der Nevolution.
Gott als Untergebener des Polizeifommiffariats — bas ift
unfer Yabrbundert. Schweigen Sie, Fauvent!’
Sauchelevent fühlte fit unter diefer Dufche nicht gerade wohl,
aber die Priorin fuhr fort:
„Das Anrecht des Klofters auf eigene Gräber darf niemand
bezweifeln, und nur Sanatifer und im Irrtum Befangene Fön-
nen es leugnen. Wir leben in einer Zeit furdtbarer Unfiber-
heit aller Begriffe. Man ift unwiffend in allen Dingen, die zu
wiflen verlohnt, aber man weiß alles mögliche, was beffer un-
gewußt bliebe. Man ift kraß und unfromm. Es gibt in diefer
Zeit Menfhen, die den Unterfchied zwiſchen bem erhabenen
Sanet Bernardus und dem fogenannten Bernhard von ben
ormen Katholiken, einem waderen Driefter aus bem drei-
zehnten Jahrhundert, nicht wiffen! Andere wieder find ſolche
Lüfterer, daß fie das Schafott Ludwigs XVI. mit dem Kreuz
Cbrifti vergleichen. Ludwig XVI. war bod nur ein König.
Hüten wir uns vor Gottes Unwillen! Schon weiß man nicht,
was Gut und Böfe ift. Man Éennt den Namen eines Voltaire,
weiß aber nicht, wer Céfar de Bus war! Und bob war Céfar
de Bus ein Seliger und Boltaire ein Unfeliger! Der lefte
Erzbifchof, der Kardinal von Périgord, wußte nicht einmal, daß
Charles de Gondren der Nachfolger des Vérulle war, und
Francois DBourgoin der des Gondren, und jean François
Senault der des DBourgoin, und Pater de Sainte Marthe
der des Yean Francois Senault. Man kennt den Mamen
des Pater Coton, nicht weil er einer von ben breien war,
welche die Einführung des Oratoriums durcdfesten, fondern
317
weil der bugenottifhe König Seinrib IV. über ibn unflätige
Sachen fagte. Die Weltleute finden unferen Heiligen Franz
von Sales Tiebenswert, weil er beim Spiel mogelte. Und
man greift die Meligion an. Warum? Weil es fchlechte
DPriefter gegeben hat, weil Sagittaire, Bifhof von Gap, der
Bruder des Salone, Bifhof von Embrun war und weil beide
die Nachfolger Mommols waren. Aber was liegt daran? ft
darum Martin von Tours weniger ein Heiliger und bat er
nicht die Hälfte feines Mantels einem Bettler gejhentt? Man
verfolgt die Heiligen, man verfchließt die Augen gegen die
Mahrheit. Die wildeften Tiere find die wildeften Beſtien. Mie-
mand fürchtet die hölfifchen Feuer. O über diefes fchlechte Wolf!
„Im Namen des Könige“ bedeutet heute ebenfoviel wie ‚im
Namen der Revolution‘. Man weiß nicht, was man den Toten
und den Lebenden fchuldet. Es ift verboten, als Heiliger zu
fterben. Das Begräbnis ift eine Angelegenheit der Zivilbehörde.
Es ift fhauderbaft. Der heilige Leo II. bat eigens zwei ‘Briefe
geichrieben, einen an den Petrus Motarius, den andern an den
König der Weftgoten, um die Autorität des Erarhen und die
Suprematie des Kaifers in allen Fragen der Totenbeftattung
anzufechten. Gautier, Bifhof von Chälons, wiberfeste fih in
berfelben Sache dem Herzog Dthon von Burgund. Sogar die
Beamten waren auf feiner Seite. Früher hatten wir vom Ka—
pitel auch in weltlichen Dingen etwas zu fagen. Der Abt von
Citeaur, ein Orbensgeneral, war erblihes Mitglied des bur-
gundifchen Parlaments. Wir tun mit unferen Toten, was wir
wollen. Iſt etwa der Leichnam des heiligen Benediectus nicht in
Frankreich, in der Abtei von Fleury, die jest Saint-Benoit-
fur-Loire heißt, obwohl er in talien, in Monte Caffino, ftarb,
und zwar am Sonnabend den einundzwanzigften März 543?
Alles das ift unanfechtbar. Sch verabfheue die Pfalanten, ich
verabſcheue die Brüder vom freien Gebet, ich baffe die Keker,
aber einen Menfchen, der meinen Behauptungen widerfpredhen
wollte, würde ich noch mehr verurteilen. Man braucht, um bar-
über volle Klarheit zu erlangen, nur die Werke folgender
316
Sobriftfteller zu Iefen: Arnoult Wion, Gabriel Buselin, Tri-
themius, Maurolicus und dom Luc d'Achery.“
Test fhôpfte die Priorin Atem und wandte fi wieder
Sauchelevent zu:
„Vater Fauvent, abgemacht?“
„Abgemacht.“
„Wir können auf Sie zählen?“
„Ich werde gehorchen.“
„Brav!“
„Ich bin dem Kloſter ganz ergeben.“
„Wohlverſtanden: Sie verſchließen den Sarg. Die Schwe—
ſtern tragen ihn in die Kapelle. Es folgt das Totenamt. Dann
gehen alle ins Kloſter zurück. Zwiſchen elf und Mitternacht
kommen Sie mit Ihrer Eiſenſtange. Alles wird ganz im ſtillen
beſorgt. In der Kapelle ſind nur die vier Mütter Sängerinnen,
Mutter Aſcenſion und Sie. Sie dürfen nicht vergeſſen, die
Glocke abzunehmen.“
„Ehrwürdige Mutter?“
„Ja?“
„War der Totenbeſchauer ſchon da?“
„Er kommt um vier Uhr. Das Zeichen wurde ſchon gegeben.
Hören Sie es denn nicht?“
„Ich achte nur auf mein Zeichen.“
„Das iſt brav von Ihnen, Vater Fauvent.“
„Ehrwürdige Mutter, ich brauche eine Stange von minde—
ſtens ſechs Fuß Länge.“
„Wo wollen Sie die hernehmen?“
„Wo es Gitter gibt, fehlt es auch nicht an Eiſenſtangen. Ich
habe eine Menge Eiſenzeug hinten im Garten.“
„Alſo drei viertel Stunden vor Mitternacht. Vergeſſen Sie
nicht!“
„Ehrwürdige Mutter?“
„Was gibt's?“
„Wenn Sie vielleicht noch ſolche Aufträge hätten... mein
Bruder iſt ſehr ſtark. Der reinſte Türke.“
317
„Machen Sie e8 fo rafh wie möglich.”
„Sehr fhnell fann id es nicht. Sch bin fon ein alter
Menſch. Gerade darum brauche ich ja den Gebilfen. Au bin
ich lahm.”
„Lahm fein ift Feine Schande, eher ein Segen. Der Kaifer
Heinrich II., der den Gegenpapft Gregor befämpfte und Bene—
diet VIII. wieder einfeßte, hatte zwei Beinamen: Der Heilige
und Der Labme. Aber vergeffen Sie nicht, Vater Fauvent,
das Totenamt beginnt um Mitternacht. Alles muß eine gute
DViertelftunde vorher fertig fein.’
„Ich werde mich bemühen, der Gemeinde meinen Eifer zu
bemeifen. Zwei Männer hätten die Sade beffer gefhafft. Die
Megierung fol nichts davon ahnen. Iſt alles fo in Ordnung,
ehrwürdige Mutter?‘
„Nein.“
„Was gibt's denn noch?“
„Wir haben noch nicht für den leeren Sarg geſorgt.“
Wieder folgte eine Pauſe. Fauchelevent und die Priorin
dachten nach.
„Vater Fauvent, was ſoll mit dem leeren Sarg geſchehen?“
„Nun, der wird begraben.“
„Leer?“
Wieder eine Pauſe. Fauchelevent machte mit der Linken eine
Geſte, wie wenn er eben eine beunruhigende Frage gelöſt hätte.
„Ehrwürdige Mutter, ich nagle auch dieſen Sarg in dem
niedrigen Saal in der Kirche zu. Niemand außer mir braucht
dorthin zu kommen. Dann breite ich das Totentuch darüber.“
„Ja, aber wenn die Träger kommen und den Sarg in den
Leichenwagen bringen, und die Totengräber, wenn ſie ihn hin—
einlaſſen ... die werden doc merken, daß nichts drin iſt!“
„Hol's der Ten.
Die Priorin befreuzigte fih und fab den Gärtner ftreng an.
Der ...fel blieb in der Kehle ftecfen.
Er beeilte fich, eine gute Idee vorzubringen, damit fein Fluch
in Vergeſſenheit gerate.
318
„Ehrwürdige Mutter, ich tue Erde in den Sarg. Das wiegt
ebenfoviel wie ein Menſch.“
„Sie baben redbt. Erde und Menſch ift das gleiche. Sie
wollen alfo die Sache mit dem leeren Sarg in Ordnung bringen.”
„Alles fol erledigt werden.”
Das Gefiht der Priorin, das bisher düfter gewefen wor,
heiterte fih auf. Sie entließ den Gärtner mit einem Wink,
und Fauchelevent ging zur Türe. Als er fie eben öffnen wollte,
fagte die Priorin fanft:
Vaater Fauvent, id bin zufrieden mit Ihnen. Führen Sie
mir morgen na dem Segräbnis Ihren Bruder vor und jagen
Sie ihm, er foll die Kleine mitbringen.‘
4. Sean Baljean fheint Auftin Eaftillejo
gelefen zu haben
Die Schritte eines Lahmen find wie die Blicke des Ein-
Gugigen, fie Eommen langſam ans Ziel. Überdies war Fauche—
levent fehr verfonnen. In diefem Zuftand braudte er eine
Viertelftunde, um in feine Oartenbarade zurücdzufehren.
„Jun, wie ftebt 8?" fragte Sean Valjean.
„Die Schwierigfeiten find behoben, und fie find aud wieder
nicht behoben. Ich babe die Erlaubnis, Sie einzulaffen; aber
bevor ich von ihr Gebraud machen Fann, müflen Sie erft bin-
ausfommen. Darüber ftolpern wir. Für die Kleine ift geſorgt.“
erden Sie fie hinaustragen?”
„Bird fie Schweigen?‘
„Dafür bürge ich.”
„Aber Sie, Vater Madeleine? Gehen Sie bob da hinaus,
wo Sie hereingefommen find!’
Sean Valjean befchränfte fi) darauf, wie das erftemal zu
antworten:
„Unmöglich.“
Fauchelevent, der eher mit ſich ſelbſt zu ſprechen ſchien,
murmelte:
319
‚Die andere Sade geht mir auch im Kopf herum. Sch babe
gefagt, id werde Erde hineintun, aber Erde ftatt einen Men-
fhen, das tft ganz etwas anderes, dag rutſcht und verfchiebt bas
Gleichgewicht. Die Träger werden es gleich merken. Verfteben
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Sie, Vater Madeleine, die Megierung wird uns darauf
kommen.“
Jean Valjean ſah ihn ſcharf an, denn er hielt ihn für be—
trunken.
„Wie zum Teu..., na, fagen wir Deubel, wie ſollen Sie
320
binausfommen? Und alles bas muß morgen gefheben! Morgen
fol ih Sie au bereinbringen. Die Priorin erwartet Sie.’
Sept erklärte er Jean Valjean, daß es fih um eine Belob-
nung für einen Dienft handle, den er, Fauchelevent, der Ge-
meinde geleiftet. Er erzählte ihm alles, was vorgefallen war.
„Bas tu” ich nur mit dem leeren Sarg?” ſchloß er.
„zegen Sie etwas hinein.’
„Einen Toten? Ich hab’ doc feinen.’
„Nein.“
„Was dann?“
„Einen Lebenden.“
„Wen denn?“
„Mich“, ſchlug Jean Valjean vor.
Fauchelevent fuhr auf, als ob eine Bombe unter ſeinem
Stuhle geplatzt wäre.
„Sie?“
„Warum nicht?“
Jean Valjean lächelte ſo ſelten wie die Sonne im Winter
ſcheint, aber jetzt lächelte er.
„Erinnern Sie ſich, Fauchelevent, wie Sie geſagt haben:
Mutter Crucifirion iſt tot. Da babe ich Hinzugefügt: und
Vater Madeleine begraben. Sp fteht die Sache.’
„Ah fo, Sie mahen Spaß!’
„Ganz und gar nicht. Ich meine es todernft. Ich babe
Ihnen doch gefagt, Sie follen aud für mich eine Butte und
eine Plane beforgen. Nun, die Butte wird aus Tannenholz
fein, ein Sarg, und die Plane ein ſchwarzes Tuch.”
„Ein weißes Tuch. Nonnen befommen ein weißes Tuch.”
„Bon mir aus ein weißes.’
„Sie find Fein gewöhnlicher Menfh, Vater Madeleine!’
Diefe verwegene, wilde Idee, die fupifhe Erfindung eines
Bagnofträflings, die hier den friedlihen Trott des Klofter-
lebens durchbrechen follte, verſetzte Fauchelevent in Fein ge
ringeres Staunen als etwa eine Möve einem Parifer, der ihr
auf der Rue Saint-Denis begegnet.
21 Hugo, Die Elenden. 321
„Ber vernagelt den Sarg?’ fragte Sean Valjean.
„Ich.“
„Wer breitet das Tuch darüber?“
„Wiederum ich.“
„Sind Sie allein?“
„Außer mir und dem Polizeiarzt darf niemand in die Toten—
kammer. Es ſteht ſogar an der Wand aufgeſchrieben.“
„Können Sie mich heute nacht, wenn alles im Kloſter ſchläft,
in dieſer Kammer verbergen?“
„Nein, aber ich kann Sie in einem kleinen ſchwarzen Loch
verſtecken, das zur Totenkammer führt, in dem ich meine Be—
gräbnisgeräte aufbewahre. Nur ich habe den Schlüſſel dazu.“
„Wann ſoll der Leichenwagen kommen, um den Sarg ab—
zuholen?“
„Gegen drei Uhr nachmittags. Das Begräbnis findet auf
dem Friedhof Vaugirard ſtatt, kurz vor Einbruch der Nacht.
Er ift nicht ganz nahe.”
„Gut, ich bleibe in Ihrem Gerätfaften während der Nacht
und über Vormittag. Aber was effe ich? Sch werde Hunger
haben.”
„Etwas zu effen findet ſich.“
„Dann fônnen Sie mid gegen zwei Uhr vernageln.”
Sauchelevent lie die Finger Enaden.
‚Aber das ift doch ganz unmöglich!”
nPab, einen Hammer nehmen und damit ein paar Mägel in
ein Brett ſchlagen?“
Mas Fauchelevent unerhört fhien, war für Sean Valjean
höchſt einfah. Er hatte Schlimmeres erlebt. Wer Gefangener
war, beberrfdt die Kunft, feine Körperlänge nad dem Loch zu
regulieren, durch bas man entfliüpfen kann. Sic vernageln
laffen und in einer Kifte wie ein Stüf Ware transportieren,
längere Zeit in einer Holzfifte leben, Luft finden, wo feine ift,
ftundenlang den Atem fparen, erftiden ohne zu fterben, alles
bies gehörte zu den Talenten Sean Valjeans.
Übrigens bat der Sarg nicht nur Sträflingen, fondern au
322
einem Kaifer als Transportmittel gedient. Wenn man dem
Mönch Auftin Caftillejo glauben will, bediente fi Karl V.
diefes Mittels, als er nach feinem Ihronverzicht nod einmal
die Plombes fehen wollte, um fie in das Klofter des heiligen
Juſtus und wieder herauszufchmuggeln.
Sauchelevent hatte fih ein wenig beruhigt.
„Wie wollen Sie denn atmen?‘
„Ich werde eben atmen.‘
„In fol einer Kifte! Wenn ich daran denfe, möchte id er-
ſticken.“
„Sie haben gewiß einen Bohrer. Machen Sie in Mund—
höhe ein paar Eleine Löcher und nageln Sie den Dedel zu,
ohne ihn allzu feft an den Sarg zu preſſen.“
„Gut! Aber wenn Sie buften oder niefen?’
„Ber flieht, buftet nicht und nieft nicht. Meine einzige
Sorge ift, wie fih die Sache auf dem Friedhof regeln läßt.“
„Gerade das beunruhigt mid am wenigften‘‘, meinte
Sauchelevent. „Wenn Sie ficher find, daß Sie es in dem Sarg
aushalten, aus der Grube Hole ih Sie fon wieder. Der
Zotengräber ift ein alter Säufer, ein guter Freund von mir.
Pater Meftienne, ein Alter, der gern den alten Wein trinkt.
Der Zotengräber ſteckt die Toten in den Graben, ich ftedfe den
Zotengräber in den Sad. Wie, das follen Sie gleich hören.
Mir kommen gegen Sonnenuntergang draußen an, etwa drei
Viertelftunden, bevor das Gittertor des Friedhofs gefchloffen
wird. Der Seibenmagen fährt bis zur Grube. Ich hinterher.
Das ift meine Pflicht. Ich babe einen Hammer, eine Zange
und ein Stemmeifen in der Taſche. Der Wagen hält an, die
Zräger fdlingen ein Seil um den Sarg und laffen ihn in die
Grube hinab. Der Priefter fagt feine Gebete her, macht das
Kreuz, fprengt Weihwaſſer über den Sarg und geht. Ich bleibe
mit Vater Meftienne allein. jest gibt es zwei Möglichkeiten.
Entweder ift er fon voll, oder er ift es noch nicht. Im erfteren
Salle fag’ ich zu ihm: Komm, wir heben einen, bevor der ge-
mütlihe Winfel gefperrt wird. Dann nehme ich ibn mit, fchenfe
21% 323
ihm wacker ein, trinke ihn unter ben Tifh, nehme feine Legiti-
mation aus feiner Taſche und gehe allein wieder auf den Grieb-
bof. Sie haben weiter nichts zu tun dabei. ft er fhon voll,
dann fage ich einfach: Fahr ab, ih mad’s allein. Er geht und
ich ziehe Sie aus dem Loch.“
jean Baljean reichte ihm die Hand hin, in die Fauchelevent
herzlich einfchlug.
„Abgemacht, alles wird gut gehen!‘
5, Nicht einmal Säufer ſind unſterblich
Als am nächſten Tage die Sonne ſich anſchickte unterzugehen,
begrüßten die ſpärlichen Paſſanten des Boulevard du Maine
ehrfurchtsvoll einen ſehr altmodiſchen, mit Totenköpfen, Knochen
und Tränen verzierten Leichenwagen. In dieſem befand ſich ein
Sarg, der, mit einem weißen Tuch bedeckt, von einem ſchwarzen
Kreuz gekrönt war. Eine Equipage folgte, in der ein Prieſter
im Chorhemd und ein Chorknabe mit einem roten Käppchen
ſaß. Zwei Leichenträger in grauer Uniform mit ſchwarzen Auf—
ſchlägen gingen zur Rechten und Linken des Leichenwagens.
Ganz zum Schluß kam ein alter Mann im Arbeitskittel, der
hinkte. Dieſer ganze Zug ſtrebte dem Friedhof Vaugirard zu.
Aus der Taſche des Arbeiters ragte ein Hammer, ein
Stemmeiſen und eine Zange hervor.
Der Friedhof Vaugirard nimmt unter den Friedhöfen von
Paris eine Sonderſtellung ein. Er hat ſeine eigentümlichen Ge—
bräuche, zum Beiſpiel ein beſonderes Tor für Wagen und eines
für Fußgänger. Die Bernhardinerbenediktinerinnen von Petit—
Piepus hatten, wie wir bereits ſagten, die Erlaubnis erwirkt,
in einer beſonderen Ede beſtattet zu werden — dieſes Terrain
gehörte ganz ihrer Gemeinde. Die Totengräber hatten, da dort
auch des Abends Beerdigungen ftattfanden, im Sommer fpät-
abends und im Winter fogar des Nachts Dienft und mußten
fi einem befonderen Reglement unterwerfen. Die Tore der
Friedhöfe von Paris wurden damals mit Sonnenuntergang
324
geichloffen. Das war eine Verordnung des Magiftrats, der fit
aud der Friedhof Vaugirard nicht widerfeßen fonnte. Die bei-
den Tore waren vergittert und lagen neben einem Pavillon,
den der Friedhofspförtner bewohnte. Mit unerbittlicher
Strenge wurden fie abgeriegelt, fobald die Sonne hinter dem
Dom des invalides verfhwand Wenn ein Totengräber den
Friedhof um diefe Zeit noch nicht verlaffen hatte, fo gab es für
ihn nur eine Möglichkeit wieder herauszukommen: feinen
Zotengräberausweis. Eine Art Bricffaften war am Fenfter der
Pförtnerwohnung angebrabt. Der Iotengräber warf die Karte
hinein und der Pförtner, der fie berabfallen hörte, 309 an der
Schnur, fo daß bas Fußgängertor ſich öffnete. Hatte der Toten-
gräber feine Karte nicht bei fib, fo mußte er feinen Namen
nennen. Der Pförtner, der oft fhon im Bett lag, ftand auf,
um ibn feftzuftellen, und öffnete die Tür mit dem Schlüffel. So
fonnte der Iotengräber heraus, mußte aber fünfzehn Sranfen
Strafe zahlen.
Die Sonne war nod nicht untergegangen, als der Leichen-
wagen in die Straße des Friedhofs Vaugirard einbog.
Mutter Erueifiriong Beerdigung unter dem SHauptaltar,
Cofettes Wegfhaffung aus dem Klofter, Sean Valjeans Ein-
fhmuggelung in den Totenfaal und in den Sarg — alles war
gelungen.
Sauchelevent fpazierte fehr zufrieden hinter dem Teichenwagen
einher. Sein Doppelfomplott, bas eine zugunften der Monnen,
bas andere zugunften Mabeleines, eines für und eines wider
das Klofter, war bis jest geglüct. Sean Daljean war fo ruhig
gewefen, daß feine Ruhe fih aud dem andern mitteilte. est
zweifelte Sauchelevent nicht mehr an dem Erfolg. Was nod zu
tun blieb, war eine Kleinigkeit. Im Laufe der lebten zwei
Fahre hatte er den Totengräber, ben waderen Vater Meftienne,
zehnmal unter den Tifch getrunfen. Der Meftienne war leicht
zu behandeln. Mit dem konnte man madhen, was man wollte.
Den konnte man ftriegeln, mie es einem beliebte. Meftiennes
Kopf richtete fih ganz nad) Fauchelevents Kappe.
32>
Der Gärtner war, wie man fieht, feiner Sache fiber.
As der Leihenzug in die Friedhofsftraße einbog, rieb
Fauchelevent ſich vergnügt die Hände und fagte leife:
„Ein Mordsſpaß!“
Plöslich hielt der Wagen.
Man hatte das Gitter erreicht. Sekt mußte die Erlaubnis
zur Beerdigung vorgewiefen werden. Der Mann von der
Teihenbeftattung unterhandelte mit dem Friedhofspförtner.
Während diefer Unterredung, die immer ein oder zwei Minuten
in Anfprud nahm, trat ein Unbekannter neben Fauchelevent.
Es war wohl ein Arbeiter; er trug eine Voppe mit breiten
Taſchen und eine Schaufel.
Sauchelevent fab ihn an.
„Wer find denn Sie?’ fragte er.
„Der Totengräber.!/
Ein Kanonenfhuß hätte Fauchelevent nicht mehr erfchreden
Fönnen. Wer eine Kanonenfugel mitten in die Bruft befommt
und dann noch lebt, fchneidet fiber Fein anderes Geſicht.
„Der Zotengräber!‘
„Ja.“
„Sie?“
PA
„Totengräber ift bob Vater Meftienne.‘
„Bar.
„Wieſo war?’
„Er ift tot.”
Fauchelevent war auf alles gefaßt, nur nicht darauf, daß ein
Iotengräber fterben Éônne. Und bob ift es wahr, aud die
Totengräber fterben. Bei der großen Gräberei graben fie fchließ-
lib aud ſich ein Grab.
Saucelevent ftand mit offenem Munde da. Stotternd
fagte er:
„Unmöglich!“
„Aber wahr.“
326
‚Aber der Iotengräber ift doch Vater Meftienne‘‘, verfudte
er noch einmal ſchwach.
„Noah Napoleon Ludwig XVIII. Nah Meftienne Gribier.
Bauer, ich heiße Gribier.“
Zotenblaß ftarrte Sauchelevent Gribier an.
Es war ein langer, magerer, blaffer, finfterer Menfh. Er
fab aus wie ein verkrachter Mediziner, der ftrads Totengräber
geworden ift.
Sauchelevent begann wild zu lachen.
‚Ita, toll geht’s ja zu auf der Welt! Papa Meftienne ift
tot? Gut, der Feine Papa Meftienne ift tot, fo lebe der Fleine
Papa Lenoir! Kennen Sie den? Ein fabelhafter Noter zu fes
Sous pro Kapfel. Schießt alles ab, was dag Surène hervor-
bringt, Schodfchwerenot! Echte Surene! Ach, tot ift der alte
Meftienne, tut mir leid; bei Lebzeiten war er recht lebhaft.
Aber aud Sie, Sie fteben vorderband gut auf den Beinen.
Nicht wahr, wir geben jeßt einen heben, wir beide?‘
„Ich babe ftudiert. Bis zum vierten Jahrgang hab’ ich es
gebracht. ch trinfe niemals.“
Der Wagen fuhr wieder [os und bog jest in die große Fried-
hofsallee ein.
Saucelevent ging langfam. Er hinfte vor Angft mehr als je.
Der Zotengräber ftapfte voraus.
Mod einmal eraminierte Fauchelevent den unerwarteten Gri-
bier. Es war einer von denen, die, wenn fie jung find, alt aus-
feben, und obwohl fie mager find, über genug Kräfte verfügen.
„Kamerad! rief Fauchelevent.
Der andere wandte fih um.
„Ich bin der Totengräber des Kloſters.“
„Kollege alſo“, fagte der andere.
Fauchelevent war des Lefens und Schreibens unfundig, aber
ſchlau genug, um zu begreifen, daß er es hier mit einem be-
ängftigenden Menfhen und überdies mit einem guten Sprecher
zu fun hatte.
„Sa ja,” murmelte er, „Vater Meftienne ift tot.’
327
„Mauſetot“, fagte der andere, „Der liebe Gott bat in feinem
Bud nacgefehen, welche Wechfel jeht zum Proteft kommen,
und da bat er geliehen, daß Meftienne an der Reihe war.
„Der liebe Gott‘, murmelte Fauchelevent mechaniſch.
„Der liebe Gott,” fagte der andere dozierend, „den die Pbi-
lofophen den ewigen Dater, die Jakobiner bas höchſte Wefen
nennen.’
„Wollen wir denn nicht Bekanntſchaft ſchließen?“ ftammelte
Fauchelevent.
328
„Die ift fhon gemadt. Site find ein Bauer, ich bin ein
Pariſer.“
„Wiſſen Sie, ich ſage immer: ſolange man zuſammen nicht
einen gehoben hat, kennt man ſich nicht. Glas ausgetrunken,
Herz ausgeſchüttet! Kommen Sie mit mir eins trinken. So
was lehnt man doch nicht ab.“
„Erſt die Arbeit.“
Verloren, dachte Fauchelevent.
Noch einige Biegungen der kleinen Allee, und man war an
der Begräbnisſtätte der Nonnen.
„Bauer,“ ſagte der Totengräber unvermittelt, „ich habe
ſieben Mäuler zu ſtopfen. Da ſie eſſen müſſen, darf ich nicht
trinken.“ Und ernſthaft fügte er hinzu: „Ihr Hunger iſt der
Feind meines Durſtes.“
Der Leichenwagen bog jetzt in eine Gruppe von Zypreſſen
und fuhr durch ungepflegtes Gelände. Man war offenbar dicht
vor dem Segräbnisplas. Fauchelevent ging zwar langfamer,
aber er Éonnte dadurch den Wagen nicht aufhalten. Glücflicher-
weife famen die Mäder in dem locferen, vom winterlihen Negen
aufgeweichten Erdreich ſchwach vorwärts.
Wieder wandte er fih an den Totengräber:
„Und fo einen guten Wein aus Argenteuil gibt es dort‘,
murmelte er.
‚Mann vom Lande, bas dürfte nicht fein, daß ein Mann wie
ih Totengräber ift. Mein Vater war Pförtner am Prytaneum.
Er beftimmte mid für die Literatur. Aber er hatte Unglüd. Er
verlor an der Börfe. Sch Éonnte nicht den Dichterberuf er-
greifen. immerhin bin id öffentliher Schreiber.”
„Alſo Sie find nibt Totengräber?’’ fragte Fauchelevent, der
nad) diefem ſchwachen Zweig der Hoffnung griff.
„Das eine fchließt bas andere nicht aus. Ich Éumuliere biefe
beiden Berufe.’
Saucelevent Fannte bas Wort Fumulieren nicht.
„Gehen wir trinken”, fagte er.
Mir müffen bier eine DBemerfung einfchalten. Faucelevent
329
bot in feiner Angft einen gemeinfamen Irunf an, aber über die
Trage, wer ihn bezahlen follte, äußerte er fi nicht. Gemeinhin
hatte er es fo gehalten, daß er einlud und Meftienne bezahlte.
Diesmal refultierte die Einladung offenbar aus der Lage, die
durch Einftelung des neuen Totengräbers gefchaffen war, und
fie mußte von ibm, Sauchelevent, ausgehen, aber der alte
Gärtner vermied volle Klärung. So erregt er aud war, dachte
er zunächſt nicht ans Zahlen.
Inzwiſchen fuhr der Totengräber mit überlegenem Lächeln fort:
„Eſſen muß der Menfh. Ich babe Vater Meftiennes Amt
übernommen. Wenn man fein Gymnaſium faft gemadt bat, ift
mon auch Philofoph. Zur Arbeit der Hand fügt man gern die
des Armes. Ich babe meinen Schreiberftand auf dem Markt in
der Rue de Sèvres. Wiffen Sie, der Negenfhirmmarft. Alle
Köhinnen von der Croix-Rouge kommen zu mir. Sch made
ihnen ihre Lichesbriefe an ihre Soldaten. Morgens fchreibe id
gurrende Brieflein, abends bin ich Iotengräber. So ift das
Leben, Bauer.”
Der Wagen rollte immer weiter. Fauchelevent hatte den
Höhepunkt feiner Unruhe erreicht und blickte faffungslos um
fib. Der Schweiß ftand ibm auf der Stirn.
‚Aber man Éann nicht zwei Herren dienen’, fuhr der Toten-
gräber fort. „Ich werde mic zwifchen Feder und Schaufel ent-
fheiden müflen. Die Schaufel macht meine Hand ſchwer.“ Der
Magen hielt. Der Chorknabe ftieg aus der Equipage, dann
folgte der Priefter.
Eines der Mäder des Wagens war in einem Erdhaufen feft-
gefahren, hinter dem man in eine offene Grube blickte.
„Ein Mordsſpaß!“ wiederholte Fauchelevent außer fi.
6. Zwiſchen vier Brettern
Alles ging wie Sean Valjean es vorausgefehen hatte. Auch
er verließ fih, wie Fauchelevent, auf Vater Meftienne. Sekt
zweifelte er nicht mehr an dem guten Ausgang. Mie war eine
330
Situation Eritifcher, nie gleichzeitig die Ruhe des Betroffenen
vollendeter.
Die vier Bretter eines Sarges fchließen, wenn biefer Aus-
druck erlaubt ift, einen furdtbaren Frieden in fih. Es war, als
ob etwas von der Ruhe der Toten auf Sean DBaljean über-
gegangen wäre. Aus feinem Sarge Fonnte er allen Phaſen des
Dramas folgen. Kurz nahdem Fauchelevent den Dedfel ver:
nagelt hatte, hatte er gefühlt, wie er zuerft getragen, dann
gefahren wurde. Als der Wagen weniger ftieß, begriff er, daB
er jeßt durch eine gufgepflafterte Straße Fam, bur einen der
Boulevards. Aus einem dumpfen Geräufch erriet er, daß der
Magen jest über die Aufterliger Brücke fuhr. Als er bas erfte-
mal hielt, war man offenbar an der Friedhofsmaner ange-
fommen, beim zweitenmal an der Grube.
est faßten Hände nah dem Sarg, ein raubes Meiben
wurde an den Brettern vernehmbar: man fchlang alfo gerade
das Seil um den Sarg, um ihn in die Grube zu fenfen.
Dann folgte eine leichte Betäubung. Die Träger hatten den
Sarg wohl fhräg geftellt, ver Kopf war vor den Füßen unten
angefommen. Als er wieder in horizontale Tage Fam, wurde ihm
beffer. Er fühlte eine gewiſſe Kälte.
Eine Stimme fprad etwas aus der Höhe herab, eifig und
feierlih. Tangfam, daß er eines nad dem andern greifen Fonnte,
flangen die lateinifhen Worte, die er nicht verftand, an
fein Obr:
„Qui dormiunt in terrae pulvere, evigilabunt: alii in
vitam aeternam, et alii in opprobrium, ut videant
semper.“
Eine Rinderftimme antwortete:
„De profundis.“
Die tiefe Stimme begann von neuem:
„Requiem aeternam dona ei, domine.“
Und wieder die Kinderftimme:
„Et lux perpetua luceat ei.“
331
Dann war etwas wie ein leichtes Klatfhen von Negentropfen
auf dem Dedel zu vernehmbar. Offenbar Weihwaſſer.
Es wird gleid zu Ende fein, dachte er. Mod ein wenig Ge-
duld. Der Priefter wird gehen. Fauchelevent führt Meftienne
in die Kneipe. Mid läßt man allein. Dann kommt Faudelevent
zurüd, diesmal. allein, und ich fteige heraus. Die Sade kann
eine gute Stunde dauern.
Die tiefe Stimme begann von neuem:
„Requiescat in pace.“
Und die Rinderftimme:
„Amen.“
Sean Valjean fpiste die Ohren und hörte Schritte fid
entfernen.
Aha, jeßt gehen fie. Ich bleibe allein.
Test hörte er ein furchtbares Getôfe, das wie ein Donner-
flag auf den Dedel des Sarges niederging.
Es war eine Schaufel Erde. Eine zweite folgte.
Eines der Löcher, dur bas er atmete, war verlegt.
Eine dritte,
Dann eine vierte.
Es gibt Dinge, die der ftärffte Mann nicht erträgt. Sean
Valjean fiel in Obnmabt.
7. Man erfñbrt ben Urfprung des Wortes:
Seine Karte nibt verlieren
Und folgendes trug fi inzwifchen über dem Sarge zu, in
dem jean Daljean lag.
Als der Wagen fi entfernt hatte und der Priefter und der
Chorfnabe wieder in ihre Œquipage geftiegen waren, fab
Saucelevent, der den Totengräber nicht aus den Augen ließ,
wie diefer fit büdte und feinen Spaten ergriff.
Ein äußerſter Entfhluß reifte in ihm.
Er trat zwifchen die Grube und den Totengräber, breitete
die Arme aus und fagte:
392
„Ich bezahle es!‘
„Was, Bauer?’ fragte der Totengräber verwundert.
„Nun,“ ftotterte Fauchelevent, „ich bezahle.’
„Was?“
„Den Wein.“
„Welchen Wein?“
„Den Argenteuil.“
„Geh zum Teufel!“ ſagte der Totengräber. Und er warf den
erſten Spaten voll Erde auf den Sarg.
Der Sarg ächzte. Fauchelevent glaubte zu taumeln und
fürchtete, er würde ſelber in die Grube fallen. Röchelnd
ſtöhnte er:
„Kamerad, raſch, bevor die Budike ſchließt! Ich bezahle!
Hören Sie, Kamerad, ich bin der Totengräber des Kloſters.
Ich ſoll Ihnen helfen. Das iſt eine Arbeit, wie geſchaffen für
die Nacht. Zuerſt ein Gläschen!“
Während er dieſen letzten Verſuch wagte, überlegte er:
Wenn er auch trinkt, wird er betrunken werden?
„Provinzler,“ ſagte der Totengräber, „wenn Sie abſolut
darauf beſtehen, gut. Trinken wir eins. Aber nach der Arbeit.
Niemals vorher.“
Schon wieder hatte er den Spaten bereit. Fauchelevent fiel
ihm in den Arm.
„Argenteuil zu ſechs!“
„Großer Gott, Sie find ja ein Glödner! Bimbam bimbam,
immer dasſelbe!“
Und die zweite Schaufel folgte.
Fauchelevent geriet in einen Zuftand, in dem man nicht mehr
weiß, was man fpridht.
„Kommen Sie doch, ich zahle ja’, fchrie er.
„Wenn wir das Kindchen ba zu Bett gebracht haben’, fagte
der Iotengräber.
Die dritte Schaufel.
Jetzt ftieß er den Spaten in die Erde und fügte hinzu:
333
„Heute wird e8 Falt. Die Iote wird fhimpfen, wenn wir fie
ohne Dede laſſen.“
Während er wieder feine Schaufel belud und fid bückte,
Elaffte eine feiner Taſchen auf. Fauchelevents irrer Blick fiel in
die Zafche und wurde ftarr. Die Sonne war nod nit ganz
untergegangen. Es war noch bell genug, daß er etwas Weißes
in der Iafche bemerfte.
Alle Lift, deren ein pifardifher Dauer fähig ift, biste in
Fauchelevents Auge auf. Er hatte eine Idee.
Dhne daß der Zotengräber etwas bemerkte, griff er ibm in
die Taſche und 309 dag Weiße heraus.
Vierte Schaufel.
Als er fit ummwandte, um die fünfte aufzunehmen, fab ibn
Sauchelevent ruhig an und fagte:
‚Übrigens, Herr Neuling, haben Sie Ihre Karte?
„Welche Karte?”
„Frau Sonne geht zu Bett.”
„Bon mir aus fol fie fih ihre Nachtmütze aufſetzen.“
„Der Pförtner wird gleich ſchließen.“
„Na und?’
„Haben Sie Ihre Karte?”
„Ach, meine Karte’, fagte der Totengräber und griff in die
Taſche.
Er ſuchte dann noch in der anderen. Auch in der Weſten—
tafche, in den Hofentafchen.
„Nein, ich babe fie nicht. Ich babe fie vergeſſen.“
„Sünfzehn Franken Strafe‘, erklärte Fauchelevent.
Der Iotengräber wurde grün. Grün ift die Bläſſe derer, die
immer weiß find.
„SKreuzhimmeldonnerwetter! Fünfzehn Franken!’
„Dreimal hundert Sous“, beftätigte Saucelevent.
Die Schaufel fiel zu Boden.
Jetzt mußte Fauchelevent feine Trümpfe ausfpielen.
„Na, Rekrut, nicht verzweifeln! Hier ift nicht von Selbft-
mord die Mede. Es finder fi) immer ein Ausweg. Fünfzehn
334
Franken find immerhin fünfzehn, aber Sie müffen fie ja nicht
bezahlen. Ich bin alt, Sie find jung. Ich weiß alle Schliche
und Tricks. Sch will Ihnen einen freundfhaftlihen Nat geben.
Eins ift klar. Die Sonne geht unter, fie fteht fchon über dem
Dom. In fünf Minuten wird gefchloffen.‘
„Allerdings.“
„In fünf Minuten werden Sie mit der Grube da nicht
fertig, die iſt teufliſch tief, und dann iſt es ja auch noch ein
Stück Weg bis zum Gitter. Wenn Sie hinkommen iſt alles zu.“
„Weiß Gott.“
„Alſo — fünfzehn Franken Strafe.“
„Fünfzehn Franken!“
„Aber Sie haben ja noch Zeit. Wo wohnen Sie?“
„Zwei Schritt hinter dem Tor. Eine Viertelſtunde von hier.
Rue de Vaugirard No. 87.“
„Na, wenn Sie Ihre Beine in die Hand nehmen, kommen
Sie noch raus. Und wenn Sie erſt draußen ſind, huſch huſch,
dann laufen Sie nach Hauſe, holen Ihre Karte, kommen wie—
der her und der Pförtner öffnet Ihnen. Wenn Sie die Karte
haben, brauchen Sie nichts zu bezahlen. Dann begraben Sie
Ihren Toten. Ich warte einſtweilen hier, daß er nicht ausrückt.“
„Ich ſchulde Ihnen das Leben, Bauer!“
„Aber jetzt los!“
Der Totengräber drückte ihm noch die Hand, dann lief er
davon. Als er verſchwunden war, beugte ſich Fauchelevent über
die Grube und rief leiſe:
„Vater Madeleine!‘
Nichts.
Fauchelevent ſchauderte. Er fiel mehr in die Grube als er
hinabſtieg und begann zu ſchreien:
„Sind Sie da?“
Totenſtille.
Fauchelevent, der kaum mehr Luft bekam, ergriff Hammer
und Stemmeiſen und ſprengte den Deckel ab. Im Sarge lag
Jean Valjean, blaß mit geſchloſſenen Augen.
335
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Fauchelevents Haare firäubten fih, er taumelte zurück.
Mob immer regte fih Jean Val
„Er ift tot”, murmelte Fauchelevent.
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Dann begann er zu ſchluchzen
[24
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Es ift Vater Meftiennes Schuld, feufzte er. Warum ift er
geftorben, der Trottel? Muß Érepieren, gerade wenn niemand
336
daran denkt. Er bat Herren Madeleine umgebraht! Water
Mabeleine. Es ift aus. Hat fo etwas einen Sinn? Mein Gott,
und die Kleine, was fange id nur mit der an? Was wird bie
Gemüfehändlerin fagen? Daß ein Menſch fo ftirbt, ift bas
möglih? Wenn ich mir vorftelle, daß derfelbe unter meinem
Magen war! Vater Mabeleine erftidt, wie ich es voraus-
gefehen babe. Er bat mir nicht glauben wollen. Ein fhôner
Blödfinn! est ift er tot, der brave Menfh! Und die Kleine!
Ma, zunächſt geh’ ich nicht nad Haufe. Ich bleibe hier. Zwei
Alte find nötig, damit eine doppelte Trottelei herausfommt,
Ichluchzte er. Wie er nur erft in bas Klofter bineingefommen
ift? Das war fchon der Anfang. So was maht man nid.
Vater Madeleine! Vater Madeleine! Madeleine! Herr Mabe-
leine! Herr Bürgermeifter! Er hört nicht. So, jetzt möcht' ich
wiflen, wie man da herauskommt.
Und er fuhr fi verzweifelt in die Haare. Aus der Ferne
Fang das Knirſchen der Torflügel herüber.
Sauchelevent beugte fi über Sean Valjean. Plötzlich aber
fuhr er fo weit zurüd, als er es in der engen Grube Fonnte.
Sean Valjean hatte die Augen geöffnet und fab ibn an.
Der Anbli eines Ioten ift unangenehm, der einer Aufer-
ftehung aber nicht weniger. Fauchelevent mar wie verfteinert, er
wußte nicht, ob er einen Lebenden oder einen Toten vor
fit babe.
„Ich bin eingefchlafen’‘, fagte Sean Valjean.
Und er feste fih auf.
„Heilige Mutter Gotteg,' rief Fauchelevent und fiel auf die
Knie, „Sie haben mir aber einen Schreck eingejagt!“
Die frifhe Luft hatte Sean Valjean gewedt.
„Mich friert”, fagte er.
Erft jest fand fih Fauchelevent in der Wirklichkeit, die
manches Dringliche hatte, zurecht.
„Geben wir rafch fort’, empfahl Fauchelevent.
Er ſuchte in feiner Iafche und holte eine Flaſche hervor.
„Aber zuerft einen Tropfen!”
22 Hugo, Die Elenden. 33]
Die Flaſche vollendete, was die frifche Luft getan. Sean
Valjean trank einen Schluck Aquavit und war wieder im DBoll-
befiß feiner Kräfte. Er Fletterte aus dem Sarg und half
Sauchelevent, ibn wieder zu vernageln. Drei Minuten fpäter
waren fie aus dem Graben.
Übrigens war Saucelevent ruhig. Man hatte Zeit. Der
Sriedhof war gefhloffen, Gribier Eonnte nicht Fommen. Der
„Rekrut“ war zu Haufe und fuchte feine Karte, die er gewiß
nicht finden würde, ba fie ja in Fauchelevents Taſche ſteckte.
Obne Karte Eonnte er den Friedhof nicht wieder betreten.
Saudelevent und Sean DBaljean vollendeten die Beerdigung
des leeren Sarges. Als die Grube zu war, fagte Fauchelevent:
„Sehen wir.’
Es war jest finftere Nacht.
Sean Valjean hatte es nicht Leicht, zu gehen. In dem Sarge
war er fteif gefroren wie ein Leichnam.
„Sie find ſteif“, fagte Fauchelevent. „Schade, daß ich lahm
bin, fonft Éénnten wir es auf einen Wettlauf anfommen laſſen.“
„Pah, in vier Schritten bin ich wieder frifch.”
Sie fhritten die Allee entlang. Als fie an dem Pavillon des
Pförtners vorbeifamen, warf Fauchelevent die Karte des Toten-
gräbers in den Schliß, die Schnur wurde gezogen, und die Tür
ging auf.
‚Alles in Ordnung”, fagte Fauchelevent befriedigt. „Ich
habe wirklich eine gute Idee gehabt.“
Sie kamen unbehelligt durch das Tor Vaugirard, denn
Schaufel und Spaten ſind in der Friedhofsgegend ſo viel wert
wie Päſſe.
In der Rue Vaugirard war kein Menſch zu ſehen.
„Vater Madeleine,“ ſagte Fauchelevent, der die Haus—
nummern eifrig ſtudierte, „Sie haben beſſere Augen als ich.
Zeigen Sie mir No. 87.“
„Wir ſtehen gerade davor.“
„Es iſt hier niemand auf der Straße,“ ſagte Fauchelevent,
„geben Sie mir den Spaten und warten Sie einen Augenblick.“
338
Als er in Gribiers Zimmer eintrat, fagte er:
„Ich bringe Ihnen Ihren Spaten.’
Gribier war höchſt erftaunt.
„Sie find es, Bauer?’
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„Ihre Karte finden Sie morgen früh beim Pförtner.”
„Was ſoll bas bedeuten?”
„Das bedeutet, daß Ihnen die Karte offenbar aus der Taſche
gefallen ift. Sch babe fie gleich nachher in der Grube gefunden,
babe die Sache abgemacbt und die Karte bem Pförtner gegeben.
29% 339
Sie können fie fit morgen abholen. Die fünfzehn Franken
brauden Sie nit zu bezahlen. So fteht die Sache, Rekrut!
„Vielen Dank, Bauer!’ rief Gribier entzüdt. „Und nächftes
Mal lade ih Sie sum Wein ein.‘
8. Das Verhör gut beftanden
Eine Stunde fpäter — es war fbon ftodfinftere Naht —
erfhienen zwei Männer und ein Kind in der fleinen Nue
Dicpus Mo. 62. Der ältere von beiden bob den Türflopfer
und pochte.
Die beiden hatten Eofette von der Gemüfehändlerin abgeholt,
bei der Fauchelevent fie geftern abend untergebradt hatte. Der
Pförtner, der bereits feine Ynftruftionen erhalten hatte, öffnete
die Fleine Pforte, die für das Dienftperfonal beftimmt war und
direft vom Hof in den Garten führte, Er geleitete die drei in
bas Spredzimmer, in dem Sauchelevent geftern die Aufträge
der Priorin empfangen hatte.
Sie faß bereits, mit ihrem Mofenfranz in Händen, in einem
Lebnftubl und wartete. Eine der Mütter ftand tief verfehleiert
neben ihr. Eine Kerze beleuchtete fpärlich den Raum.
Die Priorin ftreifte Sean DBaljean mit einem prüfenden
Blick. Niemand fiebt jchärfer als Menfchen, die immer ihren
Blick gefenft halten.
„Sie find der Bruder?’ fragte fie endlich.
„Ja, ehrwürdige Mutter‘, antwortete Fauchelevent.
„Wie beißen Sie?’
Wieder antwortete Fauchelevent: Ultime Fauchelevent.‘
Er hatte wirflic einen Bruder gehabt, der Ultime hieß.
„Und von wo find Sie?’
„Aus Piequigny bei Amiens“, antwortete Fauchelevent.
„Und wie alt find Sie?‘
Sauchelevent: „fünfzig Sabre.’
„Und welchen Beruf üben Sie aus?”
Sauchelevent: „Gärtner.
340
„Sind Sie ein guter Chriſt?“
Saudelevent: „Wie alle in meiner Familie.‘
„Und die Kleine gehört ihnen?”
Saudelevent: „Ja, ehrwürdige Mutter.’
„Sie find ihr Vater?‘
Saucelevent: „Ihr Großvater.’
Die Mutter fagte leife zu der Priorin:
„Er antwortet gut.’
Allerdings hatte Jean DBaljean noch Fein Wort gefprocen.
Die Driorin fab Cofette aufmerffam an und bemerfte leife
zu der Mutter:
„Sie wird häßlich werden.”
Diefe Prognofe bewies, daß Eofette gefallen hatte und einen
Sreiplat im Penfionat befommen würde,
Dann fprahen die beiden Nonnen noch einige Minuten in
einer Ede des Sprechzimmers, fchließlih wandte fib die
Priorin um:
„Vater Fauvent, Sie müffen einen zweiten Glodenriemen
beforgen. Wir brauchen jest deren zwei.’
341
Marius
Erstes Buch
Der Öroßbürger
1. Der Fleine Gavroche
Acht oder neun jahre nad den Ereigniffen, die im zweiten
Zeil diefer Gefchichte berichtet wurden, Éonnte man auf dem
Boulevard du Temple und im Gebiet des Château d'Eau einen
Eleinen jungen von elf oder zwölf Jahren fehen, der ganz gut
das "deal des Parifer Straßenjungen hätte darftellen Eönnen,
wenn er nicht froß des Lächelns, das er immer auf den Tippen
hatte, ein verdüftertes und leeres Herz gehabt hätte. Diefer
unge trug die Hofe eines Mannes, aber er hatte fie nicht von
feinem DBater; und das Hemd einer Frau, aber bas hatte er
nicht von feiner Mutter. Irgendwelche fremden Leute hatten
ihn aus Mitleid folhermaßen gekleidet.
Und doch hatte er Vater und Mutter. Aber fein Vater
dachte nicht an ihn, und feine Mutter Liebte ihn nicht. Er war
einer jener beflagenswerten Knaben, die Vater und Mutter
haben und doch Waiſen find.
Diefer unge fühlte fih nur auf der Straße einigermaßen
glücklich. Ihr Pflafter war nicht fo hart wie bas Herz feiner
Mutter. Mit einem Fußtritt hatten feine Eltern ibn ins Leben
hinausgeſtoßen.
| Er war ein blaffer, ſchwächlicher Junge, dabei aber wider-
ftandsfähig, Tebhaft, aufgemedt. Immer auf den Beinen. Er
fang und fpielte, durchſchnüffelte die Minnfteine, hielt für fein
Eigentum, was ibm in die Finger fam, aber nad Art der
Raben und der Spatzen, heiter und unbefangen; er lachte, wenn
man ibn Sausbub, ärgerte fih, wenn man ihn Miftftü nannte.
343
Er hatte fein Obdach, kein Brot, Fein Feuer, wurde von nie-
mand geliebt; aber er war fröhlich, denn er war frei.
Wenn arme Gefhöpfe diefer Art zu Männern heranwachſen,
geraten fie faft immer mit der fozialen Ordnung in Konflikt
À
|
und werden von ihr 3ermalmt; folange fie Élein find, entwinden
fie fih dem Zugriff, flüchten in dag Fleinfte Loc.
Aber fo verlaffen diefer Junge aud war, gefbab es doch,
wenn auch nur alle zwei oder drei Monate einmal, daß er fi
fagte: Hallo, jest geh’ ih Mama befuhen! Dann verließ er
344
den Boulevard, entfernte fih aus der Vannmeile des Zirkus
und der Porte Saint-Martin, flieg zu den Quais hinab, über-
querte die Brüden und fpazierte durch die Dorftädte nad der
Salpetriere. Und wo landete er? In jenem Haufe No. 50 bis 52,
bas der Leſer fon Éennt, in dem Haufe Gorbeau.
Zu jener Zeit war bas Haus Mo. 50 bis 52, bas fonft leer
ftand und immer eine Tafel „Zimmer zu vermieten‘ aushängen
hatte, feltfamerweife von mehreren Perfonen bewohnt, die übri-
gens, wie das in Paris der Brauch ift, untereinander Feine Se-
ziehungen pflegten. Sie alle gehörten jener Klaffe der Armen
an, die mit dem herabgefommenen Kleinbürger beginnt und bis
zu den niedrigften Stufen der fozialen Ordnung berabfteigt, bis
zu jenen Leuten, die mit den Meften der Zivilifation ihr Weſen
treiben, dem Straßenfehrer und dem Lumpenfammler.
Die Bermalterin aus der Zeit Jean Daljeans war geftorben
und dur ein ganz ähnliches Geſchöpf erfeßt worden. Irgendein
Ppilofoph bat gefagt: An alten Weibern ift nie Mangel.
Diefe neue Alte hieß Frau Burgen und hatte in ihrem Leben
faum etwas DBemerfenswertes zu verzeichnen, von einer
Dynaſtie von drei Papageien abgefehen, die der Reihe nach ihr
Herz beberrfcht hatten.
Die Elendeften unter den Bewohnern des Gorbeaufhen
Haufes waren vier Leute, Vater, Mutter und zwei fon ziem-
lib erwachſene Töchter, die alle zufammen einen der dürffigen
Räume, die der Lefer fon Éennt, bewohnten.
Außer ihrer überaus drücdenden Armut bot diefe Familie
nichts DBemerfenswertes. Der Vater hatte, als er bas Zimmer
mietete, gefagt, er heiße Jondrette. Etwas fpäter aber, als er
nämlich bereits eingezogen war (wofür die Dermieterin dag
Mort geprägt hatte: eingezogen ohne nichts), hatte er zu Frau
Burgon gefagt:
„Frau Soundſo, wenn zufällig jemand kommt und nad)
einem Polen oder taliener, oder gar nad einem Spanier
fragt, fo bin id dag.’
345
Diefe Familie war die des luftigen Barfüßers aus der Klaffe
der Straßenjungen. Wenn er in ihren Schoß zurückkehrte, fand
er dort wohl große Mot, aber, flimmer nod, Fein Lächeln;
Falten Herd und kalte Herzen. Wenn er eintrat, fragte man ibn:
„Woher Eommft du?’
‚Don der Straße”, antwortete er.
Und wenn er ging, fragte man ihn: „Wohin gebft du?‘
„Auf die Straße.”
Seine Mutter fragte ihn wohl aud:
„Was willſt du nur hier?‘
Der Junge ertrug diefen Mangel an Gefühl, wie Keller-
pflanzen die Dunkelheit. Er begriff davon nichts, litt nicht bar-
unter und war nicht böfe darüber.
Allerdings liebte feine Mutter feine Schweftern.
Wir vergaßen zu jagen, daß der Bube auf dem Boulevard
du Temple der Éleine Gavrode genannt wurde. Warum Ga-
vroche? Dielleicht weil fein Vater Jondrette hieß.
Ale Bande löſen, ift in gewiflen verelendeten Familien foft
ein Inſtinkt. Die Stube der Vonbrettes war die lebte am
Korridor. Den Nahbarraum bewohnte ein fehr armer junger
Mann, der fih Herr Marius nennen ließ.
Unfer Lefer wird bald erfahren, wer diefer Herr Marius war.
2. Dreiundneunzgig Jahre
und zweiunddreißig Zähne
In der Rue Boucherard, in der Nue de Normandie und in
der Rue de Saintonge gibt es noch alte Leute, die ſich eines
gewiflen Herrn Gillenormand erinnern und gern von ibm er-
zählen. Diefer Mann war alt, als fie noch jung waren. Seine
Silhouette ift für jene, die melandolifh in das Reich der
Schatten (wie wir gerne die Vergangenheit nennen) zurüd-
blifen, noch nicht ganz verfehwunden aus dem Labyrinth der
346
u —
Gäßchen rings um den Temple, die unter Ludwig XIV. die
Mamen aller franzöfiihen Provinzen trugen, fo wie man heute
die Straßen im Quartier Tivoli — ficheres Zeichen des Fort-
fhritts — nad den europäischen Hauptftädten nennt.
Herr Gillenormand, der fogar noch 1831 Tebte, zählte zu
jenen Menfchen, die nur wegen ihres phantaftifchen Alters, und
weil fie bereits bei Lebzeiten einer vergangenen Epoche anzu—
gehören fcheinen, merkwürdig find. Er war ein fonderbarer
Alter, wirklich ein Menfh aus einer anderen Zeit, der voll-
endete Typus des etwas überbeblihen Großbürgers aus dem
achtzehnten Jahrhundert, aus jener Zeit, da die gufe alte
Bourgeoifie auf ihren Stand ebenfo ſtolz war wie die Grafen
auf den ihren. Er war fon über neunzig jahre alt, ging auf: :
recht, fprad laut, fab Élar, trank tüchtig, aß, fehlief, ſchnarchte.
Mob Hatte er feine zweiunddreißig Zähne. Nur zum Lefen fehte
er Brillen auf. Mob immer war er lüftern, aber er fagte, daß
er fon feit zehn jahren vollends den Frauen entfagt babe. Er
fonnte, fagte er, nicht mehr gefallen. Nicht, weil er zu alt war,
aber weil er nicht die nötigen Mittel beſaß. „Wenn ich nicht
ruiniert wäre ... oho!“
In der Tat war ihm nur eine Rente von fünfzehntauſend
Franken jährlich verblieben. Sein Traum war, eine Erbſchaft
von hunderttauſend Franken Jahresertrag zu machen und ſich
Mätreſſen anzuſchaffen. Kurz, er zählte nicht zu jenen gebrech—
lien Adhtzigiährigen, die, wie Voltaire, ihr ganzes Leben im
Sterben gelegen find, er war nicht einer jener angebrochenen
Zöpfe, die gerade darum alt werden; immer hatte er fich gut
gefühlt. Er war oberfläblih, raſch von Entſchluß, heftig. Bei
| jeder Kleinigkeit geriet er in Wut, zumal ohne jede vernünftige
Begründung. Widerfprah man ibm, fo bob er den Stod.
Seine Dienftboten prügelte er nach der Sitte des großen Yabr-
hunderts. Er hatte eine Tochter von über fünfzig Jahren, die
unverheiratet geblieben war; die verdrofh er, wenn er in Wut
geriet, und wenn e8 darauf angekommen wäre, hätte er fie am
liebften mit der Peitſche gezüchtigt. Für ibn war fie höchſtens
347
acht Jahre alt. Seine Dienftboten ohrfeigte er und fagte zu
ihnen: „Schweinehund! Kein Fluch war ihm grob genug.
Dabei war er von verwunderliher Seelenruhe. Täglich ließ er
fit von einem Barbier rafieren, der geiftesfranf geweſen war
und ihn verabfheute, weil er auf Gillenormand wegen feiner
Grau, einer hübſchen, jungen Sarbiersfrau, eiferfükhtig war.
Herr Gillenormand bildete fi felbft etwas auf feine Nadläffig-
feit ein und fagte, er laffe fih nicht einfhüchtern. Oder:
„Ich bin wirklich febr farffinnig. Wenn mid ein Floh
348
beißt, weiß ich, bei welchem Srauenzimmer id ihn erwifcht
habe.’
Seine Lieblingsausdrüde waren „der emypfindfame Mann’
und „die Natur”. Zumal diefem lebteren Wort verlieh er nicht
jenen angenehmen Sinn, den unfere Zeit ihm beilegt. Aber
wenn er am Kamin foß, äußerte er fich über fie etwa wie folgt:
„Damit die Zivilifation an allem ihren Teil bat, forgt die
Natur dafür, daß die barbarifhen Dinge uns in amifanter
Form dargeboten werden. Europa befißt die Schäße Afiens und
Afrifos in Éleinerem Format. Die Katze ift der Salontiger,
die Œibedfe das Iafchenfrofodil. Die Tänzerinnen von der
Over find füße Eleine Kannibalen. Sie freffen zwar Feine Men-
ſchen, aber fie faugen fie aus. Die reinften Zauberinnen! Der-
wandeln unfereinem in eine Aufter und fohlürfen ihn aus zwi—
fhen zwei Schluden Wein. Die Karaiben laſſen nur die
Knochen übrig, die Mädchen von der Oper nur den leeren
Beutel."
Er wohnte im Marais, Nue des Filles Du Calvaire Mo. 6.
Das Haus gehörte ibm. Es ift inzwifchen abgeriffen worden,
und vielleicht bat das Grundſtück heute fogar eine andere Num—
mer befommen, da ja in den Parifer Straßen nichts beim
alten bleiben durfte. Er felbft bewohnte ein altes, geräumiges
Appartement im erften Stock, bis zu den Plafonds mit großen
Gobelins tapeziert, die Schäferfjenen darftellten; und die
gleihen Sujets wurden in Éleinerem Format auf Stuhlbezügen
wiederholt.
Er hatte Sinn für Malerei. In feinem Zimmer hatte er
ein herrliches Porträt eines Unbefannten, ein Werf des Vor-
daeng, in großen, Fühnen Pinfelftrihen gemalt, zugleich aber
überreih an Föftlichen Details.
Eine feiner Theorien lautete: Wenn ein Mann fehr hinter
den Weibern ber ift, ſich aber aus feiner eigenen Frau nichts
mat, weil fie häßlich ift, fo gibt es für ihn nur ein einziges
Mittel, feinen Frieden zu behalten: er überläßt feiner Frau die
Verwaltung feines Vermögens. Diefes Opfer mat ihn frei.
349
Vebt ift die Frau befbäftigt, findet bald Gefhmadf an diefen
Dingen, kümmert fih um die Pächter und Schulöner, berät
fi mit den Anwälten, unterhandelt mit dem Motar, Feift mit
den Schreibern, fühlt fih dabei als Herrin, fauft, verkauft,
gewährt Zeffionen, arrangiert alles, fpart, verfehwendet — Furz,
fie mat Dummbeiten, genießt aber das volle Glück perfönlichen
Lebens und findet darin ihren Troſt. Ihr Mann veracdhtet fie,
aber fie bat wenigftens die Genugtuung, ihn ruinieren zu
dürfen.
Gillenormand hatte diefe Theorie felbft in die Praris um-
gefeßt, und fo war er zu feiner Gefchichte gefommen. Denn
feine zweite Frau hatte fein Vermögen fo verwaltet, daß Gilfe-
normand eines Tages, Witwer geworden, gerade noch fünfzehn-
taufend Sranfen Rente behielt, von denen fogar drei Viertel
nur Leibrenten waren. Er kränkte fi nicht darüber, denn um
feine Erben kümmerte er fich nicht. Übrigens lebte er in einer
Zeit, die wußte, was aus Erbfhaften werden Fann, zum Bei—
jpiel, daß fie zum Nationalgut erflärt werden.
Sein Haus gehörte ja ihm. Er hielt fi) zwei DBediente, „ein
Mannsbild und ein Frauenzimmer‘‘. Sooft er einen Dienft-
boten wechfelte, gab er ihm einen neuen Namen. Die Männer
nannte er nad ihrer Herkunft Mimois, Comptois, Poitevin,
Picard. Sein Iekter Diener war ein plumper, afthmatifcher
Kerl von fünfundfünfzig Jahren, der Feine zwanzig Schritte
laufen konnte, aber da er aus Bayonne war, nannte ihn
Gillenormand Baske. Dagegen bießen alle feine weiblichen
Dienftboten Micolette. Eines Tages meldete fih bei ihm ein
Ungetüm von Köchin, ein Monftrum aus der Raſſe der
Dienftboten.
„Wieviel verlangen Sie monatlih?” fragte Gillenorman.
„Dreißig Franken.”
„Wie heißen Sie?”
„Olympia.“
„Du kriegſt fünfzig Franken, aber du heißt Nicolette.‘
350
3. 3wet find nodb fein Paar
Gillenormands zwei Töchter waren in einem Abftand von
zehn Jahren nacheinander geboren. In ihrer Jugend waren fie
einander wenig ähnlich gewefen, fhienen fowmohl dem Cbarafter
als dem Ausfehen nach kaum Schweftern. Die Jüngere war
ein liebenswürdiges Gefchöpf, allem Lichten zu geneigt, ſchwär—
meriſch vernarrt in Blumen, Pferd und Mufif; immer
ſchwebte fie in höheren Regionen, war enthufiaftifch, betete ſchon
als Kind die Sdealgeftalt irgendeines Helden an. Auch die
Ältere hatte ihre Schimäre. Das Azur ihres Himmels war ein
Groffift, irgendein reiher Munitionslieferant, ein blöder, aber
verfehwenderifher Menſch; oder ein Präfekt. Frau Präfekt zu
fein, hätte ihr auch gefallen.
So hatten beide Schweftern fhon in ihrer jugend ihre ver-
fhiebenen Ideale. Die eine ftrebte ihrem auf Engelsfittichen
entgegen, die andere auf den Flügeln einer Gans.
Aber bier auf Erden findet Fein Ehrgeiz reftlofe Befriedi-
gung. Das Paradies ift nun einmal Feine irbifhe Angelegen-
heit, und gar in unferen Zeiten. Die jüngere hatte den Mann
ihrer Träume geheiratet, aber fie ftarb bald. Die Ältere befam
feinen Mann.
Zu der Zeit, da fie in unfere Geſchichte eintrat, war fie be-
reits eine etwas bejabrte Tugend, eine ungenießbare, prüde
Derfon mit der fpiseften Mafe und dem ftumpfften Verſtand
von der Welt. Ein charafteriftifches Detail: außerhalb der
engften Familie wußte niemand ihren Vornamen. Sie ließ ſich
nur ‚das ältere Fräulein Gillenormand“ nennen.
Was den cant anging, Fonnte fie es mit jeder Miß auf-
nehmen. Sie war das Schamgefühl in Perfon. Die entfeglichfte
Erinnerung ihres Lebens war, daB ein Mann einmal ihr
Strumpfband gefehen hatte.
Das Alter hatte diefe erbitterte Schamhaftigfeit noch ge-
reizt. Ihr Brufttuh war nie dunfel genug und reichte nie hoch
genug. Stecknadeln brachte fie überall an, wo Fein Menſch
351
binfeben wollte. Es ift eigentüumlich für die Prüderie, daß fie
überall Schildwachen aufftellt, wenn aud die Feftung gänzlich
unbedroht ift.
Erfläre wer Fann, daß fie fih ohne Mibfallen von einem
jungen Offizier der Lanzenreiter, ihrem Großneffen Iheodule,
küſſen ließ.
Sie hatte eine Freundin, eine nicht minder eifrige Kirch:
gängerin und alte Sungfer, des Namens Mademoifelle Dau-
bois; ein vollfommen ſchwachſinniges Gefhöpf, neben dem
Fräulein Gillenormand noch als Genie gelten Éonnte. Dom
Agnus Dei und Ave Maria abgefeben, hatte Fräulein Vaubois
nur Anfichten über die verfehiedenen Methoden, Früchte einzu-
werfen. Sie war ein Mufterftücf ihrer Art.
Wir müffen einräumen, daß Fräulein Gillenormand mit zu-
nehmendem Alter eher gewann. Eigentlid bösartig war fie ja
nie gewefen, und das ift ja faft fhon Güte; ihre Krallen waren
von den Jahren abgeftumpft worden, fie war jeßt auf eine felt-
fame Weife traurig, ohne felbft recht den Grund angeben zu
Eönnen. Ihr ganzes Wefen war Staunen über ein Leben, das
zu Ende ging, bevor es begonnen hatte.
Sonft gab es im Haufe nur nod ein Kind, einen Éleinen
ungen, dem es die Rede verfhlug, wenn Gillenormand nur
in die Nähe Fam. Der fprad nur fireng, ja fogar mit erhobe-
nem Stock zu dem Kleinen.
„Hierher, Herr Schlingel, vorwärts, Saufejunge! —
Bengel! Daß ich dich mal zu ſehen kriege, Strabanzer!“
Und er vergötterte den Jungen. Es war ſein Enkel.
ZweitesBuch
l. Ein Salon von Anno dazumal
As Gillenormand nod in der Rue Servandoni wohnte,
frequentierte er einige fehr gute, höchſt erflufive Salons. Ob-
wohl er felbft ein Bürgerlicher war, hatte er dort Zutritt. Er
war Elug, doppelt Elug, denn einmal befaß er feine wirkliche
392
Klugheit, dann aber auch jene, die man ihm nur zufraute —
und darum war er fogar gefucht. Und er ging nur in ein Haus,
in dem man ihm eine dominierende Rolle bewilligte. Es gibt
Leute, die um jeden Preis Einfluß haben wollen und verlangen,
daß man fit mit ihnen beſchäftigt. Wenn fie nicht als Orakel
den Ton angeben EFönnen, fo wollen fie es wenigftens als
Doffenreißer. Gillenormand gehörte nicht zu dieſen Leuten. Um
in den rovaliftifhen Salons, die er befuchte, zu berrfhen, legte
er feiner Selbftahtung Feine Opfer auf. Überall war er bas
Orafel.
Gegen 1817 bradte er mit unumftôBliber Megelmäßigfeit
wöchentlich zwei Nachmittage im Haufe feiner Nachbarin, der
Baronin de T. zu, einer refpeftablen Dame, deren Gatte unter
Ludwig XVI. Botfhafter in Berlin gewefen war. Der Baron
war während der Revolution als Emigrant geftorben und binter-
ließ feiner Gattin, als begeifterter Anhänger des Magnetismus,
nichts weiter als zehn in rotes Maroquinleder gebundene banb-
ſchriftliche Werke — feine höchſt erftaunlihen Betrachtungen
über Mesmer. Madame de T. hatte, um ihrer Würde nichts
zu vergeben, darauf verzichtet, biefes Werk der Öffentlichkeit
zugänglich zu machen, und lebte von einer Eleinen Mente, die
ihr von irgendwo, Genaueres wußte man darüber nicht, zufloß.
Zum Hofe unterhielt fie Feine Beziehungen, weil ihr die Ge-
fellfhaft dort zu gemifcht war. Einige ihrer Freunde verfammel-
ten fich zweimal wöchentlich um den Kamin ihres Witwenſitzes
und bildeten fo einen höchſt ronaliftifhen Salon. Man tranf
Zee, ftieß, je nachdem, ob die Zeitftimmung gerade elegifd oder
dithbyrambifh war, Seufzer oder Entrüftungsfchreie aus über
das Sahrhundert, über die Verfaſſung, über die Vonapartiften,
» über die Proftitution des Blauen Bandes durch feine Ver—
leihung an DBürgerliche, über den Safobinismus Ludwigs XVIIL;
und man unterhielt fi leife über die Hoffnungen, zu denen
Seine Königlihe Hoheit, der fpätere Karl X., berechtigte,
hörte mit Entzücken Gaffenbauer, in den Napoleon Nicolas
genannt wurde. Herzoginnen, die zarteften und reizendften
23 Hugo, Die Elenden. 3573
Frauen der Welt, gerieten außer fid vor Dergnügen über
ordinäre Spottlieder. Dumme Kalauer, die man furdtbar
zyniſch fand, erregten Senfation.
Mie mandhe Kirchen Türme, fo hatte der Salon der Ba—
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ronin I. zwei Löwen. Der eine war Gillenormand, der andere
der Graf de la Motte-Valois, von dem man einander mit Hoch—
achtung ins Ohr flüfterte:
„Sie wiflen doc, der de la Motte von der Halsbandaffäre!‘
Die Parteien erlaffen oft recht eigenartige Amneftien.
354
Gillenormand erfhien gewöhnlich in Begleiung feiner To:
ter, diefes Fräuleing, bas bereits die Vierzig liberfritten hatte
und wie eine Fünfzigerin ausfab, und eines Éleinen Jungen von
fieben Jahren mit frifher Haut, roten Baden und vergnügten
Augen, bei deffen Eintritt die Leute zu flüftern pflegten:
„Wie bübfh er ift! Wie ſchade! Das arme Kind!’
Und fo nannte man ibn, weil er „einen Briganten von der
Loire’! zum Water hatte.
Diefer Loirebandit war Herrn Gillenormands Schwieger-
fobn, und Gillenormand nannte ibn den Schandflef auf dem
Schilde feiner Familie.
2. Ein „roter Shred” aus jenen Tagen
- Wer zu jener Zeit über die ſchöne monumentale Brücke des
Fleinen Städtchens Vernon fohritt, bas nun, wie wir wohl
hoffen, bald auch burd ein neuzeitliches Scheufal aus Eifen
erfeßt werden wird, und bei diefer Gelegenheit über die Brü-
ftung binabfab, fonnte einen etwa fünfzig Jahre alten Mann
bemerken, der eine Tedermüße, Hofen und ade aus grobem,
grauem Tuch und Holzpantinen trug; an der Joppe war etwas
DBraunes, ein Band, bas früher einmal rot gemwefen, zu er-
fennen. Das Gefiht des Mannes war fonnverbrannt, fein
Haar weiß. Eine lange Marbe 309 fich quer über die Stirn bis
zur Bade bin. Er war gebeugt, vorzeitig gealtert und befchäf-
tigte ſich faſt täglich, einen Spaten und eine Hade in der Hand,
in einem der Fleinen Gärtchen unterhalb der Pride.
Er bewohnte um 1817 ein befcheidenes Häuschen im Ufer-
gelände, lebte einfam und dürftig und hatte nur eine Frau, die
weder jung no alt, weder ſchön noch häßlich, weder ftädtifch
noch ländlich war, als Dienerin bei fih. Das Stückchen Land,
bas er feinen Garten nannte, war weit und breit befannt wegen
der Schönheit der Blumen, die er 309. Denn diefe Blumen zu
ziehen, war feine Befchäftigung.
23* 399
Bei Morgengrauen ging er fon an die Arbeit, führte einen
febr befcheidenen Tiſch, trank eher Milch als Wein. Er war
ſchüchtern, ja fogar faft menfhenfheu, ging felten aus und fab
faft nur die Armen, die um ein Almofen vorfprachen, oder den
DPfarrer des Ortes, den Abbe Mabeuf, einen gutmütigen, alten
Mann. Wenn aber jemand aus dem Dorfe oder aud ein
Sremder, wer immer e8 fein mochte, an feiner Tür fchellte, um
fit die fhönen Mofen zu befeben, wurde er freundlih auf-
genommen.
Diefer Gärtner war der Brigant von der Loire.
Menn jemand die Memoirenwerfe, die Biographien, Zeitun-
gen und Bulletins jener Zeit aufmerffam ftudiert, ftößt er wohl
des öfteren auf den Namen Georges Pontmercy.
Georges Pontmercy war ganz jung in das Megiment von
Saintonge eingetreten. Die Revolution hatte ihn mitgeriffen.
Das Regiment von Saintonge war ein Teil der Rheinarmee.
Auch nad dem Sturz der Monarchie behielten die alten Negi-
menter ihre Namen, erft 1794 wurde die Einteilung in Bri-
gaden durchgeführt. Pontmercy fchlug fi) bei Speyer, Worms,
Meuftadt, Türkfheim und Mainz, wo er zu den zweihundert
Leuten der Nachhut Houchards gehörte. Gegen das Korps des
Prinzen von Heflen hielt er mit zwölf Mann Andernah und
309 ſich erft zurüd, als eine feindlihe Kanone eine Breſche in
die Schanze geriffen hatte. Unter Kleber foht er bei Mar-
iennes, und bei Mont-Paliffel verlor er feinen Arm.
Man fandte ibn nach Italien, und dort war er mit Joubert
einer der Derteidiger des Col di Tenda. Joubert wurde dort
Generaladjutant, Pontmercy Unterleutnant. Bei Lodi ftürmte
er mit Berthier mitten ins wildefte Feuer, an jenem Tage, da
Bonaparte fagte: Berthier war Kanonier, Grenabier und Ka-
vallerift. Bei Novi fab er feinen alten General Voubert in dem
Augenblic fallen, in dem diefer den Säbel zog und ſchrie:
„Vorwärts!“
1805 gehörte er zur Diviſion Malher, die den Erzherzog
Ferdinand aus Günzburg warf, bei Auſterlitz zeichnete er ſich
356
in jenem berühmten Staffelaufmarfch, der mitten im ärgften
Feuer durchgeführt wurde, aus. Als die Faiferlich ruffifche Garde
ein Bataillon unferes vierten Linienregiments vernichtete, ge-
hörte Pontmercy zu jenen, die Nahe übten und jene Garde
zerrieben. Der Kaifer gab ihm dafür bas Kreuz der Ehren-
legion. Er war dabei, wie Wurmfer in Mantua, Melas in
Aeflandria, Mad in Ulm gefangen wurde. Später gehörte er
zu jenem adıten Korps der großen Armee, das unter Mortiers
Kommando Hamburg eroberte. Er wurde zu den Fünfundfünf-
jigern, einem flandrifchen Regiment, verfeßt und ftand bei
Eylau auf jenem Friedhof, auf dem der heldenhafte SHaupt-
mann Louis Hugo, der Onkel des Verfaſſers, mit dreiundacdhtzig
Mann zwei Stunden lang eine feindliche Armee aufhielt. Pont-
mercy war einer der drei Männer, die diefen Friedhof lebenbdig
verließen. Er fab Friedland, Moskau, die Bereſina, Lützen,
Bauen, Dresden, Wahau, Leipzig und Gellenhaufen; fpäter
Montmirail, Château-Thierry, Craon, die Marne und die
Asne. In Arnay-le-Due war er bereits Kapitän, fäbelte zehn
Kofafen nieder und rettete zwar nicht feinen General, aber
feinen Korporal. Dabei wurde er fo jämmerlich zerfekt, daß
ihm allein aus dem linfen Arm fiebenundzwanzig Knochenfplit-
ter gefchnitten werden mußten. Acht Tage vor dem Sturz von
Paris taufhte er mit einem Kameraden und trat in die Ka-
vallerie ein. Er begleitete Napoleon nah Elba, war bei Wa-
terloo Esfadrondef der Rüraffiere von der Brigade Dubois.
Damals erbeutete er die Fahne des Lüneburger Bataillons und
legte fie dem Kaifer zu Füßen. Er war bereits mit Blut be-
deeft. Bei der Eroberung der Fahne hatte er einen Säbelhieb
quer dur bas Gefiht befommen. Als der Kaifer ibm zurief:
„Du bift Oberft, Baron, Offizier der Ehrenlegion!“ antwortete
Pontmercy: „Sire, id danke Ihnen im Namen meiner Witwe.’
Eine Stunde fpäter fiel er in der Schlucht von Obain. Dort
war es, wo er, aus einer Obnmadt erwachend, einen Leichen-
fledderer für feinen Metter hielt: Thenardier.
Und dies war der Brigant von der Loire.
357
Die Meftauration hatte ibn auf Halbfold gefest und hatte
ihm, wohl um ihn beffer überwachen zu können, Vernon als
Aufenthaltsort zugewiefen. Ludwig XVIII. wollte alles, was
während der Hundert Tage gefheben war, nicht anerkennen,
und darum wurde Pontmercn weder als Offizier der Ehren-
legion, no als Dberft, nob als Baron angenommen. Do
unterlief er es nie, feine Briefe zu unterfchreiben:
Oberft Baron Pontmercy
Er hatte nur einen alten blauen Nod, aber niemals ging er
aus, ohne die Mofette des Offisiers der Ehrenlegion anzufteden.
Der Profurator des Königs ließ ihm mitteilen, daB er wegen
unberechtigten Iragens diefer Auszeichnung zur Rechenſchaft
gezogen würde. Pontmerch antwortete dem Überbinger diefer
Botfhaft mit bitterem Lächeln:
„Entweder verftehe ich nicht mehr Franzöſiſch, oder Sie fpre-
hen es nicht richtig; jedenfalls begreife ich nicht.”
Dann ging er acht Tage lang mit feiner Nofette aus. Man
wagte nicht, ihn zu behelligen. Zwei- oder dreimal fandte er
dem Kriegsminifter und dem Departementlommandanten ‘Briefe
zurüd, auf denen er Major Pontmercy tituliert wurde. Er
handelte darin nicht anders als Napoleon, der auf Sanft He-
lena Briefe des Sir Hudfon Lowe an den „General Bona—
parte’! zurückwies.
Einmal begegnete er auf der Straße dem Profurator, ging
auf ihn zu und fagte:
„Herr Profurator des Königs, ift es mir erlaubt, meine
Narbe zu tragen?’
Er beſaß nichts als ben fehr Fläglihen Halbfold eines
Esfadrondefs. In Vernon hatte er das Fleinfte Häuschen
gemietet, bas man dort finden konnte. In der Zeit des Kaifer-
reich8 hatte er einmal, zwifchen zwei Kriegen, einen Urlaub be-
nüßt, um Fräulein Gillenormand zu heiraten. Der alte Groß-
bürger war verärgert, mußte aber flieflih mit einem Seufzer
darein willigen und fagen: „Sogar die größten Familien
398
bringen Opfer.” 1815 war Frau Pontmercy, übrigens eine be-
wunderungswerte, hochgebildete und ihres Gatten würdige Dame,
geftorben. Sie ließ ein Kind zurüd. Dies Kind war die Freude
des Oberften, aber fein Schwiegervater verlangte den Enfel
energijch zurück und erflärte, daß er ihn, wenn er ihm nicht
ausgefolgt würde, enterben werde. Im Intereſſe des Kleinen
hatte ver Vater nachgegeben und hatte verfucht, in den Blumen
einigen Erfaß zu finden.
Übrigens hatte er allem entfagt, nahm weder an Verſchwörun—
gen no an legalen Bewegungen teil. Nur unfhuldige Dinge
befhäftigten ihn; fonft Iebte er in feiner Dergangenheit. Er
pflegte eine Roſe oder träumte von Auſterlitz.
Gillenormand unterhielt feinen Verkehr mit ibm. Für ihn
war der Oberft nur ein Bandit, während er für den Oberften
ein Spießbürger war. Gillenormand fyrad nie von dem Ober-
ften, es fei denn, um fit über feine Baronie luftig zu maden.
Man hatte verabredet, daß Pontmercy Éeinen Verfud unter-
nehmen würde, feinen Sohn zu fehen oder mit ihm zu fprechen.
Die Gillenormands wollten den Jungen nah ihren Anſchau—
ungen erziehen. Vielleicht hatte der Oberft unrecht getan, ſolche
Bedingungen anzunehmen, aber er hatte geglaubt, feinem Sohn
zu nüßen und nur fi felbft ein Opfer aufzuerlegen.
Das Erbe des alten Gillenormand war nicht beträchtlich, aber
Fräulein Gillenormand Éonnte ein großes Vermögen binter-
laflen. Diefe jungfräulich gebliebene Tante war von ihrer Mut-
ter ber reich, und ihr Neffe war ihr natürliher Erbe. Das
Kind, bas den Namen Marius trug, wußte wohl, daß es einen
Dater befaf, aber nicht mehr. Niemand Äußerte etwas bar:
über. Aber in der Gefellfaft, in die der Großvater es führte,
gab es ein ewiges Flüftern, Tuſcheln und Augenzwinfern, und
aus allen diefen Außerungen, die er auffehnappte, Éonnte der
Knabe fit ein Bild von feinem Dater zufammenfegen. Test
dachte er nur mehr mit dem Gefühl der Befhämung an ibn.
Während er fo heranwuchs, Fam der Oberft alle zwei oder
drei Monste einmal heimlich nah Paris, wie ein Derbrecer,
359
der aus feinem Gefängnis entfpringt, und begab fid zur
Stunde, da die Tante Gillenormand Marius zur Meffe führte,
nad Saint-Sulpice. Zitternd vor Angft, die Tante Eönnte fit
ummenden, verborgen hinter einem Pfeiler, lauerte er und be-
obachtete feinen jungen. Diefer alte Soldat mit der Narbe
fürchtete fi vor einer alten Jungfer.
Go entftand aud feine Bekanntſchaft mit dem Pfarrer von
Vernon, dem Abbe Mabeuf.
Diefer wadere Priefter war der Bruder des Kirchenälteften
von Saint-Sulpice, bem der Mann mit der Marbe auf der
Wange und den Tränen in den Augen mehrmals aufgefallen
war. Diefer Mann, der fo männlich ausfah und wie eine Frau
weinte, hatte ben Kirchenälteften in Staunen verfeßt. Er hatte
fein Gefiht im Gedächtnis behalten, und als er eines Tages in
Vernon feinen Bruder befuchte, begegnete er dort Pontmercy.
Er fprad mit bem Pfarrer davon, und die beiden machten dem
Oberften unter irgendeinem Vorwand einen Beſuch. Weitere
Beſuche folgten. Der Oberft war zuerft febr verſchloſſen ge-
wefen, ging aber fpäter aus fit heraus, und fchließlih erfuhr
der Kirchenältefte, wie Pontmercy fein Glück der Zufunft feines
Sohnes geopfert hatte. Der Pfarrer faßte eine große Zu-
neigung zu dem Oberft, die erwidert wurde. Inzwiſchen war der
Salon der Baronin T. alles, was der junge Marius Pont-
merch von der Welt fab. Ein düfteres Fenfter, burd bas man
eher Ausbli auf Kälte denn auf Wärme, eher auf die Nacht,
denn auf den Tag gewann. Das Kind war feiner Natur nad
heiter veranlagt, aber es wurde bald trübfinnig und ernfter, als
es feinem Alter anftanb.
Wie alle jungen Leute, mußte er irgend etwas ftudieren. Alg
Zante Gillenormands Weisheit nicht mehr ausreichte, wurde er
einem würdigen Lehrer anvertraut, einem Manne von bôdfter
klaſſiſcher Unſchuld. Die junge Seele wechfelte von einer alten
Jungfer zu einem ledernen Schulmeifter hinüber. Marius fam
auf bas Gymnafium, endlich ftudierte er Jura. Er war Noyalift
von ftrengfter Obfervanz. Seinen Großvater, deflen Heiterfeit
360
und Zynismus ibm mißfiel, Éonnte er nicht leiben, und an
feinen Vater dachte er nur ungern.
Übrigens war er feurig und Ealt, vornehm, großmütig, ftolz,
eraltiert, rechtfchaffen bis zur Härte gegen fich felbft, rein bis
zur Abfonderlichkeit.
3. Der Tod des Danditen
Ungefähr zur felben Zeit, da Marius feine Studien be-
endigte, 309 fit Gillenormand endgültig aus der Gefellfchaft
zurück. Der Greis fagte dem Faubourg-Saint-Germain abieu,
verabfchiedete fih von Madame de T. und überfiedelte in fein
Haus in der Mue des Filles-du-Calvaire. Seine Dienerfchaft
entließ er und beſchränkte fit auf Nicolette und den Basken,
die wir bereits dem Leſer vorgeftellt haben.
1827 follte Marius fiebzehn fahre alt werden.
As er eines Abends nah Haufe Fam, trat ibm fein Grof-
vater mit einem Briefe entgegen.
„Marius, fagte er, „du fährft morgen nah Vernon.“
„Wozu?“
„Du mußt deinen Vater beſuchen.“
Marius fuhr zuſammen. Alles, nur dies nicht hatte er er-
wartet, daß er feinen Dater jemals von Angefiht zu Angeficht
feben follte. Die Vorſtellung Éam ihm unerwartet und war ihm
peinlih. Er empfand nicht ein Bedauern, er fühlte fit ge-
demütigt.
Marius war, von feinen politifhen Gefühlen abgefehen, über-
zeugt, daß fein Vater, der Säbelraßler, wie ibn Gillenormand
nannte, ihn nicht liebe; bas war doch fehließlich Elar, denn wie
hätte er fonft feinen Sohn verlaffen und anderen anvertrauen
Eönnen. Marius glaubte fich nicht geliebt und liebte nicht.
Er war fo verblüfft, daß er Gillenormand fragte.
„Er ift, fheint es, Eranf. Er verlangt nach dir”, fagte der
Großvater. „Reife morgen früh. Sch glaube, von der Cour des
361
Sontaines geht um fehs Uhr früh ein Wagen ab, der abends
ankommt. Nimm diefen.”
Damit zerfnitterte er den Brief und ſteckte ihn in die Tafche.
Marius hätte aud am Abend reifen und ſchon am nächſten
Morgen bei feinem Vater fein können. Eine Poftlinie verfoh
damals den Nachtdienſt nad) Mouen und berührte Vernon.
Aber weder Gillenormand no Marius dachten daran, fi zu
erkundigen.
Am Abend des nücdften Tages Fam der junge Mann nad
Vernon. Man war gerade dabei, die Kerzen anzuzünden. Er
fragte den erftbeften, wo bas Haus des Herrn Pontmercy fei.
Er war ein Parteigänger der Meftauration und wollte feinem
Vater weder den Oberftenrang no die Baronie bewilligen.
Man zeigte ihm das Haus. Er fhellte und eine Frau, die
eine Éleine Lampe in der Hand hielt, öffnete.
„Wohnt bier Herr Pontmercy?’
Die Frau antwortete nicht.
„Iſt es hier?’
Die Frau nickte mit dem Kopf.
„Kann ich mit ihm ſprechen?“
Sie ſchüttelte den Kopf.
„Ich bin ſein Sohn, er erwartet mich.“
„Er erwartet Sie nicht mehr.“
Jetzt bemerkte er, daß ſie weinte.
Sie deutete auf ein niedriges Zimmer; er trat ein.
In dem von einer Kerze, die am Kamin ſtand, erleuchteten
Raum befanden ſich drei Männer: einer ftand aufrecht, einer
Éniete, ein dritter lag, in ein Hemd gehüllt, lang ausgeſtreckt
auf dem Boden. Das war der Oberft.
Die beiden anderen waren der Arzt und ein Priefter, der die
Totenwache hielt.
Der Oberft war vor drei Tagen von einem heftigen Fieber
befallen worden. Son fhlimmen Ahnungen geplagt, hatte er
an Gillenormand gefchrieben und nad feinem Sohne verlangt.
Bald nabm die Krankheit eine fblimme Wendung. Am Abend
362
der Ankunft Marius’ in Dernon hatte der Oberft in einem
Fieberanfall fih aus dem Bett entfernt und gerufen: „Mein
Sohn kommt nit! Ich gehe ihm entgegen!”
Er hatte fein Zimmer verlaffen, war aber im Vorzimmer
gufammengebrochen und bald geftorben.
Man rief den Arzt und den Priefter. Sohn, Arzt und Prie-
fter famen zu ſpät.
Im ſchwachen Schein des Kerzenlichtes Éonnte man auf der
narbigen Wange des Oberften eine fhmere Träne fehen, die
fit aus feinem toten Auge gelöft hatte. Das Auge war er-
lofhen, die Träne nod nicht vertrodnet. Sie hatte der Der-
fpâtung feines Sohnes gegolten.
Marius betrachtete diefen Mann, den er zum erftenmal fab
und zugleich zum leßtenmal, diefes edle, männliche Gefibt, diefe
offenen, jest blidiofen Augen, diefe weißen Haare und diefe
fräftigen Glieder. Braune Narben zeigten überall Spuren von
Säbelhieben, Flecken die Einfhüffe von Kugeln. Der Junge
betrachtete die gewaltige Marbe auf dem Seldenantlis, dem
Gott bot das Mal der Güte eingeprägt hatte. Er bedadıte, daß
diefer Mann fein Vater fei, und jeßt tot — aber er blieb Fait.
Die Traurigkeit, die er verfpürte, war biefelbe, die der An—
blif jedes anderen Toten in ihm ausgelöft hätte.
Und doch war in diefem Zimmer die Trauer eingezogen. Die
Magd ſchluchzte in einem Winkel, der Priefter betete und hörte
ihn feufzen, der Arzt trocdnete fih die Augen; fogar der Leich—
nam weinte. Der Arzt, der Priefter und die. Magd beobadıteten
inmitten ihrer Trauer Marius, ohne ein Wort zu äußern; er
war ein Fremder. Er empfand faft feine Nührung und fhämte
fib, faft verlegen, feiner Haltung. Er ließ feinen Hut zu Boden
fallen, um vorzutäufchen, der Kummer lähme ihn, aber im
nächſten Augenblick fühlte er Gewiffensbiffe und veracdhtete fic,
weil er fo gehandelt hatte.
Der Oberft hinterließ nichts. Der Verkauf der Möbel dedte
die Koften der Beerdigung. Die Magd fand einen Zettel, den
fie Marius übergab.
363
„An meinen Sohn!
Der Kaifer bat mich auf bem Schladhtfelde von Waterloo
zum Baron gemadt. Da die Meftauration mir den Titel,
den ich mit meinem Blute erfauft habe, verweigert, foll mein
Sohn ihn annehmen und tragen. Er wird gewiß feiner
würdig fein.‘
Auf der Rückſeite ftand:
„In berfelben Schlacht bei Waterloo bat mir ein Ser-
geant das Leben gerettet. Diefer Mann beißt IThenardier.
Er unterhält jeßt, foviel mir befannt ift, in einem Dorf bei
Paris, in Chelles oder Montfermeil, eine Herberge. Wenn
mein Sohn ihm begegnet, fol er für ihn alles tun, was in
feinen Kräften ſteht.“
Nicht aus Liebe zu feinem Vater, aber aus jenem ungemiflen
Reſpekt heraus, den der Tod uns immer einflößt, nahm Marius
dag Papier und ftecfte es ein.
Sonft blieb nihts von dem Oberſten übrig. Gillenormand
ließ feinen Degen und feine Uniform einem Trödler verkaufen.
4 Nutzen einer Meffe:
Marius wird Mevolutionär
Marius hatte die religiöfen Gepflogenheiten feiner jugend
beibehalten. Eines Sonntags war er nad) Saint-Sulpice ge-
gangen, um in derfelben Marienfapelle die Meſſe zu hören, in
die ihn feine Tante früher fo oft geführt hatte. Er war an
diefem Tage zerftreuter und nachdenkliher als fonft. Darum
vielleicht war er auf einem mit Utredhter Samt bezogenen Bet-
ſchemel niedergefniet, auf bem eine Tafel befeftigt war:
nMabeuf, Kirchenältefter‘.
Diefe Meſſe hatte kaum begonnen, als ein Greis zu ihm
frat und fagte:
„Mein Herr, dies ift mein Platz.“
364
Marius trat baftig beifeite, und der Greis nahm feinen
Platz ein.
As die Meffe beendigt war, blieb Marius, in Gedanfen ver-
funfen, fteben. Wieder trat der Greis zu ihm.
UM
—8
„Entſchuldigen Sie, mein Herr, daß ich Sie eben erſt ge—
ſtört habe und es jetzt wieder tue; Sie mußten mich ungezogen
finden, darum muß ich mich entſchuldigen.“
„Es iſt ganz unnötig, mein Herr.“
„Doch,“ ſagte der Greis, „ich will nicht, daß Sie ſchlecht
365
von mir denken. Sehen Sie, ih hänge an diefem Plas. Ich
höre die Meffe hier lieber als anderswo. Warum? Ich will es
Ahnen offen fagen. Bon diefem Plats aus babe ich jahrelang
alle zwei oder drei Monate einmal einen armen, braven Vater
beobachtet, der Feine andere Gelegenheit fand, feinen Sohn zu
feben, denn Familienzerwürfniſſe hatten die beiden getrennt. So
fam er hierher zur Stunde, da fein Sohn die Meſſe hörte. Der
unge ahnte wohl nicht, daß fein Vater hier war. Vielleicht
wußte er in feiner Unſchuld kaum, daß er überhaupt einen
Vater hatte. Der Mann ftand hinter dem Pfeiler, damit man
ihn nicht fehen follte, fab feinen jungen an und meinte. Er
liebte den Kleinen über alle Maßen, der arme Menſch. Seither
ift mir biefer Ort heilig, und ich höre immer hier die Meffe.
Sc ziehe diefen Platz ſogar dem in der Banf vor, auf den ich
als Kirchenältefter Anſpruch babe. Ich babe übrigens diefen
unglüdlihen Mann ein wenig Éennengelernt. Er hatte einen
Schwiegervater, Verwandte, näheres weiß ich nicht, die den
ungen enterben wollten, wenn bas Kind den Vater aud nur
fähe. So bat fih der Mann geopfert, damit fein Sohn eines
ages reich und glücklich ift. Die Familienfeindſchaft hatte po-
litifhe Gründe. Ich begreife ja, daB man in der Politif feine
eigene Meinung bat, aber manche Leute willen Feine Grenzen
zu ziehen. Mein Gott, weil ein Mann bei Waterloo mitgefämpft
bat, ift er noch Fein Ungeheuer, um einer folhen Sade willen
trennt man nicht Vater und Sohn. Der Mann war ein Oberft
Donapartes. Er ift fhon tot, foviel ich weiß. Er lebte in Ver—
non, wo mein Bruder Pfarrer ift. Er hieß Pontmarie oder
Montpercy ... einen furchtbaren Säbelhieb hatte er im Geſicht.“
„Pontmercy“, fagte Marius erblaflend.
„Richtig, Pontmerey. Haben Sie ihn gekannt?”
„Er war mein Vater“, fagte Marius.
Der Kirchenältefte faltete die Hände und rief aus:
„Sie find der unge?! Ach ja, jest muß es ja wohl ſchon
ein Mann fein. Ob, Sie Fünnen wahrhaftig fagen, daß Ihr
Vater Sie geliebt hat!’
366
Marius bot dem Greis feinen Arm und führte ihn nad
Haufe. Am nähften Tag fagte er zu Gillenormand:
„Ich babe mit einigen Freunden eine längere Yagbpartie ver-
abredet. Wollen Sie mid für drei Tage beurlauben?‘'
„Sür vier‘, erwiderte der Großvater. „Geh nur und amü—
fiere dich gut.‘
Er blinzelte feiner Tochter zu und fagte:
„Da fteft ein Srauensimmer dahinter!
5. Ergebniffe
des Gefpräbes mit dem Kirhenälteften
Wohin Marius fuhr, wird der Lefer fpäter erfahren. Er
blieb drei Tage fort, dann fehrte er nad Paris zurüd, eilte
fhnurgerade in die Bibliothef der Rechtsſchule und verlangte
die Sommelbände des „Moniteur“.
Er las den „Moniteur“, las die Gefchichte der Republik
und des Kaiferreichs, bas Memorial von St. Helena, Zeitun-
gen, Bulletins, Proflamationen. Alles verfhlang er. Als er
dem Mamen feines Daters zum erftenmal begegnete, hatte er
eine Woche lang Fieber. Dann befuchte er alle alten Generäle,
unter denen fein Vater gedient hatte. Den Kirchenälteften Ma-
beuf bat er, ihm von dem Leben in Vernon zu erzählen, von
dem Altersfiß des Oberften, feiner Einfamfeit und feinen Blu—
men. Schließlid gelangte Marius fo weit, bas Leben biefes er-
babenen und fanften Menfhen, diefes Löwen und Lammes zu-
gleich, ganz zu Fennen.
Diefe Befhäftigung nahm feine ganze freie Zeit, all feine
Gedanken in Anſpruch, fo daß er fich bei den Gillenormande
faum mehr blicken ließ. Bei den Mahlzeiten erfhien er; fuchte
man ihn fpäter, fo war er fort. Die Iante murrte. Papa
Gillenormand lächelte.
„Na, er Éommt jest in die Zeit‘, fagte er. „„Zeufel, der legt
fi) aber ins Zeug! Mir fcheint, das ift eine wahre Leidenfchaft.”
Gleichzeitig vollzog fih in Marius eine vollftändige geiftige
367
Wandlung. Die Gefhichte, die er ftudierte, wurde ibm eine
neue Wahrheit.
Zuerft blendete fie ihn. Republik, Kaiferreih, alles das waren
für ihn bisher nur Worte gemefen. Die Republik — eine
Guillotine in der Dämmerung, das Kaiferreih ein Säbel in
der Naht. Wo er nur Finfternis zu finden glaubte, hatte er
mit unerhörtem Staunen, in bas fit Furcht und Freude mifchte,
edle Sterne erftrahlen feben. Er wußte nicht, wohin er geraten
war. Der Glanz des Nuhmes blendete ihn. Sobald die erfte
Derwunderung vorüber war, gewöhnte er fi daran, er be-
gann wieder Flar zu feben und prüfte die Geftalten der Ge-
fhidte unvoreingenommen. Seht nahmen Nepublif und Kaifer-
reich neue Geftalten an. Beide ftellten gewaltige Taten dar.
Die Republik bedeutete die MWiedereroberung der Menfchen-
rechte durch das Volk, bas Kaiferreich den Siegeszug der fran-
zöfiffhen bee durh Europa. Er fab in der Revolution die
gewaltige Erfheinung des Dolfes, im Kaiferreich die Miefen-
geftalt Frankreichs fi) aufreden. Und er begriff, daß dies alles
gut gewefen jet.
löslich war ibm Flar, daß er bis zu biefem Augenblick weder
fein Sand noch feinen Vater begriffen hatte. Weder fein Land
no feinen Vater hatte er gekannt, hatte in einer Art frei-
williger ‘Blindheit gelebt.
"jest beflagte er, daß er nur mehr vor einem Grabe fagen
fonnte, was feine Seele bedrüdte. Der Kummer darüber Tieß
ihm Feine Ruhe, jeder Atemzug war ein Seufzen, und er wurde
ftrenger, ernfter und feines Glaubens fiherer. Immer neue Er-
kenntniſſe erfchloffen fih ihm. Es war ein einziges großes,
inneres Wachſen.
Als diefer geheimnisvolle Prozeß beendigt war, der aus einem
„Ultra“ und Bourbonenanhänger einen Noyaliften, einen Re—
volutionär, Demofraten, ja fogar Republikaner gemacht hatte,
ging er zu einem Kupferfteher auf dem Quai des Orfèvres
und beftellte hundert Vifitenfarten auf den Namen:
Baron Marius Pontmercy.
368
Das war nur die logifhe Folgerung des Wandels, der fi
in ihm vollzogen hatte und der von feinem Vater ausging. Da
er aber feine Bekannten hatte und feine Karten doch nicht bei
Pförtnern abgeben Eonnte, behielt er fie in der Taſche.
Eine weitere natürliche Folge diefer inneren Wandlung war,
daß er fih im Ausmaße, in dem er feinem Vater näherfam,
von feinem Großvater entfernte. Wir haben bereits gejagt, daß
Gillenormands Charakter ibm unangennehm war. Die Heiter-
feit des Geronten widerftrebt der Melancholie eines Werther.
Solange gemeinfame politifhe Anfchauungen die beiden ver-
banden, Eonnte Marius Gillenormand auf einer Brücke ent-
gegenfommen. Sekt war die Drüde eingeftürzt, eine Kluft
trennte die beiden. Ynsbefondere aber empörte es Marius, daß
es ja Gillenormand war, der ibn aus albernen Gründen mit-
leiblos von feinem Vater getrennt hatte.
Dod ließ er von allem nichts merfen. Mur wurde er immer
älter. Bei den Mahlzeiten war er lafonifch, im Haufe fab man
ihn felten. Wenn feine Tante murrte, war er höflich und ent-
fbulbigte fih mit Studien, Eramen, Vorträgen und Kurfen.
Auf einer feiner Fleinen Reiſen war er nah Montfermeil
gefommen, um dem Wunſch feines Vaters zu folgen, und hatte
den alten Sergeanten von Waterloo, den Herbergsmwirt Thé:
nardier, gefucht. Thenardier war in Konkurs gegangen, und
man wußte nicht, was aus ihm geworden war.
„Weiß Gott,’ fagte der Großvater, „er baut über die
Stränge!”
Man glaubte bemerkt zu haben, daß er auf der Bruft unter
dem Hemd einen Gegenftand frug, der an einem ru
Bande hing.
6. Irgendein Srauenzsimmer
Mir fprahen fon von einem Lanzenreiter.
Das war ein Großneffe des Herrn Gillenormand, der fern
von der Familie und allen häuslichen Herden ein Garnifon-
24 Hugo, Die Elenden. 369
leben führte. Leutnant Théodule Gillenormand erfüllte alle Be—
dingungen, die nötig find, um für einen hübfchen Offizier zu
gelten. Er hatte eine Taille wie ein Mädchen, eine fabelhafte
Art, den Säbel zu fchleppen, und einen Mordsfhnurrbart. Er
kam febr felten nad Paris. So felten, daB Marius ihn noch
nie gefeben hatte. Theodule war, wie wir wohl fhon angedeutet
haben, der Günftling der Tante Gillenormand.
Eines Morgens war Fräulein Gillenormand die Ältere fo
erregt, wie fie nur fein fonnte. Marius hatte fon wieder von
feinem Großvater Urlaub zu einer Fleinen Reiſe erlangt. Auch
fie glaubte jeßt an ein mehr oder weniger lafterbaftes Aben-
teuer, an eine dunkle Frauengefhichte, und fie befhlof, die
Sache unter ihre Brille zu nehmen. Einem Geheimnis nad-
zufpüren — bas ift auch für Heilige ein Vergnügen. Bigotterie
und Freude am Skandal find oft verbündet.
Sie war alfo die Beute wilder Meugierde.
Eben befhäftigt, mit einer mühſamen Handarbeit ihre Ner-
ven zu beruhigen, hörte fie, wie die Türe geöffnet wurde. Sie
bob die Mafe, da ftand Leutnant Iheodule vor ihr und grüßte
firamm. Man mag alt fein, prüd, gottergeben, Tante fogar,
einen Lanzenreiter fiebt man immer gern in feinem Zimmer.
„Du bift es, Théodule!“
„Auf der Durchreife, Tante.”
„Umarme mi!”
Er gebordbte. Sante Gillenormand trat zu ihrem Sekretär
und ſchloß ihn auf.
„Du bleibft doch diesmal minbeftens eine Woche?“
„Tantchen, ich reife heute abend.‘
„Unmöglich!“
„Aber mit mathematiſcher Genauigkeit vorgezeichnet.“
„Aber wenn ich dich bitte, kleiner Théodule?“
„Das Herz ſagt ja, die Marſchroute nein. Die Sache iſt
einfach. Garniſonwechſel. Früher Melun, jetzt Gaillon. Halben-
wegs Paris. Da dachte ich: Tante beſuchen.“
„Hier haſt du etwas für deine Mühe.“
370
Sie ftecfte ibm zehn Louisdor in die Hand.
„Sagen Sie dodh für mein Vergnügen, Tantchen.“
Théodule umarmte fie nod einmal, und fie genoß das Ber-
gnügen, fit den Hals von der Verſchnürung feines Uniform-
kragens rigen zu laflen.
„Reiteſt du zu Pferd mit dem Regiment?’
„Dein, Tante, ich babe eine befondere Route. Mein Diener
führt das Pferd, ich reife mit der Poft. Übrigens muß ich Sie
etwas fragen.”
„Was denn?”
„Mein Better Marius Pontmercy reift auch?’
nBober weißt du das?’ fragte die Tante gefpannt.
„Ich war gleich nach meiner Ankunft auf der Poft und babe
einen Platz belegt. Da fab ich auf der Lifte feinen Namen.’
„Der ſchlechte Kerl! Ach, dein Vetter ift Fein fo ordentlicher
Burſche wie du. Jetzt fißt er die ganze Nacht in der Poſtkutſche!“
„Wie ich.’
„Aber du tuſt es, weil es deine Pflicht ift, er nur aus
Laſterhaftigkeit.“
„Hoho“, ſagte Théodule.
Jetzt hatte Fräulein Gillenormand eine Idee. Wäre ſie ein
Mann geweſen, hätte ſie ſich vor die Stirn geſchlagen.
„Weißt du, daß dein Vetter dich nicht kennt?“ fragte ſie.
„Ich habe ihn einmal geſehen, aber er hat mich damals nicht
ſeiner Aufmerkſamkeit gewürdigt.“
„Ihr reiſt alſo zuſammen?“
„Er auf dem Verdeck, ich im Coupé.“
„Und wohin?“
„Nach Andelys.“
„Alſo dorthin fährt Marius?“
„Wenn er nicht halbenwegs ausſteigt. Ich für meinen Teil
verlaſſe die Poſt in Vernon. Seine Route kenne ich nicht.“
„Denke dir nur, Marius! Was für ein ſcheußliche Name! Was
für eine Idee, ibn fo zu nennen. Da iſt doch Theodule viel ſchöner!“
„Ich möchte gerne Alfred heißen.“
24° 371
„Hör' mal, Theodule!‘
„Ich bôre ja, Tantchen.“ |
‚Marius bleibt oft von zu Haufe fort. Macht Reiſen.“
„Soſo!“
„Er ſchläft außer Haus.“
„Oho!“
„Und wir möchten gerne wiſſen, was dahinterſteckt.“
Mit tiefſter Ruhe erwiderte Theodule:
„Irgendein Frauenzimmer.“
„Offenbar“, rief die Tante, die glaubte, Herr Gillenormand
zu hören. „Tu uns einen Gefallen. Geh dem Marius ein wenig
nach. Er kennt dich ja nicht, du haſt es leicht. Suche dieſes
Frauenzimmer zu ſehen und ſage uns, was es damit auf ſich
hat. Es wird dem Großvater Spaß machen.“
Théodule hatte keine große Neigung zu ſolchen Dienſten,
aber die zehn Louis hatten auf ihn einen großen Eindruck ge—
macht, und er dachte, man könne es auf eine Fortſetzung an—
kommen laſſen. Darum nahm er den Auftrag an und ſagte:
„Ganz wie Sie wünſchen, Tante.“
Ich als Duenna, dachte er beluſtigt.
Fräulein Gillenormand ſchloß ihn in ihre Arme.
„Er iſt nicht wie du, Théodule, du würdeſt ſo etwas nicht tun.
Du folgſt der Diſziplin, hältſt dich ſtreng an die Vorſchriften,
biſt ein Mann mit Gewiſſen und Pflichtgefühl. Du würdeſt
nicht deiner Familie entlaufen, um ſolch ein Geſchöpf zu ſehen.“
Der Kavalleriſt ſchnitt ein Geſicht wie ein Gauner, der
wegen ſeiner Ehrlichkeit gelobt wird.
Am ſelben Abend ſtieg Marius in die Poſtkutſche, ohne zu
ahnen, daß er einen Wächter bekommen hatte. Dieſer Wächter
allerdings hatte zunächſt nichts Wichtigeres zu fun als ein-
zufchlafen. Er gab fi) dem Schlaf der Geredten bin. Argus
ſchnarchte eine Nacht lang.
Im Morgengrauen hörte er den Kondufteur rufen:
„Vernon! Pferdewechfel in Vernon! Die Meifenden für
Vernon ausſteigen!“
12
Er wurde munter.
„Richtig, murmelte er, „bier muß id ja heraus!’
Allmählich ordneten ſich feine Gedanken, die Tante fiel ihm
ein, er gedachte der zehn Louis und des Auftrags, über Marius
Bericht zu erftatten. Er mußte laden.
Wahrſcheinlich ift er ſchon längſt ausgeftiegen, dachte er,
während er feinen Uniformro® zufnöpfte. In Boiſſy, Zriel,
Meulan oder fonftwo. Lauf ihm nad, Tantchen! Was fol ich
ihr nur fchreiben, der braven Alten?
In diefem Augenblif wurden vor der Fenfterfcheibe des
Coupés zwei ſchwarze Hofenbeine fihtbar, die gerade vom Ber-
def herabfletterten.
Es war Marius.
Ein Bauernmädchen fland vor dem Wagen, zwiſchen Pfer-
den und Poftillions, und bot den Meifenden Blumen zum Kauf.
Marius trat zu ihr und Faufte die fchönften aus ihrem Korbe.
Hola, date Iheodule und fprang aus dem Coupe, das ift
ja intereffant! Was mag bas nur für ein Weib fein, dem er
jolhe Blumen bringt? Das muß ja ein Pradteremplar fein,
nad dem Bukett zu fchließen. Das muß man fih anfchauen!
Jetzt war es nicht mehr fein Auftrag, fondern die perfönliche
Neugierde, die ihn veranlaßte, Marius zu folgen; er war ge-
wiffermaßen ein Hund, der auf eigene Rechnung jagt.
Marius achtete nicht auf Iheodule. Elegante Damen fliegen
aus der Rutfhe. Er würdigte fie Feines Blickes. Er ſchien nichts
zu feben.
Er ift liebestoll, dachte Théodule.
Marius ging zur Kirche.
Sabelbaft, dachte Theodule, die Kirche! Ein Rendezvous, ge-
ſchmackvoll mit einer Mefle verbunden, läuft immer gut ab.
Man maht den Frauen befonders fbône Augen, wenn der
liebe Gott zufieht.
Aber Marius trat nicht ein. Er ging um die Kirche herum
und verfhwand hinter einem der Strebepfeiler der Apfis.
313
Aha, fie treffen fit draußen, meinte Iheodule. Sekt auf-
gepaßt!
Auf den Zehenfpisen ſchlich er näher. löslich blieb er ver-
blüfft fteben.
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374
7. Marmor gegen Granit
Leutnant Iheodule verlor vollfommen die Faſſung. Ein pein-
fiches, unanalyfierbares Gefühl bemächtigte fit feiner, eine
Mihung aus Scheu vor dem Grabe und Reſpekt vor dem
Oberft. Als er surüdirat, war in feiner Bewegung etwas wie
Difsiplin. Hier trat ihm der Tod mit großen Epauletten gegen-
fiber, faft hätte Iheodule falutiert.
Er wußte nicht, was er der Tante freiben follte und be-
fchloß, überhaupt nichts zu tun. Vielleicht wäre aus Théodules
Entdefung gar nichts geworden, wenn nicht dur einen jener
Zufälle, die das Schidfal fo gern in bas menfchlihe Leben
fireut, die Szene von Vernon faft unmittelbar in Paris eine
Art Pendant gehabt hätte.
Marius fam am dritten Tage frühmorgens von Dernon
zurüc, ging in bas Haus feines Großvaters und eilte fofort in
fein Zimmer; zwei Nächte in der Poftkutfche Hatten ihn er-
müdet, und er empfand bas Bedürfnis, fi) irgendwie, etwa
durch einen Befuh der Schwimmfhule, zu erfrifchen; darum
nahm er fid nur Énapp die Zeit, feinen Mod zu wecfeln und
bas ſchwarze Band abzulegen, dag er immer um den Hals trug;
dann eilte er in das Bab.
Gillenormand ftand wie alle rüftigen Greife frühzeitig auf.
Er hatte feinen Enkel zurückkommen gehört und eilte, fo rafch
wie ihn feine alten Beine trugen, in das Zimmer Marius”
hinauf, um ihn zu begrüßen und ein wenig auszuhorden.
Aber der unge war rafber binabgelaufen, als der Greis
binauffteigen Éonnte, und als Vater Gillenormand in die Man-
farde trat, war Marius fehon fort. Das Bett war nod un-
berührt, der Mod und bas ſchwarze Band lagen darauf. Offen-
bar hatte ihr Beſitzer fie arglos hier liegenlaffen.
Das ift mir noch Fieber, dachte Gillenormand.
Einen Augenblid fpäter trat er triumphierend in den Salon,
in dem Fräulein Gillenormand faß und an einer Stiderei
arbeitete, deren Mufter an die Mäder eines Kabrioletts
375
erinnerten. In der einen Hand hielt er den Mod, in der anderen
das Halsband.
‚Bir haben gefiegt! Gleich werden wir in bas Geheimnis
eindringen: jest lernen wir die geheimen Wege des Laſters
fennen! Hier haben wir den Moman, bier haben wir bas
Porträt!‘
In der Tat hing an dem Band ein Fleines Täſchchen aus
Ihwarzem Leder, einem Medaillon nicht unähnlich.
Der Greis betradhtete es einige Zeit lang, ohne es zu Öffnen,
gierig, entzückt und mit der Wut eines armen verhungerten
Zeufels, vor deffen Augen ein wunderbares Souper angerichtet
wird — aber nit für ihn.
„Es ift beftimmt das Porträt. Auf folhe Dinge verftehe ich
mich. Das trägt man nun zärtlich auf dem Herzen. Sind biefe
Burfhen blöde! irgendeine alberne Stumpfnafe jedenfalls, vor
der einem übel wird — die jungen Leute haben heute gar feinen
Geſchmack mehr!’
„Laß feben, Vater”, fagte die alte Jungfer.
Aber fie fanden nur ein forgfam zufammengefoltetes Stüd
Papier darin.
„Sie an ihn,” ladte Gillenormand, „ein Billetdoux!“
„Ab, wir wollen es leſen“, fagte die Tante und feßte die
Brille auf. |
Sie entfalteten das Papier und fanden folgendes:
„An meinen Sohn!
Der Kaifer hat mich auf dem Schlachtfelde von Waterloo
zum Baron gemadt. Da die Meftauration mir den Titel,
den ich mit meinem Blut erfauft babe, verweigert, foll mein
Sohn ibn annehmen und tragen. Er wird gewiß feiner wür-
dig fein.’
Was Vater und Tochter empfanden, läßt fi ſchwer wieder-
geben. Es war ihnen zumute, als ob ihnen aus einem Toten-
fopf ein eifiger Hauch entgegenwehte. Sie ſprachen Fein Wort.
Endlich murmelte Gillenormand:
376
„Es ift die Handſchrift des Säbelraßlers.“
Die Tante prüfte das Schriftftücd und ſteckte e8 dann wieder
in dag Etui.
Sm felben Augenblick fiel ein Éleines, rechtedfiges Paketchen,
in blaues Papier gewidelt, aus der Nocdtafhe. Fräulein Gil-
lenormand bob es auf und nahm es aus bem Umfhlag. Es
waren die Vifitenfarten Marius’. Gillenormand lag:
Baron Marius Pontmercy.
Der Greis fhellte. Nicolette trat ein. Gillenormand nahm
das Band, das Etui und den Mod, warf alles mitten im Salon
zu Boden und rief:
„Schaffen Sie das Zeug hinaus!”
Eine lange Stunde verftrih in tiefftem Schweigen. Vater
und Tochter ſaßen in ihren Stühlen, Eehrten einander den Rük—
fen und dachten offenbar basfelbe. Nah einer Stunde fagte
Sante Gillenormand endlich:
„Jette Sache, dag!’
Kurz nachher erfhien Marius. Schon auf der Schwelle be-
merfte er, daB fein Großvater eine feiner DVifitenfarten in
Händen hielt; und im felben Augenbli begann der Alte mit
dem ganzen überlegenen Hohn des Großbürgers zu fchimpfen.
„Hoho, du bift jett Baron! Alle Achtung! Und was fol das
bedeuten?”
Marius errötete leicht, dann antwortete er:
„Das bedeutet, daß id der Sohn meines Vaters bin.’
Sofort hörte Gillenormand auf zu lachen und antwortete
hart:
„Dein Vater bin ich.”
Mit niedergefchlagenen Augen und finfterer Miene antwor-
fete Marius:
„Mein Dater war ein befheidener und Fühner Mann, der
der Mepublif und Frankreich ruhmvoll gedient hat, Anteil ge-
nommen bat und groß war in dem herrlichften Teil der Ge-
fhidte, der je von Menfchen erlebt worden ift, ein Mann, der
377
ein Dierteljaprhundert im Selblager sugebradt bat, fich bei
Tag dem Feuer der Gewehre und Kanonen, des Nachts dem
Regen, Sturm und Schnee ausgefeht hat, der zwei Fahnen er-
oberte, zwanzigmal verwundet wurde und elend und verlaffen
ftarb, und der nur einen einzigen Fehler beging, nämlich den,
zwei Undankbare allzufehr zu Lieben, fein Land und feinen
Sohn.”
Das war mehr als Gillenormand ertragen Éonnte. Bei dem
Wort NRepublif war er aufgeftanden oder, beffer gefagt, auf-
gefahren. Tedes Wort Marius’ übte auf bas Gefibt dieſes
alten Royaliſten diefelbe Wirfung aus wie ein Blafebalg auf
glübende Kohlen. Er war purpurrot geworden.
„Darius, brüllte er, „abſcheulicher unge, ich weiß nicht,
wer bein Dater war, und id will eg nicht wiffen! Michts weiß
ih, gar nichts, aber eins weiß ich, daß alle diefe Kerle nur
Schurken waren! Alle zufammen nur Bettler, Mörder, ver-
fluhte Notmüsen, Diebsgefindel! Alle fage ich, alle! Verftebft
du? Du bift als Baron nicht mehr als mein Pantoffel! Alle
waren fie Banditen, diefe Schufte, die bem Mobespierre dienten,
alle Verräter, Verräter an ihrem rechtmäßigen König. Feig-
linge, die vor den Preußen und Engländern in Waterloo davon-
gerannt find! Das weiß ih. Wenn dein Herr Dater einer von
denen war, fo will ich nichts davon wiffen, und es ift ſchlimm
genug.‘
Test war Marius Feuer und Gillenormand Slafebalg.
Der unge zitterte an allen Gliedern, feine Stirne brannte.
Endlich bob er die Augen, fab feinem Großvater ftarr ing Ge-
ſicht und brüllte:
„Nieder mit ben Bourbong, nieder mit diefem fetten
Schwein Ludwig XVIII.!“
Ludwig XVIII. war in diefem Augenblic bereits vier Jahre
tot, aber bas war ja gleichgültig.
Der Greis wurde jeßt ebenfo weiß wie feine Haare. Zweimal
ging er langfam und fchweigend vom Kamin bis zum Fenfter,
fo fhwer, daß die Dielen krachten, wie eine Statue aus Stein.
318
Test neigte er fit zu feiner Tochter herab, die verſchüchtert mie
ein altes Schaf dafaß, und fagte mit einem faft ruhigen
Lächeln:
„Ein Baron wie der Herr und ein Bürger wie ich können
nicht unter dem gleichen Dad) leben.“
Gleich darauf fuhr er wieder hoch und jchrie, den Arm aus-
ſtreckend:
„'raus!“
Marius verließ das Haus.
Am nächſten Tage ſagte Gillenormand zu ſeiner Tochter:
„Du ſchickſt dieſem Blutſauger halbjährlich ſechzig Piſtolen
und ſprichſt niemals von ihm.“
Drittes Buch
Die freunde des A⸗B⸗C
l. Anwärter auf die Weltgefhidte
Jene Zeit war nur fheinbar apathifch. Überall regten fit
revolutionäre nftinfte. Der Geift von neunundahtzig und
zweiundneunzig war wieder in der Luft. In der Jugend regte
es fi. Ohne es felbft zu merfen, folgten die Menfchen dem
Drang der Zeit, eine Wandlung vollzog fih in ihnen. Der
Uhrzeiger, der unaufbaltfam vorfreitet, bewegte fih aud in
den Seelen. jeder tat feinen Schritt vorwärts, die Movaliften
wurden liberal, die Liberalen Demokraten.
Es gab damals in Frankreich noch nicht jene gewaltigen Ge-
heimorganifationen wie den Œugendbund in Deutfhland und
die Carbonari in Italien; aber im Dunfel rührte es fich be-
reits. Die Cougourd wurde in Air gegründet; in Paris gab es
unter anderen ähnlichen Briberfhaften biefer Art die Gefell-
Ihaft der Freunde des A-B-C.
Mer waren diefe AB-E-Leute? Eine Gefellfehaft, die es fi
angeblih zum Ziele gefeßt hatte, für die Kindererziehung zu
wirfen, in Wirklichkeit aber die Ermedung der Erwachſenen
379
betrieb. Es waren ihrer nicht viele; eine Geheimgefellfchaft, ge-
wiffermaßen nod im Embryonalzuftand. In Paris hatte fie zwei
Verfammlungslofale, bei den Halles, eine Kneipe namens Co-
rinthe, am Pantheon ein Éleines Café, das Cafe Mufain;
Corinthe war das Verfammlungslofal der Arbeiter, Café Mu-
fain bas der Studenten.
Die regelmäßigen Zufammenfünfte der Freunde des A-B-C
fanden in einem Hinterzimmer des Café Mufain ftatt. Diefer
Raum lag ziemlich abjeits und wurde nur burd einen langen
Gang mit zwei Fenftern und einem GSeitenausgang nad) der
Mue de Grès mit den Gefhäftsräumen verbunden. Hier raudte,
trank, fpielte und lachte man. Saut unterhielt man fi über
allerlei, leife über anderes. An der Wand hing, genügend, um
den Spürfinn eines Polizeiagenten zu wecken, eine Karte der
Republik Frankreich.
Die meiften Freunde des A-B-E waren Studenten, die mit
den Arbeitern auf gutem Fuß ftanden. Die wichtigſten wollen
wir nennen, denn fie gehören ja gewiflermaßen der Geſchichte
an: Enjolras, Combeferre, Jean Prouvaire, Feuilly, Cour-
feurac, Bahorel, Lesgle, oder Laigle, Joly, Grantaire. Unter-
einander waren biefe jungen Leute eine große Familie, zufam-
mengebalten dur die Bande der Freundfhaft. Alle außer
Laigle ftammten aus dem Süden.
Einer unter diefen jungen Leuten war ein Kahlfopf.
Der Marquis d’Avarai, den Ludwig XVIII. zum Herzog
gemacht hatte, weil er ibm am Tage feiner Flucht in den Wagen
geholfen, erzählt in feinen Memoiren, daB der König 1814,
als er in Calais an Land ging, einen Mann mit einer Bitt-
Ihrift in Audienz empfing.
Bas wollen Sie?’ fragte der König.
„Sire, eine Beftallung als Poſtmeiſter.“
„Wie heißen Sie?‘
Migle.
Der König runzelte die Stirn und warf einen Blick auf die
Bittſchrift, auf der der Name Lesgle geſchrieben war. Dieſe
380
antibonapartiftifhe DOrthographie gefiel ibm, und er mußte
lächeln.
„Sire,“ ſagte der Mann, „einer meiner Ahnen war ein
Hundewärter, dem gab man den Spitznamen Lesgueuiles, die
Mäuler. Daraus wurde ein Familienname. Ich heiße eigentlich
Lesgueiles, zuſammengezogen Lesgle und entſtellt l'Aigle.“
Wieder mußte der König lachen. Später bekam jener Mann
das Poſtamt von Meaux.
Der Kahle unter den Freunden des A-B-E war ein Sohn
jenes Lesgle oder Lègle. Seine Freunde nannten ihn Boſſuet.
Boffuet war ein Iuftiger Burfche, der fehr viel Pech hatte.
Seine befondere Geſchicklichkeit war es, nichts zuwege zu brin-
gen. Und immer lachte er über fein Mißgeſchick. Schon als
Siebenundzmwanzigjähriger war er fabl. Sein Vater hatte es
bis zum DBefißer eines Haufes und eines Stücks Aderland ge-
bracht, aber der Sohn brachte es zumege, fall zu fpefulieren
und Haus und Grund zu verlieren. Nichts war ihm verblieben.
Er befaß Geift und Kenntniffe, aber er wußte nichts damit an-
zufangen. Alles trog, alles täufchte ihn. Wenn er Holz fpalten
wollte, traf er feinen Finger. Glaubte er eine Geliebte zu haben,
fo mußte er bald bemerken, daß er durch fie auch einen Freund
hatte. Immer paffierte ihm etwas, immer war er jovial und
luftig. Er fagte felbft von ſich:
„Ich wohne unter einem Dach, deflen Ziegel febr oder
ſitzen.“
2. Boſſuet hält eine Leichenrede
auf Blondeau
Eines Nachmittags ſtand Laigle aus Meaux gemütlich an
dem Türpfoſten des Café Muſain gelehnt. Er ſah aus wie eine
Karyatide auf Urlaub. Er trug nichts als ſeine träumeriſchen
Gedanken. |
So blidte er auf den Pas Saint-Michel hinaus. Seine
Nachdenklichkeit hinderte weder ein Kabriolett vorüberzufahren,
381
noch ihn felbft, davon Kenntnis zu nehmen. Laigle fab bin. In
dem Gefährt faf ein junger Mann, der einen ziemlich umfang-
reihen Reiſeſack vor ſich liegen hatte, und auf diefem Meifefacf
ftand fo groß, daß jedermann es lefen Eonnte:
Marius Pontmercy
Diefer Dame veranlaßte Laigle, feine Stellung zu verändern.
Er wandte fi um und rief:
„Herr Pontmercy!/
Das Kabriolett hielt an.
Der junge Mann, der darin faß, fbien ebenfalls in Ge-
danfen verfunfen; jest blickte er auf.
„Run?
„Sind Sie Herr Marius Pontmercy?//
„Ohne Zweifel.’
„Ich Tuhe Sie . . .
„Wieſo denn?’ fragte Marius. „Ich Éenne Sie doch gar
nicht.”
„Ich Sie aud nicht.”
Marius glaubte es mit einem Spaßvogel zu tun zu haben,
der ibn mitten auf der Straße myftifisieren wollte. Er war
augenblicklich nicht bei Laune und rungelte die Stirn. Aber
Laigle ließ ſich nicht einfchüchtern.
„Sie waren vorgeftern nicht im Kolleg?”
„Wohl möglich.”
„Es ift niht nur möglich, es ift fogar fiber, Herr.’
„Sind Sie Student?”
„Ja, fo gut wie Sie. Vorgeftern war ich zufällig dort. Sie
wiffen, man kommt mandmal auf ſolche Einfälle. Da Fam der
Profeffor auf die dee die Mamen zu verlefen. Sie wiffen
wohl, die Herren ſcheuen manchmal nicht, fih auf diefe Weiſe
lächerlich zu machen. Wer zum drittenmal fehlt, wird von ben
Liften geftriben. Sechzig Franken Gebühren find beim Teufel.’
Marius war aufmerffam geworden.
382
„Es war Blondeau, der die Namen verlas. Sie Éennen doc
biefen Blondeau, diefen fpißnafigen DBosnidel, der fih einen
Spaß daraus mat, die Schwänzer zu erwifchen. Tückiſcher—
weife begann er mit bem Buchſtaben P. Ich hörte nit zu,
denn beim D kann ich mich nicht Fompromittieren. Es ging ganz
gut, alle Welt war da. Dlondeau tief betrübt. Blondeau, dachte
ich, Geliebtes, heute ermifhft du nichts. Da rief er gerade:
Marius Pontmercy! Niemand antwortet. Blondeau wiederholt
hoffnungsvoll: Pontmerey! Schon greift er nad der Feder.
Herr, id babe ein Herz, ich dachte: da fol einer bereinfpringen,
Vorſicht! Das ift ein anftändiger Kerl, der nicht auf die Ord—
nung achtet. Kein Mufterjunge. Kein Burſch mit Blei im Hin-
tern, nicht fo ein Studer, Streber. Das ift ein ehrenmwerter
Faulpelz, der fpazierengeht, etwas für die Natur übrighat, der
Kultur der Grifetten dient, den Schönen den Hof madt, und
vielleicht eben bei feiner Mätreſſe liegt. Netten wir ihn. Mieder
mit Blondeau!
Der hatte jeßt die Feder eingetaucht, Tieß feine Tigeraugen
durh bas Auditorium fehweifen und rief zum drittenmal:
Marius Pontmercy! Da antwortete ih: ‚Hier! Und dadurd
find Sie auf der Lifte geblieben.’
„Herr! rief Marius.
„Dafür bin ich geftrichen worden‘, verfiherte Laigle aus
Meaur.
Das verfteh’ ich nicht.‘
„Nichts einfacher als bas. Ich ſaß ganz vorn. Der Profeflor
ftierte mid an. Diefer Dlondeau [heint eine Mafe zu haben.
Plöslic fpringt er von D auf L über. Lift mein Buchftabe.
Ich bin aus Meaur und heiße Lesgle.//
„Laigle,“ unterbrad Marius, „welch fchöner Name!’
„Kurz, diefer Blondeau kommt zu meinem fhônen Namen
und ruft: ‚Laigle!“ ‚Hier!‘ rufe ih. Blondeau betrachtet mich
mit jener Güte, die den Tigern eigentümlich ift, lächelt und fagt:
‚Wenn Sie Pontmercy find, find Sie nit Laigle. Das ift eine
383
Seftftellung, an der Ihnen nichts Liegen Éann, für mich aber war
fie unangenehm. Ich wurde geftrien.//
„ber, mein Herr, ich bin außer mir!
„Vor allem’, unterbrach Laigle, „‚erbitte id von Ihnen die
Erlaubnis, über Herrn Blondeau einige Worte des Lobes
außern zu dürfen. Sch nehme an, daß er tot ift. Bei feiner
Magerkeit und DBläffe, bei feinem Gerud hat er nicht viel zu
leiften, um diefen legten Schritt zu tun. Und darum fage id:
Erudimini qui judicatis terram! Hier ruht Blondeau, Blon-
deau die Mafe, Blondeau Mafica, der Difsiplinobfe, bos dis-
ciplinae, die Säule der Ordnung, der Engel der Namens-
verlefung, der gerecht, rechtfchaffen, pünktlich, ebrenivert und
abfheulid war. Gott bat ibn von der Lifte geftrichen, wie er
mich ſtrich.“
„aber ich bin verzweifelt... .//
„Junger Mann,‘ fagte Laigle aus Meaur, ‚möge Ihnen
dies eine Lehre fein, gehen Sie in Hinfunft pünftlicher ins
Kolleg.’
„Ich bitte taufendmal um Entſchuldigung!“
„Seen Sie fi in Zukunft nicht der Gefahr aus, daß hr
Nächſter geftrihen wird.”
„Ich bin verzweifelt... .//
„Und ich bin entzückt‘‘, erwiderte aigle. „Schon war ich im
Begriff, jenen Abhang hinunterzurollen, an deffen tieffter Stelle
man Advofat wird. Diefe Streihung rettet mich. Sch entfage
den Triumphen der Advofatur! Ich werde weder Witwen ver-
teidigen, nod Waiſen fhädigen. Adieu Toga, adien lange Kon-
zipientenzeit! Das verdanfe ich ihnen. Selbftverftändlich werde
ich Ihnen eine feierlihe Danfoifite abftatten. Wo wohnen Sie?’
„In diefem Rabriolett.!/
„Ein Zeihen von Verſchwendungsſucht“, erwiderte Laigle
ruhig. „Ich gratuliere. Diefes Zimmer foftet neuntaufend
Sranfen jährlich.‘ |
In diefem Augenblid trat Courfeyrac aus dem Cafe.
Marius lächelte traurig.
384
„Ich bin erft vor zwei Stunden hier eingezogen und hoffe
bald wieder heraus zu Eönnen; es ift die alte Gefchichte, ich weiß
nicht, wo ich bin fol.”
„Kommen Sie zu mir’, ſchlug Courfeyrac vor.
„Ich babe ältere Rechte,“ bemerkte Laigle, „aber id kann
fie nicht geltend machen, da ich felbft Feine Wohnung habe.’
„Schweig doch, Boſſuet!“ erwiderte Courfeyrac.
„Boſſuet?“ fragte Marius, „ich dachte, Sie hießen Laigle.“
„Laigle aus Meaux; nur metaphoriſch Boſſuet.“
Courfeyrac ſtieg in den Wagen.
„Kutſcher,“ rief er, „Hotel de la Porte-St.Jacques!“
Und am ſelben Abend bezog Marius in jenem Hotel das
Zimmer neben Courfeyrac.
3. Marius wundertfid
Schon nad) wenigen Tagen war Marius Courfeuracs Freund.
Die Jugend ift die Zeit rafher Brüche und fchneller Heilungen.
Bei Eourfeyrac Fonnte Marius frei aufatmen, und bas war
ihm neu. Man fragte ibn nichts. Er braudte nicht an irgend
etwas zu denfen. Übrigens fagen ja in diefem Alter die Ge-
fihter alles. Worte find unnüß.
Eines Morgens fragte Courfeyrac ihn unvermittelt:
„propos, haben Sie eigentlich eine politifhe Meinung?‘
„Ita willen Sie’, meinte Marius faft beleidigt.
„Was find Sie denn?’
„Bonapartiftiiher Demokrat.”
„Die Barbe der Mäuschen, die fih nicht mehr vor der Rage
fürchten‘, meinte Courfeyrac.
Und am nädften Tag führte er ihn im Café Mufain ein.
„Ich muß Sie mit der Nevolution in Fühlung bringen”, flü-
fterte er beim Eintreten.
Marius wurde den Freunden des A-B-C vorgeftellt:
„Ein Schüler.”
Er geriet in ein Wefpenneft der Geifter. Bisher war er ein
25 Hugo, Die Elenden. 385
Einfiedler gewefen, der den Monolog pflegte, und darum war
er zunächſt verfchüchtert, als er fo viele junge Leute um fich fab.
Das erregte Auf und Ab der Ideen verwirrte ihn. Manchmal
verftiegen fie fih in Negionen, in die er ihnen kaum folgen
fonnte. Er hörte von Philofophie, Literatur, Kunft, Gefhichte
und Religion auf eine Weife fprechen, die ibn überrafchte. Als
er die Anfichten feines Großvaters mit denen feines Vaters
vertauſcht hatte, war er der Meinung gewefen, jebt babe er eine
Grundlage für fein Leben gefhaffen. Beunruhigt, und ohne es
fih recht einzubefennen, merfte er jeßt, daß er voreilig geweſen
war. Wieder verfhob fi der Gefihtswinfel, in dem er die
Dinge fab. Er litt faft darunter.
Übrigens fébien es, daß es für diefe jungen Leute nichts Hei-
liges gab. Über alles wurde höchft fonberbar und in einer Weife
gefproden, die Marius’ ſchüchternen Geift verlehte. Niemand
fagte bier: der Kaifer. Sean Prouvaire nannte ihn Napoleon,
die andern fagten Bonaparte, Enjolras fogar Buonaparte.
Marius wunderte fib. Initium sapientiae.
4. Resangusta
Die Wirklichkeit des Lebens ließ fih nicht verdrängen. Mit
erftaunliher Ellbogenfraft machte fie fidy geltend.
Eines Morgens trat der Hotelwirt in Marius’ Zimmer
und fagte:
„Herr Eourfeyrac bat für Sie gebürgt.‘
ALES
‚Aber ich brauche Geld.”
„Ditten Sie Courfeyrac zu mir.‘
Marius erzählte Courfeyrac, daß er fo ziemlich allein in der
Welt finde und Feine Verwandten habe; bisher hatte er nicht
daran gedacht, es ihm zu jagen.
„Run, was foll werden?” fragte Courfeyrac.
„Ich weiß nicht.”
„Bas wollen Sie tun?‘
386
„Ich babe Feine Ahnung.’
„Haben Sie Geld?”
„Sünfzehn Franken.‘
„Sol ich ihnen welches leihen?‘
„Bott bewahre!“
„Haben Sie Kleider?‘
„Bas Sie hier fehen.”
„Schmuck?“
„Eine Uhr.“
„Iſt ſie von Silber?“
„Von Gold, ſehen Sie.“
„Ich weiß einen Händler, der Ihnen Ihren Rock und Ihre
Hoſen abnehmen wird.“
„Gut.“
„Aber Sie haben dann nur mehr eine Hoſe, eine Weſte,
einen Hut und einen Rock.“
„Und meine Schuhe.“
Bas, nicht einmal barfuß müſſen Sie laufen? Welch ein
Luxus!“ |
„Es wird reichen.”
„Und einen Uhrmacher weiß ich, der Ihre Uhr Faufen wird.”
„But.
„Nein, bas ift gar nicht gut. Was werden Sie nachher tun?’
„Alles was notwendig ift. Zu minbeftens alles was an-
ftändig iſt.“
„Können Sie Engliſch?“
„Nein.“
„Deutſch?“
„Nein.“
„Schade.“
„Warum?“
„Einer meiner Freunde, ein Verleger, gibt eine Art Lexikon
heraus, für das Sie deutſche und engliſche Artikel überſetzen
könnten. Überſetzungen werden ſchlecht bezahlt, aber man lebt
davon.“
387
„Gut, id werde Englifh und Deutfch Ternen.”
„Und bis dahin?‘
„Solange fann id meine Kleider und meine Uhr aufeffen.//
Man ließ den Händler kommen. Er zahlte für die Kleider
zwanzig Franken. Der Uhrmacher gab für die Uhr fünfunb-
vierzig.
„Iſt nicht einmal übel,’ meinte Marius zu Courfeyrac, „mit
meinen fünfzehn Sranfen macht das achtzig.“
„Und die Hotelrehnung?‘
„Hola, die babe ich vergeſſen!“
Der Wirt präfentiert feine Rechnung, die fofort begliben
werden mußte. Sie belief fih auf fiebzig Franken.
„Jetzt bleiben mir noch zehn.”
„Hol's der Teufel,” meinte Courfeyras, ‚fünf, um Engliſch
zu lernen, und fünf für Deutfh. Sie werden die Sprachen ent-
weder fehr rafd lernen oder mit einem Hundertſousſtück fehr
lang leben müſſen.“
Inzwiſchen hatte Sante Gillenormand Marius’ Wohnung
ausfindig gemadt. Als Marius eines Morgens von der Uni-
verfität nah Haufe Fam, fand er einen Brief und die fechzig
Piftolen, alfo fehshundert Franken in Gold, in einer ver-
fiegelten Schachtel.
Marius fhidte bas Geld feiner Tante zurück und richtete
einen febr höflihen Brief an fie, in dem er behauptete, feine
Eriftenz fei gefichert, und er könne fit von nun an felbft er-
halten. Er befaß damals gerade nod drei Franfen.
Und damals verließ Marius das Hotel, um nicht nod tiefer
in Schulden zu finfen.
Viertes Buch
Dehrmeitter Unglück
1 Marius in Not
Das Leben wurde hart für Marius. Seine Kleider und feine
Uhr aufeflen, ift bas Schlimmfte nicht, aber bald mußte er auch
388
biefe Nahrung gegen bas Hungertuch vertaufhen. Wie fred,
lich find Tage ohne Brot, Nächte ohne Schlaf, Abende ohne
Kerze, ungeheizte Zimmer, Wochen ohne Arbeit, eine boffnungs-
Iofe Zufunft, burgefheuerte Ellbogen, alte Hüte, über die
junge Mädchen laden, eine Türe, die man des Abends ver-
fhloffen findet, weil man die Miete nicht bezahlt bat, unver-
Ihämte Bemerfungen des Portiers und des MWirts, Hohn der
Nachbarn, Demütigungen, peinliche Arbeiten, die man über-
nommen bat, Efel, Bitterfeit, Kummer. Marius lernte, wie
man alles dag binunterfhludt — und wie es oft bas einzige
ift, was man zu fohluden bat. Gerade in jenem Alter, in dem
der Menfch den Stolz braudt, weil er die Liebe ſucht, fühlt er,
daß man fi über ihn Iuftig madıt, weil er fehlecht gekleidet ift,
und ihn verladht, weil er Mot leidet. Es ift eine furdtbare und
herrliche Probe, aus der die Schwachen vernichtet, die Starfen
veredelt hervorgehen.
Es gab in Marius” Leben eine Zeit, da Eehrte er felbft den
Boden feines Zimmers, Faufte für einen Sou Käfe aus Brie
bei der Gemüfehändlerin, wartete bis Einbrud der Nacht, um
zu einem Bäcker zu eilen und ein einziges Brötchen zu Faufen,
bas er feu forttrug, als ob er es geftoblen hätte.
Er trug nod Trauer nad feinem Dater, als diefe Zeit an-
hub. Später hatte er die Gewohnheit beibehalten, ſchwarz zu
geben. Aber die ſchwarzen Gewänder blieben nicht bei ihm. Es
fam der Tag, da alles fehlte. Mur die Hofe ging noch. Was
tun? Eourfeyrac, dem er feinerzeit einige Dienfte geleiftet hatte,
gab ihm einen alten Mod. Den ließ Marius von einem Portier
für dreißig Sous wenden, fo hatte er einen neuen. Aber diefer
Rock war grün. Darum ging Marius jest nur mehr nad
Einbrud der Dunkelheit aus. Dann war fein Rock aud
ſchwarz. Er wollte in Trauer gehen, alfo Fleidete er fih in
die Nacht.
Zroß allem erlangte er den Advofatenrang. Er hatte vor-
getäufcht, daß er Courfeyracs Zimmer bewohnte, bas einiger-
maßen anftändig ausfab und in dem einige Nechtshandbücher
389
und Romane berumftanden: bas war die Bibliothef, die bas
Meglement verlangte.
Auch feine Poft ließ er dahin richten.
2. Marius arm
Mit dem Elend ift e8 wie mit allem. Schließlich wird es
erträglich. Es nimmt eine beftimmte Form an. Man vegetiert,
man entwidelt fih auf eine beftimmte jämmerliche Weife, aber
dem Leben gefchieht Genüge.
Und fo richtete Marius Pontmercy fi ein.
Durd Fleiß, Mut und Zähigfeit war es ihm gelungen, fich
ein Einkommen von etwa fiebenhundert Sranfen jährlich zu
Ihaffen. Er hatte Deutfh und Englifch gelernt. Dank Cour⸗
feprae, der ibn mit feinem Freunde, dem Verleger befannt
gemacht hatte, Eonnte er Fleinere Arbeiten befommen. Er ver-
faßte Profpekte, überfeßte Zeitungsartikel, verfab Meuausgaben
mit Anmerkungen, Eompilierte Biographien — kurz, er ver-
diente fchleht und recht feine fiebenhundert Sranfen. Davon
lebte er. Wie? Nicht fo fblebt! Man wird gleich fehen.
Er bewohnte im Gorbeaufhen Haufe ein Loch ohne Kamin,
bas fi) Kabinett nennen ließ, und in dem es an Möbeln nur
dag Unentbehrlihfte gab; dafür zahlte er jährlich dreißig
Sranfen. Die Möbel gehörten ihm. Drei Franfen monatlich
gab er der alten Dermieterin, damit fie die Aufwartung be-
forgte, ihm jeden Morgen ein wenig warmes Wafler, ein
frifhes Ei und ein Brot für einen Sou bradte. Diefes
Brot und diefes Ei waren fein Frühſtück. Der Preis ſchwankte
zwifchen zwei und vier Sous, je nach der Jahreszeit, ob die
Eier gerade billig oder teuer waren. Um febs Uhr abends
ging er in die Rue Saint-arques und fpeifte bei Mouffeau,
gegenüber von Baſſet, dem Kupferftihhändler, an der Ede der
Mue des Marthurins. Die Suppe ließ er aus. Er nahm ein
Sleifhgericht zu febs Sous, eine halbe Portion Gemüfe zu drei
Sous und ein Deffert für drei Sous. ‘Brot nad Belieben für
390
drei ous. Start Wein Waſſer. Wenn er am DBüfett, wo
Frau Moufleau immer noch fett und frifch refidierte, feine Rech—
nung beglih, gab er nod einen Sous für den Kellner, was
Srau Moufleau mit einem Lächeln quittierte. Dann ging er. Für
fechzehn Sous ein Diener und einmal Lächeln.
Diefes Neftaurant Rouſſeau, in dem fo viele Waſſerkaraffen
und fo wenig Weinflafchen geleert wurden, eriftiert heute nicht
mehr. Der Beſitzer hatte einen bübfhen Spisnamen, er hieß
allgemein der Waſſerrouſſeau.
FSrühftüc vier Sous, Diner ſechzehn Sous — maht zwanzig
Sous täglih für Ernährung; alfo dreihundertfünfundfechzig
Sranfen im Jahr. Dazu dreißig Sranfen Miete und ſechsund—
dreißig für die Alte und einige Mebenausgaben; für vierhun-
dertfünfzig Sranfen war Marius ernährt, bequartiert und be-
dient. Seine Kleidung fÉoftete ibm jährlih Hundert Sranfen,
die Wäſche fünfzig, die Waſchfrau ebenfoviel. Alles zufammen
jehshundertfünfzig. lieben fünfzig. Er war reih. Konnte ge-
legentlih einem Freund mit zehn Franken aushelfen. Cour-
feyrac hatte einmal von ibm fünfzig Sranfen entliehben. Was
die Heizung betraf, hatte Marius die Sache fehr einfoh —
mangels eines Ramins.
3. Marius erwadfen
Er zählte damals zwanzig Sabre. Seit drei Jahren hatte er
bas Haus feines Großvaters verlaffen. Seither war Feine An-
näberung, Eein DBerfühnungsverfuh erfolgt. Übrigens, wozu
hätte er ibn feben follen? Marius war ein Gefäß aus Erz, aber
Gillenormand ein Iopf aus Eifen.
Und dabei müflen wir offen einbefennen, daß Marius fi
in feinem Großvater täuſchte. Er bildete fi ein, Gillenormand
babe ihn niemals geliebt, diefer kurze, harte, fpöttifhe Mann,
der immer fluchte, fehrie, tobte und mit dem Stock drohte, habe
für ibn bôdftens eine flüchtige Zuneigung empfunden. Aber er
irrte. Es gibt Väter, die ihre Söhne nicht mögen, aber es gibt
391
feinen Großvater, der feine Enkel nit liebt. Und Gillenor-
mand vergôtterte Marius. Er tat es auf feine Art, mit Püffen
und Obrfeigen, aber jest, da der junge fort war, fühlte er eine
düftere Leere in feinem Herzen. Er verlangte, daß von dem
Burfhen nit mehr geredet werde, aber insgeheim ärgerte er
fi, daß man ihm gehordte. Anfangs hoffte er auch wohl, diefer
DBonapartift, Jakobiner, Zerrorift würde zurücdfommen. Aber
es vergingen Wochen und Monate, ja fogar Sabre, und zur
größten Verzweiflung Gillenormands blieb der Blutfauger aus.
Ich Eonnte bo nichts anderes tun, dachte er, id mußte ibn
hinauswerfen. Oder er überlegte: wenn id mich noch einmal zu
entfheiben hätte, täte ich es wieder? Sein Stolz antwortete
raſch bejahend, aber dann fehüttelte er traurig den alten Kopf
und geftand leife, daß er es doch nicht getan hätte. Es Famen
Stunden der Miedergefhlagenheit. Marius fehlte ibm.
Mas die Tante betraf, fo dachte fie viel zuwenig, um lieben
zu EFönnen; für fie war Marius nur etwas Vages, Un-
beftimmtes; ſchließlich befhäftigte fie fih mit ibm weniger als
mit der Kake oder mit dem Papagei; denn wir nehmen ohne
weiteres an, daß fie einen befaß.
Mährend der Alte bebauerte, von feinem Enfel getrennt zu
fein, freute Marius fi darüber. Ihm ging es wie allen guten
Herzen, das Unglüd befreite ihn von der Bitterfeit. Er dachte
ohne Zorn an Gillenormand, aber er beftand darauf, nichts von
bem Manne anzunehmen, der feinen Vater ſo ſchlecht be-
handelt hatte.
Als er aus dem Haufe des Großvaters gejagt worden war,
hatte er nod feinen Mann abgeben Fönnen. Jetzt aber war er
erwachſen. Die Armut ift vor allem der Jugend nützlich, denn
fie firafft den Willen zu SKroftleiftungen und infpiriert Die
Seele. Sie zeigt dag materielle Leben in feiner fchredlichen
Nacktheit und lenkt alle Kräfte auf dag Ideal. Ein reicher
junger Man findet hundert glänzende und grobe Zerftreuungen,
Pferderennen, die Jagd, Hunde, Tabak, das Spiel, opulente
Mahlzeiten und anderes mehr; DBefriedigungen der niedrigen
392
Inſtinkte auf Koften der hohen. Ein armer junger Mann plagt
fi um fein Brot, ift fib gerade fatt und überläßt fih dann
der Träumerei. Er genießt die Schaufpiele, zu denen Gott
foftenlofen Eintritt gewährt, fieht den Himmel, die Sterne,
die Kinder, alle die Menfchen, unter denen er leidet. Er träumt,
denft an feine Größe, überwindet den Egoismus des Leibenden
und läutert fih zum denfenden Wefen, bas Mitleid empfindet.
Jetzt wird ein erbabenes Gefühl in ibm wach, er vergibt ſich
felbft und empfindet für die andern. Bald wird er, der Mil-
lionär der Empfindungen, die Millionäre des Geldes beflagen.
Im Ausmaß, in dem es in feiner Seele liht wird, ſchwindet
der Hab. Das Elend eines jungen Menfchen ift fein Elend. So
furchtbaren Entbehrungen er auch ausgefeßt fein mag, mit feiner
Gefundheit, feiner Kraft, feinem lebhaften Gang, feinen glän-
senden Augen, feinem heißen Blut, feinen weißen Zähnen und
feinem reinen Atem wird er immer nod einem alten Kaifer
Meid einflößen. Tag für Tag verdient er fein ‘Brot, wird auf-
rechter und ftolzer, inbeffen fein Gehirn fih mit Gedanken be-
reichert. ft fein Tagewerk vollendet, fo gibt er fit feinen
Sreuden und Betrahtungen hin. Mit den Füßen fteht er auf
dem Boden der Kümmernis, der Hinderniffe, aber feine Stirn
ift von Licht überftrablt.
So gefhah es auch mit Marius. Vielleicht gab er fid ein
wenig zu febr den Freuden der Iräumerei bin. Seit er ein
fiheres Ausfommen gefunden hatte, war er befcheiden geworden,
fand es gut, arm zu fein, und fuchte nicht mehr Arbeit, um ganz
feinen Gedanfen leben zu Eönnen. Manchmal verbradte er Tage
damit, nachzufinnen und wie ein Vifionär den Stimmen feines
inneren zu laufhen. Er bemerfte nicht, daß die Befinnlibfeit
die Formen der Saulbeit annehmen kann; daß er fit vorzeitig
begnügt hatte, nur die dringendften Lebensbedürfniſſe zu deden.
Zweifellog bedeutete diefer Zuftand für eine energifche und
hochherzige Natur wie die feine nur einen Übergang; auf den
erften Anhieb würde er erwachen und ſich aufraffen.
Obwohl er Advokat war, Élagte er niemand, Élagte nicht einmal
393
über fein eigenes Leben. Statt des Plädoyers übte er die
Zräumerei. Gründe austüfteln, zu den Gerichten laufen, das
war langweilig. Wozu follte er es auch? Er hatte Feinen Grund,
einen anderen DBroterwerb zu fuhen. Sein Verleger, ein
Minfelverleger, bot ihm immerhin fichere Arbeit und einen Er-
trag, der genügte.
Ein anderer, id glaube, e8 war Magimel, bot ihm freie
Station und fünfzehnhundert Franken jährlich an, wenn er eine
regelmäßige Arbeit Teiftete. Eine angenehme Wohnung! Fünf:
zehnhundert Franken! Das waren ohne Zweifel Vorteile. Aber
folte er feiner Freiheit entfagen! Ein Gehaltsempfänger
werden ?
Nach Marius’ Meinung mußte fi feine Lage, wenn er an-
nahme, verbeflern und zugleich verfhledtern, denn er gewann
an materiellen Gütern, verlor aber an Würde; an Stelle
Ihöner Mot würde etwas Häßliches, Lächerliches treten. Er
lehnte ab.
Insgeſamt hatte er nur zwei Freunde, einen jungen, Cour-
fevrac, und einen alten, Mabeuf. Den alten 309 er vor. Er
war es, der den Anftoß zu feiner ganzen Entwidlung gegeben
hatte, durch ibn hatte er feinen Bater Éennen und lieben gelernt.
Er bat mir den Star geftoben, fagte er.
FünftesBuch
Begegnung zweier Sterne
l. Syignamen werden zu Familiennamen
Zur Zeit feines tiefften Elends hatte Marius beobachtet,
daß die Mädchen fih ummandten, wenn er vorüberging; dann
lief er davon oder verftedte fih, den Tod in der Seele. Er
glaubte, man fähe ihm wegen feiner alten Kleider nad und ver-
lache ibn; in Wirklichkeit aber warf man ihm Blicke zu, weil
er gefiel.
Diefes ſtumme Mißverftändnis hatte ihn menſchenſcheu
394
gemadt. Er wählte fit Feine Geliebten, aus dem zwingenden
Grunde, weil er alle mied. Er lebte gleichgültig oder, wie Cour-
feurac fagte, blöde, vor fid bin.
Wenn Courfeyrac ihm begegnete, begrüßte er ihn oft:
„Tag, Herr Abbe!
Und bo gab es auf diefer Welt zwei Frauen, die Marius
nicht mied und vor denen er fich nicht verftedte. Er wäre au
höchft verwundert gewefen, wenn man ibn darauf bingewiefen
hätte, daß es Frauen waren. Die eine war die bärtige Alte,
die fein Zimmer fegte, die andere ein ganz junges Mädchen,
das er oft fab und dem er feinen Blick fhenfte.
Seit mehr als einem Jahr bemerfte Marius in einer ver-
laffenen Allee des Lurembourg-Öartens, in der Allee, die an
der Baumfchule entlang läuft, einen Mann und ein fehr junges
Mädchen; faft immer faben fie auf der Bank am Ende der
einfamen Allee. Und fo oft der Zufall, der ja die Spaziergänge
der Träumer lenft, Marius in diefe Allee führte, und bas ge-
fab faft täglich, begegnete er diefem Paar. Der Mann mochte
ſechzig Sabre zählen. Er fab traurig und ernft aus. Seine fräf-
tige und zugleich müde Geftalt ließ darauf ſchließen, daß er ein
penfionierter Offizier wäre. Um Marius in diefer Überzeugung
zu flärfen, hätte er nur einen Orden fragen müflen. Er fab
gütig aber unnabbar aus, und nie ließ er feinen Slif auf je-
mand ruhen. Er trug blaue Hofen, einen blauen Rock und einen
breitfrempigen Hut, ein ſchwarzes Halstuh und ein blendend
weißes aber grobes Quäkerhemd.
As er das junge Mädchen das erftemal neben dem Greis
fisen fab, mochte fie dreizehn oder vierzehn Jahre alt fein; fie
war mager, faft häßlich, linfifé und unbedeutend; vielleicht
hatte fie Schöne Augen, doch hielt fie fie mit einer Sicherheit,
die mibfallen Eonnte, immer nad oben gerichtet. Gefleidet war
fie kindiſch und doch alt, wie Klofterzöglinge; ein ſchlechtgeſchnit—
tenes Kleid aus grober, ſchwarzer Merinowolle. Die beiden
mochten wohl Vater und Tochter fein.
Zwei- oder dreimal fab Marius diefen alten Mann, der noch
395
fein Greis, und biefes junge Mädchen, das nod Feine Frau
war, an, dann achtete er nicht mehr auf die beiden. Sie ihrer:
feits fbienen ihn gar nidt bemerft zu haben. Sie plauderten
friedlich und faft gleihgültig miteinander. Das Mädchen play-
perte heiter und ohne Unterlaß, der Alte fprad wenig, ftreifte
das Kind aber zuweilen mit einem zärtlich-väterlihen Blick.
Obwobl diefe beiden niemandes Slide auf fit ziehen wollten,
oder vielleicht gerade darum, hatten fie die Aufmerffamfeit von
fünf oder ſechs Studenten erregt, die zumeilen in jener Allee
fpazierengingen. Courfeyrac hatte fie einige Zeit beobachtet,
fand das Mädchen aber häßlich und beeilte fih, aus ihrer Nähe
zu verfchwinden. Wie ein Parther, war er aber nicht geflohen.
ohne einen Pfeil auf fie abzufchießen: einen Spisnamen. Da
ihn nur das ſchwarze Kleid der Kleinen und die weißen Haare
des Alten intereffiert hatten, nannte er bas Mädchen Made-
moifelle Tanoire und den Mann Monfieur Leblanc; und da nie-
mand wußte, wie die beiden wirflich hießen, trat der Spitzname
an die Stelle des echten. Die Studenten fagten wohl: „Ach,
Herr Leblanc ift auf feiner Bank!“ und aud wir wollen der
Bequemlichkeit halber diefen Nomen beibehalten.
Marius begegnete den beiden ein Jahr lang faft täglich,
fand ben Mann angenehm, das Mädchen aber abftoßend.
2 Lux est
Im nächſten Jahre, alfo zu jenem Zeitpunkt, bis zu welchem
wir den Lefer bereits begleitet haben, gefchah es, daB Marius,
ohne deflen recht zu achten, nicht mehr nad dem Lurembourg
ging; ſechs Monate lang mied er feine Allee. Eines Tages Fam
er bo wieder dahin, an einem heiteren Sommermorgen, und
er war vergnügt, wie man es nur bei gutem Wetter fein Fann.
Sofort eilte er nad feiner Allee, und als er anfam, ge-
wahrte er, immer nod auf derfelben Bank, fein Paar. Doc
war nur der Mann derfelbe geblieben, das Mädchen fchien aus-
getaufcht worden zu fein. est fab er ein erwachſenes, hübſches
396
Gefhöpf, das bereits die reizenden Formen der Frau zeigte,
ohne indeflen die naive Anmut der Kindheit verloren zu haben;
diefer flütige Augenblick war gefommen, den man nur mit zwei
Morten umfchreiben Éann: fünfzehn Jahre. Wunderfchöneg,
faftanienbraunes Haar, dag golden fhimmerte, eine Stirn von
Marmor, Wangen, die Mofenblättern glichen, ein unendlich
blaffer, zarter Teint, ein köſtlicher Mund, von dem ein Lächeln
wie ein Licht aufftrahlte, Eurz ein Kopf, den Raffael einer
Maria und Jean Gojon einer Venus aufgefest hätte. Und damit
397
nichts an biefem reizenden Gefihichen fehlte, war die Mafe
nicht fhôn, fondern hübſch, weder gerade nod gebogen, weder
ifalienifd nod griehifch, fonbern eine rechte Parifer Naſe,
etwas Feines, Geiftvolles, Unregelmäßiges, das die Maler zur
Derzweiflung und die Dichter in Entzüden bringt.
As Marius an ihr vorüberfam, Éonnte er ihre Augen nicht
feben, denn fie blickte zu Boden. So bemerfte er nur ihre
langen Éaftanienbraunen, fhambaften Wimpern.
Zunächſt baie Marius, es fei eine andere Tochter desfelben
Mannes, eine Schwefter der erften. Aber als die gewohnte
Drdnung des Spaziergangs ihn ein zweites Mal an jener Banf
vorüberführte, erfannte er, daß es biefelbe war. In ſechs Mo-
naten war bas Éleine Mädchen ein junges Mädchen geworden
— eine febr häufige Erfcheinung. Denn es gibt einen Augen-
blif im Leben der Mädchen, wo fie fih plöslih verwandeln
und entfalten. Geftern waren fie nod Kinder, heute ftören fie
ung bereits in unferer Ruhe. |
Diefe war nicht nur größer, fondern aud ſchöner. Wie im
April drei Tage genügen, um gewiffe Bäume mit Blüten zu
bededfen, fo hatten ihr fes Monate genügt, um fi in Schön-
heit zu Eleiden. hr April war gekommen.
3. Wirfung des Frühlings
Eines Tages war die Luft lau, der Lurembourg-Öarten lag
freundlich) in der Sonne, unter einem reinen Himmel, als ob die
Engel den Morgen fauber gewaschen hätten; zwitfchernd flogen
die Sperlinge in den Kronen der Kaftanienbäume bin und ber.
Marius hatte feine ganze Seele der Natur aufgetan, dachte
an nichts und atmete glüclic bas ftrahlende Leben in fich ein,
als er an jener Bank vorüberging; da fab bas junge Mädchen
auf, und die Slide der beiden begegneten einander.
Mas war nur diesmal in den Augen des jungen Mädchens?
Marius hätte es nicht angeben können. Da war nibts, und dod)
alles: ein feltfames Licht.
398
Sofort blidte fie wieder nieder, und er feñte feinen
Meg fort.
Mas er gejehen hatte, war nicht das ahnungslofe Auge eines
Kindes gewefen, fondern eine geheimnisvolle Tiefe, die fid vor
ihm öffnete und fofort wieder fchloß.
As Marius am felben Abend nad Haufe Fam, warf er einen
Blick auf feine Kleider und bemerfte zum erftenmal, daß es
höchſt unzukömmlich, ja fogar unerhört blöde fei, in biefem All—
tagsaufzug zum Lurembourg zu geben; mit einem zerbeulten
Hut, plumpen Kutfcherftiefeln, an den Knien blanfgefcheuerten
Hofen und einem Mod, durch deffen Armel die Ellenbogen
durchſchauten.
4. Beginn einer ſchweren Krankheit
Am nächſten Morgen entnahm Marius zur gewohnten
Stunde ſeinem Schrank den neuen Rock, die neue Hoſe, den
neuen Hut und die neuen Stiefel; dann kleidete er ſich in dieſe
vollendete Tracht, zog, um den Luxus vollkommen zu machen,
Handſchuhe an und ſpazierte in den Luxembourg-Garten.
Unterwegs begegnete er Courfeyrac und tat, als ob er ihn
nicht ſähe. Zu Hauſe erzählte Courfeyrac ſeinen Freunden:
„Soeben begegnete ich Marius' neuem Rock und Hut;
Marius war drin. Offenbar ging er zum Examen. Er ſah
furchtbar dumm aus.“
Im Luxembourg angekommen, ging Marius zunächſt um das
Baſſin herum und beobachtete die Schwäne; lange Zeit blieb
er betrachtend vor einer Statue ſtehen, deren Kopf vom
Mooſe geſchwärzt und deren eine Hüfte ausgebrochen war. End-
Ich, nad einem neuen Rundgang um das Baſſin, wandte er
fi zu feiner Allee, langſam und faft widerftrebend. Es fab
aus, als ob er gleichzeitig gezwungen und behindert fei, dahin
zu gehen. Aber er Iegte ſich nicht darüber Rechenſchaft ab und
glaubte nichts anderes zu fun, als was er alle Tage tat.
399
Als er in feine Allee einbog, gewahrte er fofort am anderen
Ende ‚auf ihrer Bank“ Herrn Leblanc und das junge Mädchen.
Er knöpfte feinen Rock bis oben zu, 309 ihn über feinen Körper
ftraff, damit er Feine Falten bilde, prüfte mit einem gewiffen
Wohlgefallen den Spiegel feiner Hofen und ging dann auf die
Bank zu. In der Art, wie er auf fie zufehritt, lag etwas von
Eroberertum. Er marfchierte, möchte ich jagen, auf diefe Bank
zu, wie Hannibal auf Nom.
Sm übrigen vollzog fib alles ganz mechanifch, e8 waren die
gewöhnlichen Gedanken, die ihn befbäftigten. Er dachte in
biefem Augenblicf an bas ,, Sandbudb zur Erlangung des Bacca-
laureats“ und Fam zu dem Schluffe, es fei dumm und offenbar
von feltenen Idioten redigiert worden, da es zwar drei Tra-
gödien des Macine, aber nur eine Komödie des Molière aus-
führlich behandelte. In den Ohren hatte er ein eigentümliches
Pfeifen. Als er der Bank näher Fam, zupfte er nod einmal
feinen Mod zurecht, und feine Blicke richteten fih auf das junge
Mädchen. Er hatte den Eindrud, als ob diefer ganze Teil der
Allee in ein feltfam bläulihes Licht getaucht fei.
Se näher er Fam, um fo langfamer wurde fein Gang. Als
er nur mehr ein wenig von der Bank entfernt war, bei weitem
no nicht am Ende der Allee, blieb er fteben, und er wußte
felbft nicht wie, aber plößlih machte er Fehrt. Ihm wurde nicht
einmal bewußt, daß er nicht bis an das Ende der Allee gelangt
war. Kaum hatte ibn das junge Mädchen bemerft und feine
neuen Kleider erkennen Éônnen. Doch ging er febr aufrecht,
um eine gute Figur zu machen, falls zufällig jemand hinter ihm
gehe und ihn beobachte.
5. Ein Blitzſchlag trifft Frau Dougon
Am nächſten Tage bemerfte die Keif-Alte (Mame Bougon,
wie der Spötter Courfeyrae Marius’ Wirtin nannte, obwohl
fie eigentlih Frou Burgen hieß), daB Herr Marius wieder in
feinen Feiertagsfleidern ausging.
400
Sie war verwundert.
Er ging in den Lurembourg, wagte fit aber nicht weiter als
bis zur Hälfte feiner Allee. Dort feste er fih auf eine Bank
und beobachtete aus der Ferne den weißen Hut, bas fchwarze
Kleid und insbefondere den blauen Tichtfhimmer. Er rührte
fi) nicht, ging nicht einmal, als die Tore des Lurembourg ver-
ſchloſſen wurden. Als Herr Leblanc mit feiner Tochter aufbracb,
bemerfte er nichts. Später Fam er zu der Anſicht, die beiden
müßten wohl durd das Tor an der Rue de l'Oueſt den Part
verlaffen haben. Mod Wochen nachher Fonnte er fib nicht er-
innern, wo er an jenem Abend gegeflen hatte. Und aud am
nächften, dem dritten Tag, war Mame Bougon wie vom Blik-
Ihlag getroffen. Wieder ging Marius in feinen Feiertags-
Fleidern aus.
„Dreimal nacheinander!” rief fie entfest. Sie wollte ihm
folgen; aber Marius ging fo fchnell und mit großen Schritten,
es war, als ob ein Milpferd einer Gemfe nachlaufen wollte.
Mad zwei Minuten hatte fie ihn aus den Augen verloren und
Éam, ganz außer Atem und wütend, nad Haufe.
„Ob das nun einen Sinn hat,” murrte fie, ‚täglich feine
beften Kleider anzuziehen und die Leute fo in Schweiß zu
bringen?’
Marius war wieder im Lurembourg.
Das junge Mädchen und Herr Leblanc waren da. Der junge
Mann ging fo nahe heran, als irgendwie anging, indem er vor-
täufchte, er fei in fein Buch vertieft; dann bezog er wieder auf
feiner Bank Poften und beobachtete vier Stunden lang in der
Allee die Sperlinge, die ſich benahmen, als machten fie ſich über
ihn Tuftig.
6. Gefangen
An einem der Iekten Tage der zweiten Woche ſaß Marius
wieder wie gewöhnlich auf feiner Bank und hielt bas aufge-
fblagene Sud in der Hand, obwohl er feit zwei Stunden fein
Blatt umgemwendet hatte. Plöglich begann er zu zittern. Am
26 Hugo, Die Elenden. 40]
Ende der Allee ging etwas vor. Herr Leblanc und feine Tochter
waren aufgeftanden, bas Mädchen hatte den Arm des Vaters
genommen, und beide näherten ſich langſam dem Plage Marius.
Er Elappte fein Buch zu, ſchlug es wieder auf und begann
krampfhaft zu lefen. Er zitterte. Das Licht Fam geradeswegs
auf ihn zu.
Großer Gott, dachte er, ich babe nicht einmal Zeit, mid in
eine anftändige Haltung zu bringen!
Inzwiſchen Famen der Mann mit den weißen Haaren und
bas junge Mädchen näher. Marius fhien es, als ob biefer
Gang ein Jahrhundert dauerte, und doch war alles nur eine
Sade von Sefunden.
Mas wollen fie nur hier? dachte er. Dh, fie werden hier vor-
überfommen.
Er war außer fih, wollte recht hübſch ausfehen, hätte gern
in biefem Augenblick bas Kreuz an der Bruft getragen. Schon
hörte er ihre Schritte im Sande Énirfhen. Er dadıte, daß Herr
Seblanc ibn mißmutig anfehe. Will er mit mir fprechen, fragte
er fih. Er fenfte den Kopf. Als er wieder aufblicfte, waren die
beiden faft vor ihm. Das junge Mädchen ging vorüber und fab
ihn feft an, mit einer fanften Nachdenkflichfeit, die Marius von
Kopf bis zu Fuß erfbauern Tieß. Ihm war, als ob fie ibm
Vorwürfe made, daB er fo lange ferngeblieben fei, und ibm
fage: gut, alfo komme ih. Er mar geblendet vom Glanz ihrer
tiefen Augen.
Sein Gehirn glühte wie ein Fenerbeden. Sie war zu ibm
gefommen! Und wie fie ihn angefehen hatte! Sie fhien ihm
Ihöner als je. Schön auf eine zugleich weibliche und engelhafte
Art, von jener Schönheit, die ein Petrarca befungen und vor
der ein Dante niedergefniet wäre. Ihm war zumute, als ob er
im blauen Himmel fchwebe. Und gleichzeitig wor es ihm höchſt
unangenehm, daß feine Stiefel ftaubig waren.
Gewiß hatte fie auch feine Stiefel bemerkt.
Er bliefte ihr nach, bis fie verfehwunden war. Dann begann
er im Lurembourg auf und ab zu laufen wie ein Narr. Es ift
402
fogar wabribeinlih, daß er laut lachte und fprab. So nach—
denklich blieb er bei den Kindermädchen ſchließlich fteben, daß
jede meinte, er wäre in fie verliebt.
Zulest verließ er den Park, in der Hoffnung, den beiden auf
der Straße zu begegnen.
Unter den Arkaden des Obéon ftieß er auf Courfeyrac und
jagte zu ihm:
„Kommen Sie mit mir eſſen.“
Sie gingen zu Mouffleau und gaben ſechs Franfen aus.
Marius af wie ein Wolf. Dem Kellner gab er fehs Sous.
Beim Deffert fragte er Courfeyrac:
„Haft du die Zeitung gelefen? Diefer Aubry de Puyraveau
bat eine herrliche Rede gehalten.‘
Er war bis über die Ohren verliebt.
Mad dem Effen fagte er zu Courfeyrac:
„Ich lade dich ein, gehen wir ins Theater.“
Sie gingen nach der Porte Saint-Martin und fahen Fre-
deric in der Auberge des Adrets“. Marius amüſierte fic
köſtlich.
Dabei war er menſchenſcheuer als je. Als ſie aus dem The—
ater kamen, wollte er nicht das Strumpfband einer Modiſtin
ſehen, die gerade über den Rinnſtein ſtieg, und als Courfeyrac
ſagte: „Die Kleine möchte ich gern für meine Kollektion“,
graute ihn faſt.
7, Abenteuer um den Subftaben U
Ein langer Monat verftrih, und täglich ging Marius in den
Lurembourg. Nichts Eonnte ihn, wenn die Stunde gefommen
war, zurüdhalten. „Er bat Dienſt“, meinte Courfeurac.
Marius lebte in einem Meer des Entzüdens. Seht Fonnte er
nicht mehr daran zweifeln, daB das Mädchen feine Blicke er-
widerte,
Er war Fühner geworden und näherte fi) der Bank, doc
wollte er nicht an ihr vorbeigehen, vielleicht aus Schüchternheit,
26* 403
vielleicht aus Borfibt. Er wollte nicht die Aufmerkſamkeit des
Vaters auf fih lenfen. Mit einem Madinvellismus fonder-
gleihen hatte er fih von Baum zu Baum, von Statue zu
Statue einen Weg ausgerechnet, der es ihm ermöglichte, dem
jungen Mädchen fo nahe zu fommen und bod für den alten
Herren unfihtbar zu bleiben. Manchmal blieb er eine halbe
Stunde lang reglos im Schatten irgendeines Leonidas oder
Spartacus, ein Bud in Händen, über deflen Rand feine
Augen, fanft gehoben, nad dem ſchönen Mädchen ausfchauten;
und auch fie gônnte ihm ein ungefähres, reizendes Lächeln.
Während fie aufs natürlichfte und harmlofefte mit dem Weiß-
baarigen plauderte, gab ihr zugleich jungfräulicher und doc
leidenfchaftliher Slif Marius Anlaß zu endlofer Träumerei.
Das war die uralte und ewig neue Technik, die Eva am erften
Zage erfann, und die noch heute jeder Frau am Tage ihrer Ge-
burt vertraut ift. Ihr Mund antwortet dem einen, ihr Blick
dem anderen.
Doc hatte es den Anfchein, als ob Herr Leblanc fchließlich
etwas gemerft hätte, denn oft, wenn Marius Fam, ftand er auf
und ging fpazieren. Auch hatte er feinen alten Platz aufgegeben
und am anderen Ende der Allee die Bank neben dem Gladiator
gewählt, als ob er in Erfahrung bringen wollte, ob Marius
ihm dahin folgen werde. Marius begriff nicht und beging diefen
Sebler. et begann der Water unpünftlih zu werden und
bradıte feine Tochter nicht mehr täglich bin. Manchmal Fam er
allein. Dann blieb Marius nicht. Auch das war ein Fehler.
Und Marius beachtete diefe Symptome nit. Einem [hid-
fjalbaften und naturgemäßen Fortfehritt entfprehend war er
aus dem Stadium der Schüchternheit in bas der Blindheit
übergegangen. Seine Liebe wuchs. Nächtelang träumte er vor
fit bin. Und endlich geſchah ibm ein unerwartetes Glück, OT
auf fein Feuer, um ihn vollends zu verblenden. Eines Abends
in der Dunfelheit fand er auf der Bank, von der Herr Leblanc
und feine Tochter eben aufgeftanden waren, ein Zafchentuch, ein
ganz gewöhnliches, unbordiertes Zafchentuh, aber weiß und
404
zart; ibm iwenigftens fien es, als ob es einen berrliben Duft
ausftröme. Begeiftert ftecfte er es zu fic.
Diefes Tafhentud zeigte die Buchſtaben U. F. Marius
wußte nichts über biefes fhöne Mädchen, weder ihren Nomen
noch ihre Wohnung; diefe beiden Initialen waren bas erfte, was
er von ihr erfuhr, wunderbare Sjnitialen, auf die er alljogleid)
ein ganzes Gerüft der Dermutungen aufsuribten begann.
U war offenbar der Vorname. Urfule, dachte er, wie köſtlich tft
diefer Mame! Er küßte das Tafhentub, atmete feinen Duft
ein und trug es an feinem Herzen, auf bloßer Bruſt, um es
nachts an feine Lippen zu drücken.
Ihre ganze Seele duftet mir aus diefem Tuch entgegen,
dachte er.
Es gehörte dem alten Herrn, dem e8 ganz einfach aus der
Zafche gefallen war.
In den nähftfolgenden Iagen erfhien Marius im Lurem-
bourg nur mit jenem Taſchentuch, das er immer wieder Füßte
und ans Herz drückte. Das ſchöne Kind begriff nicht und gab
es ibm durch faft unmerfliche Zeichen zu verfteben.
Mie füß ift fie in ihrer Schambhaftigfeit, dachte er.
8 Mondfinfternis
Der Lefer bat gefehen, wie Marius entdeckte oder entdeckt zu
haben glaubte, daß fie Urfule hieß.
Liebende werden nie fatt. ihren Namen zu wiflen, [bien fehr
wichtig, aber e8 war doc recht wenig. In drei oder vier Wochen
hatte er dag Glück aufgezehrt und wollte ein neues. Jetzt wollte
er auch willen, mo fie wohnte.
Schon hatte er einen Fehler begangen, als er in den Hinter-
halt fiel und den beiden zu dem Gladiator folgte. Dann beging
er einen zweiten: er blieb nicht im Lurembourg, wenn Herr
Leblanc allein fam. Und jet den dritten, den ungeheuerlichften:
er ging Urfule nad.
405
Sie wohnte in der Rue de l'Oueſt, in einer verfehrsarmen
Gegend, in einem neuen, dreiftödigen, recht einfachen Haufe.
Don jest an brauchte fit Marius nicht mehr darauf zu be-
ihränfen, ihr im Lurembourg zu begegnen, er Eonnte ihr auch
nachgehen.
Er wurde immer hungriger. Er wußte wie fie hieß, den Vor—
namen wenigfteng, er wollte aber au wiffen, wer fie war.
Eines Abends, nachdem er ihr bis zu ihrem Haufe gefolgt
war, trat er ein und fragte tapfer den Portier:
„War bas der Herr aus dem erften Stod, der eben nad)
Haufe Fam?’
„Nein, der Herr aus dem dritten.”
Wieder ein Schritt vorwärts. Marius wurde Fühner.
‚Born heraus?“
„Das Haus bat Feine Hinterfront.”
„Was iſt der Herr?‘
„Ein Rentner. Ein fehr guter Menfh, denn er N den
Armen, obwohl er felbft nicht reich iſt.“
„Wie heißt der Herr?‘
Der Portier blickte auf.
„Sind Sie ein Spiel?”
Marius 309 verblüfft ab, war aber doc entzüct. Er hatte
Fortſchritte gemacbt.
Gut, dachte er, fie heißt Urfule, ift die Tochter eines Rent—
ners und wohnt hier, Aue de l'Oueſt, im dritten Stod.
Am nädhften Tag kamen Herr Leblanc und feine Tochter nur
für ganz furze Zeit nach dem Lurembourg. Mod bei hellichtem
Tag gingen fie wieder. Marius folgte ihnen wie gewöhnlich.
Bevor Herr Leblanc eintrat, hieß er feine Tochter vorausgehen,
wandte fih um und fab Marius ftarr an.
Am nähften Tag Famen fie nit in den Lurembourg.
Marius wartete vergeblich bis zum Abend.
As es dunkel war, ging er nad) der Nue de l’Oueft und fab
406
Lit im dritten Stock. Nun ging er unter den Senftern auf
und ab, bis bas Licht ausgelöfcht wurde.
Am nähften Tag — im Lurembourg nichts. Wieder Poften
unter den Fenftern. Das dauerte bis zehn Uhr. Das Abendeflen
fiel unter den Tiſch. Den Kranken nährt bas Fieber, den Ver—
liebten die Liebe.
So vergingen at Tage. Marius erging fih in den trau-
rigften Dermutungen. Er wagte nicht, unter Tags das Haus
zu beobachten. Nur nachts erfühnte er fi, bis in den rötlichen
Schimmer der Fenfter vorzudringen. Manchmal gemabrte er
einen Schatten, und fein Herz ſchlug heftig.
As er am achten Tag unter den Fenftern vorüberfam, be-
merfte er Fein Licht.
„Ach, fie haben die Lampe noch nicht angezündet,’ meinte er,
‚und doch ift es fchon finfter. Sollten fie ausgegangen fein?’
Er wartete bis zehn. Bis Mitternaht. Bis ein Uhr mor-
gens. Kein Licht erfhien in den Fenftern des dritten Stods,
niemand betrat das Haus.
Zroftlos ging er heim.
Als er am nächſten Tag wieder Fein Licht fab, fogar bemerkte,
daß die Jalouſien berabgelaffen waren, Elopfte er an das Haus—
for und fragte den Portier:
„Der Herr aus dem dritten Stof — ?//
„Iſt ausgezogen.”
Marius taumelte.
„Seit wann denn nur?”
„Seit geſtern.“
„Und wo wohnt er jet?’
„Ich weiß nicht.”
„Hat er denn nicht feine neue Adreſſe binterlaffen?//
„Nein.“
Jetzt erkannte der Portier Marius.
„Ach Sie find es! Sie find alſo bob ein Spitzel!“
407
Sechstes Buch
Der ſchlechte Arme
1. Marius fuhrt ein Mädchen mit einem Hut
und findet einen Mann mit einer Mübe
Der Sommer verging, der Herbftz es wurde Winter.
Weder Leblanc no das junge Mädchen hatten ben Fuß wie-
der in den £urembourg-Garten gefeßt. Marius dachte nur mehr
darüber nad), wie er biefes fanfte, anbetungswürdige Geficht wie-
derfeben Fönnte. Immer und überall fuchte er, aber er fand
nichts. Gest war er nicht mehr Marius der Schwärmer, der
Enthufiaft, der bas Schickſal kühn in die Schranken forderte,
der Mann, in deflen Kopf es fehwirrte von Plänen, Ideen und
Wünſchen; jeht war er wie ein Hund ohne Herrn. Er verfanf
in düftere Traurigfeit. Es war aus. Die Arbeit widerte ihn an,
das Spazierengehen ermüdete ihn, die Œinfamfeit war lang-
weilig; felbft die Natur, früher fo überreih an Formen, Ge-
ftalten und Stimmen, [bien ihm jetzt Ieer. Alles, dachte er,
war verfchwunden.
Wohl machte er fit Vorwürfe. Warum bin id ihr nad-
gegangen, fragte er. War ih nicht glüdlib, fie auch nur zu
feben? Sie erwiderte meinen Blick. War dag nicht ein großes
Glück? Es fhien, fie Tiebte mich. ft das nicht alles?
Ich war von Sinnen. Alles ift meine Schuld. —
Er hatte Eourfeyrac nit ins Vertrauen gejogen, das wäre
nicht feine Art gewefen, aber der Student erriet faft alles —
und bas war feine Art —, und erft hatte er ibn beglückwünſcht
zu feiner Derliebtheit, dann aber, als Marius melancholiſch
wurde, hatte er gejagt:
„Aha, bu haft die Sache dumm angefangen!’
Einmal hatte Marius eine Begegnung, die auf ihn einen
tiefen Eindruck machte. Er hatte die Straßen rings um den
Boulevard des Invalides durchquert und war einem Menfchen
begegnet, der wie ein Arbeiter angezogen war und eine Mise
408
mit langem Schirm trug, fo daß man feine ſchneeweißen Haare
faum feben fonnte. Und bod war Marius betroffen gewefen
von der Schönheit diefer weißen Haare und betrachtete aufmerf-
fam ben Mann, der langfam und wie in fraurige Gedanfen
verfunfen einberging. Seltfam, er glaubte Herrn Leblanc zu
erfennen. Es waren feine Haare, es war fein Profil, ja fogar
die gleihe Haltung, nur frauriger. Was aber bedeuteten biefe
Arbeiterfleider? War das eine Verkleidung?
Marius war febr erftaunt. 3
409
Als er wieder Faſſung gewann, wollte er zunächſt jenem
Manne folgen, denn vielleiht war er doch auf der richtigen
Fährte. Zum mindeften wollte er ben Mann aus der Nähe an-
feben und das Rätſel löfen. Aber diefer Gedanke Fam ibm zu
ſpät, der Mann war fon verfhwunden. Er mußte in irgend-
eine Seitenftraße eingebogen fein. Einige Tage lang ftand
Marius unter dem Eindrud diefer Begegnung, dann vergaß er
fie wieder.
2. Ein Fund
Mod immer wohnte Marius im Gorbeaufhen Haufe. Er
achtete auf niemand.
Zu jener Zeit waren übrigens außer ihm und jener Familie
Sondrette, mit der er bisher direft no nit in Verbindung
gefommen war, Feine Mieter in dem Haufe. Alle anderen
waren forfgezogen, geftorben oder ausgemietet.
Auch den Vonbrettes hatte 1831 das gleihe Schickſal ge-
droht; aber Frau Burgen hatte damals Marius davon erzählt,
und er hatte den Leuten mit fünfundzwanzig Sranfen aus der
Verlegenheit geholfen, jedoch unter der Bedingung, daß fein
Name nicht genannt werde.
An einem Winternahmittage, an dem die Sonne fih ein
wenig hervorgewagt hatte, verließ Marius fein Heim. Es war
an der Zeit, zum Effen zu gehen, denn — Gebrechlichkeit der
idealen Leidenfhaften — auch der Körper fordert fein Med.
Nachdenklich fpazierte er den Boulevard zum Tore hinunter,
um nad der Rue Saint-Vacques zu gelangen. Plötzlich ftieß
ihn jemand an; er wandte fit um und fab zwei zerlumpte junge
Mädchen, ein langes, mageres und ein anderes Fleineres; atem-
108 und verängftigt Tiefen fie an ihm vorbei; er hatte den Ein-
brud, daß fie vor jemand flohen. Offenbar hatten fie ihn nicht
gefehen. In der bereinbreenden Dammerung Éonnte er ihre
Gefihter, ihre zerzauften Köpfe, ihre elenden Hüte, jämmer-
lien Kleider und bloßen Füße immerhin noch ausnehmen. Im
410
Saufen fprachen die beiden miteinander. Die Größere fagte zu
der Kleineren:
„Und fon war die Polente da. Aber bei mir haben fie vor-
beigehauen.“
„Ich hab' ſie gleich gerochen. Dann bin ich abgeſchaukelt.“
Marius erriet aus dieſen Worten, ſo unbekannt ihm auch die
Sprache war, daß die Gendarmen hinter den beiden Mädchen
her geweſen waren, aber ohne ſie zu fangen.
Die beiden verſchwanden unter den Bäumen des Boulevards.
Einen Augenblick lang ſah Marius ihnen nach.
Eben wollte er weitergehen, als er zu ſeinen Füßen ein
graues, kleines Paket liegen ſah. Er bückte ſich und hob es auf.
Es war eine Art Karton, in dem allerlei Papiere zu ſtecken
ſchienen.
Ah, ſagte er, das haben dieſe armen Geſchöpfe verloren!
Er wandte ſich um und rief, aber vergeblich; offenbar waren
ſie ſchon weit. Alſo ſteckte er das Paket in die Taſche und
ging eſſen.
Bald ſchlugen ſeine Gedanken wieder ihre gewöhnliche Rich—
tung ein, und er träumte wieder von jenen ſechs Monaten des
Glücks und der Liebe, die er unter den ſchönen Bäumen des
Luxembourg verbracht hatte.
3. Vierköpfig
Als er ſich abends entkleidete, um zu Bett zu gehen, griff er
in ſeine Rocktaſche und fand darin das Paket, das er auf dem
Boulevard aufgeleſen hatte. Längſt hatte er es vergeſſen. Er
dachte, daß es nützlich ſein werde, es zu öffnen, da er vielleicht
ſo die Adreſſe der beiden jungen Mädchen erfahre und in die
Lage verſetzt würde, ihnen ihr verlorenes Eigentum zurückzu—
erſtatten.
Alſo öffnete er den Karton. Er war nicht verſiegelt und ent—
hielt vier ebenfalls noch offene ‘Briefe. Alle vier rochen nad
fheuflihem Tabak.
all
Der erfte war adreffiert an die Frau Marquife de Grucheray,
vis-à-vis dem Abgeordnetenhaus... .
Marius date, daß er vielleicht in dem Brief die nötigen
Anhaltspunfte finden werde, die er fuchte, und daß er bas
Schreiben, das ja noch unverfhloffen fei, wohl lefen dürfe. Das
Schreiben hatte folgenden Wortlaut:
„Frau Marquife,
die Tugend der Milde und Barmherzigkeit ift es, die die
menſchliche Gefellfhaft zufammenhält. Betätigen Sie hr
hriftliches Gefühl und werfen Sie einen Blick des Mitleids
auf einen unglüdlihen Spanier, der ein Opfer feiner
Königstreue und Anhänglichfeit an die gebeiligte Sache der
Gefeslichkeit ift, wofür er mit feinem Blut bezahlt, fein
Vermögen eingefeht und verloren hat, alles um diefe Sache
zu verteidigen, und jeßt in unangenehmften Derhältniffen ift.
Er zweifelt nicht, daß Euer Gnaden ihm eine Unterftüsung
gewähren werden, eine Eriftenz weiterzuführen, die fon
genug Unangenehmes für einen wohlerzogenen und ebren-
haften Offizier, gar mit Wunden bededt, und er zählt [bon
im voraus auf die MenfchlichFeit, die in Ihnen lebendig if,
und auf bas Intereſſe, welches die Frau Marquife für eine
fo unglüflide Nation empfindet. Unfere Bitte wird nicht
vergeblich fein, und möge Ihnen unfere Dankbarkeit an-
genebm in Erinnerung bleiben.
Sehr ergeben babe ich die Ehre zu fein, Frau Marquife,
Ihr
Don Alvarez, fpanifher Kavalleriehauptmann, flüchtiger
Moyalift auf Meifen im Intereſſe feines Vaterlandes, und
augenblicklich ohne die Mittel, diefe Reiſe fortzufegen.”
Diefer Unterfhrift war Feine Adrefle beigefügt. Marius
hoffte, fie immerhin noch in dem zweiten Brief zu finden, der
an die Frau Gräfin de Montvernet, Rue Eaffette No. 9, ge-
ridhtet war. Marius las folgendes:
412
„Frau Gräfin,
es handelt fit um eine unglüdlihe Samilienmutter von fes
Kindern, deren lebtes erft at Monate alt ift. Und dabei id
felber krank feit meiner letzten Miederfunft, feit fünf Mo-
naten verlaffen von meinem Mann, ohne Hilfe in fchred-
licher Mot.
In der Hoffnung auf die Frau Gräfin babe ich die Ehre,
zu fein Ihre refpeftvollfte
Frau Balizard.“
Seht las Marius den dritten Brief, der wie die andern eine
Bittſchrift enthielt:
„Herrn Pabourgeot, Wähler, Strumpfwaren en gros,
Nue Saint-Denis, Ede Rue aur Gers.
Ich erlaube mir diefen Brief an Sie zu richten, um die
Gunft Ihrer Simpatie und hr Intereſſe zu gewinnen
für einen Schriftfteller, der eben ein Drama beim Théatre
Francais eingereicht hat. Der Stoff davon ift biftorifh, und
die Handlung fpielt im Auvergne in der Kaiferzeit. Der Stil
ift, glaube ich, natürlich, lakoniſch, ſehr verdienſtvoll. An vier
Stellen gibt e8 Sachen zum Singen. Komifches, Ernftes
und Unvorhergefehenes mifchen fih mit der Derfchiedenheit
der Charaktere und die ganze Intrige, die recht mifteriös vor
fih geht, ift Teicht romantifh, fo daß durch verblüffende
Überrafchungen in effeftvollen Szenen der Schluß berbei-
geführt wird.
Mein befonderes Ziel ift, dem Bedürfnis der jesigen
Menfhen nad der Art unferes Jahrhunderts zu dienen, alfo
der Mode zu folgen, diefer launifhen Wetterfahne, die fic
immer nad jedem Wind dreht.
Zroß diefer Vorzüge habe ich Grund zu fürdten, daß die
Eiferfuht und der Egoismus der privilegierten Schriftfteller
mir den Weg zum Theater verfchließt, denn ich weiß, wie
fhiwer man es den neuen Autoren mat.
413
Herr Pabourgeot, br verdienter Ruf als Gönner der
Liberaten mat fit fo Fühn, Ihnen meine Tochter zu fbiden,
die Ihnen unfere fchwierige Situation erflären wird, denn
es fehlt an Brot und Feuer, trot Winter. Sie fol Ihnen
fagen, daß Sie die Ehre annehmen follen, mein Drama von
mir gewidmet zu befommen, und auch alle andern, die ich noch
machen werde, und bas wird Ihnen beweiſen, wieviel ich von
der Ehre halte, unter Ihrer Beihüsung herauszukommen
und meine Schriften mit Ybrem Namen zu zieren. Wenn
Sie mid nur mit einer Éleinen Unterftüßung begünftigen
wollen, werde ih auch ein Stück in Neimen fehreiben, um
Ihnen zu zeigen, wie dankbar ich bin. Es foll fo ſchön wie
möglich werden, und ich werde es Ihnen sufchiden, bevor es
in Szene geht.
Herrn und Frau Pabourgeot ergebenfter
Genflot, Schriftfteller.
P. S. Und wenn es aud nur vierzig Sous find. Entfbul-
digen Sie, daB ich Ihnen meine Tochter fhide und mid)
nicht felbft vorftelle, aber ach, meine fchlechten Toilettezuſtände
erlauben e8 mir nicht.”
Endlich öffnete Marius nod den vierten Brief. Er war an
den wohltätigen Herrn aus der Kirche Saint-Vacques du Haut-
Das gerichtet.
nBobltätiger Mann,
wenn Sie meine Iochter begleiten wollen, werden Sie ein
furdtbares Elend feben, und ich zeige Ihnen auch meine
Beugniffe. Beim Anblie diefer Zeilen wird Ihre großmütige
Seele wohlwollend geftimmt werden, denn die wahren Filo-
fofen find immer mweichherzig. Geben Sie zu, mitleidiger
Mann, daß man in gräßlicher Mot fein muß und daB es
peinlich ift, eine Unterftüßung zu erbitten und fih von Amts
wegen beftätigen zu laflen, daB man nichts bat, als ob es
nicht jedermanns Recht wäre, zu leiden und zu bungern, bis
414
einer ung hilft. Das Schiefal ift für manche febr verſchwen—
derifh und für die andern recht fatal.
Sch erwarte Ihren Beſuch oder Ihre milde Gabe, wenn
Sie mir eine geben wollen, indem id Sie bitte, meiner Hoch—
achtung verfichert zu fein, hr ergebener Diener
D. Favanton,
bramatifher Schaufpieler.”
Nachdem Marius diefe vier Briefe gelefen hatte, wußte er
nicht viel mehr als zu Anfang. Keiner diefer Abfender nannte
feine Adreſſe. Und wenn deren aud viere genannt waren, ein
Don Alvarez, eine Frau Balizard, ein Dichter Genflot und
ein Scaufpieler Savantou, war doc allen ein gemeinfamer
ſchlechter Stil und die gleihe Handfhrift eigen. Mußte man
nicht baraus Schließen, daß fie von einer einzigen Perſon ber-
rührten?
Mod dazu waren alle auf demfelben groben, gelblidhen
Papier gefchrieben, rochen gleichermweife nad) Tabak, und obwohl
der Stil offenfichtlich verfchieden fein follte, hatte ſich doc der
Shhriftfteler Genflot ebenfowenig von Schnißern freibalten
Fönnen wie der fpanifche Hauptmann.
Indeſſen war es wohl unnötige Mühe, über diefes Fleine
Geheimnis nachzudenken. Bielleiht hätte man die Briefe,
wären fie nicht ein Fund gemefen, für einen ſchlechten Scherz
halten Fünnen. Marius war in feiner Seele zu fraurig, um fi
an einem Scherz zu beteiligen, den er von der Straße auf-
gelefen hatte. Nichts deutete darauf bin, daB diefe vier ‘Briefe
den jungen Mädchen gehörten, denen Marius auf dem Boule—
vard begegnet war. Offenbar war es belanglofes Gefchreibfel.
Marius ftedte es in den Karton, warf es in eine Ecke und legte
fih zu Bett.
Gegen fieben Uhr morgens, als er aufftand und fib anſchickte
zu frühftüden, wurde leife an feine Züre geflopft.
„Herein! rief Marius.
Die Tür ging auf.
415
„Was gibt es, Frau Bougon?“ fragte Marius, ohne von
dem Bud aufzublien, das vor ihm aufgefchlagen Ing.
Eine fremde Stimme antwortete ihm:
„Verzeihung, mein Herr . . ."
Es war eine heifere, ſchwache, gepreßte Stimme, die einem
alten Mann gehören mochte, die Stimme eines DBranntwein-
trinkers ...
Marius wandte ſich um und ſah ein junges Mädchen vor ſich.
4. Eine Roſe im Elend
Ein blutjunges Mädchen ſtand in der Tür. Es war ein
Ihwädhliches, abgezehrtes, mageres Geſchöpf; nur ein Hemd
und ein Unterrocd fhüßte feine Nacktheit gegen die Kälte. Spike
Schultern ftanden aus dem Hemde hervor, die Haut war blaß
wie die von Schwindfüchtigen, bas Schlüffelbein zeichnete fic
deutlih ab; die Hände waren gerötet, der halbgeöffnete Mund
zeigte Sabnlüden: fo machte diefes junge Mädchen bob aud
zugleich den Eindruc einer verderbten Frau.
Marius war aufgeftanden, faft erfhroden über den Anblid
diefer Erfheinung, die eher einem Schatten als einem lebenden
Mefen glich.
Den tiefften Eindrudf vermittelte ihm vielleicht die Empfin-
dung, daß biefes junge Mädchen nicht häßlich zur Welt gefom-
men war. In ihrer erften jugend mochte fie hübſch gemwefen
fein. Die Anmut ihres Alters rang nod mit dem abftoßenden,
vorzeitigen Alter, das durch Not und Lafter heraufbeſchworen
wird. Ein Meft der Schönheit einer Sechjehnjährigen war no
in diefem Geficht.
Marius fannte es nicht. Doch glaubte er fi zu erinnern,
daß er es irgend einmal gefehen hatte.
n Bas wollen Sie?’ fragte er.
Mit ihrer rauhen Stimme einer Trinkerin antwortete fie:
„Ein Brief für Sie, Herr Marius.”
Sie redete ibn mit Namen an; er fonnte nicht daran zweifeln,
416
daß fie wirklid ihn meinte, aber wer war fie? Und woher wußte
fie feinen Namen?
Sie wartete nicht, bis er fie einlud, näherzutreten, fondern
drang entfchloffen und mit einer Sicherheit, die Marius unan-
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‚genehm berührte, in bas Zimmer ein; ihr Bli fiel auf das
noch ungemachte Bett. Ihre Füße waren unbefleidet, und durch
die Löcher in dem Unterrocd Eonnte man ihre langen Beine und
mageren Knie feben. Sie zitterte vor Kälte.
Test reichte fie Marius ihren Brief.
27 Hugo, Die Elenden. 417
As er ihn öffnete, bemerfte er, daß die Oblate nod feucht
war. Offenbar Fam diefe Botſchaft nicht aus weiter Ferne.
Er las:
„Liebenswürdiger Nachbar, junger Mann!
Ich babe erfahren, daB Sie vor fehs Monaten fo gütig
waren, meine Miete für mich zu bezahlen. Ich fegne Sie da-
für, junger Mann. Meine ältere Tochter wird Ihnen fagen,
daß wir feit zwei Tagen Feinen Biffen Brot im Haufe haben,
und dabei find wir vier Leute — und meine Frau ift franf.
Menn mich meine Hoffnung nicht trügt, darf ich von Ihrem
großherzigen Sinn erwarten, daß diefe Nachricht in Ihnen
den Wunfd erregt, uns neuerlich einer Eleinen Gabe zu
würdigen.
Sch bin mit der ganzen Hochachtung, die man den Wohl-
tätern der Menfchheit fchuldet
Jondrette.
P. S. Meine Tochter erwartet Ihre Befehle, werter Herr
Marius.”
Diefer Brief war wie ein Licht in der Finfternis. Plötzlich
lag dag ganze dunfle Abenteuer, bas Marius feit geftern abend
befhäftigte, aufgehellt vor ibm. Offenbar Fam biefes Schreiben
aus derfelben Quelle wie die andern vier. Die gleihe Hand-
fbrift, dag gleiche Papier, derfelbe Tabaksgeruch. Hier handelte
es fi um fünf Sendfchreiben, fünf verfhiedene Gefchichten,
fünf Namen, fünf Unterfohriften, und um einen einzigen Ab-
fender. Der fpanifhe Hauptmann Don Alvarez, die beflagens-
werte Mutter Balizard, der dramatifhe Dichter Genflot, der
alte Schaufpieler Favantou — fie alle waren nur Yonbrette,
wofern nämlich Jondrette wirflich Jondrette hieß.
Alles war Élar. Marius begriff, daß fein Nachbar Jondrette
in feiner Mot ein Gewerbe daraus mate, die Mildtätigfeit
wohlmwollender Leute auszunüßen. Offenbar verfhaffte er fi
Adreffen und fchrieb unter allen möglihen Namen an Leute,
418
die er für reich und mitleidig hielt; feine Töchter mußten biefe
Briefe auf eigene Gefahr beftellen, denn der Dater begriff
wohl, daß er damit feine Töchter aufs Spiel ſetzte; er hatte
feine Partie mit dem Schickſal und wollte fie offenbar als
Zrümpfe benüßen.
Marius begriff auch, wenn er ſich ihrer Flucht von geftern
erinnerte, daß diefe unglücklichen Gefhöpfe irgendeinen dunklen
Beruf ausübten und daß er es hier mit zwei Opfern der menfch-
lichen Gejellfhaftsordnung, zwei armen Gefchöpfen zu tun hatte,
die weder Kinder, no Mädchen, nod Frauen waren, fondern
zugleich unreine Kreaturen und unfchuldige Ausgeburten der
Mot. Namenlofe ohne Alter und Gefchleht, unfähig zum Guten
und zum DBöfen, und die bereits im Ausgang des Kindesalters
weder Freiheit, noch Tugend, noch Derantwortlichfeit befißen.
Geftern entfaltete Seelen, die heute fon welk find, und die
Blumen gleichen, die man in den Straßenkot geworfen hat und
die da warten, bis das Wagenrad fie vollends zermalmt.
Während Marius fie mit einem verwunderten und zugleich
ſchmerzlichen Blick betrachtete, ging bas junge Mädchen mit
feltener Unverfrorenheit in dem Zimmer auf und ab. Daß fie
halb nackt war, fhien fie Faum zu ftören. Zuweilen rutfchte ihr
bas zerriffene und elende Hemd faft bis zum Gürtel herab. Sie
ſchob Stühle beifeite, nahm Xoilettegegenftände, die auf der
Kommode lagen, in die Hand, betaftete Marius’ Kleider und
durchſuchte die Winkel.
„Ach, Sie haben einen Spiegel!” rief fie.
Und fie begann vor fich bin zu fingen. Aber unter ihrer Un-
verfrorenheit ſchimmerte doch etwas wie Unruhe und Beſchä—
mung duch. Ihre Frechheit war ihre Art fih zu ſchämen.
Marius ließ fie gewähren.
Endlich trat fie an den Tiſch.
„Ah, Bücher!’ fagte ſie. „Ich Éann auch leſen.“ Und fie
bücfte fi) über den aufgefchlagenen Band. ,, General Bauduin
erhielt Befehl, mit den fünf DBataillonen feiner Brigade das
Schloß Saugomont zu nehmen, das inmitten der Ebene von
er 419
Baterloo . . . ad Waterloo,” unterbrach fie fi, „das fenne
ih. Das war einmal eine Schlacht, dort. Mein Doter war aud
dabei. Der bat auch als Soldat gedient. Wir find brave Bona—
partiften, unter ung gejagt. Damals ging’s gegen die Englän-
der, in Waterloo.” Sie fhlug bas Bud zu und nahm eine
Feder. „Schreiben fann ih aud. Wollen Sie feben? Ich
fhreib” hier etwas auf das Blatt, Sie follen gleich ſehen!“
Bevor er antworten Eonnte, hatte fie auf bas Blatt ge-
— „Die Polente iſt da.“
Dann legte ſie die Feder wieder hin.
„Ganz ohne orthographiſche Fehler, das ſehen Sie doch. Wir
haben unſere Erziehung gehabt, meine Schweſter und ich. Es
war nicht immer fo wie jetzt. Damals ...“
Sie ſtockte, richtete einen erloſchenen Blick auf Marius und
ſagte ſchließlich auflachend:
„Ach was! Ja, Sie gehen wohl auch manchmal ins Theater,
Herr Marius? Ich auch. Ich habe einen kleinen Bruder, der
ſteht mit den Schauſpielern gut und ſchenkt mir manchmal
Karten. Aber auf die Galerie geh' ich nicht gern. Da ſitzt es
ſich nicht gut. Oder man hat ganz dicke Leute neben ſich, oder
gar ſolche, die ſchlecht riechen. Sie ſind übrigens recht hübſch,
Herr Marius, wiſſen Sie das auch?“
Beide dachten im Augenblick wohl dasſelbe, fie lächelte und
er errötete.
„Allerdings, fagte fie und legte ibm die Hand auf die
Schulter, „Sie feben mich ja nicht an, aber ich Fenne Sie wohl,
Herr Marius, Manchmal treffe ih Sie auf der Treppe, oder
manchmal, wenn Sie ausgehen, zum DBeifpiel zu diefem Herrn
Mabeuf. Da Eomme ich auch vorbei. Die Wuſchelhaare ftehen
Ihnen recht gut, wahrhaftig.‘
Sie bemühte fih offenbar, ihre Stimme fanft Élingen zu
lafien, aber es gelang ihr nur, leife zu fprehen. Manche Worte
gingen zwifchen Kehlfopf und Tippen verloren, mie Töne auf
einem Klavier, dem einige Taften fehlen.
420
Marius war zurücgetreten.
„Fräulein,“ fagte er Éübl, „ich babe hier ein Paket, bas, wie
id glaube, Ihnen gehört. Geftatten Sie, daB ich es Ihnen
zurückgebe.“
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Und er reichte ihr den Karton mit den vier Briefen.
Sie Élatfhte in die Hände und rief:
„Und wir haben es überall gefuht! Und Sie haben es ge-
funden! Auf bem Boulevard, nicht wahr? Im Laufen haben
wir es verloren. Meine Schwefter, diefe dumme Derfon, bat
421
e8 verloren. Zu Haufe haben wir es dann gefubt. Natürlich
haben wir gefagt, daß wir die ‘Briefe beftellt haben, denn fonft
hätte es Prügel geſetzt, und bas ift unnüß, ganz unnüß, voll-
fommen unnüß. Und wir haben gefagt, daB alle Teute ung ge-
antwortet haben: Mir! Da find jest die Briefe! Woraus haben
Sie nur erkannt, daß fie mir gehören? Ach, an der Schrift wohl?”
Inzwiſchen hatte fie den Brief, der an den wohltätigen Herrn
in der Kirche Saint-Vacques du Haut-Pag gerichtet war, entfaltet.
„Ad, das ift der an den alten Kirchgänger. Ma, da komm'
ich ja noch zurecht. Ich werd’ ihn noch beftellen. Vielleicht fpringt
Dabei ein Frühſtück heraus.‘
Bei diefen Worten erinnerte fih Marius des Umftanbes,
dem er wohl den Beſuch diefes Mädchens verdanfte. Er griff
in feine Safe und fand darin fünf Sranfen und fechzehn Sous,
alles, was er im Augenblick befaß. Nun, ich behalte mir etwas
für ein Abendbrot, morgen wird man ja weiterfehen, dachte er.
Und er reichte dem jungen Mädchen die fünf Franken.
„Holla,“ rief fie, ‚volle fünf Franken! Sin fo einer Bude —
Sie find ja wirflic ein guter Junge. Bravo! Das ift ja eine
ganze Menge! Das gibt was zu Trinfen, und Fleifh und alles
mögliche noch!‘ |
Sie zog das Hemd über die Schulter, verneigte ſich tief vor
Marius, winfte ihm dann vertraulich und wandte fih zur Tür.
„Guten Tag, mein Herr, fagte fie, „meinen Alten werde
ih ja auch noch erreichen.”
Dann ging fie.
5. Die Vorfehung läßt Marius einen Blid
in ein fremdes Zimmer tun
Gewiß hatte Marius in den lekten fünf Jahren in Mot und
Entbehrung gelebt, aber jest begriff er, daß er bas wahre Elend
noch nicht Fannte. Das wahre Elend hatte er jebt zu feben
befommen.
Denn eines Mannes Elend Fann nie vollftändig fein, und
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wer ermeflen will, was Elend ift, muß das furdtbare Elend
einer Frau feben, oder, nod furchtbarer, das des Kindes.
Marius mate fit Vorwürfe, daß er fo lange feiner Träu-
merei nachgehangen hatte, ohne fit um feine Nachbarn zu
fümmern. Daf er damals ihre Miete bezahlte, war eine me-
anifhe Regung gewefen, deren fih aud ein anderer nicht er-
wehrt hätte; er, Marius, hätte mehr tun miiffen. Ach, nur eine
Wand trennte ibn von diefen Verlaffenen, die taftend in der
Naht des Elendg lebten, täglich ging er an ihnen vorüber,
ftreifte fie faft, war vielleicht der einzige Menfch, mit dem fie
in Berührung famen, der ihren Atem, ihr Röcheln hörte —
und er hatte ihrer nicht geachtet. Täglich, ftündlid hatte er durd
diefe Mauer gehört, wie fie auf und ab gingen, fpraen, be-
rieten — und hatte nicht gelaufcht. Vielleicht waren ihre Worte
Seufzer gewefen, er hatte fie nicht gehört. Seine Gedanken
weilten anderswo, in unerreihbaren Sphären, bei Iraum-
gebilden; und während biefe menfchlichen Gefchöpfe, feine Brü—
der in Chrifto, feine Brüder aus dem Dolfe, neben ibm im
Iodesfampf lagen, in einem finnlofen Ringen um dag Leben,
hatte er geträumt! Er war mitfchuldig an ihrem Elend, er hatte
es noch fhlimmer gemadht. Hätten fie einen anderen Nachbar
gehabt, einen, der aufmerffamer war und nit in Phantafien
fhiwelgte, einen gewôbnlihen Menſchen mit einem gefunden
Herzen im Leibe, gewiß wäre ihr Sammer bemerkt worden,
längft hätte man fie aus der Goffe aufgelefen und gerettet! Ge-
wiß waren fie erniedrigt, verderbt, gemein, feheußlich fogar, aber
wie felten verfallen Menfhen der Mot, ohne ſich zu befhmuben?
Es gibt einen Zuftand, in dem Schmadh und Unglücf basfelbe
find, und diefes eine Wort ‚Die Elenden‘ bedeutet ja fchon
beides. Wellen Schuld ift bas? Und muß nicht, je tiefer der
Fall, um fo größer auch das Mitleid fein?
Während Marius fit dies alles vorhielt und dabei, wie alle
wahrhaft edlen Herzen, härter mit fih zu Gericht ging als er
verdiente, betrachtete er die Mauer, die ibn von den Jondrettes
trennte, als ob fein Blick vol Mitleid burd diefe Wand zu
423
ihnen dringen und die Unglüdlihen märmen Eönnte. Es war
eine dünne Wand aus Brettern und Balken, durd die man
Geräufh und Stimmen aus dem Nahbarraum fehr wohl ver-
fteben Fonnte. Man mußte ein Träumer wie Marius fein, um
es nicht längft bemerft zu haben. Faft unbewußt betractete
Marius die Mauer. Plöslih bemerkte er oben in der Wand,
fnapp unter der Dede, ein breiediges Loch, bas zwifchen drei
‘Brettern freigeblieben war. Die dürftige Mörtelverfleidung
war abgebrödelt, fo daß Marius, wenn er auf feine Kommode
ftieg, bequem in dag Zimmer der Yonbrette binabbliden Eonnte.
Das Mitleid bat zuweilen das Recht, neugierig zu fein. Es
ift erlaubt, bas Elend zu belaufhen, wenn man ibm zu Hilfe
fommen will.
Marius flieg auf die Kommode und blickte durch das Loch in
den Nachbarraum.
6. Das Raubtier in feiner Höhle
Die Höhlen der Naubtiere find zuweilen denen der Menfchen
vorzuziehen.
Marius bliefte in ein fbmubiges Loc.
Er felbft war arm, fein Quartier war dürftig; doch war feine
Armut edel, fein Unterfehlupf fauber. Das Loc aber, in das er
jest fab, war verlottert, fhmußig, bunfel, widerwärtig. Das
Mobiliar beftand aus einem Strohfeflel, einem wadeligen Tiſch,
einigen alten Iöpfen, zwei elenden Bettgeftellen; dem Senfter
dienten wohl die Spinnweben als Vorhänge. Durch diefe Lufe
drang gerade genug Licht ein, um die Menfchen in diefem Raum
gefpenftifch erfcheinen zu laffen. Die Wände waren unrein mie
die Haut eines Leprafranfen, bededt mit Narben und Miffen.
Klebrige Feuchtigkeit haftete an ihnen. Irgend jemand hatte
mit einem Kohlenftift obfzöne Skizzen darauf gezeichnet.
Doch gab es in diefem Zimmer einen Kamin — darum
foftete es au vierzig Franken jäbrlihe Miete. Und in bem
Ramin war alles mögliche zu bemerfen, ein Fleiner Kochherd,
424
ein Topf, zerbrochene Bretter, Fetzen, die an Nägeln hingen, ein
Vogelkäfig, Aſche, und fogar ein Éleines Feuer. Zwei Seite
brannten darin.
Die eine der beiden Pritſchen ftand an der Tür, die andere
am Senfter. Beide berührten den Kamin und ftanden an der
Mand, die Marius gegenüber lag. In einem Winfel hing an
der Wand eine farbige Gravure in einem ſchwarzen Hol
rahmen, unter der mit großen Tettern gefchrieben ftand:
„Der Traum.’
À
425
Sie ftellte eine ſchlafende Frau und ein fblafendes Kind bar;
über ihr in einer Wolfe ſchwebte ein Adler, der eine Krone im
Schnabel trug; die Schlafende hatte die Krone offenbar, ohne
aufguvaden, von dem Kopf des Kindes zurücgefchoben. Im
Hintergrund Napoleon im Glorienfhein, geftüßt auf eine waſch—
blaue Säule mit einem vergoldeten Kapitel, das folgende In—
ſchrift zeigte: Marengo
Aufterliß
Jena
Wagram
Eylau
Unter dieſem Bild ſtand, an die Wand gelehnt, ein großes
Holzſchild. Die bemalte Seite war offenbar der Wand zu
gerichtet.
An dem Tiſch, auf dem Marius eine Feder, Papier und ein
Tintenfaß bemerkte, ſaß ein Mann von etwa ſechzig Jahren:
klein, mager, blaß, mit einem grauſamen, unſteten Geſicht —
ein widerwärtiger Kerl.
Er hatte einen langen, grauen Bart. Seine Kleidung beſtand
aus einem Frauenhemd, bas feine zottige Bruſt und feine be-
haarten Arme bloß ließ, ferner aus einer mit Kot beſpritzten
Hoſe und Schuhen, aus denen ſeine Zehen hervorſtanden.
Er hatte eine Pfeife im Mund und rauchte.
Wahrſcheinlich ſchrieb er gerade wieder einen jener Bettel—
briefe, die Marius ſchon kannte.
Am Kamin hockte eine dicke Frau, die ebenſogut vierzig wie
hundert Jahre alt ſein konnte; ſie hatte fröſtelnd ihre bloßen
Füße an den Leib gezogen.
Auch ſie trug nur ein Hemd und einen Unterrock, der mit
zahlreichen Flicken beſetzt war. Eine Schürze aus grober Lein—
wand verdeckte die Hälfte dieſes Unterrocks. Obwohl dieſe Frau
gebückt ſaß, konnte man ſehen, daß ſie ſehr hochgewachſen war.
Gegen ihren Gatten konnte ſie eine Rieſin darſtellen. Sie hatte
426
rötliche, ergrauende Haare, die fie zuweilen mit ihren plumpen
Händen zurüdftrid.
Auf einer der Pritfchen bemerfte Marius ein hochgewach—
jenes junges Mädchen, das faft nadt war und im Sitzen die
Beine baumeln ließ; fie fbien weder zuzubören noch zu feben
oder überhaupt zu leben.
Offenbar war es die jüngere Schwefter des Mädchens, bas
zu Marius gefommen war. Sie fébien elf oder zwölf jahre alt,
aber wenn man näher zuſah, Fonnte man fie auf vierzehn
ſchätzen.
Geraume Zeit blickte Marius in dieſen ungemütlichen Raum
hinab, der ihm abſtoßender erſchien als ein Grab, denn in dieſer
Gruft atmeten und lebten Menſchen.
Der Mann ſchwieg, die Frau döſte vor ſich hin, das Mädchen
war vollkommen regungslos. Man hörte, wie die Feder auf dem
Papier kratzte.
7. Strategie und Taktik
Bedrückt wollte Marius eben von ſeinem Beobachtungspoſten
herabſteigen, als ein unerwartetes Geräuſch ſeine Aufmerkſam—
keit neu weckte und ihn bewog zu bleiben.
Die Tür wurde jäh aufgeriſſen, die ältere der beiden Töchter
erſchien auf der Schwelle. Jetzt hatte ſie grobe Holzſchuhe an den
Füßen und war in eine alte zerlumpte Mantille gehüllt, die
Marius vorher nicht bemerkt hatte; offenbar hatte das Mädchen
ſie, um erbarmungswürdiger auszuſehen, vorher abgelegt und im
Weggehen wieder umgenommen. Jetzt trat ſie ein, ſchlug die
Tür hinter ſich zu, verſchnaufte — denn ſie war ganz außer
Atem — und rief dann triumphierend:
„Er kommt!“
Vater und Mutter wandten ſich ihr zu, nur die Kleine blieb
reglos.
„Der Philanthrop?“
„Ja.“
427
„Der von Saint-Jacques?“
„Ja.“
„Und er kommt beſtimmt?“
„Ja, in einer Droſchke.“
„In einer Droſchke! Es iſt Rothſchild ſelbſt.“
Der Vater ſtand auf.
„Aber woher weißt du ſo beſtimmt, daß er kommt? Wieſo
biſt du früher da als er, wenn er eine Droſchke genommen hat?
Haſt du ihm denn die richtige Adreſſe gegeben? Haſt du ihm
geſagt: die letzte Türe rechts im Korridor? Hoffentlich verirrt
er ſich nicht. Haſt du ihn in der Kirche getroffen? Was hat er
zu meinem Brief geſagt?“
„Babababa,“ ſagte die Tochter, „du haſt es aber eilig! Alſo
ich bin in die Kirche gekommen, er war natürlich da, wie immer,
und habe gegrüßt. Dann habe ich ihm den Brief gegeben, und
er hat geſagt: Wo wohnen Sie, mein Kind? Ich wollte ihn
gleich führen, aber er verlangte nur die Adreſſe, denn ſeine
Tochter hatte noch Einkäufe zu beſorgen, und er wollte dann
eine Droſchke nehmen. Er ſagte, er würde gleichzeitig mit mir
hier ſein. Als ich ihm die Adreſſe angab, war er überraſcht und
ſchien zu zögern, dann aber ſagte er: ‚Gut, id Eomme‘. ch fab
ihn nach der Meſſe aus der Kirche weggehen und in den Fiaker
einſteigen. Das war in der Rue du Petit Banquier. Dann bin
ich gelaufen.“
„Gut, du biſt ein geſcheites Mädchen.“
In dem Geſicht des Mannes leuchtete es auf.
„Frau,“ ſagte er, „der Philanthrop kommt. Feuer löſchen!“
Die verblüffte Mutter rührte ſich nicht.
Gewandt wie ein Seiltänzer langte der Vater einen Topf
ohne Henkel vom Kamin herab und goß das Waſſer auf die
brennenden Scheite. Dann ſagte er zu ſeiner älteren Tochter:
„Schlag den Stuhl entzwei.“
Sie begriff nicht.
Dann nahm er den Stuhl und ſtieß mit dem Fuß ſo heftig
in das Strohgeflecht, daß das ganze Bein durchkam.
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Mährend er es wieder herauszog, wandte er fih an feine
Tochter:
„Iſt es kalt draußen?“
„Sehr kalt, es ſchneit.“
Der Vater wandte ſich zu der jüngeren Tochter, die noch
immer auf der Pritſche ſaß, und brüllte ſie an:
„Raſch, herunter von dem Bett, Nichtstuerin! Du betätigſt
dich gar nicht im Haushalt! Schlag eine Fenſterſcheibe ein!“
Die Kleine ſprang von der Pritſche herunter.
„Eine Fenſterſcheibe ſollſt du einſchlagen!“
Das Kind blieb betroffen ſtehen.
„Hörſt du nicht?“
In ihrem verſchüchterten Gehorſam ſtellte ſich die Kleine auf
die Zehenſpitzen und ſchlug mit der Fauſt in eine Scheibe. Laut
klirrend fiel das Glas heraus.
„Gut“, ſagte der Vater.
Nun warf er einen prüfenden Blick auf das Zimmer. Man
hätte ihn für einen General halten können, der vor der Schlacht
die letzten Vorbereitungen trifft.
Die Mutter hatte bis jetzt noch nichts geäußert. Langſam und
dumpf fragte ſie:
„Liebling, was willſt du tun?“
„Leg' dich aufs Bett“, antwortete der Mann.
Der Ton, in dem dieſer Befehl erteilt wurde, erlaubte keine
Widerrede. Die Mutter gehorchte und fiel ſchwer auf die
Pritſche. Aus der Ecke war Schluchzen zu hören.
„Was iſt denn los?“ fragte der Vater.
Die Jüngere von den beiden Schweſtern ſtreckte, ohne aus
ihrer Ecke hervorzukommen, ihre blutige Hand vor. Sie hatte
ſich an der zerſchlagenen Fenſterſcheibe verletzt.
Nun begann die Mutter zu ſchreien.
„Da ſiehſt du, was für Dummheiten du machſt! Jetzt hat
die Kleine ſich geſchnitten!“
„Um ſo beſſer.“
„Wieſo um ſo beſſer?“
429
„Ruhe! ch unterdrüde die Freiheit der Meinungsäußerung.‘
Dann riß er von feinem Frauenhemd einen Lappen ab und
verband damit die blutige Hand der Kleinen.
Sein prüfender Blick fiel auf fein Hemd.
„Das Hemd geht, fagte er, „es bat Stil. Dann lehnte
er fih an den Kamin:
„Sp, jest Fönnen wir den Philanthropen empfangen.’
8. Ein Libtftrabl fällt in ein dunfles Tod
est berrfhte längere Zeit Stillſchweigen in der Höhle.
Die ältere Tochter fhabte mit forglofer Miene den Kot von
ihrer Mantille, die junge weinte vor fih bin. Die Mutter hatte
ihren Kopf in die Hände genommen, Füßte ibn und flüfterte:
„Stil, Schatz, es ift nicht fhlimm, weine nicht, Papa wird
fonft böſe.“
„Ganz und gar nicht,” fagte der Vater, „weine nur. Das
ift ganz gut.‘
Dann wandte er fi) an die Ältere:
„Siehft du, er kommt nicht. Sekt hab’ ich bas Feuer aus-
gelöfht, den Stuhl ruiniert, mein Hemd zerriffen und die
Scheibe eingefohlagen — alles für nichts.”
In demfelben Augenblif wurde leife an die Tür geflopft.
Sofort öffnete der Alte und empfing feinen Gaft mit tiefen
Verneigungen und liebenswürdigem Lächeln.
„Treten Sie ein, mein Herr. Geruben Sie einzutreten, mein
edler Mohltäter, und aud Sie, treten Sie ein, reigendes
Fräulein!“
Ein bejahrter Mann und ein junges Mädchen erſchienen auf
der Schwelle.
Marius hatte ſeinen Platz noch nicht verlaſſen. Was er in
dieſem Augenblick empfand, läßt ſich nicht beſchreiben.
Es war ſie.
Sie! Kaum hatte Marius fie erkannt, als ſich ein lichter
Schleier über ſeine Augen legte. Das war dieſes entzückende
430
Gefiht, bas verſchwunden war, um ibn in biüfterer Macht
zurüdzulaffen. est ging die verfinfterte Sonne wieder auf!
Und bier in diefer Höhle, an diefem Ort des Schreckens
follte er fie wiederfinden!
Er zitterte. Er fühlte, daB er in Tränen ausbrechen werde.
Ihm war, als ob er feine verlorene Seele wiederfände.
Sie war unverändert, nur ein wenig blaffer; ihr reizendes
Gefihthen wirfte unter dem violetten Samthut fchöner als je.
Sie trug einen Schwarzen Atlaspelz. Ihre Éleinen Füße ftecften
in Seidenfhühchen.
Mod immer war fie in Begleitung Herren Leblancs. Sie
hatte einige Schritte in bas Zimmer hinein gefan und ein
ziemlich großes Paket auf den Tifch gelegt.
Die ältere Tochter Vonbrette hatte fih Hinter die Tür zurück—
gezogen und betrachtete düfter den Samthut, den Seidenmantel
und bas ftrablenbe, glückliche Antlis.
9, Jondrette weint faft
„Mein Herr,” fagte Leblanc zu Vonbrette, „Sie finden in
diefem Dafet einige Kleidungsftücde, Strümpfe und Woll—
decken.“
„Unſer edler Wohltäter überhäuft uns mit gütigen Ge—
ſchenken“, antwortete Jondrette und verneigte ſich tief. Dann
flüſterte er ſeiner älteren Tochter, während die beiden Beſucher
ſich in dem kläglichen Raum umſahen, zu:
„Lumpenzeug, aber fein Geld. Immer dasſelbe. Übrigens,
wie war der Brief an diefen alten Trottel unterſchrieben?“
„Favantou.“
„Aha, dramatiſcher Schauſpieler!“
Jondrette hatte Glück, denn in dieſem Augenblick wandte
ſich Leblanc zu ibm und ſagte mit der Miene eines Mannes,
der in ſeinem Gedächtnis nach einem Namen ſucht:
sh ſehe, es geht Ihnen ſehr ſchlecht, Herr ...“
„Favantou“, antwortete Jondrette eifrig.
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‚Richtig, Herr Savantou. Vebt erinnere ich mich.“
„Ich bin dramatifher Schaufpieler, mein Herr, id babe
meine Erfolge gehabt!”
Offenbar glaubte Jondrette den Augenblick gefommen, um
dem Philanthropen zu fagen, wer er war. Mit der Mimik eines
Jahrmarktelowns und der Demut eines Straßenbettlers ſprach
er weiter:
„Ich bin ein Schüler Ialmas, mein Herr! Einft bat mir
dag Glück gelächelt. Ach, und jest bat fib alles zum Böſen
gewandt. Sie feben, mein Wohltäter — Fein Brot, Fein Feuer
im Kamin! Meine armen Kinder müffen frieren! Der einzige
Stuhl ift verdorben, die Senfterfeheibe zerbrochen! Und bas bei
diefem furchtbaren Wetter! Meine Gattin im Bert — Frank!”
„Die arme Frau’, fagte Leblanc.
„Und mein Kind verwundet!”
Die Kleine beulte noch immer vor fi bin.
„Sie feben, ſchönes Fräulein,” fuhr Vonbrette fort, „ihre
Hand blutet! Sie arbeitet an der Maſchine, um täglich fes
Sous zu verdienen. Dabei ift ihr nun diefes Unglück zu-
geftoßen. Dielleiht wird man ihr den Arm abnehmen müſſen.“
„Im Ernft?’ fragte der Greis erfehroden.
Das junge Mädchen fchien diefe Prophezeiung ernft zu neb-
men, denn es begann noch lauter zu jammern.
„Ab, fo ift e8, mein Wohltäter“, ſchloß Vonbdrette.
Er hatte inzwifhen den Philanthropen mit eigenartigen
Blicken verfolgt. Während er ſprach, fbien er aufmerffam nac-
zudenfen, als ob er eine Erinnerung waczurufen fuchte. est
benüßte er einen Augenblid, da die Fremden die Hand der
Tochter betracteten, um an das Bett feiner Frau zu treten
und zu flüftern:
„Sieb dir den Mann an!”
Dann wandte er fich wieder zu Leblanc und fuhr fort zu
Élagen:
„Sie feben, mein Herr, id babe nichts anderes anzuziehen
als ein Hemd meiner Frau, und es ift ganz zerriffen! Und
432
mitten im Winter! Ohne Rock kann ich nicht ausgehen. Wenn
ich auch nur einen einfachen Mod hätte, ginge ich zu Fräulein
Mars, die mich Éennt und ſchätzt. Sie wohnt bod noch Nue de
la Zour-de8-Dames? Kennen Sie fie? Wir haben früher in
der Provinz miteinander gefpielt, und ich habe ihre Torbeeren
teilen dürfen. Célimène würde mir zu Hilfe Fommen, mein
Herr. Elmira würde Beliſar ein Almofen geben. Aber nein,
es ift unmöglich. Keinen Sou habe ih im Haufe! Meine Frau
ift Frank, und ich babe feinen Sou! Meine Tochter gefährlich
verwundet — Fein Geld im Haufe! Meine Frau leidet unter
Erftifungsanfällen. Das liegt wohl an ihrem Alter. Und ihre
Nerven find vollfommen verdorben. hr und meiner Tochter
wäre Hilfe nötig. Aber der Arzt?! Und wie foll ich ohne einen
Pfennig in der Tafhe den Apotheker bezahlen? Ad, fo weit
bat mich die Kunft gebracht, und wie tief find heutzutage die
Künfte gefunfen! Und begreifen Sie wohl, mein reizendes
Fräulein, und auch Sie, mein großmütiger Förderer, der Sie
Qugend und Güte ausatmen und jene Frömmigkeit der Kirche,
in der meine Tochter Ihnen täglid begegnet: ich erziehe meine
Zöchter religiös. Ich babe nicht erlaubt, daß fie zum Theater
gehen. Daß ich fie nicht auf Abwegen treffe! Da laſſ' ich mit
mir nicht fpaßen! Ich erziehe fie im Geifte der Ehre, der
Moral und der Tugend. Fragen Sie die Mädchen nur felbft!
Der gerade Weg ift der einzig anftändige. Diefe Kinder haben
einen Vater. Das find nicht Unglüdliche, die feine Familie
haben und fpäter aller Welt zu Willen find. Wer als Fräu—
lein Niemand anfängt, wird alsbald jedermanns Freund. So
etwas darf in der Familie Favantou nicht paffieren. Ich will fie
in Ehren großziehen, und fie follen fittfam und gottergeben fein,
heilig fei fein Name! Wiſſen Sie aber auch, was morgen ge-
Ihieht? Morgen ift der vierte Februar, der Schickſalstag, die
leßte, Außerfte Frift, die mir der Hauswirt gegeben hat, und
wenn ich heute abend nicht bezahle, wird morgen meine ältere
Zochter, meine fiebernde Frau, mein verwundetes Kind — alle
vier werden wir morgen aus biefem Haufe gejagt, auf die
28 Hugo, Die Elenden. 433
Straße geworfen, ohne Schuß, in Regen und Schnee! So
fteht’s mit uns, mein Herr. ch [bulbe vier Mieten, ein gan-
zes Fahr, volle fehzig Franken!‘
Jondrette log. Denn erftens waren vier Mieten nur vierzig
Sranfen, und zweitens Fonnte er nicht vier fehuldig fein, denn
Marius hatte ja vor ſechs Wochen zwei für ihn bezahlt.
Leblanc 30g ein Sünffranfenftüd aus der Tafhe und legte es
auf den if.
Sondrette flüfterte feiner Tochter zu:
„Der Geizkragen! Was fol ich mit feinen fünf Franken an-
fangen? Das reicht nicht einmal für den Stuhl und die Scheibe.
Mit fo etwas macht man fi) noch Speſen!“
Inzwiſchen hatte Herr Leblanc feinen braunen Überrod aus-
gezogen und über die Lebne des Stuhls gelegt.
„Herr Favantou,“ fagte er, ‚ih babe nur fünf Franfen bei
mir, aber ich will jest meine Tochter nah Haufe bringen und
will noch heute abend wiederfommen. Heute abend follen Sie
doch zahlen, nicht wahr?”
Ein feltfamer Ausdruck erfchien auf Jondrettes Geficht.
„Ja,“ erwiderte er lebhaft, ‚mein ehrenwerter Herr. Um
acht Uhr muß ich bei dem Sauswirt fein.’
„But, ih Éomme um fes und bringe Ybnen die fechzig
Franken.“
„Mein Wohltäter!“
Leblanc hatte den Arm des jungen Mädchens genommen und
wandte fid zur Zür.
„Auf heute abend alfo, meine Freunde!‘
Jetzt bemerfte die ältere Tochter ondrette den Mod, der
auf dem Stuhl hängengeblieben war.
„Sie vergeffen Ybren Überrod, mein Herr!‘
Ein furbtbarer Bli des Vaters traf fie.
Leblanc wandte fih um und fagte lächelnd:
„Ich babe ihn nicht vergeflen, ich laſſe ihn gern bier.’
434
10. Drofbhfentarif: zwei Franken
bie Stunde
Marius ftürzte aus feinem Zimmer. An der Ede des Poule-
vard angelangt, fab er die Drofchfe in voller Fahrt in die Rue
Moufetard einbiegen. Wie follte er fie einholen? Nachlaufen?
Das war unmöglich. Auch würde man aus dem Wagen feben,
daß jemand hinterherliefe, fo raf ihn die Deine frugen, und
der Dater würde ihn erkennen.
In diefem Augenblick Fam eine Droſchke vorüber, und Ma—
rius entfchloß fit — erftaunlicher und unerhörter Mut! —
einzufteigen und dem Fiafer zu folgen. Das war fiber, wirffam
und gefahrlos.
Alfo winfte er dem Kutfcher und rief:
„Auf eine Stunde.”
Marius war ohne Halstuh und trug feinen alten Arbeits-
rod, dem die Knöpfe fehlten; das Hemd war vorn an der Fälte-
lung des Bruſtſtücks zerriffen.
Der Kutfcher hielt, zwinferte, firedte die Linfe aus und rieb
mit vielfagender Miene Zeigefinger und Daumen aneinander.
„Was wollen Sie?”
„zahlen Sie voraus!”
Marius erinnerte fih, daB er nur ſechzehn Sous bei fid
hatte.
Wieviel macht dag?’
„Vierzig Sous.’
„Ich bezahle, wenn wir zurück find.’
Der Kutfcher antwortete nur, indem er pfiff und mit der
Peitſche ſchnalzte.
Erſchrocken ſah Marius der Droſchke nach, die ſich entfernte.
Für vierundzwanzig Sous, die ihm fehlten, verlor er ſeine
Freude, ſein Glück, ſeine Liebe! Wieder verſank er in tiefe
Nacht! Er hatte geſehen und ſollte wieder blind werden.
Verzweifelt kehrte er in das Haus zurück.
Als er die Treppe hinaufſteigen wollte, ſah er auf der andern
* 435
Seite des Boulevards Vonbdrette ftehen. Der Mann trug den
Mod des Philanthropen und fprah mit einem Kerl von be-
unruhigendem Außern; einem Menſchen, der ausfah wie ein
böfer Gedanke, einem von jenen, die tagsüber flafen, woraus
man wohl fchließen darf, daß fie des Nachts am Werke find.
So ſchmerzlichen Gedanken er auch nadbing, wurde er fi
bo in biefem Augenblick bewußt, daß diefer Partner on-
dreftes einem gewiflen Pandaud, genannt Bigrenaille, den ihm
Courfeyrac einmal gezeigt hatte, fehr ähnlich fab. Und biefer
Panchaud war einer der berüchtigtften Verbrecher von Paris.
11. Das Elend
bietetdem Kummer feine Dienfte an
Marius ftieg langjam die Treppe hinauf. Als er in feine
Stube eintreten wollte, fab er die ältere Yonbrette neben fich.
Sie war ihm offenbar gefolgt.
Ahr Anblif war ihm verhaßt, denn ihr hatte er die fünf
Sranfen gegeben, die er jeßt nicht mehr zurüdverlangen Éonnte
und deren Derluft ihm zugleich alle Hoffnung genommen hatte,
jenem Wagen zu folgen. Jetzt würde fie ibm bas Verlorene
gewiß nicht mwiederbringen können. Auch fie wußte offenbar die
Adreſſe nicht, denn fonft hätte fie ja den Brief des vorgeblichen
Savantou nit an den Wohltäter aus der Kirche Saint-Yacques
bu Haut⸗Pas gerichtet.
Er trat in fein Zimmer und ſchlug die Türe hinter fich zu.
Aber er ftieß auf MWiderftand. Eine Hand hatte fih in den
Spalt gefhoben.
„Was gibt's?“ fragte er, „wer ift ba? Ah Sie find es?
Schon wieder? Was wollen Sie denn?‘
Sie fab nachdenklich aus und hielt die Blicke zu Boden ge-
richtet. Jetzt war fie nicht fo fiher wie am Morgen. Sie trat
nicht ein, fondern blieb im Schatten des Korridorg ftehen.
„Antworten Sie bob, was wollen Sie denn?‘
436
Etwas leudtete in ihrem trüben Auge, als fie fagte:
„Herr Marius, Sie feben fo fraurig aus. Was haben Sie
denn?”
„Ich? Nichte.‘
„O doch.“
„Nein, wirklich nichts. Laſſen Sie mich in Ruhe.“
Wieder wollte er die Türe ſchließen, aber ſie hielt ihn zurück.
„Halt, das iſt nicht recht von Ihnen. Obwohl Sie nicht reich
ſind, waren Sie heute morgen gut zu mir. Seien Sie es auch
jetzt. Erſt haben Sie mir zu eſſen gegeben, jetzt ſagen Sie mir,
was Sie haben. Ich ſehe es ja, ein Kummer bedrückt Sie. Ich
will nicht, daß Sie traurig ſind. Kann ich etwas für Sie tun?
Vielleicht kann ich Ihnen einen Dienſt leiſten? Sagen Sie es
mir nur. Ich will keine Geheimniſſe erforſchen, Sie brauchen
mir nichts zu ſagen, aber vielleicht kann ich Ihnen nützlich ſein.
Auch Ihnen kann ich helfen, denn ich helfe ja auch meinem
Vater. Wenn es nur darauf ankommt, Briefe zu beſtellen oder
etwas ausfindig zu machen, von Haus zu Haus etwas zu er—
fragen oder jemand nachzugehen, ſo kann ich das ſehr gut. Oft
kann man wichtige Dinge erfragen und dann geht alles gut.“
Eine Idee kam Marius. Greift man nicht nach jedem Zweig,
wenn man fällt?
„Höre“, ſagte er.
In ihren Augen war etwas wie Freude.
„Ja, duzen Sie mich, das habe ich lieber.“
„Du haſt dieſen Herrn mit ſeiner Tochter hierhergeführt.“
„Ja.“
„Weißt du ihre Adreſſe?“
„Nein.“
„Dann ſuche ſie zu erfahren.“
Wenn ihr ſtumpfes Auge erſt freudig geworden war, ſo
wurde es jetzt traurig.
„Alſo das wollen Sie?“
„Ja.“
437
nRennen Sie die Leute?”
„Nein.“
„Alſo Sie kennen das Mädchen — aber Sie wollen es
kennenlernen?“
In der Art wie ſie von „den se zu „dem Mädchen
fam, war etwas Bitteres.
„Alſo, Éannft du?‘
„Sie follen die Adreffe des ſchönen Fräuleing haben.‘
In der Art, wie fie von dem fehönen Fräulein ſprach, war
etwas für Marius Unangenehmes.
„Die Udrefle des Vaters oder der Tocbter. Kurz ihre
Adreſſe.“
Sie ſah ihn ſcharf an.
„Und was bekomme ich dafür?“
„Was du willſt.“
„Gut, Sie ſollen die Adreſſe haben.“
Sie ſenkte den Kopf, machte eine raſche Bewegung, zog die
Tür zu und ging.
Marius ließ ſich in den Stuhl fallen und wurde von einer
Flut von Gedanken, in denen er ſich nicht zurechtzufinden ver—
mochte, fortgeriſſen. Alles was an dieſem Tage vorgefallen
war, die Erſcheinung jenes Engels, ſein Verſchwinden, alles
ſchwebte unklar vor ſeinem Auge.
Plötzlich wurde er jäh aus ſeiner Nachdenklichkeit geriſſen.
Er hörte die laute, harte Stimme Jondrettes, und ſeine
Worte waren für Marius von einem ſeltſamen Intereſſe.
„Und ich ſage dir, daß ich meiner Sache ſicher bin und ihn
erkannt habe.“
Don wem ſprach Jondrette? Wen hatte er wiedererkannt?
Herrn Leblanc, den Vater „ſeiner Urſule“? Jondrette kannte
ihn?
Marius ſprang mehr auf die Kommode als er ſie erſtieg,
und im nächſten Augenblick hatte er ſeinen Beobachtungspoſten
wieder bezogen.
438
DD ertonnt,,,
„Wirklich? Du bift deiner Sache ficher?’
Es war die Frau, die fo fragte.
„Vollkommen fiber. Es find act Vabre her, aber ich babe
ihn wiedererfannt. Ob, ob ich ibn wiedererfannt habe! Sofort!
Das dir bas nicht gleich in die Augen gefprungen iſt?!“
„Nein.“
„Und ich hab' dir doch geſagt: paſſ' auf! Dieſelbe Figur,
dasſelbe Geſicht, kaum gealtert, denn manche Leute werden ja
nicht älter, weiß der Teufel wie ſie das anſtellen. Und auch die—
ſelbe Stimme. Nur iſt er beſſer angezogen. Hinter dieſem alten
Teufel ſteckt ein Geheimnis.“
Jetzt wandte er ſich an ſeine beiden Töchter:
„'raus mit euch beiden — komiſch, daß es dir nicht gleich
aufgefallen iſt.“
Die Mädchen waren aufgeftanden.
„Soll ſie mit der kranken Hand hinausgehen?“ fragte ſcheu
die Mutter.
„Die Luft wird ihr guttun. Marſch!“
Offenbar war das ein Mann, dem man nicht widerſpricht.
Die beiden Mädchen gingen. Im Augenblick, in dem ſie die
Türe ſchließen wollten, rief der Vater der Alteren nach:
„Um fünf Uhr pünktlich ſeid ihr hier. Alle beide. Ich werde
euch brauchen.“
Die Aufmerkſamkeit Marius' verdoppelte ſich.
Drei- oder viermal ging Jondrette ſchweigend auf und ab.
Plötzlich wandte er fih nach feiner Frau um, kreuzte die
Arme und rief:
‚And fol ich dir noch etwas fagen? Diefes Fräulein...
„un?
Marius Fonnte nicht zweifeln, daß von ihr die Rede war.
Gierig laufhte er. Es war, als ob fein Leben daran hänge.
Aber Vonbdrette hatte fid zu feiner Frau herabgeneigt und
flüfterte.
NL.
Jetzt war er wieder beffer zu verfteben.
„Sie ift es. Diefelbe.”
„Dieſe?“
„Dieſelbe.“
Kein Wort kann ausdrücken, mit welcher Betonung die
Mutter „dieſe?“ gefragt hatte. In ihrem Tonfall war Über—
raſchung, Wut und Haß.
„Unmöglich“, ſagte ſie jetzt. „Wenn ich bedenke, daß meine
Töchter barfuß und ohne Kleid herumlaufen! Ein Atlaspelz,
ein Samthut, Schuhe — Zeug für zweihundert Franken hat
ſie auf dem Leibe. Man ſollte ſie für eine Dame halten! Nein,
du irrſt dich. Übrigens war die andere häßlich, und dieſe iſt nicht
fo übel. Sie fonn es nicht fein.”
„Und ich fage dir, daß fie es ift. Du wirft ja ſehen.“
Die Jondrette fhien Marius in diefem Augenblick fchred-
licher als ihr Gatte. Sie glich einer MWildfau mit den Augen
einer Tigerin.
„Was, diefes Geſchöpf, diefe Bettlerin wagt es, mitleidig
auf meine Töchter herabzubliden? Ich möchte ihr die Därme
aus dem Leib treten!“
Sie fprang von ihrer Pritfhe auf und blieb einen Augen-
blick ftehen, zerzauft, mit geblähten Nafenflügeln, balboffenem
Mund und geballten Fäuſten. Dann Tief fie fid) wieder auf die
Pritſche zurücfallen.
Der Mann ging auf und ab, ohne auf feine Frau zu achten.
Endlich blieb er wieder vor ihr fteben, kreuzte die Arme,
wie er es eben erft getan hatte und fagte:
„Und fol ich dir noch etwas jagen?‘
„Sun?
„Diesmal babe ich mein Glück gemacht“, fagte er Teife.
Aus ihrem Blick ſprach die Befürchtung, er fei verrüdt ge-
worden.
„Donnerſchlag!“ rief er, „lang' genug wohne ich in der Pfar-
rei Stirbhungers im Sprengel Kalterherd! Jetzt babe ich ge-
nug von dem Sammer. Seht bin ich an der Meihe! Test meine
440
td e8 blutigernft, jet febe ich die Dinge gar nicht mehr Eomifch
an. Genug gefalauert! Keine Späßchen mehr, bimmlifher
Vater! Test will ih mich fatt effen und frinfen nad meinem
Durft! Srefflen will ih! Schlafen! Nichtstun! Bevor id Ére-
piere, will auch id ein bißchen den Millionär fpielen — mie
die andern.”
„Was willſt du damit jagen?’
Er fhüttelte den Kopf, zwinferte und begann wie ein Kur-
pfujcher zu predigen:
Bas ich fagen will? Gut, fo höre mid an!‘
„Stil!!! murmelte die Jondrette, ,nidt fo laut, wenn es
Dinge find, die nicht jedermann hören fol.’
„Pah, wer hört uns denn? Der Nachbar? Der ift aus-
gegangen. Übrigens verfteht er doch nichts, biefer Trottel!“
Glüdlihermeife dämpfte der dichtfollende Schnee das Raſ—
fein der Wagen auf dem Boulevard, fo daB Marius jedes Wort
verftehen konnte.
„Paſſ' auf, er ift gefangen, der Kröfus. Alles ift in Ordnung.
Schon gemadt. ch babe Leute gefehen. Er kommt um fech8.
Die fechzig Franken bringen. Schweinehund! Haft bu gefehen,
wie ich fie ibm berausgebolt habe, diefe fehzig Sranfen? Ad,
war er blöd! Nun, er kommt um feds. Um diefe Zeit geht
unfer Nachbar effen. Frau Burgon ift in der Stadt mit ihren
Mafharbeiten befhäftigt. Niemand im Haus. Der Nachbar
fommt vor elf Uhr nie zurüd. Die Mädchen können Schmiere
ftehen. Du Fannft uns helfen. Er wird fon Firre werden.”
„Und wenn er nicht Éirre wird?’
„Dann machen wir ihn Firre./
Jondrette late unheimlid.
Marius fab ihn zum erftenmal lachen und fchauderte.
Sondrette öffnete einen Schranf neben dem Ramin, zog eine
alte Mütze heraus und feßte fie, nachdem er fie mit dem Armel
abgerieben hatte, auf.
„Sp, jeßt gehe ih. Ich muß noch Leute fehen. Derläßliche
441
Leute. Du wirft fhon fehen, wie ſich bas alles entwickelt. Paſſe
inzwifchen auf das Haus auf.’
Er verfenkte feine Fäufte in den Sofentafhen und blieb einen
Augenblick nachdenklich ftehen.
„Ein Glück ift es nur, daß er mich nicht erfannt bat. Wenn
er mich wiedererfannt hätte, käme er nicht wieder! Der wäre
uns dur die Finger gerutfht. Mein Bart, mein romantischer
Bart bat mich gerettet.‘
Mieder lachte er.
Er war ans Fenfter getreten.
„Hundewetter!“
Er knöpfte ſeinen Rock zu.
„Die Kluft iſt mir zu breit. Immerhin, es war eine ver—
dammt gute Idee von ihm, ihn mir hier zu laſſen. Sonſt könnte
ich jetzt nicht ausgehen, und alles wäre verpatzt. An ſolchen Din—
gen hängt oft alles.“
Er zog die Mütze tief ins Geſicht und ging.
13. Solus cum Solo, sn Joco remoto,
noncogitabuntur orare pater noster
Zroß feines Hanges zur Iräumerei war Marius, wie wir
ſchon gefagt haben, ein fefter, energifcher Charafter. Seine
Sonderlingsgewohnheiten hatten ihn wohl empfänglih gemacht
für Megungen der Sympathie und des Mitleide, vielleicht auch
feine Empfindlichfeit herabgemindert, doch war er immerhin
nod imftande, fich zu empören. Er war gütig wie ein Srab-
mane und zugleich fireng wie ein Michter; mit einer Rrôte
konnte er Mitleid haben, aber eine Viper zertrat er. Darum
war er jeßt, ba er in ein DBipernneft geraten war, zu allem
entfchloffen.
„Ich werde diefem Elenden den Fuß auf die Stirn feßen‘,
fagte er.
Von al den Mätfeln, die plôblih vor ihm ftanden, war
feines gelöft worden; im Gegenteil, er tappte mehr denn je im
442
finftern. Nichts wußte er über das hübfhe Kind aus dem
Lurembourg, nichts über den Mann, den er Leblanc nannte,
außer der einzigen Tatſache, daß Yonbrette ihn Fannte. Aus
dem ganzen Wirrwarr der Worte, die er gehört hatte, begriff
er nur eines, daß hier ein Hinterhalt gelegt werden follte; daß
vielleicht alle beide, gewiß aber ihr Dater in großer Gefahr
ſchwebe.
Einen Augenblick lang beobachtete er die Jondrette, dann
ſtieg er von ſeiner Kommode ſo geräuſchlos wie möglich herab.
Er fühlte jetzt Freude bei dem Gedanken, daß er vielleicht ihr,
die er liebte, einen ſo bedeutſamen Dienſt erweiſen könne. Aber
was konnte er tun? Die Bedrohten warnen? Wo ſollte er ſie
finden? Er wußte ja die Adreſſe nicht. Sie waren einen Augen-
bli vor feinen Augen aufgetaucht, dann wieder verfehwunden
in den unendlichen Tiefen von Paris. Sollte er Herrn Leblanc
am Abend um fes Uhr an der Türe abpaffen? Yonbrette und
feine Leute würden ihn bemerken, die Gegend war öde, unfchwer
fonnten fie ihn überwinden und beifeitefchaffen; dann war er,
den Marius retten wollte, vollends verloren.
Test war es ein Uhr. Um ſechs Uhr würde alles vorüber
fein. Marius hatte alfo noch fünf Stunden vor fid.
Ihm blieb nur ein einziger Ausweg übrig.
Er 309 feinen Rod an, band ſich bas Halstuch um, feßte den
Hut auf und fblidb fich fort, leifer, als ob er barfuß über Moos
gegangen wäre.
Sobald er bas Haus verlaffen hatte, eilte er nad der Rue
bu Petit Banquier.
Er war fhon in der Mitte jener Straße, an einer fehr nied-
rigen Mauer, die man an gewiflen Stellen leicht überfpringen
fann; langfam, in Gedanken verfunfen, ging er einher; der
Schnee dämpfte das Geräufh feiner Schritte. Plötzlich hörte
er ganz nahe, hinter der Mauer, fpreben. Er wandte den Kopf
um, fab aber niemand, obwohl es heller Tag war.
Schon wollte er über die Mauer fhauen. Er warf einen
443
Blick über die Brüftung und gewahrte zwei Männer, die an
die Mauer gelehnt ftanden und leife fprachen.
Die beiden waren ihm unbefannt. Der eine wor bärtig und
trug eine Arbeiterblufe, der andere war in Lumpen gehüllt.
Pb
— —
= = =
der andere war bar-
trug eine Griechenmütze,
Der Bärtige
häuptig und hatte Schnee in den Haaren
+
Der in Lumpen ftieß den anderen mit dem Ellbogen an
und fagte:
„Wenn Patron-Minette mittut, kann es nicht fchiefgehen.”
+47
„Meinſt du?’ fragte der Bärtige.
„Jeder befommt fünfhundert ab, und die äußerfte Gefahr
find fünf Jahre, febs Jahre, höchſtens zehn.‘
Zögernd antwortete der mit der Griehenmüße:
„Das ift eine Stange Geld. So was findet man nit alle
Tage.“
„Und ic) ſage dir, daß es nicht ſchiefgehen kann. Der Wagen
von Papa Dingsda ift fhon angefpannt.”
Dann wedfelten fie das Thema.
Marius feßte feinen Weg fort. Ein Gefühl fagte ihm, daß
die dunklen Anfpielungen der Männer, die er da Hinter der
Mauer gehört hatte, vielleicht mit Jondrettes ſcheußlichen Plä—
nen zufammenhingen.
Er wandte fi) nah dem Faubourg Saint-Marceau und er-
kundigte fit in dem erftbeften Laden nad) dem nächſten Polizei-
fommifflariat. Man wies ihn nad der Rue de Pontoife No. 14.
Dorthin ging Marius.
14. Ein Polizgeiagent und ein Advokat
Der Polizeifommiffar war nicht da. Aber da die Sache eilig
war, konnte Marius einen Inſpektor treffen.
Es war ein hochgewachſener Mann, der an einem Ofen
lehnte. Sein Gefiht war breitknochig, zeigte dünne, energifche
Lippen, einen ftarfen, ftruppigen, bereits angegrauten Bart und
einen Blick, der einem die Zafchen umdreht.
Diefer Menſch fab nicht weniger wild und bedrohlich aus als
Vonbrette. Man begegnet zuweilen der Dogge ebenfo ungern
wie dem Wolf.
Was wollen Sie?’ fragte er Marius, ohne ibn erft „Herr“
anzuſprechen.
„Der Herr Polizeikommiſſar?“
„Iſt abweſend. Ich vertrete ihn.“
„Es handelt ſich um eine Sache, die ſtreng geheim bleiben
muß.“
445
‚dann fpredben Sie.‘
„Mnd es eilt ſehr.“
„Dann fprehen Sie rafch.”
Die Ruhe und Kürze des Mannes war zugleich beunruhigend
und doch vertrauenerwedend. Marius erzählte ibm, was er
wußte, daß nämlich ein Mann, den er nur vom Sehen Éenne,
heute abend in einen Hinterhalt gelodt werden follte, daß er,
Marius Pontmercy, Advokat, als Bewohner des Mebenzimmers
durh die Wand das Komplott mit angehört habe, daß der
Lump, der alles ausgeheckt, ein gewifler Jondrette fei und viele
Komplicen babe, wahrſcheinlich berüchtigte Verbrecher; unter
anderem feine ein gewifler Panchaud, der auch Bigrenaille
genannt werde, in die Sache verwickelt zu fein. Und Yonbrettes
Zöhter ftünden Schmiere. Es fei unmöglich, den bedrohten
Mann zu warnen, ba man ja nicht einmal feinen Namen wiffe;
und alles bas folle heute abend um fes an einer befonders
öden Stelle des Boulevard de l'Hôpital Mo. 50 bis 52 ftatt-
finden.
est blickte der Ifnfpeftor auf und fragte ruhig:
„Das Zimmer am Ende des Korridorg?’
„Genau dort. Kennen Sie das Haug?’
Der Inſpektor fhwieg einen Augenblick lang, dann fagte er:
„Es ſcheint wohl.‘
Dabei wärmte er feine Stiefelabfäße an der Ofentür. Mehr
als ob er mit fi felbft ſpräche, fuhr er fort:
„Da ift fiber wieder Patron-Minette ein wenig im Spiel.‘
Marius war verblüfft.
nDPatron-Minette, ja, diefen Namen hörte ich nennen.‘
Und er erzählte dem Inſpektor von dem Geſpräch zwifchen
dem Bärtigen und dem Mann in der Arbeiterblufe hinter der
Mauer der Rue du Petit-Banquier.
„Der Bärtige ift wohl Demi-Liard, genannt Deur-Milliards,
und der andere Wufchelfopf Brujon.“
Er dachte wieder nad.
„Und was den Papa Dingsba betrifft, jo weiß ich ſchon, was
446
inen Rock—
l. Haben fie doch wieder den Ofen geheizt. Mo. 50 bis 52.
Srüberer Beſitz Gorbeau. Ich Éenne die Parade. Drinnen Eön-
ir ja me
es damit auf fit bat. Solla, ich verbrenne m
LL
arme
8 nicht verftecfen, ohne daß diefe Fachleute uns ent-
nen wir un
ille
hnen
bevor das Vaudev
ler aus,
te
Schauſpi
ücken die
ie Leute
decken. Dann r
iden. Publifum ift ı
ören un
e aber doch
d fo befche
fin
ill fi
D
+
Szene geht
immer unangene
tanzen fehen.”
in
d
fingen 5
Ich w
hm.
Dann wandte er ſich wieder Marius zu.
447
„Sind Sie furchtſam?“
„Wovor ſoll ih mich fürdten?‘
„Vor dieſen Burſchen.“
„Ebenſowenig wie vor Ihnen“, antwortete Marius brüsk,
denn es war ihm unangenehm, daß der Spitzel ihn nicht Herr
nannte.
Der Inſpektor ſah ihn ſcharf an und ſagte dann faſt feier—
lich:
„Sie ſprechen da wie ein tapferer und ein ehrenwerter
Mann. Der Mutige fürchtet nicht das Verbrechen, der Ehren—
hafte nicht die Obrigkeit.“
„Gut,“ unterbrach ihn Marius, „aber was wollen Sie tun?“
„Die Bewohner dieſes Hauſes haben alle Hausſchlüſſel. Sie
müſſen auch einen haben.“
„Ja.“ |
„Haben Sie ihn bei fi?’
TA LS
„Dann geben Sie ihn mir.‘
Marius z0g den Schlüffel aus feiner Wefte und reichte ibn
dem Inſpektor. „Wenn Sie auf mich hören wollen,” fuhr er
fort, ‚So Eommen Sie nit allein.”
Der Inſpektor [ab Marius an, wie Voltaire wohl einen
Provinzlehrer angefeben hätte, der ihm etwa einen Reim vor-
Ihlug; dann vergrub er feine beiden mächtigen Hände in den ge-
waltigen Æafhen feines Mods und 309 zwei Eleine Diftolen
hervor, Piftolen von jener Art, die man Fauftfchläger nennt.
Er reichte fie Marius und fagte lebhaft und Furz:
nMebmen Sie diefe beiden da. Gehen Sie nah Haufe. Ver—
bergen Sie fi in Ihrem Zimmer. Man muß glauben, Sie
wären ausgegangen. Die Piftolen find geladen. jede hat zwei
Schüſſe. Sie fünnen durd das Lo in der Wand, von dem Sie
iprachen, alles beobachten. Laflen Sie die Sache erft in Gang
fommen. Wenn Sie glauben, daß fie ſoweit gediehen ift, geben
Sie einen Schuß ab. Nicht zu fpät. Das Weitere beforge ich.
Schießen Sie in die Luft, in die Dede, wohin Sie wollen.
448
Sedenfalls nicht zu fpät! Warten Sie bis die Sache in Gang
ift, Sie find Advofat und müflen es ja verftehn.‘
Marius ftete die Piftolen in feine Rocktaſche.
„Da fieht man fie,” fagte der Inſpektor, „tun Sie fie lieber
in die Hoſentaſchen.“
Marius gehordte.
„Sp, und jeßt wollen wir feine Minute mehr verlieren.
Wenn Sie vorher noch etwas Weiteres mitzuteilen haben,
fommen Sie felbft oder fhiden Sie jemand. Wenden Sie fi
an den Inſpektor Javert.“
15. Marius verftedt fi
Glücklicherweiſe war das Haus nod nicht verfhloffen, als
Marius anfam. Auf den Fußfpisen ftieg er die Treppe binan
und fblid in fein Zimmer. Es war die höchſte Zeit, denn Furz
nachher hörte er Frau Burgon fortgehen und bas Haustor ab-
ſchließen.
Er ſetzte ſich auf ſein Bett. Sein Puls ſchlug ſo laut, daß
er ihn wie das Ticken einer Uhr hören konnte. Furcht empfand
er nicht, aber er dachte nicht ohne Zittern an die Dinge, die da
kommen ſollten.
Die Zeit verſtrich. Es hatte aufgehört, zu ſchneien. Es dun—
kelte. Bei Jondrettes war Licht angezündet worden. Marius
ſah durch das Loch in der Wand einen roten Schimmer, der ihm
blutig ſchien. Jedenfalls konnte er nicht von einer Kerze her—
rühren. Übrigens rührte ſich nebenan niemand, Fein Wort
wurde gemecfelt.
Vorſichtig 309 Marius feine Schuhe aus und ftellte fie unter
bas Bett.
Mieder verftrih einige Zeit. Marius hörte die Tür in den
Angeln Freifchen. Raſch und fchwer flieg jemand die Treppe ber-
auf. Es war Tondrette, der nah Haufe Fam.
Alle begannen zugleich zu fprehen. Offenbar war die ganze
Familie in der Stube verfammelt. Mur hatte fie bisher
29 Hugo, Die Elenden. 449
geichwiegen, wie es im Wolfsbau ftill ift, folange der alte Wolf
fort ift.
„Guten Zag, Papachen!“ riefen die Mädchen.
„Nun?“ fragte die Mutter.
‚Alles geht wie gefchmiert,” erwiderte jondrette, ‚aber mir
ift fhandbar falt an den Füßen. Du haft recht gehabt, Frau,
daß du dich fo angezogen haft. Du wirſt Vertrauen einflößen
müſſen.“
„Ich bin fertig und kann ſofort gehen.“
„Und du haſt nichts vergeſſen?“
„Sei unbeſorgt.“
„Ja,“ ſagte jetzt Jondrette, „die Falle iſt bereit, die Katzen
warten“, und etwas leiſer: „Legt dies da ins Feuer.“
Marius hörte ein Klirren, wie wenn ein Eiſengegenſtand auf
Kohlen gelegt wird.
„Sind die Türangeln gut geölt?“
„Ja.“
„Wie ſpät iſt es?“
„Bald ſechs. In Saint-Médard hat es ſchon halb ge—
ſchlagen.“
„Hol's der Teufel, die Kleinen müſſen auf Poſten gehen.
Hört da, ihr!“
Ein Flüſtern folgte.
Dann fragte Jondrette laut:
„Alſo die Burgon iſt fort?“
„Jawohl.“
„Und du biſt ſicher, daß niemand bei dem Nachbar iſt?“
„Er war den ganzen Tag außerhalb. Und um dieſe Zeit geht
er immer eſſen.“
‚Ja... immerhin, es wird ſich empfehlen, einmal nachzu—
Ihauen. Kleine, nimm mal die Kerze und geh herüber.“
Marius ließ fih auf Hände und Knie fallen und kroch unter
bas Bett.
Er war Faum in feinem Verftef angelangt, als er fchon
Licht burd den Türfpalt fab.
450
‚Papa, er ift fhon fort!”
Es war die Stimme der älteren Tochter.
„Biſt du drin?‘
„Dein, aber der Schlüffel ſteckt in der Tür.’
„Geh doch hinein.‘
Die Türe wurde weit geöffnet, und Marius fab die ältere
Tochter Jondrettes mit einer Kerze in der Hand eintreten. Sie
ging geradeswegs auf das Bett zu. Marius erlebte einen Augen-
blick feltfamer Angft. Aber fie blieb vor dem Spiegel fteben,
* 451
ftellte fih auf die Zehenfpigen und fab hinein. Dann trat fie
zum Senfter, fab hinaus und fagte laut und in dem Tonfall
halben Irrſinns, der ihr eigentümlich war:
„Pie Paris häßlich ift im weißen Hemd!‘
Wieder trat fie vor den Spiegel und betrachtete fih genau.
„Hola, fchrie der Vater, „was treibft du da drüben?’
„Ich ſchau' unter das Dett und unter die Möbel”, erwiderte
bas Mädchen und fuhr fort, fih die Haare zurechtzuftreichen.
„Idiotin!“ brüffte der Dater, ‚sofort kommſt du hierher.
Mir haben Feine Zeit zu verlieren.‘
„Ich komm’ ſchon. In diefer Bude bat man zu nichts Zeit.’
Dann warf fie einen letzten Blick in den Spiegel und ging.
Gleich darauf hörte Marius die beiden Barfüßigen den Kor-
ridor entlang laufen. Yonbrette Tief ihnen nad:
„Aufgepaßt! Eine gegen das Tor zu, die andere an der Ede
der Rue du Petit-Banquier. Verliert nicht das Haustor aus
dem Auge. Sobald ihr etwas merft, lauft ihr hierher. Schlüffel
habt ihr.”
Die Ältere murrte:
„Barfuß im Schnee Schmiere ſtehen!“
„Morgen habt ihr Seidenſchuhe.“
Test waren nur mehr Marius und die beiden Yonbrettes
im Haus; oder vielleicht auch die geheimnisvollen Geftalten, die
Marius hinter der Mauer gefehen hatte.
16. Man abte auf den Hintergrund!
Vonbdrette hatte feine Pfeife angebrannt und fih auf den
durchlöcherten Stuhl gefeñt.
Menn Marius Courfenrac gemefen wäre, alfo einer von
jenen Menfhen, die bei jeder Gelegenheit etwas zu lachen fin-
den, hätte er laut berausplaßen müflen, wenn er durd fein
Gudlod die Jondrette fab. Sie frug einen fehwarzen Federn-
but, wie ihn die Herolde Karls X. zu tragen pflegten, einen
452
ungebeuerlihen Schal und Männerftiefel. Das war die Toi-
Lette, die Yonbrette zu dem Ausruf veranlaßt hatte:
„Du baft recht gehabt, Grau, daß du dich fo angezogen haft.
Du wirft Vertrauen einflößen müſſen.“
Plöglic begann Jondrette wieder zu fprechen.
„Apropos, er Éommt ja in einer Drofhfe. Ohne Zweifel.
Zünde deine Laterne an, und geh damit hinunter. Erwarte ihn
hinter der Türe. Wenn der Wagen vorfährt, machſt du auf und
leuchteft dem Philanthropen auf der Treppe. Sobald er im
Korridor ift, gebft du zurüd und bezahlſt den Kutfcher, damit
er wegfährt.”
„Und das Geld?’ fragte die Frau.
Sondrette wühlte in feinen Sofentafhen und holte ein Fünf-
franfenftücf hervor.
„Bo ift denn das her?’ fragte die Fran.
„Don unferem Nachbar, heute früh geſchenkt.“
Dann fuhr er fort:
„Wir brauchten aud noch zwei Stühle.’
„Wozu?“
„Mein Gott, zum Sitzen.“
Marius erſchauerte, als er die Jondrette gemächlich ant—
worten hörte:
„Na, dann holen wir eben die von unſerem Nachbar.“
Und ſchon öffnete ſie die Tür und trat in den Korridor.
Marius hatte nicht mehr Zeit von der Kommode herabzu—
ſpringen und unter das Bett zu fliehen.
„Nimm die Kerze!“ rief ihr Jondrette nach.
„Wie kann ich denn, wenn ich zwei Stühle tragen ſoll.“
Marius hörte, wie Mutter Jondrette an ſeinem Schlüſſel
herumtaſtete. Die Tür ging auf. Er blieb wie angewachſen an
feinem Platz ftehen.
Die Sondrette trat ein. Sie Éonnte Marius in der Dunfel-
heit nicht feben, nahm fofort die beiden Stühle, die einzigen,
die Marius befaß, und ging wieder; die Türe fiel laut
ins Schloß.
453
„So,“ bôrte er von drüben fagen, ,,bier haft bu die Laterne,
jest geh hinunter.’
Sondrette blieb allein zurüd.
Er ftellte die beiden Stühle an den Tifch, fo daß fie einander
gegenüberftanden, und frat dann an den Ramin. Marius fab
am Boden eine Menge Seile und die Holziproflen einer Strid-
leiter liegen.
Dffenbar waren diefe Geräte unter Tage erft hierhergebracht
worden.
In dem Kaminfeuer lagen ein Meißel und eine große Feile.
„Schmiedewerkzeug“, dachte Marius. Inzwiſchen hatte Von-
drette feine Pfeife ausgehen laffen. Das bewies, daß er intenfiv
nachdachte. Zumeilen 309 er die Augenbrauen bod und machte
mit der rechten Hand Bewegungen, als ob er mit fich felbft
ipräche. Einmal, wohl in Erwiderung auf eine Frage in diefem
Monolog, zog er die Zifehlade heraus, entnahm ihr ein langes
Küchenmefler und prüfte feine Schärfe an feinem Nagel. Dann
warf er e8 wieder in die Lade zurücd, die er zuftieß.
Plötzlich erſchütterten aus der Ferne ſechs ſchwere Glocden-
ſchläge die Senfterfheiben. Die Turmuhr von Saint-Medard
zeigte die fechfte Stunde.
Vonbrette quittierte jeden Schlag mit einem Nicken. Beim
fechften fchneuzte er die Kerze mit den Fingern.
Da ging die Türe auf. Mutter Jondrette hatte fie geöffnet
und ftond auf der Schwelle; fie hatte ein fcheußlihes Geficht
aufgefeht, bas Tiebenswürdig fein follte.
„Treten Sie ein, mein Herr.’
„Treten Sie ein, mein Wohltäter”, wiederholte jondrette
und fprang auf.
Leblanc erfhien. In feinem Gefiht war jener Ausdruck edler
Heiterkeit, der ihn fo ehrwürdig erfcheinen Tieß.
Er zählte vier Louis auf den Tifch.
„Dies bier, Herr Favantou, für Ihre Miete und Ihre
dringlichften Bedürfniffe. Später werden wir weiterfehen.‘
„Bott möge es Ihnen vergelten, mein großmütiger Mohl-
454
täter”‘, fagte Yonbrette, der fih gleichzeitig feiner Grau ge-
nähert hatte.
„Kutſcher wegſchicken“, flüfterte er ihr zu.
Sie verfhwand, während ihr Gatte fih in DBegrüßungs-
förmlichfeiten erging und Herrn Leblane nôtigte, Plos zu
nehmen.
Gleich darauf Fam fie wieder und fagte leiſe zu ihrem
Mann:
„Abgemacht.“
Es hatte den ganzen Tag über geſchneit, und hoher Schnee
lag auf der Straße; man hatte den Wagen nicht fommen ge-
hört, und jeßt war er lautlos verſchwunden.
Kaum hatte Leblanc fich gefest, als er fih auch fhon nad
den beiden leeren Pritjchen ummwandte.
„Wie geht es der armen Verwundeten?“
„Schlecht, antwortete Sjondrette mit danfbarem und unter-
tänigem Lächeln, ‚sehr fchlecht, mein edler Herr. Die Ältere bat
fie na dem Spital gebracht, damit fie verbunden wird. Die
beiden werden bald zurückkommen.“
„And auch Frau Savantou fcheint es beffer zu geben?’ fragte
Seblane und betrachtete die Fomifh aufgetafelte Perſon, die
zwifchen ibm und der Tire ftanb, als ob fie den Ausgang zu
bewachen hätte.
„Ihr ift ſterbenselend,“ fagte Jondrette, „aber was wollen
Sie, mein Herr, fie bat Mut, diefe Frau, fie ift Fein Weib, fie
ift ein Stier.‘
„Du bift aber Höflih, Jondrette“, rief feine Frau und 309
ein ſchnippiſches Mäulcen.
„Jondrette?“ fragte Leblanc, ‚ich dachte Favantou?“
„Favantou, genannt Jondrette“, erwiderte der Gatte lebhaft.
„Jondrette ift nur der Künftlername.”
Obne daß Leblanc e8 merfen Eonnte, gab er feiner Frau zu
verfteben, wie wenig er ihre Ungeſchicklichkeit ſchätzte; gleichzeitig
aber fuhr er mit zärtliher Stimme und emphatifch fort:
„Oh, wir haben immer zufommen gelebt wie Täubchen und
455
Täuberich, wir beide! Was bliebe ung denn übrig, wenn wir
nicht den häuslichen Frieden hätten! Ach, wir find ja fo un-
glücklich, befter Herr. Man bat gefunde Arme — aber Eeine
Arbeit! Mut zu arbeiten, aber feine Gelegenheit. Ich weiß nicht,
wie die Megierung ſich das denft, und auf Ehre, mein Herr,
ich bin fein Jakobiner, aber wenn ih Minifter wäre, und wenn
mein Wort gälte, wäre es anders. Sehen Sie, zum Beifpiel,
id wollte meine Tochter Kartonagearbeit lernen laffen. Viel—
leiht werden Sie fagen: wie, ein gewöhnlihes Handwerk?
Dog! Einen Brotermerb. Va, e8 ift ein großer Sturz, ein
tiefer Sturz. Welche Erniedrigung, wenn man bedenkt, was
wir früher waren. Aber ach, uns bleibt nichts aus vergangenen
guten Tagen. Mur biefes einzige Bild da, das ich nie habe aus
den Händen geben wollen und das ich jeßt doc verfaufen werde,
denn man muß ja fchließlich leben!’
Während Jondrette unzufammenhängend bdrauflosfprac,
ohne indeflen feine gewöhnliche verfhmiste Miene zu verändern,
hielt Marius Umſchau und bemerkte im Hintergrund eine Per-
fon, die er bisher noch nicht gefeben hatte. jemand war ein-
getreten, und zwar fo leife, daß man die Zür nicht gehen gehört
hatte. Er trug eine Wefte aus violettem MWollftoff, ein altes,
vielfach gerfnittenes Kleidungsftüd, dann breite Samthofen
und Stiefel, aber fein Hemd. Der Hals war nadt, und die
Arme zeigten ihre Tätowierung. Das Gefiht war rußgefchwärst.
Der Unbekannte faß fehweigend und mit gefreuzten Armen auf
der Pritfche, und da er fih hinter Jondrette hielt, Eonnte man
thn faum feben.
Über vermöge jenes Inſtinkts, der den Blick lenkt, wandte
fit Leblanc faft gleichzeitig mit Marius nad jener Richtung.
Er Eonnte fi einer gewiffen Überrrafhung nidt erwehren, die
auch Jondrette nicht entging.
„Ach,“ fagte Jondrette und Fnöpfte ſtolz feinen Mod zu,
„Sie feben wohl Sbren Rod an? Er paßt mir. Meiner Treu,
er paßt mir ausgezeichnet!‘
‚Ber ift denn diefer Mann?’ fragte Leblanc.
456
„Der? Ein Nachbar. Achten Sie nit weiter auf ibn.”
Diefer Nachbar fab recht fonderbar aus. Aber in der Vor-
ſtadt Saint-Marcenu gibt es viele chemifche Fabriken, und
ſchwarze Gefihter find in Arbeiterquartieren feine Seltenheit.
Überdies fchien Leblancs ganze Perfon Furdtlofigfeit und Ver—
frauen auszjuatmen.
„Verzeihung,“ fagte er, „aber wovon fpraden Sie gerade,
Herr Favantou?“
„Ich erlaubte mir, zu erwähnen, mein Herr und Gönner,’
fuhr Yonbrette fort, indem er fih auf ben Tiſch ftüßte und
Leblanc zärtlich wie eine Boa constrictor anfah, „daß ich ein
Bild verfaufen möchte.”
Von der Türe ber war ein leichtes Geräufd zu vernehmen.
Ein zweiter Mann trat ein und fete fi) auf dag Bett hinter
die Jondrette. Auch er hatte nadte Arme und ein ruß-
geſchwärztes Geſicht.
So leiſe er auch eingetreten war, hatte er nicht verhindern
können, daß Leblanc ibn bemerkte.
„Achten Sie nicht darauf,“ ſagte Jondrette, „das ſind Leute
aus dem Haus. Ich ſagte alſo, daß ich noch dieſes wertvolle
Bild... ſehen Sie, bitte!”
Er ftand auf, trat an die Wand, an der jenes Schild Iehnte,
von dem wir bereits fprachen, und drehte es um. Marius fonnte
es nicht deutlich erfennen.
„Was bedeutet denn das?’ fragte Leblanc.
„Oh, es ift ein Meiſterwerk,“ verficherte Jondrette, „ich
hänge daran, wie an meinen eigenen Kindern, es iſt für mich
ſo reich an Erinnerungen. Aber ich habe es Ihnen ſchon geſagt,
es geht mir ſo ſchlecht, daß ich mich jetzt dieſes Beſitzes ent—
ſchlagen muß.“ Sei es aus Zufall, ſei es, daß ein erſtes Miß—
frauen ſich in ibm regte, Leblane hielt, während er ſcheinbar
bas Bild betrachtete, im Zimmer Umfchau. Jetzt waren fhon
vier Männer da. Drei faßen auf einer Pritfche, der vierte
lehnte am Zürpfoften. Einer von denen, die auf der Pritfche
faßen, lebnte fit gegen die Wand und hatte die Augen
431
geſchloſſen. Es war ein Alter, und man hätte glauben können, er
ſchlafe. Sein geſchwärztes Gefiht bob fid) unheimlich von feinem
weißen Haar ab.
Sondrette fing Leblancs Blick auf.
„Lauter Freunde von mir. Nachbarn. Es find Dfenarbeiter, die
Leute haben viel mit Ruß zu tun. Achten Sie nicht weiter auf
fie, Sie follen ja mein Bild Faufen. Erbarmen Sie fih meines
Elends, Sie follen nicht zuviel dafür zahlen. Was halten Sie
davon?”
‚Aber das ift ein gewöhnliches Wirtshausſchild,“ meinte
Leblanc und firierte Jondrette, „es ift Enapp drei Franken
wert.’
Sondrette antwortete liebenswürdig:
„Haben Sie Geld bei fih? Mit taufend Talern würde id
mich begnügen.”
Leblanc ftand auf, lehnte fih an die Wand und durdhftreifte
mit einem rafhen Slif bas Zimmer. Zur Linken, gegen bas
Fenfter zu, hatte er Jondrette, zur Nechten, gegen die Tür, jene
vier Männer. Sie rührten fit nicht und taten, als ob fie ihn
nicht fähen. Jondrette begann wieder in Éläglih winfelndem
Ton weiterzureden. Leblanc mußte aus feiner Sprechweiſe
ichhließen, daß er es mit einem Mann zu tun babe, den die Mot
eben vor feinen Augen verrüdft gemacht hatte.
„Ad, wenn Sie mein Bild nicht Faufen, befter Herr,’ fagte
Sondrette, „ſo bleibe ich ohne Hilfsmittel und muß mich ein-
fab in den Fluß werfen. Mir bleibt nichts übrig, als ins
Waſſer zu fpringen. Wenn ich bedenke, daß ich doch meine beiden
Töchter Rartonagearbeiten lernen laffen wollte. est Fann id
nichts anderes tun, als ins Waſſer fpringen. Neulich bin id
an der Aufterlißer Pride drei Stufen hinabgeftiegen und habe
ins Waſſer gefhaut . . .!
Plötzlich aber glübte fein erlofchenes Auge fhrecdlih auf, bie-
fer Heine Mann fuhr auf, trat einen Schritt auf Herrn Le-
blanc zu und fohrie:
„Aber um all das handelt es fi nit: erfennen Sie mich?“
458
17. Der Hinterhalt
Piôblih ging die Züre auf und drei Männer in blauen
Leinenblufen wurden fihtbar. Sie trugen Masfen aus ſchwar—
zem Papier. Der erfte, ein magerer Burſche, trug einen eifen-
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beſchlagenen Stod, der zweite, ein wahrer Miefe, hielt eine
Hade, wie man fie beim Rinderſchlachten gebraudt, am Schaft,
der dritte, weniger mager als der erfte und doch nicht fo plump
wie der zweite, trug einen riefenhaften Zorfehlüffel, der zu einer
Gefängnistür gehören mochte.
459
Offenbar hatte Vonbrette no auf bas Erſcheinen diefer drei
Leute gewartet. Test entfpann fich zwifchen ibm und dem Mann
mit dem eifenbefchlagenen Stock ein kurzes Gefpräd:
„Alles bereit?’
„Ja.“
„Wo iſt Montparnaffe?//
„Der Steiger quatſcht draußen mit deiner Tochter.“
„Mit welcher?“
„Mit der älteren.“
„Iſt ein Wagen unten?“
„Ja.“
„Wartet er am richtigen Platz?“
„Ja.“
„Gut“, ſagte Jondrette.
Leblanc war ſehr blaß. Er blickte um ſich, prüfte alle dieſe
Geſichter wie einer, der ſeine Lage erfaßt, aber er ſchien ſich
nicht zu fürchten. Schon hatte er ſich hinter den Tiſch zurück—
gezogen; wenn er eben erſt wie ein alter Biedermann aus—
geſehen hatte, ſo war jetzt der Athlet zum Vorſchein gekommen,
der ſeine furchtbare Fauſt vielſagend auf die Stuhllehne legte.
Marius war in dieſem Augenblick ſtolz auf ihn.
Die drei, die Jondrette als Ofenſetzer vorgeſtellt hatte, waren
an den Kamin getreten und hatten ſich mit den vorbereiteten
Schmiedewerkzeugen bewaffnet. Der Alte ſaß neben der Jon—
drette auf dem Bett, hatte aber nur die Augen aufgeſchlagen.
Jetzt war der Augenblick gekommen, da Marius handeln
mußte. Er richtete eine ſeiner Piſtolen nach der Decke.
Jondrette hatte ſein Geſpräch mit dem Stockträger beendet
und wandte ſich jetzt wieder Leblane zu. Lachend fragte er:
„Sie kennen mich alſo nicht?“
Leblane ſah ihn ruhig an und antwortete:
„Nein.“
Jetzt trat Jondrette an den Tiſch. Er beugte ſich vor, kreuzte
die Arme und rief:
„Ich heiße nicht Favantou, ich heiße auch nicht Jondrette,
460
mein Name ift Ihenardier! Ich bin der Gaftwirt aus Mont-
fermeil. Verſtehen Sie? TIhenardier! Erfennen Sie mich jetzt?“
Eine faum bemerfbare Nöte glitt über Leblancs Stirn, aber
er antwortete, ohne Zittern der Stimme, ruhig wie immer:
„Noch immer nicht.‘
Marius hörte diefe Antwort nicht mehr. Wer ihn jest be-
obachtet hätte, dem wäre er als eine Statue des Entſetzens, der
Starrheit erfienen. Als Sjondrette gefagt hatte „Ich heiße
Thénardier“, begann Marius zu zittern und lehnte fih an die
Wand, als ob eine Degenflinge fein Herz durchbohrt hätte.
Dann fiel die Hand, die die Piftole hielt, herab. Faft wäre ihr
die Piftole entglitten.
Sondrette hatte mit feiner Erflärung zwar nicht Leblanc aber
Marius getroffen. Wenn auch Leblanc diefen Namen Tbénar-
dier nicht zu erfennen ſchien, Marius Fannte ihn. Und was be-
deutete ihm diefer Name! Er hatte ihn immer an feinem Her-
gen getragen, im eftament feines Daters. Ein Ihenardier
hatte feinem Dater das Leben gerettet, und wenn er, Marius,
ihn träfe, follte er alles für ihn tun. Diefer Name war feinem
Herzen heilig. Er trieb mit ibm faft den gleichen Kult wie mit
der Erinnerung an den Toten.
Das alfo war diefer Ihenardier, diefer Wirt aus Mont-
fermeil, den er fo lange vergeblich gefucht hatte! Und fo mußte
er ihn finden! Der Mann, der feinen Vater gerettet hatte, war
ein Bandit, der Mann, dem Marius jeden Dienft leiften wollte,
ein Scheufal! Jetzt war der Netter des Oberften Pontmercy im
Begriff, ein Verbrechen zu begehen, das Marius nicht ganz
verftand, bas aber einem Mord fehr ähnlich fab. Und einen
Mord an wen? Welhe Fügung des Schickſals! Welch bitterer
Hohn des Schickſals! Sein Vater rief ihm aus dem Sarge zu,
er folle alles Erdenklihe für Ihenardier tun, feit vier Jahren
hatte Marius feinen anderen Gedanfen gehabt, als diefe Schuld
feines Vaters einzulöfen, und jekt, da er einen Verbrecher auf
friiher Tat der Juſtiz überliefern wollte, rief ibm das Schick—
fal zu: dies ift Thénardier! Er mußte dag Leben feines Vaters,
461
dag jener auf den heroifchen Gefilden von Waterloo gerettet
hatte, bezahlen — mit dem Schafott bezahlen! Er hatte fit
vorgefeßt, er wolle diefem Ihenardier zu Füßen fallen, wenn
er ihn fände, und jeßt follte er ibn bem Henfer ausliefern! Die
Stimme feines Daters befahl ihm: Eile Ihenardier zu Hilfe!
und gleichzeitig wollte er, Marius, Ihenardier vernichten.
Wenn er fhoB, war Leblanc gerettet und Ihenardier ver-
Ioren. Schoß er nicht, fo war Leblanc geopfert und Ihenardier
entfam vielleicht.
Marius’ Knie zitterten; ibn fehwindelte. Einen Augenblid
lang fürdhtete er, in Ohnmacht zu fallen.
Inzwiſchen ging Ihenardier triumphierend vor dem Tiſch
auf und ab.
Jetzt nahm er den Leuchter, ftellte ihn heftig auf den Ramin,
wandte fit Leblanc zu und frie:
‚ reingefollen! Verkohlt! Angeflogen!“
Dann begann er wieder auf und ab zu gehen.
„Alſo ich finde Sie wieder, Herr Philanthrop! Herr Millio-
när in der Bettlerfluft! Puppenverfhenter! Alter Irottel! Sie
erfennen mid nicht? Sie waren nit vor act Yabren in
meiner Herberge in Montfermeil, zu Weihnachten 18237 Sie
haben nicht das Kind der Fantine verfhleppt? Und Sie haben
nicht einen gelben Rock angehabt? Und nicht diefes Paket voll
Lumpenzeug mitgebracht wie heute morgen? Sag’ bo, Frau
— bas ift wohl fein Schi, daß er überall Pakete mit Woll-
firümpfen binträgt?! Alter Wohltäter! Sie find wohl Strumpf-
wirfer, Sie? Verſchenken Ihre Ladenbiter an die Armen, Sie
beiliger Mann? Sie Schwindler! Sie erfennen mid nidt?
Ma, ich erfenne Sie! Gleih hab’ ih Sie erfannt, als Sie
Ihre Mafe bier hereinſteckten. Ma, jebt fieht man wenigftens,
daß mon nicht überall hineinfriechen darf, als Schnorrer ver-
Eleidet, die Leute befehwindeln, den Wohltäter fpielen und dann
im Walde den wilden Mann berausfebren! So einfach ift das
nicht auf der Welt! Wenn man die Leute ruiniert bat, kann
man fich nicht mit einem Überrod, der zu weit ift, und zwei
462
elenden Spitaldecken Ilosfaufen. Sie Kinderdieb! Damals
haben Sie wohl gelacht über mich? Sie find ſchuld an meinem
Unglück! Für dredige fünfzehnhundert Franken haben Sie fid
bas Mädel erfchwindelt, dag gewiß reicher Leute Kind war! Die
Kleine hatte mir ſchon Geld eingebracht und ich hätte von ihr
leben Eönnen! Das Kind hätte mich entfchädigt für alles, was
ich in biefer verdammten Kaſchemme verloren babe! Aber ba-
mals, im Wald, hatten Sie den Stock! Damals waren Sie
der Stärfere! est Éommt die Nahe. Heute Fann id meine
Irümpfe ausfpielen, heute hängen Sie, mein Befter! Zum
Lachen ift das! Schön ift er bereingefallen! Sch babe ihm er-
zählt, daß ich der Schaufpieler Favantou bin und früher mit
der Mars gefpielt babe, und daß der Hauswirt am vierten Fe-
bruar feinen Zins haben will. Er bat nicht einmal bemerft, daß
mon am achten Yanuar zahlt, nicht am vierten Februar! Ein
unglaublicher Idiot! Dafür bringt er mir biefe vier albernen
Louis! Schwein! Nicht einmal hundert Franken wollte er ber-
ausrüden! Wie er auf mein dummes Gequaffel bereinfiel —
wirklich zum Lachen! Ma, dachte ich mir, du Trottel, dich babe
ih. Vormittag Katzenpfötchen, am Abend fteig ih dir auf
den Bauch.“
Thenardier fehwieg. Der Atem war ihm ausgegangen. Seine
ſchmale Bruft Feuchte.
Leblanc hatte ihn nicht unterbrochen. Erft jeßt fagte er:
„Ich weiß nicht, was Sie wollen. Sie verfennen mich. Ich
bin ganz und gar Fein Millionär. Ich Fenne Sie nicht. Sie ver-
wechfeln mich.”
„Ah Spaß! fbrie Thenardier, ‚damit fommen Sie nicht
weit, Alter! Sie erinnern fih nicht? Sie fehen nicht, wer ich
bin?’
„Verzeihung, Herr,” antwortete Leblanc mit einer Höflich-
feif, die ebenfo überrafchend wie zwingend war, „ich fehe fehr
wohl, wer Sie find. Sie find ein Bandit.’
Es ift eine Zatfache, daß auch die Lumpen ihre Empfindlicy-
feit haben. Bei dem Mort Bandit fprang die Thenardier vom
463
Bett, und ihr Mann griff nach dem Stuhl, als ob er ihn in
feinen Händen zerbrechen wollte.
„Rühr' bid nicht!!! fchrie er feiner Frau zu. Dann wandte
er fich wieder an Leblanc.
„Bandit? Ob, ich weiß, daß ihr uns fo nennt, ihr reichen
Leute! Na, es ift ja wahr, ich babe Banferott gemacht, ic) muß
mich verfteden, babe Fein ‘Brot, Fein Geld, alfo bin ich ein
Bandit! Habe feit drei Tagen nichts gegeflen: Bandit. Ah, ihr
wärmt eure Füße, habt Pelzftiefel und wattierte Röcke wie die
Erzbifchöfe, ihr wohnt im erften Stod, freßt Trüffel und Spar-
gelbünde zu vierzig Sranfen im Januar, ihr befauft euch, und
wenn ihr wiffen wollt, ob es Éalt ift, [haut ihr in der Zeitung
nad, was bas Thermometer fagt. Wir find unfere eigenen
Zhermometer! Wir müffen nicht auf dem Boulevard, im Wet-
terbäuschen, nadfeben, wieviel Grade es hat, wir fpüren, daß
uns bas Blut in den Adern gefriert und daß das Eis bis zum
Herzen fteigt. Und dann Fommt ihr in unfere Höhlen und
nennt uns Sanbiten! Herr Millionär, ich war Inhaber eines
Geſchäfts, ich hatte meinen Gewerbefchein, ich war Wähler, ich
bin ein Bürger! Sie find vielleicht gar Feiner, Sie! Ich ftamme
nicht aus der Goffe, Herr Philanthrop, ich bin nicht einer, beffen
Namen niemand weiß und der Kinder ftiehlt! Ich bin ein alter
franzöfifher Soldat, id hätte einen Orden verdient! Bei Wa-
terloo war id mit dabei, babe während der Schlacht einen
General gerettet, einen Grafen Pontmercy! Das Bild, bas
Sie hier feben, bat David gemalt! Wiffen Sie, was es vor-
ftellt? Und wen es barftellt? Mich! David wollte meine Helden-
tat verewigen. Ich trage den General Pontmercy auf meinem
Rücken dur bas Feuer. Er bat allerdings nichts für mich ge-
tan nachher, biefer General, er war wohl aud nicht mehr wert
als die andern. ch babe ihn mit Gefahr des eigenen Lebens
gerettet! Und jet, nachdem ich Ihnen das alles gejagt babe,
wollen wir zu Ende fommen! Ich brauche Geld, viel Geld, un-
erhört viel Geld, oder mit Ihnen ift es aus, Donnerkreuz!“
Marius Hatte wieder ein wenig Saffung gewonnen und
464
horchte. est war Eein Zweifel mehr môglib. Das war Thé-
nardier, von dem im Zeftament feines Daters die Mede war.
Marius erfchauderte, als diefer Menſch feinen Vater der Un-
danfbarfeit zieh, — war er bo jetzt im Begriff, diefen Vor—
wurf zu rechtfertigen!
Auch Thénardier hatte wieder Atem gefhöpft. Er richtete
feinen gierigen Blick auf Leblanc und fagte kurz und beifer:
„Bas haft bu zu fagen, bevor wir dich totfehlagen?’
Leblanc ſchwieg.
Eine verroftete Stimme aus dem Hintergrund fragte:
„Denn Holz gefpaltet werden fol, warum ruft ihr nicht
mich?“ Es war der Mann mit der Hade.
Ale wandten fih um. Diefen Augenblif benübte Seblanc,
ftieß mit dem Fuß den Stuhl, mit der Fauft den Tifh zurüd
und erreichte in einem Sprung, bevor Ihenardier fi) ummen-
den Fonnte, bas Senfter. Es aufreißen, auf die Brüftung fteigen
war das Werf eines Augenblids. Schon war er zur Hälfte aus
bem Fenfter, als fes fräftige Fäufte nah ihm griffen und
ihn zurüdriffen. Es waren die drei Ofenfeher, die fih auf
ihn geftürzt hatten. Die TIhenardier hatte ibn an den Haaren
gefaßt.
Bei dem Getöfe, das jeßt entftand, eilten die anderen Ban—
diten aus dem Korridor herbei. Der Alte, der bis jebt auf dem
Bett gefeffen hatte und betrunfen fhien, erhob fi) und torfelte
herbei. Er hielt einen Hammer in der Hand.
Einer der Ofenſetzer, deffen geſchwärztes Geficht jeßt von der
Kerze bell erleuchtet wurde und in bem Marius troß der Mas—
fierung Panchaud, genannt Brigenaille, erfannte, ſchwang über
Leblanes Kopf einen Prügel, der aus einer Eifenftange und
zwei DBleifugeln beftand.
Fest Fonnte Marius nicht länger ruhig bleiben.
„Vater,“ dachte er, „verzeih mir.’
Sein Finger fuhte den Hahn der Piftole. Er war eben im
Begriff abzufchießen, als er Thenardier rufen hörte:
30 Hugo, Die Elenden. 465
„Tut ihm nichts!“
Der verzweifelte Verſuch des Opfers, ſich zu retten, hatte
Thénardier beruhigt. In ſeiner Bruſt wohnten zwei Charak—
tere: Wildheit und Liſt. Bis jetzt hatte die Sicherheit, trium—
phieren zu können, die Wildheit in den Vordergrund treten
laſſen; als das Opfer ſich aber wehrte, trat die Schlauheit
wieder in ihre Rechte.
„Tut ihm nichts“, wiederholte er, ohne wohl zu ahnen, daß
er dadurch einen Schuß verhinderte, der Schlimmes auf ihn
herabbeſchwören mußte; Marius fand die Situation nicht mehr
ſo dringlich. Er konnte noch einen Augenblick warten. Vielleicht
würde ein Zufall ihn aus dieſer fürchterlichen Alternative be—
freien, Urſules Vater zu vernichten oder den Retter ſeines
eigenen Vaters zu verraten.
Im Nebenzimmer war ein wilder Kampf im Gange. Leblanc
hatte den alten Rieſen mit einem mächtigen Fauftfchlag
auf die Bruft getroffen; dann hatte er zwei andere zu Boden
gefchleudert. Jetzt aber hielten vier andere den athletifchen Greis
und zwangen ihn nieder. Leblanc Eniete auf den beiden Män-
nern, die er niedergeftrecdft hatte, die vier andern beugten fi
über ihn. Er verfchwand in diefem Knäuel wie ein Eber in
einer Meute.
Endlich gelang es den vieren, ihr Opfer auf das ‘Bett zu
ichleppen und dort feftzuhalten. Die Ihenardier hielt ihn noch
immer an den Haaren.
„Miſch' du dich nicht ein,’ rief Ihenardier, „du wirft dir
nur deinen Schal zerreißen.” Rnurrend gebordte fie ihm, wie
die Wölfin dem Wolf nabgibt.
„Und ihr andern‘, befahl Thenardier, „durchſucht ihn!‘
Leblanc fohien auf jeden Widerftand verzichtet zu haben.
Man fand bei ihm eine Lederbörfe, die ſechs Franfen enthielt
und fein Tafchentud.
„Kein Portefeuille?! fragte Thénardier.
„Nicht einmal eine Uhr“, erflärte einer der Ofenfeker.
466
Thénarbdier holte aus der Ede das Bündel Stricke und warf
es den Leuten zu.
„Bindet ibn an den Fuß des Bettes!“
Gleichzeitig bemerkte er den Alten, den Leblane mit einem
Sauftfhlag niedergeftredft hatte und der fih nod immer nicht
rübrte.
„Iſt Boulatruelle tot?
‚Stein, nur befoffen.”
„Dann fhmeift ihn in die Ecke“, befahl Thénarbdier. „War—
um haft du nur fo viele Leute hergefchleppt, Babet?“ fragte er
den Stodträger, „das war doch unnütz.“
„Was willſt ou? Alle wollten mit von der Partie fein. Die
Saifon ift ſchlecht. Kein Geſchäft.“
Leblanc wehrte fih nicht mehr. Die Briganten banden ibn
feft. Ms der letzte Knoten gefnüpft war, nahm Thénardier
einen Stuhl und feßte fi) Leblanc gegenüber. Er war jest voll-
ftändig verändert. Marius Fonnte in dem bôflihen Lächeln
biefes Beamtengeſichts kaum die beftialifbe Grimaffe erfennen,
die er eben noch gefehen hatte. Der Tiger hatte fih in einen
Advofaten verwandelt.
„Herr, fagte Ihenardier, und winfte den Briganten zu, fie
jollten beifeitetreten, ‚Herr, Sie taten unrecht, als Sie aus
dem Senfter fpringen wollten. Sie hätten fi ein Dein brechen
können. est Eönnen wir, wenn es Ybnen recht ift, ruhig fpre-
en. Ich muß Sie zuerft auf eine Beobahtung aufmerkſam
machen, auf ein Fleines Detail, bas mir nicht entgangen ift:
Sie haben während des ganzen Kampfes nicht gefhrien. Mein
Gott, wenn Sie ein bißchen um Hilfe gefchrien hätten, ich hätte
weiter gar nichts dabei gefunden. Man plärrt bei folhen Ge-
legenheiten — ich hätte es ihnen wirklich nicht verübelt. Man
Ihlägt eben Lärm, wenn man fih mit Leuten allein findet,
denen man nicht vollftändiges Vertrauen entgegenbringt. Übri-
gens ift biefes Zimmer fehr dumpf. Es bat fonft Feine Vorteile,
aber diefen bat es. Es ift eine rechte Höhle. Wenn bier eine
Bombe plast, glauben die Leute auf dem nächſten Wactpoften,
30* 467
ein Befoffener bat gegrunzt. Es ift ein bequemer Aufenthalt.
Aber Sie haben nit gefbrien, und das ift noch beffer. Sch
gratuliere Ihnen. Aber ih möchte Sie etwas fragen. Lieber
Herr, wer kommt, wenn man fhreit? Die Polizei. Und wer
folgt der Polizei auf dem Fuß? Die Juſtiz. Sie haben nicht
gefhrien. Alfo wünfhen Sie nicht die Juſtiz und die Polizei
zu feben. Ich babe kange Zeit ſchon fo etwas geahnt, Sie wün-
ſchen irgend etwas zu verbergen. Das liegt offenbar in ihrem
Intereſſe. Wir unfererfeits, wir wünſchen dasfelbe. Unfere
Intereſſen begegnen fib. Alfo können wir uns verftändigen.”
Während er fo fprach, fhien Ihenardier mit feinen fharfen
Blifen im Herzen feines Gefangenen Iefen zu wollen. Er
ſprach jeßt beherrfcht und faft gewählt, fo daß man biefen Ban—
diten für einen Zögling eines Priefterfeminars hätte halten
fonnen.
Das Schweigen, das der Gefangene felbft in höchfter Lebens-
gefahr bewahrt hatte, diefer Widerftand, den er der natürlichen
Regung, aufzufchreien, geleiftet hatte, berührte Marius pein-
lib. Ihenardierg anfheinend wohlbegründete Bemerfung ver-
dDichtete noch das Dunkel, bas die feltfame Erfheinung jenes
Mannes umgab, den Courfenrac Herr Leblanc getauft hatte.
Aber wer immer er auch fein mochte, in feiner höchft gefährlichen
Tage, gefeffelt, von Mördern umgeben, bewahrte er feine voll-
endete Ruhe, Marius Eonnte fih einer Negung ehrfürdtigen
Staunens nicht ermebren, wenn er diefes felbft jest no er-
haben melancolifhe Geficht betrachtete.
Ihenardier ftand jebt auf und trat an den Kamin; er [ob
einen Paravent beifeite und gab den Ausblid auf die Eifen-
geräte frei, die in dem euer glühten.
Dann feßte er fich wieder vor Leblanc bin.
„Sun, fagte er, ‚wir können uns verftändigen. Einigen wir
ung freundfchaftlih. %d bin zu weit gegangen. Weiß der Teu-
fel, wo mein Verftand in diefem Augenbli war. Gewiß habe
ich verridtes Zeug geredet. Zum Beiſpiel babe ich gefagt, daß
ich fehr, fehr viel Geld brauche, von Ihnen, da Sie ja Millionär
468
find. Das war unvernünftig. Sie find ja reich, weiß Gott,
aber aud Sie haben Verpflichtungen. Wer hat Feine? Ich will
Sie nicht ruinieren, id bin fein Salsabfhneider. Zu den Leuten,
die einen Vorteil ausnüßen bis zur Lächerlichfeit, gehöre ich
nicht. Auch ich will Opfer bringen. Ich verlange nur zwei-
bunderttaufend Franken.”
Leblanc äußerte fein Wort.
„Sie fehen,” fuhr Ihenardier fort, „daß ich mich mäßige.
Sch weiß nicht, wieviel Sie haben, aber es Fommt Ihnen gewiß
nicht darauf an, denn ein MWohltäter wie Sie Éann einem un-
glücflihen Familienvater fon einmal mit zweihunderttaufend
Sranfen aushelfen. Gewiß find Sie vernünftig genug und bil-
den fi nicht ein, daß ich eine fo große Sade arrangiere wie
heute — es ſteckt Arbeit darin, Herr! —, um von Ihnen ein
ZIrinfgeld zu erpreffen. Zmweihundertfaufend Sranfen, fo viel
ift die Sache wert. Sobald Sie diefe Bagatelle herausgerüct
haben, bürge ich ihnen dafür, daß alles geordnet ift. Sie wer-
den fagen: ich babe den Betrag nicht bei mir. Gut, bas babe
ih auch nicht geglaubt. So etwas verlange ich gar nicht. Ich
will nur etwas: feien Sie fo liebenswürdig und fehreiben Sie,
was ich Ihnen jetzt diktiere.“
Jetzt unterbrach fi) Thénardier, dann fuhr er mit einem
Lächeln fort:
„Benn Sie behaupten wollen, daß Sie nicht fchreiben Fön-
nen, würde ich auf diefen Scherz allerdings nicht eingehen.’
Ein Großinquifitor hätte ibn um diefes Lächeln beneiden
fénnen. Er fhob den Tifd vor Leblanc bin, nahm aus der
Lade Feder, Papier und Tinte.
„Schreiben Sie.”
Endlich antwortete der Gefangene:
„ie fol id fchreiben, ich bin doch gebunden!”
„Das ift allerdings wahr, entfehuldigen Sie.” Ihenardier
wandte fid zu Bigrenaille: „Binde den redhten Arm des
Herrn los.“
469
Es gefhab. Ihenardier tauchte die Feder in die Tinte und
reichte fie Leblanc.
„Beachten Sie wohl, mein Herr, daß Sie vollfommen in
meiner Gewalt find. Keine menfhlihe Macht fann Sie daraus
befreien, und es wäre uns recht unlieb, wenn wir gezwungen
wären, zum Außerften zu greifen. Sch weiß weder Ihren Namen
nod Ihre Adrefie, aber ih made Sie darauf aufmerkſam,
daß Sie hier angebunden bleiben, bis der Überbringer des
Driefes, den Sie jest ſchreiben werden, zurückkommt. Jetzt
ſchreiben Sie.”
Leblanc nabm die Feder.
„Meine Tochter...
Der Gefangene blickte auf.
„Schreiben Sie: Meine liebe Tochter‘, befahl IThenardier.
Leblanc gehorchte. Dann fuhr Ihenardier fort:
„Komme ſofort ...“
Er unterbrach ſich.
„Sie duzen ſie doch?“
„Wen?“
„Na, die Kleine.“
Leblanc antwortete ſcheinbar ohne die leiſeſte Erregung:
„Ich weiß nicht, von wen Sie fprechen.”
„But, fehreiben Sie weiter: Komm fofort. Ich braudhe Di
dringend. Die Überbringerin biefes Briefes ift beauftragt, Dich)
zu mir zu führen. Folge ihr ohne Mißtrauen.“
Leblanc hatte alles gefchrieben.
„Halt, vief Ihenardier, „streichen Sie das mit dem Miß—
trauen; die Kleine wird nur auf Ideen kommen.“
Leblanc ftrich die vier Worte.
„Sp, und jest unterfreiben Sie. Wie heißen Sie
übrigens?“
Der Gefangene legte die Feder weg und fragfe:
„An wen ift diefer Brief gerichtet?‘
470
„Das wiffen Sie bob, an die Kleine. ch babe es Ihnen
ſchon gejagt.’
Dffenfihtlich wollte Thénardier ben Namen des Mädchens
nicht nennen. Er war gefchiet und wollte fein Geheimnis felbft
vor feinen Komplicen wahren. Wenn er ihren Namen nannte,
gab er das ganze „Geſchäft“ aus der Hand, und fie erfuhren
mehr als nöfig war.
„Unterſchreiben Sie. Wie heißen Sie?’
„Urbain Fabre.”
Ihenardier griff in die Tafhe und 309 ein Tuch hervor. Er
fab bas Monogramm an.
„U. $. fofo. Urbain Sabre. Unterfchreiben Sie U. F.“
Der Gefangene folgte.
„Ich werde den Brief für Sie falten, denn Sie Fünnen es
ja mit einer Hand nicht fun. So, und jest fehreiben Sie die
Adrefie. Fräulein Sabre. Ich weiß, daß Sie nicht allzu weit
von bier wohnen, irgendwo bei Saint-acques du SHaut-Pas.
Die Straße allerdings weiß ich nicht. Ich fehe übrigens, daß
Sie Ihre Tage begriffen haben. Da Sie Ihren Namen ridb-
fig angaben, werden Sie auch die Adrefle nicht fälfchen.”
Der Gefangene zögerte einen Augenblid, dann nahm er die
Feder und fchrieb:
‚Mademoifelle Sabre, bei Herrn Urbain Sabre, Rue St.-
Dominique d’Enfer 17.
Fieberhaft griff Thenardier nad dem Brief.
„Frau!“ rief er.
Die Thenardier eilte herbei.
„Du weißt, was du zu tun haft. Komm bald zurück.‘
Dann rief er den Mann mit dem Stock:
„Du begleiteft die Bürgerin. Weißt bu, wo der Wagen
wartet?’ |
„Ja.“
Er ftellte feinen Stock in den Winkel und folgte der Thé-
nardier. |
471
Eine Minute verging, dann hörte man Peitfchenfnallen.
„Na,“ murmelte Ihenardier, „die machen es ja nicht lang-
fom. In drei Diertelftunden find fie zurück.“
Er rüdte feinen Stuhl an den Kamin, Ereuzte die Arme und
hielt die Füße an das Feuer:
„Eine Hundekälte“, murrte er.
Jetzt waren außer Ihenardier und dem Gefangenen nur noch
fünf DBanditen in der Stube. Die Leute faben unter ihren
Masken wie Köhler, Meger oder Teufel aus und fhienen ganz
ftumpf zu fein. Man fühlte, daß fie ein Verbrechen wie ihr
Handwerk ausübten, ruhig, ohne Zorn und ohne Erbarmen,
faft gelangweilt. Sie bodten in einem Winfel und fchwiegen.
Ihenardier wärmte fih die Füße. Der Gefangene war wieder
in fein tiefes Schweigen verfunfen. Man hörte nur den ruhigen
Atem des Betrunfenen, der wieder fchlief.
Marius laufhte mit fteigender Angft. Das Nätfel war für
ihn unburbringliher als je. Wer war die ‚Kleine‘, die er
feine Urfule genannt hatte? Der Gefangene hatte ganz arglos
gefagt: Ich weiß nicht, von wen Sie fprechen. Andererfeits be-
deuteten die beiden Buchſtaben U. F. Urbain Sabre, Urfule
war alfo nicht mehr Urfule. Das war bas einzige, mas Marius
begriff. Wie hypnotiſiert blieb er an feinem Platz. Noch immer
hoffte er auf irgendeinen Zwifchenfall, der ihn der Verpflich—
tung überhob, fih zu etwas zu entfcheiden.
Auf jeden Fall werde ich ja fehen, badte er, ob fie gemeint
war, denn die TIhenardier wird fie bierberbringen. Dann ift
alles entfchieden, ich gebe dann gern mein Leben, wenn id fie
befreien kann. Nichts wird mich aufhalten.
Eine halbe Stunde verftrih. Thenardier war nod immer in
Gedanken verfunfen. Der Gefangene rührte fib nit. Doch
glaubte Marius zumeilen und in Abftänden ein ganz leifes
Geräufh von ibm ber zu hören.
Pöslih wandte Thénardier ſich wieder an ihn:
„Hören Sie, Herr Sabre, wie die ganze Sade vor fid
203
geben fol. Meine Frau wird gleih Ffommen. Werden Sie nur
nicht ungeduldig. Ich denke, daß die Lerche wirflih Ihre Toch—
ter ift und finde es ganz begreiflih, daß Sie auf fie aufpaflen.
Niemand wird ihr etwas zuleide tun. Sie foll nur an einen
ruhigen Ort gebracht werden, wo fie warten wird, bis Sie die
zweihunderttaufend bezahlt haben. Wenn Sie mid verhaften
laffen, wird mein Kamerad der Kleinen den Hals abdrehen.
So fteht die Sache.“
Der Gefangene äußerte nichts.
Das ift doch gar nicht Fompliziert, nicht wahr? Dem Mädel
geichieht nichts Döfes, wenn Sie felbft nicht wollen. Sobald
ich weiß, daß die Kleine unterwegs ift, laffen wir Sie frei, und
Sie können nad) Haufe ſchlafen gehen. Sie feben, wir haben
nichts Böſes mit Ihnen vor.’
Furchtbare Bilder beängftigten Marius. Alfo die Leute woll-
ten bas Mädchen entführen? Eine diefer Beſtien follte zum
Wächter diefes Mädchens werden?
Mas follte er tun? est fehießen? Alle diefe Schurfen der
Juſtiz übergeben? Diefer furdtbare Kerl mit dem Stock
war ja bereits fort, hatte fit des jungen Mädchens fhon be-
mächtigt. Ihenardier hatte es ja felbft gefagt: wenn Sie
mich verhaften laflen, dreht mein Kamerad der Kleinen den
Hals um.
est hörte man die Haustür gehen.
„Sie kommt zurück“, fagte Xhenardier.
Schon ftürjte die Frau atemlog und Feuchend herein.
„Falſche Adreſſe!“ ſchrie fie.
Der Bandit, der ſie begleitet hatte, trat in den Winkel und
holte ſeinen Stock.
„Eine falſche Adreſſe?“ fragte Thénardier.
„Rue Saint-Dominique No. 17 wohnt kein Urbain Fabre.
Thénardier, dieſer Alte hat dich an der Naſe herumgeführt!
Du biſt weiß Gott viel zu gutmütig. Hätteſt du ihm wenigſtens
gleich auf Vorſchuß das Maul krumm geſchlagen! Ich, wenn
473
es auf mid ankäme, ich hätte ihn lebendig geröftet. ch würde
ibn fhon zum Reden bringen: wo das Mädchen ift, und wo
das Geld. So hätte id es gemacht! Aber die Männer find ja
immer blöder als die Frauen.’
Marius atmete auf. Urfule — er wußte ja nicht, wie er fie
jonft nennen follte — war gerettet.
Ihenardier betrachtete nachdenklich das Kohlenbeden. Dann
wandte er fih langſam und bod grimmig an den Gefangenen.
„Eine falfhe Adrefle? Was verfprihft du dir davon?‘
nait zu gewinnen’, antwortete der Gefangene.
Und im felben Augenblick fchüttelte er die Stride ab. Er
war jeßt nur mehr mit einem ‘Dein an bas ‘Bett gebunden.
Bevor die fieben Männer Zeit gefunden hatten, fi auf
ibn zu werfen, hatte er die Sand nah dem Kamin aus-
geftreckt, und jest faben Thénarbdier und die Vanbiten, die er-
fhroden zurüdiprangen, wie er den weißglühenden Meißel
drobend ſchwang.
Bei der gerichtlihen Unterfuhung, die fpäter im Gorbeau-
fhen Haufe ftattfand, wurde ein Souſtück gefunden, das mit
dem Fleiß, den nur Sagnofträflinge aufbringen, der Länge
nach gefpalten worden war. Diefe fhredlihen und doc erftaun-
lihen Werfe der Kunftfertigkeit ftellen im ‘Bereich des Kunft-
gewerbes ungefähr dasfelbe dar wie die oft fo farbenprächtfigen
Bilder der Verbrecherſprache in der Poefie. Es gibt im Bagno
Leute von der Art eines Venvenuto Cellini, fowie es in der
Kunſtſprache einen Villon gibt. Unfelige, die zu entfpringen
fuchen, finden, zuweilen ohne die geringfte Hilfe und ohne alles
Werkzeug, Mittel und Wege, einen Sou in zwei dünne Schei-
ben zu zerfchneiden. Ein altes Mefler muß ihnen genügen, um
biefes Wunderwerk zu vollbringen. Dann wird in die Spalte
eine Ubrfeber geftekt und am Rande der Münze eine Fleine
Schraube angebracht, fo daß fie wieder zufammengelegt werden
Fünnen. Jetzt dient fie als Medaillon.
Dffenbar hatte der Gefangene die Uhrfeder, die als Säge
diente, aus der Münze genommen, die er vielleicht während
474
feiner Seffelung in der Hand hielt, und fo feine Stricke zerfägt.
Das ift wohl die Erklärung für bas leife Geraufh, das Ma-
rius beobachtet hatte.
Inzwiſchen hatten die Banditen fi) wieder gefaßt.
„Sei unbeforgt,/! fagte Bigrenaille zu Ihenardier, „mit dem
einen Bein hängt er noch und für den Strif bürge id. Den
babe ich verknotet.“
Sekt erhob der Gefangene die Stimme:
„Ihr feid Elende, aber mein Leben ift nicht wert, daß ich es
mit folder Mühe verteidige. Wenn ihr euch aber einbildet, ihr
werdet mid zum Sprechen bringen, oder mich zwingen, efwas
zu fchreiben, was id nicht fehreiben will...”, er ſchob ben
linken Ärmel zurüd: „ſeht her!’
Er legte den glühenden Meißel, den er in der Rechten hielt,
auf das Fleifh. Man hörte ein Aufzifchen, und diefer wider-
wärtige Geruch, der den Zorturfammern eigentümlich ift, ver-
breitete fich in der Stube. Marius fuhr entfeßt zurück, und fo-
gar die Banditen fchauderten. Der feltfame Greis aber zuefte
kaum mit den Wimpern, während bas rote Eifen in die blu-
tende Wunde eindrang, fondern richtete feinen firengen Blick
ohne Haß auf Thenardier.
„Ihr Elenden,” rief er jest, „fürchtet euch nicht mehr vor
mir als ich euch fürchte.”
Dann riß er den Meißel aus der Wunde und fchleuderte ihn
zum Fenfter hinaus.
„Und jest tut mit mir, was ihr wollt.‘
Er war entwaffnet.
„Vorwärts!“ fbrie Thenardier.
Zwei der Banditen legten ihm die Hand auf die Schultern
und ein Masfierter, der mit einer Art Bauchſtimme fprab,
ftellte fi mit dem fchweren Schlüffel hinter ihn, um ibm im
Notfall ben Schädel einzufchlagen.
Im nähften Augenblick hörte Marius folgende Worte raſch
und Jeife gejprochen:
449
„Jetzt bleibt ung nichts mehr übrig.’
„Schluß mit ihm!‘
Richtig.‘
TIhenardier und feine Frau hatten beratfchlagt.
Er näherte fi) langfam dem Tiſch, 309 die Lade heraus und
entnahm ihr bas Küchenmeffer.
Bis jeht hatte Marius gehofft, vergeblich gehofft, er werde
ein Mittel finden, den einen zu retten, ohne den andern zu
verderben. Nun war Fein Auffhub mehr möglich. Ihenardier
ftand mit dem Mefler vor dem Gefangenen und lauerte.
Der entfegte Blif Marius irrte mechanifch dur fein Zim-
mer. Plößlich zitterte er. Ein heller Strahl Mondlicht fiel auf
ein Blatt Papier, das zu feinen Füßen lag. Auf diefes Blatt
hatte heute morgen die Ältere Tochter Thénarbdier gefchrieben:
„Die Dolente ift da!”
Blishaft fuhr ein Gedanke durch Marius’ Gehirn. Das war
vielleicht die Löfung, die er fuchte. Er büdte fi, ftredfte den
Arm aus, bob bas Papier auf, Enüllte es zufammen und warf
es durch fein Gudlod mitten in den Raum.
“Eg war die höchfte Zeit. Thénarbdier hatte offenbar feine
legten Bedenken überwunden und trat eben auf den Gefange-
nen ju.
„Da fällt etwas herein!’ fehrie die Thénarbdier.
„Was?“
Die Frau hatte das zuſammengeknüllte Papier aufgehoben,
ſie reichte es ihrem Manne.
„Wo iſt das hergekommen?“ fragte Thénardier.
„Woher ſoll das kommen?“
„Durchs Fenſter doch.“
„Ich habe es fliegen geſehn“, ſagte Bigrenaille.
Thénardier faltete das Blatt auseinander und näherte es der
Kerze.
„Eponines Schrift. Verdammt!“
Er winkte ſeiner Frau, zeigte ihr das Blatt und ſagte dann
leiſe:
476
„Raſch, die Stridleiter! Wir laffen fie in den Hof und
bauen ab.”
„Ohne den Kerl da abzufillen?‘
„Keine Zeit!!!
„Wo hinaus?’
„Durchs Fenfter. Da Ponine das Papier durchs Fenfter
hereingeworfen hat, muß diefer Ausweg nod frei fein.”
Schon hatten die Banditen den Gefangenen losgelaſſen. Im
nächſten Augenblif war die Stridleiter aufgerollt und wurde
am Fenfterfreuz befeftigt.
Der Gefangene adtete der Dinge Faum, die rings um ihn
gefhahen. Er ſchien zu träumen oder zu beten.
„Komm, Bürgerin!’ rief Ihenardier.
Sie eilte zum Senfter.
Im felben Augenblick aber riß Bigrenaille fie zurück.
„Hola, ihr Schwindler, nah uns!’
„Erſt wir!” riefen aud die andern.
„Ihr Kindsköpfe,“ rief Thenardier, „wir wollen doch Feine
Zeit verlieren.”
„Sollen wir etwa Iofen, wer als erfter hinausſteigt?“
„Ihr feid ja verrückt!‘ fchrie TIhenardier, „vollkommen auf
den Kopf gefallen! Wollt ihr vielleicht die Namen auf Zettel
freiben und die Zettel in einer Mike ſammeln?“
„Darf ich Ihnen meinen Hut anbieten?‘ fragte eine Stimme
von der Tür ber.
Alle wandten fih um.
Es war Javert, der ihnen lächelnd feinen Hut binbielt.
18. Man follimmer zuerftdie Opfer
verhaften
Zuerft hatte Javert ſich beftrebt, die Töchter Thénardiers in
die Hand zu befommen. Aber er hatte nur Azelma erwifcht.
Eponine hatte ihren Poften verlaffen und war entfommen.
477
Dann hatte Javert auf den verabredeten Schuß gewartet. Er
fab den Wagen abfahren und wiederfommen und begriff, daß
alles im Gange war. Schließlih war er ungeduldig geworden,
überzeugt, daß er hier einen guten Sang fun werde, und hatte
fit entfbloffen, nicht Yänger auf den Schuß zu warten.
Der Lefer erinnert fih, daß er Marius’ Hausfehlüffel hatte.
So war er gerade zurechtgefommen.
Die Banditen ftürzten zu den Waffen. In der nächſten Se-
Funde ftanben fie, mit allerlei Werkzeugen bewaffnet, abwehr-
bereit da. Die TIhenardier ergriff einen Pflafterftein, der fonft
einer ihrer Iöchter als Schemel diente.
Sovert feste feinen Hut auf, Éreusfe die Arme und fagte
ruhig:
„Holt! Ihr gebt nicht dur bas Fenfter, fondern durd die
Zür. Das ift viel bequemer. Ihr feid fieben, wir find fünfzehn.
Alſo wollen wir ung nicht herumprügeln wie dumme Bauern.
Sind wir vernünftig?”
Bigrenaille holte unter feiner blauen Bluſe eine Piftole
hervor und ſchob fie Thénardier zu.
„Das ift Savert. Auf den Fann ich nicht fchießen. Getrauft
bu dir's?“
„Den Teufel auch!
„But, ſchieß!“
Ihenardier zielte auf Javert.
Der fab ihn ruhig an und fagte:
„Bemüh' did nicht, bein Schuß geht nicht los.“
Thénarbdier drüdte ab — der Schuß verfagte.
„Hab' ich bir’s nicht geſagt?“ fragte Javert.
Bigrenaille warf feinen Prügel Vavert zu Füßen.
„Du bift ja der Erzteufel! Ich ergebe mich.”
„Und ihr?’ fragte Javert die andern.
„Wir auch.“
„Gut, ich ſagte ja, ihr ſollt vernünftig ſein.“
„Ich bitte nur um einen Vorzug,“ ſagte Bigrenaille,
„Raucherlaubnis im Gefängnis.“
478
„Bewilligt“, entfchied Vavert. Dann wandte er fid um:
„Vorwärts, ihr!’
Ein Schwarm Poliziften drang in die Stube ein.
„Handſchellen für alle! rief Javert.
„Kommt doch her!’ fhrie eine Stimme, die nicht einem
Mann gehörte, aber von der niemand hätte behaupten Fünnen,
daß es eine Srauenftimme war.
Die Ihenardier hatte fih in den Fenfterwinfel zurückgezogen.
Die Poliziften fuhren zurüd. Sie hatte ihren Schal abgewor-
fen; den Hut hatte fie no auf dem Kopf. Sie hielt den
Pflafterftein mit beiden Händen erhoben und fab aus wie eine
Miefin, die einen Felsblock fchleudern will.
„Zurück!“ brüllte fie.
Dann warf fie den Banpditen, die fi) hatten fefleln laffen,
einen verächtlichen Blick zu und murmelte beifer:
„Feiglinge!“
Javert lächelte und trat vor.
„Komm mir nicht näher,“ ſchrie ſie, „oder ich ſchlage dir
den Schädel ein!“
„Welch ein Grenadier!“ lachte Javert. „Mamachen, du
haſt einen Bart wie ein Mann, aber ich habe Krallen wie ein
Weib.“
Und er trat näher. Die Tbénarbdier ſpreizte die Beine, bog
den Körper zurüd und fehleuderte den Pflafterftein mit voller
Kraft nad Vavert. Der Inſpektor bückt fih. Der Stein ſchlug
über ihn hinweg gegen die Wand und prallte zurüd. Schon
hatte Javert die beiden gefaßt. Seine Rechte lag auf der
Schulter der Frau, die Linfe auf dem Kopf des Mannes.
„Handfeſſeln!“
Einige Sekunden ſpäter war ſein Befehl vollſtreckt. Die
Thénarbdier ſtarrte wie vernichtet auf ihre und ihres Mannes
gefeflelte Hände, warf fih zu Boden und jammerte:
„Meine Töchter!’
„Für die babe ich fon geforgt‘‘, beruhigte fie Javert.
419
Inzwiſchen hatten die Poliziften den ſchlafenden Befoffenen
wach befommen. Er erhob fih ſchwerfällig.
„Iſt alles vorbei, Jondrette?“
„Ja“, antwortete Vavert.
Dann wandte er fi) zu den Banditen; drei hatten gefhwärzte
Gefichter, drei waren masfiert.
nDebaltet eure Masken auf’, befahl er.
Dann fchritt er die Reihe ab, wie Friedrich II. auf einer
Potsdamer Parade feine Grenabiere.
„Tag, Bigrenaille“, fagte er. , Tag, Prujon. Tag, Deur-
Milliarde, Tag auch, Gueulemer, Babet und Claqueſous!“
Set bemerkte er den Gefangenen der DBanditen, der feit
dem Erfcheinen der Poliziften Fein Wort gefprohen und gebüd-
ten Hauptes dageftanden hatte.
„Bindet den Herrn los,“ befahl Javert, ‚niemand darf
hinaus.“
Dann ſetzte er ſich an den Tiſch, auf dem Kerze und Schreib—
zeug noch bereit ſtanden, zog ein Stempelpapier aus der Taſche
und begann ſein Protokoll aufzuſchreiben.
Nachdem er einige Zeilen zu Papier gebracht hatte, offenbar
die einleitenden Formen, blickte er auf.
„Der Herr, der gebunden war, mag näher treten.“
Die Agenten blickten um ſich.
„Na, vorwärts, wo iſt er denn?“
Herr Leblanc oder Urbain Fabre war verſchwunden.
Man hatte die Türe bewacht, aber nicht das Fenfter. Sobald
der Gefangene fit von feinen Fefleln befreit gefeben hatte, war
er, während Javert fchrieb, verfhwunbden.
Ein Agent lief zum Fenfter und fab hinaus. Nichts war zu
feben. Die Stridleiter ſchwankte nocb.
„Verflucht!“ ſchimpfte Javert, ‚und der war fiber der
Intereſſanteſte!“
480
19. Ein Kleiner, der feinen Vater fudt
Am nähften Morgen fpazierte ein Eleiner junge, der von
der Aufterliger Bride zu kommen fchien, den Boulevard de
l' Hoͤpital hinunter. Er war blaß und mager, und feine Beine
ftecften troß der Februarfälte in einer dünnen Teinwandhofe.
An der Ede der Nue du Petit-Banquier wühlte eine ge-
bücfte Alte in einem Abfollhaufen. Im Vorübergehen rief ihr
der unge zu:
„Hola, ich dachte, du wärft ein großer, großer Hund!‘
Er fprad das ‚großer‘ aus, daß man meinte, die Ma—
jusfeln zu hören.
Wütend drehte fi die Alte um.
„Verfluchter Lausbub!“ fchimpfte fie, „wenn du in Reich—
weite wärft —
„KB! EB! vielleicht Hab’ ich mich nicht getäuſcht!“
Wütend wandte fi die Alte wieder ab. Der junge Fab fie
von der Ferne an.
„Modame ift nicht mein Typ“, meinte er.
Er fpazierte weiter bis Mo. 50 bis 52, und als er die Zür
verfchloffen fand, wartete er. Und ba aud das Warten vergeb-
lib war, begann er, die Türe mit feinen Füßen zu ftoßen.
Die Alte von der Ede der Rue du Petit-Banquier Fam
Ihnaufend näher.
„Bas gibt’8 denn nur? Großer Gott, fie ftoßen die Türe
ein!!!
Piöslih blieb fie ftehen. Sie hatte den Straßenjungen
erkannt.
„Ach bu bift es, Eleiner Satan?’
„uff, die Alte!” murmelte der unge, „guten Tag, Purgon-
en. Ich will meine Alten beſuchen.“
Die Greifin antwortete mit einer Miene, die leider im Halb-
dunfel verlorenging.
„Keiner hier, Frag!"
31 Hugo, Die Elenden. 481
„So? Wo ift denn mein Vater?“
„Im Kittchen.“
„Und Mama?“
„Im Loch.“
„Und meine Schweſtern?“
„Hinter Schloß und Riegel.“
Der Junge kratzte ſich hinter dem Ohr, betrachtete Frau
Burgon aufmerkſam und ſagte endlich:
Ab?!"
Dann drehte er fih auf den Serfen um.
482
Line Jdplle in der Kue Plumet
und eine Epopöe in der Kue Saint-Denis
Erstes Buch
Zponine
1. Das Lerchenfeld
Marius hatte Javert auf die Spur der Verbrecher gebracht;
und kaum war Javert wieder fort, um ſeine Gefangenen in
drei Droſchken nach dem Gefängnis zu bringen, da war auch
Marius fortgelaufen. Es war erſt neun Uhr abends. Er ging
zu Courfeyrac.
Der Student war jetzt nicht mehr einer der unbeirrbaren
Bewohner des Quartier Latin. Er war nach der Rue de la
Verrerie verzogen, „aus politiſchen Gründen“, wie er ſagte.
In jener Gegend ließen ſich damals die Revolutionäre gern
nieder.
Als Marius Courfeyrac geſagt hatte, daß er bei ihm ſchla—
fen wolle, zog dieſer eine Matratze aus ſeinem Bett (in dem es
deren zwei gab), legte ſie auf den Boden und ſagte:
„Bitte.“
Am nächſten Morgen, es war erſt ſieben Uhr früh, begab
ſich Marius in ſein früheres Quartier, bezahlte die reſtliche
Miete und alles, was er Frau Burgon ſchuldete, ließ ſeine
Buücher auf einen Handwagen verladen, fein Bett, ſeinen Tiſch,
feine Kommode und feine zwei Stühle, und dann entfernte er
fi, ohne feine neue Adrefle zu binterlaffen; als Javert am
felben Morgen in das Gorbeaufhe Haus Fam, um Marius nod
einmal über die Vorgänge von geftern abend zu befragen, be-
ftellte ibm ,Mame Bougon“:
ul 483
„Ausgezogen.“
Sie war überzeugt, daß Marius ein wenig der Komplice
jener Banditen war, die geſtern nacht hier dingfeſt gemacht
wurden.
„Wer hätte es für möglich gehalten!“ rief ſie, als ſie wieder
im Kreiſe ihrer Freundinnen, der Pförtnerinnen jenes Quar-
tiers war, „ein junger Mann, der zimperlich ausſah wie ein
Mädel!“
Marius hatte zwei Gründe, ſo raſch umzuziehen. Einmal
fühlte er einen lebhaften Widerwillen gegen dieſes Haus, in
dem er die Bekanntſchaft einer der häßlichſten Ausgeburten
unſerer Geſellſchaftsordnung gemacht hatte, des ſchlechten
Armen, der vielleicht noch widerwärtiger iſt als der ſchlechte
Reiche. Und dann wollte er auch in dem Prozeß, der jener Ver—
haftung folgen mußte, nicht als Zeuge gegen Thénarbier auf-
treten.
Javert glaubte, der junge Mann, deffen Name er übrigens
vergeflen hatte, fei furdhtfam geworden und babe fi) aus dem
Staub gemadht; er risfierte einige Verfuche ihn wiederzufinden,
erreichte aber nichts.
So verging ein Monat, dann wieder einer. Marius wohnte
nod immer bei Eourfeyrac. Don einem Advofaten, der auf dem
Strafgericht zu tun hatte, hatte er erfahren, daß Thénardier in
Haft gehalten wurde. Jeden Montag ließ Marius Ihenardier
durch die Gefängnisfaffe fünf Sranfen übermitteln.
Und da er anfonften Fein Geld mehr befaß, entlich er biefe
Fleinen Beträge Eourfeyrac. Das war das erftemal in feinem
Leben, daß er fih mit Schulden belaftete. Diefe regelmäßigen
Überweifungen von je fünf Franfen waren ein doppeltes Nät-
fel — für Courfeyrac, der fie auslegen mußte, und für Thé-
nardier, der fie empfing.
Übrigens war Marius wie zerfchmettert. Alles hatte fid
wieder zum Böſen gewendet. Sein Leben war zurücdgefunfen in
jenes Dunkel, in dem er taftend weiterfohritt. Er hatte bas
junge Mädchen, das er liebte, einen Augenblic lang in nächſter
484
Nähe gefehen, dann waren die beiden Unbefannten, denen all
fein Intereſſe gehörte, wieder verfehwunden. Sekt blieben ihm
nicht einmal mehr Vermutungen offen. Sogar den Damen,
ben er fon zu Fennen glaubte, wußte er nicht. Gewiß hieß fie
nicht Urfule. Er hatte fie Lerche nennen hören, aber bas war
bob offenbar nur ein Spisname. Und was follte er von dem
Alten denken? Verbarg er fich wirklich vor der Polizei? Test
fiel ihm der Arbeiter mit den weißen Haaren wieder ein, den
er damals in der Mähe des Invalidendoms gefehen Hatte.
Offenbar war er mit Leblanc ibentifh. Alfo verfleidete er ſich?
Diefer Mann hatte beldifhe und auch befremdende Züge. War-
um hatte er nicht um Hilfe gerufen? Warum war er geflohen?
Mar er wirklich der Vater des jungen Mädchens, wirflich der
Mann, den Thenardier zu erkennen glaubte? Konnte Thénar-
dier fih täufchen?
Um Marius’ Unglücf zu vervollftändigen, brad die Mot wie-
der über ihn herein. Bald fühlte er ihren eifigen Hauch. Im
Zrubel der Ereigniffe hatte er feine Arbeiten nicht fortgefeßt,
und doch ift nichts gefährlicher als die Untätigfeit. Man ge-
wöhnt fich rafd an fie, entwöhnt ſich ſchwer von ihr.
Im übrigen folgten die Tage einander, ohne daß irgend
etwas Neues gefhah. Nur fhien es ihm, als ob der Weg, den
er noch zu gehen hatte, immer Fürzer werde. Schon fab er den
Abgrund vor fid.
Ad, dachte er nur, nicht einmal miederfehen darf ich fie
vorher.
Wenn man die Rue Saint-Vacques hinauffteigt und dem
alten inneren Boulevard folgt, erreiht man die Mue de la
Sante, ftößt bis zur Glacière vor und findet kurz vor dem
Ufer der Gobelins eine freie Fläche, im Umfreis der Parifer
Boulevards den einzigen Platz, auf dem ein Ruysdael gerne
feinen Klappftuhl aufgefchlagen hätte.
Sch weiß nicht, worauf die Anmut diefes Stüdchen Landes
beruht; es ift eine grüne Wieſe, auf der MWäfcheleinen aus-
gefpannt find. Eine alte Meierei aus der Zeit Ludwig XIII.
485
mit einem hohen Manſardendach fteht dort; zwiſchen Pappeln
gibt e8 einen Fleinen ei. Am Horizont bas Pantheon, das
Zaubftummeninftitut, Val-de-Gräce, und im äußerften NHinter-
grund die vierecdigen Türme von Motre Dame.
Da diefer Ort wert ift, daß man ibn anfieht, kommt Fein
Menſch bin. Kaum daß alle DViertelftunden einmal ein Laft-
wagen vorüberrollt.
Eines Tages gelangte Marius auf einem einfamen Spasier-
gange dahin. Der Meiz diefer faft mweltverlaffenen Gegend be-
rührte ihn, und fo benüßte er die Gelegenheit, als zufällig ein
Paffant vorüberfam, und fragte ihn:
„te heißt diefe Gegend hier?’
„zerchenfeld. Hier hat Ulbad die Schäferin von Jory er-
mordet.“
Aber nach dem Wort Lerchenfeld hatte Marius nicht weiter
zugehört. Der Geiſt eines Träumers iſt gewiſſer Erſtarrungen
fähig, die oft ein einziges Wort auszulöſen vermag. Alle ſeine
Gedanken klammerten ſich an eine einzige Idee: Lerche. Dieſes
Wort batte in der Tiefe ſeiner Melancholie den Namen Ur—
ſule erſetzt.
Hier werde ich erfahren, wo ſie ſich aufhält, dachte er.
Dieſe Idee war verrückt, aber zwingend.
Und von jetzt an kam er täglich nach dem Lerchenfeld.
2. Beſchäftigung der Sträflinge
Der Triumph, den Javert im Gorbeauſchen Hauſe errungen
hatte, ſchien vollſtändig, aber er war es nicht.
Zunächſt einmal batte die Polizei den „Gefangenen“ nicht in
ihre Hände bekommen, und das ärgerte Javert am meiſten.
Einer, der ermordet werden ſoll und vor der Polizei davonläuft,
iſt verdächtiger als der Mörder, der bleibt; gewiß wäre dieſer
Flüchtling ein nicht minder guter Fang geweſen als die ganze
Zruppe der DBanditen, deren man fi) bemädhtigt hatte.
Des weiteren war Montparnaffe entffommen. Man mußte
486
eine Fünftige Gelegenheit abwarten, ihn zu greifen. Er hatte fic
damals bei Eponine, die unter den Bäumen des DBoulevards
Schmiere ftand, aufgehalten und hatte fie [hließlich fortgeführt,
da er lieber den Don Yuan als den Schinderhannes fpielen
wollte. So war er entfommen. Yavert hatte zwar Eponine
fpäter erwifcht, aber bas war ein recht mittelmäßiger Troſt.
Sie wurde zu Azelma in das Frauengefängnis gebradt.
Endlich war auf dem Transport einer der wichtigften Häft—
linge, Claquefous, verfhwunden. Man wußte nicht recht, wie
es zugegangen war. Die Agenten und Poliziften „begriffen es
jelbft nicht”. Er Hatte fid in Dampf aufgelöft, ſich durd die
Senfter des Wagens verflüchtigt; feft fand nur, daß er, als die
Wagen vor dem Gefängnistor hielten, nicht mehr da war. Das
Ganze fhmedte nach Zauber oder Polizei. War Claquefous
buchſtäblich verfhwunden? Oder ftand er in einem geheimen
Einverftändnis mit den Agenten? War diefer fonderbare Menſch
zugleich ein Geheimnis der Ordnung und der Unordnung? Hatte
diefe Sphinr ihre Hände ſowohl in den Intrigen der Ver—
brecher, wie in den Machenfhaften der Behörde? Javert lie
ſich nie auf folbe Dinge ein, ihm war jedes Kompromiß un-
möglich. Aber unter den Leuten, die er befehligte, befanden fic
| au einige Ynfpeftoren, die, mochten fie aud feine Untergebenen
fein, vielleicht tiefer in die Geheimniffe der Präfektur einge-
drungen waren als er; und biefer Claquefous war ein folder
Schuft, daß er immerhin einen guten Spitel abgeben Fonnte.
Mie dem aud fei, der Mann war nicht mehr aufzufinden.
Javert war darüber weniger empört als verwundert.
Was Marius betraf, diefen Laffen von Advofat, der wahr-
: fheintih Angft gekriegt hatte und deflen Name Sjavert nicht
: mehr erinnerlid war, fo intereffierte er die Polizei wenig. Auch
fann ein Advofat ja nicht fpurlos verfehwinden — voraus-
gefeßt, daß jener Menſch wirkflic einer war.
So begann die Unterfuhung.
Der Unterfuhungsrichter hatte e8 zweckmäßig befunden, einen
der Leute der Bande Patron-Minette nicht in die Einzelzelle
487
bringen zu laffen, wohl in der Hoffnung, daß er etwas ausplau-
dern würde. Diefe Wahl fiel auf DBrujon, den MWufchelkopf
aus der Rue du Petit-DBanquier. Man hatte ihn in den Hof
Charlemagne gebracht, ließ ibn aber nicht aus den Augen. Er
war ein junger, febr gefhidter Kerl, der gerne eine jämmerliche
und alberne Miene auffebte. Diefer Trick hatte auch den Unter-
ſuchungsrichter getäufcht, der ihn darum vor der Einzelzelle be-
wabrte.
Die berufsmäßigen Verbrecher ftellen ihre Tätigkeit au
nicht ein, wenn fie fih in den Händen der Vuftis befinden. Eine
ſolche Kleinigkeit ftört fie nicht. Wegen eines Dinge zu fißen,
hindert feinen, ein anderes zu drehen. Sie gleichen darin den
Malern, die auch ruhig weitermalen, wenn auch ein Gemälde
von ihnen in einem „Salon“ ausgeftellt wird.
Brujon fhien die Haft ſchlecht zu ertragen. Oft ftand er
ftundenlang im Hofe Charlemagne an der Lufe der Kantine und
ftarrte idiotifch auf die Preistafel, die mit „Knoblauch . . .
zweiundſechzig Centimes“ begann und mit „Zigarren. . . fünf
Centimes“ endete. Oder er verbrachte feine Zeit damit, zu zit-
tern oder mit den Zähnen zu EFlappern, über Fieber zu Elagen
und fi zu erkundigen, ob nicht eines der achtundzwanzig Betten
des Rranfenfaals frei wäre.
Plötzlich wurde bekannt — bas war in der zweiten Hälfte
des Monats Februar 1832 — , daß diefer verfehlagene Srujon
unter dem Damen von drei Kameraden Dienftmänner nad
verfchiedenen Stadtgemeinden entfandt hatte; er hatte fi
diefen Lurus fünfzig Sous Eoften laffen, und diefer Umftand
machte den Oberauffeber neugierig.
Man erfundigte fih und erfuhr, daß die fünfzig Sous fol-
gendermaßen verausgabt waren; zehn für einen Gang nad) dem
Pantheon, fünfzehn für einen nad dem Dal-de-Gräce, fünf-
undzwanzig fchließlih für einen nad dem Tor von Grenelle.
Nun befanden fih an diefen drei Orten die MWohnfiße von drei
berüchtigten Banditen, Rruideniers, genannt Bizarro, Glorieur
und Barre⸗-Carroſſe. Man Fam auf den Gedanken, diefe Leute
488
fônnten mit der Bande Patron-Minette in Verbindung fteben,
von der man ja zwei Führer, Babet und Gueulemer, hinter
Schloß und Riegel hatte. Offenbar hatte Brujon ihnen Tipps
für irgendwelche neue Verbrechen gegeben. Die drei wurden
verhaftet, und man glaubte irgendeinen Plan Brujons vereitelt
zu haben.
Eine Woche fpäter traf es fi, daß ein Wärter, der gerade
nachts die Munde machte, Brujon in feinem Dette fisend und
fchreibend fand. Brujon fam auf einen Monat in die Einzel-
selle, aber dag Gefchriebene war nicht zu finden. Die Polizei
war fo Flug wie zuvor.
Seftfteht aber, daß am nächſten Tage ein Kaſſiber aus dem
Hof Charlemagne in die „Löwengrube“, einen anderen Hof des
gleihen Gefängniffes flog, über ein fünf Stof hohes Ge-
bäude hinweg.
Diefer Kafliber gelangte an feine Adreffe, obwohl der Mann,
an ben er gerichtet war, fich augenblidlid in Einzelhaft befand.
Und das war niemand anderer als Babet, einer der vier Führer
der Bande Patron-Minette.
Der Kafliber lautete:
„Babet, in der Rue Plumet ift etwas zu drehen. Ein Garten
und ein Gitter.‘
Das war der Zettel, den Brujon damals in der Naht ge-
ſchrieben hatte.
Trotz aller fharfen Beobachtung fand Babet ein Mittel,
biefes Schreiben nad der Salpetriere gelangen zu laflen, an
eine gute Freundin, die gerade dort Iogierte. Die übergab es
einer anderen Bekannten, einer gewiffen Magnon, die fhon
lange die Aufmerffamfeit der Polizei erregt hatte, aber noch
nicht verhaftet worden war. Magnon ftand mit den Ihenardiers
in intimer Berbindung, und wir werden darüber bei paflender
Gelegenheit noch zu fprechen haben; fie ging zu Eponine, die
jeßt zwifchen dem Frauengefängnis und der GSalpetriere die
Verbindung bilden Éonnte, denn man hatte die beiden Töchter
Thenardiers in Ermangelung von gegen fie zeugenden Iatfachen
489
auf freien Fuß gefeßt. Als Eponine das Unterfuhungsgefängnis
verließ, wartete Magnon ſchon an der Türe und überbradhte ihr
Brujons Schreiben an Babet mit dem Auftrag, die Sache aus-
zubaldowern.
Eponine ging fofort nah der Rue Plumet, erfannte den
Garten und das Gitter, beobachtete bas Haus einige Tage lang
und brachte fchließlih Magnon einen Zwiebad, den die Freun-
din Babets in die Salpetriere einfhmuggelte. Ein Zwiebad
bedeutet in der fumbolifchen Sprache der Gauner:
„Nichts zu machen.‘
Eine Woche fpäter begegneten Babet und Brujon einander
auf einem Transport im Korridor des Unterfuhungsgefäng-
niffes; der eine Fam vom Unterfuchungsrichter, der andere wurde
gerade bingeführt.
„Na?“ fragte Brujon, „Rue P.?“
„Zwieback“, erwiderte Dabet.
3. Marius bat eine Begegnung
Eines Morgens, es war an einem Montag, und Marius
hatte eben von Courfenrac für Thenardier die wöchentlichen
fünf Sranfen entliehen, ftedte der junge Mann die Münze in
feine Zafche und befchloß, bevor er zum Gefängnistor ging, ein
wenig zu luftwandeln. Er hoffte, er werde dann beffer arbeiten
fonnen.
So war es nun fon feit langem. Er ftand früh auf, feßte
fit an feinen Arbeitstifh und begann mit feiner Überfeßung.
Damals arbeitete er an einer Übertragung eines berühmten
Mechtsftreits zwifchen zwei deutfhen Gelehrten, Gans und
Savigny; er nahm zuerft den Gans vor, las vier Seiten, ver-
fuchte etwas zu Papier zu bringen, hatte aber zwifchen der
weißen Schreibflähe und feinen Augen ein ftörendes Flimmern;
verärgert ftand er auf und fagte:
„Ich gehe aus. Vielleicht komme ich dann in Zug.”
490
Dann fpazierte er nah dem Lerchenfeld.
Aber noch immer fab er den Stern vor fi), dachte au Feine
einzige Sefunde lang an Savigny und Gans.
Wohl ging er wieder nach Haufe, verfuchte fi) auf die Arbeit
zu ftürzen, aber er Fam nicht weiter. Es war fier unmöglich,
die zerriflenen Fäden in feinem Gehirn wieder zu verknüpfen.
Dann dachte er wohl: morgen geh’ ich aber nicht aus, bas bin-
dert mich nur an der Arbeit.
Und er ging alle Tage aus.
Bald wohnte er mehr auf dem Lerchenfeld als in Courfey-
racs Bude.
An diefem Tag batte er am Ufer der Gobelins Platz ge-
nommen. Eine beitere Morgenfonne fhimmerte durd das frifche
Laub der Bäume.
Piôblidh hörte er mitten in feiner Miedergefchlagenheit eine
befannte Stimme, die fagte:
„Hola, da ift er ja!“
Er blickte auf und erfannte bas unglüdlibe Mädchen, bas
einmal zu ibm gefommen war, die ältere von den beiden Töch—
fern Thénardiers, Eponine. Jetzt wußte er fogar, wie fie hieß.
Seltfam, fie fab jeßt noch dürftiger, aber ſchöner aus als einft.
Sie hatte nach zwei verfhiedenen Richtungen Fortfchritte ge-
mat. Einerfeits war fie barfuß und in elende Lumpen gehüllt,
oder ihre Lumpen waren wenigftens um einige Monate älter
geworden: die Riſſe verbreitert, der Schmuß undurddringlider.
Die Stimme war no immer heifer, die Stirn gefurdt, der
Blick unftet und fre. Aber es war irgend etwas Seflagens-
wertes, Verſchüchtertes dazugekommen. Die Unterfuhungshaft
hatte ihre Züge verändert.
Sie hatte einige Strohhalme in den Haaren, nicht wie
Oypbelia, die von Hamlets Wahnfinn angeftecft worden war,
fondern weil fie die Nacht in einer Scheune zugebradt hatte.
Und doc fab fie hübſch aus. O meld ein Stern bift du,
Jugend!
491
est blieb fie vor Marius ftehen und ihr bleibes Gefibt
zeigte einen Schimmer von Freude, etwas wie ein Lächeln. Erft
nad) einigen Sekunden Éonnte fie fprechen.
„Mio babe ich Sie doch gefunden! Ich war bei Vater Ma-
beuf, um nad Ihnen zu fragen. Er hatte recht, als er fagte,
ih würde Sie hier finden. Wie ih Sie gefuht babe! Wenn
Sie wüßten.. . .! Ich war aud im Gefängnis. Vierzehn Tage!
Dann haben fie mich laufen laffen. Erftens fonnten fie gegen
mich nichts fagen, und dann bin ich noch zu jung. Erft in zwei
Monaten erreiche id das nötige Alter. Ob, wie ih Sie gefucht
habe! Sechs Wochen lang. Wohnen Sie denn nicht mehr dort?”
„Nein.“
„Ach, ich verſtehe. Wegen der Sache damals. Solche Ge—
ſchichten ſind ekelhaft. Da ſind Sie alſo ausgezogen. Aber
warum tragen Sie nur einen ſolchen alten Hut? Ein junger
Menſch wie Sie ſoll hübſche Kleider haben. Wiſſen Sie das,
Herr Marius? Der Vater Mabeuf nennt Sie ſogar Baron...
weiter weiß ih nichts. Sind Sie wirflihb Baron? Barone find
doc immer alte Männer, die in dem Lurembourg-Garten geben,
dorthin, wo die Sonne am beften hintrifft, und die Quotidienne
lefen. Sch war einmal mit einem Brief bei einem folden
Baron. Der war feine hundert Vabre alt. Sagen Sie, wo
wohnen Sie jeßt?”
Marius antwortete nicht.
„Oh, Sie haben ein Loch im Hemd!’ fuhr fie fort. „Ich muß
es Ihnen wohl flicken.“
Jetzt wurde ihr Geſicht traurig.
„Sie ſcheinen ſich gar nicht zu freuen, daß Sie mich wieder—
ſehen.“ |
Marius fhwieg. Auch fie brachte einen Augenblick lang Fein
Wort über die Lippen.
„Und doch, wenn ich wollte, könnte ich Sie zwingen fih zu
freuen.’
„Wieſo denn? Was meinen Sie damit?’
„Ah, früher fagten Sie du zu mir.”
492
„Sun, was meinft du damit?’
Sie biß fi) auf die Lippen und fehien zu zögern; vielleicht
war fie die Beute eines erbitterten Kampfes in ihrem Innern.
Endlich fhien fie zu einem Entfehluß gefommen zu fein.
„Schade, aber was fann man tun? Sie feben fo fraurig
aus, id möchte Sie lieber Iuftig feben. Aber Sie miffen mir
auch verfpreen, daß Sie lachen werden. ch will beftimmt
wiflen, daß Sie lachen und fagen: Bravo, das ift gut! Armer
Herr Marius, erinnern Sie fi no, daß Sie mir verfprodhen
haben, Sie wollten mir geben, was ich verlange . . .‘
„Gut, ſag' fon, was du weißt.‘
Sie fah auf das Weiße feiner Augen.
„Ich weiß die Adreſſe.“
Marius erbloßte. AU fein Blut ftrömte zum Herzen.
„Welche Adreſſe?“
„Die Adreſſe, die Sie verlangt haben, die Adreſſe des
Fräuleins.“
Jetzt ſeufzte ſie tief auf.
Marius ſprang auf und griff nach ihrer Hand.
„Oh“, rief er, „führ' mich hin! Verlang', was du willſt.
Wo iſt ſie?“
„Kommen Sie mit mir. Ich weiß nicht, wie die Straße
heißt und weiß die Nummer nicht, es ift recht weit von bier,
aber das Haug Fenne id und ich werde Sie hinführen.‘
Sie 309 ihre Hand zurück und ſagte mit einem Fläglichen
Ton, der jeden anderen, minder begeifterten Beobachter zu
Zränen gerührt hätte:
„Ad, wie Sie fi freuen!”
Marius’ Stirn bewölfte fih. Lebhaft ergriff er Epo—
nines Arm.
„Du mußt mir befchwören, daß ...“
„Schwören? Was denn?‘
„Schwören, Eponine, daß du biefe Adrefle nicht deinem
Vater ſagſt.“
493
Vermunbert blidte fie auf.
„Woher wiflen Sie, daß ih Eponine heiße?”
„Verſprich mir erft, was ich verlangt habe.’
Sie fhien nicht mehr zu hören.
„Das ift lieb, daß Sie mich Eponine genannt haben.‘
Marius nahm fie bei den Armen und fhüttelte fie.
„Sp antworte bo um Himmels willen! Höre doch, was ich
fage! Schwöre, daß du diefe Adreſſe nicht deinem Vater ſagſt!“
„Meinem Vater? Ach, da feien Sie unbeforgt. Der fist in
der Dunfelzelle. Übrigens, was kümmere id mid um meinen
Vater?“
„Das ſind alles noch keine Verſprechungen!“
„Aber laſſen Sie mich doch aus! Wie Sie mich ſchütteln!
Doch, ich verſprech' es Ihnen ja! Ich ſchwöre es ſogar, was
liegt mir daran? Ich werde die Adreſſe meinem Vater nicht
ſagen. Iſt es jetzt gut?“
„Und ſonſt auch niemand?“
„Auch ſonſt niemand.“
„Gut, dann führe mich!“ rief Marius.
„Kommen Sie. Oh, wie er glücklich iſt“, murmelte ſie.
Nach einigen Schritten aber blieb ſie ſtehen.
„Sie können nicht fo nabe hinter mir herlaufen, Herr
Marius. Folgen Sie mir, ohne daß man es merkt. Sie dürfen
nicht mit einer wie ich geſehen werden.“
Wieder nach zehn Schritten blieb ſie neuerlich ſtehen. Marius
holte ſie ein.
„Wiſſen Sie auch, daß Sie mir etwas verſprochen haben?“
Marius griff in die Taſche. Er beſaß auf der Welt nur dieſe
fünf Franken, die er Vater Ihenardier zugedacht hatte. Jetzt
nahm er ſie und drückte ſie Eponine in die Hand.
Sie aber ſpreizte die Finger und ließ die Münze zu Boden
fallen. Dann ſagte ſie mißmutig:
„Ich will Ihr Geld nicht.“
494
ZweitesBuch
Das Haus in der Rue Plumet
1. Das geheimnisvolle Haus
Um die Mitte des vorigen Sahrhunderts hatte ein Parifer
Gerichtspräfident fih insgeheim eine Geliebte gehalten, ins-
geheim, weil jene Zeit es fo wollte, daß die großen Herren ihre
Mätreſſen zeigten, die Bürger aber die ihren verftecften. Darum
hatte er im Saubourg Saint-Germain, in der verlaffenen Rue
de Blomet, die jetzt Rue Plumet heißt, ein Éleines Haus er-
bauen laffen.
Es beftand aus einem einftödigen Pavillon, der im Erd»
geſchoß zwei Zimmer, im erften Stod zwei Kammern, unten
eine Küche, oben ein Boudoir enthielt; vor dem Gebäude lag
ein Garten, der gegen die Straße zu vergittert war und un-
gefähr einen Morgen maß. Mehr befamen die Paflanten der
Straße nit zu feben. Hinter dem Pavillon aber lag ein
ihmaler Hof, und auf der anderen Seite des Hofes ein Fleiner,
niedriger Bau, der insgefamt zwei Räume enthielt, vielleicht
urfprünglich dazu beftimmt, im Motfoll ein Kind und eine
Amme zu beherbergen. Diefer Bau ftand burd eine Hintertür,
die masfiert war, mit einem langen, fhmalen Gang in Ber-
bindung, der zwifchen zwei hohen Mauern verlief. Er war mit
großer Vorſicht verfteckt zwifchen den Gärten und Feldern, bie
angrenzten, und mündete gleichermweife in einer verftedten Tür,
die, etwa eine DViertelmeile von dem Hauptgebäude entfernt, in
einem anderen Stadtteil, an einer ruhigen Stelle der Rue de
Babylone lag.
Sm Oftober 1829 hatte ein alter Herr diefes Haus, wie es
lag und ftand, gemietet, gufammen mit dem Hintergebäude und
dem Gang nad der Rue de Babylone. Er ließ die Geheimtüren
an beiden Enden des Ganges erneuern, ließ auch an dem Haufe,
bas noch von früher her einige Möbel aufwies, allerlei Aus-
495
befferungen vornehmen, erneuerte das Pflafter des Hofes und
die Fenfterfcheiben. Dann zog er mit einem jungen Mädchen und
einer bejahrten Dienerin in aller Stille ein. Nachbarn Eonnten
ſich darüber nit unterhalten, weil es Feine gab.
Diefer Mieter, der fo wenig Auffehen zu erregen wünfchte,
war Sean Daljean, das junge Mädchen Eofette. Die alte Die-
nerin hieß Zoufleint und Sean DBaljean hatte fie vor dem
Spital und bem Elend bewahrt. Sie war alt, ftammte aus der
Provinz und ftotterte. Diefe drei Vorzüge hatten Jean Valjean
496
veranlaßt, fi) ihre Dienfte zu fihern. Den Mietvertrag hatte
er Fauchelevent, Mentner, unterzeichnet.
MWarım hatte Sean Baljean dag Klofter Petit-Piscpus ver-
lafien? Was war vorgefallen?
Nichte.
Der Lefer erinnert fi vielleicht, daB Sean Daljean im
Klofter glücklich war, fo glücklich, daß er fib ſchließlich Ge-
wiffensbiffe machte. Er fab Coſette täglich, fühlte, wie feine
väterliche Liebe zu ihr fi immer mehr entfaltete, fagte fi, daß
fie ibm ganz gehöre und daß niemand fie ihn mehr entreißen
fünne. Gewiß würde fie Nonne werden, und da das Klofter
jet für fie wie für ihn die Melt bedeutete, würde er hier all-
mählich altern, während fie heranwuchs. Die Hoffnung, fi nie
mehr von ihr zu Trennen, entzückte ihn.
Und doch, wenn er darüber nacbacte, verfiel er in Unficher-
heit. Er prüfte fein Gewiffen, fragte fi), ob diefes Glück ihm
auch anftehe, ob es fich nicht auf Koften des Glücks eines andern,
jenes Kindes nämlich, erft vollends entfalte; ob nicht er, der
Greis, diefes Kind des Glücks beraube. Und war bas nit ein
Diebſtahl? Diefes Kind, begriff er, Hatte ein Recht darauf,
die Welt Éennensulernen, bevor es ihr enffagte; man durfte ihm
nicht alle Freuden rauben unter dem Vorwand, daB man ihm
alle Prüfungen erfparen wolle, durfte die Unwiflenheit diefes
Mädchens nicht mißbrauden, um es glauben zu machen, es fei
zum Klofterleben berufen; bas hieße ein Geſchöpf Gottes ver-
gewaltigen und Gott betrüben.
Mer weiß, vielleicht würde Cofette eines Tages eine fehlechte
Tonne, und dann mußte fie ihn baffen! Diefer letzte Gedanfe
war faft egoiftifh und weniger beroifh als die andern, für
Valjean aber war er geradezu unerträglich.
Er beſchloß, bas Klofter zu verlaffen.
Mas Cofettes Erziehung betrifft, fo war fie faft abgefchloffen.
Sobald Jean DBaljean fi alfo zu einem Entfehluß durch—
gerungen hatte, wartete er nur mehr auf eine Gelegenheit. Sie
ergab fi, als der alte Fauchelevent ftarb.
32 Hugo, Die Elenden. 497
est erbat Sean Baljean eine Audienz bei der Priorin und
fagte ihr, fein Bruder babe ihm ein Éleines Erbe binterlaffen,
das ihn immerhin inftand febe, in Sinfunft ohne Arbeit zu
leben; darum fcheide er aus dem Dienft des Klofters aus und
nehme auch Cofette mit. Es fei aber billig, daß Cofette, wenn
fie Fein Gelübde ablege, auch nicht Éoftenlos erzogen werde, und
darum bitte er die ehrwürdige Priorin demütig, fie möge im
Namen der Kloftergemeinfhaft ein Gefchenf von fünftaufend
Sranfen annehmen, das als Entfhädigung für die fünf Jahre
498
gelten mochten, die Coſette hier zugebracht. So verließ Sean
Valjean das Klofter der Emigen Anbetung.
Als er fortging, trug er einen Eleinen Koffer, den er feinem
Dienftmann anvertrauen wollte und deffen Schlüflel er immer
bei fit trug. Cofette mußte darüber lachen und fagte flieBlid
fogar, fie fei auf den Koffer eiferfüchtig.
Sean Daljean entdedte das Haus in der Nue Plumet und
ließ fih dort nieder. Sekt war er ja im rechtmäßigen Beſitz des
Mamens Ultime Fauchelevent.
Gleichzeitig mietete er noch zwei andere Wohnungen in
Paris, um nicht, wenn er in einem Stadtviertel bliebe, die Auf-
merffamfeit eines Beobachters zu erregen. Er erreichte dadurd,
daß er in folen Fällen wie jenen, da Javert ihn beinahe fhon
gefaßt hatte, unauffällig verfchwinden Fonnte. Eine diefer Woh—
nungen lag in der Mue de l'Oueft, die andere in der Rue de
’Homme-Arme.
2. Sean Valjean als Nationalgardift
Hauptfählih aber wohnte er in der Rue Plumet, und dort
hatte er fein Leben folgendermaßen eingerichtet.
Eofette bewohnte mit der Dienerin den Pavillon. Sie hatte
das große Schlafzimmer, ein Boudoir und den ehemaligen
Salon des Gerichtspräfidenten. Auch der Garten ftand zu ihrer
Verfügung. Sean Valjean hatte für ihr Schlafzimmer ein
Himmelbert mit Behängen aus altem, dreifarbigem Damaft
und einen fehönen Perferteppich gekauft, überdies, um den
firengen Eindrudf zu mildern, den biefe altertümlichen Prunf-
ftücfe machen Fonnten, allerlei beitere Dinge angefchafft, wie fie
einem jungen Mädchen Freude machen mögen, eine Etagère,
eine Bibliothef mit ſchönen Goldſchnittbänden, einen perlmutter-
eingelegten Tiſch, Schreibzeug, eine Zoilettegarnitur aus japa-
nifem Porzellan. Die Fenfter in der erften Etage waren mit
Damaftvorhängen geſchmückt, die auf rotem Grunde in den drei
Sarben der Bettbehänge befticft waren. Die Vorhänge im Erbd-
a 499
geſchoß waren aus bedrudtem Stoff. Das fleine Haus Cofettes
war den ganzen Winter über von oben bis unten geheizt.
Er felbft bewohnte den einfachen Bau auf der anderen Seite
des Hofes, der eher einer Pförtnerloge glich; feine Matratze
lag auf einem Gurtbett, er hatte einen Tifd aus weißem Holz,
zwei Strohftühle, einen Waſſerkrug aus Ton, einige Bücher
auf einem Brett und feinen Koffer, von dem er ſich nie trennte;
geheizt wurde in diefem Raum niemals. Zu effen pflegte er bei
Cofette, und er befahl, daß für ihn immer ein Stüf Brot
bereitlag. Zu Touffaint hatte er, als fie ihren Dienft antrat,
gejagt:
„Das Fräulein ift die Herrin des Hauſes.“
„Und Sie?" fragte verblüfft Touffaint.
„Ich bin mehr als der Hausherr, ich bin der Vater.”
Cofette hatte im Klofter Haushaltungsfunde gelernt und
leitete die Wirtſchaft, die im übrigen fehr befcheiden geführt
wurde. Täglich führte Sean Valjean Coſette fpazieren, in den
Lurembourg-Garten; er bevorzugte die Allee, die am wenigften
aufgefuht wurde; Sonntags führte er fie zur Mefle, nad
Gaint-Vacques du Haut-Pag, weil diefe Kirche febr weit von
ihrer Wohnung entfernt war. Die Gegend, in der Saint-
Jacques Tiegt, ift fehr ärmlich, und fo hatte er häufig Gelegen-
heit, Almofen zu verteilen. Wenn er zur Kirche Fam, um-
drängten ihn die Armen, und fo war er zu dem Titel gefommen,
den auch IThenardier ihm in feinem Schreiben zubilligte: der
wohltätige Herr aus der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas.
Auch befuchte er mit Eofette Motleidende oder Kranfe. Doc
durfte fein Fremder bas Haus in der Rue Plumet betreten.
Zouffaint hatte für Lebensmittel zu forgen, und Jean Valjean
felbft holte das Wafler von einem Brunnen auf dem Boule—
vard. Hol und Wein wurden in einem SHalbfeller unter-
gebracht, der an dem Tor zur Rue de Babylone lag und früher
jenem Präfidenten als Grotte gedient hatte; darum war er aud
nod mit Mufcheln ausgelegt. Es gab einmal eine Zeit, wo die
Mode für Verliebte Grotten vorfohrieb.
>00
An der Tür zur Rue de Babylone gab es auch einen Brief-
faften für Briefe und Zeitungen; da aber die drei Bewohner
des Pavillons in der Rue Plumet nichts dergleichen empfingen,
diente er, der früher Billetdour und Liebesbotfchaften vermittelt
hatte, jeßt nur mehr für Steuerzeftel und Mitteilungen der
Mationalgarde. Denn Herr Fauchelevent, Nentier, gehörte der
Mationalgarde an. Der Zenfus von 1831 war fo ftreng ge-
wefen, daß ibm nicht einmal die Bewohner eines Nonnen—
flofters entgehen Fonnten; überdies war ein Mann, der auf
dem unzugänglichen und heiligen Terrain von Petit-Picpus ge-
duldet war, in den Augen des Magiftrats fo achtenswert, daß
man ibn auch des Dienftes auf der Stadtwache würdigte.
Drei- oder viermal jährlich 309 jean Valjean feine Uniform
an und fat Dienft. Übrigens folgte er diefen Stellungsbefehlen
gern, denn biefe Verkleidung — die einzige gefehmäßige —
ftellte ibn mit feiner Mitwelt auf gleichen Fuß und geftattete
ihm doch, der Einzelgänger zu bleiben, der er war. Sean Val-
jean hatte bereits bas Alter von fechzig Jahren erreicht und war
nicht mehr dienftpflichtig, aber er fab nicht älter aus als fünfzig
und hatte Feine Luft, feinem Kompaniechef zu entlaufen und den
Grafen von Lobau zu ärgern. Er gehörte feinem Stande an, ver-
leugnete feinen Namen, feine dentität, fein Alter — alles.
Darum war er gerne Nationalgardift. Dem erftbeften zu gleichen,
der brav feine Steuern zahlte, war fein höchfter Ehrgeiz. Sein
moralifches deal war der Engel, fein weltlihes der Bürger.
Doch müffen wir einen Umftand erwähnen: wenn Sean Val-
jean mit Cofette ausging, Fleidete er fid wie ein ehemaliger
Dffizier. Zeigte er fih aber allein auf der Straße, was meiftens
nur des Abends gefbab, fo trug er Arbeitertraht und eine
Mütze, deren Schild bas halbe Geficht verdedte. War das Vor—
fiht oder Befcheidenheit? Beides zugleich. Coſette hatte fi
längft an die Abfonderlichkeit ihres Schickſals gewöhnt und
achtete der eigenartigen Gewohnheiten ihres Vaters nicht. Und
was Zouffaint betraf, fo verehrte fie Jean Daljean und hielt
alles für gut, was er fat.
501
Weder Jean Valjean, noch Eofette, noch Touffaint benüßten
jemals die Tür nad) der Rue de Babylone. Wer die Bewohner
des Haufes nicht burd bas Gitter beobachtete, hätte kaum er-
raten können, daß jemand hier wohne. Das Tor blieb immer
verfloffen. jean Daljean hatte fogar den Garten ungepflegt
gelaffen, damit er nicht die Aufmerkſamkeit der Paſſanten
errege.
3. Die Nofe merkt, daß fie bewaffnet ift
Eines Tages fab Coſette zufällig in den Spiegel und
ſagte fi:
„Sieb dal‘
Ihr fien, fie wäre eigentlich ganz hübſch. Das feste fie in
merfwürdige Derlegenheit. Bis zu diefem Augenblick hatte fie
nie über ihr Gefiht nachgedacht. Sie fab wohl in den Spiegel,
aber fie beobadıtete nicht. Auch hatte man ihr fo oft gefagt, daß
fie häßlih war. Und wenn Sean Valjean auch fanft eingewandt
hatte: Aber nein, nicht doch, fo hatte fie kaum darauf geachtet.
Sie war berangemadfen in dem Gedanfen, daß ſie häßlich fei,
und hatte fi) darein gefunden mit der rafhen Nefignation des
Kindes. Gebt hatte der Spiegel ihr basfelbe gejagt wie Sean
Valjean. Sie fchlief nit in diefer Nacht.
Menn ich hübſch wäre, dachte fie, wäre das nicht komiſch?
Und fie erinnerte fih ihrer Schulfameradinnen, deren Schön-
heit im Klofter beachtet worden war, und dachte: Ob, ich follte
fein wie diefe?
Am nädhften Tag fab fie zufällig wieder in den Spiegel und
begann zu zweifeln. Ich war wohl nicht ganz bei Troft, dadıte
fie. Sch bin doch häßlich. Aber fie hatte nur fchledht gefhlafen
und fab darum blaß und müde aus. Der Gedanfe, daß fie ſchön
fei, hatte fie nicht fo gefreut, daß fie jet, als fie fi eines Beſ—
feren belehrt glaubte, traurig geworden wäre. Aber fie fab nicht
mehr in den Spiegel und kämmte fib vierzehn Tage lang, ohne
hineinzufehen.
502
Abends nah dem Effen pflegte fie im Salon zu fihen und
fih mit einer Handarbeit zu befhäftigen; Sean Baljean hielt
fi) in ihrer Mähe und las. Einmal blidte fie von der Arbeit
auf und war beunruhigt, als fie gewahrte, wie forgenvoll ihr
Vater fie betrachtete.
Ein andermal glaubte fie auf der Straße jemand hinter ihr
jagen zu hören:
„Hübſches Mädchen! Aber Schlecht angezogen.‘
Ad, der meint mich nicht, dachte fie. Sch bin häßlich, aber
gut angezogen. Damals trug fie den Plüfhhut und bas
Merinokleid.
Eines Tages endlih war fie im Garten und hörte, wie Die
arme alte Touflfaint zu Sean Valjean fagte: „Haben Sie denn
nicht bemerft, Herr, wie bübfh bas Fräulein wird?‘ Cofette
hörte nicht, was der Vater antwortete, aber Iouffaints Worte
machten auf fie einen tiefen Eindrud. Sie lief in ihr Zimmer,
trat vor den Spiegel, den fie feit Monaten mied und ftieß einen
Schrei aus.
Sie war fhön, fie war hübſch. Touſſaint hatte recht und ihr
Spiegel auch. Ihre Geftalt war nun voll entwicelt, ihre Haut
weiß, ihr Haar glänzend; ihre Augen ftrahlten. Die Erkenntnis
ihrer Schönheit Fam ihr plößlich, fie Éonnte nicht mehr zweifeln.
Stolz wie eine Königin Éebrte fie in den Garten zurüd. Sie
glaubte, die Vögel fingen zu hören und die Sonne fhimmern
zu feben zwifchen den Bäumen, obwohl es Winter war.
jean Valjean feinerfeits empfond ein tiefes und kaum er-
Flärliches Unbehagen.
Schon feit einiger Zeit beobachtete er diefe täglich ftrahlen-
dere Schönheit ängftlih. Allen anderen ſchien fie zu lachen, ibm
war fie ein Gegenftand der Trauer.
Würde Cofette ihn aud jest noch lieben? Er war glüdlid,
befriedigt, ruhig, folange fie ihn liebte, verlangte nicht mehr.
Hätte man ihn gefragt: Was willft du noch? fo hätte er geant-
wortet: Nichts. Was diefe Lage verändern Éonnte, und au nur
oberflächlich, Fieß ihn erzittern. Er hatte Faum jemals gewußt,
503
was die Schönheit einer Frau bedeutet, aber er begriff in-
ftinftiv, daß diefe Schönheit ihm fürchterlich werden Fonnte.
Wie ſchön fie ift! dachte er, was foll aus mir werden?
Das war der Unterfchied zwifchen feiner Liebe und der einer
Mutter. Er gewahrte mit Angft, was eine Mutter freudig ge-
ſehen hätte.
Und die erften Wirfungen ftellten ſich bald. ein.
Seit Cofette wußte, daß fie ſchön fei, achtete fie auf ihre
Kleidung. hr fiel ein, daß jemand im Dorübergehen gefagt
hatte: hübſch, aber fchleht angezogen, und biefes Orafel hatte
in ihr Herz den Samen eines Gefühls geftreut, welches bas
Leben der Frau zu beftimmen pflegt, der Rofetterie.
Mit dem Glauben an ihre eigene Schönheit entfaltete fid
aud ihre weiblihe Seele. Das Merinofleid war ihr gräßlich,
und fie ſchämte fi des Plüſchhuts. Ihr Vater hatte ihr niemals
etwas abgefchlagen. Bald befaß fie die ganze Wiſſenſchaft des
Hutes, des Kleides, des Mantels und der Schuhe, wußte,
welcher Stoff geht, welche Farbe paßt — diefe Wiflenfihaft,
die die Pariferin fo reizvoll und fo gefährlih mad.
Und zu jener Zeit begegnete ihr Marius nach ſechs Monaten
wieder im Lurembourg.
4. Der Kampf beginnt
Cofette trug in ihrer Einfomfeit, wie Marius in der feinen,
alle Bereitfhaft in fih, in Flammen aufzugeben. Das Schidfal
näherte mit gebeimnisvoller, fchieffalsfhwangerer Geduld die
beiden mit der Eleftrizität der Leidenfchaft geladenen Gefchöpfe
einander, bis fie ihre Seelen vereinen Éonnten wie zwei Wolfen,
deren Berührung den Blitz entzündet.
Es gab eine Zeit, da Eofette, ohne es zu wiffen, mit ihren
Blicken Marius beunrubigte, während auh Marius nicht abnte,
daß fein Blick auf Cofette wirkte.
Schon lange beobachtete bas Mädchen ibn, wie junge Mäd—
hen es eben fun: indem fie anderswohin fab. Marius fand
504
Eofette noch häßlich, als fie bereits bemerft hatte, daß er guf
ausfah. Aber da er ihr Feine Aufmerffamfeit fhenfte, blieb fie
gleichgültig.
Als dann eines Tages ihre Augen einander begegneten und
erzählten, was unausſprechlich ift, begriff Eofette zunächſt nichts.
Sie war nur nachdenklich, als fie in bas Haus in der Rue de
POueft zurücfehrte, in dem Sean Valjean damals gerade für
febs Wochen Quartier genommen hatte. Als fie am nächſten
Morgen erwachte, erinnerte fie fi) des jungen Unbekannten,
der fo lange gleichgültig geblieben war und fie jeßt beobachtete;
doch fchien ihr, diefe Aufmerffamfeit fer ihr gar nicht angenehm.
Eher fühlte fie fich bereit, zu zürnen. Ein Ériegerifher Inſtinkt
regte fih in ihr. Zu lange hatte er fie überfehen. Sie empfand
eine noch ganz Findliche Freude, daß fie jetzt Made üben Fonnte.
Sie wußte, daß fie ſchön war und ahnte, daß diefe Schönheit
ihr als Waffe dienen Fonnte. Die Frauen fpielen mit ihrer
Schönheit wie Kinder mit dem Meffer. Sie verwunden
ſich ſelbſt.
Man wird ſich erinnern, wie ſchüchtern und verängſtigt Ma—
rius war. Er blieb auf ſeiner Bank und wagte ſich nicht vor.
Das verſtimmte Coſette. Eines Tages ſagte ſie zu Jean
Valjean:
„Vater, komm, gehen wir einmal da lang.“
Da Marius nicht zu ihr kam, ging ſie zu ihm. In ſolche
Situationen gleicht jede Frau Mohammed. Und ſeltſam genug,
das erſte Zeichen wahrer Liebe iſt beim Mann die Schüchtern—
heit, beim Mädchen der Mut. Das mag wunderlich ſcheinen,
und doch ift es bas Einfachfte der Welt. Die beiden Gefchlechter
wollen fid) einander nähern, jedes nimmt die Eigentümlichfeiten
Des andern an.
An diefem Tag machte Eofettes Blif Marius toll, und zu-
gleich zitterte Cofette unter dem Blick Marius’. Er ging von
dannen, neu ermutigt, fie fief beunruhigt. Und von diefem Tage
an liebten fie einander.
505
5. Summer
Situationen erzeugen im Menfchen die entfpredhenden In—
ftinfte. Die alte Mutter Natur benahrichtigte rafd Sean Val-
jean vom Auftreten Marius’. Er zitterte bis in die dunfelften
Ziefen feines Herzens. Er fab nichts, wußte nichts, fpäbte aber
mißtrauifch in dem Dunfel, in dem er fich befand, um fib, als
ob er fühle, daß hier ein alter Bau zufammenftürze und ein
neuer aufgerichtet werde. Zugleich aber empfing Marius eine
Warnung feines Inſtinkts und bemühte fih, dem „Vater“ fo
wenig als möglich in die Quere zu Éommen. Dennoch gefchah
e8, daß Sean Daljean ihn zuweilen bemerkte. Marius’ Gehaben
war alles andere als natürlih. Er zeigte eine bedenkliche Vor—
fiht und eine Iinfifhe Keckheit. Auch Fam er jest nicht mehr fo
nahe heran wie früher. Weit ab nahm er Plat und blieb wie
verzückt fißen. Auch bradte er ein Bud mit, und fat als ob er
Iefe. Warum verftellte er fih?
Früher hatte er einen alten Anzug getragen, jet erfchien er
täglich in feftlibem Gewande; es war nicht einmal fiber, daß
er ſich nicht die Haare Eräufeln Tieß: er machte Eomifche Augen,
ja, er trug Handfchuhe!
Sean Valjean verabfheute diefen jungen Mann aus ganzem
Herzen. Cofette ließ fih nichts anmerfen. Sie wußte felbft
faum, was fie empfand, aber ihr Inſtinkt fagte ihr, daß fie ihre
Gefühle verheimlihen mußte.
Jedenfalls beftand zwifchen der plößlih ermacten Neigung
Cofettes für gute Kleider und der feiertäglihen Gewandung des
jungen Mannes ein Parallelismus, der Sean Valjean mißfiel.
Vielleicht, wabrfheintih fogar, berubte er auf einem Zufall,
aber diefer Zufall fhien bedrohlid.
Miemals fprah er zu Cofette von diefem Unbekannten.
Eines Tages aber konnte er fi) nicht länger halten und fagte
in einem Anfall unflarer Derzweiflung, die zulekt bas eigene
Unheil heraufbeſchwört:
nDiefer junge Mann fieht aber fehr pedantifch aus!“
506
Vor einem Jahr nod hätte Cofette als gleichgültiges junges
Mädchen geantwortet: „Aber nein, er ift reizend.’ Zehn Jahre
jpäter hätte fie vielleicht gefagt: ‚‚Pedantifh und unerträglich,
du haft recht.“ In ihrem augenblidlihen Zuftand aber be-
Ihränfte fie fi darauf, mit erheuchelter Mube zu fagen: „Ach,
der da!’
Als ob fie ihn zum erftenmal bemerft hätte.
Mie dumm id war, dachte jean Daljean, fie hatte ibn noch
gar nicht bemerkt. Ich mache fie no auf den Menfchen auf-
merkſam.
O rührende Einfalt der Alten, o ahnungsvoller Berftand
der Kinder!
Jean Valjean begann einen geheimen Krieg gegen Marius
zu führen, den dieſer in der erhabenen Torheit ſeiner Leidenſchaft
und ſeines Alters nicht bemerkte. Der Greis legte ihm eine
Menge von Fallen. Er kam zu verſchiedenen Zeiten in den
Park, wechſelte die Bank, verlor ſein Taſchentuch, kam ſchließ—
lich ſogar allein; wie mit verbundenen Augen ſtolperte Marius
in jede Falle. So oft Jean Valjean ein tückiſches Fragezeichen
in ſeinen Weg ſtellte, antwortete er harmlos „ja“. Coſette ließ
ſich inzwiſchen nicht aus ihrer ſcheinbaren Sorgloſigkeit und un—
beirrbaren Ruhe herauslocken, ſo daß Jean Valjean ſchließlich
zu dem Schluſſe kam: dieſer alberne Burſche iſt bis über die
Ohren in Coſette verliebt, aber ſie hat ihn noch gar nicht
bemerkt.
Ein einziges Mal beging ſie einen Fehler und alarmierte
ihren Vater. Nach dreiſtündigem Verweilen auf der Bank
ſtand er auf, um nach Hauſe zu gehen. Da ſagte ſie:
„Schon?“
Das übrige iſt dem Leſer bekannt. Marius fuhr fort, ſich
möglichſt ungeſchickt zu benehmen. Eines Tages folgte er Coſette
in die Rue de l'Oueſt. Ein andermal ſprach er gar mit dem
Pförtner. Dieſer ſeinerſeits verſtändigte Sean Valjean davon.
„Herr,“ ſagte er, „wer iſt der junge, neugierige Mann, der
Sie ausforſcht?“
507
Am nädften Tag warf Sean Valjean Marius einen Dlid
zu, ben biefer endlich begriff. Und acht Tage fpâter war er um-
gezogen. Er ſchwor, den Lurembourg-Öarten nie mehr zu be-
treten und die Rue de l'Oueſt zu meiden. Er fehrte in die Rue
Plumet zurück.
|
DyıttesBuch
Dellen Anfang nicht dem Ende gleicht
l. Ein Spdyllder Einfamfeit
und eine Raferne benabbart
Seit vier oder fünf Monaten hatte Eofette Marius nicht
gefehen. Ohne es felbft zu bemerken, hatte fie fi beruhigt. Die
Matur, der Frühling, die Jugend, Liebe zu ihrem Vater, end-
lich der fröhliche Gefang der Vögel und die heitere Frifche der
Blumen ließen allmählich, Tropfen für Tropfen, einen Balſam
in die Seele diefer Jungfrau träufeln, der dem Dergeffenen
nicht unähnlih war. Erlofh ihr Feuer? Glomm es unter der
Aſche?
Tatſache iſt, daß ſie wenigſtens den heftigen Schmerz nicht
mehr fühlte.
Eines Tages erinnerte ſie ſich plötzlich Marius’.
Ach, dachte ſie, ich denke ja kaum mehr an ihn.
In derſelben Woche bemerkte fie, daß ein ſehr ſmarter Offi-
zier der Lanzenreiter mit Weſpentaille, entzückender Uniform,
Schleppſäbel, aufgedrehtem Schnurrbart und lackierter Tſchapka
an dem Gitter ihres Gartens vorbeiſpazierte. Überdies hatte er
blonde Haare, blaue Augen, ein rundes, bübfhes und unver-
ſchämtes Gefiht; in nichts glih er Marius.
Schon am nädften Tag Éam er wieder vorbei. Sie merfte
fih, um welche Stunde dies geſchah.
Und von diefem ag an fpasierte er (war es Zufall?) faft
täglich) an dem Gitter vorüber.
308
Die Kameraden des Offisiers bemerften, daB es in biefem
„verwahrloften” Garten hinter dem alten Rokokogitter ein recht
hübfhes Mädchen gab, bas faft immer zu feben war, wenn der
fefhe Leutnant vorüberfom — biefer Leutnant, ben unfere
Lefer bereits fennen und der TIheodule Gillenormand hieß.
„Haft du denn die Kleine nicht bemerkt, fragten fie, „Die
dir immer Augen macht?‘
„Hab' ic denn Zeit dazu, alle Mädel zu bemerken, die mir
Augen machen?’ erwiderte der Langenreiter.
Dies gefehah gerade um die Zeit, da Marius dem Tode nahe
war und date: Wenn ich fie nur vorher noch feben Fönnte!
Wenn diefer Traum in Erfüllung gegangen wäre, wenn er
Eofette gefehen hätte, wie fie einem Lanzenreiter „Augen
machte”, wäre er wohl unter dem Übermaß des Schmerzes zu-
jammengebrocden.
2. Eofjette in Angft
In der erften Hälfte des Monats April unternahm Sean
Baljean eine Reiſe. Das gefhab, wie unfere Lefer bereits
wiffen, von Zeit zu Zeit, in fehr langen Zwifchenräumen. Er
blieb dann ein oder bôcftens zwei Tage außerhalb. Wohin er
sing? Das wußte niemand, auch Eofette nicht.
Sean Valjean war alfo abmwefend.
Am Abend befand fi) Eofette allein im Salon. Um fi zu
gerftreuen, feßte fie fi) an bas Harmonium und begleitete fit
zu dem Chor der „Euryanthe“: Jäger, hinaus in den Wald!
Diefer Chor ift vielleicht eine der berrlibften Schöpfungen
der Muſik.
Als fie damit fertig war, blieb fie nachdenklich fisen. Plötz—
lih war ihr, als ob fie im Garten Schritte höre. hr Vater
fonnte es nicht fein, denn er war ja verreift. Und Zouffaint lag
bereits im Bett. Es war zehn Uhr abends.
Sie trat an den verfhloffenen Fenfterloden des Salons und
>09
legte bas Obr daran. Test glaubte fie den Schritt eines
Mannes zu erkennen, der dur den Garten fchlid.
Raſch eilte fie in den erften Stodf und öffnete ein kleines
Senfteren, um in den Garten hinabzufchauen. Der Vollmond
warf fein Licht ftrahlend auf den Garten. Es war taghell.
Miemand zu feben.
Sie öffnete das Fenfter. Der Garten lag in tiefftem Grie-
den, und fo weit man die Straße von hier aus überfchauen
fonnte, war fie leer wie immer.
Eofette date, fie babe fit getäufcht. Wohl hatte fie ge-
glaubt, ein Geräuſch zu hören, aber dag war wohl eine Sal-
Iuzination, die der berrlibe Chor Webers in ihr bervor-
gezaubert hatte.
Sie dachte nicht weiter daran.
Am nädften Tag ging fie bei Einbrud der Dunkelheit im
Garten fpazieren. Während fie unbeftimmten Gedanken nad-
hing, glaubte fie plößlich dasfelbe Geräufd wie geftern zu hören.
Es war, als ob jemand in der Dunkelheit unter den Bäumen
binfchliche. Doc achtete fie weiter nicht darauf, zumal fie nichts
feben Eonnte.
As fie auf die Eleine Mafenfläche vor dem Hauseingang trat,
ging eben hinter ihr der Mond auf und warf ihren Schatten
auf den Kiesweg.
Erſchrocken blieb fie fteben.
eben ihrem Schatten zeichnete der Mond auf dem Raſen
einen anderen fchredlichen und unheimlichen, den Schatten eines
Mannes mit einem runden Hut.
Der Fremde Fonnte nur einige Schritte hinter ihr ftehen.
Eine Minute lang ftand fie da, ohne ein Wort über die Lip-
pen zu bringen, fi aud nur zu rühren.
Jetzt raffte fie al ihren Mut zufammen und wandte fi ent-
fhloffen um.
Niemand war da.
Sie fab auf den Raſen: der Schatten war verſchwunden.
310
Sept eilte fie Fühn in dag Geftrüpp, durchſuchte alle Winkel
bis zum Gitter; aber fie fand nichts.
Sest erit fühlte fie den eifigen Haudh des Schredens. War
bas aud eine Hallızination? Einmal Fonnte fie fih täufchen,
Kia
SS
aber zweimal? Und diefer Schatten hatte gar nicht einem Ge-
fpenft geglihen. Gefpenfter tragen nicht runde Hüte.
Am nähften Tage Fam Sean Valjean zurück. Cofette erzählte
ihm, was fie beobachtet hatte, und erwartete, er werde die
Achſeln zucken und fagen: Du bift ein Éleines Närrchen.
511
Aber er ſchien beforgt.
„Es wird nichts Sefonderes fein‘, jagte er immerhin.
Dann fbübte er eine Beforgung vor und eilte in den Garten;
fie bemerfte, daß er das Gitter aufmerffam betrachtete.
In der Naht wachte fie plößlich auf. Diesmal war fie fiber,
Schritte auf der Freitreppe unter ihrem Fenfter zu vernehmen.
Sie lief zu ihrem Ausguck und fab im Garten einen Mann mit
einem großen Stock in der Sand. Eben als fie auffchreien
wollte, fiel das Mondlicht auf fein Geficht. Es war ihr Vater.
Sie legte ſich wieder zu Bett und dachte: er ift doch unruhig.
Nicht nur diefe Nacht, aud die nächften beiden Nächte ver-
bradte Sean Daljean im Garten. Eofette bemerkte es wohl. In
der dritten Nacht, es war zur Zeit des abnehmenden Mondes,
hörte fie gegen ein Uhr ein lautes Lachen und die Stimme
ihres Vaters, der rief:
„Sofette!”
Sie fprang aus dem Bett, hüllte fih in ihren Morgenrod
und öffnete das Fenfter.
Ihr Vater ftand unten auf der Mafenfläche.
„Ich wollte did nur beruhigen,’ fagte er, „ſieh bier! Da ift
dein Schatten mit dem runden Hut.”
Und er zeigte ihr auf dem Raſen einen Schatten, der wirf-
lic) dem eines Mannes mit einem runden Hut recht ähnlich war.
Es war die Silhouette des Schornfteins auf dem Nachbarhaufe,
der mit einem breiten Kapitäl geſchmückt war.
Auch Eofette lachte.
Am nädhften Tag beim Frühftück fpottete fie über den un-
heimlichen Garten, in dem die Schornfteine fpuften.
Einige Tage fpäter aber ereignete ſich ein neuer Zwifchenfall.
3. Nachricht
Meben dem Gartengitter ftand eine Bank aus Stein, die
gegen die Blicke Meugieriger burd eine Hagebuttenhecke
712
gefhüst war. Dot Fonnte ein Vorübergehender fogar mit
freier Hand bis zu jener Bank reichen.
Eines Abends gegen Ende April war Sean Valjean aus-
gegangen. Cofette hatte fih nah Sonnenuntergang auf die
Gartenbant gefest. Ein Fühler Wind raufehte in den Bäumen,
und Cofette hing ihrer Träumerei nad. Eine unbeftimmte
Zraurigfeit hatte fih ihrer bemädhtigt, die Zraurigfeit des Abends
und jener Stunde, die einem halbgeöffneten Grabe gleicht.
Cofette ftand auf, ging langfam im Garten auf und ab und
betrachtete, fo fehr ihr Geift aud anderswo weilte, die mit
abendlihem Tau benesten Gewächſe.
Man müßte eigentlich, dachte fie, Holzſchuhe anziehen, wenn
man um diefe Zeit in den Garten geht. Man erfältet fih fonft.
Dann febrte fie zu ihrer Bank zurüd.
Als fie fit feßen. wollte, bemerfte fie auf dem Plas, den fie
eben verlaffen hatte, einen ziemlich großen Stein, der vorher
beftimmt noch nicht hier gewefen war.
Sie fab ihn an und fragte fi), was er zu bedeuten babe.
Plötzlich kam ihr der Gedanke, diefer Stein könne ſchließlich
nicht allein bierbergefommen fein, eg müffe ihn ein Arm durd
dag Gitter gefchoben haben. Diefer Gedanfe beunrubigte fie.
Diesmal empfand fie wirflih Furt. Der Stein war da, jekt
fonnte fie nicht mehr an eine Halluzination glauben.
Doch diefe Angft währte nicht lange. Bald trat die Neugierde
an ihre Stelle.
Ad, wir wollen erft fehen, fagte fie fic.
Sie hob den Stein auf, der ziemlich ſchwer war, und fand
darunter einen Brief.
Der Umſchlag war aus weißem Papier. Eofette griff da-
nad. Keine Adreffe, Fein Siegel. Aber wenn der Umſchlag au
offen war, fo enthielt er doch ein Blatt Papier.
Cofette nahm es heraus. Was fie jeßt empfand, war nicht
mehr Meugierde, fondern wirflibe Angft.
Die Schrift gefiel Eofette.
Sie fuhte nad einer Unterfohrift, fand aber Feine. Auch die
33 Hugo, Die Elenden. 513
Anrede fehlte. An wen richtete fit diefes Schreiben? An fie |
doch offenbar, da es auf ihre Sant gelegt wurde. Und von wen |
fam e8? Ein unwiderftehliher Drang überfom fie, den Brief
zu Iefen. Sie ſuchte wohl ihren Blick wegzumenden, fab den
Himmel an, bliefte auf die Straße hinaus, beobachtete einen
Augenbli lang die Tauben auf dem Dad) des Nachbarhaufes;
Ihließlih aber fiel ihr Blick doch auf das Blatt, und fie dachte,
fie müffe doch willen, was darauf ftehe. Und fie las folgendes:
„Bott fann dem Glück derer, die lieben, nur nod) eines
hinzufügen — Ewigkeit. Nach einem Leben der Liebe, eine
Emigfeit der Liebe, bas bedeutet in der Tat noch eine Steige-
rung. Aber es ift unmöglich, das Glück felbft zu fteigern, das
die Liebe uns auf diefer Welt vermittelt — felbft Gott kann
bas nicht. Er ift die Fülle des Himmels, aber die Liebe ift die
Fülle des Menſchlichen.“
4. Nach dem der Brief gelesen
Süße Gedanken bemächtigten ſich Coſettes. Als fie auf—
blickte, ſpazierte gerade der ſchöne Offizier mit triumphierender
Miene an dem Gitter vorüber. Coſette fand ihn abſcheulich.
Wieder las ſie das Blatt.
Es war ein Brief ohne Anſchrift, ohne Namenszeichnung,
Datum, zugleich dringlich und doch unintereſſiert, eine rätſel—
hafte Miſchung aus Liebesbotſchaft und Betrachtung, ein Ren—
dez⸗vous, gegeben in einer anderen Welt.
Mer mochte diefe Zeilen gefehrieben haben?
Eofette zögerte nicht einen Augenblid.
Mur er!
Sekt tagte es in ihrem Geifte. Alles tauchte wieder aus der
Vergefienheit auf. Sie empfand eine unerhörte Freude und
bod eine tiefe Angſt. Er war es, er fbrieb ihr! Sein Arm
hatte burd das Gitter gelangt! Sie hatte ibn vergeflen, er
hatte fie wiedergefunden. Aber hatte fie ibn denn wirflid ver-
geffen? Mein, niemals! Sie war einen Augenblif lang fo fol
514
gewefen, es felbft zu glauben, weiter nichts. Als fie dag britte-
mal das Blatt durchftudiert hatte, erfhien wieder Leutnant
Théodule und Élirrte mit den Sporen. Cofette mußte aufbliden.
Sie fand ihn jeßt langweilig, nichtsfagend, febr häßlich und un-
verfhämt. Der Offizier glaubte, ihr zulächeln zu müffen. AÄrger-
lib wandte fie fih ab. Am liebften hätte fie ihm etwas an den
Kopf geworfen.
Dann lief fie in das Haus, fchloß fih in ihr Zimmer ein,
las das Blatt wieder und wieder, bis fie e8 auswendig Fonnte.
Dann Füßte fie es und ſteckte es in ihr Korfett.
Es war geſchehen. Wieder war Eofette ihrer Liebe verfallen.
Mob einmal tat fit ihr der Garten Eden auf.
5. Die Alten find dazu ba, redhtzgeitig
fortzugeben
Als es Abend wurde, ging Sean Valjean aus. Cofette aber
Fleidete fih an. Sie ordnete ihre Haare zu ihrer beften Srifur,
309 ein Kleid an, bei deflen Bruftausfohnitt die Schere ein
wenig ausgeglitten war, fo daß man ben Salsanfas ſehen
fonnte — mas ja die jungen Mädchen „ein wenig indezent‘
finden.
Sie legte diefe Toilette an, ohne recht zu wiflen warum.
Mollte fie ausgehen? Erwartete fie Befuh? Mein.
As es dunfelte, ging fie in den Garten. Iouffaint war no
in der Küche befchäftigt, die auf den Hinterhof hinausging.
Sie Fam zu ihrer Bank. Der Stein lag noch immer da. Sie
fette fi) und legte ihre weiße Hand auf den Stein, als ob fie
ihn ftreiheln und ibm danfen wollte.
Plötzlich fühlte fie, daB jemand hinter ihr ftanb.
Sie wandte fi) um und ftand auf.
Er war es.
Er trug feinen Hut. hr bien, daB er blaß und mager war.
In der Dunkelheit Fonnte man feinen ſchwarzen Anzug Faum
erkennen. Die Dämmerung ließ feine fhöne Stirn fahl, feine
A | 515
Augen befhattet erfheinen. Etwas an ibm erinnerte, faum
burch fein fanftes Wefen gemildert, an Tod und Nat. :
Cofette brachte Fein Wort über die Tippen. Langfam trat fie
zurücd, denn fie fühlte fih zu ibm hingezogen. Auch er rührte
fit nicht. Sie fühlte feinen Blick, ohne felbft die Augen zu ihm
aufzufchlagen.
Jetzt lebnte fie fit an einen Daum. Wäre diefer Baum
nicht dagewefen, gewiß wäre fie umgefunfen.
Und jest hörte fie feine Stimme, diefe nie gehörte Stimme,
die bas leife Naufchen des Laubes Faum übertönte.
„Verzeihen Sie, daß ich gefommen bin. Ich mußte, denn ich
fonnte nicht jo weiterleben. Haben Sie den Brief gelefen, den
ich hier auf diefe Bank legte? Erfennen Sie mih noch? Fürch—
ten Sie fid nicht vor mir. Es ift lange ber feit damals...
erinnern Sie fi nod an den Tag im Lurembourg, neben der
Statue des Gladiators? Es muß ein Vabr fein feit damals.
Ich babe die Frau, die dort die Stühle vermietet, gefragt, aber
fie fagte, fie hätte Sie nicht mehr gefehen. Sie wohnten damals
Rue de l'Oueſt, in einem neuen Haus, im dritten Stock. Sehen
Sie, daß ich es weiß? Sch bin Ihnen nachgegangen, damals.
Vas follte ich auch fonft tun? Aber dann find Sie verfehwun-
den. Einmal faß ich unter den Arkaden des Odéon und las
Zeitungen, da glaubte ich, Sie zu feben. ch Tief Ihnen nad
— aber ich Hatte mich getäufcht. Es war nur derfelbe Hut.
Seht komme id nachts immer hierher. Fürchten Sie fib nicht,
niemand fieht mich. Sch will nur Ihre Tenfter aus der Nähe
feben. Ich gehe ganz leife, damit Sie mich nicht hören und
Feine Angft befommen. Unlängft ftand ich hinter Ihnen, da
haben Sie fi umgewandt. Sofort bin ich davongelaufen. Ein-
mal hörte ih Sie fingen und war glüdlib. Macht es Ihnen
etwas, wenn ich Sie fingen höre? Es fann Ihnen doch nichts
daran liegen, nicht wahr? Laflen Sie mid) doch herfommen, ich
glaube, ich fterbe fonft. Wenn Sie wüßten, wie ih Sie liebe!
Verzeihen Sie mir, daß ich fo fpreche, aber ich weiß felbft nicht,
was ich fage. Vielleicht Fränfe ich Sie.’
516
Die Beine verfagten ihr den Dienft.
Er fing fie in feinen Armen auf und brüdte fie an feine
Bruft, obne zu wiffen was er tat. Er felbft taumelte, während
er fie hielt. Ihm war, als ob fit ein Mebel vor feine Augen
‚breite. Blige zuckten zwifchen feinen Brauen. Ihm war, als ob
bier eine religiöfe Handlung vollgogen werde und als ob er
etwas Heiliges verlege. Sie nahm feine Hand und legte fie auf
ihr Herz. Er fühlte das Blatt Papier und ftammelte:
„Lieben Sie mid denn?’
Saft unhörbar antwortete fie:
„Schweig doh! Du weißt eg.”
Sie festen fid auf die Banf. Worte fanden fie nit. Wie
kam es, daß ihre Lippen fih fanden? Wie fommt es, daß ein
Vogel fingt, daß Schnee fhmilzt, daß die Roſe fi entfaltet?
Sie dachte nit daran, ibn zu fragen, wie er bierbergefom-
men war. Alles erfchien ihr fo einfach, es war fo felbfiverftänb-
‚li, daß er bei ihr war!
Allmählich begannen fie zu ſprechen. Der Bann der Stumm—
heit war gebrochen. Sie vertrauten ſich ihre Geheimniſſe an,
‚erzählten einander von ihrer Liebe, alles, was die Jugend und
| der Meft ihrer Kindlichfeit ihnen zuflüfterte.
Als fie alles gefagt hatten, legte das Mädchen ihren Kopf
auf Marius Schulter und fragte;
„Wie heißen Sie?’
„Marius.“
„Ich heiße Coſette.“
Viertes Buch
Der kleine Gabroche
1. Der Wind fpielt einen böfen Streid
Mad 1823, während die Herberge in Montfermeil langfam
zugrunde ging, nicht dem Danferott, aber dem Drängen tau-
ſend Éleiner Gläubiger verfiel, hatten die Thénardiers not
517
zwei Kinder befommen: zwei Knaben. Alfo hatten fie insgefamt
deren fünf, zwei Mädchen und drei Jungen.
ES war genug.
Die Ihenardier entledigte fit der beiden Süngften bald. Ein
eigentümliches Glück begünftigte fie dabei.
Bei der Ihenardier war die Natur gewiffermaßen nur ein
Bruchſtück. Wie die Marfchallin de la Motte-Saudancourt, war
die Ihenardier nur die Mutter ihrer Töchter. In ihnen er-
ſchöpfte fid ihr Gefühl. Ihr Menfchenhaß traf auch ihre Söhne.
Den Ülteften verabfheute fie. Die beiden Jüngſten waren ihr
unerträglich.
Marum?
Darum.
Diefes Darum ift das furhtbarfte, indisfutabelfte Argument.
Ich braude nicht eine ganze Herde Kinder, fagte diefe !
Mutter.
Jetzt wollen wir berichten, wie die Ihenardiers fi ihrer
beiden jüngften Kinder entledigten und daraus noch Nutzen zogen.
Jene Magnon, von der wir bereits berichteten, daß fie mit
der Bande Patron-Minette in Verbindung fand, war früher
einmal Magd im Haufe des alten Gillenormand. Von ihm hatte
fie zwei Kinder befommen. Sie wohnte am Quai des Céleftins,
an der Ecke jener Rue du Petit-Muse, deren befonderer Nuhm
es ift, ihren ſchlechten Ruf in guten Geruch umzufeßen. Der
Lefer erinnert fich vielleicht der großen Kruppepidemie, die da-
mals, vor fünfunddreißig jahren, die Quartiere an der Seine
heimfuchte, und die Anlaß zu bedeutfomen Errungenschaften der
ärztlihen Wiffenfchoft war. Durch diefe Epidemie verlor Ma—
gnon am gleichen Tage ihre beiden Kinder. Das war ein fehwerer
Schlag, denn die Kleinen waren der Mutter fehr wertvoll,
ftellten fie do eine monatliche Rente von achtzig Franken bar.
Diefer Betrag wurde im Auftrage des Herrn Gillenormand
von Herrn Darge, Nentenempfänger, Rue du Roy-de-Sieile,
außerordentlich pünktlich ausgezahlt. Mit den Kindern war au
die Rente begraben.
513
Magnon fubte Erfas. In diefer Verbrehergefellfhaft, der
fie angehörte, weiß jeder von jedem alles, hält jeder reinen
Mund, Hilft einer dem andern. Magnon brauchte zwei Kinder,
die Ihenardier hatte zwei zu vergeben. Alter und Geſchlecht
ftimmten. Beide Teile Eonnten zufrieden fein. Die Eleinen Thé-
nardiers wurden Fleine Magnons. Zur Sicherheit 309 Magnon
nad der Rue Eloche-Perse. In Paris wird man vergeffen,
wenn man in ein anderes Quartier zieht.
Die Derwaltungsbehbörde hatte nichts von der Sache er-
fahren, fo daß die Unterfhiebung höchſt einfach vonftatten ging.
Mur verlangten die Thénardiers für die beiden Kinder eine
monatliche Seibgebübr von zehn Franken, zu deren Zahlung
Magnon fih auch bereit erklärte. Selbftverftändlic dachte Gil-
lenormand nicht daran, feine Zahlungen einzuftellen.
Magnon, muß gefagt werden, gehörte zur Oberflaffe der Der-
brecherinnen. Sie Éleidete fih gut. Ihre Wohnung teilte fie mit
einer franzöfifierten Engländerin, einer febr fhlauen Diebin.
Diefe hatte gute Beziehungen zu reichen Leuten und ftand in
irgendeinem dunflen Zufammenhang mit den Diamanten der
Mademoifele Mars. Später wurde fie durch einige Prozeſſe
berühmt. Man nannte die Mamfell Mit.
Die beiden Kinder, die folhermaben von der Magnon über-
nommen wurden, waren übrigens nicht zu beflagen. Durch einen
Betrag von achtzig Franken der Mutter ans Herz gelegt, er-
fuhren fie eine recht gute Behandlung; fie waren nicht fchlecht
geFleidet, nicht fchleht genährt, faft wie Bürgerfinder gehalten;
gewiß ging e8 ihnen bei der falfchen Mutter beffer als bei der
richtigen. Da Magnon für eine Dame gelten wollte, ſprach fie
nie vor den Kindern Argot.
So vergingen Jahre. Schon begann die Ihenardier beffere
Geſchäfte zu wittern. Als ihr die Magnon eines Tages die zehn
Sranfen brachte, fagte fie: ‚Sekt wird es bald Zeit, daß der
Vater etwas für die Erziehung feiner Kinder tut.‘
Pröslich, unvermittelt, wurden diefe beiden armen Gefchöpfe,
denen das Schieffal bisher noch nicht übel mitgefpielt hatte (ja,
519
deren Unglüd zum Glück ausgefhlagen war), jäh ins Leben bin-
ausgejchleudert.
Eine Maffenverbaftung wie jene in Yonbrettes Zimmer, die
notwendigerweife zu allerlei Berbaftungen und Hausdurchſuchun—
I
LAC 8 N Wr „Ihe au
Fe IN Sen \ N N
li
in
gen führt, ift für die Verbrechergeſellſchaft notwendigerweiſe
eine Kataftrophe. Thénardiers Sturz rif auch Magnon in den
Abgrund.
Eines Tages, kurz nahdem Magnon Eponine die Meldung
aus der Rue Plumet überbraht hatte, gab es in der Rue Cloche—
320
|
|
|
Perce Hausfuhung. Magnon und Mamfell Miß wurden ver-
haftet, das ganze Haus entvölferte fi plöslih. Während diefer
Szene hatten die beiden Kleinen im Hinterhof gefpielt und
nichts von der Razzia bemerkt. Als fie nach Haufe fommen woll-
ten, fanden fie die Tür verfhloffen, bas Haus verödet. Ein
Slitfhufter, der gegenüber wohnte, rief fie herbei und übergab
ihnen einen Zettel, den „die Mutter‘ ihnen binterlaffen hatte.
Darauf ftand:
nMonfieur Barge, Nentenempfänger, Nue du Roy-de-Si-
cile Mo. 8.
„Ihr wohnt nicht mehr hier,” fagte der Mann, „geht dahin.
Es ift nicht weit. Die erfte Straße links. Fragt eud mit dem
Zettel da durch.“
Die Knaben machten fih auf den Weg. Es war Falt, die
Éleinen Singeren des Älteren, der den Zettel hielt, waren
flamm. An der Ede der Rue Cloche-Perce rif ibm ein Wind-
ftoß das Blatt aus der Hand, und da es bereits Abend war,
fonnte das Kind ihn nicht wiederfinden.
So begannen die beiden Kleinen dur die Straßen zu irren.
2. Der Fleine Gavroche zieht Vorteile
aus bem großen Napoleon
Der Parifer Frühling Éennt raube Stürme, deren Falter
Hauch uns nicht frieren aber doch erfhauern macht. Es fcheint
dann, daß die Tür des Winters nur halb gefchloffen ift und daß
durch den Spalt no ein leßter winterliher Wind durchſtreicht.
Im Frühjahr 1832, in diefem felben Frühjahr, bas ja auch
die erfte große Epidemie des Jahrhunderts bradte, waren biefe
Stürme böfer als je. Nicht nur die Türe des Winters, noch
eine andere, unheimlichere ftand offen — die des Grabes. Man
fühlte in diefem Wind den Hauch der Cholera.
An einem Abend, an dem es befonders ftürmte, fo daß man
fi in den Januar zurücverfest glauben Fonnte und die Bürger
ihre Wintermäntel wieder hervorgeholt hatten, ftand der Fleine
521
Gavroche vor einem Srifeurlaben nahe der Orme-Saint-Ger-
vais. Obwohl er vor Kälte zitterte, war er vergnügt. Er tat,
als ob er eine tiefdefolletierte und mit einem Drangenblüten-
franz gefhmücte Wahspuppe bewundere, die fih im Schau-
fenfter drehte und, von zwei Lampen beftrahlt, den Zufchauern
zulächelte; in Wirflichfeit aber fpähte er in den Laden hinein,
um zu feben, ob er hier nicht ein Stück Seife maufen Fönnte,
um es fpäter für einen Sou einem Vorſtadtbarbier weiter-
zuverfaufen.
Mährend er alfo diefe Puppe betrachtete, gleichzeitig aber ein
Stück Seife nicht aus den Augen Tieß, murmelte er:
„Dienstag. Es war gar nicht Dienstag. Oder doch Dienstag?
Vielleicht. Sicher ſogar.“
Eine Deutung dieſes ſeltſamen Monologs iſt nie gelungen.
Bezog er ſich auf das letztemal, daß der Junge gegeſſen hatte?
Wenn ja, dann war es vor drei Tagen geweſen, denn dies ge—
ſchah an einem Freitag.
Der Barbier ſtand in ſeinem wohldurchwärmten Laden und
raſierte einen Kunden. Von Zeit zu Zeit warf er einen Seiten-
blief auf den Feind da draußen, der zwar die beiden Hände in
die Taſchen geftecft hatte, aber nicht feinen Wis.
Mährend Gavroche die Puppe, das Scaufenfter und die
Mindfor-foap betrachtete, Famen zwei Kinder, nicht ganz gleich)
groß, recht anftandig gefleidet und um einiges jünger als er —
fie mochten der eine fieben, der andere fünf Sabre alt fein —
des Meges, Elinften fhüchtern die Tür auf und fraten in den
Laden. Sie fragten irgend etwas, baten vielleicht um eine Gabe.
Don draußen Éonnte man ihre Worte um fo weniger verftehen,
als fie fichtlic von den Tränen der Kleinen erftickt wurden. Der
Barbier wandte ſich zornig nad ihnen um, ohne das Raſier—
meffer wegzulegen, fhob den Älteren mit der linfen Hand, den
Süngeren mit dem Knie hinaus und fhlug hinter ihnen die
Zür zu.
„Um nichts und wieder nichts bringen fie die Kälte da ber-
ein!“ fchrie er.
522
Die beiden Kinder marfchierten weiter. Der Himmel hatte
fi) bewölkt, es begann zu regnen.
Der Fleine Gavroche war den beiden nachgegangen.
Bas habt ihr denn, ihr?’
„Wir wiffen nicht, wo wir Schlafen ſollen.“
te bas? Ma, Feine große Sade! Darum weint man
noch lange nicht. Seid ihr blöd!“ |
| Mabdem er folhermaßen feine Überlegenheit zum Ausdrud
gebracht hatte, nahm er einen fanften Gönnerton an.
„Kommt mit, ihr Rangen.“
Die beiden folgten ibm, wie fie einem Erzbifchof gefolgt
wären. Schon hatten fie aufgehört zu weinen.
Gavrode flieg die Rue Saint-Antoine binan und wandte
ſich nach der Baſtille.
Ein Sranenzimmer, bas die drei, einen immer Éleiner als den
anderen, im Gänſemarſch baberfommen fab, lachte laut auf. Es
läßt fich nicht ableugnen, daß biefes Lachen refpeftlos war.
„Tag, Sräulein Omnibus!‘
Dffenbar hatte der Frifeur ihn fo Eriegerifch geftimmt. Eine
Portierin mit einem Bart, die eben mit dem Beſen in der
Hand vor dem Haustor ftand, begrüßte er:
Wollen gnädige Frau ausreiten?’
Dann trat er in eine Lace, daß die Lackſchuhe eines Paffan-
ten über und über befprigt wurden.
„Lausbub!“ ſchrie diefer wütend.
nDaben der Herr eine Befchwerde? Das Büro ift fon ge-
ſchloſſen. Morgen bitte.‘
Sie famen an einem Bäckerladen vorbei.
„Jungens, habt ihr fon gegeflen?‘
„Seit heute morgen nicht.”
„Habt ihr Feine Eltern?‘
„Doch, wir haben Papa und Mama, aber wir wiffen nicht,
wo fie find.’
„In manchen Fällen ift das befler als wenn man es weiß”,
verfiherte Gavroche nachdenklich. „Ihr habt alfo eure Erzeuger
923
verloren. hr wißt nicht genau, wo ihr fie Tiegengelaffen habt.
Das fol man nit. Man fol beffer auf die Erwachſenen auf- |
paflen. Aber jest wird die Sade mit dem Effen dringlich.“ |
Er ſuchte in feinen Hofentafhen und fand fohließlich einen !
Sou. Ohne den Kleinen Zeit zu laffen, fi über diefen gran-
diofen Fund zu entzüden, bugfierte er die beiden in den Bäcker—
laden, legte feinen Sou auf den Tiſch und rief:
‚Junger Mann, für fünf Centimes Brot!’
Der Bäder — es war der Inhaber des Ladens — nahm
ein Brot und ein Meffer.
„In drei Stüden, junger Mann,” fuhr Gavroche würdevoll
fort, ‚mir find nämlich drei.‘
Der Bäder ftreifte die drei mit einem Blick, nahm ein Stüd
Schwarzbrot und feste das Meffer an. est legte Gavrode den
Singer an die Mafe, als ob ihm ein bedeutfamer Gedanfe käme.
So bat Friedrih der Große eine Prife Iabaf genommen!
Dann fragte er den Bäder:
‚Bas ift denn dag?’
„Sehr gutes Brot, Brot zweiter Klaffe.”
„Schwarzer Hundekuchen“, fagte Gavroche verädhtlih. „Ich
verlange Weißbrot, junger Mann. Ich babe die Herren dazu
eingeladen.‘
Der Bäder mußte lächeln und betrachtete, während er bas
Weißbrot anfchnitt, Die drei Jungen auf eine Art, die Gavroche
irritierte.
„Eb, Sie Semmelfonditor, paßt Ihnen vielleiht etwas
nicht?“
Als das Brot abgeſchnitten war, kaſſierte der Bäcker den
Sou, und Gavroche ſagte zu den beiden Kindern:
„Pampft euch voll!“
Dann, als er ſah, daß die Jungen ihn erſchrocken anblickten:
„Ach richtig, ſie ſind ja noch klein, ſie verſtehen das noch
nicht“, voll Würde: „eßt, Kinderchen.“
Und da der Altere ihm der Anrede würdiger ſchien, über—
+24
reichte er ihm das größte Stüd und fagte: „Stopf' dir das in
den Verſchluß.“
Sie waren hungrig, und wer lange Zähne hat, verfteht zu-
zubeißen.
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Dann ſetzten die Kleinen den Weg nach der Baſtille fort.
Als ſie die Rue des Ballets erreichten, aus derem Hinter—
grund das Gefängnis feindlich herüberdrohte, rief plötzlich eine
Stimme:
„Holla, biſt du es, Gavroche?“
„Ab, Montparnaſſe!“
Der andere hatte blaue Brillen aufgefest, aber Gavroche er-
fannte ihn gleich.
„Holla!“ rief Gavroce, ‚du haft ja blaue Brillen wie ein
Doktor? Sehr ftilvoll, weiß Gott.”
„Still!“ flüfterte Montparnaffe, ‚nicht fo laut.’
Raſch 309 er Gavrode aus dem Lichtkegel eines Schau-
fenfters. Mechaniſch folgten die beiden Kleinen:
„Weißt du, wo ich hingehe?“ fragte Montparnaffe.
„Dir die Sanffrawatte anmeffen laſſen.“
„Quatſchkopf! Sch gebe zu Babet.“
„Ich dachte, der fist?!
„Abkutſchiert!“
Raſch erzählte er dem Straßenjungen, daß Babet am ſelben
Morgen bei ſeiner Überführung in die Conciergerie entſprun—
gen war.
Gavroche hörte alles aufmerkſam an und ſparte auch nicht
mit ſachkundigem Lob.
„So ein Zahnreißer!“ applaudierte er.
Inzwiſchen hatte er den Stock, den Montparnaſſe in der
Hand trug, ergriffen und zog den Griff heraus; eine Dolch—
klinge wurde ſichtbar.
„Ach du haft deinen Gendarmen in einen Frack geſteckt?“
Montyparnaſſe blinzelte ibm zu.
„Willſt du denn die Polente kiefeln?“
„Wer weiß“, meinte Montparnaſſe kaltblütig. „Es iſt immer
gut, wenn die Roſe ihre Dornen nicht zu Hauſe läßt. Und du,
wohin gehſt du jetzt?“
Gavroche deutete auf ſeine beiden Schützlinge.
„Bringe die Kleinen da zu Bett.“
„Wo denn?“
„Bei mir zu Hauſe.“
„Alſo du haſt eine Wohnung? Wo denn?“
„Im Elefanten.“
526
„Im Elefanten?’ fragte Montparnaſſe verwundert, obwohl
er nicht gerade zu den Naturen gehörte, die leiht in Staunen
geraten.
„Natürlich im Elefanten. Was ift da weiter dabei?’
Fest fhien Montparnaffe zu begreifen.
„Sp, im Elefanten! Wohnt fich’s dort bequem?’
| ARomfortabel. Nicht diefer dumme Wind wie unter ben
Brücken.“
Mn wie kommſt bu hinein? Gibt's ein Loch?“
„Natürlich. Aber du darfſt nicht davon ſprechen. Zwiſchen
| ben Vorderbeinen. Die Polente bat es noch nicht bemerkt.“
„Ah, und da kletterſt du 'rauf?“
„Im Handumdrehen. Schwubbs bin ich drin! So, und jetzt
gute Nacht! Sollteſt bu mich brauchen, kannſt bu mich ja dort
ſuchen. ch wohne Hochparterre. Kein Portier. Du fragft nad
Herrn Gavroche.“
„Gut“, erwiderte Montparnaffe.
Dann trennten fie fit, Montparnaffe ſchlug die Richtung
nad) dem Grèveplas, Gavrode nad der Baftille ein.
Vor zwanzig jahren Fonnte man noch in der Südweſtecke
des Baftilleplages ein fonderbares Denfmal feben, das inzwi-
fhen der Dergeflenheit verfallen ift, aber doch verdient, in Er-
innerung gebracht zu werden, denn es verdanfte feine Entftehung
einem Antrag des „Mitglieds des Inſtituts und Fommanbieren-
den Generals der Armee in Ägypten”.
Mir fagten Denkmal, obwohl diefer Ausdruck nicht ganz be-
rechtigt ift; es handelte fi) gewiflermaßen nur um den gewal-
tigen Leichnam einer napoleonifchen dee. Die Figur des Ele-
fanten war vierzig Fuß hoch, aus Mauerwerk aufgeführt, und
trug auf dem Rücken einen Qurm, der einem Haus gli. Früher
war diefer Turm grün angeftrichen gewefen, aber die Zeit und
der Regen hatten ibn geſchwärzt. Was bas Ganze bedeuten
follte, wußte niemand. Urfprünglich war es wohl als ein Sym-
bol der Volkskraft gedacht. Es fab düfter, rätfelhaft und un-
geheuerlih aus.
527
Mur wenige Fremde befibtigten diefes Bauwerk, und die Pa-
rifer gönnten ihm Éeinen Blick. So verfiel e8. Jeder Winter
Ihlug furdtbare Wunden in feine Flanfen. Die Baupolizei
hatte fich feit 1814 nicht mehr um bas Ungetüm gefümmert. :
Es ftand in feinem Winkel, krank und vergeflen, von einem
morjchen Zaun umgeben, den betrunfene Kutfcher gern miß-
braudten. Zwifchen feinen Beinen wuchs hohes Gras,
Hierher führte Gavrode die beiden Kleinen. Er abnte wohl,
daB bas Ungeheuer fie in Furcht jeßen mußte und fagte:
„Keine Bange, Kleine.”
Dann kroch er durd eine Lücke im Zaun und 309 die beiden
hinter fit her. Sie waren wohl etwas verfchüchtert, folgten ihm
aber wortlos und überließen fi biefer Vorfebung in Lumpen,
die ihnen Brot gegeben und einen Unterfchlupf verfprocen hatte.
An den Zaun war eine Leiter gelehnt, die wohl des Tags
den Arbeitern auf dem Plage nebenan diente. Gavrode richtete
fie mit erftaunlicher Kraft auf und lehnte fie an eines der Vor—
derbeine des Elefanten. Gleich über dem oberen Ende der Leiter
fonnte man ein ſchwarzes Loc erfennen, bas in den Vaud des
Ungeheuerg führte.
Gavrode zeigte feinen Gäften diefes Loch und fagte:
„Bitte gütigft einzutreten!’
Kurz vor Morgengrauen näherte fi von der Rue Saint-
Antoine im Lauffhritt ein Mann, überquerte den Platz der
Baftille, Érod durch das Loc des Zauns und blieb unter dem
Elefanten fteben. Wenn es nicht ſtockfinſter gewefen wäre,
hätte felbft ein flüchtiger Beobachter erfennen müffen, daß biefer
Mann eine Nacht lang im Regen geftanden hatte. est ftieß er
einen Schrei aus, der Feiner menfchlihen Sprade angehört und
wohl nur von einem Papagei wiederholt werden Fann. Zweimal
rief er:
„Kirikikiuuuuu!“
Auf den zweiten Schrei antwortete aus dem Bauch des Ele—
fanten eine Knabenſtimme:
528
„Ja.“
Gleich darauf wurde ein Brett von dem Loch im Bauch des
Elefanten weggezogen, und ein Knabe glitt an einem Bein des
Ungeheuers herab.
Kirikikiu galt offenbar dem Elefanten und bedeutete: Melden
Sie mic) Herrn Gavroche.
„Wir brauchen dich,” fagte Montparnaffe Furz, „komm!“
Der unge verlangte Feine weitere Aufklärung.
„Gut, gehen wir’, fagte er.
3. Shwierigfeiten beider Fludt
Und folgendes gefchah in diefer Nacht im Gefängnis la Force.
Babet, Brujon, Gueulemer und Ihenardier hatten, obwohl
Thenardier in Einzelhaft faß, verabredet, auszubrechen. Babet
hatte allerdings das Gefhäft am Vormittag fon auf eigene
Rechnung gemacht, wie der Lefer aus dem Geſpräch zwiſchen
Montyarnaffe und Gavroche entnommen hat. Montparnaffe
follte den anderen von außen helfen.
Brujon, der einen Monat in verfchärfter Haft gefellen hatte,
war inzwifchen tätig gewefen; er hatte einen Strick geflochten
und einen Plan ausgebedt. Früher wurden Sträflinge, die fi
gegen die Difziplin vergangen hatten, in verließartigen Einzel-
zellen untergebracht, die aus vier Steinmauern, einer Dede aus
Stein und einem Pflafter aus Sliefen beftanden, vergitterte
Lufen und doppelte Eifentüren hatten und nur mit einem Feld-
bett möbliert waren; aber diefe Einzelzellen wurden fchließlich
allzu graufam gefunden. jest beftehen fie aus einer doppelten
Eifentür, einer vergitterten Lufe, vier Steinmauern, einer
Dee aus Stein und einem Boden aus Steinfliefen; möbliert
find fie item mit einem Feldbett. Unterfchied gegen früher: jeßt
heißen fie nicht Einzelzellen, fondern Strafzellen.
Gegen Mittag fallt fogar in diefe Räume ein wenig Licht.
Der Nachteil, den diefe Einfperrung bietet, befteht darin, daß
34 Hugo, Die Elenden. 529
die Strofzellen, die — wie gefagt — Gott bewahre Feine
Einzelzellen find, den Häftling zwar nicht zur Arbeit anhalten,
ihn aber zum Sinnieren bringen.
Nun, Brujon hatte finniert. Die Folge war, daß er die
Strafzelle im Beſitz eines Stricfes verlieh. Und da er für fo
gefährlich galt, daß ihn der Leiter des Hofes Charlemagne nicht
haben wollte, brachte man ihn in den Meubautraft, der Vati-
ment-Meuf genannt wurde. Hier fand er zunächft Gueulemer,
dann einen Nagel vor: Gueulemer, bas bedeutete ein neues Ver—
brechen, der Nagel — der verfprad die Freiheit.
Brujon hatte feinerzeit feine Karriere als Dachdecker be-
gonnen. Diefe Borfenntniffe kamen ibm jest um fo mehr zu-
nuße, als zur Zeit bas Scieferdacd des Gefängniffes ausgebef-
fert wurde. So war der Hof Saint-Bernard nicht mehr vom
Hofe Charlemagne und Saint-Louis getrennt. Auf den Dächern
gab es Leitern und allerlei Gerüft — oder, von einem anderen
Gefihtspunft aus gefehen, Brücken und Treppen.
Das Bätiment-Meuf ftrafte feinen Namen Lügen, denn es
war bas baufälligfte, morfhefte Gebäude, dag man fi vor-
ftellen Eonnte, geradezu die Achillesferfe diefes Gefängniffes.
Seine Mauern waren dermaßen vom Salpeter zerfreflen, daß
man fich gezwungen gefeben hatte, die Deden der Schlaffäle
mit Holz zu verfleiden, weil fonft die Ziegel auf die Köpfe der
Schläfer berabfielen. Iroß diefes elenden Zuftandes wurde dag
Bätiment-Neuf gerade zur Unterbringung von befonders ge-
fährlihen Verbrechern, „ſchweren Fällen‘, wie man bas in der
Gefängnisfprache nennt, verwendet.
Es enthielt in vier Stockwerken vier übereinanderliegende
Schlafräume und fchließlich einen Giebel, der Bel-Air genannt
wurde. Ein Rauchabzug führte aus dem Erdgefhoß, vielleicht
aus einer früheren Küche, durch alle vier Stocfwerfe zum Dad,
wo er in einem abgeplatteten Pfeiler auslief.
Gueulemer und Brujon fchliefen im felben Saal. Vorſichts—
halber hatte man fie im Erdgefhoß untergebraht. Es war Zu-
fall, daß die Kopfenden ihrer Betten an den Kamin ftießen.
530
Thénardier faß, gerade über ihnen, in dem Giebelraum
| Bel-Air.
Wenn der Spaziergänger in der Rue Culture-Sainte-Ca-
| therine, hinter der Kaferne der Feuerwehr, vor dem Tor des
Badehauſes, ſtehenbleibt, fieht er fi) einem Hofe gegenüber, in
| bem in allerlei Kübeln Pflanzen gezogen werden und in deffen
Hintergrunde ein Éleiner, weißer Nundbau mit grünen Fenfter-
läden fihtbar wird. Diefes Haus gleiht einem bufolifchen
Traum Mouffeaus. Und doch ftieg vor Faum zehn Jahren hinter
dieſem Rundbau eine gewaltige Fable, ſchwarze Mauer auf, an
die er gelehnt war.
Es war die Mauer des Nondenweges um die Force.
So hoch diefe Mauer auch war, wurde fie doch von einem
noch fehwärzeren Dach überragt — dem Giebel des Bätiment-
Meuf. Man Fonnte fogar mit freiem Auge die vergitterten
Lufen des Gichels und den Schornftein ausnehmen.
Bel-Air, der Giebel des „Neubaues“, war ein großer, in
Manfarden geteilter Naum, der durch dreifache Gitter und dop-
pelte, eifenbefchlagene Türen verfichert war.
In einem der Käfige diefes Giebelraums war feit der Nacht
des dritten Sebruars Ihenerdier untergebracht. Niemals ift
berausgebradt worden, wie und mit weflen Hilfe er fid eine
Slafhe jenes angeblih von Desrues erfundenen Weines ver-
Ihaffen Fonnte, bem ein Schlafmittel beigemengt ift und der
fpäter durch die berühmte Bande der ‚„Einfchläferer‘‘ Elaffifch
geworden ift.
In vielen Gefängniffen gibt es verräterifhe Deamte, die
halb Kerfermeifter, halb Verbündete der Häftlinge find und
den Gefangenen bei ihren Ausbruchsverfuchen behilflich find.
In eben jener Nacht, in der Gavrode die beiden umber-
irrenden Kinder auflas, erwarteten Brujon und Gueulemer,
die von Babets Flucht bereits wußten, die Mitternachtsftunde,
erhoben fid dann leife aus ihren Betten und begannen mit Bru-
jons Magel das Seislod des Kamins zu erweitern. Wohl er-
wachten einige Gefangene von dem Lärm, ftellten fi) aber
— 531
flafend und ließen Gueulemer und Brujon gewähren. Brujon
war gefchieft, Gueulemer ftarf. Bevor der Auffeher in feiner
vergitterten Zelle etwas hören und burd das Genfter in ben
Schlafſaal fehen Éonnte, waren die beiden Burfchen bereits auf
dem Dad. Megen und Sturm hatten zugenommen.
„Eine ſchöne Naht, um auszurücken“, meinte Brujon.
Ein Libthof von fehs Fuß Breite und achtzig Fuß Tiefe
trennte die beiden von der Mauer des Mondenwegs. In der
Tiefe faben fie das Gewehr eines Poftens funfeln. Sie befeftig-
ten das eine Ende des Stricks, ben Vrujon in der Strafzelle
geflochten hatte, am Gitter des Schornfteing, warfen das an-
dere über die Rondenmauer, überquerten den Abgrund, Elam-
merten fit an einen Mauervorfprung und gelangten fchließlic
auf ein Fleines Dad, das an bas Badhaus ſtieß. Vebt zogen
fie ihren Strid nad, fprangen in den Hof des DBadhaufes,
ftießen die Zür auf und waren auf der Straße.
In fnapp drei Vicrtelftunden hatten fie bies alles bewerf-
ftelligt.
Einige Augenblide fpäter waren fie auf Babet und Mont-
parnafle geftoßen.
Als fie den Strick nachzogen, war er zerriffen und ein Stüd
blieb am Schornftein hängen. Übrigens hatten die beiden Aus—
brecher fi, von einigen Hautabfhürfungen an den Händen ab-
gefeben, Feine Verwundung zugezogen.
Thénardier war, ohne daß man fpäter erfahren Fonnte, von
wen, über diefen Fluchtplan unterrichtet und fchlief nicht. Gegen
ein Uhr nachts, es war ftocfinfter, fab er auf dem Dad) gegen-
über feiner Lufe zwei Schatten. Einer blieb eine Sefunde lang
fteben. Es war Brujon. Ihenardier erfannte ibn und begriff
alles. Er hatte genug gefehen.
Da Tbénardier unter Anklage ftand, planmäßig einen be-
waffneten Überfall unternommen zu haben, wurde er ftreng
bewacht. Ein Poften, der alle zwei Stunden abgelöft wurde,
ging mit geladenem Gewehr vor feinem Käfig auf und ab. Im
Bel-Air brannte die ganze Macht über eine Lampe. Der
932
Gefangene fchleppte an feinen Füßen ein paar fünfzig Pfund
ihwere Eifengewichte. Täglich um vier Uhr nadhmittags befudte
ihn ein Wärter mit zwei Doggen (das war damals nod üblich),
trat in feine Zelle, legte ein zweipfündiges Schwarzbrot auf den
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Boden, prüfte die Gewichte, und beflopfte die Gitterftäbe. Und
zweimal des Nachts Fam diefer Mann mit feinen beiden Dog-
gen zur Kontrolle an Tbénardiers Tür.
Dod hatte Ihenardier die Erlaubnis erhalten, eine Art
Magel zu behalten, mit dem er das Brot an die Wand nagelte,
533
um es, wie er fagfe, vor den Matten zu ſchützen. Da Thénar-
dier beftändig unter den Augen des Wachtpoſtens war, hatte
man feinen Anftoß daran genommen, ihm diefe Gunft zu ge-
währen. Später allerdings erinnerte man fi), daß einer der
Wächter Einwände gemacht hatte:
‚Mon Fönnte ibm ja ebenfogut einen Holzpflod geben...”
Um zwei Uhr morgens wurde der alte Soldat, der feit Mit-
ternacht Poften geftanden hatte, durch einen Mefruten erfest.
Kurz naher machte der Mann mit feinen Doggen den zweiten
Rundgang, bemerkte aber nur, daß der Wachtpoften fehr jung
und recht bäuriſch ausfah. Zwei Stunden fpäter, um vier Uhr,
wurde diefer Rekrut abgelöft. Man fand ibn auf dem Boden
liegend und fchlafend. Und Thénarbdier war nicht mehr da. Seine
Zußgemwichte, deren Klammern durchbrochen waren, lagen auf
dem Boden. In der Dede fand man ein Lob. Ein Brett aus
feiner Pritfhe war herausgeriffen und offenbar mitgenommen
worden, denn es war nicht mehr zu finden. Schließlic entdeckte
man in der Zelle eine halbvolle Slafhe von jenem Wein, mit
dem der Poften betäubt worden war. Auch das Bajonett des
Soldaten fehlte.
As diefe Feftftellungen gemacht wurden, glaubte man, Tbé-
nardier fei inzwifchen über alle Berge. Er befand ſich in der
Tat nicht mehr im Vâtiment-Meuf, fchwebte aber noch immer
in großer Gefahr.
Wohl hatte er auf dem Dach des Haufes den Reſt jenes
Stricks gefunden, an dem Drujon binabgeflettert war, aber bie-
fer Strick war viel zu kurz und reichte nicht bis zur Nonden-
mauer.
Menn man aus der Mue des Ballets in die Rue du Noy-de-
Sicile einbiegt, fo bat man zur Rechten eine dunfle Mulde.
Auf diefer Stelle ftand im vorigen Jahrhundert ein Gebäude,
von dem auch damals nur mehr die drei Stoff hohe Sinter-
wand übriggeblieben war. Diefe Ruine zeigte nod zwei Fenfter.
Die Abbruchftelle war von einem morfchen Bretterzaun um-
friedet; an der Straßenfeite ftand eine Éleine Barade. Die Tür
934
im Zaun war noch vor einigen fahren mit einer Klinfe ver-
feben.
Auf bem Firft diefer verfallenen Mauer landete Ihenardier
gegen drei Uhr morgens.
Mie war er da hingelangt? Hatte er fich der Leitern bedient,
welche die Dachdecker zurücgelaffen hatten, und war mit ihrer
Hilfe über den Hof Charlemagne, den Hof Saint-Louis und die
Mondenmauer hierher gelangt? Diefe Strede zeigte Klüfte, die
unüberbrücbar fchienen.
Es ift oft fhier unmöglich, die erftaunlichen Leiſtungen ent-
fpringender Sträflinge zu begreifen. Der Mann, der aus Ker-
Éerbaft flieht, ift infpiriert. Er bat feinen befonderen Stern,
der über diefer geheimnisvollen Flucht leuchtet.
Mie dem auch fei, jest ſaß Ihenardier fchweißtriefend, vom
Regen durchnäßt, mit zerfeßten Kleidern, zerfchundenen Händen,
Knien und Ellbogen, auf dem Giebel jener Mauer. Er legte fi)
der Länge nad bin, denn er war zu Tode erfchöpft.
Iotenblaß, verzweifelt, wartete er, von dem Gedanken ge-
peinigt, daß es nun bald tagen würde; binnen kurzem würde es
von der benachbarten Kirche Saint-Paul vier Uhr fehlagen,
dann würde der Wachtpoſten bei der Ablöfung fehlafend gefun-
den. Er bliefte in die Tiefe, ftarrte auf bas naſſe, ſchwarze
Straßenpflafter hinab, bas ihm den Tod androhte und doch die
Freiheit verfprad.
Hatten feine drei Komplicen, denen die Flucht geglüdt war,
ihn bemerkt, würden fie ibm zu Hilfe fommen? Er laufte.
Aber außer einer Polizeiftreife war feit einer Stunde niemand
durch die Straße gefommen.
Es fhlug vier Uhr. Ihenardier zitterte. Kurz hernac hörte
er aus dem Gebäude des Gefängniffes jenen verworrenen Lärm,
der immer einem entdecften Fluchtverfuch folgt. Türen wurden
zugefchlagen, Gitter Énarrten in den Angeln, Poften eilten bin
und ber, Gewehrfolben wurden auf den Boden geftoßen. Durch
die Fenfter fab man Lichter freppauf, treppab huſchen; die
Feuerwehr war aus der benachbarten Kaferne geholt worden,
535
und die Helme glißerten im Widerfchein der Fadeln auf dem
Dad. Gleichzeitig bemerkte Ihenardier von der Baſtille ber-
über einen fablen Lichtfchein, der am Horizont den Tag an-
kündigte.
In feiner Angſt gewahrte er plötzlich in der Straße, die no
im Dunkeln lag, einen Mann, der an den Mauern entlang
ſchlich, von der Rue Pavée herüberkam und den Bauplatz betrat,
der an Thénardiers Mauer ſtieß. Dieſem Mann folgte ein
zweiter, der eben ſo vorſichtig näher kam, dieſem ein dritter und
vierter. Als ſich die Leute wieder vereinigt hatten, klinkten ſie
die Tür in dem Zaun auf und traten in den Schatten der
Parade. est ftanden fie direft unter Ihenardier. Offenbar
hatten fie diefen Platz gewählt, um unbeactet beraten zu Fön-
nen. Ihenardier Eonnte ihre Gefihter nicht ausnehmen, borcte
aber mit den ſcharfen Ohren des Derzmweifelten, der Feine Ret—
fung mehr erhofft.
Test fhimmerte ihm ein Hoffnungsftrahl entgegen. Diefe
Leute fpraden Argot.
„Abſchrammen“, fagte der erfte. „Hier ift nichts zu drehen.”
„Es regnet, daB das Feuer des Teufels ausgehen Fönnte.
Die Polente wird gleich vorbeifommen. Da drüben fteht aud
einer. Beſſer wir hauen ab.’
„arten wir doc ein bißchen,’ meinte der dritte, „es brennt
nicht. Wer weiß, ob er uns nicht noch braucht.“
Sept erkannte Ihenardier Montparnaffe, der eine gewähltere
Sprache bevorzugte. Es waren feine Freunde.
Brujon antwortete ungeduldig, aber immer nod Teife:
„Bas du dir wieder ausgedacht haft! Der Sbubiaf ftellt
ſich dämlich an. Der hat's noch nicht heraußen.“
„Aber man läßt feine Freunde nicht fo einfach ſitzen“, er-
widerte Montparnaffe mürrifd.
„Wir Éônnen ger nichts für ihn tun,” meinte Srujon, „fort
mit Schaden! Jeden Augenblid Éann die Hand auf unferer
Schulter Tiegen.”
536
Montparnaffe leiftete nur fhwahen Widerftand. In der Tat
hatten die vier Männer mit jener Treue, die gerade Verbrecher
auszeichnet, eine ganze Nacht im Bereich der Force zugebradt,
was für fie immerhin gefahrvoll war; bis jest hatten fie ge-
hofft, Thenardier irgendwo auf einer Mauer auftauchen zu
feben. Nun aber verloren fie die Hoffnung, und fogar Mont-
parnaffe, der ein bißchen Ihenardiers Schwiegerfohn war, gab
nad). Einen Augenblick nod, und fie würden gehen. Tbénar-
dier Feuchte auf feiner Mauer vor Angft wie ein Schiffbrüdi-
ger auf feinem Floß, der die Segel eines Schiffs am Horizont
vorübergleiten fieht.
Zu rufen wagte er nicht, denn ein einziger Schrei Eonnte
alles verderben. et Fam ihm ein Gedanke. Er 309 Vrujons
Strick aus der Safe und warf ihn in die Tiefe.
Der Sirid fiel den vier Männern zu Füßen.
„Hola, eine Witwe”, fagte Babet.
„Ein Onfel”, fagte Brujon.
„Das ift der Wirt”, fagte Montparnaffe.
Sie fahen hinauf. Thenardier ſchob feinen Kopf vor.
„Raſch,“ flüfterte Montparnaffe, „haſt du das Stridfende,
Brujon?‘
„Ja.“
„Knüpf' die beiden Stricke zuſammen, dann werfen wir das
Ganze hinauf, er kann es feſtmachen und daran berunter-
rutſchen.“
Thénarbier wagte jetzt, lauter zu ſprechen.
„Ich bin ganz klamm.“
„Wir werden dir ſchon einheizen.“
„Kann mich nicht rühren.“
„Laß dich abrutſchen, wir fangen dich auf.“
„Hab' die Hände ſteif.“
„So binde wenigſtens den Strick an die Mauer.“
„Ich kann nicht.“
„Einer von uns muß hinauf“, meinte Montparnaffe.
„Drei Stockwerke!“ wandte Brujon ein.
537
Ein altes Ofenrohr ftieg von der Parade an der Mauer bin-
auf, faft bis zu bem Plas Ihenardiers. Es war brüdig und
ſehr ſchmal.
„Vielleicht kommt man da hinauf?‘ fragte Montparnaffe.
„An der Röhre?“ fragte Babet. „Ein Kerl nicht. Höchftens
ein Bub.’
‚Aber wo nehmen wir einen Buben her?’
„Wartet,“ fagte Montparnaffe, ‚ich febe einen Ausweg.’
Vorſichtig Flinfte er die Tür auf, fpähte in die Straße bin-
aus und lief dann in der Richtung auf die Baftille.
Sieben oder acht Minuten, die Ihenardier wie Sahrtaufende
erfhienen, verftrichen. Babet, Brujon und Gueulemer fanden
verbiffen da. Endlich ging die Tür auf und Montparnaffe er-
ihien atemlos. Er bradte Gavrode. Da es noch immer heftig
regnete, war die Straße menfchenleer.
Der Fleine Gavroche trat unbefangen näher. Das Waſſer
troff ibm aus den Haaren. Gueulemer redete ihn an:
„Dub, bift du ein Mann?’
Gavroche zudte die Achfeln.
„Ein Bub wie ich ift ein Mann, und Männer wie ihr find
Buben.’ |
„Der unge bat feine Furze Zunge”, meinte Babet.
„In Paris find die Kinder nicht auf den Mund gefallen‘,
verfiherte Brujon.
Bas wollt ihr?’ fragte Gavroche.
‚Du folft da an dem Mohr 'rauf“, erklärte Montparnaffe.
Mit 'm Stüf Witwe.”
„Und oben das Seil vertäuen.‘
„Und dann?’ fragte Gavroche.
„Das iſt alles.’
„Willſt du?“ fragte Brujon.
Dem Jungen ſchien die Frage albern. Er zog ſtumm die
Schuhe aus.
Gueulemer packte Gavroche, hob ihn auf das Dach der
Baracke, deren morſche, wurmſtichige Bretter ſich unter dem
538
A a € 8 6
Gewicht des Knaben bogen, und warf ibm den Strid zu, deffen
Enden Brujon inzwifchen verfnotet hatte. In diefem Augen-
blick beugte fi Ihenardier vor und man fab fein fables Gefibt.
Gavroche erfannte ihn.
Hola, bas ift ja Papa, dachte er, na, wenn fchon!
Dann nahm er den Strick zwifchen die Zähne und Életterte
hinauf. |
Bald fa er rittlings auf der Mauer und befeftigte den Strid
am Querbalfen des einen Fenfters.
Einen Augenblick fpäter ftand Ihenardier auf der Straße.
Sobald feine Füße den Boden berührt hatten, fühlte er
weder Müdigkeit noch Angft. Alle Schrecken wichen wie Nebel
von ihm, fein graufamer Serftand erwachte, und feine erfte
Trage war:
„Habt ihr noch für heute was vor?’
Gavroche faß in der Ede und 309 fich feine Schuhe an. Als
er fab, daß die Männer fich nicht mehr um ibn Fümmerten, ging
er. Er verfhwand um die Ede der Rue des Ballets. Jetzt
nahm Babet Thenardier beifeite.
„Haft du dir den Buben angefehen?‘
„Welchen Buben?‘
„Der dir den Strick gebracht bat?
„Sicht näher.”
„Ich weiß nicht, aber ich glaube, e8 war dein Sohn.’
„Wirklich?“
Fünftes Buch
freude und Leid
l. Im Glanz ...
Wie der Leſer geſehen hat, war Eponine, als ſie das Haus
in der Rue Plumet entdeckte, zunächſt nicht darauf verfallen,
die Banditen dahin zu führen; ſie bemühte ſich ſogar, ihr
539
Gebeimnis zu bewahren. Dann hatte fie Marius dahin gebracbt.
Der hatte tagelang das Gitter bewacht und war fehließlich, wie
Momeo in Julias Garten, eingedrungen. Mur hatte er es
leichter gehabt als Romeo, denn diefer mußte eine Mauer über-
fteigen, Marius aber braudte nur eine morſch gewordene
Stange aus dem Gitter zu löfen und fit durchzuzwängen. Er
war fhlanf. Da die Straße, wie wir bereits fagten, wenig be-
gangen war, lief Marius faum Gefahr, bei feinen nächtlichen
Befuhen bemerkt zu werden.
Seit jener feligen Stunde, da ein Kuß das Derlöbnis der
beiden jungen Leute befiegelt hatte, Éam Marius jeden Abend.
Wenn Eofette damals einem gewiflenlofen Lüftling verfallen
wäre, wäre fie verloren gewefen. E8 gibt unter den Frauen
großmütige Herzen, die fih verfchwenden, und Coſette zählte
zu ihnen.
Aber Gott wollte, daß diefe Liebe Coſette nicht verderben,
fondern retten follte.
Solange der Mai diefes Jahres 1832 dauerte, faßen die
beiden allnädhtlich in dem wilden Garten, in ihrer feufchen Un-
Ihuld, trunfen von allen Freuden des Himmels, eher Erzengeln
gleich als Menfchen, rein und ftrahlend. Sie fahen einander an,
hielten einander an der Hand, drücten fi) aneinander — aber
fie mieden die Gefahr, die fie felbft nicht fannten. Für Marius
war Cofettes Reinheit eine Schranfe, Eofette fühlte fi fiber
unter Marius’ Schuß. Der erfte Kuß war auch der lehte ge-
wefen. Kaum daß Marius jest ihre Hand, ihren Schal oder
eine ihrer oden an feinen Mund zu drücen wagte. Cofette war
für ihn ein Duft und nidt eine Frau. Er atmete fie ein. Sie
verfagte ihm nichts, und er verlangte nichte.
Mas fie miteinander fprahen? Jene arglofen Nichtigkeiten,
die nur ein fohlechter und törichter Menfh nie gehört und nie
gefagt hat.
„Weißt bu auch, ich heiße Euphrafie”, fagte Cofette.
„Eupbrafie? Aber nein, du heißt doch Coſette.“
„Gar nicht, Cofette ift ein ganz gewöhnliher Name, den
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man mir als Kind gegeben bat. In Wirflichfeit heiße id
Euphrafie. Gefällt dir bas nicht?”
„Doch, aber Eofette ift gar nicht fo gewöhnlich.”
„Alſo gefält dir Eofette beffer als Euphraſie?“
„Doch.“
„Dann will ich auch lieber ſo heißen. Wirklich, Coſette iſt
recht hübſch. Nenne mich Coſette.“
Und das Lächeln, das dieſer Aufforderung folgte, machte die—
ſes Geſpräch zu einer Idylle im Himmel.
Ein andermal ſagte Marius:
„Stell' dir vor, ich glaubte lange Zeit, daß du Urſule heißt.“
Darüber lachten ſie einen Abend lang.
2. Schatten
Jean Valjean ahnte nichts.
Coſette war nicht ganz ſo träumeriſch veranlagt wie Marius.
Oft war ſie heiter, und das genügte, um Jean Valjean glück—
lich zu machen. Ihre Gedanken, ihre zärtlichen Regungen, das
Bild Marius', das ihre Seele erfüllte, alles dies konnte der
unvergleichlichen Reinheit ihrer ſchönen, keuſchen, lächelnden
Stirn keinen Abbruch tun. Und Jean Valjean war ruhig.
Wenn zwei Liebende gut miteinander ausfommen, fo geht
alles glatt. Auch der dritte, der ihr Glück ſtören könnte, wird
leicht mit Hilfe dieſer Vorſichtsmaßregeln, die alle Verliebten
kennen, in Ruhe gehalten. Niemals widerſetzte ſich Coſette einem
Wunſch Jean Valjeans.
Er wollte ſpazierengehen.
„Gewiß doch, Väterchen.“
Nein, er wollte doch lieber zu Hauſe bleiben.
„Sehr gern.“
Er wollte einen Abend bei Coſette verbringen.
Sie war entzückt.
Da er ja doch um zehn Uhr abends ging, kam Marius an
541
folen agen erft fpäter, fobald er hörte, daß die Tür zu der
Sreitreppe geöffnet wurde.
Am Tag lieh fit Marius nie fehen. Jean Valjean dachte
nie mehr daran, daß es einen Marius gab. Und die alte Touf-
faint, die früh zu Bett ging, hatte einen feften Schlaf.
Um Mitternacht Éebrte dann Marius nad Haufe surüd.
Courfeyrac fagte zu Bahorel:
„Wirſt du es mir glauben, Marius fommt jeßt immer gegen
ein Uhr morgens nach Haufe.”
„Was willft du denn?’ antwortete Bahorel, „in jedem
Seminariften ſteckt ein Fuchs.“
Einmal fab Courfeyrac Marius ftreng an und fagte:
„Site führen einen unordentlihen Wandel, junger Mann!’
Denn Eourfeyrac war ein praftifcher Menfh und hatte für
bas unfihtbare Paradies Marius’ Fein Verftändnis.
‚Mein Lieber,‘ fagte er eines Morgens, „es kommt mir ganz
fo vor, als ob du jest am Monde wobnteft im Königreich
Zraumland, Provinz Illuſionien, Hauptftadt Seifenblafe. Sag’
mal, mein unge, wie heißt fie denn?’
Aber er Fonnte Marius nicht zum Sprechen bringen.
MWährend diefes füßen Maimonats genoffen Marius und Co-
fette allerlei Glück. Sie sanften miteinander und fagten Sie,
nur um fich fpäter auf Du zu verftändigen.
Sie führten lange Gefpräde über Leute, die ihnen vollfom-
men gleichgültig waren. Und das mag ein neuerlicher Beweis
dafür fein, daß au bei der entzücfenden Oper, die fit Liebe
nennt, dag Libretto Feine Rolle fpielt.
Marius hörte zu, wenn Cofette von Kleiderftoffen ſprach.
Eofette lauſchte Marius, wenn er politifhe Anfichten ent-
wicfelte.
Ober fie fehwiegen, und das war am füßeften.
Und doch drohten Wirrungen.
Eines Abends fpazierte Marius über den ‘Boulevard des
Snvalides, um fi zu feinem Stelldihein zu begeben. Wie
542
gewöhnlich, ging er gebückt. Als er an die Ede der Rue Plumet
fam, hörte er fagen:
„Guten Abend, Herr Marius!‘
Er blifte auf und erfannte Eponine.
Die Begegnung wirfte fonderbar auf ihn. Er hatte feit dem
Tage, da fie ihn nach der Aue Plumet geführt, nicht mehr an fie
gedacht. Gewiß hatte er nur Anlaß, ihr dankbar zu fein, aber
troßdem war e8 ihm unangenehm, ihr zu begegnen.
„Ach Sie find es, Eponine!“
‚Barum fagen Sie ‚Sie‘ zu mir. Habe ih Ihnen etwas
Böſes getan?”
„Nein.“
Gewiß, er hatte nichts gegen ſie. Ganz und gar nicht. Nur
wollte er ſie nicht mehr duzen, ſeit er zu Coſette „du“ ſagte.
Da er ſchwieg, rief ſie:
„Sagen Sie bob ...“
Dann ſtockte ſie. Es war, als ob dieſem ſonſt ſo tapferen, ja
ſogar frechen Geſchöpf Worte fehlten. Eponine wollte lächeln,
aber ſie konnte nicht.
„Nun?“
Wieder blickte ſie zu Boden.
„Guten Abend, Herr Marius“, ſagte ſie endlich und ging.
3. Der Hund bewacht den Garten
Wir müſſen jetzt, da ernſte Ereigniſſe bevorſtehen, und ſchwere
Wolken ſich über dem Horizont von Paris zuſammenziehen, ge—
nauere Daten angeben.
Am nächſten Tag, dem 3. Juni 1832, ging Marius bei ein—
brechender Nacht ſeinen gewohnten Weg. Wieder begegnete er
auf dem Boulevard Eponine.
An zwei aufeinanderfolgenden Tagen? Das war zuviel.
Er wandte ſich ab und erreichte durch die Rue Monſieur die
Rue Plumet.
543
Die Folge war, daß Eponine ibm nachging, was fie bisher
nod nie getan hatte. Smmer hatte fie ſich begnügt, ihn zu fehen,
hatte fogar darauf verzichtet, ihn anzureden. Mur geftern hatte
fie das Wort an ihn gerichtet. |
Sie fab, wie er die Gitterftange herausnahm und in ben
Garten flic.
Hola, date fie, er geht in bas Haus.
Aud fie eilte zu dem Gitter, betaftete die Stangen und fand
leicht jene, die Marius gelocert hatte.
nStebengeblieben, Liſette!“ murmelte fie traurig.
Sie feste ſich auf den Gitterfodel, als ob fie das Haus be-
wahe. Der Winfel war dunfel, Eponine verfchwand voll-
fommen.
So faß fie etwa eine Stunde, ohne fih zu rühren, ja faft
ohne zu atmen und fann.
Gegen zehn Uhr abends Fam einer der zwei oder drei Leute,
die genötigt find, die Rue Plumer zu durchqueren, ein alter
Bürger, baftig an biefer übelbeleumundeten Stelle vorbei.
Plöslich hörte er eine dumpfe Stimme murmeln:
„Jetzt ſtaune ich micht mehr, daß er alle Abend diefen
Meg geht."
Der Paſſant blickte um fib, fab aber niemand und wurde
furchtſam. Raſch ging er weiter.
Es war Elug von ibm, fi zu beeilen, denn gleih nachher
famen fehs Männer, einzelmeife des Wegs. Vor dem Haufe
Sean Valjeans blieb der erfte ftehen und wartefe auf die
andern.
„Hier ift es“, flüfterte einer.
„Iſt ein Hund im Garten?‘
„Ich weiß nicht. jedenfalls babe ich eine Boulette mit-
gebracht, die wir ibm anbieten können.“
„Haft du Kitt, damit wir bas Fenfter eindrücen können?“
„Ja.“
„Das Gitter iſt alt”, ſagte einer mit einer Bauchredner—
ſtimme.
544
„Um fo beffer. Es wird nicht fehreien, wem man es
durchſägt.“
Der ſechſte hatte bis jetzt den Mund noch nicht aufgetan. Er
prüfte das Gitter, rüttelte an allen Stäben und gelangte
ſchließlich zu jener Stange, die Marius gelockert hatte. In
dieſem Augenblick griff eine Hand aus dem Dunkel nach ſeinem
Arm, und eine Stimme ſagte heiſer:
„Vorſicht, Hund!“
Der Mann ſah ein blaſſes Mädchen vor ſich ſtehen.
Er fuhr zurück.
„Wer iſt denn das?“ ſtotterte er.
„Deine Tochter.“
Es war Eponine, die mit Thénardier ſprach.
Sest Éamen auch Claquefous, Gueulemer, Babet, Mont-
parnaffe und Brujon leife näher. Jeder hatte irgendein Gerät
in der Hand.
„Bas fol denn das bedeuten? Was haft du denn hier zu
fuchen? Bift du verrüct?‘ fuhr Ihenardier feine Tochter fo
laut an als man flüftern fonnte. „Warum ftörft du uns bei
der Arbeit?’
Eponine lachte und legte ibm den Arm um den Hals.
„Ich bin da, weil id da bin, Papaden. Darf ich vielleicht
nicht auf einem Stein fißen? Ihr ſolltet nicht hier fein, denn
ich babe euch doch gefagt, das ift Zwiebaf! Magnon bat es euch
beftellt. Aber Fü” mich bob, Papachen, wir haben uns ja fo
lange nicht gefehen! Du bift alfo heraußen?“
Thénarbdier ſuchte fit aus ihren Armen zu befreien und
. murmelte:
„But, gefüßt haft bu mich ja fon. Ja, ich bin heraußen.
Jetzt pad” did fort.‘
Aber Eponine wurde zärtlicher.
„Wie bift du denn nur losgekommen?“ fragte fie, „du mußt
ja ordentlich fhlau fein, daß bu da ausgerüdt bift. Und die
Mutter? Wo ift denn Mama? Erzähl’ mir, wie es Mama geht.
„But. Ich weiß nicht. Laß mich in Ruhe und fher” dich fort.“
35 Hugo, Die Elenden. 545
„Ich will aber jeßt nicht geben‘, fhmollte Eponine wie ein
verzogenes Kind. „Du ſchickſt mich fort, jeßt, wo ich dich nad)
vier Monaten wiederfehe und nad Herzensluft Eüffen kann!’
Mieder fiel fie ihm um den Hals.
„Das ift mir denn doch zu blöd!“ Ichimpfte Babet.
„Macht raſch!“ verlangte Gueulemer, „die Polente kann
gleich vorüberfommen!”
Eponine wandte fih um.
„Ad, Herr Brujon! Und auch Sie Herr Babet! Guten Tag,
Herr Claquefous! Erkennen Sie mi denn nit mehr, Herr
Gueulemer? Wie geht's, Montparnaffe?”
n Do, fie erkennen dich,” fagte Ihenardier, „aber jeßt guten
Abend, fort mit dir! Laß uns in Ruhe.”
„Das ift eine Stunde für die Füchfe, nicht für die Hühner”,
fagte Montparnaffe.
„Du fiehft doc, daß wir hier ein Ding drehen wollen!’
Eponine griff nah Montparnaffes Hand.
„Vorſicht, du wirft dich ſchneiden,“ fagte er, „ich halte ein
offenes Meſſer.“
„Mein lieber, Eleiner Montparnaffe, fagte Eponine fanft,
„iwgendeinem muß man fohließlid auch trauen. Ich bin doch die
Tochter meines Vaters. Sie haben mich beauftragt, dieſe Sade
auszuforfhen, Herr Gueulemer.“
Eponine fheute den Argotausdrud. Seit fie Marius Fannte,
mied fie die Sprache der Verbrecherwelt.
Sie drüdte Gueulemers Hand. |
„Sie wiflfen, daß id nicht dumm bin. Sonft hat man mir
immer geglaubt. Sch babe Ihnen manchen Dienft erwiefen. Hier
im Haufe weiß ih Beſcheid, Sie bringen fi nur unnüß in Ge-
fahr. Nichts zu holen.‘
„Es find nur Weiber drin!
‚Stein, die Leute find ausgezogen.‘
„Aber die Kerzen haben fie brennen laſſen“, antwortete
Babet und deutete auf ein Licht in der Manfarde. Touffaint
war noch nicht zu Dett gegangen.
546
„Das find die neuen, ganz arme Leute. Keinen Sous
im Haug.‘
Geh zum Teufel!” fagte Ihenardier. „Wenn wir das Haus
durchgefucht haben, vom Keller bis zum Boden, werden wir dir
jagen, ob e8 was darin gegeben bat oder nicht.‘
Er ftieß fie zur Seite.
„Herr Montparnaſſe!“ rief Eponine, „ich bitte Sie, feien
Sie nett, gehen Sie nicht dahinein.“
„Jetzt her” dich zum Teufel, Bieſt!“ ſchrie Thenardier, „wir
Männer haben hier zu tun.’
Eponine gab Montyarnaffes Hand frei und fagte:
„Ihr wollt alfo unbedingt in biefes Haus?‘
„Ein wenig‘, antwortete der Bauchredner höhniſch.
Test lehnte fie fih an das Gitter, fab den fes bis an die
Zähne bewaffneten Banditen, die in der Finfternis wie Teufel
ausfahen, ruhig ins Gefiht und fagte leife aber feft:
„Gut, und ich will, daß ihr nicht hineingeht.“
Alle blieben erftaunt fteben. Nur der Bauchredner lachte noch.
„Freunde,“ fagte fie wieder, „ich Tpreche jeßt. Wenn ihr aber
an dieſes Gitter Fommt und in den Garten geht, dann werde id)
fhreien, an alle Türen fehlagen, die ganze Stadt aufwecken und
euch alle fes den Doliziften ausliefern.“
„Das trau’ ich ihr zu‘, Flüfterte Thenardier Brujon zu.
„And meinen Vater zuallererſt!“ Tbénardier ging auf
fie los.
„Sicht fo nahe, guter Mann!’
„Bas bat fie denn nur, diefe verfluchte Hündin’, fagte er,
trat aber zurück.
Sie late höhniſch.
„Die du fiehft, Eommft du doch nicht dahinein. Ich bin Feine
Hündin, denn ich bin die Tochter eines Wolfes. hr feid feche,
aber daran liegt mir nichts. hr feid Männer, ich bin eine
Frau. Vor euch fürchte ich mich noch lange nicht. Ich fage eucb,
daß ihr hier nicht hereinfommt, weil ich es nicht will. Geht ihr
näher heran, fo belle ih. Der Hund, fage ich euch, bin ih. Um
4 547
euch kümmere ih mich nicht. Geht wohin ihr wollt, aber nicht
bierber. hr ſtoßt mit dem Mefler zu, ih mit dem Fuß!
Kommt doch!’
Jetzt verlegte fih Ihenardier aufs Verhandeln.
„Sprich doch nicht fo laut”, fagte er. „Du willft mi doch
nicht wirflid an der Arbeit hindern. Don etwas müfflen wir
doch eben. Fühlft du denn gar nichts für deinen Vater?“
„Du baltft mid) wohl für blöd!‘
„Wir müffen doch was zu effen haben.’
„Verreckt!“
Die ſechs Männer zogen ſich in den Schatten zurück und be—
rieten. Das Mädchen beobachtete ſie ruhig.
„Es iſt etwas mit ihr los,“ ſagte Babet, „ſie hat etwas. Iſt
ſie verliebt? Es wäre ſchade, wenn uns dieſe Sache zu Eſſig
würde. Zwei Weiber und ein alter Mann im Hinterhof, und
fabelhafte Gardinen! Der Alte ſcheint ein Jud' zu ſein. Sicher
ein gutes Geſchäft.“
„Gut, dann geht ihr hinein, ich bleib bei dem Mädel, und
wenn fie ſich rührt ...“
Das Meſſer blinkte in Montparnaſſes Hand.
Thénardier ſagte fein Wort, ſchien aber einverſtanden.
Brujon galt ein wenig für das Orakel der Bande. Er hatte
ſich noch nicht geäußert. Man wußte, daß er vor nichts zurück—
ſchreckte, und einmal hatte er aus purer Ruhmſucht einen
Polizeipoſten ausgenommen. Übrigens dichtete er und erfreute
ſich darum großen Anſehens.
„Was hältſt du davon?“ fragte Babet.
Brujon ſchüttelte den Kopf und ſagte endlich:
„Heute morgen fab id zwei Spatzen, die rauften. Abends
begegnete ich einem Écifenden Frauenzimmer. Schlehte Zeichen!
Sabren wir ab.’
Und fie gingen.
‚Wenn ihr wolltet, ich hätte dem Mädel den Hals um-
gedreht”, murrte Montparnaffe.
„Ich rühre Feine Dame an’, fagte Babet.
548
4. Marius beginnt praftifh zu werden,
indem er Cofette feine Adreffe gibt
Während „der Hund‘! das Gitter bewachte, war Marius
bei Eofette.
Mie war der Stern am Himmel glängender, nie haften die
Blumen füßer geduftet. Marius war zärtlid und tief beglüdt.
Aber Eofette fhien ihm traurig. Sie hatte geweint. Ihre
Augen waren gerötet.
Das war der erfte Schatten, der auf fein Glüd fiel.
„Bas haft du denn?”
„Ich werde es dir gleich jagen.” Dann feßte fie fid auf die
Bank, wartete, bis er neben ihr Plak genommen hatte, und
fuhr fort:
„Mein Bater bat mir heute morgen gefagt, ich folle mid für
eine Meife bereit halten. Er bat Gefhäfte zu erledigen, wir
müffen vielleicht verreifen.”’
Marius zitterte von Kopf bis zu den Füßen.
Wenn einer am Ende feines Lebens ift, heißt Sterben für ihn
Sortgeben. Steht er aber am Anfang, fo bedeutet Fortgehen
Sterben.
Marius erwachte aus einem Traum. Seit febs Wochen hatte
er gewiffermaßen außerhalb des Lebens gelebt. Das Wort „Ab—
reifen‘ brachte ihn zur Sefinnung.
Er fand fein Wort. Eofette fühlte nur, daß feine Hand
falt wurde. \
„Bas haft du?’ fragte fie.
„Ich verftebe nicht, was du gefagt haft.‘
„Heute morgen bat mein Dater mir gefagf, ich folle meine
Saden paden, und er bat mir auch feine Wäſche gegeben, da-
mit ich fie in den Koffer lege. Er muß eine Reiſe maden, und
es foll ein großer Koffer für mich, ein Eleiner für ihn beforgt
werden. Wir gehen vielleicht nah England.’
„Aber bas ift ja unmöglich!” rief Marius.
In diefem Augenblid jhien Marius Fein Mibbraud der
549
Gewalt, Feine Graufambeit, feine Deftialität eines ITyrannen,
keine Miffetat eines Bufiris, Tiberius oder Heinrib VIII.
diefer gleih: Herr Fauchelevent bradte feine Tochter nad) Eng-
land, weil er dort zu fun hatte.
„Und wann wirft du reifen?’ fragte er mit fhivacher
Stimme.
„Er bat mir nicht genau gejagt, wann.”
„Mnd wann Éommft du zurück?‘
„Auch bas weiß ich nicht.‘
Marius ftand auf.
„Sofette, Sie reifen alfo auch?“
„Barum fagft du nicht du zu mir?’
„Ich frage, ob Sie aud reifen?‘
„Ja, aber was foll id denn tun?’
Cofette nahm Marius’ Hand und drückte fie heftig.
„Gut, fagte Marius, ‚dann gehe ich anderswohin.“
Eofette fühlte ben Sinn diefer Worte mehr als fie ihn ver-
ftand. Sie wurde fo blaß, daß fie felbft in der Dunkelheit weiß
erſchien.
„Was meinſt du damit?“ fragte ſie.
Marius ſah ſie an, blickte zum Himmel auf und antwortete:
„Nichts.“
Als er den Blick wieder ſenkte, ſah er, daß Coſette lächelte.
„Ach, wie dumm wir ſind! Ich habe eine Idee, Marius.“
„Was?“
„Reiſe du auch dahin! Ich werde dir ſchon ſagen, wo
wir ſind.“
Marius war erwacht, die Wirklichkeit ſtand wieder klar
vor ihm.
„Ich ſoll auch reiſen? Biſt du verrückt? Dazu braucht man
Geld, und ich habe keines. Ich ſoll nach England reiſen? Ich
ſchulde Courfeyrac jetzt ſchon zehn Louis. Ich trage einen alten
Hut, der keine drei Franken wert iſt, mein Rock hat keine
Knöpfe, das Hemd iſt zerriſſen, die Ärmel find durchgeſcheuert;
meine Schuhe laſſen Waſſer durch. Seit ſechs Wochen denke ich
550
nicht daran, und ich babe auch dir nichts davon gefagt. Es geht
mir febr fchlecht, Eofette, und du liebft mich, weil du mich nur
bei Nacht fiebft. Wenn du mir bei Tag begegnen würdeft, ich
glaube, bu würdeft mir einen Sou fhenfen. Sch fol nach Eng-
fanb reifen? Nicht einmal den Paß kann ich bezahlen.”
So fafen fie lange. Erft als er Cofette ſchluchzen hörte,
wandte er fih um.
„Liebſt du mich?’ fragte er.
„Ich bete did an.”
„Beine nicht”, fuhr er fort. „Willſt du um meinetwillen
aufhören zu weinen?”
„Liebſt du mich denn?”
„Sofette, ich babe niemals einem Menfhen mein Ebrenwort
gegeben, denn ich ſcheue mich davor. Sch fühle, daß mein Water
neben mir fteht. est aber gebe ich dir mein heiligftes Ehren-
wort, daß ich fterbe, wenn du fortgehſt.“
Eofette hörte auf zu weinen. Sie erfchauerte vor der Kälte
einer Wahrheit, die fie begriff.
„Höre alfo: warte morgen nicht auf mid.”
Barum?’
„Erft übermorgen.’
‚Aber warum denn?’
‚Du wirft feben. Wir müffen einen Tag opfern, um vielleicht
alles zu gewinnen.” Leife fuhr er fort: „Er weicht nie von feinen
Gewohnheiten ab. Er empfängt nur abends.’
‚Bon wen fpribft du?’ fragte Eofette.
„Ich? Ich babe nichts gejagt.‘
„Hoffſt du?‘
arte bis übermorgen.‘
Sie nahm feinen Kopf in ihre Hände, erhob fih auf die Fuß—
fpißen und wollte in feinen Augen die Hoffnung lefen.
„Übrigens, fuhr Marius fort, „du mußt meine Adreſſe
wiflen, es fann ja allerlei eintreten. Ich wohne bei meinem
Freunde Courfeyrac, Nue de In Verrerie No. 19.”
951
Er griff in feine Taſche, 309 ein Taſchenmeſſer beraus und
fhrieb mit der Klinge auf die Mauer:
„16, Rue de la Verrerie.
Als er ging, war die Straße menfchenleer. Eponine war den
Banditen bis zum Boulevard nachgegangen.
5. Einaltes und ein junges Herz
Vater Gillenormand zählte Damals gefchlagene einundneungig
Vabre. Mob immer wohnte er mit Fräulein Gillenormand in
der Mue des Silles-bu-Calvaire Mo. 6, in feinem Haufe. Er
war, wie unfer Leſer fih erinnert, einer von jenen Greifen, die
den Tod aufrecht erwarten und die das Alter nicht zu beugen
vermag.
Eines Abends, eg war am 4. uni, was nicht verhinderte,
daß Vater Gillenormand tüchtig im Kamin hatte einlegen laffen,
fhicte er feine Tochter in bas Mebenzimmer, in dem fie fib mit
ihrer Näharbeit befhäftigte. Er ſaß allein in dem Salon mit
den Hirtenfzenen, hatte die Füße auf den Raminvorfas geftüßt
und hielt, ohne zu lefen, ein Sud in Händen.
Er war nad alter Mode als Incroyable gekleidet und fab
aus wie ein altes Bild von Garat. Hätte er fih fo auf der
Straße gezeigt, wären ihm die Kinder nachgelaufen. Seine
Tochter veranlaßte ibn aber, einen Überrodf zu tragen, der län-
ger war als ein Bifhofsgewand und feine Kleider verbarg. Zu
Haufe jebod weigerte er fih, einen Schlafrock anzuziehen.
„Man fieht fo alt darin aus, fagte er.
Während er nadhfann, trat fein alter Diener, Baske genannt,
ein und meldete:
„Wünſchen der Herr Herrn Marius zu empfangen?‘
Der Greis fuhr auf und erblaßte. AU fein Blut firömte zum
Herzen.
„Was für ein Herr Marius?‘ ftotterte er.
„Ich weiß es nicht,” erwiderte der Vasfe verfhüchtert, „ich
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babe ihn nicht gefeben. Nicolette bat mir gefagt, es fei ein
junger Mann, und ich follte ibn als Herren Marius melden.”
„Laß ihn eintreten.”
Er blieb in der gleichen Haltung fisen, ftarrte nur nad) der
Zür. Sie ging auf, und ein junger Mann trat ein. Es war
Marius.
Er blieb an der Tür, als ob er eine Aufforderung, näher zu
treten, erwarte.
Seine faft elende Kleidung Fonnte man in der Dunkelheit —
er ftand im Schatten des Lampenlihts — nicht erfennen. Nur
fein Fluges, ernftes, feltfam trauriges Gefiht war fihtbar.
Er war es! Endlih, nad vier fahren, Fam er. Mit einem
einzigen Blick fuchte Gillenormand ihn zu überfhauen. Er fand
ihn fchön, vornebm, von edler Haltung. Er hatte Luft, die Arme
zu öffnen, ihn zu rufen, Worte der Liebe fliegen auf aus feiner
Bruft und traten auf die Lippen. Aber nah dem Gefes, das
diefe feltfame Natur beftimmte, verwandelten fie fih in raube
Mede.
„Bas wollen Sie hier?’ fragte er.
Verlegen antwortete Marius:
PR 3
Gillenormand hatte gehofft, daß Marius fih in feine Arme
ftürzen werde. Jetzt war er mit Marius und fich felbft unzufrie-
den. Er fühlte, daß er grob und Marius Éalt war. Qualvoll
empfand er den Widerftreit zwifchen feinem mweichgeftimmten
Innern und feiner äußerlihen Maubeit. Wieder wurde er bitter.
Bas wollen Sie alfo?”
Diefes alfo bedeutete: wenn du mich fhon nit umarmen
willft. Aber Marius fab nur feinen Großvater, deffen Geficht
marmorweiß war.
Herr
„Sie kommen wohl, um mich um Verzeihung zu bitten?
Haben Sie begriffen, wie unrecht Sie hatten?“
Er hoffte, der Junge würde darauf eingehen. Aber Marius
533
erfhauerte. Er glaubte, man verlange von ibm einen Verrat an
feinem Dater.
„Nein, mein Herr.”
„Ja was wollen Sie denn dann?“ rief der Alte wütend.
Marius trat einen Schritt näher und fagte jekt mit ſchwa—
cher, zitternder Stimme:
„Mein Herr, haben Sie Mitleid mit mir!’
Diefes Wort rührte Gillenormand. Aber es Fam zu fpüt.
Der Alte ftand auf, ftügte fi) mit beiden Händen auf feinen
Stock und fab Marius an, der gebeugt vor ihm ftand.
„Mitleid mit Ihnen, Herr? Ein junger Burſche bittet einen
einundneunzigjährigen Greis um Mitleid? Sie ftehen am An—
fang des Lebens, ih am Ende! Sie gehen ins Theater, auf den
Ball, ins Café, zum Billard, Sie haben Wis, gefallen den
Srauen, find bübfh; ich fige mitten im Sommer am Ramin.
Sie find rei, denn Sie befisen alles, was man braucht, um
glücklich zu fein, id aber bin arm wie bas Alter, gebredblid und
einfom. Sie haben zweiunddreißig Zähne, einen gefunden
Magen, lebhafte Augen, Kraft, Hunger, einen Wald von
Ihwarzen Haaren, ich aber babe nicht einmal mehr weiße Haare,
feine Zähne, meine Deine werden immer fhivächer, und mein
Gedächtnis laßt nah. Es gibt hier in der Nähe drei Straßen,
die ih ununterbrochen verwechfle, die Mue Charlot, die Rue du
Chaume und die Rue Saint-Claude. So fteht’s mit mir. Sie
aber haben eine fonnige Zukunft vor fi, während ich in bie
Macht bineinfhreite. Sie find verliebt, felbfiverftänblih, wäh-
rend mich Fein Menſch mehr feben mag, und Sie verlangen
von mir Mitleid?! Weiß Gott, bas ift eine Situation, die
Molière verfäumt bat. Wenn ihr Advokaten fo vor Gericht
auftretet . .. na, alle Achtung! Zum Laden ift das.”
„Mein Herr," fagte Marius, „ich weiß, daB Ihnen mein
Beſuch unlieb ift, aber ih bin nur gefommen, Sie um etwas
zu bitten, und dann gehe ich fofort wieder.’
„Sie find ein Schafskopf!“ fehrie der Greis, „wer fagt denn,
daß Sie geben follen?”
774
Gillenormand begriff, daß der raube Empfang Marius ver.
fbübtert hatte. Da e8 aber feine Art war, Kummer immer f0-
fort in Zorn umzufeßen, flieg feine Härte nur. Marius begriff
ihn nicht, und dag madıte ihn wütend.
„Sie haben mi, Ihren Großvater, gering geihäßt, haben
mein Haus verlaffen, um, weiß der Teufel, wohin zu laufen,
Sie wollten, das begreift man ja, bequemer außer Haus leben,
fi) amüfieren! Kein Lebenszeichen haben Sie ung gegeben!
Schulden haben Sie gemadt, ohne mir zu fagen, daß ich fie
bezahlen foll, haben fit wie ein Wildling benommen, und jekt,
nach vier jahren, kommen Sie hierher und haben nichts weiter
zu ſagen?“
Diefer energifhe Verſuch, feinen Enfel zärtlicher zu ftimmen,
bradte Morius nur zum Schweigen. Gillenormand kreuzte Die
Arme. Diefe Gebärde bedeutete bei ihm einen Entiblus.
„Kommen wir zum Schluß,” fagte er bitter, „Sie wollen
etwas von mir. Was ift eg?’
Mein Herr, fagte Marius mit dem Gefühl eines Mannes,
der in einen Abgrund ftürzt, „ih will Sie um die Erlaubnis
bitten, zu heiraten!‘
Gillenormand fhellte. Baske erfhien in der Tür.
‚Rufen Sie meine Tochter.‘
Gleich darauf ging die Tür auf, und Fräulein Gillenormand
erfhien. Marius ftanb da, ftumm und mit herabhängenden
Armen, wie ein Verbrecher, der überführt worden ift. Gille-
normand ging in dem Zimmer auf und ab. Endlich wandte er
fih zu feiner Tochter:
„Es ift weiter nichts, nur Herr Marius. Du Fannft ihm
guten Tag fagen. Der Herr wünfcht zu heiraten. So, bas ift
alles. Sekt Fannft du wieder gehen.”
Diefe raube Sprechweiſe bewies, daß der Greis fehr erregt
war. Die Tante fab Marius beftürzt an, fbien ihn Faum zu er-
fennen, fagte Fein Wort und verfhwand auf den ‘Befehl ihres
Daters wie ein Strohhalm vor einem Orfan. Gillenormand
hatte fi) an den Kamin gelebnt.
555
„Alſo heiraten wollen Sie? Mit einundzwanzig Sahren! Sie
haben alles arrangiert, braucen nur noch meine Erlaubnis ein-
gubolen. Eine Fleine Formalität... Setzen Sie fih, Herr.
Alfo, Sie wollen heiraten? Und wen, wenn man vorher fragen
darf? Haben Sie einen Beruf? Vermögen? Wieviel verdienen
Sie als Advokat?“
„Nichts“, fagte Marius mit faft wilder Entfchloffenheit.
„Nichts? Dann haben Sie alfo nur die smôlfbundert Fran—
fen jährlich, die ich Ihnen gebe.’
Marius antwortete nicht.
„Ah, demnach ift wohl das Mädchen reich?‘
„So reich wie ich.”
„Keine Mitgift?
„Nein.“
„Ausſichten?“
„Ich glaube kaum.“
„Ohne nichts! Und was iſt der Vater?“
„Das weiß ich nicht.“
„Und wie heißt ſie?“
„Fräulein Fauchelevent.“
„Fauche — was?“
„Fauchelevent.“
„uff!“
„Herr“, ſchrie Marius.
„Soſo,“ fuhr Gillenormand fort, „einundzwanzig Jahre alt,
ohne Beruf, zwölfhundert Franken Einkommen! Die Frau Ba—
ronin Pontmercy wird ſelbſt zur Grünzeughändlerin geben, um
für zwei Sous Peterſilie zu holen.“
„Mein Herr,“ flehte Marius, der ſich an ſeine letzte Hoff—
nung klammerte, „ich bitte und beſchwöre Sie, erlauben Sie
mir, das Mädchen zu heiraten.“
Der Alte begann zu lachen.
„Soſo, Sie haben ſich wohl gedacht: zu blöd, jetzt muß ich zu
dieſem alten Trottel, zu dieſer lächerlichen Schabracke da laufen!
Schade, daß ich nicht fünfundzwanzig Jahre alt bin! Na, ich
556
werde ibm jagen: Alter Idiot, du bift ja todfroh, mich zu feben,
id babe Luft zu heiraten, ich möchte ein Fräulein Soundfo hei-
raten, die Tochter des Herrn Weißnichtwie, Schuhe habe id
nicht, ein Hemd aud nicht, aber was ſchadet es, ich ſchmeiße
meine Karriere, meine Zufunft, mein Leben ins Waſſer, lade
mir eine Frau auf den Hals: das will ich, und du haft ja und
amen zu fagen! Ma, und das alte Foffil wird eben ja jagen,
haben Sie fi) gedacht. Va, mein unge, von mir aus ja, fue
was du willft, wird er fagen, der alte Trottel, heirate deine
Pouffelevent, deine Coupelevent ... nein, mein Herr, niemals!
Nie!“
„Vater
„Niemals!“
An dem Ton, in dem dieſes Niemals ausgeſprochen wurde,
erkannte Marius, daß er nichts mehr zu hoffen hatte. Langſam
ging er, gebeugt, taumelnd faſt zur Tür. Gillenormand ſah ihm
nach. Als Marius die Tür öffnete, ſprang Gillenormand mit
einem Satz herzu, faßte ihn am Kragen und riß ihn zurück.
Dann drückte er ihn in einen Stuhl und rief:
„Erzähl' mir die Geſchichte!“
Das bloße Wort „Vater“, das Marius entſchlüpft war,
hatte dieſe Wirkung gehabt.
Marius war verblüfft.
„Vorwärts, erzähl' mir die Liebesgeſchichte! Sapriſti, ſind
die jungen Leute heute dumm!“
„Vater ...“, begann Marius wieder.
Der Alte begann zu ſtrahlen.
„Ja, ſag' ‚Water‘ zu mir, dann ift alles beſſer. Du haft alſo
wirklich feinen Sou? Angezogen bift du wie ein Strolch.“
Er 309 eine Lade auf, entnahm ihr eine Börſe und legte fie
auf den Tiſch.
„Da haft du hundert Louis, fauf dir wenigftens einen Hut.’
„Vater,“ fuhr Marius fort, „lieber Vater, wenn Sie wüß-
ten, wie ich fie Tiebel Sie Fünnen fi bas nicht vorftellen! Das
erftemal fab ich fie im Lurembourg. Ich achtete damals kaum auf
557
fie. Dann, id weiß felbft nicht, wie das gefommen ift, verliebte |
ich mib. Ach, id bin fo unglücklich geworden! est ſeh' ich fie
täglih in ihrem Haufe, aber ihr Vater weiß nichts davon.
Stel dir vor, fie wollen verreifen! Ich Éomme immer abends
in den Garten. hr Dater will fie nach England mitnehmen,
ba babe ich gedacht: ich gehe zu meinem Großvater und erzähle |
ihm die Sache. Ich werde fonft verrückt oder fpringe ins Waſſer.
Bevor ich verrüdt werde, muß id fie unbedingt heiraten. Das
ift die reine Wahrheit. Sie wohnt in einem Éleinen Garten-
baus hinter einem Gitter, Rue Plumet. Es ift auf der Seite
des Invalidendoms.“
Vater Gillenormand ſaß vergnügt vor Marius. Er genoß
den Bericht feines Enfels und ergößte fi) dabei an einer Prife
Zabaf. Als er von der Rue Plumet fprechen hörte, ließ er den
Tabak fallen.
‚Rue Plumet! Warte mal, da ift bob auch eine Koferne?
Va, ich erinnere mich fon. Dein Better Iheodule bat mir da-
von erzählt. Der Langenreiter. Ein Mädchen? Jaja, Rue Plu-
met. Sie hieß früher Rue Blomet. Vebt weiß ich alles. Von
der Kleinen hinter dem Gitter babe ich auch gehört. Die reinfte
Pamela! Du haft alfo doc feinen ſchlechten Gefhmad. Sie fol
febr propre fein. Unter uns gefagt, ic) glaube, diefer Aff' von
den Lanzenreitern bat ihr ein wenig die Kur gefchnitten. Aber
ic) weiß nicht, wie weit er dabei gefommen ift. Übrigens egal.
Man braudt ibm ja auch nichts zu glauben. Der quatfht! Ma-
rius, ich finde das durchaus richtig, daß ein Mann in deinem
Alter fi) verliebt. Sch ziehe die Derliebten den Jakobinern
vor. Lieber follft du hinter zwanzig Weibern berlaufen als hinter
einem Mobespierre. Was mich betrifft, fo kann ich aufrichtig
lagen, daB die Weiber die einzigen Sansculotten find, die mir
jemals gefallen haben. Die Hübſchen, verfteht fit. Dagegen ift
nichts einzuwenden. Deine Kleine empfängt dich alfo ohne
Wiſſen des Herrn Papa. Aud bas ift eine bewährte Sache.
Derlei bab’ id auch erlebt. Nicht nur einmal. Weißt du, mas
man da fuf? Man ftelt fihb niht blöd. Man wird nibt
558
tragifh. Man läuft nicht gleich zum Herrn Bürgermeifter mit
der Schärpe. Amüfiert euch, Sterbliche, aber heiratet nicht!
Man geht zu Großpapa, der im Grunde genommen ref guf-
mütig ift und immer nod ein paar Rollen Louisdor in einer
alten Lade bat, man fagt: Großpapa, fo fteht die Sade. Und
Großpapa antwortet: Höchft einfoh! Die Jugend muß voran,
bas Alter weicht aus. Sch war einmal jung, du wirft einmal alt
werden. Du zahlft es dann deinen Enfeln zurüd. Da haft du
zweihundert Piftolen. Amifier” dich, mein Lieber! So muß man
es machen. Man heiratet deswegen nicht gleich, aber daran liegt
es ja nicht. Verftebft du?‘
Marius fhüttelte den Kopf. Er war ſprachlos.
Der Alte lachte, blinzelte und ſagte ſchließlich:
„Dummkopf, nimm fie dir als Mätreffe!”
Marius erblaßte.
Alles das, Rue Blomet, Pamela, Kaferne, Lanzenreiter, war
ihm wie eine Phantasmagorie erfchienen. Das konnte fi nicht
auf Eofette beziehen, die rein war wie eine Tilie. Der Alte
ſchwätzte. Aber als er gefagt hatte, nimm fie dir als Mätreffe,
hatte Marius dag Gefühl, ein Degen durchbohre fein Herz. Er
ftand auf, nahm feinen Hut vom Boden, trat zur Tür und fagte:
„Bor fünf Jahren haben Sie meinen Dater befhimpft.
Heute beſchimpfen Sie meine Frau. fest verlange ich nichts
mehr von Ihnen, mein Herr. Adieu.“
Vater Gillenormand tat den Mund auf, breitete die Arme
aus, verfuchte aufzuftehen. Aber bevor er ein Wort bervor-
brachte, hatte die Türe fich wieder geſchloſſen, Marius war ver-
ſchwunden.
Sechstes Buch
Wobin?
1. Sean Baljean
An demfelben Tage, um vier Uhr nachmittags, ſaß Jean
Valjean einſam auf einer Böſchung des Marsfeldes. Er trug
559
feinen Arbeiteranzug, eine graue Leinwandhoſe und feine Mütze
mit dem Schirm, der das halbe Geficht verdedte.
Mit Cofette war er jeßt glücflich, aber wenn jener Schredfen
von ihm gewichen war, fo hatte ein neuer vor ein oder zwei
Wochen fi) feiner Gedanken bemädtigt. Auf dem Boulevard
hatte er Ihenardier gefehen. Dank feiner Verkleidung war er
von Thénarbier nicht erfannt worden, aber Sean Daljean war
dem Verbrecher inzwifchen mehrmals begegnet und hatte fich die
Gewißheit verfchafft, daß Ihenardier in diefem Stadtviertel
lebte. Das war Grund genug, einen entfcheidenden Entfehluß zu
faffen. Ihenardier: das war die Gefahr fhlehthin. Überdies
war ganz Paris in Unruhe. Die politifhen Wirren waren für
einen Mann, der fich zu verbergen wünfchte, recht unbequem,
denn nur zu leicht Eonnten die Spißel, wenn fie nad einem
Pépin oder Morey Jagd machten, einen Sean Valjean fangen.
Darum hatte er ſich entfhloffen, Paris und Franfreich zu ver-
laffen und nad England zu überfiedeln. Er hatte Cojette davon
gefagt. Binnen adt Tagen wollte er reifen. Jetzt ſaß er auf der
Böſchung des Marsfeldbes und erwog alle Schwierigkeiten, diefe
Reife zu bewerfftelligen und fih einen Paß zu verfchaffen.
Er war von Sorgen bedrüdt.
Ein unerflärliher Vorfall hatte ihn aufgefchrecft. Alg er heute
morgen, noch bevor Cofette ihre Fenfterläden geöffnet hatte, im
Garten fpazierenging, hatte er an der Mauer eine Schrift gefehen:
„16, Rue de la Verrerie.“
Sie war noch ganz frifh. Eine Brenneffel, die an der Wand
wuchs, hatte er weiß beftaubt gefunden. Alfo war diefe Inſchrift
heute nacht an die Mauer gefommen. Eine Adrefle? Eine War-
nung? Auf alle Fälle waren Fremde in den Garten eingedrun-
gen. Er erinnerte fi der feltfamen Vorkommniſſe, die ſchon ein-
mal das Haus beunruhigt hatten. Jedenfalls wollte er nicht mit
Eofette darüber fprechen, denn er befürchtete, fie zu erfchreden.
Während er fo fann, warf die Sonne einen Schatten neben
ihn, jemand ftand auf der Böſchung. Sean Valjean wollte fi
ummenden, als ihm ein vierfad gefaltetes Blatt auf die Knie
560
fiel. Er nahm es, faltete es auseinander und fand mit großen
Buchftaben folgendes Wort aufgefehrieben:
„Umziehen!“ |
Sean Valjean fprang auf. Schon war niemand mehr auf der
Böfhung. Als er fih umſah, bemerkte er einen Burſchen, grö-
Ber als ein Kind, Eleiner als ein Mann, der in einer grauen
Bluſe ſteckte und eine ftaubfarbene Samthofe anbatte. Der unge
ſchwang fich gerade über den Grensgraben des Marsfeldes.
Sehr nachdenklich ging Sean Valjean nad) Haufe.
36 Hugo, Die Elenden. 56]
2. Marius
Verzweifelt hatte Marius Gillenormand verlaffen. Er war
mit wenig Hoffnung dorthin gegangen, aber in voller Yer-
zweiflung kehrte er zurück.
Wie alle, die einen Kummer unterdrüden wollen, begann er
durch die Straßen zu laufen. Später Éonnte er fid nicht mehr
daran erinnern, was er gedacht hatte. Um zwei Uhr morgens
fam er in Courfeuracs Zimmer und warf fi) in Kleidern auf
feine Matrañe. Erft bei Morgengrauen flief er ein. Als er
aufwachte, ftanden Eourfeyrac, Enjolras, Feuilly und Combe—
ferre, eben im Begriff wegzugehen, mit dem Hut auf dem Kopf,
im Zimmer.
„Kommft du mit zum Begräbnis des Generals Lamarque?//
fragte Courfeyrac.
Marius war es, als ob Courfeyrac chineſiſch fprecbe.
Gleich nad den jungen Männern ging aud er meg. Die
beiden Piftolen, die ihm Vavert am dritten Februar gegeben
hatte, ftedte er ein. Sie waren nod immer geladen. Was er
dachte, als er fie einftecfte, läßt fi fchwer fagen.
Den ganzen Tag über irrte er umher. Es regnete manchmal,
aber er merfte nichts. Dei einem Bäder Faufte er ein Stüd
Brot, ftedte es in die Tafıhe und vergaß es. Mur einen einzigen
flaren Gedanken hatte er: daß er um neun zu Coſette gehen
müfle. In diefem lebten Glück beftand feine Zukunft. Dann
fom die Finfternis. Zumeilen hörte er, während er in den ent-
legenen Außenboulevards fpazierenging, von der Stadt herüber
ein feltfames Getöfe.
„Ich glaube, man kämpft“, dachte er.
Um neun Ubr erfohien er in der Rue Plumet. Als er ſich dem
Gitter näherte, vergaß er alles. Er hatte fie feit achtundvierzig
Stunden nicht gejehen, der Gedanke, ihr jet wieder zu begeg-
nen, verdrängte jede andere Empfindung und löfte eine tiefe,
unerbôrte Freude aus.
562
Wie gewöhnlich, Ioderte Marius die Stange im Gitter und
fblid in den Garten. Cofette war nicht an dem Plak, an dem
fie ibn fonft erwartete. Er drang durd das Didiht vor und
gelangte auf die Freitreppe.
„Sie wartet hier‘, fagte er.
Aber fie war nicht da.
Jetzt bliefte er auf und bemerfte, daß die Fenfterläden ver-
ſchloſſen waren. Er ſuchte den ganzen Garten ab, fand ihn aber
leer. Saft von Sinnen, lief er auf das Haus zu und Flopfte auf
die Fenfterfcheiben. est [heute er die Gefahr nicht mehr, daß
ihr Vater berausfäme und ihn fragte, was er hier wolle. Diefe
Gefahr bedeutete nichts gegen jene, die er abnte. Und dann be-
gann er zu rufen:
„Sofette!” fchrie er, „Coſette!“
Niemand antwortete.
Miemand war im arten, niemand im Haus.
Verzweifelt betrachtete er das Gebäude, bas büfter und Ieer
war wie ein Grab. Sein Bli fiel auf die Steinbanf, auf
der er fooft mit Cofette gefeflen hatte. Traurig Fauerte er auf
einer Stufe der Freitreppe nieder. Jetzt blieb ibm nur der Tod.
Pöslich hörte er eine Stimme, die von der Straße zu Éom-
men fien und dur die Bäume berüberdrang:
„Herr Marius!’
Er fprang auf.
„Was gibt's?“
„Herr Marius, ſind Sie da?“
Jo.
„Herr Marius, Ihre Freunde erwarten Sie an der Barri—
Fade der Aue de la Chanvrerie.“
Diefe Stimme war ibm nicht ganz unbefannt. Sie war
heifer und raub wie die Eponines. Marius eilte an dag Gitter,
riß die Iodere Stange heraus und fab jemand, einen jungen
Burfhen, in der Dunkelheit verfehwinden.
a 563
SiebentesBuch
Der 5. Juni 1832
1. Das Begräbnis: Anlaß zur Wiedergeburt
Im Frühjahr 1832 war Paris, obwohl die Cholera feit drei
Monaten alle Zatfraft lähmte, längſt bereit zur Mevolution.
Die Großftadt gleicht einer Kanone: wenn fie geladen ift, genügt
ein Funke, und der Schuß geht los. Im uni 1832 gab der
Tod des Generals Lamarque den Funken.
Lamarque war ein Mann der Tat, und er war populär ge-
wefen. Der Reihe nach hatte er unter dem Kaiferreich und un-
ter der Reſtauration die beiden Arten von Tapferkeit bewiefen,
die biefen Epochen entfprachen, die Tapferfeit auf dem Schlacht—
felde und die auf der Mednertribüne. Er war ein ebenfo zünden—
der Redner wie Fühner Soldat. Man fühlte in feinem Wort
bas erprobte Schwert. Hatte er fih als Kommandant bewährt,
jo wer er auch ein Fühner Freiheitsfämpfer. Er faß zwifchen der
Linfen und der äußerften Linken, war beim Wolfe beliebt, weil
er für die Zukunft eintrat, und der Abgott der Menge, weil er
dem Kaifer gedient hatte. Wie die Grafen Gerard und Drouet,
war er einer der Tieblingsmarfhälle Napoleons geweſen. Den
Vertrag von 1815 empfand er als eine ibm perfünlich angetane
Schmach. Wellington haßte er, und bas machte ihn der Menge
noch lieber. Siebzehn Jahre lang hatte er um Waterloo ge-
trauert. Als er mit dem Iode rang, brüdte er den Degen an
die Druft, den ihm die Offiziere der Hundert Tage gefchenft
hatten. Napoleon war geftorben mit dem Wort „Armee“ auf
den Tippen, Lamarque mit dem Worte „Vaterland“.
Sein Tod, mit dem man bereits gerechnet hatte, wurde vom
Volk als Verluſt befürchtet, von der Regierung als Eritifcher
Augenblid. Die Trauer würde allgemein fein. Wie alle Bitter-
feit, Eonnte fie fich leicht in eine Mevolte verwandeln. Und dies
geſchah.
Am Abend des 4. und am Morgen des 5. Juni, welcher für
564
bas Begräbnis Lamarques beftimmt war, machte die Vorftadt
Saint-Antoine, durch die der Konduft geführt werden follte,
einen beunrubigenden Eindruck. In diefem wirren Straßennek
bereitete fi die Unruhe vor. Man bewaffnete fi, fo gut man
fonnte. Tiſchler fchleppten Schraubftöcfe herbei, um „Türen zu
rammen”. Einer hatte fi aus einem Hafen, deflen Ende er
abbrad und den er gufpibte, einen Dolch gemacht. Ein anderer
fieberte fo barnad, am Angriff teilzunehmen, daß er feit drei
Zagen in den Kleidern fchlief. Ein gewiffer Jacqueline, ein reg-
famer Mann, ftellte fih auf belebten Plätzen auf und redefe die
Arbeiter an, die vorbeifamen.
„Halo, du!“
Er gab ihnen zehn Sous für Wein, pro Mann.
„Haſt du Arbeit?‘
„Nein.“
„Geh zu Filspierre zwiſchen dem Tor von Montreuil und
dem von Charonne, dort bekommſt du Arbeit.“
Bei Filspierre wurden Kugeln und Waffen verteilt.
Bekannte Führer waren immer auf den Beinen, rannten von
einem zum andern, um ihre Getreuen zu ſammeln. Bei Vaté-
lemy und Capel unterhielten fih die Krieger ganz ernfthaft fol-
gendermaßen:
„Wo haſt denn du deine Piſtole?“
„Inter der Blufe. Und du?‘
„Unter dem Hemd.’
Am 5. uni alfo, an einem Tage, der bald Megen, bald
Sonnenfhein bradte, bewegte fi) der Leichenzug des Generals
Lamarque mit offiziellem militärifhem Pomp, der wohl aus
Dorfiht etwas vergrößert worden war, durd Paris. Zwei Ba—
taillone mit verhüllten Trommeln und gefenften Gewehren,
zehntaufend Mationalgarbiften und die Artilleriebatterie der
Nationalgarde folgten dem Sarg. Der Leihenwagen wurde von
jungen Leuten gezogen. Deteranenoffiziere gingen binterher
und trugen Lorbeerzweige. Dann Fam eine unzählige, feltfam
565
wilderregte Menge: Seftionäre der „Freunde des Volkes’, die
Studenten der juriftifhen und medizinifchen Fakultät, politifche
Flüchtlinge aus allen möglichen Ländern, die ihre Mationalfabne
zeigten, Spanier, taliener, Deutfhe, Polen, ſchließlich Kinder
mit grünen Palmzweigen, die Steinmehen und Zimmerleute, die
gerade im Streit waren, die Buchdrucker, erfennbar an ihren
Papiermüsen. Sie alle marfhierten fohreiend und aufgeregt bin-
ter dem Sarge her, ſchwangen Stöde und fogar Säbel, hielten
feinerlei Ordnung. Die Kolonnen begannen Führer zu wählen.
Einer, der ein Paar Piftolen ganz offen trug, fehien eine Heer-
fau feiner Truppe abzuhalten. In den Nebenalleen der Boule-
vards, auf den Balfons, Bäumen, Fenftern und Dächern wim—
melte es von Frauen und Kindern. Alle blidten angfivoll auf
den Zug herab. Eine bewaffnete Menge 309 vorüber, eine ver-
ängftigte fab zu.
Die Regierung bewahrte vorläufig ihre abwartende Haltung,
hielt aber die Hand am Degen. Marfchbereit Éonnte man auf
dem Plat Ludwigs XV. vier Schwadronen Karabiniere feben;
im Quartier Latin und am Jardin des Plantes ftand die Muni-
zipalgarde, an der Salle-aur-Vins eine Schwadron Dragoner,
auf dem Greveplag die Hälfte des zwölften Megiments Leichter
Meiter, die andere Hälfte an der Baftille. Bei den Eöleftinern
ftanden die fehften Dragoner, im Hof des Louvre war die Ar-
tillerie gefammelt. Die übrigen Truppen ftanden in den Kafernen
in Bereitfchaft, die Negimenter nicht zu zählen, die rings um
Paris zufammengezogen waren. Die beunrubigte Staatsgewalt
hielt vierundzwanzigtaufend Soldaten in der Stadt und dreißig-
taufend in der Umgebung bereit.
In dem Leichenzug Freiften die wildeften Gerüchte. Man
fprad von den Intrigen der Legitimiften, von dem Herzog von
Meichftadt, der in diefem Augenblick bereits vom Tode gezeichnet
war und den die Menge für die Kaiferwürde in Betracht 309.
Ein Mann, der unbekannt blieb, verbreitete bas Gerücht, zwei
Merfmeifter, die man gewonnen habe, würden dem Wolf die
Tore einer Waffenfabrik öffnen. Die meiften Leute waren gleich-
566
zeitig begeiftert und niebergeflagen. Man fab in der Menge
aud wahre Verbrechertypen, Leute, die es auf eine Plünderung
abgefehen hatten. Wenn Sümpfe aufgewühlt werden, fteigt der
Kot an die Oberfläche. Eine gefhidte Polizei weiß fich biefes
Phänomen zunuge zu maden.
Der Zug bewegte ſich mit fiebernder Langfamfeit vom Haufe
des Toten über die Boulevards zur DBaftille. Zumeilen regnete
es, aber die Menge achtete nicht darauf. Einige Zwifchenfälle
wurden bemerft. Der Sarg wurde um die Bendöme-Säule im
Kreife berumgeführt. Der Herzog von Fitz-James, der auf
feinem Balkon ftand, wurde, weil er den Hut nicht abnahm, mit
Steinen beworfen. An der Porte Saint-Martin wurde ein
Schutzmann durd einen Degenftich verwundet. Ein Offizier der
Zwölfer fagte ganz laut: „Ich bin Republifaner! Die Stu-
benten des Polytechnikums bracen das Verbot ihrer Lehrer und
fbloffen fit dem Zug an. Man begrüßte fie mit dem Mufe:
„Es lebe bas Polytechnifum, es Iebe die Republik!“ Bei der
Baftille fhloffen fi Meugierige, die aus der Vorſtadt Saint—
Antoine herbeiftrömten, dem Zuge an, und die allgemeine Er-
regung flieg auf den Siedepunkt.
An der Aufterliger Brücke hielt der Zug. Es bildete fi ein
Kreis um den Leihenwagen. Die Menge fhiwieg. est hielt
Lafayette eine Rede und grüßte Lamarque. Es war ein erhabe-
ner und rührender Augenblid. Alle Köpfe wurden entblößt, alle
Herzen fhlugen höher. Plötzlich erfhien ein fchwarzgeFleideter
Mann zu Pferde, der eine rote Fahne trug. Andere behaupteten,
es fei eine Pike geweſen, auf der eine phrygifhe Mütze hing.
Tafayette wandte fid ab, Ercelmans verließ den Leichenzug.
Die rote Fahne lôfte ftürmifche Vegeifterung aus und ver-
Ihwand in der Menge. Unter allgemeinem Jubel wurde der
Leichenwagen über die Aufterlißer Brüde und Lafayettes Equi-
page auf den Quai Morland gezogen.
Unter der Menge, die Lafayette begrüßte, wurde ein Deut-
fer namens Ludwig Snyder (Schneider) allgemein bemerkt
und begrüßt, der fpäter, bunbertjäbrig, ftarb, und der 1776
567
unter Wafhington bei Irenton und unter Lafavette bei Brandy-
wine gekämpft hatte.
Test feste fih auf dem linken Ufer die Munizipalgarde in
Bewegung und fperrte die Bride, während auf der rechten
Seite die Dragoner den Quai Morland forsierten. Die Menge,
die Lafayettes Wagen 309, brach in wildes Gefchrei aus:
„Die Dragoner kommen!“
Im Schritt rücten die Dragoner fehweigend, Piftolen und
Säbel bereit, mit düfterer Miene heran.
Zweihundert Schritt vor der Fleinen Brüde machten fie halt.
Tafayettes Wagen fuhr ihnen entgegen, fie öffneten ihre Reihen,
ließen ihn durch und fchloffen fib wieder. In diefem Augenblick
ftieß die Menge auf die Dragoner. Frauen zogen fih zurüd.
Mas gefhah in diefem verhängnisvollen Augenbli? Nie—
mand vermag es zu fagen. Es war, als ob zwei Wolfen auf:
einanderftießen. Manche erzählen, daß vom Arfenal herüber zum
Angriff geblafen wurde, andere behaupteten, ein junger Burfche
babe einen Dragoner mit bem Dolch verlegt. Tatſache ift, daß
plößlih drei Schüffe fielen. Der erfte tötete den Schwadronschef
Cholet, der zweite eine taube Alte, die in der Rue Contrescarpe
gerade das Fenfter fehloß, der dritte verbrannte einem Offizier
die Epauletten. Eine Frau fhrie: „Sie fangen zu früh an!’
Pröslich fab man drüben auf dem Quai Morland eine Schwa-
dron Dragoner, die in der Kaferne geblieben war, mit gezückten
Säbeln über den Boulevard Bourdon heranftürmen und die
Menge vor fi) bertreiben.
est war die Entfcheidung gefallen. Der Sturm brad aus,
Steine flogen, die Gewehre Fnatterten, viele Menfchen ftürzten
fi in die Seine, um fi [hwimmend zu retten. Man ris Pfähle
aus der Erde, Piftolen Fnallten, fhon wuchſen die Barrifaden
aus dem Boden, Karabiniere eilten herbei, die Menge ftrömte
nad) allen Seiten auseinander. Überall wird gefchrien: „Zu den
Maffen! Zu den Waffen!” Dort flüchtet die Menge, bier
feiftet fie Widerftand. Die Wut trägt die Nebellion nach allen
Midbtungen, wie der Wind dag Feuer.
568
2 wer
Mo war Feine DViertelftunde vergangen, als ſich bereits an
etwa zwanzig Stellen von Paris ungefähr folgendes vollzogen
hatte.
treffen ſich etwa
te
Croix de la Bretonner
In der Rue Ste.-
”
die lange Bärte und langes Haar tra-
r,
änner,
M
’
zwanzig junge
>69
fommen gleich darauf mit einer
in,
ſchwarzbeflorten Trikolore heraus. An ihrer Spike marfhieren
inen Laden ei
ingen in e
gen, dr
drei, von denen einer ein Gewehr, der andere einen Säbel, der
dritte eine Pike trägt.
In der Mue des Monainbières bot ein dickbäuchiger, Eahler,
gemütlicher Bürger den Paflanten ganz offen Patronen an.
In der Rue Saint-Pierre Montmartre trugen Männer, die
ihre Arme entblößt hatten, eine fehwarze Fahne, auf der mit
weißen Buchſtaben gefchrieben ftand: ‚Die Republik oder den
Tod! Überall tauchten Fahnen auf, die in goldenen Buchftaben
das Wort Seftion und eine Nummer zeigten. Eine diefer
>10
Fahnen war rot und blau mit einem fhmalen weißen Streifen
dazwiſchen.
Man ſtürmte am Boulevard Saint-Martin eine Waffen—
fabrif, ferner drei Läden von Waffenſchmieden. In wenigen
Minuten griffen taufend Hände nad zweihundertdreißig Ge-
wehren (faft lauter Doppelläufern), vierundfehzig Säbeln und
dreiundachtzig Piftolen. Damit möglihft viel Leute bewaffnet
wären, nahm der eine ein Gewehr, der andere das Bajonett.
Am Quai de la Greve drangen bewaffnete junge Leute in
Mohnungen ein, um von hier aus zu fchießen. In improvifierten
Merfftätten wurden Patronen fabriziert.
Auf beiden Flußufern, auf den Quais und den Boulevards,
im Quartier Latin und bei den Markthallen ſtrömten Feuchend
Arbeiter, Studenten und Mitglieder der Sektionen sufammen,
verlofen Proflamationen und fhrien Alarm. Man ris Laternen-
pfähle um, fpannte Wagen aus, riß Pflafterfteine aus der Erde,
fblug Haustüren ein, entwurzelte Bäume, baute aus Fäffern,
Steinen, Möbeln und Brettern Parrifaden.
Man zwang die Bürger, zu helfen. Man drang in Wohnun-
gen ein, nötigte die Frauen, Gewehre und Säbel ihrer abiwefen-
den Männer auszuliefern und fchrieb mit Bleiweiß auf die Türen:
„Hier wurden alle Waffen requiriert.//
Manche unterzeichneten „mit ihrem Namen” Quittungen
über ausgelieferte Gewehre und Säbel und fagten:
„Holt euch die Waffen morgen vom Magiftrat wieder ab.’
Schildwachen und Nationalgardiften, die man auf der Straße
fab, wurden entwaffnet. Offizieren riß man die Epauletten ab.
Mir beribten alle diefe Dinge langſam und der Reihe nad,
doc gefchahen fie gleichzeitig in allen Stadtteilen und unter un-
geheurem Tumult.
Kaum war eine Stunde vergangen, als allein im Quartier
der Marfthallen ſiebenundzwanzig Barrifaden bereitftanden.
Überall und gleichzeitig wurde gearbeitet, überall wurden die
Poſten der Garnifon aufgehoben. Um fünf Uhr abends waren
die Revolutionäre Herren des Baftilleplakes, der Lingerie und
571
der Blancs-Manteaur. Ihre Patrouillen rückten bis zum Place
des Victoires vor, bedrohten die Staatsbank und die Haupt-
poft. Ein Drittel von Paris war in Händen der Mevolutionäre.
Gegen fes Uhr abends war die Paflage bu Saumon ein
Schlachtfeld. Auf der einen Seite ftand die Menge, auf der
anderen Militär. Durch die Gitter fhoß man aufeinander. Ein
Beobachter, ein junger Iräumer, der Verfaſſer diefes Buches,
der ausgegangen war, um fit den Vulkan aus der Mähe an-
zufehen, geriet zwifchen die beiden Feuer. Um den Kugeln zu
entgehen, mußte er zwifchen zwei Säulen flüchten und dort in
einer recht gefährlichen Tage eine halbe Stunde warten.
Bei manchen Megimentern waren die Soldaten fehwanfend.
Diefer Umftand fteigerte die allgemeine Unruhe. Die Soldaten
erinnerten fit der Ovation, die ihnen im Juli 1830 wegen der
Meutralität des dreiundfünfzigften Linienregiments dargebracht
worden war. Zwei furchtloſe und erfahrene Offiziere führten bas
Kommando, der Marfhall von Lobau und General Bugeau.
Gewaltige Patrouillen, Bataillone von Linienregimentern, denen
fi) ganze Rompanien Mationalgarbdiften anfhloffen, refognofzier-
ten in den revolutionären Stadtvierteln. Aber auch die Auf-
ftändifchen ftellten Poften aus und fandten Fühn ihre Patrouillen
aus den Barrifaben auf die Straße. So beobadıteten ſich die
feindlihen Parteien. Die Megierung zögerte, obwohl fie eine
Armee bereit hielt. Die Nacht mußte jeden Augenblif herein-
breden, und Saint-Merry läutete Sturm. Der Kriegsminifter,
der alte Marfhall Sould, der bei Aufterliß gefämpft hatte, fab
düfter in die Zufunft. Die Tuilerien lagen einfam und verlaffen
da. Louis Philippe war unbeirrbar ruhig.
AchtesBuch
Lin Atom verbrüdert fi mit dem Orkan
1. Gavroche giebt in den Krieg
In dem Augenblid, als die Menge mit ben Soldaten vor '
dem Arfenal zufammenftieß, fi teilte und in hundert Straßen
572
auseinanderftrömte, Eam ein junger Burfche, der in Lumpen ge-
Eleidet war, die Nue Ménilmontant herabipaziert. In der Hand
hielt er einen Baumaſt, den er bei DBelleville erbeutet hatte.
Bor einem Trödlerladen blieb er ftehen und bemerkte eine alte
Piftole im Schaufenfter. Er warf den Aft weg und fhrie der
Trödlerin zu:
„Frau Dingsba, ich entleihe mir von Ihnen biefe Kanone!”
Dann verfhwand er mit der Piftole.
Zwei Minuten fpäter begegnete ein Trupp verfchlihterter
Bürger, der durch die Rue Baſſe flüchtete, einem Burfchen, der
mutig feine Piftole ſchwang.
Das war Gavroche, der in den Krieg 309.
Übrigens hatte er Feine Ahnung, daß er in jener verregneten
Nacht feine eigenen Brüder in Schuß genommen hatte. Bei
Tagesanbrud war er nad dem Elefanten zurücgefehrt, hatte
die beiden Kinder aus ihrem Verſteck herausgeholt, ihnen ein
rai improvifiertes Frühftücf dargeboten und fie dann der Mut-
ter anvertraut, die aud ihn aufgezogen und ernährt hatte: der
Straße.
Auf dem Markt Saint-Yean, deflen Poften bereits entwaff-
net war, vollzog Gavroce feine Vereinigung mit der von Enjol-
ras, Courfeyrac, Eombeferre und Feuilly geführten Truppe Auf-
ftändifcher. Sie waren fo ziemlich bewaffnet. Auch Bahorel und
Sean Prouvaire waren zu ihnen geftoßen. Enjolras hatte eine
doppelläufige Sagdflinte, Combeferre das Gewehr eines Matio-
nalgarbiften und zwei Piftolen im Gürtel, die fein Fnopflofer
Mod immer feben ließ, Sean Prouvaire einen alten Kavallerie-
farabiner. Bahorel und Eourfeyrae mußten fit mit Säbeln
bebelfen.
Mit dem Nufe: „Es lebe das freie Polen!’ marfhierte die
Truppe durch die Straßen. Sie Fam vom Quai Morland. Man
fab weder Halstüher noch Hüte, alle waren vom Regen durd-
näßt und hatten leuchtende Augen. Gavrode fragte fie ruhig:
„Wohin gehen wir?’
„Komm nur mit‘, fagte Courfeyrac.
573
Hinter Feuilly marfhierte Bahorel, der eine Farmefinrote
Mefte trug.
„Die Roten kommen!“ ſchrie ein erfchrodener Bürger.
„Die Noten! Die Roten!!! äffte Bahorel. „„Sonderbare
Furcht, Bürger! Ich fürdte mich weder vor Klatfehrofen no
vor Rotkäppchen. Überlaffen Sie, Herr Bürger, die Abneigung
gegen das Note dem Hornvieh!“
Jetzt fiel fein Bli auf ein Blatt Papier, einen Faftenerlaf
des Erzbifhofs von Paris, der den „gläubigen Schafen‘ er-
laubte, auch in der Faftenzeit Eier zu effen.
„Schafe! Das ift der richtige Ausdruck!” fehrie Bahorel und
riß den Zettel ab. Gavroche fand bas fehr richtig. Er beſchloß,
fib mit Bahorel zu verftändigen.
„Du haft unrecht, Bahorel“, fagte Enjolras. „Du hätteft
den Faftenerlaß in Ruhe laffen follen, wir haben nichts mit dem
Bifhof zu fun, du verfehwendeft damit deine Zeit. Spare mit
der Munition.”
„Jeder wie er kann“, fagte Bahorel. „Dieſe bifhöfliche Proſa
geht mir auf die Nerven. Ich will Eier effen ohne Erlaubnis.
Du bift einer von den Kalten, ih muß meinen Spaß haben.
Übrigens verfchwende id nicht, fondern made mir nur Be—
wegung. Wenn ich diefen Erlaß zerreiße, fo tue ich es, beim
Herkules, um meinen Appetit zu reizen.’
Das Wort Herkules imponierte Gavroche. Da er lernbegierig
war, fragte er:
„Bas heißt Herkules?’
„Das ift der lateinifhe Name für Schockſchwerenot“, er-
widerte Bahorel.
est bemerfte Bahorel an einem Senfter einen jungen blaffen
Menfhen mit ſchwarzem Bart, wohl einen der Freunde des
A⸗B⸗C.
„Raſch, mach Kugeln!“ ſchrie er, „para bellum!“
„Bel homme, feſcher Kerl“, beſtätigte Gavroche, der ſeine
Lateinſtudien ernſthaft fortſetzte.
574
Eine lärmende Menge folgte ihnen: Studenten, Künftler,
junge Leute, Arbeiter. Mande trugen Stöde, mande Bajo—
nette, einige hatten Piftolen im Gürtel. Ein Alter war bar-
unter, der fehr bejabrt fehien und Feine Waffe trug. Er fab fehr
nachdenflih aus. Gavroche bemerfte ibn.
„Wer ift denn dag?’ fragte er Courfenrac.
„Irgendein Alter.‘
Es war Mabeuf.
515
2. Ders Alte
Und das Fam fo. Enjolras und feine Freunde befanden fi,
als die Dragoner auf das Volk fhoffen, auf dem Boulevard
Bourdon. Enjolrag, Eourfeyrae und Combeferre hatten die
Lofung ausgegeben: ,, Saut Barrikaden!“ In der Nue Lesdigu-
jeres begegneten fie dem Alten. Er ging im Zickzack, als ob er
betrunfen wäre. Den Hut hielt er in der Hand, obwohl es feit
Morgen heftig regnete. Courfeyrac hatte Vater Mabeuf er-
fannt. Oft hatte er Marius zu ihm begleitet. Er Fannte die
fheue und ängftliche Art des alten Bücherwurms und war nicht
wenig erftaunt, ihn inmitten diefes Tumults zu begegnen.
„Geben Sie nad) Haufe, Herr Mabeuf!“
„Warum?“
„Es gibt Krach.“
„Gut ſo.“
„Säbelhiebe, Gewehrſchüſſe, Herr Mabeuf!“
„Gut.“
„Kanonenſchüſſe.“
„Um ſo beſſer. Wo geht ihr hin?“
„Wir gehen die Regierung herausſchmeißen.“
„Gut!“
Und dann ſchloß er ſich ihnen an.
Bald verbreitete ſich das Gerücht, er ſei ein altes Konvents—
mitglied, einer der „Königsmörder“.
3. Rekruten
Die Truppe wuchs von Augenblick zu Augenblick. In der
Rue des Billets ſchloß ſich ihnen ein hochgewaächſener, bereits
ergrauter Mann an, deſſen ſtrenge Mienen Courfeyrae, Enjol-
ras und Combeferre auffielen. Sie kannten ihn nicht. Gavroche,
der ſingend vorauszog, ließ ſich nicht die Gelegenheit entgehen,
mit dem Kolben ſeiner Piſtole, die leider keinen Hahn hatte,
die Schaufenſter mißliebiger Läden einzuſchlagen.
5 76
In der Mue de la Verrerie famen fie am Haufe Courfeyraes
vorüber.
„Das trifft fit gut,’ fagte Courfeyrac, „ich babe meine
| Börfe vergeflen und meinen Hut verloren.’
Er eilte die Treppe hinauf, nahm einen alten Hut und feine
Börfe. Auch einen großen Koffer, den er zwifchen fhmubiger
Wäſche verborgen hatte, fchleppte er mit. Als er die Treppe
| binabeilte, hielt ibn die Pförtnerin auf.
„Herr von Courfeyrae!“
‚ie heißen Sie eigentlih?‘ fragte Courfeurac.
Diie Pförtnerin war verblüfft. „Aber Sie willen doch, ic)
| bin die Pförtnerin. Sch heiße Mutter Veuvain.“
„Hören Sie, wenn Sie mir nod einmal Herr von Eour-
| feprac fagen, nenne ih Sie Madame de Veuvain. Nun, was
gibt es?“
„Es ift jemand da, der Sie Sprechen will.’
„Wer?“
„Weiß nicht.“
„Wo?“
„In meiner Loge.“
„Zum Teufel mit ihm!“
„Er wartet ſchon eine Stunde auf Sie.“
Im ſelben Augenblick kam ein kleiner, magerer, blaſſer,
junger Burſche mit einem ſommerſproſſigen Geſicht heraus, der
einen zerriſſenen Kittel und eine geflickte Samthoſe trug. Der
Stimme nach hätte man ihn eher für ein Mädchen halten
können.
„Wo iſt Herr Marius?“
„Er iſt nicht zu Hauſe.“
„Kommt er heute abend nach Hauſe?“
„Das weiß ich nicht. Ich beſtimmt nicht.“
Der junge Mann ſah ihn ſcharf an.
„Warum nicht?“
„Darum.“
„Wohin gehen Sie denn?“
37 Hugo, Die Elenden. 577
Bas geht bas did an?’
„Sol id Ihnen Ihren Koffer tragen?’
„Ich gehe auf die Barrikade.“
„Darf ih mit Ihnen kommen?“
nBenn du wilft! Die Straße ift frei, das Pflafter gehört
der Welt.’
Und er rannte feinen Freunden nad.
NeuntesBuch
Eorinthe
l. Bergnügte Vorbereitungen
Laigle aus Meaur wohnte mehr bei Joly als anderswo. Er
hatte ein Heim, wie ein Vogel einen Aft. Die beiden Freunde
lebten zufammen, aßen zufammen, fehliefen in demfelben Zimmer.
Alles hatten fie gemeinfam, fogar ihre Mufibetta.
Am Morgen des 5. Juni gingen fie zum Frühftüd in ihre
Budife „Corinthe“. Voly, der an Schnupfen litt, hatte Laigle
bereits ein wenig angeftecft. Laigles Anzug war abgetragen, aber
Joly Eleidete fich gut.
Es war gegen neun Uhr morgens, als fie an die Tür von
„Corinthe“ Elopften.
Im erften Store fanden fie die Kellnerinnen Matelotte und
Gibelotte.
„Auftern, Käſ' und Schinken!” befahl Saigle.
Und fie feßten fic.
Sonft waren noch Feine Gäfte da.
Gibelotte Fannte Joly und Laigle und ftellte eine Flaſche auf
den Tiſch.
Als fie bei den erften Auftern waren, tauchte ein Kopf auf
der Treppe auf und eine Stimme rief:
„Schon von der Straße her babe ich euren Käfe aus Brie
gerochen. Hier habt ihr mich!”
Es war Grantaire.
518
Auch er feste fid.
Gibelotte Fannte auch ibn und ftellte fogleich zwei Flafchen
Mein auf.
„Trinkſt du immer zwei zugleich?’ fragte Laigle.
„Alle find gefheit, nur du bift dumm’, erwiderte Grantaire.
„Ich babe nod nie einen Mann gefehen, der vor zwei Flaſchen
erfchrocfen wäre.’ Die andern hatten begonnen zu eflen. Gran-
faire begann zu trinken. Bald war eine halbe Slafhe erledigt.
„Haft bu ein Loh im Magen?” fragte Laigle.
„Sieber als deines im Ellbogen‘’, erwiderte Grantaire.
„Kommft du vom Boulevard?‘
„Nein.“
„Wir haben die Spitze des Leichenzugs geſehen, Joly
und ich.“
„Wie dieſe Straße ruhig iſt,“ ſagte Laigle, „wer hätte ge—
dacht, daß in Paris alles auf den Beinen iſt? Hier merkt man,
daß es eine Kloſtergegend iſt.“
„Aber weil wir gerade bei den Revolutionen ſind,“ meinte
Joly, „wißt ihr etwa, was mit Marius geworden iſt?“
„Niemand weiß, in wen er verliebt iſt.“
„Ach die Liebſchaften von Marius!“ ſchimpfte Grantaire,
‚Die kenne ich auswendig. Er iſt ein nebulöfer Menſch und wird
irgend fo etwas Dunftiges gefunden haben. Poetenraffe. Pet
und Narr ift basfelbe. Das find Efftafen, über denen man bas
Küffen vergißt. Keufhheit auf Erden, MWolluft im Jenſeits.“
Grantaire war eben im Begriff, feine zweite Flafche zu
leeren, als wieder jemand auf der Treppe erfhien. Es war ein
faum zehnjähriger, zerlumpter unge mit einem Wufchelkopf,
der vom Regen froff. Er fab vergnügt aus.
Obwohl der unge fihtlich Feinen von den breien Fannte,
wandte er fi ohne Zögern an Taigle aus Meaur.
„Sie find doch Herr Boſſuet?“
„Das ift mein Spisname”, ermiderte aigle. „Was
willft du?‘
37% 579
„Ein großer Blonder bat mir auf dem Boulevard gefagt:
Geh ins ‚Corinthe‘, dort findeft du Herrn Boffuet. Sag’ ibm
von mir: A⸗B⸗C. Wahrſcheinlich ift es ein fchlechter Wis. Aber
er bat mir zehn Sous gegeben.’
—
=
—
„Joly, leih mir zehn Sous,“ ſagte Laigle, „und du, Gran—
faire, rück' auch zehn Sous heraus!”
So bekam der Junge einen Franken.
„Wie heißt du, Kleiner?“ fragte Laigle.
„Navet, ich bin ein Freund von Gavroche.“
580
„Bleib bei uns, mein junge.‘
nStübfiüde mit uns“, Iud ibn Grantaire ein.
„Ich Éann leider nicht, ermiberte der Knabe, „ich gehöre
zum Trauerzug, id muß ‚Mieder mit Polignac!“ fchreien.‘
Damit zog er ab.
aigle fann nad.
„A⸗B⸗C bedeutet: Beerdigung Lamarques.“
„Der große Blonde ift Enjolras“, meinte Grantaire.
„Beben wir hin?’ fragte Boffuet.
„eEs regnet“, erwiderte Soly. „Ich babe gefchworen, mid
dem Feuer auszufeßen, aber vom Regen war nie die Rede. Ich
| will feinen Schnupfen haben.‘
Ich bleibe auch, fagte Grantaire, „mir ift ein Frühftüd
lieber als ein Leihenwagen.
„Abftimmung ergibt, wir bleiben. Wenn es losgeht, fommen
wir immer no zurecht.‘
„Ja, dann Éomm id auch!” rief Soly.
Laigle rieb fit die Hände.
„Die Revolution von 1830 fol retufhiert werden,” fagte er,
‚Die Verfaſſung ift dem Volk zu eng.”
„Mir vollkommen ſchnuppe,“ erwiderte Grantaire, „ich habe
nichts gegen die Regierung. Eine Krone, über die eine Schlaf—
mütze gezogen iſt, ſoll mir recht ſein. Sie gleicht einem Geſpenſt
mit einem Regenſchirm.“
Auf der Treppe wurden raſche Schritte hörbar. Von der
Straße rief man:
„Zu den Waffen!“
Laigle wandte ſich um und fab in der Rue Saint-Denis
Enjolras mit feinen Freunden. Gavroche folgte ihm mit feiner
Piftole, Feuilly mit dem Säbel, Courfeurac mit dem Degen,
Prouvaire mit der Musfete.
Die Rue de [a Chanorerie, in der „Corinthe“ Yag, war
kürzer als die Tragweite eines Karabiners. Boſſuet legte die
Hände an den Mund und fbrie:
„Sourfeyrac! Courfeyrac!“
581
Der blieb fteben, erfannte Laigle und rief:
„Bas willft du?‘
„Wohin?“
„Wir wollen eine Barrikade bauen!“
„Gut, bleibt hier, der Platz iſt günſtig.“
„Das iſt wahr, Laigle“, antwortete Courfeyrac. Und die
Menge beſetzte die Rue de la Chanvrerie.
Wirklich eignete ſich der Platz ausgezeichnet. „Corinthe“ be—
herrſchte das Winkelwerk der Sackgaſſe, die Rue Mondetour
582
Éonnte nach beiden Seiten abgefperrt werden, fo daß nur An-
griffe von der Rue Saint-Denis her möglich waren. Der be-
foffene Boffuet hatte nicht weniger Wit bewiefen als ein nüch—
terner Hannibal.
As die Menge die Straße befehte, verbreitete fie überall
Entfegen. Bald war die Straße vollfommen von Spazier-
gängern gefäubert. Blitzſchnell wurden allenthalben Fenfter ge-
ihloffen, Türen verfperrt, Läden zugefchlagen. Eine Alte, die
Angft befam, befeftigte eine Motrage am Fenfter, um die
Kugeln aufzuhalten. Nur die Kafchemme blieb offen, und das
aus dem einfachen Grunde, weil die Truppe fie befeßt Hatte.
Frau Huceloup, die Wirtin, jammerte.
Boſſuet war binuntergegangen und hatte fih Courfeyrac an-
gefhloffen. Joly ftand am Fenfter und fohrie:
„Sourfeyras, du haft deinen Schirm zu Haufe vergeffen! Das
gibt einen tüdifchen Schnupfen!”
In wenigen Minuten wurden zwanzig Eifenftangen, mit
denen die Senfter der Gaftwirtfhaft verfihert waren, heraus»
gebrochen; zehn Klafter weit wurde das Pflafter der Straße
aufgeriffen. Gavrode und Bahorel bemädtigten ſich des
Magens eines Ralfbrenners, ftürzten ihn um und rollten die
Fäſſer herbei. Aus Pflafterfteinen und leeren Fäſſern, die man
im Keller des Wirtshaufes fand, wurde die Barrikade erbaut.
Matelotte und Gibelotte nahmen an den Arbeiten teil. Sie
liefen bin und ber, als ob fie Gäfte bedienten.
Ein Omnibus, der mit zwei weißen Pferden befpannt war,
bog in die Straße ein.
Boſſuet fprang über die Barrikade, eilte dem Wagen ent:
gegen und hielt ibn an. Er zwang die Paflagiere, auszufteigen,
half den Damen dabei, höflich, wie er war, entließ den Kutjcher
und brachte Pferd und Wagen ein.
Sm nädhften Augenblif waren die Pferde ausgefpannt und
wurden die Mue Mondetour binuntergejagt. Der Omnibus war
eine willfommene Dervollftändigung der Barrifade.
583
Jetzt hatte es aufgehört, zu regnen. Neue Nekruten waren):
gefommen. Arbeiter fchleppten ein Pulverfaß herbei, einen Korb
mit Bitriolflafhen und einige Karnevalfadeln, die von der
legten Feier des Föniglihen Geburtstags übriggeblieben waren.
Die einzige Laterne, die zur Erleuchtung der Rue de Ia Chan-
vrerie diente, wurde umgeriflen.
Enjolras, Combeferre und Courfeyrac leiteten das Ganze.
Es wurden gleichzeitig zwei Barrikaden gebaut, die vor dem
„Sorinthe‘ nach beiden Seiten bin eine Sperre bildeten. Die
584
N
|
!
|
höhere Schloß die Rue de Ia Chanvrerie ab, die niedrigere die
Rue Mondetour. Die letztere beftand nur aus Pflafterfteinen
und Fäffern. Insgeſamt arbeiteten etwa fünfzig Leute. Dreißig
hatten Gewehre, denn balbenwegs war man in den Laden eines
Maffenfhmiedg eingedrungen und hatte gegen Quittung
gekauft.
Es war eine fonderbare Truppe. Einer trug einen Furzen
Halbrock, einen Kavalleriefäbel und zwei alte Piftolen; ein an-
derer war in Hemdsärmeln, trug einen runden Hut und ein
Pulverborn an der Seite; ein dritter hatte fih aus grauem
Papier ein Plaſtron gemacht und trug als Waffe eine Sattler-
able. Da war einer der fehrie:
„Bir wollen bis zum lebten Mann Fampfen und an ber
Spiße unferer eigenen Bajonette ſterben!“
Und diefer Mann hatte gar Fein Dajonett.
Ein anderer hatte feinen bürgerlichen Mod mit der Patronen-
tafche und dem Ledergurt eines Mationalgarbiften geſchmückt und
zeigte ſtolz die Auffchrift:
„Dienſt der öffentlihen Drdnung.‘
Viele Gewehre zeigten Legionsnummern. Man fab faum
Hüte, Feine Halstüher, viele bloße Arme. jedes Alter und
jeder Typ war vertreten. Man fab blaffe junge Leute, fonnen-
verbrannte Arbeiter. Alle waren haftig am Werk. Zwifchen-
dur) wurden allerlei Gerüchte verbreitet. Es hieß, gegen drei
Uhr morgens würde man DVerftärfung erhalten, ein Negiment
fei gewonnen, ganz Paris werde fih erheben. Alle diefe un-
heimlihen Dinge wurden in beralihem, ja fogar gemütlichem
Ton befprodhen. Alle diefe Leute, die einander beim Namen
fannten, fhienen Brüder geworden zu fein. Die großen Ge-
fahren haben oft diefe Schöne Wirkung, auch die Brüderlichkeit
derer, die einander nicht Éennen, ans Licht zu bringen.
In der Kühe war ein Feuer angemacht worden; dag Zinn-
gefhirr des MWirtshaufes, Kannen, Löffel und Gabeln, wurde
eingefhmolzen. Man tranf inmitten des ganzen Wirrwars. Im
Billardfaal ſaßen Mutter Hucheloup, Matelotte und Gibelotte,
585
groben Fingern nur ſchwer diefe zarte Arbeit verrichten Eonnten,||!
halfen dabei. |
Der hochgewachſene Mann, der fih der Truppe an der Ede
der Rue des Billets angefhloffen hatte und den Courfeyrar,
Sombeferre und Enjolrag bemerft hatten, madte fi an der
Fleineren Barrikade nützlich. Gavrode arbeitete an der größeren
mit. Was den jungen Mann betrifft, der Courfeyrac in feinem
Haufe erwartet und nad) Marius befragt hatte, fo war er un-
gefähr in dem Augenblid, als der Omnibus umgeriffen wurde,
verfhwunden.
Gavroche war begeiftert. Fieberhaft arbeitete er mit. Er lief
bin und her, fprang bald von der Barrikade herunter, ftieg wie-
der hinauf, tobte und ladte. Seine Hauptaufgabe fhien darin
zu befteben, die anderen zu ermuntern. Weldher Sporn trieb ihn
an? Gewiß war es bas Elend. War er beflügelt? Seine Flügel
waren die Freude.
Er feuerte die Trägen an, ließ den Nichtstuern Feine Mube,
fiel ben Nachdenklichen auf die Merven, beluftigte die einen,
machte die andern wütend, ärgerte einen Studenten, bradte
einen Arbeiter in Rage.
„Vorwärts,“ fehrie er, „Pflaſterſteine her! Fäffer! Alles was
es gibt! Einen Bottih Schutt, um biefes Loch da zu verftopfen.
uff, eure DBarrifade ift zu Elein! Sie muß höher werden!
Schmeißt alles drauf, was ihr findet! Reißt diefe alte Parade
ba ein! Für eine Barrifade Fann man alles brauchen. Seht
bob, die Glastür!“
Einige der Arbeiter erhoben Einſpruch.
„Eine Glastür? Was foll man denn mit einer Glastür an-
fangen, du Dreikäſehoch?“
„Eine Glastür paßt fehr gut zu einer Barrikade“, antwortete
Gavroche. „Sie hindert nicht, daB man angegriffen wird, aber
586
ſie ftört den, der fie ftürmen will. Ihr habt wohl nie in einem
‚Garten Äpfel geklaut, deffen Mauern mit Glasfherben beftect
waren? Eine Glastür, die wird den Mationalgardiften, wenn
‚fie die Barrifade binauffteigen wollen, gehörig die Hühneraugen
operieren! Aber euch läßt natürlih wieder die Phantafie
im Stich!‘ |
Sm übrigen war er untröftlih, daß feine Piftole Feinen
Hahn hatte.
„Ein Gewehr! Sch will ein Gewehr! Warum gibt man mir
keines?“
„Dir ein Gewehr?“ fragte Combeferre.
„Warum nicht?“ meinte Gavroche, ,,1830 babe id auch eines
gehabt, als wir mit Karl X. ein Hühnchen zu rupfen hatten.“
Enjolras zuckte die Achſeln.
„Wenn alle Männer eines haben, bekommen auch die Kinder
welche ab.“
Gavroche wandte ſich ſtolz ab und antwortete:
‚enn du vor mir fällt, nehm’ ich deines.“
2. Der Rekrut aus der Nue des Billets
Schon war es tiefe Nacht. Aber es ereignete fi nichts.
Wohl hörte man verworrenen Lärm und zumeilen bas Rnattern
der Gewehre, aber aus der Ferne. Diefer Aufſchub bewies, daß
die Megierung ihre Kräfte fammelte. Die fünfzig mußten fib
auf fechzigtaufend Feinde gefaßt machen.
Enjolras empfand biefe Ungeduld vor dem Ereignis, die den
ftarfen Seelen befannt ift. Er fuchte Gavroche auf, der in bas
Gaftzimmer gegangen war, um im fpärlichen Licht zweier
Kerzen am Kugelgießen teilzunehmen. Viel Licht durfte nicht
gebrannt werden, um in den oberen Stocdwerfen dem Gegner
fein Ziel zu geben.
Do war die Aufmerffamfeit Gavroches nicht gerade den
Kugeln gewidmet.
Der Mann aus der Mue des Billets war eingetreten und
587
batte fi an ben Tiſch gefeht. Er hielt fein Gewehr zwifchen |
den Beinen. Gavrobe, von taufend anderen amüfanten Dingen .
abgelenkt, hatte ihn bisher wenig beachtet.
Wer indeffen den Mann ftudiert hätte, dem wäre ohne !
Zweifel aufgefallen, daß er nicht nur die Erbauung der Barri- |
fade, fondern au die einzelnen Ynfurgenten mit feltfamer Auf-
merffamfeit betrachtete; jeßt allerdings, im Gaftzimmer, [bien !
er fi zu erholen und der Vorgänge ringsum wenig zu achten. !
Der Straßenjunge näherte fih dem Unbefannten und flic
auf den Sebenfpisen, als ob er ihn nicht aufwecken wollte, ber-
bei. Plößlich zeigte fein Geficht zwei Falten, die Staunen und
Verwunderung ausdrüdten.
Er hatte etwas gefeben.
In diefem Augenblif trat Enjolras ein.
„Du bift Flein‘‘, fagte er, „dich bemerft man nicht. Schleich
einmal die Straße hinunter und ſchau ein bißchen nad, was
draußen vorgeht.”
„Soſo,“ fagte Gavroche, „alſo die Kleinen find bod zu etwas
zu brauden? Ein Glück! Ma, ihr folltet lieber den Kleinen mehr
und den Großen weniger trauen!’ er deutete auf den Mann aus
der Rue des Billets. „Sehen Sie den Großen da?" fragte
er leiſe.
„Sun?
„Das iſt ein Spißel.”
„Weißt du das gewiß?”
„Es ift noch Feine vierzehn Tage her, da bat er mich auf bem
Dont-Royal von der Brüſtung, auf der ich fpazierenging, an
den Ohren heruntergezogen.“
Enjolras trat zur Seite und fprad) einige Worte mit einem
Safenarbeiter, der in der Ede ftand. Der ging hinaus und Fam
gleich darauf mit drei anderen zurück. Die vier Laftträger, breit-
fbultrige Kerle, ftellten fi hinter dem Tiſch auf. Sie faben
aus, als ob fie fih fofort auf den Monn aus der Rue des Bil-
lets ftürzen wollten.
Enjolras trat auf ibn zu.
588
„Ber find Sie?’
Der Mann fuhr auf. Er bohrte feinen Blick in Enjolras
Elare Augen und fchien feinen Gedanfen erraten zu haben. Dann
| lächelte er verächtlich und entſchloſſen zugleich.
Ich ſehe fon, was Los iſt“, fagte er. „Nun gut, ja.‘
„Sind Sie ein Spißel?”
„Ich bin Polizeiagent.‘
„Sie beißen?”
„Javert.“
Enjolras gab den vier Männern ein Zeichen. Im nächſten
Augenblick war Javert gepackt, niedergeworfen, gebunden und
viſitiert.
In ſeiner Taſche fand man eine zwiſchen zwei Glasſcheiben
gepreßte Karte, die das franzöſiſche Wappen und folgenden
Wortlaut zeigte: —
Auf der Kehrſeite ſtand: „Javert, Polizeiinſpektor, zweiund—
fünfzig Jahre alt.“ Und darunter die Unterſchrift des Polizei—
präfekten Gisquet.
Überdies fand man eine Uhr und eine Börſe, die einige Gold—
ftücfe enthielt. Man überließ ibm beides. Endlich entdeckte man
no ein Blatt, bas Enjolras entfaltete und auf dem man von
der Hand des Dolizeipräfeften folgendes fand:
„Sofort nad Erledigung feines politifchen Auftrags bat fid)
der Inſpektor Javert zu überzeugen, ob die Verbrecher wirklich
am rechten Ufer der Seine, in der Nähe des Dont d'Jéna,
Stellungen vorbereitet haben.”
Man band Vavert die Arme auf den Rücken und feffelte ihn
an den Pfeiler der Gaftftube.
Gavrode hatte die Szene jhiweigfam und mit dem Kopfe
nicfend verfolgt. Sekt trat er zu Javert und fagfe:
„Die Maus bat die Kate gefangen.”
Javert bewahrte die unerfohrodene Ruhe eines Mannes, der
nie gelogen hat.
„Er ift ein Spißel,‘ erklärte Enjolras Courfeyrac, Boſſuet
589
er fort:
„Sie werden zehn Minuten vor der Erftürmung der Barri-
Fade erfchoflen.”
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„Warum nicht gleich?’ fragte Javert ftolz.
„Wir fparen Munition.‘
„Dann erledigen Sie die Sache mit dem Meffer.”
„Spitzel,“ fagte Œnjolras, ‚wir find Richter und nicht
Mörder!
590
Zebntes Buch
Die Öroßtaten der Derzweillung
l. Bon der Rue Plumet ins Quartier
Saint-Denis
\ Die Stimme, die Marius in der Dunfelbeit nad) der Barri—
kade gerufen hatte, war ihm wie ein Befehl des Schickſals er-
ſchienen. Er wollte ſterben — fon bot fi) die Gelegenheit. Er
| Élopfte an das Tor des Grabes, eine Hand aus dem Schatten-
reich warf ibm den Schlüffel zu.
Raſch lief er weg. Zufällig war er bewaffnet, denn er hatte
Javerts Piſtolen bei fi.
Der junge Burſch, den er bemerft hatte, war aus feinen
Augen verfhwunden.
Marius bog aus der Rue Plumet in den Boulevard ein,
überquerte die Efplanade und die Ynvalidenbrüde, die Champs
Elyſées und den Platz Ludwigs XV. So erreichte er die Nue
de Rivoli. Die Läden waren geöffnet, in den Arkaden brannte
Licht. Frauen erledigten ihre Einkäufe, Gäfte lüffelten Eis im
Café Laiter und afen Éleine Kuchen in der Pätifferie Anglaife.
Dom Hôtel Meurice fuhren Poftkutfchen in vollem Galopp ab.
Marius ging burd die Paflage Delorme in die Aue Saint:
Honore. Hier waren die Läden gefhloffen, die Krämer ftanden
vor den balboffenen Türen und debattierten; doch brannten die
Straßenlaternen, und in den Fenftern war, wie gewöhnlich,
Licht. Auf dem Plat des Palais-Royal ftand Kavallerie.
Ve weiter fih Marius vom Palais-Royal entfernte, um fo
weniger beleuchtete Senfter fand er. Hier waren alle Läden ge-
fhloffen, doch zeigten fih viele Menfchen auf der Straße. Man
fah niemand fprechen, aber ein bumypfes Stimmengewirr war zu
vernehmen.
Am Eingang der Nue des Prouvaires ftaute fi die Menge.
Man fab Gemwehrpyramiden, Bajonette, bimafierende Soldaten.
Hier hörte aller Verfebr auf. Hier herrſchte die Armee.
>91
Marius zwängte fih mit der Entjchloffenheit eines Verzwei—
felten dur die Menge und drang vor. Man rief ihn an, aber
er ging weiter. Quer burd dag Biwak der Soldaten, auf einem
Ummeg, erreichte er endlich die Rue de Béthiſy und näherte fi
den Hallen. Hier gab es längft Feine Laternen mehr. Er durd)-
ſchritt jeßt gewiflermaßen den Bannkreis der Truppen. Hier be-
gegnete er weder Soldaten not Ziviliften. Alles lag in tieffter
Einſamkeit. Ihn fhaucrte vor Kälte. In eine Straße ein-
dringen, hieß in einen Keller hinabfteigen.
Set famen Laufende an ihm vorbei. Waren es Männer,
Srauen? Bevor er etwas gefehen hatte, war alles vorüber.
Endlich gelangte er zu einem Gäßchen, das er für die Rue de
fa Poterie hielt. In der Mitte fief er auf ein Hindernis. Er
fireefte die Arme aus.
Es war ein umgeftürjter Karren. Eine von den Erbauern
wieder verlaffene Barrifade. Marius überftieg fie: Jetzt be-
merfte er etwas Weißes. Als er näher trat, nahm es Geftalt
an. Es waren die beiden Pferde, die Boffuet heute morgen von
dem Omnibus abgefpannt hatte. Sie waren den ganzen Tag
dur die Straßen geirrt und ftanden jet geduldig und müde,
Ziere, die das Gebaben der Menfhen nicht begreifen, hinter
dem Karren.
As Morius in die Mue du Contrat focial gelangte, pfiff
eine Gemwehrfugel an feinem Kopf vorüber und blieb in einem
Eupfernen Barbierbeden fteden.
Diefer Schuß war das einzige Lebenszeichen, das er empfing.
Von da an fab und hörte er nichts mehr.
Und doch ging Marius weiter in die Finfternis hinein.
2. Knapp vor dem Ziel
Marius erreichte die Marfthallen.
Hier herrſchte Totenftile und vollfommene Finfternis. Eifige
Ruhe des Grabes fhien aus der Erde aufgeftiegen zu fein.
Ein roter Schimmer bob die Silhouette der Dächer vom
>92
Hintergrunde ab. Das war der Widerfchein der Fackeln, die auf
der Barrifade des „Corinthe“ brannte. Dahin lenkte Marius
feine Schritte. Die Schildwache der VYnfurgenten in der Rue
bes Précheurs bemerkte ibn nicht. Er fühlte, daß er dem Ziele
nahe war, und ſchlich auf den Fußfpisen weiter. Er erreichte die
Rue Monbétour, die einzige Verbindung mit der Außenwelt,
die Enjolras offen gelaffen hatte.
est Eonnte er hinter einer formlofen Wand fhimmernde
Windlichter und Männer fehen, die, das Gewehr auf den Knien,
dafaßen. Das war die Ynnenfeite der Varrifade. Nun hatte
Marius nur mehr einen Schritt zu fun.
Aber der unglüdlihe junge Mann feste fi) auf einen Stein,
freuzte feine Arme und begann nachzudenken. Er dadte an
feinen Vater, der ein fo ftolger Soldat gemefen war und die
Grenzen der Mepublif verteidigt, fpäter unter dem Raifer
Genua, Aleſſandria, Mailand, Turin, Madrid, Wien, Dresden,
Berlin und Moskau gefehen hatte. Auf all den Schlachtfeldern
Europas hatte er Tropfen jenes Blutes verfprißt, bas aud er,
Marius, in feinen Adern fühlte.
Nun war aud für ihn der Tag herangefommen, da er uner-
ſchrocken, kühn und tapfer fein follte, den Kugeln Widerftand
leiften, feine Bruft den Vajonetten darbieten, fein Blut ver-
gießen, den Tod ſuchen mußte. Aber fein Schlachtfeld war die
- Straße, und der Krieg, den er führen würde, war ber
Bürgerkrieg.
Ihm war, als ob diefer DBürgerfrieg ein Schlund wäre, der
fih vor ihm auftat und in den er hineinftürgen mußte.
Er fhauerte.
Schmerzlic gedachte er des Schwerts feines Vaters, dag fein
Großvater fo ſchmählich einem Trödler verfauft hatte. Vielleicht
hatte biefes Schwert, biefes Fühle und reine Schwert, gutgetan,
in der Dunkelheit unterzutsuchen und vor ibm zu fliehen; es
hätte die Nebellion, ben Krieg im Ninnftein gefcheut, den Krieg
der fallenden Hinterhälte. Es war in Marengo und Friedland
geführt worden und wollte nicht in der Mue de la Chanprerie
38 Hugo, Die Elenden. 593
dienen; e8 wollte dag Schwert feines Daters fein und nicht
diefem Sohn gehören.
Es war furdtbar, aber was follte er tun? Ohne Cofette
fonnte er nicht leben. Sie war fort, alfo mußte er fterben.
Patte er nicht fein Ehrenwort gegeben, daß er fterben werde?
Sie war abgereift, obwohl fie es wußte. Alfo wollte fie, daß er
ftarb. Gewiß liebte fie ibn nicht mehr, denn wie hätte fie fonft
fortgehen Eönnen, ohne ihm ein Wort, eine Zeile zukommen zu
faffen, da fie doch feine Adreffe wußte?
Wozu ſollte er jet noch leben? Und da er nun einmal bis
hierher vorgedrungen war, follte er zurückweichen, die Gefahr
meiden, in die er fich begeben hatte? Seine Freunde, die ihn er-
warteten, verlaffen? Sie braudten ibn. Wie wertvoll war eine
einzige Fauft, da fie doc gegen eine Armee ftanden? An allem,
an feiner Liebe, an feiner Freundespfliht, an feinem Ehren-
wort follte er Verrat üben? Schuft werden unter dem Vor—
wand, einem patriotifchen Gefühl nachzugeben?
Unmöglich!
Wenn der Geiſt ſeines Vaters ihn geſehen hätte, würde er
ihm zugerufen haben:
„Vorwärts, Feigling!“
Jetzt fühlte er ſich geſtärkt. Er ſah klarer. Vielleicht war es
die Nähe des Grabes, die ihn erleuchtete. Jetzt ſchien ihm die
Tat, die er begehen wollte, nicht mehr kläglich, ſondern erhaben.
Der Krieg auf der Straße verwandelte ſich plötzlich vor ſeinem
geiſtigen Auge in ein Werk der Seele. Nun wußte er auf alle
Fragen, die ihn eben noch bedrängt hatten, eine Antwort.
Warum hätte fein Vater zürnen ſollen? Iſt nicht auch die
Revolution unter gewiſſen Umſtänden Pflicht? Entwürdigte ſich
der Sohn des Oberſten Pontmerey in dieſem Kampf? Hier ging
es zwar nicht um den heiligen Boden, aber um eine heilige
Idee. Mochte das Vaterland klagen, die Menſchheit würde auf—
atmen. Und durfte wirklich Frankreich, wenn die Freiheit
lächelte, betrübt ſein? Im Angeſicht der Freiheit hat Frankreich
ſtets ſeine Wunden vergeſſen.
594
Und dann, was bedeutete diefes Mort Bürgerfrieg? Gibt es
einen Krieg gegen Fremde? Iſt nicht jeder Krieg swifhen Men-
chen ein Bruderfrieg? Nur der Zwed rechtfertigt den Kampf,
und darum gibt es diefe Unterfheidung nit: Krieg gegen den
Feind, Krieg gegen den Mitbürger. Es gibt nur ungerechten Krieg
und gerechten. Big zu dem Tag, da der große Bund aller Men-
ſchen gefchloffen ift, wird jeder Kampf für die Zukunft und
gegen die Vergangenheit, die nicht weichen will, notwendig fein.
Mer darf einen folhen Kampf tadeln? Schändlid ift nur der
Krieg, in dem der Degen wider dag Recht, den Fortſchritt, die
Wahrheit, die Zivilifation ftreitet. Ob Krieg nad innen oder
außen, ein folder Krieg ift immer verächtlic, immer ein Ver—
breen. Dürfte Wafhington Camille Desmoulins verleugnen?
Seonidas bat gegen den Feind gefämpft, Timoleon gegen den
Iprannen. Welcher ift größer?
Diefer ift der Verteidiger, jener der ‘Befreier.
3. Die Fahne: Erfter Akt
Don Saint-Merry herüber fhlug e8 zehn Uhr.
Enjolras und Combeferre faßen, den Karabiner in der Hand,
bei der Side der großen DBarrifade. Sie fpradhen nit, fie
laufchten nur, ob nicht ein bumpfes Geräufd aus der Ferne den
Anmarſch des Gegners verfünde.
Plöslich hörten fie laute Schritte. Jemand Fletterte wie ein
Clown über den umgeftürzten Omnibus — und atemlos fprang
Gavroche herunter.
„Mein Gewehr,’ fchrie er, „ſie kommen!“
Gleichzeitig tauchten auch die Schildwachen auf, die in der
Rue de la Petite-Truanderie ausgeftellt waren.
Allfogleih war jeder auf feinem Poften.
Dreiundvierzig fnfurgenten, unter denen ſich Œnjolras,
Sombeferre, Courfeyrac, Boſſuet, Vols, Bahorel und Gavrode
befanden, Enieten auf der großen DBarrifade und hielten ihre
Gewehre fchußbereit. Sehs andere hatten fib unter bem
s 595
Kommando Feuillys an den Senftern des „Corinthe“ poftiert
und bielten bas Gewehr an der Mange.
Sp vergingen einige Augenblide. Endlih verkündete das
Geräuſch vieler ſchwerer Schritte von Saint-Leu herüber, daf |
der Feind anmarfdierte.
Es ſchwoll an, Fam langfam und ohne Paufe näher, gleich-
mäßig und furdtbar. Nichts anderes war zu hören. Es war, als
ob eine Statue aus Stein näher ftampfe. Plöslich wurde es
fil. Es war, als ob man den Atem der Iaufende hörte. Doch
fab man immer nod nichts, Fonnte nur in der Dunkelheit ganz
ſchwach bas metallifhe Schimmern der Vajonette und Gewehr-
läufe im Widerfchein der Fackeln erfennen.
Eine kurze Zeit verftrih. Deide Parteien fhienen zu warten.
est gellte aus der Finfternis, doppelt unheimlich, da man ben
Rufer nicht fab, eine Stimme auf:
„er da?’
Und zugleich hörte man, wie die Gewehre fchußbereit gemacht
wurden.
„Die franzöſiſche Revolution!“ rief Enjolras mit einer
Stimme, die vor Stolz zitterte.
„Feuer!“
Ein Blitz erhellte die Faſſaden der Straße für einen Mo—
ment. Gleich darauf ein furchtbarer Krach. Die rote Fahne fiel.
Die Salve war ſo dicht geweſen, daß die Deichſel des Omni—
buſſes, die als Fahnenſtange diente, zerſplitterte. Geller, die von
der Hauswand zurückprallten, verwundeten einige Männer.
Der Eindruck, den dieſe Feuertaufe auslöſte, war furchtbar.
Der Angriff war ſo heftig, daß ſelbſt die Kühnſten unſicher
wurden. Offenbar hatte man es mit einem ganzen Regiment
zu tun.
„Kameraden!“ ſchrie Courfeyrac, „verſchwendet nicht die
Munition! Schießt erſt, wenn ſie vordringen!“
„Zuerſt müſſen wir die Fahne wieder aufrichten!“ rief
Enjolras.
Man hörte das Geräuſch des Ladens vieler Gewehre.
596
„Wer bat bier Mut?’ fragte Enjolras, „wer will die Fahne
wieder aufpflanzen?“
Keiner antwortete. In diefem Augenblid, eben vor der zweiten
Salve, auf die Barrifade hinaufzufteigen, bedeutete den un-
zweifelhaften Tod. Selbft der Tapferfte zögert, fi dem fiherften
Tod auszuliefern. Auch Enjolras zitterte.
„Meldet fit Feiner?’ fragte er no einmal.
4. Die Fahne: Zweiter Aft
Seit die Ynfurgenten „Corinthe“ befeßt hatten und die Bar—
rifade aufrichteten, Hatte Feiner mehr auf Vater Mabeuf ge-
achtet. Der Greis war aber bei der Truppe verblieben. Er hatte
fi) im Gäftezimmer des erften Stockwerks neben den Ladentiſch
geſetzt. Wie vernichtet blieb er Hier fißen. Er fhien weder auf
die andern zu achten noch zu denfen. Courfeyrac und die andern
hatten ibn zwei- oder dreimal angeredet, hatten ihm die Ge-
fahren auseinandergefeßt und geraten, ſich zurückzuziehen, aber
er ſchien nicht darauf zu hören. Achtete man nicht auf ibn, fo
bewegte er die Tippen, als ob er fprece, richtete man aber bas
Wort an ihn, jo fhwieg er, und feine Augen waren wie die
eines Toten. Einige Stunden vor dem Angriff hatte er biefe
Stellung eingenommen, in der er noch immer dafaß, beide
Fäufte auf die Knie geftüßt, den Kopf vorgeneigt, als ob er in
einen Abgrund fhaue. Nichts Fonnte ihn aus diefer Haltung
auffeheuchen. Als alle an ihren Plas eilten, um zu fampfen, war
er mit Javert und einem MWacdtpoften allein zurücfgeblieben.
Erft der gewaltige Krach der erften Salve fchien ibn zu wedfen.
Er ftand jäh auf, eilte hinaus, und als Enjolras feine Frage
wiederholte: ‚Meldet fit keiner?“, erfchien er auf der Schwelle.
Sein Auftauhen madte großen Eindrud.
„Das Konventsmitglied! Der Abgeordnete!”, wurde gerufen.
Wahrſcheinlich hörte er biefe Nufe nicht. Mit einer faft reli-
giöfen Scheu traten die andern beifeite, während er auf Enjol-
ras zufrat, die Sahne ergriff und mit zitterndem Kopfe, aber
597
feftem Schritt die Barrifade erftieg. So düfter granbios war
diefer Anblick, daß alle riefen:
„Hut ab!!!
Jet war er auf der Höhe der Barrifade angelangt. Es war,
als ob der Geift von 1793 aus dem Grabe auferftanden wäre
und die Fahne der Mevolution wieder entfalte. Er rief:
„Es lebe die Revolution! Es lebe die Republik! Brüderlich-
Feit! Gleichheit! Freiheit und Tod!“
Dom Feinde herüber hörte man jest ein leiſes Murmeln.
Es Flang, als ob ein Priefter haftig ein Gebet berfage. Offenbar
war es der Polizeifommiflar, der nah der Vorſchrift des Ge-
jeßes die formale Aufforderung zur Übergabe an die Revolu—
tionäre richtete.
Mieder wurde gerufen:
„Zurück!“
Vater Mabeuf ſchwang ſeine Fahne und wiederholte:
„Es lebe die Republik!“
„Feuer!“
Die zweite Salve klang wie das Feuer einer Kugelſpritze.
Der Greis fiel auf die Knie, richtete ſich noch einmal auf, die
Fahne fiel aus ſeiner Hand, dann ſtürzte er rücklings, ſteif wie
ein Brett, zu Boden.
Eine jener Regungen, die ſogar den Selbſterhaltungstrieb
ausſchalten, bemächtigte ſich der Inſurgenten, ſie traten in ehr—
fürchtiger Rührung zu dem Toten.
„Was waren das doch für Menſchen, dieſe Königsmörder
von damals!“ rief Enjolras.
Courfeyrac beugte ſich zu ihm herab.
„Unter uns geſagt, ich möchte die Begeiſterung nicht trüben,
aber der Alte war alles andere als ein Königsmörder. Ich
kannte ihn. Er hieß Vater Mabeuf. Was heute mit ihm los
war, weiß ich nicht, ſonſt war er ein braver Philiſter. Sieh doch
den Kopf an.“
„Das Geſicht eines Philiſters, aber das Herz eines Brutus“,
antwortete Enjolras.
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Er beugte fi über den Toten und Füßte feine Stirn. Dann
zog er ihm vorfihtig, als ob er ibm web zu fun fürdte, den
Mo aus, zeigte den Leuten die blutigen Riſſe und fagte:
„Das iſt jeßt unfere Sahne!‘
5. Gavrobe hätte lieber Enjolras
Karabiner annehmen follen
Man breitete einen Schwarzen Schal der Witwe Hucheloup
über Mabeuf. Sechs Mann madten aus ihren Gemebren eine
Bahre und trugen ihn barhäuptig und in feierlicher Langſamkeit
in die Gaftftube.
Keiner gedachte der gefährlichen Lage, in der man fib befand.
Als fie den Toten an Javert vorübertrugen, der noch immer
feine Ruhe bewahrte, fagte Enjolras:
„Du Éommft jest gleich dran!’
Der Eleine Gavroche war allein auf der Barrifade geblieben,
um den Feind zu beobadhten. Ihm fehien, die Gegner fhliben
leife näher.
„Vorſicht!“ fchrie er plötzlich.
Alle ftürzten hinaus: Courfeyrac, Enjolras, Sean Prouvaire,
Combeferre, Vols, Bahorel, Boffuet. Es war aud die höchſte
Zeit. Knapp vor der Barrifade fab man die Vajonette des
Feindes. Hochgewachſene Munizipalgardiften Fletterten auf den
Omnibus, andere drängten den Straßenjungen, der fid zurück—
309, aber nicht floh, aus feiner Lücke.
Es war ein Eritifher Augenblid.
In der nähften Sefunde Éonnte die Barrikade verloren fein.
Bahorel ftürzte fih auf den erften Munizipalgardiften und
ſchoß ihn nieder. Ein zweiter ſtach DBahorel mit dem DBajonett
in die Bruft. Ein anderer hatte Courfeyrac, der um Hilfe frie,
zu Boden geworfen. Ein Ungeheuer von Garbift trieb Gavroche
mit dem DBajonett vor fih her. Der unge bob mit feinen
Ihwahen Armen Sjaverts gewaltiges Gewehr, zielt kühn auf den
599
Rieſen und drüdte ab. Aber — Vavert hatte nicht geladen. Der
Gardift lachte laut auf und holte sum Stoß aus.
Bevor das Bajonett Gavroche berührte, fiel dem Soldaten
bas Gewehr aus der Hand. Ein Schuß hatte ibn in die Stirne
getroffen, er fiel auf den Rücken. Eine zweite Kugel ftredfte
den andern Garbiften nieder, der Courfenrac zu Sal gebracht
hatte. Es mar Marius, der auf der Barrifade erfien.
6. Das Pulverfaß
Test war Marius unbewaffnet: nachdem er die beiden
Piftolen verfhoffen hatte, warf er fie von fih. Aber im felben
Augenblic bemerkte er in der Tür der Gaftftube ein Pulverfaß.
Er wandte fi eben halb um, als ein Soldat auf ibn an-
legte. Im jelben Augenblick griff eine Hand nad) der Mündung
des Gewehrlaufs. Der junge Arbeiter in Samthoſen war wieder
aufgetaucht. Die Kugel ging los, durchbohrte die Hand, erreichte
aber Marius nicht. Inmitten des Pulverdampfs Fonnte man
alles nur flüchtig überfehen. Schon war Marius in die Tür ge-
treten. Die verblüfften Inſurgenten fammelten fib. Enjolras
ſchrie:
„Halt, nicht blind ſchießen!“
In der Tat wäre es bei der allgemeinen Verwirrung möglich
geweſen, daß die Leute aufeinander ſchoſſen. Die meiſten hatten
ſich bereits an die Fenſter des erſten Stockwerks zurückgezogen
und bedrohten von dort die Angreifer. Die Tapferſten, Enjol-
ras, Courfeyrae, Sean Prouvaire und Combeferre, hatten ſich
bis auf die Hausmauer zurückgezogen und boten den Soldaten
wacker die Stirn.
Alles geſchah ohne Überſtürzung, mit ſeltſamer Ruhe. Jetzt
waren beide Parteien ſchußbereit. Man ſtand einander auf Ruf—
weite gegenüber. In dem Augenblick, als geſchoſſen werden
ſollte, erhob ein Offizier mit großen Epauletten den Degen
und rief:
600
„Ergebt euch!“
„Feuer!“ rief Enjolras.
Beide Parteien ſchoſſen gleichzeitig. Alles tauchte in dem
Pulverdampf unter. Stöhnen und Schreien von Verwundeten
und Sterbenden wurde laut.
As der Maud fib verzog, fab man auf beiden Seiten die
Kämpfer dabei, ihre Waffen neu zu Inden.
Sm felben Augenblick fhrie eine Stimme:
„Zurück, oder die Barrifade fliegt in die Luft!“
Marius hatte bas Pulverfaß bervorgebolt und im Schuß
des Rauches bis zu der Stelle gefchleppt, wo die Fadeln
brannten. Dann hatte er die Fadel ergriffen, bas Faß einge-
ſchlagen und drohte jeßt alles in die Luft zu fprengen.
„zurüd, oder die Barrikade fliegt in die Luft!’
Mad dem Greis war Marius die zweite Heldengeftalt der
jungen Revolution.
„Du fliegft felber auch in die Luft!‘ fchrie ein Sergeant.
„Ich auch”, antwortete Marius.
Und er näherte die Fadel dem Saf.
Schon war niemand mehr auf der DBarrifade. Sn wilder
Flucht zogen ſich die Angreifer zurüd, ohne ihre Toten und Ver—
wundeten mitzunehmen. Schon waren fie im Dunfel der Nacht
verfhmwunden. Es hieß: „Rette fih, wer kann!“
Die Barrifade war vom Feinde gefäubert.
1.208 des Dihters Sean Prouvaire
Ale umringten Marius. Courfenrac fiel ibm um den Hals.
„da bift bu ja!‘
„Das ift wirflih ein Glück, daß du gekommen biſt!“ rief
Courfeyrac.
„Und im rechten Augenblick!“ rief Boſſuet.
„Ohne dich wäre ich ſchon tot”, erklärte Courfeyrac.
„Und ich hätte auch einen kalten Hintern“, erklärte Gavroche.
„Wo iſt euer Führer?“ fragte Marius.
601
„Du bift es“, erwiderte Enjolras. |
Die Angreifer verbielten fi jet ruhig. Vielleicht warteten
ſie auf neue Befehle oder Verſtärkung. Die Revolutionäre
ſtellten wieder Schildwachen aus, und einige, Studenten der
Medizin, machten ſich daran, die Verwundeten zu verbinden.
Plötzlich aber verdüſterte eine beſtürzende Entdeckung die all:
gemeine Freude über die befreite Barrikade.
Es wurde zum Appell gerufen. Einer der Revolutionäre
fehlte. Es war einer der wertvollſten, einer der Kühnſten: Jean
Prouvaire. Man ſuchte ihn unter den Verwundeten, unter den
Toten, aber er war nicht da. Offenbar war er gefangen worden.
Combeferre ſagte zu Enjolras:
„Sie haben unſeren Freund, wir haben ihren Agenten. Liegt
dir was daran, daß der Spitzel umgebracht wird?“
„Ja, aber Jean Prouvaires Leben iſt mir lieber.“
„Gut, dann binde ich mein Taſchentuch an mein Gewehr,
gehe als Parlamentär hinüber und ſchlage ihnen einen
Tauſch vor.“
„Horch!“ rief Enjolras und legte ſeine Hand auf Combe—
ferres Arm.
Von drüben klang ein Waffenklirren herüber. Dann hörte
man eine Männerſtimme rufen:
„Es lebe Frankreich! Es lebe die Zukunft!“
Ein Aufblitzen, ein Krach, Schweigen.
„Sie haben ihn erſchoſſen!“ rief Combeferre.
Enjolras wandte ſich zu Javert:
„Deine Freunde haben dein Urteil geſprochen.“
8. Der Todeskampf
Eine Beſonderheit dieſer Art vom Krieg beſteht darin, daß
die Barrikaden faſt immer von vorne angegriffen werden. Die
Angreifer vermeiden es zumeiſt, die gegneriſchen Stellungen zu
umgehen, da ſie einen Hinterhalt fürchten. Nur ungern dringen
fie in winkelige Seitengaſſen ein. Darum war auch alle Auf-
602
merffamfeit der Revolutionäre auf die Hauptbarrifade gerichtet,
die ja am meiften bedroht war und auf der der Endfampf ftatt-
finden mußte. Nur Marius dachte an die Éleine Barrifade und
ging dahin. Sie lag vollfommen verlaflen da und war nur von
einem Sampion bewacht, der fein zitterndes Licht auf bas Pflafter
warf. Die Nue Mondetour lag in tiefer Stille da.
Nachdem Marius fib davon überzeugt hatte, wollte er auf die
Barrifade zurücffehren. Plötzlich hörte er in der Dunkelheit leiſe
feinen Namen rufen.
„Herr Marius!
Es war diefelbe Stimme, die er vor kaum zwei Stunden in
der Rue Plumet gehört hatte. Doch Flang fie jest nur mehr
wie ein Haud. Er blidte um fich, fab aber nichts. Schon glaubte
er fi getäufcht zu haben, als biefelbe Stimme wieder rief.
Diesmal konnte er nit irren.
„zu Ihren Füßen!‘ flüfterte die Stimme.
Er blickte zu Boden und fab eine Geftalt, die fih mühſam auf
der Erde näher bewegte. Der ſchwache Schein des Lampions
ließ ihn eine Arbeiterblufe, zerriffene Samthofen, bloße Füße
und eine Blutlache erfennen. Jetzt tauchte ein blaffes Gefiht auf.
„Erkennen Sie mid nicht?‘
„Nein.“
„Eponine.“
Marius beugte ſich lebhaft vor. Es war in der Tat das un—
glückliche Mädchen. Sie hatte ſich als Mann verkleidet.
„Wie kommen Sie hierher? Was tun Sie hier?“
„Ich ſterbe.“
Es gibt Worte und Ereigniſſe, die uns ſelbſt in tiefſter
Niedergeſchlagenheit wachrufen. Marius fuhr auf.
„Sie ſind verwundet! Warten Sie, ich trage Sie in das
Gaſtzimmer! Man wird Sie verbinden. Iſt es eine ſchwere
Verwundung? Wie muß ich Sie anfaſſen, um Ihnen nicht weh
zu tun? Mein Gott, warum ſind Sie hierher gekommen?“
Er wollte ſie in ſeine Arme nehmen, um ſie aufzuheben.
Sie ſchrie leiſe auf.
603
„Habe ich Ihnen weh getan?” fragte er.
„Etwas.“
Jetzt fab er ihre Hand und gewahrte in der Mitte ein
ſchwarzes, blutiges Loc.
„Was haben Sie da?’
„Durchſchoſſen.“
„Aber wieſo?“
„Haben Sie geſehen, wie ein Soldat auf Sie anlegte?“
„Ja, ich ſah auch die Hand vor der Mündung.“
„Es war meine.“
Marius fuhr zuſammen.
„Armes närriſches Kind! Aber dieſe Wunde iſt nicht ge—
fährlich, wir können von Glück ſagen! Ich werde Sie auf das
Bett tragen. Man wird Sie verbinden. An einer durchſchoſſenen
Hand ſtirbt man nicht.“
„Die Kugel iſt durch die Hand gegangen, hat den Körper
durchbohrt und iſt im Rücken wieder herausgekommen, es hat
keinen Sinn, daß Sie mich forttragen. Aber ich will Ihnen
ſagen, wie Sie mich beſſer verbinden können als der Wundarzt.
Setzen Sie ſich hier auf dieſen Stein.“
Er gehorchte. Sie legte ihren Kopf auf ſeine Knie und ſagte:
„Jetzt iſt mir gut, ich habe keine Schmerzen mehr.“
Einen Augenblick lang ſchwieg ſie, dann ſah ſie Marius an.
„Wiſſen Sie auch, Herr Marius, es tat mir weh, daß Sie
in dieſen Garten gingen. Es war dumm. Ich ſelbſt hatte Ihnen
doch dieſes Haus gezeigt, und ſchließlich mußte ich mir doch ſagen,
daß ein junger Mann wie Sie...‘
Sie zögerte, dann fuhr fie mit herzzerreißendem Lächeln fort:
„Sie fanden mich häßlich, nicht wahr? Ab, auch Sie find
verloren. Hier kommt niemand mit dem Leben davon. Und ic)
babe Sie hierher geführt! Auch Sie fterben hier, bas weiß ich
wohl. Und bo babe ich, als einer auf Sie anlegte, meine Hand
vor die Mündung des Gewehrs gehalten. Dann bin ich hierher
gekrochen. Sch erwartete Sie. Immer date ih: Fommt er denn
nicht? Wenn Sie wüßten, wie weh es tat! ch biß in meine
604
Blue vor Schmerz. est aber ift mir wohl. Erinnern Sie fid
no an den Tag, als ich in hr Zimmer Fam und mid in
Ihrem Spiegel befah? Und dann an den Tag, an bem id Sie
auf dem Boulevard traf, mie die Vögel damals fangen! Sie
gaben mir fünf Franken, aber ich wollte hr Geld nicht. Haben
Sie die Münze wenigftens aufgehoben? Sie find nit reid.
Ich babe vergeflen, es Ihnen zu jagen, Sie follten fie aufheben.
Es war febr fines Wetter damals, und man fror nibt. Er-
innern Sie fib? Oh, ich bin glücklich, denn jest fterben wir alle.‘
Schmerzlich bewegt betrachtete Marius das unglüdliche Ge-
ſchöpf.
„Ach,“ ſtöhnte ſie jetzt, „es fängt wieder an. Ich erſticke!“
Sie biß in ihre Bluſe und ihre Beine ſtreckten ſich aus.
Sie hielt ihr Geſicht nahe an Marius' Kopf.
„Hören Sie,“ ſagte ſie, „ich will Sie nicht betrügen. Ich
habe einen Brief für Sie in der Taſche, ſeit geſtern ſchon.
Jemand hat mich gebeten, ihn zur Poſt zu bringen. Ich habe
ihn aber behalten. Ich wollte nicht, daß dieſer Brief ſie erreicht.“
Krampfhaft griff ſie nach Marius' Hand. Er fühlte in ihrer
Taſche den Brief.
„Nehmen Sie ihn“, ſagte ſie.
Jetzt ſchien ſie befriedigt.
„Und verſprechen Sie mir...
„Was?“
„Verſprechen Sie es mir!“
„Ich verſpreche es Ihnen.“
„Sie ſollen mich auf die Stirn küſſen, wenn ich tot bin. Ich
werde es fühlen.“
Sie ließ den Kopf auf ſeine Knie zurückfallen, und ihre
Augenlider ſchloſſen ſich. Nach einiger Zeit blickte ſie wieder auf
und ſagte in einem Ton, deſſen ſanfter Klang aus einer anderen
Welt zu kommen ſchien:
„Wiſſen Sie, Herr Marius, ich glaube faſt, ich war ein
wenig verliebt in Sie.“
Noch einmal verſuchte ſie zu lächeln, dann ſtarb ſie.
605
9. Gavrodbeals BerebnervonEntfernungen
Später erft, in der Gaftftube, las Marius den Brief. Er
war gerichtet „an Herrn Marius Pontmercy, bei Herrn Cour:
feprac, Rue de la Verrerie Mo. 16 und lautete folgender-
maßen: "3
„Mein Geliebter, ab, Water will, daß wir fofort ab-
reifen. Heute abend werden wir nad der Rue de L'Homme
Arme No. 7 überfiedeln. In acht Tagen find wir in London.
4. uni Coſette.“
Eponine hatte alles bewerkſtelligt. Nach dem Abend des drit—
ten Juni war es ihre doppelte Aufgabe geweſen, weitere An—
ſchläge ihres Vaters und der Banditen auf das Haus in der
Rue Plumet zu vereiteln und gleichzeitig Marius und Coſette
zu trennen. Von irgendeinem jungen Burſchen, der es amüſant
fand, ſich als Mädchen zu verkleiden, erhielt ſie ein Gewand.
Sie war es geweſen, die Jean Valjean auf dem Champ de Mars
ausfindig machte und ihm dieſe Warnung zuſteckte: „Umziehen!“
In der Tat war Jean Valjean ſofort nach Hauſe gegangen und
hatte zu Coſette geſagt: „Wir ziehen heute aus und gehen mit
Touſſaint nad) der Rue de l'Homme Arme. Wir müſſen binnen
einer Woche in London ſein.“
In ihrem Kummer hatte Coſette ſofort zwei Zeilen an Ma—
rius geſchrieben. Aber wie ſollte ſie den Brief zur Poſt bringen?
Sie ging nie allein aus, und Touſſaint hätte, über einen der—
artigen Auftrag erſtaunt, das Schreiben Herrn Fauchelevent
gezeigt. Noch ſchwankte ſie, da bemerkte ſie am Gitter die als
Mann verkleidete Eponine, die unaufhörlich den Garten um—
ſchlich. Coſette hatte „dieſen jungen Arbeiter“ herbeigerufen,
hatte ihm fünf Franken gegeben und gebeten, er ſolle den Brief
beſtellen. Sofort hatte Eponine den Brief in die Taſche geſteckt.
Am Morgen des 5. Juni war ſie zu Courfeyrac gegangen, um
Marius zu ſuchen. Das tat ſie nicht, um ihm etwa den Brief
zu bringen, ſondern — was jeder Eiferſüchtige begreifen wird —
um ibn zu ſehen. Sie hatte Marius oder wenigſtens Courfeyrac
606
abgepaßt. Als er ihr fagte, daß er zu den Barrikaden eile, war
ihr ein Gedanke gefommen. Sie Eonnte fi) dort in den Tod
ftürzen und auch Marius hineinziehen. Darum war fie Cour-
feyrac gefolgt und hatte ſich zunächft überzeugt, wo diefe Barri-
fade errichtet wurde. Sie war gewiß, daß Marius in feiner
Verzweiflung dem Ruf feiner Freunde gern folgen würde und
befhloß, ihn zu der Barrifade zu lofen. Ihre Rechnung erwies
fi) als richtig. So war aud fie nach der Rue de [a Chanvrerie
zurücfgefehrt und mit der tragifchen Freude im Herzen geftorben,
daß nun auch Feine andere Marius gewinnen würde.
Er bedeckte jegt Cofettes Brief mit Küffen. Sie liebte ibn
alfo bob! Einen Augenblick dachte er, nun fei es finnlog, zu
fterben. Gleich darauf aber fiel ihm ein, daß fie ja verreife. Ihr
Vater nahm fie nach England mit, und fein Großvater weigerte
fi, in diefe Ehe einzumilligen. Das Schickſal war unabänder-
lib. Träumer wie Marius find der höchften Verzweiflung fähig.
Ihnen ift Lebensmüdigfeit unerträglich. Sie fterben leicht.
Jetzt, dachte er, blieben ibm nur noch zwei Pflichten zu er-
füllen. Er mußte Eofette von feinem Tode benachrichtigen und
Ihenardiers Sohn, den Bruder Eponines, retten.
Er hatte fein Portefeuille bei fih. Raſch riß er ein Blatt
heraus und fehrieb mit dem DBleiftift folgende Zeilen:
„Wir können nicht heiraten. Ich babe meinen Großvater
darum gebeten, aber er hat meine Bitte abgewiefen. Ich be-
fige nichts, und auch du bift arm. Sofort bin ich zu dir geeilt,
babe bib aber nicht mehr gefunden. Du weißt, daß ich dir
mein Ehrenwort gegeben babe, und ich halte es. Ich Liebe dich
und will fterben. Wenn du diefe Zeilen lieft, wird meine
Seele bei dir fein und dir zulächeln.”
Er faltete das Blatt zufammen, griff nach dem Portefeuille
und ſchrieb auf bas erfte Blatt:
„Ich heiße Marius Pontmercy. Man bringe meinen Leich-
nam zu meinem Großvater, Herrn Gillenormand, Rue des
Silles-bu-Calvaire No. 6.
607
Dann ſteckte er bas Portefeuille in die Tafche und rief Ga- |
vroche.
„Willſt du mir einen Dienft tun?‘
„Jeden beliebigen.‘
nMimm diefen Brief, verlaffe fofort die Barrifade und bring’
ihn morgen früh an feine Adreſſe.“
„Aber inzwifchen kann die Barrifade verlorengehen!’
‚Allem Anſchein nad wird die Barrikade heute nicht mehr
angegriffen. Vor morgen mittag wird fie auch nicht fallen.‘
In der Tat fchienen die Belagerer denen in der Barrifade
eine längere Srift zu geben. Solche Unterbreungen find im
Stroßenfampf bei Nat üblich.
„Wenn ich aber Ihren Brief morgen früh beforge?‘
„Das wird zu fpät fein. Wir werden gewiß umftellt, morgen
früh Fann Feiner mehr heraus und herein. Geh gleich.‘
Gavroche fand Feine Antwort und Eraste ſich unfchlüffig bin-
term Ohr. Plötzlich ſchien er mit ſich einig zu werden.
„Gut“, fagte er.
Und er lief nad der Nue Mondétour.
Ein Gedanke, den er nicht geäußert hatte, um niht Marius
Widerfprucd zu erregen, hatte feinen Entfhluß reifen laſſen.
Es war no nicht Mitternacht. Die Nue de l'Homme Arme
war nicht weit. Er konnte den Brief beftellen und nod im
Schuß der Dunkelheit zurückkehren.
ElftesBuch
Die Kue de l’homme Arme
l. Das verräterifhe Löſchblatt
Am Abend desfelben 5. Juni war Sean Valjean mit Eofette
und Touffaint nad der Rue de l'Homme Arme verzogen.
Cofette hatte das Haus in der Rue Plumet nicht widerftands-
108 verlaffen. Zum erftenmal hatte fie ihren Willen dem Sean
Valjeans entgegengefest, hatte fih nicht gewehrt, aber wider-
608
fproen. Dod war der Greis unbeugfam geblieben. Der Mat
eines Unbekannten, er folle umziehen, hatte tief auf ihn gewirkt.
Coſette mußte fih feinem Willen unterwerfen.
Beide waren fehweigend in der Rue de l'Homme Arme ein-
gezogen, jeder von befonderen Gedanken in Anfprud genommen.
Sean Valjean war fo unruhig, daß er die Traurigkeit Cofettes
nicht bemerfte, Cofette fo traurig, daß fie Sean Valjeans Un-
ruhe nicht gewahrte.
Die neue Wohnung in der Aue de l'Homme Arme lag in
einem Hinterhof, im zweiten Stod, und beftand aus zwei
Schlafzimmern, einem Speifezimmer, einer Küche und einer
Kammer mit einem Gurtbett für Touſſaint. Das Speifezimmer
diente zugleich als Vorraum und trennte die beiden Schlaf-
zimmer. Die nötigen Cinrichtungsgegenftände waren vor-
handen.
Die Furcht entzündet fi oft an den belanglofeften Dingen
und laßt fit von Gleichgültigfeiten verfheuden. Sp ift die
Menfhennatur. Kaum war Sean Valjean in der Mue de
l'Homme Arme eingezogen, als feine Angft wich. Übrigens
haben ftille Aufenthaltsorte die Eigentümlichkeit, den Geift
mechaniſch zu beruhigen. Die Einwohner diefer entlegenen Stra-
Ben find friedliche Leute.
Sean Valjean atmete auf. Wer würde ihn hier wiederfinden?
Er fchlief ruhig. Die Nacht ift eine gute Matgeberin und
zumal eine Bringerin des Friedens. Am nächſten Morgen er-
wachte er faft heiter. Er fand bas ſcheußlich eingerichtete Speife-
zimmer entzückend, rühmte den runden Tiſch, das Büfett mit
dem Spiegel und den wurmftichigen Lebnftubl, auf den Touſ—
foint einige Gepädftücfe gelegt hatte. Sin einem der Koffer lag
Sean Valjeans Nationalgardiftenuniform.
Cofette hatte fi) von Zouffaint eine Taffe Bouillon bringen
lafien und war am Abend nicht mehr erfchienen. Gegen fünf
Uhr des nächſten Tages erhielt Touffaint den Auftrag, ein Huhn
anzurichten, bas Cofette aus Teilnahme für ihren Vater fogar
prüfte. Dann fhüsßte fie Migräne vor, fagte Sean Valjean
39 Hugo, Die Elenden, 609
gute Nacht und 309 fid zurück. Jean Baljean aß mit Appetit”
und gewann fihtlich feine Ruhe und Heiterkeit wieder.
Während diefer Mahlzeit hörte er die Berichte Touſſaints
über die Kämpfe in Paris. Aber er war ſo ſehr mit ſeinen |
eigenen Angelegenheiten befhüftiat, daß er nicht binbôrte. |
Im Ausmaß, in dem er fi) berubigte, begann fein Geift fit
mit Cofette zu befhäftigen. Es war nicht die Migräne, biefe |
kurze Mervenkrife, die bei jungen Mädchen fo leicht eintritt,
um die er fi Sorgen mate. Aber er ging mit fit zu Mate,
wie er die Zukunft geftalten follte. Strenggenommen lag Fein
Grund vor, das Leben, das bisher fo glücklich verlaufen war,
gewaltfam in eine neue Bahn zu lenfen. Man hatte die Rue
Plumet ohne Zwiſchenfall verlaffen, und bas war ein guter
Anfang. Vielleicht war es doch angezeigt, außer Landes zu gehen
und fi einige Zeit in London aufzuhalten. Diefer Entfehluß
fiel Jean Valjean nicht fchwer, denn folange er Eofette bei ſich
hatte, bedeutete es ihm wenig, ob er in Frankreich oder England
lebte. Eofette war fein Land, fein Volk — fie genügte, um ibn
glücklich zu machen. Daß er nicht genüge, um Coſette zu be-
glüden, diefer Gedanke, der ibm früher den Schlaf geraubt
hatte, lag jet fern. Er hatte die Schwierigfeit des Augenblicks
überwunden und war optimiftifch geftimmt. Cofette war bei ihm,
ihm fchien, fie gehörte noch ihm. Ohne Schwierigkeiten entwarf
er den Plan einer Reife nah England und erging fih in an-
genehmen Iräumereien.
Während er fo im Zimmer auf und ab ging, fiel fein Blick
auf etwas Sonderbares. In dem fchrägen Spiegel über dem
Büfett las er folgende Worte:
‚Mein Geliebter, ah, Vater will, daß wir fofort ab-
reifen. Heute abend werden wir nad der Mue de l'Homme
Arme No. 7 überfiedeln. In acht Tagen find wir in London.
4. juni Coſette.“
Entſetzt blieb Jean Valjean ſtehen.
Coſette hatte, als ſie in die neue Wohnung kam, ihre
610
Schreibmappe mit dem Löfchblatt auf bas Büfett gelegt und in
ihrem Kummer bier liegenlaffen, ohne zu bemerfen, daß das
Löſchpapier unter dem Spiegel zu liegen Fam. Auf dem Blatt
war ihr Brief an Marius abgedrüdt.
| So entftand, was man in der Geometrie ein ſymmetriſches
Bild nennt. Die Schrift, fhon auf dem Löſchblatt verkehrt,
wurde in dem Spiegel gewiffermaßen in ihre urfprüngliche
Form zurücfrefleftiert.
Drer Tatbeſtand war einfad und doch niederfchmetternd.
Jean Valjean las nod einmal die wenigen Zeilen durd,
| fonnte es nicht faffen. Das war unmöglih — er war offenbar
| bas Opfer einer Sinnestäufhung. Etwas Derartiges gab es
| nidt.
Almählih wurde er Elar. Er fab das Löfchpapier an und ge-
wann wieder den Sinn für die WirflichFeit. Fieberhaft betrady-
fete er bas unverftändliche und bizarre Gefrißel, diefe finnlofen
Zeichen. Das bedeutet nichts, dachte er, bas ift Feine Schrift.
Und er atmete erleichtert auf. Wer Fennt nicht diefe unfinnigen
Verſuche, fih an einen Troft zu Flammern, folange nicht alle
Illuſionen erfhöpft find!
Jetzt hielt er das Löſchblatt in der Hand und betrachtete es,
finnlos-glüdlich, ja, nahe daran, über die Täuſchung, der er zum
Dpfer gefallen war, zu lachen. Plötzlich fiel fein Blick wieder in
den Spiegel, er hatte diefelbe ſchreckliche Viſion wie erft. Mit
furdhtbarer Klarheit fprangen ihm die Lettern ins Auge. Das
war feine Sata Morgana mehr, eine Bifion, die ſich wiederholt,
ift wirklich.
Er begriff.
Zaumelnd ließ Sean Valjean das Blatt fallen und warf fi
in den alten Lehnftuhl, der neben dem Büfett ftand. Es war
unmwiderruflih wahr, Cofette hatte an jemand gefchrieben. Plötz—
lih war feine Seele wieder fürchterlich wie einft, er glaubte, fie
in der Dunkelheit dumpf aufbrüllen zu hören wie den Löwen,
dem man einen Hund, den Gefährten feiner Gefangenichaft,
rauben will.
ur 611
Unter allen Qualen, die ihm fein Schickſal jemals auferlegt
hatte, war biefe die furchtbarſte — er fühlte, wie alle längft
vernarbten Wunden in ihm aufbrachen. Ach, die hödhfte, die ein-
gige Prüfung, die wir zu beftehen haben, ift der Verluſt des
Gegenftandes unferer Liebe.
Jetzt warf er einen tiefen Blick in fein Inneres, und das
Gefpenft des Haſſes tauchte vor feinem Auge auf.
Zouflaint trat ein. Sean Valjean ftand auf und fragte:
„Wo iſt es denn?”
Touſſaint war verblüfft nud fand keine Antwort.
„Was denn?“ fragte ſie nur.
„Haben Sie mir nicht eben erſt geſagt, daß in den Straßen
gekämpft wird?“
„Ach ja, gnädiger Herr, bei Saint-Merry.“
Es gibt mechaniſche Regungen, die aus tiefen und ſogar un—
bewußten Gedanken hervorgehen, ohne daß wir ſie zu regiſtrieren
vermögen. Offenbar einer ſolchen Regung gehorchend, fand ſich
Jean Valjean fünf Minuten ſpäter auf der Straße.
Er war barhäuptig und ſaß auf dem Prellſtein vor ſeinem
Hauſe. Er ſchien zu horchen. Schon war es Nacht.
2. Ein StraßenjungekämpftgegenLaternen
Wie lange blieb er ſo? Was ging in ihm vor? War er ge—
beugt bis zur Erde oder konnte er ſich ſelbſt wieder aufrichten?
Die Straße lag verlaſſen da. Einige Bürgersleute, die nach
Hauſe ſtrebten, gewahrten ihn kaum. In Zeiten der Gefahr iſt
die allgemeine Loſung: Jeder für ſich! Der Laternenanzünder
kam zur üblichen Zeit und ſteckte die Laterne vor Haus Mo. 7
an. Dann ging er wieder. Wenn er Jean Valjean im Schatten
bemerft hätte, gewiß hätte er ihn nicht für ein lebendes Wefen
gehalten. Mod immer hörte man die Sturmglode und aus der
Ferne Getöfe. Zwifchendurd Elang von Saint-Paul die Glode
berüber, die friedlich, behäbig und ohne Haft elf Uhr anzeigte.
Sean Valjean rührte fi) noch immer nicht.
612
Dod hörte er um diefe Zeit von den Hallen herüber eine
Gewehrſalve, der kurz nachher eine lautere folgte. Das war der
Sturm auf die Barrifade in der Rue de la Ebanvrerie. Der
Krach war in der ftumpfen, nächtlichen Stille doppelt unheimlich.
Sean Valjean zitterte. Er ftand auf, fab nad der Richtung,
aus der das Geräuſch herübergefommen war, fette fi) wieder,
freuste die Arme und ließ den Kopf auf die Bruft berabfinfen.
Brütend ließ er feinen Gedanken freien Lauf.
Sept blickte er auf. Schritte famen näher. Im Licht der La-
| terne fab er ein junges, blaffes, fröhliches Gefiht. Gavrode war
in der Mue de L'Homme Arme erfhienen.
Er ſchien zu fuhen. Jean Daljean hatte er bemerkt, doc
| fente er ibm Feine Beachtung.
Erft hatte er in die Höhe gefehen, fih auf die Zehenfpißen
geftellt, Tore und Fenfter betaftet. Alle waren verfperrt und
verriegelt. Nachdem er folhermaßen fünf oder ſechs verrammelte
Hauseingänge geprüft hatte, sudte er die Achſeln und äußerte
zur Sache:
„Hol 8 der Teufel!’
Wieder ftarrte er in die Höhe.
Sean Valjean wäre einen Augenblick vorher in feiner feeli-
Ihen Verfaſſung außerftande gewefen, mit einem Menfhen zu
fprehen, ja auch nur zu antworten; doch fühlte er fi unwider—
fteblid zu diefem Jungen bingezogen.
„Was haft du denn, Kleiner?”
„Nichts als Hunger”, erwiderte Gavroche eindeutig.
Dann aber fügte er hinzu: „Selber Zwerg!’
Sean Valjean griff in die Tafhe und zog ein Fünffranfen-
| ftücf heraus.
Gavroche, der wie eine Bachſtelze niemals ruhig bleiben
Fonnte, hatte ingwifchen einen Stein aufgehoben. Die Laterne
tat feinem Auge weh.
„Ihr habt ja noch Laternen hier‘, fagte er. „Ihr müßt mit
der Mode mitgehen, Freunde. Das verftößt ja gegen die öffent-
lihe Ordnung. Wir wollen fie gleich einkitſchen.“
613
Und er warf den Stein in die Laterne, die Elirrend 3erbrach.
Erfchrodfene Bürger erfhienen an den Fenftern und riefen ein-
ander zu:
„Dreiundneungig ift wieder da!’
Das Licht ſchwankte und erlofh. Sekt lag die Straße voll-
ftändig im Dunfel.
„So ift’8 recht, alte Straße, fagte Gavroche, „ſetz dir nur
die Nachtmütze auf!‘
Sean Valjean trat zu Gavrode.
„Armer Kerl, fagte er leife, als ob er mit fich felbft ſpräche.
„Er bat nichts zu effen”, und er drüdte ihm bas Fünffranfen-
ſtück in die Hand.
Gavroche bob erftaunt die Nafe. Er fab, daß die Münze von
Silber war. Fünffranfenftüde Eannte er nur vom Hörenfagen,
aber ihr Muf war auch in feinen Kreifen gut, und er fand es an-
genehm, eines zu befißen.
Dann wandte er fih zu Sean Daljean, hielt ihm die Münze
wieder hin und fagte großartig:
n Bourgeois, ich will lieber Laternen einfitfchen. Nehmen Sie
wieder Ihren Basen zurück. Mich beftiht man nicht. Der
Adler da bat fünf Klauen, aber mid foll er nicht Fragen.‘
„Haft du eine Mutter?’ fragte Sean Daljean.
‚DBielleiht mehr Mama wie Sie.’
„Gut, dann bring’ das Geld deiner Mutter.‘
Gavroche war gerührt. Auch bemerkte er, daß der Mann,
mit dem er da fprach, Feinen Hut aufhatte, und das flößte ihm
Vertrauen ein.
„Alſo Sie geben mir bas nidf, um mid vom Yaternen-
einfehmeißen abzuhalten?’
„Wirk fo viele ein, wie du willſt.“
„Sie find ein Ehrenmann‘‘, antwortete Gavroche und ftecte
bas Fünffranfenftüd in die Taſche.
Er war zutraulicher geworden.
„Sind Sie aus der Straße hier?”
614
„Ja. Warum?’
„Können Sie mir Mo. 7 zeigen?’
„Was willſt du in Mo. 77
Der unge fürcdtete, er babe fhon zuviel gefagt, und ant-
Ä wortete nur:
„Allerhand.“
Jetzt hatte Jean Valjean einen Gedanken. Die Angſt läßt
manchmal ein ſeltſames Licht in uns aufflammen.
„Bringſt du mir den Brief, auf den ich warte?“
„Nein, Sie ſind doch keine Frau.“
„Der Brief iſt an Fräulein Coſette gerichtet, nicht wahr?“
„Coſette? Ja, ich glaube, ſie hatte ſo einen albernen Namen.“
„Nun, dann bin ich es, dem du den Brief geben ſollſt.“
„Dann wiſſen Sie wohl auch, daß ich von der Barrikade
komme?“
„Gewiß doch.“
Gavroche griff in die Taſche und zog das gefaltete Papier
heraus. Dann grüßte er militäriſch.
„Reſpekt vor dieſer Depeſche, ſie kommt von der proviſori—
ſchen Regierung!“
„Gut.“
Gavroche hielt das Papier feft.
‚Bilden Sie fid nur ja nicht ein, daB dag ein Liebesbrief ift.
Er ift an eine Frau gerichtet, aber er gilt dem Volke. Wir
prügeln uns untereinander, aber das weibliche Geſchlecht achten
wir.’
„So gib ſchon!“
Gavroche reichte den “Brief jean Valjean.
‚And beeilen Sie fih, Herr Dingsda, denn Fräulein Cofette
wartet fhon! Antwort ift unnötig. Wenn Sie zu ung gelangen
wollen, werden Sie in einen recht unverdaulihen Kuchen beißen.
Diefer Brief kommt von der Barrifade in der Rue de Ian Chan-
vrerie, zu der ich jet zurücffehre. Guten Abend, Bürger!’
Einige Augenblicke nachher hörte man bereits aus der Ferne
lautes Klirren. Gavroche fpazierte burd die Rue du Chaume.
615
3. Während Cofette und Zouffaint fhlafen
Sean Baljean trat mit dem Brief Marius’ in das Haus.
Er taftete fi die Treppe hinauf, öffnete leife feine Tür,
laufchte, ftellte feft, daB Cofette und Touffaint offenbar fchliefen
und braudte — fo fehr zitterten feine Hände — drei oder vier
Streihhölzer, um Licht anzuzünden.
In Augenbliden folder Erregungen lieſt man nicht, fondern
verfhlingt gewiflermaßen das Papier, verfhludt es wie ein
Dpfer, überfpringt den Anfang und haftet dem Ende zu.
In Marius’ Brief an Cofette fab Jean Valjean nur die
Worte:
„. . . wenn du dies lieft, wird meine Seele bei dir fein...”
Eine furdtbare Freude ergriff ihn. Einen Augenblid ftand
er wie betäubt unter dem jähen Wechſel der Empfindungen.
Saft trunfen vor Entzücden, ftarrte er den Brief an. Das Herr-
lichfte, den Tod des Gehaßten, hatte er vor fi.
Es war alfo zu Ende. Raſcher war diefe Sache zum Abſchluß
gekommen, als er gehofft hatte. Der Fremde, der in fein Schick—
fal eingegriffen, verfhmand wieder. Verſchwand freiwillig, aus
eigener Kraft. Ohne daß er, Sean Valjean, etwas dazu tat.
Vielleicht war jener Feind in diefem Augenblick fhon tot.
Das Fieber hat feine eigene Art, Dinge zu berechnen.
Mein, tot Éonnte er noch nicht fein. Der Brief war offenbar
in der Abficht gefbrieben, am nüdften Tag in Cofettes Hände
zu gelangen. Seit den zwei Salven, die Sean Valjean zwijchen
elf Uhr und Mitternacht gehört hatte, war nichts mehr vor-
gefallen. Vor Tagesanbrud würde die Barrifade nicht mehr
ernfthaft angegriffen werden, aber immerhin, ein Menfch, der
fid) in diefen Kampf eingelaflen bat, ift fchon verloren.
Sean Valjean fühlte fih befreit. Er würde alfo mit Cofette
allein bleiben. Der Mebenbuhler wich. Wieder war dag Tor der
Zukunft geöffnet. Er braudte ja diefen Brief nur bei fid zu
behalten. Cofette würde nie erfahren, was aus „dieſem Men—
ſchen“ geworden war. jean Valjean braudte die Dinge nur
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ihren Lauf nehmen zu laffen. Schon war der Knoten jenes
Schickſals geknüpft. Wenn er noch nicht fot war, würde er bin-
nen Stunden fterben.
Er ftieg hinab und wedte den Portier.
Eine Stunde fpäter ging jean Daljean in feiner National:
gardiftenuniform, und vollfommen bewaffnet, aus. Der Portier
hatte in der Nachbarſchaft alles aufgetrieben, was zur Aus—
rüftung noch gefehlt hatte.
Sean Valjean marfhierte in der Richtung auf die Hallen zu.
4. Gavrodheiftübereifrig
Singend und grölend, als ob eine ganze Horde mörderifcher,
blutgieriger Mevolutionäre dur die Straßen ziehe, wanderte
Gavroche weiter.
Plötzlich blieb er fteben.
„Genug der Nomanzen”, fagte er.
Seine Kabenaugen hatten im Dunfel eines Tormegs ein
Enfemble, wie es die Maler nennen, erfannt, nämlich ein Ieben-
des Weſen und eine tote Sache. Die tote Sache war ein Hand-
wagen, das lebende Wefen ein Auvergnat, der darin lag und
Ichlief. ph i
Gavrode befaß Erfahrung in den Dingen der Welt, und
darum wußte er fofort, daß der Auvergnat befoffen war.
Offenbar war es irgendein Dienftmann, der zu tief in die
Flaſche gefhaut Hatte.
Da fieht man wieder, dachte Gavrodhe, mas in einer Som-
mernacht alles paffieren fann. Wie nüslich find doch die Som-
mernächte! Auvergnaten zum Veifpiel Schlafen in ihren Karren.
Mas tut man? Man requiriert den Karren für die Republik
und überläßt den Auvergnaten der Monarchie. Denn ein foldyer
Karren ift prächtig für eine Barrikade!
Der Auvergnat fbnarchte.
DVorfibtig 309 Gavroche den Wagen zurüd, den DBetrunfenen
617
aber an ben Füßen nad) vorne, fo daß diefer nach einer Minute,
ohne aufzumachen, auf dem ‘Boden lag.
Der Karren war befreit.
Gavroche, der ftets mit dem Unvorhergefehenen rechnen mußte,
war au immer für alles ausgerüftet. Er 309 alfo ein Blatt
Papier und ein Stück Rotſtift aus der Iafche, das er irgendwo
geflaut hatte. Dann fchrieb er:
„Franzöſiſche Republik.
Quittung über
einen Karren
gezeichnet: Gavroche.“
Dieſes Blatt ſchob er dem immer noch ſchnarchenden Auver-
gnaten in die Weſtentaſche, dann ergriff er die beiden Trag-
ftangen des Rarrens und entfernte fi in der Richtung nad) den
Hallen. Er Tief rafch und ftieß ein wildes Triumphgeheul aus.
Das war gefährlich. Im Gebäude der Königlihen Druderei
lag ein Poften. Daran hatte aber Gavrode nicht gedacht. Der
Poften beftand aus Mationalgardiften. Gavrohes Gebrüll ließ
die Biedermänner von ihren Feldbetten auffabren. Das Klirren
von zerfchlagenen Laternen und bas môrberifhe Geſchrei — alles
bas bewies, daß in biefen fo ruhigen Straßen, die gern lange
Ichlafen, Furchtbares vorging. Seit einer Stunde beunrubigte
biefer Junge ein friedliches Stadtviertel. Der dienfttuende Ser-
geant horchte. Aber er wartete noch, denn er war ein Mann der
Vorſicht.
Als er den Karren raſſelnd über das Pflaſter ſpringen hörte,
entſchloß er ſich, einen Rekognoſzierungsgang zu riskieren.
„Das iſt gewiß eine ganze Bande,“ dachte er, „ſeien wir auf
der Hut!“
Die Hydra der Anarchie war aus ihrer Höhle hervorgekrochen
und wälzte ſich dräuend durch dieſes friedliche Quartier.
Vorſichtig ſchlich der Sergeant näher.
Als Gavroche mit ſeinem Karren an das Ende der Rue des
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Vieilles-Haudriettes gelangte, ftand er plößlic einer Uniform,
einem Tſchako und einem Gewehr gegenüber.
Wieder blieb er verblüfft ftehen.
„Holla“, fagte er. „Guten Abend, öffentlihe Ordnung!‘
Gavroche war nie lange verdußt.
„Wohin gebft bu, Lauſekerl?“ fhimpfte der Soldat.
„Mann, ich babe Sie noch nicht Bourgeois tituliert“, ant-
wortete Gavroche. „Warum beleidigen Sie mich?’
„Wohin willft du, du Range?‘
„Herr, erwiderte Gavroche, „Sie waren vielleicht geftern
ein Mann von Geift, aber heute morgen haben Sie einen tiefen
Sal getan.”
„Ich frage, wo du bingebft, Bengel?“
„Ihre Redeweiſe ift ja recht niedlih! Man möchte Sie gar
nicht für fo alt halten. Sie Fünnten Ihre Haare zu hundert
Franken das Stück verfaufen, fo würden Sie fünfhundert Sran-
fen verdienen.‘
„Wo du hingehſt, Bandit!!!”
„Häßliche Worte, häßliche Worte! Man wird Sie nötigen
müſſen, ſich einer feineren Sprache zu bedienen.“
Der Sergeant fällte das Bajonett.
„Jetzt wirſt du ſagen, wo du hingehſt, elender Schuft!“
„Herr General, ich hole den Arzt, denn meine Frau liegt in
den Wehen.“
„Ins Gewehr!“ brüllte der Sergeant.
Zur Rettung das benützen, was uns ins Verderben geſtürzt
hat, iſt eine bewährte Methode ſtarker Menſchen. Gavroche
überſchaute ſofort die Situation. Dieſer Karren hatte ihn kom—
promittiert, er würde ihn jetzt ſchützen. In demſelben Augenblick,
in dem der Sergeant zum Angriff vorging, ſtieß Gavroche ihm
den Wagen mit aller Kraft gegen den Bauch, ſo daß der Feind
auf das Pflaſter fiel, wobei ſein Gewehr ſich in die Luft
entlud.
Die Wachtpoſten waren auf den Alarm des Sergeanten Hals
über Kopf herbeigeeilt. Als ſie dieſen Schuß hörten, begannen
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fie wütend zu feuern. Diefes Gefecht gegen Unbefannt dauerte
eine gute DViertelftunde und brachte einige Fenfterfcheiben zur
Strede.
Inzwiſchen rannte Gavrode, was feine Beine bergaben, da-
von und erreichte Éeucdend den Prellftein an der Ede der
Enfonts-Rouges.
Hier lauſchte er.
Dann feste er fich wieder in Trab.
Der Poften aber hatte niht ohne Ergebnis gekämpft. Ein
Karren wurde erbeutet, ein DBetrunfener gefangengenommen.
Den Karren bradhte man in den Pfandftall, ben Betrunfenen
übergab man der Juſtiz. Er wurde als Komplice der Revo—
Iutionäre vor das Kriegsgericht geftellt. Bei diefer Gelegenheit
gab bas Minifterium neuerliche Beweiſe von feinem unermiid-
lihen Eifer für die Verteidigung der menfhlihen Gefellichaft.
Das Abenteuer Gavrodes ift im Stadtviertel des Temple
nicht vergeflen worden. Es gehört zu ben fohredlihften Erinne-
rungen der alten Bürger des Marais und heißt in ihrem An-
denfen nod heute:
„Der nächtliche Überfall auf den Poften in der Königlichen
Druckerei.‘
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Jean Daljean
Erstes Buch
Line Schlacht zwiſchen vier Wänden
1. Doffnungen flafern auf und verlöſchen
Die Nevolutionäre bemühten fih unter Auffiht Enjolras’ —
denn Marius Fümmerte fi) um nichts mehr — , die Nacht aus-
zunüßen fo gut es ging. Die Darrifade wurde nicht nur aus-
gebeffert, fondern auch verftärft. Man erhöhte fie um zwei Fuß
und pflanzte Eifenftangen in fie, die wie Tanzen aus den Pfla-
fterfteinen bervorragten. Allerlei Schutt und Abfall wurde dar-
übergeftreut, um die Erfteigung unmöglih zu machen. Gegen
innen wurde die Wehr wie eine Mauer gefeftigt, gegen außen
mit Strauchwerf verkleidet. Auch wurde die fteinerne Treppe,
die von innen auf die Böſchung hinaufführte wie auf die Mauer
einer Zitadelle, erneuert.
Nachdem die Barrifade folhermaßen wieder inftand gefeßt
war, brachte man die Gaftftube in Ordnung, richtete in der
Küche eine Ambulanz ein und forgte dafür, daß alle Verwun—
deten verbunden wurden. Das Pulver, dag auf der Erde und
auf den Tifehen verftreut worden war, wurde gefammelt, man
goß Kugeln, fabrizierte Patronen, zupfte Scharpie, verteilte die
Maffen der Gefallenen, fhaffte die Leihen fort.
Die Toten wurden in der Rue Mondetour, die man ja immer
noch beherrfchte, zu einem Haufen aufgefhichtet. Das Pflafter
biefer Éleinen Gaffe ift noch lange nachher rot gewefen. Unter
den Zoten fand man vier Notionalgardiften. Enjolras ließ ihnen
die Uniformen ausziehen.
Er hatte zwei Stunden Schlaf anbefohlen. Doch Éonnten die
meiften Feine Ruhe finden. Die drei Frauen benüßten die Nacht,
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um endgültig zu verfhwinden. Sie fanden ein Mittel, in ein
Nachbarhaus zu gelangen, und überließen „Corinthe“ den Re—
volutionären, die fich jeßt weniger behindert fanden. Die Deichfel
des Omnibuffes war zwar von den Kugeln befchädigt, aber nod)
immer ftarf genug, um eine Sahne zu tragen. Enjolras, der die
Führereigenfchaft befaß, zu tun, was er vorher fagte, befeftigte
an ihr den zerlöcherten und blutbededten Mod des toten Ma—
beuf. Die meiften der Verwundeten wollten weiterfämpfen. Auf
einer Matrabe und einigen Strohfäden lagen in der Küche fünf
Schwerverlekte, darunter zwei Munizipalgardiften.
An eine Mahlzeit war nicht zu denken. Weder Fleifch noch
Brot war aufzutreiben. Die fünfzig Männer hatten in den
ſechzehn Stunden, die fie bereits auf der Barrifade zubrachten,
alle Vorräte des Wirtshaufes aufgebraudt.
Da man nichts zu eflen hatte, wollte Enjolras aud nicht er-
fauben, daß getrunfen werde. Er verbot den Genuß von Wein
und rafionierte den Branntwein.
Im Keller hatte man fünfzehn hermetiſch verichloffene Fla—
Shen gefunden. Enjolras Eonfiszierte fie troß des lebhaften all-
gemeinen Einſpruchs und ließ fie auf den Tiſch ftellen, auf dem
Mabeuf lag. Gegen zwei Uhr morgens wurde eine Zählung der
fompffähigen Männer vorgenommen. Man fand ihrer noi
fiebenunddreißig.
Bald darauf graute der Morgen. Die Fadel wurde verlöſcht.
Das Vnnere der Parrifade, eine Art Éleiner Hof inmitten der
Straße, lag nod immer im Dunfel und gli in der erften
Dämmerung dem Ded eines Schiffes, das Maft und Iafelwerf
verloren bat. Die Kämpfer gingen wie fhwarze Schatten bin
und her. Über diefem finfteren Platz tauchten im erften Licht—
fhimmer die fablen Faſſaden der Häufer auf, und etwas heller,
in der Höhe, die Schornfteine.
„Ich bin frob, daß diefe Tadel gelöſcht ift‘‘, fagte Courfevrac
zu Feuilly. „Sie fladerte, als ob fie Angft hätte.‘
Die Morgenröte medte die Geifter wie die Vögel. Man
unterhielt fich lebhaft.
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Joly bemerfte eine Kae auf einer Dachrinne und fagte:
„Bas ift eigentlich die Kate? Eine Korreftur der Schöp-
fung. Als der liebe Gott die Maus gefchaffen hatte, fagte er:
Hola, da babe ich mich vergaloppiert. Die Katze ift gewiſſer—
maßen die Berichtigung des Irrtums Maus. Kake plus Maus
ftellt einen Beweis dafür dar, daß wir die Schöpfung heufe in
revidierter und Forrigierter Auflage vor ung haben.’
2. Doffnungen flammen auf und verlöſchen
Inzwiſchen unternahm Enjolras einen Nefognofzierungsgang.
Er drang an den Häufern der Nue Mondetour entlang gegen
die Hallen zu vor.
Die Nevolutionäre waren, wir müflen es offen jagen, befter
Hoffnung. Die Art, wie der nächtliche Angriff zurücgefchlagen
worden war, veranlaßte fie, den Angriff des Fommenden Tages
im voraus zu unterfohäßen. Sie erwarteten ihn mit Lächeln.
Set zweifelte Feiner mehr am endgültigen Erfolg ihrer Sache.
Überdies ftand bei ihnen feft, daß Hilfe fommen würde. Darauf
rechneten fie in voller Sicherheit. Mit diefer Leichtigkeit, eine
firahlende Zukunft vorauszufehen, die den franzöfifhen Kämpfer
auszeichnet, teilten fie bereits den nächſten Tag in drei beftimmte
Dhafen ein: um fechs Uhr morgens würde ein Regiment, das
‚man bearbeitet hatte”, zu den Nebellen übergehen. Um Mittag
Fame dann die Erhebung von ganz Paris, gegen Sonnenunter-
gang würde die Sache der Revolution durchgefochten fein.
Auch Tieß fi noch immer die Sturmglode von Saint-Merry
hören, was bewies, daß die andere, große Barrifade — die
Jeannes — ſich noch immer hielt.
Mit vergniigtem Flüftern taufchte man diefe Hoffnungen und
Beobachtungen aus.
est Eehrte Enjolras zurück. Einen Augenblicf lang hörte er
mit gefreuzten Armen den fröhlihen Schwäßern zu, dann
jagte er:
„Die ganze Armee in Paris folgt dem König. Ein Drittel
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der Armee wird gegen unfere Barrikade aufgeboten. Dazu
kommt no die Nationalgarde. Sch fab die Tſchakos des fünften
Linienregiments und die Feldzeichen der fechften Legion. Binnen
einer Stunde werdet ihr angegriffen. Was das Volk betrifft,
fo bat es geftern Lärm gefchlagen, heute aber rührt es fich nicht.
Weder ein Negiment nod eine Vorſtadt hält eg mit uns. hr
feid von den Brüdern verlaffen!//
Diefe Worte fielen auf die plaudernden Gruppen wie die
erften Tropfen eines Gemitterregens. Alle verftummten. Es gab
einen Augenblick unbefhreiblihen Schweigens, in dem man
glauben Eonnte, die Flügel des Todes raufchen zu hören.
Aber diefer Augenblick währte nur Furz.
Aus dem dunflen Hintergrund rief jemand: ‚Sei es darum!
Mir bauen die Barrifade zwanzig Fuß hoch, und dann bleiben
wir eben alle bier. Bürger, unfere Leichen werden ein Proteft
fein; wenn das Volk die Nepublifaner verläßt, jo verlaffen die
Mepublifaner nicht das Volk: das müffen wir ibm beweiſen.“
Diefe unbeugfame Entfchloffenheit Tag an jenem 6. Juni 1832
fo febr in der Luft, daß zur felben Stunde auf der Barrikade
von Saint-Merry jener hiftorifch gewordene Schwur geleiftet
werden konnte:
„Ob man uns zu Hilfe Fommt oder nicht — wir wollen hier
fterben, vom Erften bis zum Letzten!“
Der Lefer fieht, daß die beiden Barrifaden, wenn aud räum-
lich voneinander getrennt, doch in Verbindung ftanden.
3. Fünf Mann weniger, einer mehr
Nachdem diefer Unbekannte, der vom Droteft der Leichname
gefprochen, den Ausdruck gefunden hatte für bas, was in biefem
Augenblick alle empfanden, fielen alle in einen zugleich trium-
phierenden und düfteren Ruf ein:
„Es lebe der Tod! Wir bleiben alle!‘
„Barum alle?! fragte Enjolras.
„Alle, alle!”
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„Die Stellung ift gut, fagte Enjolras, ‚die Barrifade ftarf.
Dreifig Mann genügen zu ihrer Verteidigung. Warum wollt
ihr vierzig opfern?‘
Weil Feiner unter uns ift, der geben will.”
‚Bürger, rief Enjolras mit zitternder Stimme, in der faft
etwas wie Zorn mitklang, ‚die Nepublif ift nicht fo reih an
Menfhen, daß fie fi) unnüse Verſchwendung leiften darf. Der
Ruhm als folher ift ein Popanz. Wenn einige unter ung die
Pflicht haben, zu gehen, fo muß diefer Pflicht wie jeder andern
gefolgt werden.”
Enjolrag, diefer Prinzipienmann, hatte unter feinen Ge-
finnungsfreunden ein fo hohes Anfehen, wie eg nur aus dem
abfoluten Willen hervorgehen kann. Doch murrten alle.
Aber Enjolras war Führer burd und durd. Als er fab, daß
einige wider ibn murrten, bebarrte er bei feinem Willen.
„Die unter euch, die fich fürchten, nur dreißig zu fein, mögen
fi melden.’
Der Einfprud wurde lauter.
‚Übrigens ift es ja leicht,’ bemerkte einer, ‚von Weggehen
zu ſprechen. Wir find blockiert.“
„Sicht in der Richtung gegen die Hallen”, erklärte Enjolras.
„Die Mue de Mondetour ift noch offen, und man Éann durd
die Mue des Preheurs zum Markt des Innocents gelangen.”
„And dort wird man gefaßt. Gewiß fällt man irgendeiner
Mache in die Hände. Wenn die Kerle einen Mann in Arbeiter-
blufe und Mütze fehen, werden fie fragen: Von wo fommft bu?
Etwa von der Barrifade? Dann fieht man dir auf die Hände,
riecht bas Pulver — du wirft erfchoffen.”
Enjolras berührte, ohne zu antworten, Combeferres Schul-
ter, und die beiden traten in bas Gaftzimmer.
Gleich darauf Famen fie zurück. Œnjolras trug in feinen beiden
Händen die vier Uniformen, die er den Gefallenen abgenommen
hatte, Combeferres brachte das Gurtzeug und die Tſchakos.
„Mit diefen Uniformen‘, erklärte Œnjolras, ,,fpasiert man
40 Hugo, Die Elenden. 625
quer dur die Feinde binburd und entfblüpft. So Fünnen zu-
nächft vier gerettet werden.‘
Und er warf die vier Uniformen auf den Boden.
„Hört, rief jeßt Combeferre, ‚ihr müßt ein Einfehen haben.
Begreift ihr denn, worum es fib handelt? Sind unter eu
welche, die Frauen haben, ja oder nein? Und Kinder? Und Müt—
ter, die mit dem Fuß die Wiege treten und einen Haufen
Kleiner um fi haben? Wer unter eud niemals den Buſen
einer nährenden Frau gefehen bat, der möge die Hand heben!
Ihr wollt euh töten laffen? Gut, bas will ich auch, aber ich will
dabei nicht die Gefpenfter von Frauen dabei haben, die ver-
zweifelt die Arme ringen. Um eud geht es nicht! Wir willen,
wer ihr feid. hr feid alle tapfer, gewiß, jeder von euch ift be-
reit, fein Leben für die Sache herzugeben! Wir wiffen auch, daß
feiner unter euch ift, der ſich nicht auserwählt fühlt, nußbrin-
gend und berrli zu fterben, und dadurch feinen Teil am
Zriumph haben will. Aber wartet: ihr feid nicht allein auf der
Melt. Es gibt noch andere, an die ihr denfen müßt. Ihr dürft
nicht egoiftifch Handeln.”
Alle neigten mit düfterer Miene den Kopf.
In folhen Augenblicken ift das Menfchenherz feltfamer Wider—
ſprüche voll. Combeferre, der fo ſprach, war felbft Feine Waife.
Er, der fih der Mütter der andern erinnerte, vergaß darüber
die feine. Er wollte fterben, er war alfo „ein Egoiſt“.
Inzwiſchen war Marius, den der Hunger und bas Fieber
quälte, in einen Zuftand vollfommener Soffnungslofigfeit ver-
follen. Der Schmerz und die Erwartung des bevorftehenden
Untergangs hatten ibn in jenen Zuftand traumhafter Starrheit
verfeßt, der dem freiwilligen Untergang voranzugehen pflegt.
Er hörte die Stimmen wie aus weiter Ferne, fab das Kom-
men und Geben der Leute wie im Flimmer allzu grellen Lichte.
est aber war er gerührt. In diefer Szene des Wettſtreits
derer, die fterben wollten, war ein Stachel, der bis zu feinem
Herzen drang und ihn weckte. Er hatte nur mehr einen Gedanken,
zu fterben; aber er bedachte in feinem fomnambulen Zuftand,
626
daB es aud einem Sterbenden nicht verfagt fein Éann, einen
andern zu retten.
„Enjolras und Kombeferre haben recht”, fagte er. „Unnütze
Dpfer wollen wir vermeiden. Und wir müffen uns beeilen. Was
Combeferre gefagt bat, erlaubt Feine Widerrede. Unter euch find
Männer, die Mütter, Schweftern, Frauen und Kinder haben.
Sie mögen vortreten.”
Keiner rübrte fi.
‚Die verheirateten Männer und Familienernährer follen vor-
treten!’ wiederholte Marius.
„Ich befeble es euch!” fhrie Enjolras.
„Ich bitte euch darum’, fagte Marius.
Endlich begannen diefe Helden zu einem Entfehluß zu Éom-
men. Sie denungierten einer ben andern.
„Es ift ganz richtig, fagte ein junger Mann zu einem älte-
ren, „du bift Familienvater, geb.”
„Und du mußt viel eher geben als ich,” erwiderte der andere,
„du ernährft zwei Schweftern.”
Vebt begann ein neuer Kampf.
„Beeilt euch, fagte Courfeprac, „in einer DViertelftunde ift
es zu ſpät.“
„Bürger, erflärte Enjolras, ,,bei uns ift Republik, bier
entfcheidet die Abftimmung. hr felbft follt jene beftimmen, die
gehen.”
Man geborchte. Nach wenigen Sekunden hatte man die Wahl
getroffen.
„Es find ihrer fünf”, zählte Marius.
Aber man befaß nur vier Uniformen.
„But, riefen die fünf wie aus einer Kehle, „da muß einer
von ung bleiben.”
Menerlic begann der edle Wettftreit.
„Macht raſch!“ wiederholte dringender Eourfeyrac.
Marius trat auf die fünf zu, die ihm zulächelten und alle die
große Flamme der Kämpfer von den Thermopylen in den Augen
hatten, als fie ihm entgegenriefen:
40* 627
„Mich! Nimm mid!‘
In diefem Augenbli wurde, als ob fie vom Himmel fiele,
eine fünfte Uniform zu den vier anderen geworfen.
Marius blidte auf und erfannte Fauchelevent. Sean Valjean
war auf der Barrifade erfhienen. nftinft und Glück hatte ibn
in die Nue Mondetour gelenkt, und dank feiner Mational-
gardiftenuniform hatte man ihn überall burbgelaffen.
In der Mue Mondetour war er bem Poften der Ynfurgenten
begegnet, der aber wegen eines einzigen Motionalgardiften nicht
Lärm fchlagen wollte. Überdies war die Situation zu fehwierig,
um wegen eines Mannes den Poften zu verlaffen.
As Jean Valjean fib unter die Kämpfer mengte, hatte
feiner auf ihn geachtet, da alle mit der Wahl derer befhäftigt
waren, die fi retten follten. jean Valjean hatte ſchweigend zu-
gehört, dann feine Uniform abgelegt und zu den anderen ge
worfen.
Ber ift dag?’ fragte Boffuet.
„Einer, der für einen anderen einfpringt‘‘, erwiderte Combe-
ferre.
Marius fügte ernft hinzu:
„Ich Éenne ihn.’
Diefe Bürgfhaft genügte allen.
Enjolras trat zu Sean Valjean:
„Seien Sie willfommen, Bürger. Daß wir bier alle fterben
müffen, wiflen Sie doch?“
Sean DBaljean antwortete nicht, fondern half dem In—
furgenten, der die Uniform anlegte, in den Mod.
4. Die Tage verfhlimmertfid
Marius dachte nur fehmerzlich bewegt an Cofette.
Mie war Fauchelevent hierher gefommen? Und warum? Was
wollte er?
Marius ermog diefe Frage faum. Wenn ein Menfh ver-
zweifelt ift, verfpinnt er fid fo in feinen eigenen Seelenzuftand,
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daß es ihm höchſt logiſch erfheint, wenn alle andern aud fterben
wollen.
Übrigens richtete Fauchelevent nicht das Wort an ibn, fab
ihn nicht einmal an. Als Marius gefagt hatte, daß er ihn Éenne,
ſchien es, daß Fauchelevent ihn nicht einmal gehört hatte.
Diefe Haltung war Marius angenehm. Es [bien ihm nod
immer vollfommen unmöglid, biefen rätfelhaften Mann, vor
dem er zugleih Ehrfurdt und Schreden empfand, anzureden.
Überdies hatte er ibn fehr lange nicht gefeben. Und ſeine ſchüch—
terne, zurücfgezogene Art verftärfte diefen Widerwillen.
Die fünf Ausgeloften verließen die Barrifade. An nichts war
zu erfennen, daB man es nidt mit Mationalgardiften zu fun
hatte. Einer meinte,
est date Enjolras aud an den zum Iode Verurteilten. Er
trat in bas Gaftzimmer. Javert war nod immer an feinen Pfei—
ler gebunden und brütete vor fid bin.
nBerlangft du irgend etwas?’ fragte ihn Enjolras.
„Bann werdet ihr mic umbringen?’
„Warte no ein wenig. Borderband find unfere Patronen zu
koſtbar.“
„Gut, dann gebt mir etwas zu trinken.“
Enjolras hielt ſelbſt das Glas, während der Gefeſſelte trank.
„Iſt das alles?“ fragte Enjolras.
„Ich fühle mich hier recht übel“, erwiderte Javert. „Es iſt
nicht beſonders nett von euch, daß ihr mich eine Nacht an die—
ſem Pfeiler ſtehenlaßt. Ihr könnt mich ja anbinden, wenn ihr
wollt, aber ihr ſolltet mich liegenlaſſen wie den andern.“
Und er deutete auf Mabeuf.
Auf Enjolras' Befehl banden vier Inſurgenten Javert von
ſeinem Pfeiler los. Man ließ ſeine Hände auf dem Rücken ge—
feſſelt, band jetzt auch die Beine mit einem dünnen, aber ſcharfen
Strick, ſo daß er nur kurze Schritte machen konnte wie ein
Delinquent, der zum Schafott hinaufſteigt. Dann ließ man ihn
zum Tiſch gehen, legte ihn darauf und ſchnallte ihn feſt.
Während man Javert band, erſchien ein Mann auf der
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Schwelle und fab aufmerffam zu. Javert wandte fit nad ibm
um. Er 309 die Brauen bod und erfannte Valjean. Stolz ließ
er die Liber wieder berabfallen und fagte:
„Natürlich!“
Jetzt wurde es raſch Tag. Aber kein Fenſter, keine Türe ging
auf. Heute brachte die Morgenröte nicht das Erwachen der
Straße. Die Truppen hatten ſich aus der Rue de Ina Chanvrerie
zurücgezogen, die jeßt in unheimlicher Ruhe dalag.
Man fab und hörte niemand. Doch ging in einiger Entfer-
nung etwas Geheimnisvolles vor fih. Der Eritifhe Augenblick
nabte fihtlich. Poften wurden abgelöft — diesmal alle.
Die Barrifade war jest viel ftärfer als beim erften Angriff.
Mad dem Abgang der fünf hatte man fie neuerlich erhöht.
Auf Anraten des Poftens, der die Gegend der Markthalle
beobachtet hatte, faßte Enjolras, der jeßt doch einen Angriff im
Rücken fürdhtete, einen fchweren Entfehluß. Er lief in der Rue
Monbétour, die big jeßt frei gewefen war, eine Éleine dritte
Barrifade errichten. So war man jeßt nad) drei Seiten hin ver-
barrifodiert.
„Eine Seftung — und zugleich eine Mauſefalle“, erklärte
Courfeyrac lächeln.
Schließlich lief Enjolras neben der Tür des Wirtshaufes
etwa dreißig Pflafterfteine, die überzählig waren, bereitlegen.
Mad der Richtung bin, von der der Angriff Fommen mußte,
herrfchte tiefftes Schweigen.
Jeder Kämpfer erhielt eine Nation Branntwein.
Nichts ift feltfamer als eine Barrifade, die zur Abwehr eines
Angriffs rüftet. jeder wählt feinen las wie im Ihenter. Man
lehnt fit an, ftüßt den Ellbogen auf eine Unterlage. Diele
richten es fo ein, daß fie fisenb Fampfen Fönnen. Man will be-
quem töten und mit Komfort fterben.
Sobald bas Zeichen zur höchſten Kampfbereitfchaft gegeben
ift, rührt fi Feiner mehr. Jetzt find alle Nerven angefpannt.
Pat früher das Chaos geherrfcht, fo fest fih jest Difziplin
durch. Die Gefahr fhafft Ordnung.
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Im übrigen waren die Verteidiger diefer Barrikade ftolzer
und zuverfihtlicher als je. Die höchſte Opferbereitſchaft ift auch
eine innere Stärkung. Wenn man Feine Hoffnung mehr bat, fo
weiß man fih wenigftens im Beſitz eines letzten Gutes — der
Verzweiflung. Sie ift eine Waffe, die manchmal zum Siege
führt. Schon Virgil bat es gefagt. Außerſte Entſchlüſſe er-
Schließen erftaunlidfte Silfsquellen. Sih in den Rachen des
Todes zu flürzen, ift oft ein Mittel, bem Schiffbruch zu ent-
gehen; der Dedfel des Sarges Fann bas ‘Brett werden, an das
wir uns Élammern und bas ung die Rettung bringt.
Nicht lange warteten die Derteidiger der Barrikade. Zuerft
war von Saint-Leu herüber eine Bewegung zu bemerfen, aber
fie war jener unähnlid, die den vorigen Angriff eingeleitet
hatte. Es war wie ein Klirren von Ketten. Irgendein unheim-
lihes Mordgerät wurde berangefchleppt. Diefe friedlichen
Straßen, die einem ruhigen Derfehr geweiht waren, zitferten
unter dem Rollen der Mäder des Krieges.
Alle Augen waren auf den Ausgang der Straße gerichtet.
Eine Kanone tauchte auf.
Die Artilleriften zogen fie heran. Sie war fchußbereit, die
Prose abgenommen. Zwei Leute hielten die Lafette, vier waren
on den Nädern. Andere folgten mit dem Munitionsfaften. Die
Lunte brannte bereits.
„Feuer!“ rief Enjolras.
Die ganze Barrifade fpie Feuer aus, und dag Getöfe war
furchtbar; eine Rauchwolke ftieg auf. Als fie fid) verzog, tauchte
die Kanone wieder auf. Die Soldaten, die fie bedienten, fuhren
fort, fit an ihr zu betätigen, ruhig und ohne Haft. Keiner war
getroffen. Der Kommandant drückte, ernft wie ein Aftronom,
der bas Fernrohr einftellt, auf den Nücfhalter, um den Schuß
höher zu richten.
„Bravo, Kanoniere!“ fehrie Boſſuet.
Alle Leute auf der Barrikade klatſchten in die Hände.
Und ſchon ſtand das Geſchütz ſchußbereit inmitten der Straße
der Barrikade gegenüber. hr furdtbarer Schlund drohte.
631
„Vorwärts, luſtig!“ rief Courfevrac, „nach dem Hundegefläff
das Bärengebrumm! Die Armee ftredft ihre große Take nad
uns aus. Unfere Barrifade wird ordentlich durchgerüttelt wer-
den. Das Gewehrfeuer bat ung abgetaftet, die Kanone greift zu.‘
„Es ift ein Adhtpfünder, ein neues Bronzemodell“, erflärte
Combeferre. „Dieſe Geſchütze plagen leicht, wenn man bas Le-
gierungsverhältnis — zehn Prozent Zinn auf hundert Kupfer
— verändert. Zuviel Zinn macht das Metall weich.”
„Ladet eure Gewehre!” rief Enjolras.
Mie würde die Barrifade dem Gefhüs widerftehen? Mußten
die Kugeln nicht eine Breſche fchlagen? Das war die Frage.
Mährend die nfurgenten wieder ihre Slinten luden, machten
die Artilleriften ihre Kanone fchußbereit.
Der Schuß fiel — eine furdtbare Detonation folgte ihm.
„Schon da!” rief eine vergnügte Stimme.
Es war Gavroche, der die Kugel herbeifchleppte.
Sein Erfheinen wirfte auf alle — die Verteidiger der Par-
rifade begannen zu lachen.
„Fortſetzung!“ brüllte Boffuet den Artilleriften zu.
5. Die Artilleriften wollen ernft
genommen werden
Alle umringten Gavroche.
Aber ihm blieb Faum Zeit, zu erzählen. Marius 309 ihn
beifeite.
„Bas fubft du hier?‘
„Na, und Sie?”
Streng fragte Marius:
„Wer bat dir gefagt, daß du wiederfommen folft? Haft du
wenigftens meinen Brief beſorgt?“
Was diefen Brief anging, war Gavroches Gewiſſen nicht
ganz rein. In feiner Haft, wieder zur Barrikade zurücdzufom-
men, hatte er fi den Brief eher vom Halfe gefchafft als ihn
632
beſtellt. Insgeheim mußte er fi fagen, daB er ibn etwas leicht-
fertig jenem Unbefannten anvertraut hatte, beffen Gefiht er
nicht einmal gefeben. Wohl hatte jener Mann feinen Hut ge-
tragen, aber das war ja no Fein Beweis. Er fheute Vorwürfe
Marius’. Um fih aus der Klemme zu befreien, tat er, was am
nächſten lag: er log war dag Zeug hielt.
„Bürger, fagte er, „ich babe den Brief dem Dortier ge-
geben. Die Dame fohlief fhon. Wenn fie aufwacht, wird fie den
Brief haben.’
As Marius diefes Schreiben abfandte, hatten ihm zwei Ziele
vorgefhiwebt: fih von Eofette zu verabfhieden und Gavrode zu
retten. Er mußte zufrieden fein, daB er wenigitens das eine er-
reicht hatte.
Immerhin brachte ihn die Anwefenheit Fauchelevents auf eine
feltfame Gedanfenverbindung. Er zeigte Gavrode den Meuan-
kömmling und fragte:
nRennft du diefen Mann?”
„Nein.“
Gavroche hatte ja Jean Valjean wirklich in der Dunkelheit
nicht deutlich geſehen.
Die peinlichen und überängſtlichen Befürchtungen Marius’
wichen. Kannte er Fauchelevents politiſche Anſichten? Vielleicht
war dieſer Mann wirklich ein Republikaner. Dann war ja
weiter nichts Verwunderliches daran, daß er hier erſchienen war.
Schon war Gavroche auf der Barrikade erſchienen und ver—
langte energiſch nach ſeinem Gewehr.
Courfeyrac ließ es ibm geben. Nun erzählte Gavroche feinen
„Kameraden“, wie er fie nannte, daB die Barrifade vollfommen
eingefreift fei. Nur mit größter Mühe hatte er fi noch durd-
geihmuggelt. Ein Bataillon Linieninfanterie, deffen Gewehr—
pyramiden in der Rue de Ia Petite-Truanderie ftanden, beob-
adıtete den Zugang von der Rue du Cygne. Auf der anderen
Seite hielten Munizipalgardiften die Nue des Precheurs befest.
Vor fi) hatte man die Kerntruppe der Armee.
Enjolras ftand horchend auf feinem Beobadtungspoften.
633
Die Pelagerer fhienen mit der Wirkung ihres Schuffes nibt |
fonderlid zufrieden, denn fie wiederholten ibn nicht. |
Eine Kompanie Linieninfanterie erfhien jest am Ende der |
Straße hinter der Kanone. Die Soldaten riffen das Pflafter |
auf und errichteten daraus eine Éleine Schukmauer von etwa |
achtzehn Zoll Höhe. |
Enjolras glaubte jenes eigentümliche Geräuſch zu erfennen,
das entfteht, wenn Kartätfhenmunition aus den Käften geholt |
wird. Auch fab er, daB der Kommandant die Kanone gegen linfs
richtete. Dann wurde fie wieder geladen. Der Kommandant hielt |
jelbft die Lunte und näherte fie der Zündſchnur.
„Köpfe herunter!’ rief Enjolras, ‚‚Eniet alle nieder!’
Die Snfurgenten, die vor dem Wirtshaus an der Wand ftan- |
den, eilten alle auf die Barrikade zu. Aber bevor Enjolrae’ Be- |
fehl ausgeführt war, fpie die Kanone mit furchtbarem Getöfe |
eine Ladung Kartätfchen aus.
Sie war gegen die freigelafiene Lüde der Sauptihange ge- |
richtet. Knapp über ihr prallte fie von der Wand ab, tötete zwei |
Männer und verwundete drei.
Die Barrifade war nicht mehr zu halten.
Beftürzung bemächtigte fi) der Verteidiger.
„Wir müſſen um jeden Preis den nädhften Schuß verhin-
dern”, fagte Enjolras.
Er Iegte an, zielte auf den Kommandanten des Gefchüßes,
der fi eben über den Rückhalter der Kanone beugte und vifierte.
Es war ein gufgewachfener Artilleriefergeant, ein ganz junger,
blonder Menſch mit klugem Geficht, wie man es bei diefer furdt-
barften aller Waffen oft findet, die das Gemesel fo fürdter-
lich macht, bis es bereinft erftict.
Combeferre ftand neben Enjolras und betrachtete den jungen
Mann.
„Schade, fagte er, ‚wie fheuflih ift doch diefes Blutver—
gießen! Nun, wenn es aus fein wird mit biefen Königen, wird
es auch Feine Kriege mehr geben. Du zielft da auf diefen
Sergeanten, ftatt ibn anzufehen, Enjolras. Stell’ dir vor, daß
634
er ein liebenswürdiger junger Mann ift, ein tapferer Kerl. Man
fiebt ibm an, daß er Verſtand bat. Die Artilleriften find immer
gebildet. Gewiß bat er einen Vater, eine Mutter, Familie.
Wahrſcheinlich ift er verliebt. Und dabei ift er höchſtens fünf-
undzwanzig Jahre alt. Er könnte dein Bruder fein.‘
„Er ift es“, fagte Enjolras.
„But, dann wollen wir ihn nicht töten.”
„Laß mich. Was gefchehen muß, fol geſchehen.“
Langfam glitt eine Träne über Enjolras Marmormwange.
Und im felben Augenblick ſchoß er.
Der Artillerift drehte fih zweimal um fich felbft, ſtreckte die
Arme aus, bob den Kopf, als ob er atmen wolle und Follerte
dann über dag Geſchütz.
Die Kugel hatte ihn in die Bruft gefchoflen.
6. Einer, der feinen verfehlt und niemand
tötet
Das Feuer der Velagerer hielt an. Gewehre und Kugel-
ſpritzen wechſelten ab. Doch richteten fie Eeinen ernften Schaden
an. Mur die Faflade des „Corinthe“ Titt.
Es ift übrigens eine altbewährte Taktik im Barrifadenfampf,
daß man die Schießvorbereitung lange ausdehnt, um die Ynfur-
genten zum Verbrauch ihrer Munition zu verführen. Es ift ein
großer Fehler, wenn die Männer auf der Varrifade bas Feuer
erwidern. Dann wartet der Angreifer, bis er fieht, daB die
Gegenwehr ſchwächer wird, und unternimmt den Sturm gegen
einen Feind, dem es bereits an Pulver und an Kugeln fehlt.
Enjolras beging diefen Fehler nicht. Die Leute auf der Bar—
rifade beantworteten bas Feuer kaum.
Möglicherweiſe beunruhigte diefes Schweigen die Belagerer.
Sie fürchteten vielleicht einen unvorbergefebenen Gegenzug des
Feindes. Vebenfalls wollten fie in Erfahrung bringen, was
hinter der Schußwehr vorging.
Plötzlich ſahen die Inſurgenten auf einem Nahbardach den
Helm eines Feuerwehrmannes in der Sonne blinfen,
635
„Das ift ein Wächter, den wir ganz und gar nicht brauchen
fönnen’’, fagte Enjolras.
Sean Daljean nahm fein Gewehr und legte auf den Feuer-
wehrmann an. Eine Sekunde fpäter Éollerte der Helm auf die
Straße. Der erfhrodene Beobachter verfhwand in voller Haft.
Ein zweiter Beobachter erfchien. Diesmal war e8 ein Offi-
zier. Aber fon hatte Sean Daljean wieder geladen. Er ſchoß
und ließ dem Tſchako den Helm folgen. Der Offizier zeigte fic
nicht bebarrlih. Eiligft zog er fich zurüd. Diesmal war die un-
mißverftändlide Warnung begriffen worden. Niemand erfchien
mehr auf dem Da.
„Warum haben Sie den Menfchen nicht abgefchoflen?”’ fragte
Boſſuet Jean Valjean.
Aber Jean Valjean antwortete nicht.
7. Die Unordnung als Parteigängerin
der Ordnung
Wer fi no diefer bereits fern zurücfliegenden Zeit erinnert,
weiß, daß die Nationalgardiften fich erbittert mit den Mevolutio-
nären fhlugen. Und gerade in den Junitagen des Jahres 1832
kämpften fie zäh und furtios. Mancher brave Kneipwirt, der
befürchtete, daß fein Lokal in fchlimmen Zeiten einen ſchlechten
Geſchäftsgang aufweifen würde, wurde zum Löwen, wenn er bas
Gaftzimmer leer fab; und er beeilte fi, für die öffentliche Ord—
nung fein Leben einzufeßen. In biefen zugleich bürgerlichen und
heroifchen Iagen hatten die Ybeen ihre Mitter, aber aud die
Sntereffenten ihre Paladine. Mochten die Motive nod fo pro-
faifch fein, fo foht man doc tapfer. ab einer, daß fein Säckel
ein unbeilbares Loc hatte, fo ftimmte er, wenn er aud früher
Bankier gemefen, die Marfeillaife an. Ein anderer vergoß höchſt
poetifh fein Blut, weil er für den Veftand feines Gemwürz-
ladeng fürchtete. Mit dem Mut eines Spartanergs verteidigte
man feine Rafhemme, diefen Deminutiv des Vaterlandes.
Ein anderes Phänomen diefer Zeit: die Anardie bemädhtigte
fit fogar der Verteidiger der Ordnung. Man Fämpfte ohne
636
jegliche Difziplin für ‚das Syſtem“. Der Tambour wartete den
Befehl feines Oberften nicht ab, um zum Sturm zu fommen.
Ein Unterführer befahl den Angriff aus perfönlicher Laune; es
geſchah, daß ein einzelner Nationalgardift fih auf eigene Gefahr
und Rechnung in den Kampf ftürzte. An bewegten Tagen hörte
man weniger auf feine Führer, als man feinem Inſtinkt folgte.
Unter den Freunden der Ordnung gab es wahre Guerillerog,
folhe des Degens wie Fannicot, folhe der Feder wie Henry
de Grèbe.
Am 6. uni 1832 unternahm eine Kompanie Mationalgar-
diften, die unter dem Kommando des Sauptmanns Fannicot
ftand, einen wahnfinnigen Angriff auf die Barrifade in der Rue
de la Cbanvrerie, der fie dezimierte. Diefe feltfame Tatfache ift
ipäter bei dem Gerichtsverfahren, das die Mebellion von 1832
behandelte, ausdrücklich feftgeftellt worden. Fannicot, ein unge-
bulbiger und Fühner Menſch, ein Bürger mit den Vnftinften
eines Kondottiere, Eonnte der Verſuchung nicht widerftehen, die
Barrikade felbft zu erobern — oder wenigfteng mit feiner Kom-
panie. Die rote Fahne und der alte Mod, den er für eine
Ihwarze Flagge hielt, bracten ihn fo außer Nand und Band,
daß er ganz laut die Generäle und Truppenführer, die noch
immer berieten, Seiglinge nannte. Denn die leitenden Köpfe der
Armee hielten den Augenbli für einen entfcheidenden Sturm
noch nicht günftig und wollten, wie fie es nannten, „die Nebellen
in ihrem eigenen Fett fhmoren laſſen“. Er aber, Fannicot, fand
die Barrifade reif, und da alles Reife fallen muß, wollte er fie
ftürgen.
Er verfügte über eine Schar zum Außerften entfchloffener
Leute, richtiger Diefföpfe, wie ein Zeuge fpäter fagte. Seine
Kompanie war es auch gewefen, die Sean Prouvaire füfilierte.
Nun, in einem Augenblick, da man e8 am wenigften erwar-
tete, rannte der Hauptmann plößlich mit feinen Leuten auf die
Barrifade los. Diejes Wagnis, das wohl der gute Wille, aber
nicht ftrategifcher Verſtand leitete, Eoftete die Kompanie Fanni-
cof viel Blut. Bevor fie noch zwei Drittel der Straße durd-
637
meflen bafte, wurde fie von einer Salve empfangen. Dier der
Zapferften, die an der Spiße liefen, brachen zufommen, und die
andern, fo Fühn fie aud waren, befaßen nicht jene Zähigkeit, die
den wirfliden Soldaten auszeichnet. Nach kurzem Zögern
wandten fie fih zur Flucht und ließen fünfzehn Tote auf dem
Pas. Selbft die Eure Verzögerung gab den Inſurgenten Zeit,
ihre Waffen neu zu laden, und eine zweite mörderifche Salve
traf die Kompanie, bevor fie die Straßenede erreicht hatte. Im
felben Augenblick fchoflen die Angreifer mit Feuerfprigen. Die
Batterie hatte nicht aufgehört zu feuern. So gerieten die Matio-
nalgardiften zwifchen zwei Feuer. Der unerfchrodene, tollfühne
Fannicot fiel durch eine Kartätfche, die von feinen Parteifreun-
den abgefchoflen worden war. Die Kanone der Verteidiger der
Drdnung bradte ihn zu Fall.
Enjolras ärgerte fich iiber diefen wüfenden und doc unernften
Angriff.
„Dieſe Trottel“, fagte er, ‚tragen ihr Fell zu Markte und
verbrauchen unfere Munition!”
8. Gavrobedraußen
Plötzlich bemerkte Eourfeyras, daB jemand draußen auf der
Straße, im Kugelregen, bin und her Tief.
Gavrode hatte einen Korb ergriffen, war dur die Lücke
binausgeflettert, und begann jest in aller Ruhe die Patronen-
tafhen der gefallenen Notionalgardiften zu plündern.
„Was tuſt bu da draußen?” rief Courfeyrac.
„Ich Fülle meinen Korb, Bürger.‘
„Siehft du die Rugelfprise nicht?“
„Ach ja, 88 regnet ein wenig.”
„Komm zurück!” fchrie Courfeprac.
„Gleich!“
Etwa zwanzig Tote lagen auf dem Straßenpflaſter. Das be—
deutete für Gavroche zwanzig Patronentaſchen. Reichlich Muni—
tion für die Leute auf der Barrikade.
638
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Mod immer lag der Pulverdampf wie Mebelfhwaden über
der Straße. Nur allmählich verzog er fih. Noch Eonnten die
feindlihen Parteien einander Faum erkennen.
Diefe ſchlechte Sicht lag vielleicht in der Abficht der Führer,
die den Angriff auf die Barrifade vorbereiteten. jedenfalls Fam
fie Gavrode zugute.
Dank feiner geringen Größe konnte er, ohne gefehen zu wer-
den, ziemlich weit in die Straße vordringen. Die fieben oder
acht erften Patronentafchen leerte er ohne befondere Gefahr.
Bald lag er auf bem Bauch, bald kroch er, den Korb zwifchen
den Zähnen, hüpfte auf, fchlängelte fi zwifchen den Toten bin,
leerte eine Patronentafche, wie ein Affe eine Nuß Enadt.
Don der Barrifade, die nicht allzu weit entfernt war, rief
man ihm nicht mehr zu, er folle zurückkommen, denn man wollte
nicht die Aufmerffamfeit der Angreifer auf ibn lenfen.
Bei der Leiche eines Korporals fand er ein Pulverborn.
„Etwas für den Durft”, fagte er.
Jetzt gelangte er in eine Zone, die weniger vom Pulverdampf
abgedichtet war. Plöslich tauchte vor den Schüßen am Ende der
Straße eine undeutlihe Geftalt auf, die ſich im Mebel bewegte.
Gavroche war eben dabei, einen Sergeanten, der neben einem
Prellftein Tag, feines Munitionsvorrats zu berauben. Es fblug
eine Kugel in den Leichnam.
„Verdammt,“ fbrie Gavroche, „bringt mir doch nicht meine
Leihen um!’
Eine zweite fchlug neben ihn auf das Pflafter, daß die
Sunfen fprübten. Eine dritte traf feinen Korb. Gavrobe blickte
auf und fab, daß fie von den Mationalgarbiften auf den Dör-
fern rings um Paris herrührte. Da begann er, fred und in
aller Seelenruhe zu fingen:
„Mon ift häßlich in Nanterre,
Schuld dran ift nur Herr Voltaire,
Blöd ift man in Palaifeau,
Schuld daran ift nur Rouſſeau.“
639
Jetzt nahm er feinen Korb wieder vor und fammelte die
Kugeln, die herausgefallen waren. Ein vierter Schuß verfehlte
ihn. Da fang Gavrode:
„An Voltaire liegt's allein,
Daß ic) Bauer muß fein,
Rouſſeau bats gewollt,
DaB Fein Mädel mir Hold.”
Und fo ging es einige Zeit weiter.
Die Szene war fhredlic und reizvoll zugleich. Gavroche, der
befhoffen wurde, bien die Kugeln zu verfpotten. Es war, als
ob ein Sperling die Jäger picfen wollte. Auf jeden Schuß ant-
wortete er mit einem Couplet. Alle faben ihn, aber jeder ver-
fehlte ihn. Während die Mationalgarbiften und Soldaten auf
ihn zielten, mußten fie lachen. Bald warf er fi) zu Boden, dann
wieder fprang er auf, verfhwand in einem Torbogen, fprang
wieder hervor — und immer wieder fammelte er Patronen,
leerte Taſchen und füllte feinen Korb. Atemlos vor Angft,
folgten ihm die Revolutionäre mit ihren DBliden.
Eine Kugel indeflen, beffer gezielt, traf endlich den ungen.
Man fab Gavrode taumeln und fallen. Alle auf der Barrifade
ſchrien auf. Aber fobald der Straßenjunge auf dem Pflafter lag,
Ihien er neue Kraft zu gewinnen. Sofort richtete er fich wieder
auf. Ein langer Faden Blut lief über fein Gefiht. Dann erhob
er beide Arme, fab nad den Feinden, die auf ihn fhoffen, und
fang ein lettes Mal:
nBoltaire hat’s fo gewollt,
Daß ich einft fallen follt,
Rouſſeau wollt’ es fo wenden,
Daß ih im Dred folt . . .”
Er Éam nicht zu Ende. Eine zweite Kugel brachte ihn zum
Verftummen. Diesmal fiel er mit dem Gefiht aufs Pflafter
und rübrte fit nicht mehr. Die Éleine große Seele war erlofchen.
640
9. Mortuus pater fildumimorıeurum
expeekät
Marius war aus der Barrifade herausgeftürzt. Combeferre
eilte ibm nach. Aber e8 war fhon zu fpät. Gavrodbe war tot.
Combeferre bradte den Korb mit den Patronen ein, Marius
den toten Knaben.
„Ach, was der Bater meinem Dater getan bat, gebe ich dem
Sohn zurück; nur bat Ihenardier meinen Vater lebend heraus-
geholt, ich aber bringe nur einen Zoten ein.‘
Als er mit Gavroche über die Barrifade flieg, war fein Ge-
fibt biutüberftrömt. Als er fi) über den toten Knaben gebeugt
hatte, war eine Kugel fharf an feiner Stirn vorbeigeflogen. Er
hatte kaum darauf geachtet.
Courfeyrae nahm fein Halstuch ab und verband Marius”
Stirn.
Der tote Éleine Gavroche wurde auf denfelben Tifch gelegt,
auf dem Mabeuf lag, und man breitete auch über ihn bas
ſchwarze Tuch. Es reichte für den Greis und für bas Kind.
Combeferre verteilte die erbeuteten Patronen. Jetzt Hatte
jeder fünfzehn Schuß.
Sean Valjean ſaß nod immer auf feinem Prellftein. Als
Combeferre ihm die fünfzehn Kugeln bot, fchüttelte er den Kopf.
„Ein feltener Narr!’ meinte Combeferre zu Enjolras, „ſetzt
fi auf die Barrifade und legt die Hände in den Schoß.”
„Das hindert ihn nicht, etwas für die Verteidigung zu tun’,
meinte Œnjolras.
„Auch der Heroismus hat feine Originale.’
„Dieſer bier ift eine Abart von Vater Mabeuf.“
Wir müffen an diefer Stelle bemerfen, daß das Feuer der
Gegner die Barrifade Faum ftörte. In folhen Kämpfen gefhieht
es wohl, daß wenigftens vorübergehend hinter der Sarrifade
tieffter Friede zu berrfhen fcheint. Man geht auf und ab, plau-
dert und fcherzt.
41 Hugo, Die Elenden. 641
10. Der Geier als Beute
Plötzlich, zwifchen zwei Salven, hörte man aus der Ferne eine |
Surmubr fohlagen. |
„Mittag! rief Combeferre.
Mod war der zwölfte Schlag nicht verhallt, als Enjolras
auffuhr und mit Donnerftimme rief:
‚ragt Pflafterfteine in das Haus! Befeftigt die Fenfter und
Manfarden! Nur die Hälfte bleibt bei den Gewehren. Verliert
feine Minute!‘
Ein Trupp Sappeure war, mit den Arten auf der Schulter,
in Schlachtordnung angerüdt.
Dffenbar bildeten fie die Spike einer Kolonne. Welder?
Derer doch gewiß, die den Hauptangriff führen follte. Und ge-
wiß war es ihre Aufgabe, die Darrifade für den Sturm reif
zu maden.
Der entfheidende Augenblick nabte.
Enjolras’ Befehl wurde fo eilig ausgeführt, wie es nur auf
Schiffen und Barrifaden, Kampfplägen alfo, von denen es fein
Entrinnen gibt, möglich ift. In Faum einer Minute waren zwei
Drittel von den Pflafterfteinen, die Enjolras an der Tür des
„Corinthe“ hatte aufhäufen laffen, in den erften Stock hinauf-
getragen worden. Geſchickt poftiert, bildeten fie bereits nad einer
zweiten Minute Schuswälle, die zur halben Höhe die Fenfter
und Lufen der Manfarde fiberten.
Vest lies Enjolras aud die Flafhen, die unter Mabeufs
Tiſch ftanden, in den erften Stock bringen.
„Wer ſoll das trinken?’ fragte Boffuet.
„Die dort”, erwiderte Enjolras und deutete auf die Feinde.
Dann verbarrifabierte man die Senfter des Erdgefhoffes und
hielt die Eifenftangen in Bereitfchaft, mit denen während des
Nachts die Tür des Wirtshaufes verfichert wurde.
est war die Feftung vollftändig. Die Barrikade ftellte den
Mal, das Wirtshaus den Burgfried dar.
642
Mit den übriggebliebenen Pflafterfteinen wurde die Lüde in
der Barrikade verfperrt.
Die Langfamfeit, mit der der Angriff geführt wurde, hatte
Enjolras inftand gefest, alle möglichen Vorkehrungen zu treffen.
Er begriff, daß der Tod folcher Helden meifterhaft ins Werk
gefeht werden mußte.
„Wir find die Führer‘, fagte er zu Marius. „Ich gebe in das
Haus und ordne alles brin, du bleibft heraußen und paßt auf.”
Marius ftellte ſich alfo auf die Barrifade und beobachtete den
Feind. Enjolras ließ die Küchentür vernageln.
„Die Verwundeten follen nicht unter dem Kampf zu leiden
haben“, fagte er. Dann gab er Furz und ruhig feine letzten Be—
fehle. Seuilly antwortete im Namen der andern.
„Haltet im erften Stock Axte bereit, um die Treppe einzu-
fblagen. Sind welche da?’
„Ja“, erwiderte Feuilly.
„Bie viele?’
„zwei Axte und eine Hacke.“
„Gut, wir find jest fehsundzwanzig Fampffähige Leute. Wie-
viel Gewehre haben wir noch?’
„Vierunddreißig.“
„Alſo acht zuviel. Ladet auch ſie und haltet ſie in Reichweite.
Steckt Säbel und Piſtolen in die Gürtel. Zwanzig Mann blei—
ben auf der Barrikade, ſechs ſollen die Manſarden und Fenſter
des erſten Stocks beſetzt halten. Keiner darf hier bleiben, der
nichts zu fun bat. Auf den erſten Trommelſchlag eilen die
zwanzig zur Barrikade. Wer zuerſt ankommt, hat den beſten
Platz.“
Dann wandte er ſich zu Javert.
„Ich vergeſſe dich nicht.“
Er legte ſeine Piſtole auf den Tiſch.
„Wer als letter hier hinausgeht, ſchießt dem Spitzel eine
Kugel in den Kopf.“
„Hier?“ fragte einer.
41° | 643
‚Dein, feine Leiche gehört nicht zu ben unferen. Man fol ıhn
über die Eleine Sarrifade in die Mue Monbétour führen. Er ift
febr gut gebunden. Dort fann man dann das Urteil vollſtrecken.“
Mur einer im Raum war ebenfo gleihmütig wie Enjolras:
Javert ſelbſt.
In dieſem Augenblick erſchien Jean Valjean.
„Sie haben mir erſt Ihr Lob ausgeſprochen, Kommandant:
denken Sie, daß ich einen Dank verdiene?“
„Gewiß. Verlangen Sie einen?“
644
„Ich möchte diefen Menfhen niederfchießen.‘
Jetzt bob Javert den Kopf, ſah Sean Valjean an und fagte:
„Natürlich!
Enjolras lud inzwifchen wieder feinen Karabiner.
„Hat keiner etwag einzuwenden?’
Und da niemand ein Wort fprab, fagte er zu jean Valjean:
„Der Spibel gehört Ihnen.“
Sean Daljean nahm fein Opfer fofort in Befiß, indem er fi
jelbft auf den Tiſch feßte. Er zog feine Piftole heraus. Ein
Knacken verriet, daß er bereits den Hahn fpannte.
Im felben Augenblif Elang von draußen Trompetenſchall
herein.
„Hierher!“ ſchrie Marius von der Parrifade herüber.
Savert lachte fein lautlofes Lachen und rief den Inſur—
genten nad:
„Euch geht's auch nicht beffer als mir.‘
„Alle hinaus!’ ſchrie Enjolras.
In wilder Haft ftürzten die Nevolutionäre auf die Barrikade.
„Auf Wiederfehen!‘ rief ihnen Javert nad.
11. Sean Valjean rächt [id
Als Sean Daljean mit Vavert alleingeblieben war, band er
den Gefangenen vom Tiſch los und bedeutete ihm, er folle
aufftehen.
Javert gehorchte mit jenem unbeftimmten Lächeln, in dem die
gefeflelte Macht ihre Gefühle zum Ausdruck bringt.
Sean Daljean führte ihn an feinem Halstuch, als ob er ein
Tier am Zaum 3ôge, aus dem Zimmer hinaus. Javert, deffen
Beine noch immer gebunden waren, Eonnte nur febr Eleine
Schritte machen.
Sie durchquerten den breiedigen Platz hinter der Barrikade.
Die nfurgenten waren ganz mit dem drohenden Angriff be-
Ihäftigt und blickten nicht zurück.
Mur Marius fab die beiden vorübergeben.
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Sean DBaljean lotfte den gefeflelten Vavert nicht ohne Mühe
in die Rue Mondétour. Nachdem die beiden die Éleine Ver—
Ihanzung überftiegen hatten, fanden fie fib allein. Jetzt Éonnte
niemand fie feben. Einige Schritte abjeits lagen die hierher
gebrachten Toten zuhauf. Ein bleihes Gefiht, ein Kopf mit
aufgelüftem Haar und eine durchfchoffene Hand wurden fichtbar:
eine halbnadfte, tote Frau. Eponine.
Javert fab fie von der Seite an und fagfe ruhig:
„Die Éenne ich, foviel mir ſcheint.“
Dann wandte er fih zu Sean Valjean.
Diefer ftecfte feine Piftole unter den Arm und fab Javert
Iharf an.
„Javert, ich bin's.“
„Gut, nimm deine Rache.“
Valjean zog ſein Meſſer aus der Taſche und klappte es auf.
„Du haſt recht, das ſteht dir beſſer an“, meinte Javert.
Jetzt ſchnitt Valjean die Feſſeln durch, die Javerts Hände
und Füße umſchloſſen, richtete ſich wieder auf und ſagte:
„Sie ſind frei.“
Gewiß war Javert ein Mann, der ſich nicht leicht wunderte.
Aber ſoſehr er auch ſeiner Herr war, er konnte eine Bewegung
nicht unterdrücken.
„Ich halte es für ſehr unwahrſcheinlich, daß ich von hier
lebend wegkomme“, fuhr Jean Valjean fort. „Sollte es aber
doch geſchehen, ſo mögen Sie wiſſen, daß ich unter dem Namen
Fauchelevent in der Rue de l'Homme Arme Mo. 7 wohne.
Vavert verzog, wütend wie ein Tiger, fein Gefiht und
brummte zwifchen den Zähnen:
„Hüte dich!“
„Geben Sie’, befahl Jean Valjean.
nSaudelevent, fagft du? Mue de l'Homme Arme?’
to AR,
„So. 7, wiederholte Javert leife.
Dann Enöpfte er den Mod zu, zog die Schultern bob und
entfernte fit in der Richtung nad) den Hallen. Jean Valjean
646
fab ibm na. Mad einigen Schritten wandte fi Javert um
und rief:
„Ich mag das nicht. Bringen Sie mid) lieber um.’
Er merkte felbft nicht, daß er Sean Valjean nicht mehr
duzte.
„Gehen Sie!“ rief Jean Valjean.
Langſam entfernte ſich Javert. Etwas ſpäter war er um die
Ecke der Rue des Precheurs gebogen. Als er verſchwunden war,
ſchoß Valjean ſeine Piſtole in die Luft ab, kehrte zu der Barri—
kade zurück und ſagte:
„Erledigt.“
12. Die Helden
Der Iodesfampf der Leute auf der Barrifade follte beginnen.
Alles wirkte zufammen, um die tragifche Erhabenheit biefes
Augenblicks zu fteigern. Der Schritt der herannahenden Sol-
batenfharen in den Straßen, die man no nicht fab, das
Zraben der Kavallerie, bas dumpfe Getöfe der anfahrenden
Artillerie, Pulverdampf, der fi über die im Sonnenglanz
Ihimmernden Dächer erhob. Aus weiter Ferne Gefchrei, die
Sturmglode von Saint-Merry, die jeßt zu flöhnen und zu
röcheln fhien — und dazu die Pradht und Lieblichfeit der
Sahreszeit, bas ftrahlende Sonnenlicht und zugleich die unbeim-
lihe Stille des Quartiers ringsum.
Pöslich fblugen die Trommeln zum Angriff.
Er war wie ein Orfan. Geftern abend waren die Feinde im
Dunkel, wie eine Schlange, an die Barrikade herangefchlichen.
Heute, im hellen Tageslicht, war eine Überrafhung unmöglich:
alſo Éamen fie im wilden Anfturm. Eine mädtige Kolonne
| Linieninfanterie, der Mationalgardiften und Munizipalgarpdiften
zu Fuß folgten, geftüst auf eine nachflutende Menge, die man
noch nicht feben Éonnte, brad im Sturmfhritt in die Straße
ein, während die Irommeln wirbelten und die Ærompeten
holten. An der Spitze liefen Sappeure.
647
Aber die Barrifade hielt ben Sturm aus.
Die Verteidiger feuerten lebhaft. Eine Feuergarbe ſchoß von
der Böſchung herab. Doch war der Andrang fo ftarf, daß die
Barrikade im nächften Augenblick überrannt war. Indeſſen ſchüt—
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telte fie die Soldaten ab wie ein Löwe die Hunde, fie wurde nur
überflutet wie ein Felfen, über den die Gicht der MWogen bin-
wegfpült, und der im nächften Augenblick wieder ſchwarz und
ſchrecklich dafteht.
Die Soldaten mußten fich zurückziehen. Aber die Straße war
648
verftopft. So blieben fie ungebedt und beantworteten die Schüffe
der Verteidiger mit wütendem Gemebrfeuer.
Auf beiden Seiten berrfhte diefelbe Entfchloffenheit. Die
Zapferfeit nahm einen faft barbarifchen Charakter an und ver-
band fid) mit jener beroifhen Wildheit, die vor dem Opfer des
eigenen Lebens nicht zurücicheut. Die Nationalgardiften fchlugen
fi) damals wie Zuaven. Die Soldaten wollten mit der Sache zu
Ende kommen, die Revolutionäre waren Fampfbegieriger als je.
Menſchen, die fih in ihrer Jugend bewußt dem Tode ausliefern,
find in ihrer Unerfhrodenheit faft rafend. Alle fühlten die
Größe ihrer Iodesftunde. Schon war die Straße mit Leichen
bedeckt.
An einer der Seiten der Barrikade ſtand Enjolras, an der
anderen Marius. Enjolras, noch immer Führer mit jedem Nerv
und jeder Fiber, wollte ſich für den letzten Augenblick aufſparen.
Drei Soldaten fielen von ſeiner Hand, ohne ihn zu Geſicht zu
bekommen. Aber Marius kämpfte offen. Er wollte ſich nicht ver—
bergen. Mit dem ganzen Oberkörper überragte er die Böſchung
der Barrikade. Es gibt keinen wilderen Verſchwender als den
Geizhals, der die Faſſung verloren hat. Niemand iſt toller im
Kampf als der Träumer. Marius ſchlug ſich mit höchſter Leiden—
ſchaft. Jetzt lebte er in der Schlacht wie in einem Traum.
Wohl waren die Angreifer in der Überzahl, aber die Revo—
Iutionäre fonnten ihre beffere Stellung ausnüßen. Sie ftanden
auf ihrer Verſchanzung und feuerten aus der Nähe auf die Sol-
daten, die zwifchen Toten und Verwundeten umberirrten und bei
jedem Schritt behindert waren. Die Barrikade war vorzüglich
und nad allen Regeln der Kunft eingerichtet. Jetzt ftellte fie
einen Schußwall dar, von dem aus wirflid eine Handvoll Leute
eine Legion in Sad halten Fünnen. Doc drängten die An-
greifer, die immer neuen Nachſchub erhielten, im Kugelregen
unaufhaltfom näher. Allmählih, aber mit unabänderlicher
Sicherheit übten fie auf die Barrifade einen Drud aus wie der
Kelter auf die Traube.
Sturm folgte auf Sturm.
649
Jetzt entfpann fid auf biefem Haufen Pflafterfteine, in diefer
Rue de la Cbanvrerie ein Kampf, der jenes Kampfes auf den
Mauern von Iroja würdig gemefen wäre. Diefe Männer,
Kämpfer in Lumpen, erfhöpft, Leute, die feit vierundzwanzig
Stunden bungerten, nidt gefchlafen hatten, Faum mehr über
Munition verfügten, faft alle verwundet, wurden zu Titanen.
Zehnmal wurde die Barrifade von den Wogen der Feinde über-
flutet, niemals blieb fie in ihren Händen.
Es war ein Kampf von Mann zu Mann, ein Kampf mit
Säbeln, Fäuften, aus Fenftern und von Dächern herab. Einer
ftand gegen fechzig. Die verwüftete Faflade des „Corinthe“ bot
einen fhauerlihen Anblif. Die Fenfter, von Rugeliprisen be-
fhoffen, hatten längft ihre Scheiben und Nahmen verloren und
faben wie Löcher aus, die man mit Pflafterfteinen verftopft
hatte. Boffuet fiel, Feuilly, Courfeurac und Joly. Combeferre
wurde von drei Bajonetten gleichzeitig durchbohrt, als er einen
Verwundeten aufheben wollte; er hatte nod Zeit zum Himmel
aufzublicken, dann war er fof.
Marius Éamypfte noh immer. Er war mit Wunden bededt,
und fein Gefiht war fo blutüberftrömt, daß man hätte meinen
fônnen, es fei ein rotes Tuch darüber gebreitet.
Mur Enjolras blieb unverlest. Wenn er feine Waffe mehr
hatte, focht er mit dem Stumpf eines Degens in der Hand
weiter. Dier Degen hatte er zerfchlagen — einen mehr als
Sranz I. in Marignan.
13. Shrittfür Shritt
Als von den Führern nur mehr Enjolras und Marius lebten,
die an beiden Enden der Barrifade ftanden, brad das Zentrum
gufammen. Den Kanonen war es nicht gelungen, eine Breſche
zu fehlagen, aber fie hatten den oberen Nand zerftört und die
Trümmer, die bald nad außen, bald nat innen fielen, bildeten
zwei Böſchungen. Sekt war es den Angreifern leichter, Die
Schanze zu überfteigen.
650
Ein lebter Sturm wurde verfucht und gelang. Wieder dran-
gen die Angreifer mit gefälltem Vajonett im Lauffchritt vor,
und bald tauchte im Pulverdampf die erfte Neihe auf der Höhe
der Schanze auf. Die nfurgenten, die das Zentrum befeñt
hielten, zogen fich ſchrittweiſe zurück.
Jetzt erwachte in einigen der Lebenswille. Als fie ſich diefem
Mald von Bajonetten gegenüberfahen, vergaßen mande ihren
Entfehluß, zu fterben. Das war jener Eritifche Augenblick, in
dem der Selbfterhaltungstrieb aufheult und die Beftie im Men-
fhen erwacht. Die Kämpfer wurden an die Wand des fechs
Stock hohen Wohnhaufes im Hintergrunde gedrängt — und
biefes Haus Fonnte ihnen die Rettung bringen. Es war voll-
fommen vermauert und verbarrifadiert. Aber bevor die Sol-
daten das innere des gefhüsten Platzes überqueren Eonnten,
blieb vielleicht Zeit, eine Tür aufzubrehen und wieder zu ver-
fhliefen. Das allein Fonnte für die Derzweifelten dag Leben
bedeuten. Hinter jenem Haufe lagen Straßen — freier Raum,
die Nettung. Wie rafend begannen fie gegen die Tir zu Schlagen,
zu freien, zu jammern und die Hände zu ringen. Aber niemand
öffnete.
Sept eilten Enjolras und Marius herbei, um ihre Freunde
zu ſchützen.
Enjolras hatte den Soldaten „Zurück!“ zugerufen und einen
Offisier, der nicht auf ihn gehört hatte, niedergefhoffen. est
ftand er vor der Tür zu dem „Corinthe“ und verteidigte, in
einer Hand einen Degen, in der andern den Karabiner, die Zu-
rüdeilenden gegen die Angreifer. Den Derzweifelten rief er zu:
„Es gibt nur eine Türe, die euch offen ift, diefe hier!’
Ein furzer, wilder Kampf folgte. Die Soldaten wollten
nadhdrängen, während die Snfurgenten fi bemühten, das Tor
zu verrammeln. Endlih wurde die Zür fo lebhaft zugefchlagen,
daß ein Soldat, defien Hand eingeflemmt wurde, fünf Finger
verlor.
Marius war draußen geblieben. Eine Kugel hatte fein
Schlüffelbein zerfehmettert. Er fühlte nod, wie ihm die
651
Befinnung ſchwand — dann fiel er. Er hatte die Augen fon
geſchloſſen, als er fpürte, wie eine Fräftige Hand ihn wieder hoch—
riß. Doc blieb ihm nur noch die Zeit, an Eofette zu denfen und
zu begreifen, daß er nun gefangen und füfiliert werden würde.
Als Enjolras fab, daB Marius nicht unter den Leuten war,
die fi in bas Wirtshaus gerettet hatten, glaubte auch er feinen
Freund gefangen und verloren. Aber in folhen Augenbliden
bleibt jedem nur die Zeit, an feinen eigenen Tod zu denfen. Er
verriegelte die Tür und fhob die Querftange vor, während
652
Soldaten und Sappeure von draußen mit Arten und Gewehr-
Eolben an fie fehlugen. Jetzt waren alle Angreifer um diefe Tür
verfammelt. Die Belagerung des Wirtshaufes begann.
Mir müflen feftftellen, daß die Soldaten wütend waren. Der
Tod des Artilleriefergeanten hatte fie erbittert. Überdies war,
traurig genug, unter ihnen vor Beginn des Sturmes dag Ge-
rücht verbreitet worden, die Inſurgenten hätten Gefangene ver-
ftümmelt. Es hieß fogar, in dem Wirtshaus liege die Leiche
eines Soldaten ohne Kopf. Sole gefährlihe Ausftreuungen
find üblich) im Bürgerkrieg.
Nachdem die Türe verbarrifadiert war, fagte Enjolras zu den
andern:
„Jetzt wollen wir unfer Leben fo teuer wie möglich ver-
kaufen.“
Wir wollen nur einen kurzen Bericht geben. Die Barrikade
war verteidigt worden wie einft die Zore von Theben. Nun
fampfte man um das Wirtshaus wie einft um die Häufer von
Saragoſſa. Der Widerftand war erbittert. Jetzt Eonnte nicht
mehr parlamentiert werden. Man wollte fterben, aber aud
töten. Es hieß: nach dem Kampf der Kanonen der aufs Mefler.
Auch in diefem Kampf fehlte e8 nicht an Pflafterfteinen, die aus
den Senftern gefchleudert wurden und den Soldaten furdtbare
Wunden zufügten, nicht an tüdifhen Schüffen aus Manfarden
und Gucklöchern, niht an fürbterliher Mebelei, als endlich dag
Zor erbroden war. Die Delagerer drangen in dem Wirtshaus
vor, fanden aber zunächft Écinen Verteidiger. Die Treppe war
von den nfurgenten mit Arten abgebrochen worden. Einige
Verwundete lagen umber und rangen mit dem Tode. Die
übrigen hatten fich in den erften Stock zurückgezogen und fhoffen
durch Löcher, die fie in die Dede gebrochen hatten, auf die An-
greifer herab. Das waren die Iekten Kugeln.
As fie verfhoffen waren, als es an Pulver und Patronen
fehlte, nahm jeder zwei von den Flafchen, die Œnjolras zurüd-
geftellt hatte, und bedrohte die Angreifer mit diefen fürchterlichen
Reulen. Denn diefe Flaſchen enthielten Scheidewafler. Es war
653
ein furchtbares Getöfe. Obwohl die Angreifer, die aus dem Erd- |
geihoß in den erften Stock hinauffhießen mußten, febr be- |
hindert waren, wirkte ihr Feuer mörderifh. Bald waren am |
Rande des Zugangs über der Treppe Köpfe von Toten zu fehen, |
aus denen rauchendes Dlut herabftrömte. Die Sprache befist |
feine Worte, um das Entfeßen zu fhildern, das in diefem Raum |
berrfchte. Hier Fämpften nicht mehr Menfhen gegen Menfchen, |
hier Eämpften Teufel gegen Gefpenfter. Das Heldentum ent: |
artete zum Greuel.
14. Einnüdhterner Dreftes
und ein betrunfener Pylades
Endlich drangen etwa zwanzig von den Angreifern, Soldaten,
Mationalgardiften und Munizipalgardiften, bunt durdeinander-
gemischt, alle bluttriefend und rafend vor Wut, in den erften
Stof ein; an den Trümmern der Wendeltreppe waren fie bin-
aufgeElettert.
Sie fanden nur noch einen einzigen Mann vor, der aufrecht
ftand: Enjolras. Er befaß Feine Kugeln mehr und feinen Degen.
Mur den Lauf einer Flinte, deren Kolben er an dem Schädel
eines Angreifers zerfehmettert hatte, hielt er in Händen. Er
hatte den Billardtifch zwifchen fih und die Angreifer gebradt.
Jetzt ftand er in der Ede des Saales, ftolz, mit erhobenem
Haupte, den Stumpf der Waffe in Händen, nod immer jo
drobend, daß die Angreifer den Abftand von ihm wahrten.
„Das ift der Führer!’ wurde gerufen. „Er ift e8, der den
Artilleriften erfchoffen bat. Er ftebt da ganz gut, wir können
ihn gleich hier füſilieren.“
„Los!“ befahl Enjolras.
Der Mut im Angeficht des Iodes läßt feinen Menfhen Falt.
Auch jest, als Enjolras mit gefreuzten Armen vor feinen Fein
den ftand, verbreitete fi) tödliche Stille. Es war ein feierlicher
Augenblif. Enjolras fhien mit majeftätifcher Gefte feine Feinde
zu zwingen, ihn zu töten — aber ehrfürdtig.
654
Zwölf Mann traten in der entgegengefeßten Ecke des Saales
zufammen und legten fehweigend an.
Ein Offizier trat vor.
„Wartet!“ befahl er. Und zu Enjolrag gewendet:
„Sollen wir Ihnen die Augen verbinden?’
„Nein.“
Und jetzt war Grantaire erwacht.
Wie der Leſer ſich erinnert, ſchlief er ſeit geſtern abend im
Oberſtock des Wirtshauſes auf ſeinem Stuhl, die ſcheußliche
Miſchung aus Abſinth, Stout und Branntwein hatte ihn in
Betäubung gehalten. Er war buchſtäblich betrunken bis zur
Fühlloſigkeit. Man hatte ihm den Tiſch, auf den er ſich ſtützte,
gelaſſen, da er zu klein war, um auf der Barrikade nützlich zu
ſein. So war der Schläfer in derſelben Stellung verblieben,
die Bruſt auf den Tiſch gelehnt, den Kopf auf die Arme ge—
ſtützt, umringt von Gläſern und Flaſchen. Nichts hatte ihn
wecken können, weder das Gewehrfeuer, noch die Kugeln, die in
den Oberſtock eingedrungen waren, noch das Getöſe des Sturms.
Wenn ein Kanonenſchuß fiel, hatte er zuweilen laut aufge—
ſchnarcht. Es war, als ob er darauf warte, daß eine Kugel ihm
den Kummer des Erwachens erſpare. Rings um ihn lagen Tote.
Als er erwachte, fiel ſein erſter Blick auf dieſe Schläfer, die
kaum lebloſer waren als er ſelbſt.
Getöſe weckt einen Betrunkenen nicht, aber plötzliche Stille
vermag dieſe Wirkung zu erzielen. Der Lärm hatte ihn ein—
gewiegt, aber das plötzliche Schweigen ſcheuchte ihn auf. Gran—
taire erhob ſich, ſtreckte die Arme aus, rieb ſich die Augen,
gähnte — und begriff.
Das Ende eines Rauſches iſt wie ein zerreißender Vorhang.
Mit einem einzigen Blick überſchaut man alles, was er bisher
verwahrt hat. Plötzlich iſt das Gedächtnis wach. Der Betrunkene
weiß nicht, was in den letzten vierundzwanzig Stunden ge—
ſchehen iſt, aber er begreift ſofort. Jäh erwacht ſein Denken.
Die Wirklichkeit bemächtigt ſich ſeiner.
Die Soldaten, ganz von Enjolras in Anſpruch genommen,
655
hatten Grantaire nicht beachtet. Als aber der Sergeant jeßt
„Legt an!‘ befahl, hörten alle eine ftarfe Stimme rufen:
„Es lebe die Republik!“
Grantaire war vorgetreten.
Jetzt Flammte in feinen Augen die Begeifterung des Kampfes,
den er verfäumt hatte.
Noch einmal rief er:
„Es lebe die Republik!”
Dann trat er mit fiherem Schritt neben Enjolras.
656
„Erledigt uns beide mit einem Schuß. Du erlaubft es doch,
Enjolras?“
Lächelnd reichte dieſer ihm die Hand.
Noch hatte Grantaire die Hand nicht zurückgezogen, noch war
das Lächeln von Enjolras' Zügen nicht gewichen, als der
Schuß fiel.
15. Der Gefangene
Marius war in der Tat gefangen. Er war Jean Valjeans
Gefangener.
Der Greis hatte an dem Kampf nur teilgenommen, indem er
ſich allen Gefahren ausſetzte. Er war es, der auch noch im
letzten Stadium des Kampfes für die Verwundeten ſorgte.
Nur ihm war es zu danken, daß die Verwundeten aufgehoben,
verbunden und in das Gaſtzimmer getragen wurden. Wenn ihm
ein Augenblick Zeit blieb, arbeitete er an der Barrikade. Er
ſchoß nie, auch nicht in Selbſtverteidigung. Übrigens war er
faum verwundet worden. Die Kugeln fchienen ibn zu feheuen.
Wenn er in diefem Kampf den Tod gefuht hatte, fo war er
nicht zum Ziel gefommen. Aber wir glauben nicht, daß er wirf-
lih den Selbftmord beabfichtigte, den feine Religion verbot.
Sm Gemwirr des Kampfes fchien es zumeilen, als ob er nicht
weiter auf Marius achte. Doc ließ er ihn nie aus den Augen.
Und als Marius endlich fiel, ftürzte Valjean mit der Gewandt-
heit eines Tigers herbei und fchleppte ihn fort.
Die Wut des Angriffs richtete fih in diefem Augenblick auf
Enjolras und den Zugang zu dem Wirtshaus. Niemand achtete
auf Sean Baljean, der Marius in feinen Armen bielt, den
Ohnmächtigen über die Brüftung der Barrikade fehleppte und
mit ibm um die Ecke bog.
est blieb Sean Valjean fteben. Er legte Marius nieder und
blidte um fic.
Die Situation war fürdterlich.
42 Hugo, Die Elenden. | 657
Für den Augenblid, für einige Minuten vielleicht, wurde er
von niemandem beachtet; wie aber follte er dann dem Gemeel
entgehen?
Mur ein Vogel Fonnte ſich aus folher Gefahr retten.
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Er mußte unverzüglich einen Ausweg finden, einen Entfhluß
faffen. Einige Schritte von ihm entfernt, tobte der wildefte
Kampf. Glücklicherweiſe Fonzentrierte fih die Erbitterung des
Kampfes auf einen einzigen Punft — die Tür des Wirts—
baufes. Kam aber aud nur ein einziger Soldat auf ben
658
Gedanken, ein paar Schritte weiter zu laufen und um die Ede
des Haufes zu biegen, fo war alles vorbei.
Sean Valjean betrachtete bas Haus, das vor ihm ftand, die
Barrifade und den Boden. Es war, als ob er mit feinen Augen
ein Soc in die Erde bohren wollte.
Plötzlich bemerkte er, einige Schritte entfernt, unter einer
Anhäufung von Pflafterfteinen ein Eifengitter, dag auf gleicher
Höhe mit dem Erdboden lag und aus ftarfen Stangen beftand.
Die Einfaffung war beim Aufreißen des Pflafters zerftört wor-
den, fo daß es Iofe dalag. Durd bas Gitter Fonnte man durd
ein dunkles Loch binabfeben wie in eine Zifterne.
Jean Daljean trat näher. Seine alte Erfahrung im Ent-
fpringen aus Gefängniffen bewirkte, daß blishaft ein Gedanfe
in ihm erwachte. Die behinderlichen Pflafterfteine beifeiteftoßen,
bas Gitter emporheben, den ohnmädtigen Marius auf feine
Schultern laden, in den tiefen Schacht binabfpringen — alles
dag war die Sache weniger Sekunden. Im nächſten Augenblic
hatte er das Eifengitter wieder über feinen Kopf berabfallen
faffen.
Sean Valjean ftand mit Marius in einem langen, unter-
irdifhen Korridor. Hier war Friede, Schweigen und Mat.
Wieder hatte er jene Empfindung, die er ausgefoftet hatte,
als er damals von der Straße in das Klofter fprang. Mur trug
er heute nicht Cofette, fondern Marius.
Mie aus unendliher Ferne, einem leifen Murmeln gleich,
hörte er aus dem Wirtshaus, dag eben erftürmt wurde, den
Lärm des Kampfes herüber.
ZweitesBuch
Im Keich des Kotes
1. Die Kloake
Jean Valjean befand fi in den Kloaken von Paris.
Der Übergang war unerbôrt. Eben no inmitten der Stadt,
war er plößlid, in einem Augenblid, in der Zeit, die man
= 659
benötigt, ein Gitter zu heben und wieder zufallen zu laffen, aus
hellſtem Tageslicht in tieffte Sinfternis hinabgetaucht, aus furdht-
barem Getöfe in lautlofe Stille, aus entfesliher Gefahr in voll-
fommene Sicherheit.
Der Verwundete bewegte fi immer noch nicht. Sean Val
jean wußte nicht, ob er einen Lebenden oder einen Toten in die
Grube getragen hatte.
Das erfte Gefühl, das ſich feiner bemädhtigte, war bas der
vollftändigen Blindheit. Plöslih fab er nichts mehr. Und zu-
gleich Ichien es ihm, er fei taub geworden. Nichts fühlte er, als
daß er feften Boden unter den Füßen hatte — das war alles,
aber für den Augenblic genügte es.
Er firedte erft den linken, dann den rechten Arm aus, be-
faftete zu beiden Seiten dag Gemäuer und erfannte, daß er fic
in einem engen Gang befand. Da er leicht ausglitt, erriet er,
daß der Boden feucht war. Borfibtig feßte er einen Fuß vor,
denn er befürchtete ein Loch, eine Senfgrube. Aber die Pflafte-
rung jeßte nicht aus. Ein widerlicher Kotgeruch ließ ihn erraten,
wo er fi befand.
Einige Augenblicke fpäter war er fhon nicht mehr blind.
Schwaches Licht fiel dur die Öffnung, die auch ihn eingelaffen
hatte, herab; fein Auge hatte fih an die Finfternis gewöhnt.
Er begann Einzelheiten zu unterfheiden. Der Gang, in den er
geraten war, war hinter ibm vermauert. Eine Art Sackgaſſe.
Vor fit fab er eine andere Mauer — die Mauer der Dunfel-
heit. Das fpärliche Licht reichte nur zehn oder zwölf Schritte
weit. Dann Fam dichtefte Finfternis. Hier vorzudringen, fchien
furchtbar. Es war, als ob man in einen Abgrund hinabfpringt.
Und bod mußte Sean Valjean weitergehen, mußte ſich fogar
beeilen. Das Gitter, das er bemerkt hatte, Fonnte aud von den
Soldaten beachtet werden. Vielleicht fliegen einige burd den
Schacht herab und durchſuchten ibn. Keine Minute war zu ver-
lieren. Er hatte Marius auf den Boden gelegt. fett bob er ibn
auf, lud ibn auf feine Schultern und begann zu gehen. Ent-
ſchloſſen marfchierte er in die Dunkelheit hinein.
660
In Wirklichkeit ftand es um Sean Valjeans Mettung nicht
fo gut wie er glaubte. Andere, nicht geringere Gefahren erwarte-
ten ibn. Mad der Wut des Kampfes war er jest in eine Höhle
vol Miasmen geraten. Nach dem Chaos die Kloafe. Sean Val-
jean war aus einem Höllenfreis in den anderen gefommen.
Schon nad fünfzig Schritten mußte er haltmachen. Eine
Frage drängte fih ihm auf; der Gang mündete hier in einen an-
deren, der ihn ſenkrecht fchnitt. Mad welcher Seite, nach linke
oder nad) rechts, follte er weitergeben? Wie fich in diefem Laby-
rinth der Sinfternis orientieren?
Aber diefes Labyrinth bat feinen Ariadnefaden: das Gefälle.
Folgte er dem Gefälle, fo mußte er an bas Ufer der Seine ge-
langen.
Sean Valjean begriff fofort.
Dffenbar befand er fi) gerade in den Kanälen unter der
Markthalle. Er bog alfo nad) linfs ab und dachte, er müffe bin-
nen einer DBiertelftunde zu einer der Mindungen zwifchen dem
Pont-au-Change und dem Pont-Meuf gelangen. Plößlich würde
er in einer der belebieften Gegenden von Paris aus dem Erd-
boden auffteigen. Die Paflanten würden nicht wenig erftaunt
fein, zu ihren Füßen zwei blutbefledte Menfhen auftauchen zu
feben. Es fonnte nur einige Sefunden dauern, dann würden die
Poliziften und Wachleute herbeieilen. Man war verloren, bevor
man ganz aus der Grube aufgeftiegen war.
Da war es noch beffer, tiefer in dag Labyrinth einzudringen
und e8 der Vorfebung zu überlaffen, wo man wieder einen Aus—
gang fände.
Jetzt ging er gegen bas Gefälle.
Schon nahdem er die nächſte Ecke umgangen hatte, befand
er fi in vollfommener Sinfternis. Trotzdem ging er weiter und
beeilte fi, fo gut es ging. Die beiden Arme Marius’ hatte er
um feinen Hals gelegt. Die blutig-Flebrige Wange des Ver-
wundeten berührte die feine. Er fühlte, wie ein lauer Strom
an ibm binabriefelte und feine Kleider durchdrang. Doc bewies
661
die feuchte Wärme, die von dem Munde des Derwundeten aus- |
ftrömte, daß er no lebte.
Der Gang, in den Jean Valjean eingedrungen war, fhien |
breiter als der vorige. Mur mit großer Mühe konnte Sean Dal-
jean vorwärts fommen. Das Negenwafler von geftern war no |
nicht abgefloffen und bildete in der Mitte einen Bach, fo daB
Valjean fih an die Wand preffen mußte, wenn er nicht im |
Waſſer waten wollte.
Es war nicht leicht, fich hier zu orientieren.
Sean Daljean begann mit einem Irrtum. Er glaubte, fit |
unter der Rue Saint-Denis zu befinden. Dort liegt eine alte
Steinfloafe, die Ludwig XIII. erbauen ließ und die gerades-
wege zu dem Sammelkanal führt. Sie bat nur auf der Höhe
des alten Wunderhofg, von rechts her, einen Zugang, die Kloafe
Saint-Martin. Die Galerie der Petite-Truanderie, deren Ein-
gang gleich neben dem „Corinthe“ Iag, hatte Feine Verbindung
mit der Kloafe von Saint-Denis, fondern führte nad dem
Montmartre. In diefer Richtung ging jetzt Sean Daljean.
Er marfhierte ängftlich beforgt, aber zugleidy ruhig, vollends
dem Zufall oder der Vorfebung anheimgegeben, weiter.
Und doch bemädhtigte fich feiner allmählich bas Grauen. Die
Dunfelbeit, die ihn rings umgab, drang in feine Seele ein. Er
durchquerte einen Bezirk der Rätſel. Schauerlich ift es, mitten
in Paris am hellihten Tag durd die Finfternis zu irren. jean
Valjean mußte feinen Weg finden, ohne ihn zu feben. In diefem
unbekannten Gebiet fonnte jeder Schritt der lebte fein. Würde
er einen Ausgang finden? Und wenn ja, würde es beizeiten ge-
fheben? Drang er nicht immer tiefer in ein Labyrinth ein, aus
dem er fi nie herausfinden Éonnte? Sollte Marius dem Blut—
verluft, er aber dem Hunger erliegen? Würden an diefer Stätte
des Abſcheus nur zwei Skelette, in einem Winkel gefauert,
übrigbleiben?
Plötzlich geſchah etwas Seltſames. Obwohl er ſich immer in
der gleichen Richtung weiterbewegt hatte, mußte er bemerken,
daß er jetzt nicht mehr ſtieg. Jetzt kam das Waſſer von hinten,
662
niht mehr von vorn. Er ging abwärts. Was bedeutete bas?
Näherte er fi wieder der Seine? Das bedeutete Gefahr, aber
zurücdzugehen, fbien noch unmöglicher.
Er marfhierte weiter.
Aber es war nicht die Seine, der er fich näherte. Der Erd-
boden des Teils von Paris, der am rechten Ufer liegt, ergießt
feine Gewäffer nur zur Hälfte in die Seine, zur anderen aber in
eine große Kloafe. Der Kamm diefer Waſſerſcheide bildet eine
recht unregelmäßige Linie. Auf feiner Höhe, in der Klonfe des
Louvre, befand ſich jeßt Sean Valjean. Er wandte fi) nad) der
Gürtelfloafe und befand fi, ohne es felbft zu wiffen, auf dem
rechten Weg.
Bald bemerfte er auch, daß er nicht mehr in dem von der Re—
bellion betroffenen Stadtviertel war: dort hatten die Barri-
Faden den Derfehr gebroffelt. est befand er fi) unter dem
lebendigen, alltäglichen Paris. Über feinem Kopf hörte er, wie
aus weiter Ferne, das Rollen der Wagen.
So wanderte er wohl ſchon feit einer halben Stunde, foweit
er felbft die Zeit beftimmen Eonnte, ohne an Ruhe zu denfen.
Mur hatte er Marius auf die andere Schulter gelegt. Die Fin-
fternis war tiefer als je, aber gerade fie berubigte ihn jet.
Mad einer kurzen Strede ftieß er auf einen Mebenfanal, der
offenbar von der Madeleine herüberfam. Hier machte er halt,
denn er war todmüde. Ein ziemlich geräumiges Luftloch läßt hier
von der Aue d'Anjou Licht herein. Sean Valjean legte fanft,
wie ein Bruder, Marius auf eine Steinbanf. Das blutige Ge-
fiht des Jünglings glich im weißen Licht dem eines Toten. Er
hatte die Augen gefchloflen, die Haare Flebten an den Schläfen
und glichen denen eines vertrodneten, in rote Farbe getauchten
Pinfels; die Hände hingen ſchwer und fehlaff herab. In den
Mundwinfeln hatte er geronnenes Blut. Aud der Knoten des
Halstuchs war blutverflebt. Das Hemd fheuerte die Wunden,
der rauhe Stoff des Modes rieb das bloße Fleifh. Vorſichtig
löfte Sean Valjean die Kleidung von der Haut ab und legte
feine Hand auf Marius’ Bruft. Das Herz fhlug noch. Sean
663
Baljean zerriß fein Hemd, verband die Wunden fo gut er
fonnte und ftillte das Blut. Dann neigte er fih im Halbdunfel
über den no immer bewußtlofen Marius und betrachtete ibn
mit unausfprehlihem Haß.
Während er die Kleider Marius” durchſucht hatte, waren ihm
zwei wichtige Dinge in die Hände gefommen: bas Brot, bas
bier feit geftern vergeflen worden war, und Marius’ Porte-
feuille. Er af bas Brot und warf einen Bli in dag Porte-
feuille. Auf der erften Seite fand er Marius’ Motiz, deren fich
664
der Lefer wohl erinnert, und aus der hervorging, daß er Marius
Pontmerey hieß und wünſche, fein Leichnam möge zu feinem
Großvater, Herren Gillenormand, in die Rue des Filles-du-Eal-
vaire gebracht werden.
Sean Valjean las das Blatt, blieb einen Augenbli lang
nachdenklich ftehen, und wiederholte leife: Gillenormand, Rue
des Filles-du-Calvaire Mo. 6. Dann ſchob er bas Portefeuille
in Marius’ Taſche. Er Hatte gegeffen und fühlte ſich geftärft.
Alſo Ind er Marius wieder auf feinen Rücken, ftüßte den Kopf
des Ohnmächtigen auf feine rechte Schulter und begann in der
Kloafe weiter vorzudringen.
Diefe Sammelkloake, die vom Talweg von Ménilmontant
folgt, ift faft zwei Meilen lang. Beinahe in feiner ganzen Länge
ift er gepflaftert.
Pöslic aber geriet Sean Valjean in fürchterliche Gefahr.
2. Beim Sande mie beiden Frauen:
je feiner um fo perfider
Er fühlte, daB er in Wafler trat. Jetzt hatte er nicht mehr
Pflafter, fondern Schlamm unter den Füßen.
In gewiffen Küftenftrichen der Bretagne und Schottlands ge-
fhiebt es zumeilen, daß ein Mann, etwa ein Weifender oder
Fiſcher, zur Zeit der Ebbe im falfhen Uferfand dahingeht.
Möglich bemerkt er, daß er fon feit einigen Minuten nur mit
einiger Mühe vorwärts fommt. Der Boden unter feinen Füßen
ift wie Pech. Die Sohlen Éleben. Er geht jest nicht mehr auf
Sand, fondern auf fumpfgetränftem Erdreich.
Dabei ift der Sand vollfommen troden. Drebt fi der Wan—
derer aber um, fo fieht er, daß feine Fußftapfen fih mit Waſſer
füllen. Anfonften ift nichts zu bemerfen. Das Uferland Tiegt
weiter in tiefer Stille da. Fröhlibe Meerflöhe tummeln fic
ringsum. Der Mann folgt feinem Wege, fehreitet dem Lande
zu, ſucht die Küfte zu erreichen. Er ift nicht beunruhigt. Was
follte ibn auch erſchrecken? Wohl fühlt er, daB feine Füße
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gewiffermaßen fchwerer werden. Plötzlich finft er ein: zwei, drei
Boû tief. Er ift offenbar doch nicht auf dem rechten Wege. Alfo
bleibt er fteben, um fit zu orientieren. Plötzlich blieft er zu
Boden und fut feine Füße. Sie find verfhwunden. Der Sand
bedeckt fie. Er befreit fie, will einige Schritte zurücfgehen, ver-
finft nur noch tiefer. est geht ihm der Sand bis zu den Knö—
eln, fteigt an den Waden bob. Der Unglüdliche reißt ſich nad)
rechts, nach links — jekt erreicht der Sand die Rnicfeblen. Mit
Grauen erfennt der Wanderer, daß er fih auf einer wandernden
Düne befindet, daß er feftgelaufen ift auf einem Terrain, wo
der Menſch nicht geben, der Fifch nicht fbmimmen Éann. Wenn
er eine Laft bei fich trägt, wirft er fie von fih wie ein Schiff,
das in Seenot ift. Aber ach, es ift zu fpät, fon hat der Sand
die Knie erreicht.
Sept ruft er, ſchwenkt feinen Hut oder fein Taſchentuch.
Immer höher fteigt der Sand. Sind feine Helfer in der Nähe,
ift die Küfte weit entfernt, die Sandbanf bei den Ortsfundigen
verrufen, fo ift der Unglücfliche verurteilt, zu erftiden, langfam,
unendlich langſam begraben zu werden. Er fann feinen Tod
weder befchleunigen noch verzögern. Oft dauert es ftundenlang.
Sm Vollbeſitz feiner Gefundheit, im ftrogenden Leben, padt
es ihn, zieht ihn an den Füßen hinab, immer tiefer, Fräftiger
nur, wenn der Derzweifelte fi zu wehren ſucht. Jeder Wider-
ftand wird beftraft. Langfam verfinft der Verlorene, darf noch
einmal den Horizont fehen, die Bäume, die grünen Felder, viel-
leicht den Maud aus den Scornfteinen eines Ortes in der
Nähe, die Segel der Schiffe auf dem Meere, die fingenden
Vögel. Ihm wird der Sand zu einem Grab, das aus der Erde
dem Lebenden entgegenfteigt. Jede Minute wirft weiter an die-
fem fürdterlichen Begräbnis. est will der Unfelige fid jeken,
fi legen, Eriechen, aber jede Bewegung gräbt ihn tiefer ein. Er
beult, jammert, fchreit den Wolfen zu, ringt die Hände. Immer
höher fteigt der Sand, erreiht Schulter und Hals. Nun ift nur
mehr bas Gefibt zu feben. Mob fehreit der Mund, aber bald
dringt der Sand ein, das Opfer ſchweigt. Die Augen find noch
666
geöffnet — der Sand verfblieft fie. Stirn und Haare ver-
fhwinden. Eine Hand taudt noch einmal auf, zuckt und ver-
ſchwindet.
Zuweilen verſinkt der Reiter mit dem Pferd, der Fuhrmann
mit dem Wagen. Es iſt wie ein Schiffbruch auf trockenem
Land. Es iſt, als ob ein verräteriſcher Schlund ſich unter uns
öffne.
Unfälle dieſer Art, die an den Meeresküſten immer noch mög—
lich ſind, mochten vor dreißig Jahren auch in den Pariſer Kloa—
ken geſchehen. Vor der Ausführung der neuen Kanaliſierung
von 1833 war das unterirdiſche Paris plötzlichen Senkungen des
Bodens unterworfen. An Stellen, wo das Erdreich undicht war,
drang Waſſer ein und veranlaßte, daß das Bett, damals noch
nicht aus Beton gebaut, ſich ſenkte. Der aufgeweichte Boden
war wie flüſſiges Metall. Alle Moleküle ſchienen zu ſchweben.
Bald iſt in der Miſchung von Erde und Waſſer das flüſſige
Element im Übergewicht. Wer den Sand betritt, verſinkt und
muß erſticken.
3. Das Loch
Jean Valjean war in ein Schlammloch geraten.
Es verdankte ſeine Entſtehung dem Wolkenbruch von geſtern
abend. Das von dem darunterliegenden Sande ſchwach geſtützte
Pflaſter hatte nachgegeben, die Waſſermengen waren eingedrun—
gen und hatten ben Boden zum Schwellen gebracht. Das Ranal-
bett barſt und verſank in Schlamm.
Wie weit dieſe gefährliche Strecke war, ließ ſich nicht er—
meſſen. Die Dunkelheit war undurchdringlich. Es war ein Kot—
loch in einer finſteren Höhle.
Jean Valjean fühlte, wie der Boden unter ihm wich. Den—
noch drang er weiter in das Bereich des Kotes vor. Er watete
in tiefem Waſſer, auf deſſen Grunde Schlamm war. Zurüd-
gehen war ja unmöglih. Marius lag im Sterben und Jean
Valjean war erfchöpft. Auch fhien es bei den erften Schritten,
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daß bas Loch nicht allzu tief war. Aber bald fanf er bis zum
halben Bein ein, und das Waſſer ftieg über die Knie. Sekt
hielt er Marius auf beiden Armen, fo hoch er Fonnte. Der Waf-
ferfpiegel bob fidy bis zum Gürtel. Es gab Fein Zurüd, immer
weiter drang Sean DBaljean vor. Vielleicht hätte der bide
Schlamm das Gewicht eines Mannes getragen, aber zwei Leute
waren zu ſchwer. Marius und Jean Valjean, jeder für fic,
hätten der Gefahr entrinnen Éônnen.
Und Sean Valjean fehritt weiter, den Sterbenden — oder
war e8 fon eine Leiche? — hoch über ſich tragend.
Jetzt ftieg ihm das Waſſer bis zu den Achfelhöhlen. Er ftand
Schlecht und mußte befürchten, umgeriffen zu werden. Auch Die
Dichtigfeit des Sandes behinderte ibn. Mit auberfter Kraft bob
er Marius hoch. Seht hatte er nur mehr nod den Kopf über
dem Waflerfpiegel. Auf alten Bildern fieht man wohl eine
Mutter, die ihr Kind jo trägt.
Mit einer verzweifelten Anftrengung ftieß er den Fuß vor —
und faßte Boden. Ihm war, als ob er die erfte Stufe einer
Treppe, die zum Leben führte, erreicht hätte.
Die Stüße, die er im kritiſchen Augenblicke gefunden hatte,
war ein Stüd des Kanalbettes, bas zwar gefunfen, aber nicht
zerbrochen war. Es ftellte jeßt eine Art Rampe dar, auf der
Sean Valjean auf die andere Seite des Loches gelangen Fonnte.
Us er aus dem Waffer flieg, taumelte er und fiel auf die
Knie. Er fand, diefe Haltung fei im Augenblick die richtigfte, und
blieb einen Moment im Gebet verfunfen.
Dann ftand er wieder auf, fbauernd unter der Eifesfälte, von
der Laft des Sterbenden gebeugt, triefend von Kot — aber die
Seele von bimmlifhem Licht erleuchtet.
4. Das Endeder Klonafe
Wieder machte er fih auf den Weg.
Es war, als ob er feine Kraft in dem Schlammlod gelaffen
hätte. Er war erfhöpft von der furchtbaren Anftrengung. So
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müde war er, daß er alle drei oder vier Schritte gezwungen war,
Atem zu ſchöpfen und fi) an die Wand zu lehnen.
Verzweifelt, faft rafch, drang er wieder hundert Schritte vor,
ohne fih umzubliden. So war er an eine Biegung der Kloake
gelangt und ftanb plöslih am Ende des Ganges. Vor fi fab
er, noch weit entfernt, Licht.
Das Licht des Tages. Den Ausgang.
est fpürte Sean Daljean Feine Müdigkeit mehr. Das Ge-
wicht Marius” [aftete nicht mehr auf ibm. Wieder waren feine
Beine von Stahl. Er Tief beinahe. Ve näher er Fam, um fo
deutlicher erfannte er die Öffnung.
Im nähften Augenblick Hatte er den Ausgang erreicht.
Hier blieb er ftehen.
Es war wohl ein Ausgang, aber er war unbenüßber.
Ein ftarfes Gitter fperrte die Bogentür, ein Gitter, das allem
Anſchein nach fi nur felten in feinen ftarf orydierten Angeln
drehte. An der Steineinfaffung hing eines jener dicken, verrofte-
ten Schlöffer, die man im alten Paris fo gern benützte.
Senfeits des Gitters frifhe Luft, der Fluß, bellibter Tag,
ein fchmaler Weg, der immerhin genügte, um fih auf ibm fort-
zubewegen, in der Serne Paris — die Freiheit.
Er befand fih an einer der einfamften Gegenden der Stadt,
an dem Ufer gegenüber dem Gros-Eaillou. Fliegen ſchwirrten
burd das Gitter.
Es modte neun Uhr abends fein. Der Tag ging zu Ende,
Sean Daljean legte Marius länge der Wand auf eine frof-
fene Stelle des Bodens, trat an dag Gitter und rüttelte mit
den Fäuften daran. Es rührte fih nicht. Sean Valjean nahm
eine der Stangen nad) der anderen vor, hoffte eine zu lodern
oder dag Schloß abzureißen. Aber die Stangen faßen feft wie
die Zähne eines Tigers. Es war unmöglich, die Tür zu öffnen.
Alles war zu Ende. Sean Valjean hatte fih unnüß geplagt.
Gott wollte nicht, daß er gerettet wurde.
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5. Ein abgeriffener Fetzen Tu
Während er in tieffter Miedergefchlagenheit dafaß, griff eine
Hand nad feiner Schulter und eine leife Stimme fagte:
„Halbpart!“
Jean Valjean glaubte zu träumen.
Er blickte auf, ein Mann ſtand vor ihm.
Dieſer Menſch trug eine Arbeiterbluſe und ging barfuß; ſeine
670
Schuhe trug er in der linfen Hand. Offenbar hatte er fie aus-
gezogen, um unbemerft näher fommen zu Fünnen.
Sean Valjean zögerte Éeinen Augenblit. Diefe Begegnung
fam ibm unerwartet, aber den Mann fannte er. Es war Thé-
nardier.
Auf der Stelle gewann er feine Geiftesgegenwart wieder.
Auch konnte fi die Tage, in der er fih befand, kaum no ver-
fblimmern, denn es gibt einen Grad des Entfeglihen, der Fein
Crefcendo Eennt. Auch ein Ihenardier Éonnte die Dunkelheit
der Nacht nicht mehr verfinftern.
Sean Baljean merkte fofort, daB der Bandit ihn nicht er-
fannte.
Thenardier brad bas Schweigen.
„Die willft du bier "rauskommen?
Sean Baljean antwortete nicht.
„Du wirft diefe Zür nicht aufbringen. Aber du willft bob
'raus?“
„Natürlich.“
„Gut, Halbpart.“
„Was ſoll das?“
„Du haſt den Mann da umgebracht. Gut. Ich habe den
Schlüſſel. Ich kenne dich nicht, aber ich werde dir helfen. Du
ſcheinſt einer von den Freunden zu fein.”
Jean Valjean begann zu begreifen. Thenardier hielt ihn für
einen Mörder.
„Hör', Kamerad,“ fuhr diefer fort, „du haft diefen Kerl doc
nicht umgebracht, ohne dir vorher feine Taſchen anzufehen. Gib
mir die Hälfte, dann öffne ich dir die Tür.’
Er 309 einen großen Schlüffel aus feiner zerfeßten Bluſe.
Sean Daljean war vollfommen verblüfft. Die Vorfebung
hatte hier eine ſcheußliche Geftalt angenommen, der Nettungs-
engel hatte fi als Thénardier verkleidet.
Thénarbdier fuhr jeßt mit der Hand in feine Tafche und 309
‚ einen langen Strid hervor.
„Da, den Strict geb’ ih auch nod drauf.”
671
Bas fol mir der Strick?“ |
„Dann brauchſt du aud noch einen Stein, aber den findeft!
du draußen. Daran ift hier Fein Mangel.’ |
„aber was fol ich mit dem Strick und dem Stein?”
„Trottel, du willft bob den Kerl ins Waffer werfen! Dazu M
braucht du einen Stri und einen Stein, fonft ſchwimmt er.’
Jean Valjean nahm den Strick. Seine Gebärde war faft!
mechaniſch. |
est fhnippte Thénardier mit den Fingern, als ob ibm ein M
plößliher Gedanfe käme. |
„Übrigens, wie bift bu über das Schlammlod gefommen, |
Kamerad? Ich hab’ mich nicht darüber getraut. Pub, du riechft
aber nicht fein!’
Und da er Feine Antwort befam, fuhr er fort: |
„Ad, ich Frage immer und du antworteft nit. Sehr gefcheit.
Du bereiteft dic) auf das Wiertelftünddhen vor dem Unter: |
fuhungsrichter vor. Wer nichts fagt, plaudert auch nichts aus.
Aber fei unbeforgt, ich Fann in diefer Finfternis dein Gefidht M
nicht erfennen und weiß aud nicht, wie du heißt. Darum ift es |
doch unrecht von dir, zu glauben, daß ich nicht weiß, wer du bift
und was du willft. Wir Fennen uns. Du haft diefen Herrn da
Faltgemacht, und jest möchteft du ihn irgendwo verfehwinden |
laflen. Du fuhft ben Fluß, in dem ja jede Dummheit unter-|
taucht. Ich werde dich aus der Derlegenheit retten. Einem bra-
ven Kerl in der Mot beiftehen, das ift ganz nach meinem Ge-
ſchmack.“ |
Obwohl er Sean Valjean ermuntert hatte zu ſchweigen,
wollte er ibn doc offenfichtlic zum Sprechen bringen.
nÜbrigens, weil wir von dem Schlammloch ſprechen, du biſt
Doch ein rechtes Vieh, warum haft du den Kerl nicht ba hinein-
geſchmiſſen?“
Noch immer ſchwieg Jean Valjean.
Thénardier rückte den Fetzen, der ihm als Halstuch diente,
bis an den Adamsapfel vor, wodurch ſein gewichtiges Ausſehen
noch gewann, und fuhr fort:
672
„Übrigens warft du ganz gefcheit. Vielleicht. Morgen kommen
die Arbeiter, fäubern bas Loch und finden unweigerlich den
Burſchen da. Schritt für Schritt kommt man dir auf die Spur,
und ſchwupps bift du gefangen. jemand ift durch die Klonfen ge-
gangen. Wer? Wo ift er herausgefommen? Hat ihn jemand be-
obachtet? Die Polizeileute haben viel Wis. Zum Schluß wird
die Kloafe zum Verräter. Ein folder Fund ift eine Seltenheit,
der Auffehen erregt, denn es ift unter uns nicht Mode, die Ge-
Ihäfte hier abzumahen. Der Fluß wird allgemein vorgezogen.
Er ift das richtige Mafflengrab. Mach einem Monat fifchen fie
einen wohl bei Saint-Cloud heraus, aber wer kümmert fi bar-
um? Wer bat diefes Nas da getötet? Nun, Paris. Das ift Feine
‚Spur, der die Vuftis nachläuft. Weiß Gott, du haft es ganz gut
angefangen. Aber jeßt wollen wir zur Sache fommen. Teilen
wir. Du haft den Schlüffel gefehen, zeige mir nun aud bas
Geld.“
Thénardier fab tückiſch und bösartig aus, faſt drohend, ſprach
aber noch immer freundſchaftlich.
„Na, wieviel hatte der Kerl in den Taſchen?“
As Jean Valjean geſtern abend die Nationalgardiſten—
uniform angelegt hatte, war es ihm nicht in den Sinn
gekommen, Geld einzuſtecken. So fand er nur in feiner
Weſtentaſche einige Eleine Münzen. Er entleerte fie jeßt vor
Ihenardiers Augen auf der Steinbanf, es waren ein Louisdor,
zwei Sünffranfen und fünf oder fehs Sousftüde.
Ihenardier ſchob die Unterlippe verächtlich vor.
„Wenig für einen Mord‘, meinte er.
Dann begann er ganz gemütlich Sean Valjeans und Marius’
Taſchen durchzuſuchen. Valjean ließ es gefheben. Während er
den Nof Marius’ durchwühlte, riß er unauffällig einen Fetzen
‚Stoff ab, den er aufbewahrte, um vielleicht fpäter einmal an
dieſem Zeichen den Mörder oder Ermordeten wiederzufinden.
‚Geld fand er allerdings nicht.
„Wahrhaftig,“ fagte er, „mehr ift nicht da.’
43 Hugo, Die Elenden. 673
|
Er vergaß, daß er balbpart vorgefhlagen hatte, und nahm!
bas Ganze. |
Erſt als er die Sous in die Finger befam, zögerte er. End
lih nahm er auch fie, wenn er aud murrte: |
„Ma, dem haft du den Tod zu billig geliefert. Schluß, Freund,
du willft "raus. Hier ift es wie auf dem Markt. Du haft bezahlt,
du Éannft gehen.”
Und er begann zu lachen.
Die Zür öffnete fi lautlos. Offenbar war fie gut geölt und)
wurde öfter bemüßt als es den Anſchein hatte.
Unheimliches Zeichen!
Sean Valjean begriff, daß diefe Tür dunklen Eriftenzen derl|
Nacht vertraut war. Diefe Kloake war offenbar die Romplicin
einer geheimnisvollen Bande. Diefe Gittertür eine Seblerin. N
Thénardier öffnete die Tür halb, ließ Sean Valjean dur}
ihloß fie dann wieder und drehte den Schlüffel zweimal herum.l|
Im nähften Augenblick war er lautlos verfhwunben.
Jean Baljean ftand im Freien.
6. Marius wird von einem, der fid Darauf
versteht, für fot gehalten
Sefundenlang war jean Valjean bezaubert von der er:
babenen, Eöftlihen Freiheit rings um ihn. Es gibt Minuten derf
Selbfivergeffenheit. Selbft das Leiden fest aus, der Gedanftel:
ruht, Friede zieht ein in die Seele des Sinnenden. So konnte
aud Jean Valjean nicht umbin, in die Klarheit des Nacht—
himmels binaufzubliden, der fich fchweigend über ihm aug
breitete. |
Plötzlich erwachte lebhaft in ibm dag Gefühl einer Pflicht,‘
die er auf fich genommen hatte. Er beugte fi über Marius, go 1
aus feiner hohlen Hand Waſſer über fein Gefibt; aber biel
Lider des Derwundeten hoben fih nicht. Nur fein halbgeöffneterf
Mund atmete immer nod. |
Eben wollte Jean Valjean zum zweitenmal die Hand in den
674
Fluß tauchen, als er plößlich ein Unbehagen empfand, wie man
es wohl verfpürt, wenn man — aud ohne es zu feben — fühlt,
‚daß jemand hinter uns fteht.
Er wandte fih um.
Wirklich ftand jemand da, ein hochgewachſener Mann in
einem langen Überrod, der die Arme verfchränft hatte und in
der Rechten einen Totſchläger hielt, deffen Bleikopf man deutlich
ausnahm. Er ftand nur wenige Schritte hinter Jean Daljean,
der fi) über Marius beugte.
Sean Valjean erkannte avert.
Der Polizeiinfpeftor hatte fih, nachdem er wider Erwarten
von der DBarrifade entlaflen worden war, nad der Präfektur
begeben, um perfünlih dem Präfeften in einer kurzen Audienz
Bericht zu erftatten. Dann hatte er fofort wieder feinen Dienft
angetreten und fi darangemacht, bas Gebiet des rechten Fluß-
ufers auf der Höhe der Champs-Elyſées, dag feit einiger Zeit
die Aufmerkſamkeit der Polizei erregte, zu durchforſchen. Er
war Ihenardier begegnet und nachgegangen.
Jean DBaljean war aus dem Negen in die Traufe gefommen.
Zwei folhe Begegnungen auf einmal, erft Thénarbier, dann
Javert — es war hart.
Javert erfannte Sean Valjean nicht, denn er war durd die
furhtbaren .Anftrengungen des lebten Tages vollfommen ent-
ftelt. So begnügte ſich der Polizift, mit einer faum bemerf-
baren Bewegung, den Totfhläger fefter zu umfaffen und kurz,
‚aber ruhig zu fragen:
„Wer find Sie?"
3."
„Ber ift dag, ich?’
„Jean Valjean.“
Javert nahm den Totſchläger zwiſchen die Zähne, beugte ſich
vor, legte ſeine gewaltigen Hände auf Jean Valjeans Schultern,
hielt ihn feſt wie in einem Schraubſtock und ſtarrte ihm ins Ge—
ſicht. Die beiden Köpfe berührten einander faſt. Javerts Blick
war fürchterlich.
43* 67 5
Sean Baljean blieb regungslos unter Javerts Griff, wie ein |
Löwe, der fi) von einem Luchs paden lie.
„Inſpektor Javert,“ fagte er endlich, „ich bin in Ybrer Hand. |
Übrigens betrachte id mic) ja feit heute morgen als Ybren Ge- |
fangenen. Ich habe ihnen meine Adreffe nicht gegeben, um aus- |
zureißen. Ich bitte Sie nur um eine Vergünftigung.”
Javert fhien nicht zu hören. Sein ftarrer Blick war auf Val |
jean gerichtet. Das hochgezogene Kinn drängte die Lippen auf- |
wärts — Zeichen intenfivften Nachdenfens. Endlich ließ er Sean
Valjean Los, richtete fih auf und fragte leife:
Bas fun Sie hier? Wer ift diefer Mann und was haben
Sie mit ibm zu fhaffen?//
Auch jeßt duzte er Sean Valjean nicht. Diefer antwortete:
„Don ihm wollte ich gerade fprechen. Mit mir Eönnen Sie
tun, was Sie wollen, aber helfen Sie mir erft, ibn nad Haufe
zu bringen. Sonft verlange id nichts von Ihnen.“
Javerts Gefiht verzog fi) Frampfhaft wie immer, wenn
jemand ihn einer Nachgiebigkeit für fähig hielt. Aber er lehnte
nicht ab. Wieder beugte er fich vor, 309 ein Tuch aus der Taſche,
tauchte es in das Waſſer und mwifchte das Blut von Marius” !
Stirn.
„Diefer Mann war auf der Barrikade,“ fagte er Ieife, als |
ob er mit fi felbft ſpräche, „es ift der, den fie Marius |
nannten.”
Diefer Mann, der feinem ganzen Wefen nah Spikel war, |
hatte fogar in einer Stunde, die er für feine letzte hielt, alles |
beobachtet, alles gehört und im Geifte vorbemerft. Er hatte im
Todeskampf, gewiflermaßen auf der erften Stufe jener Treppe, |
die sum Grabe hinabführt, no Beobachtungen gefammelt.
Sept nahm er Marius’ Hand und fühlte den Puls.
„Er ift ſchwer verwundet‘, fagte Sean Valjean.
„Sr ift tot”, erwiderte Tavert.
„Dein. Noch nicht.‘
„Sie baben ibn alfo von der Barrikade hierher gebracht?“
676
Seine Gedanfen mußten ibn febr in Anfprud nehmen, daß
er über diefe merfwürdige Flucht quer burd die Kloafen von
Paris nicht näheren Beſcheid verlangte. So bemerkte er nicht
einmal, daß Sean Daljean ſchwieg. Diefer fhien feinerfeits nur
einen einzigen Gedanken zu haben.
„Er wohnt im Marais“, fagte er. „Rue des Filles-du-Eal-
vaire, bei feinem Großvater. Den Namen babe ich vergeflen.”
Sean Baljean fuchte in Marius’ Mod, 309 das Portefeuille
heraus, ſchlug es auf und reichte es Yavert.
Es war gerade bell genug, daß Javert, deffen Augen übrigens
an die Nacht gewöhnt waren wie die gewiffer Vögel, mit einiger
‚Mühe lefen Eonnte.
„Gillenormand, Rue des Filles-su-ECalvaire No. 6.”
„Kutſcher!“
Er hatte in der Nähe eine Droſchke warten laſſen.
Das Portefeuille Marius' behielt er bei ſich.
Einen Augenblick ſpäter kam ein Wagen an der Rampe, die
zur Tränke führt, herab, Marius wurde auf den Rückſitz gelegt,
Javert ſetzte ſich neben Jean Valjean auf den Vorderplatz.
Bald fuhr die Droſchke im Trab davon, immer an den Quais
entlang, in der Richtung nach der Baſtille.
Endlich verließ ſie das Ufer und bog in die Straßen ein. Der
Kutſcher, eine ſchwarze Silhouette auf ſeinem Bock, trieb ſeine
mageren Gäule mit der Peitſche an. Eiſiges Schweigen herrſchte
im Wagen. Marius lag unbeweglich, den Rumpf in die Ecke
des Rückſitzes gepreßt, den Kopf auf die Bruſt herabgeneigt,
mit herabfallenden Armen und ſteifen Beinen; er ſchien nur
mehr auf den Sarg zu warten. Valjean ſchien ein Schatten,
Javert ein Stein zu fein. Sooft das Gefährt an einer Laterne
vorüberkam, fiel ein Lichtſchein flübtig in dag Innere der
Droſchke und beleuchtete düfter diefe unheimliche Gefellfchaft un-
beweglicher Geftalten: einen Leichnam, ein Gefpenft und eine
‚Statue.
677
7. Rückkehr des verlorenen Sohnes
Es war fon ftofbunfel, als die Drofchfe vor dem Haufe
Mo. 6 der Rue des Filles-du-Ealvaire hielt.
Javert ftieg als erfter aus, überzeugte fid mit einem rafchen |
Blit, daß die Nummer über dem Haustor ftimmte, hob dann |
den fhweren Eifenflöppel, der nad alter Mode mit zwei mytho-
Iogifchen Geftalten, einem Bock und einem Satyr, verziert war, |
und pochte. Als die Tür fachte geöffnet wurde, ftieß Javert fie |
678
vollfommen auf. Der gähnende, verfhlafene Pförtner ftand mit
einer Kerze in der Hand auf der Schwelle.
Schon hatten Sean Daljean und der Kutfcher Marius aus
der Drofhfe gehoben. Im Iragen fühlte Sean Valjean nad
der Bruſt des jungen Mannes und vergewifferte fich, daB bas
Herz noch ſchlug. Ihm fhien fogar, daß es jetzt Iebhafter ſchlug,
vielleicht infolge der Fahrt in dem rüttelnden Wagen.
Javert redete den Portier an, wie die Behörde den Bedien—
fteten eines Aufwieglers anfpricht.
„Einer im Haus, der Gillenormand heißt?‘
„Ja. Was wollen Sie von ihm?”
„Wir bringen ihm feinen Sohn.”
„Seinen Sohn?” fragte der Portier verblüfft.
„Ja. Er ift tot. Er war auf der Barrifade. Hier ift er.”
„Auf der Barrikade!“ fchrie der Pförtner auf.
„Da bat er fi totfchießen laffen. Werden Sie den Vater.“
Der Pförtner rübrte fih noch immer nicht.
‚208, gehen Sie doch!” ſchrie jeßt Vavert, „morgen gibt es
bier ein Leichenbegängnis.“
In Saverts Denkungsweife hatten fi die Dinge, die auf
öffentlihen Pläßen paffieren fônnen, in gewiſſe Kategorien ein-
geordnet, die es ihm erlaubten, alles in feinem Gedächtnis über-
fibtlih anzuordnen. Jede Möglichkeit hatte gewiflermaßen ihr
Schubfach, aus dem fie, nur der Menge nad) abänderlid, ent-
nommen werden fonnte. Auf der Straße Éonnten fi feiner
Anfiht nah nur Krawall, Rebellion, Karneval und Leichen-
begängnis ereignen.
Der Pförtner begnügte fib, Baske zu weden. Basfe weckte
Micolette, Nicolette Tante Gillenormand. Den Großvater ließ
man jchlafen, denn man meinte, er werde die Sache immer noch
rechtzeitig erfahren.
Marius wurde in aller Stille in den erften Stock getragen
und auf ein altes Kanapee gelegt, das im Vorzimmer des Herrn
Gillenormand ftand. Während Vaste um einen Arzt und Mico-
lette nach dem Wäſcheſchrank Tief, fühlte Dean Valjean, daß
679
Javert feine Schulter berührte. Er begriff und folgte dem
Dolisiften. |
Der Pförtner fab fie gehen, wie er fie kommen gefehen hatte, |
noch immer ganz benommen. Sie fliegen wieder in die Drofchfe. |
„Inſpektor Javert,“ fagte Jean Valjean jeßt, „gewähren |
Sie mir nod eine Bitte.” |
„Was?“ fragte Sjavert fehroff. |
„Laſſen Sie mic einen Augenblif nah Haufe gehen, dann |
fomme ich mit Ihnen.“ |
Javert blieb einige Augenblicke in Gedanken verfunfen, das |
Kinn in den Kragen feines Mods gebohrt; dann rief er: |
„Kutſcher, Rue de l'Homme Arme Mo. 71
8. Erfhütterungdes Abfoluten
Während der ganzen Fahrt fprachen die beiden nicht.
As die Drofhfe an der Ede der Nue de l'Homme Arme |
hielt, weil die Einfahrt für einen Wagen zu fhmal war, ftiegen |
Sean Baljean und Savert aus. Der Polizift entließ die |
Droſchke. Jean Valjean dachte, daß er ihn wohl zu Fuß nad |
dem Kommiflariat der Vlancs-Manteaur führen wolle. |
Sie gingen in die Straße hinein, die wie gewöhnlich voll- !
fommen menfchenleer war. Vor Mo. 7 blieben fie fteben. Sean |
Valjean Elopfte. Es wurde geöffnet. |
„Gut, fagte Javert, „gehen Sie hinein.’ |
Und mit einer feltfamen Setonung, als ob er nur mübfam |
etwag Derartiges über die Tippen brächte, fügte er hinzu:
„Ich erwarte Sie hier.”
Sean Valjean ftreifte ihn mit einem Bit. Diefes DBetragen |
entfprad fo wenig Javerts Gewohnheit! Dod durfte man fit |
nicht fo fehr darüber wundern, Éonnte darin eher ein hochmütiges
Vertrauen erbliden, etwa das Vertrauen der Kabe, die eine |
Maus für einen Augenblif aus dem Bereich ihrer Taken ent: |
läßt. Jean Valjean trat ein, rief dem Pförtner zu, daB er es |
fei, und ftieg die Treppe hinauf. |
680
As er den Abſatz des erften Stodwerfs erreichte, blieb er
ftehen. Jeder Schmerzensweg hat feine Station.
Sei es, um frifhe Luft zu fehöpfen, fei es aus unbewußter
Megung trat Jean Daljean an das Fenfter und beugte fid
hinaus. Im nächſten Augenblif war er maßlos erftaunt.
Da unten war niemand.
Javert war fortgegangen.
9, Der Großvater
Baske und der Pförtner hatten Marius, der fid immer noch
nicht regte, in den Salon getragen. Inzwiſchen war der Arzt
gefommen und Iante Gillenormand aufgeftanden.
Sie lief erfhroden auf und ab, rang die Hände und war
außerftande, etwas anderes zu fagen als: „Großer Gott, ift fo
etwas denn möglich?!“ Ober fie jammerte: ‚Alles wird DBlut-
fleden abbefommen — die ganzen Bezüge!’
As fie den erften Schreden überwunden hatte, fhien fich ihr
Geift einigermaßen zum Verſtändnis der Situation durchzurin—
gen, und fie rief:
„Sp mußte es kommen!“ Es fehlte nur noch, daß fie, wie es
bei folhen Gelegenheiten ja üblich ift, darauf hinwies, fie habe
e8 ja vorausgewußt.
Der Arzt unterfuhte Marius, ftellte feft, daß der Puls no
Ihlug und daß der Verwundete an der Bruft Feine tiefere
Wunde hatte. Das Blut in ben Mundwinfeln fam aus den
Naſenlöchern. Seht Tieß er den Verwundeten auf das Bett
. zurüclegen, das Kiffen wegnehmen und den Kopf tiefer betten
als den Körper, um die Atmung zu erleichtern. Fräulein Gille- :
normand 309 fi, als fie fab, daB Marius entfleidet wurde, zu-
rück, eilte in ihr Zimmer und nahm den Mofenfranz vor.
Der Rumpf zeigte Feine innere Verlegung. Eine Kugel war
burd das Portefeuille aufgehalten worden und hatte, indem fie
an den Rippen entlang vordrang, das Fleifh furdtbar auf-
geriffen, aber Feine tiefe, gefährlihe Wunde verurfacht. Der
681
lange Transport durd bas unterirdifhe Paris hatte allerdings
zur Folge gehabt, daß bas zerfchmetterte Schlüffelbein vollfom-
men entjweigegangen war. Das gab Deranlaffung zu ernften
Beforgniffen. Der Arm zeigte zahlreihe Wunden, die von Säbel-
bieben berrübrten. Im Gefiht war fonft feine Verlegung, doch
war der Kopf ganz zerhadt. Ob diefe Wunden tiefer gingen,
ließ fih im Augenblick nicht feftftellen. Bedenklih war nur, daß
fie offenbar die Ohnmacht des Patienten verurfacht hatten. Aus
folder Ohnmacht erwacht man zumeilen nicht mehr. Überdies
hatte der Blutverluft den Verwundeten fehr erfchöpft. Der un-
tere Teil des Körpers war vollflommen unverleßt, da er durch die
Barrikade geſchützt geweſen war.
Baske und Nicolette zerriſſen alte Wäſcheſtücke und bereite—
ten Verbände vor. Da man keine Scharpie zur Verfügung
hatte, benützte der Arzt zur Stillung des Blutes Watte. Neben
dem Bett brannten drei Kerzen auf einem Tiſch, auf dem der
Arzt ſein chirurgiſches Beſteck vorbereitet hatte.
Der Arzt ſchien wenig Hoffnung zu haben. Zuweilen ſchüt—
telte er den Kopf, als ob er eine Frage verneine, die er ſich
ſelbſt geſtellt hatte.
In dem Augenblick, als der Arzt das Geſicht des Patienten
abtrocknete und leicht mit den Fingerſpitzen die noch immer ge—
ſchloſſenen Lider berührte, ging die Tur des Salons auf, und
eine lange, weiße Geſtalt erſchien.
Es war der Großvater.
Er ſah das Bett und den blutüberſtrömten jungen Mann auf
der Matratze, die geſchloſſenen Augen, den offenen Mund, die
fahlen Lippen — ſah den entblößten Körper und die roten
Wundmale im grellen Licht der Kerze.
Vom Kopf bis zu Fuß durchlief ihn ein furchtbarer Schauder;
ſeine Augen, deren Hornhaut bereits vom Alter gelb geworden
war, bekamen einen gläſernen Glanz. Im nächſten Augenblick
glich der Schädel einem unheimlichen Totenkopf. Die Arme
fielen ſchlaff herab, die zitternden Finger ſpreizten ſich, die Knie
knickten ein.
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„Marius! ftammelte er.
„Gnädiger Herr,” fagte Vaste, ,man bat ung Herrn Ma—
rius eben gebracht. Er war auf der Barrifade und...”
„Ach, er ift tot‘, fchrie der Greis mit furdtbarer Stimme.
„Oh, diefer Bandit!’
Eine feltfame DBerwandlung ging in ihm vor; der Sunbert-
jährige wurde zum jungen Mann.
„Herr, vief er, „Sie find doch der Arzt? Sagen Sie mir
— er ift doch tot, nicht wahr?”
Betreten fchwieg der Arzt.
Gillenormand begann furhtbar zu lachen. Er lachte und rang
zugleich die Hände.
„Tot ift er, auf den Barrikaden hat er fi totfchießen laſſen!
Und nur aus Haß gegen mich! Gegen mich hat er das getan!
Oh, dieſer Bluthund — ſo kommt er zurück! Er iſt tot!“
Er trat ans Fenſter, riß es weit auf, als ob er zu erſticken
fürchte, beugte ſich hinaus und begann in die finſtere Nacht hin—
auszurufen.
„Zerſtochen, niedergeſchlagen, erwürgt, in Stücke geriſſen!
So muß er enden, der Bandit! Und dabei wußte er ganz gut,
daß ich ihn erwartete, daß ich ſein Zimmer immer für ihn bereit
halten ließ, daß ich ſein Kinderbild auf meinem Nachtſchrank
aufgeftellt habe! Er wußte ganz gut, daß er nur wiederzukommen
brauchte, daß ich mich feit Jahren nah ihm fehnte und jeden
Abend mit den Händen auf meinen Knien am Kamin faß und
nicht wußte, was ich tun follte! Daß ich vor Sehnſucht zuletzt
ganz dumm war! Du wußtelt es, du braudteft nur bierber-
zufommen und zu fagen, da bin ich, und du warft der Herr diefes
Hauſes, hätteft mir auf der Mafe herumtanzen dürfen, hätteft
mit diefem Trottel von Großvater tun können, was du wollteft.
Dh, du haft es gewußt, aber du haft gefagt, nein, er ift einer von
den Moyaliften, zu ibm gebe ich nicht! Dafür bift bu auf die
Barrifade gegangen, haft dich töten laffen — aus purer Mieder-
trat! Mur um dich zu rächen, weil ich dir meine Meinung ge-
fagt hatte! ft bas nicht gemein? So, legt eud nur ing ‘Bett
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und fchlaft rubig — dann weckt man euch auf und fagf: er ift |
tot, weiter nichts.“ I
Der Arzt begann nun aud für den Greis zu fürdten und |
trat zu Gillenormand. Aber der Alte fab ihn ruhig, mit großen, |
blutunterlaufenen Augen an und fagte: |
„Ich danke Ihnen, Herr, ich bin ruhig, ich bin ein Mann,
ich babe Ludwig XVI. fterben gefeben und verftehe mich darauf,
bas Unvermeidlihe zu ertragen. Das Schlimmfte ift, daß id
immer denken muß: eure verfluchten Zeitungen richten bas alles |
an. Seit wir biefe Tintenfledfer, Zungendrefcher, Advofaten,
Schwätzer, diefe Debattierer, all das verlogene Zeug, Sort-
Schritt, Aufklärung, Menſchenrechte, Preßfreiheit und dergleichen
haben, bringt man unfere Kinder fo nah Haufe! Ach, es ift
fürdterlih! Marius vor mir tot! O diefer Bandit! Doktor,
Sie wohnen bier in der Gegend, glaube ih? Ob, ich Fenne Sie
wohl, oft febe id Ybren Wagen vorbeifahren. Ich will Ihnen
etwas fagen: Sie dürfen nicht glauben, daß ich wütend bin.
Man zürnt einem Ioten nicht. Es wäre ja blöde. ch babe die-
jen ungen erzogen. Ich war fchon reichlich alt, und er nod ||
ganz Élein. In den Quilerien fpielte er mit feinem Eleinen Spa-
ten, und id babe immer, damit der Inſpektor nicht fehelten |
jollte, mit meinem Stock die Löcher zugefcharrt, die er in die |
Erde grub. Eines Tages ftellt er fi vor mich bin und fchreit:
Nieder mit Ludwig XVIIL! — und dann ift er gegangen. Es
war nicht meine Schuld. Er war ganz rofig und blond. Seine |
Mutter ift tot. Haben Sie bemerft, daß alle Eleinen Kinder
blond find? Woher das nur fommt? Und dabei ift er der Sohn
eines Loireräubers, aber die Kinder find ja unfhuldig an den
Verbrechen der Väter. Ich erinnere mich noch, wie er ganz Flein
war. Damals Éonnte er nie das ,D° ausfprechen. Einmal, vor
der Statue des Ercole Farnefe gab es einen Fleinen Auflauf — |)
alle Leute blieben ftehen und faben das hübfhe Kind an. Es |
war ein Kopf, wie man ihn nur auf Bildern fiebt. Sch fuhr den |
Sungen manchmal grob an, drohte ihm fogar mit dem Stod,
aber er wußte fehon, daß ich es nicht ernft meinte. Wenn er nur
684
morgens zu mir ins Zimmer Fam, war e8 fon lift — wenn
ich auch Leicht Iospolterte! Man ift ja ganz wehrlos gegen biefe
Fleinen jungen. Das padt einen, laßt einen gar nicht mehr los.
Und jest haben fie ihn mir in den Tod getrieben, eure Lafayette,
Benjamin Conftant und Tirecuir de Corcelles. Das darf fo ge-
ſchehen!“
Er trat wieder zu dem regloſen Marius, betrachtete ihn und
begann von neuem die Hände zu ringen. Faſt mechaniſch beweg—
ten ſich ſeine Lippen, er keuchte und ſtöhnte.
„Ach, du herzloſer Schuft, du Septemberbandit!“
Mur mühſam konnte er ſich faſſen und wieder zufammenhän-
gend ſprechen. Aber ſeine Stimme war dumpf und erloſchen, als
ob ſie aus einem Abgrund herausſchalle.
„Nun, es iſt ja gleichgültig, ich ſterbe ja auch. Wenn man nur
denkt, daß es in ganz Paris kein Mädel gab, das ſich nicht ein
Vergnügen daraus gemacht hätte, dieſen Kerl zu beglücken! Und
ſtatt ſich zu amüſieren, geht dieſer Schuft hin und läßt ſich tot—
ſchießen wie ein Idiot! Und wofür? Für die Republik! Statt
in die Chaumière tanzen zu gehen, wie es den jungen Leuten
anfteht! Dabei ift er Faum zwanzig jahre alt. Eine ſchöne Trot—
telei, biefe Mepublif! Da plagen fi die armen Weiber und
bringen bübfhe Kinder zur Welt! Nun, wir werden zwei Be—
erdigungen gleichzeitig haben. Das mußt du dir antun faffen
für die fchönen Augen fo eines Lamarque! Was hat er denn
Großes für dich getan, diefer General? Diefer Säbelraßler!
Diefer Quatſchkopf! Welcher vernünftige Menfch läßt fih für
einen Toten umbringen? Da fol man nit verrüdt werden!
Begreife einer fo was! Mit zwanzig Jahren! Drebt fih natür-
lich nicht um, denkt nicht darüber nad, wen er zurüdläßt!
Mögen die alten Schafsföpfe allein fterben! Kuſch, Erepier’ in
deinem Winfel, alter Ubu! Gut, um fo beffer, das bringt mic
wenigftens auch um. Ich bin fomiefo fon zu alt! Hundert
Sahre, hunderttaufend jahre bin ich alt! Hätte längft fon tot
fein follen. Das wird mir in die Grube helfen. Wenn man
es fo nimmt, ift es ein Glück! Wozu laffen Sie denn den
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armen Jungen Ammoniaf riehen! Sie plagen fih umfonft, Sie |
Schwachkopf! Sehen Sie nicht, daB er tot ift? Ich muß es doch [li
wiffen, denn ich bin ja auch fhon tot. Der tut Feine halben |
Sachen! Va, eine gemeine, fhmubige, niedrige Zeit ift bas, fo Ml
denfe ich von euch, von euren Ideen, Syftemen und euren Dof: |
toren, von eurem Titeratenflüngel, von euren abgeriffenen Phi- |
Iofophen, von euren ftupiden Nevolutionen, die feit fechzig Jahren
die Naben in den Tuilerien auffheuhen! Du warft fo gütig
und haft dich fo umbringen laffen? Gut, mir liegt nichts daran. |
Hörft du eg |
In diefem Augenblick fhlug Marius langfam die Augen auf,
und fein unfteter Blick richtete fih auf Herren Gillenormand.
Marius!” ſchrie der Greis, „mein Eleiner Marius! Lieber
Junge! Sieh mid doch an! Du lebft! Sch danfe dir!” und er |
brad ohnmächtig zufammen. |
10. Javert aus der Bahn geworfen
Savert war langfam die Mue de l'Homme Arme hinunter- |
gefhritten. Er ging mit gefenftem Haupt zum erftenmal in
feinem Leben, und zum erftenmal in feinem Leben bielt er die
Hände auf dem Rücken.
Bisher hatte Javert von den beiden bevorzugten Gebärden
Mapoleons jene für fi gewählt, die Entfhloffenheit ausdrüdt:
über der Bruſt verfhränfte Arme; jene der Unficherheit, die
Hände auf dem Rücken, war ibm unbekannt. Eine Wandlung
hatte fid in ihm vollzogen.
Er bog in eine Gegend ftiller Straßen ein. Doc hielt er fic
an eine beftimmte Richtung. |
Auf Fürzeftem Wege eilte er zur Seine, erreichte den Quai |
bes Ormes, überfbritt den Greveplaß und blieb unweit des
Rommiffariats am Chäteletplas, an der Edfe des Pont-Motre-
Dame fteben. Die Seine bildet hier, zwifchen dem Pont-Wotre-
Dame und dem Pont-au-Change ein viereckiges Baffin mit einer
Stromfhnelle.
686
Favert legte feine beiden Hände auf die Brüftung, beugte das
Kinn herab und dachte nad).
Etwas Meues, eine Nevolution, eine Kataftrophe war in
feinem Inneren vorgefollen. Nun mußte er fich prüfen.
Er litt furchtbar. In feinem Gewiſſen empfand er eine dop-
pelte Pflicht, eine zwiefpältige Pflicht. Als er Sean Valjean un-
erwartet am Ufer der Seine gefunden hatte, war in ihm zugleich
‚der Inſtinkt des Wolfes, der feine Beute wittert, wach geworden
und der des Hundes, der feinen Herrn wiederfindet. Bor fi fab
er zwei fhnurgerade Wege; aber es waren ihrer zwei, und er
hatte, folange er Iebte, immer nur einen vor fit gefeben.
Schlimmer no, die beiden waren einander entgegengefeßt. Sie
| ſchloſſen einander aus. Welchen mußte er gehen?
Er ſchuldete ſein Leben einem Verbrecher, hatte dieſe Schuld
angenommen und wiedererftattet. Seiner eigenſten Natur zu—
wider hatte er fi mit einem Sträfling auf gleichen Fuß geftellt,
ihm einen Dienft mit einem anderen bezahlt. Bon einem Ver-
breder hatte er fich fagen laffen: Geh! Und er hatte ibm darauf
gefagt: Gut, bu bift frei. Perfönlihen Motiven hatte er feine
Pflicht geopfert, ja, er fand in diefen Motiven fogar ein höheres
Prinzip; man Fonnte Verrat an der menfhlichen Geſellſchaft
üben und doch feinem Gewiffen treu bleiben. Diefer Widerfinn
war Wirklichkeit, dies Eonnte gefchehen!
Erftaunlih war, daß Jean Valjean ihm Gnade eriviefen
hatte, noch viel erftaunlicher aber, daß er, Javert, Sean Valjean
gefchont hatte.
Und was follte er jest tun? jean Daljean der Gerechtigkeit
ausliefern, wäre niederträchtig geweſen. Ihn freilaffen, war ein
Berbrehen. Im erfteren Fol fanf er, der Beamte, unter den
niedrigften Bagnofträfling; im zweiten Fall geftand er, daß ihm
ein Sträfling mehr galt als bas Gefes. So oder fo, Javert
war entehrt. Welche Entfheidung er auch treffen mochte, fein
Fall war unvermeidlich.
Auch mußte er fih Vorwürfe machen, weil er jenen Inſur—
genten nach der Rue des Filles-du-Calvaire gebracht hatte; aber
687
daran dachte er Faum. Die geringere Verfeblung fhien aufge-
hoben durch die große. Überdies war jener Revolutionär fihtlid |
dem Tode verfallen, und mit dem Tode feßt aud die Der: |
folgung aus. |
Mur Sean Baljean laftete ſchwer auf feiner Seele. |
Diefer Mann bradte alles zum Wanfen, was ihm bisher feft |
und fiber erfchienen war, alle Grundfäße, auf die Javert fein |
Leben aufgebaut hatte. jean Valjeans Großmut erdridte ibn.
Test Schienen ihm andere Iatfachen, die er ſich ins Gedächtnis |
zurücrief und die er früher für Lügen und tolles Geſchwätz ge-
halten hatte, durchaus glaubhaft. Madeleine tauchte hinter Sean 'R
Valjean auf — und die beiden Geftalten vereinigten fich zu einer |
ehrwürdigen Perfon. Mit Entfeßen gewahrte Vavert, daB fih J.
in feiner Bruſt ein unbefanntes Gefühl regte, die Bewunderung
für einen Sträfling. Einen Galeerenfträfling achten — war das |
möglih? Er fehauderte davor zurüd, Konnte fi) aber diefer |
Megung nicht erwehren. |
Ein mildtätiger Übeltäter! Ein fanfter, hilfsbereiter, gütiger |
Sträfling! Ein Sträfling, der Böfes mit Gutem vergalt, Haß |
mit Derzeihung, der fih nicht rächte, fondern Mitleid fühlte, |
lieber felbft zugrunde ging, bevor er feinen Feind tötete, der |
jenen rettete, der ihn gefchlagen — biefes Ungeheuer, Javert
mußte es befennen, eriftierte. Diefer Zuftand war nicht zu |
erfragen. |
Gewiß hatte er Widerftand geleiftet, wohl zwanzigmal war es |
ihm in jenem Wagen gewefen, als ob er endlich nad) Sean Val |
jean greifen müßte. Zwanzigmal hatte er fi auf ihn ftürzen, ihn
verfohlingen und verhaften wollen. Und was war einfacher als
das? Er brauchte nur dem erftbeften Gendarmen zuzurufen: Holle,
hierher, das ift ein entfprungener Sträfling! Diefer Mann ge-
hört eud! Er brauchte nur zu gehen, fih um das Weitere nicht |
mehr zu Fümmern. Der Mann war für immer dem Gefeß ver- |
fallen, bas Gefeß würde mit ihm verfahren, wie e8 wollte. Gab
es etwas Gerechteres?
Alles bas hatte Vavert ſich gefagt, hatte verfucht, fich über feine
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Bedenken hinwegzufeßen — aber es war ihm fo gegangen mie
jeßt, er hatte es nicht gekonnt. Sooft er feine Hand Frampfhaft
ausftreefte nad jean Daljeans Kragen, war es ibm gewefen,
als ob ein fhweres Gewicht fie herabziehe, und eine unbefannte
Stimme hatte ibm zugerufen: Gut, liefere deinen Wetter aus,
und dann laß dir bas Waſſer bringen, deine Tigerflauen in Un-
ſchuld zu waschen wie Pontius Pilatus.
Jetzt mußte er an fich felbft denken, und er fand, daß er eben-
fo Elein war wie Sean Daljean groß.
Vie hatte er nur zulaffen fünnen, daß diefer Mann ibm das
Leben ſchenkte? Dort, auf der Barrifade, war es fein Recht ge-
wefen, getötet zu werden, und er hätte es in Anfprud nehmen
müflen! Die anderen Ynfurgenten zu Hilfe rufen gegen Sean
Maljean, fi) mit Gewalt erfhießen laffen!
Seine fhlimmfte Qual war, daß nun alle Gewißheit ver-
ſchwunden war. Er-Fam fich vollfommen entwurzelt vor. Das Ge-
feßbuch war in feiner Hand zu einer blinden Waffe geworden.
Er mußte zugeben, daß Güte Fein leerer Wahn war. Diefer
Sträfling war gütig gewefen. Sa, fo unerhört es ihm fhien, er
jelbft war einer Megung von Güte gefolgt. Er war entartet.
Er war alfo ein Feigling. Ihm graute vor feinem eigenen
Mefen.
Javert frönte nicht dem Ideal der Menſchlichkeit — er wollte
nur untadelig fein. Und er war es nicht mehr.
Mie war das gefommen? Wie war das möglich geworden?
Er felbft hätte es nicht angeben können. Er ftüßte feinen Kopf
in beide Hände, aber fofehr er aud fein Gehirn zerquälte, er
fand Feine Erflärung.
Gewiß war es bob immer feine Abficht gemweien, Sean
Valjean dem Geſetz auszuliefern, dem er verfallen war und als
defien Sklave er, Tjavert, fih empfand. Und folange er ihn in
Händen hielt, nie war ihm der Gedanfe gefommen, ihn laufen
zu laffen. Gegen feinen Willen hatte feine Hand fich geöffnet und
den andern freigegeben.
Es war unerträglich.
44 Hugo, Die Elenden. 689
Er befand fid in einer graufamen Lage. Nur zwei Auswege
boten fi ihm. Der eine: Eurz entfchloffen zu Sean Valjean zu
gehen, den Mann wieder dem Bagno zuzuführen. Der zweite...
Javert ftand auf und ging rafch und feften Schrittes zu dem
Wachtpoſten an der Place du Châtelet, der fhon von weitem an
der brennenden Laterne zu erfennen war.
Durch die Fenſterſcheibe fab er, daB nur ein Stadtfergeant in
dem Raum war. Allein fhon an der Art, wie fie die Tür eines
Amtslofal öffnen, erfennen die Poliziften einander. SSavert
nannte feinen Namen, zeigte dem Sergeanten feine Karte und
jeßte fi an den Zifh, auf bem eine Kerze brannte. Eine Feder,
ein Zintenfaß aus Blei und Papier für Protokolle und Ein-
fragungen von nächtlichen Runden lagen bereit.
Diefer Tifch, zu dem feit jeher ein ftrohgeflodhtener Stuhl
gehört, ift eine ftaatliche Ynftitution. Man findet ihn in allen
Polizeiftuben. Zu ihm gehört unabänderlih eine Holzſchale mit
Sägefpänen und eine Schadhtel mit Oblaten. Das ift der nied-
rigfte Stil des amtlihen Mobiliars. Auf diefer Stufe beginnt
bas amtlihe Schrifttum.
Javert nahm die Feder und begann zu fhreiben. Wir geben
den Wortlaut feines Schriftſtücks:
Einige dienftlihe Semerfungen:
Erftens: Sch empfehle dem Herrn Präfeften, die gewohn-
heitsmäßigen Denunsianten mit größter Vorſicht zu behandeln.
Zweitens: Die Unterfuhungsgefangenen ziehen, wenn fie
vom Verhör fommen, ihre Schuhe aus und müflen während
der Vifitation barfuß auf dem Pflafter ftehen. Diele erfälten
fi bei diefer Gelegenheit. Dadurch entftehen überflüflige
Lazarettunfoften.
Drittens: Das Spyftem, Beohaihter auf dem Wege auszu-
ftellen, den der zu Beobachtende mutmaßlicherweife gehen
wird, fo daß fi feine Verfolger gelegentlich ablöfen können,
bat fi bewährt, bod würde es fit in ernften Fällen emp-
fehlen, auf jedem Poften zwei Agenten aufzuftellen, damit in
690
gewiffen Fällen, wenn der eine aus irgendwelchen Gründen
feinen Dienft vernadhläfligt, der andere für ihn eintreten Fann.
DViertens: Mad dem Spezialreglement des Gefängnifles
Mabelonnettes ift es den Gefangenen, felbft wenn fie dafür
zahlen, nicht geftattet, einen Stuhl zu halten. Diefe Beftim-
mung ift unerflärlich.
Fünftens: Das Fenfter der Kantine in Mabelonnettes ift
nur durd zwei Eifenftäbe gefichert. Die Kantinenwirtin ift da-
burd inftand gefeßt, ihre Hand von den Häftlingen berühren
zu laſſen.
Sechſtens: Die Häftlinge, die dazu verwendet werden, an-
dere Häftlinge in dag Sprechzimmer zu holen, verlangen zwei
Sous Trinfgeld, wenn fie den Namen des verlangten Ge-
fangenen deutlich aussprechen follen. Das ift eine Näuberei.
Siebentens: Für einen loderen Faden werden den Gefan-
genen, die in der Weberwerkſtatt arbeiten, zehn Sous ab-
gezogen. Das ift ein Mißbrauch der Unternehmer, da die
Leinwand ja nicht weniger wertvoll wird.
Achtens: Es ift ärgernigerregend, daß die Beſucher des
Gefängniffes La Forse durd den Hof der jugendlichen Arre-
ftanten gehen müffen, um fi) in bas Sprechzimmer der Ab-
teilung Sainte-Marie-l’'Egvptienne zu begeben.
Meuntes: Es ift befannt, daß die Gendarmen täglih im
Hofe der Präfektur in aller Gemütlichkeit erzählen, was fie
beim Verhör der Angeflagten gehört haben. Diefer Mibftand
müßte abgeftellt werden.
Zehntens: Madame Henry ift eine ebrenmerte Frau, und
ihre Kantine ift in fauberem Zuſtande, aber e8 geht nicht an,
daß eine Frau diefen Poften befleidet.
Savert, Inſpektor I. Klaffe.
Wachtpoſten der Place du Chätelet,
7. Suni 1832, 1 Uhr nachts.
Vavert trofnete die Tinte, faltete dag Blatt wie einen Brief,
verfiegelte es mit einer Oblate und fhrieb darauf:
691
„Notiz für die Adminiftration.”
Dann ließ er ihn auf dem Tiſch liegen und ging. Die Glastür
fiel hinter ihm ins Schloß.
Mit einer faft automatifchen Sicherheit kehrte er an den
Platz zurück, auf dem er vor einer Viertelſtunde geftanden hatte.
Wieder lehnte er fi) an die Brüftung. Es war, als ob er fi
inzwifchen nicht gerührt hätte.
Zieffte Finfternis herrſchte. Grabesftille, die immer der
Mitternahtsftunde folgt, lag über die Stadt gebreitet. Wolfen
verbedfen den Sternenhimmel. Die Häufer der Altftadt lagen
in vollftändiger Dunkelheit, nirgends brannte Licht. Motre-
Dame und die Türme des Vuftispalaftes waren nur undeutlid
als Silhouetten zu erkennen. Die Negengüffe der lebten Tage
hatten den Waflerfpiegel der Seine fteigen laffen.
Javert beugte fi vor und fab hinab. Alles war fchwarz,
nichts zu unterfcheiden. Man hörte das Rauſchen des Fluffes,
fonnte aber das Waſſer nicht feben. Augenblife lang glitt in
Ihwindelnder Tiefe ein Lichtfehimmer fich jchlängelnd über das
Waſſer bin, das ja fogar in tieffter Finfternis von irgendwo
Lit empfängt. Dann verlofeh er wieder. Was Vavert da vor
fi) fab, war nicht der Fluß, es war ein unendliher Abgrund.
Menn man aud nichts fab, fo fühlte man doc die feindliche
Kälte des Waſſers und den faden Geruch der naflen Steine.
Ein atemraubender Hauch ftieg aus der Tiefe auf. Das Hoch—
waffer, bas man eher ahnte als fab, bas dumpfe Brauſen der
Mafler, das Gefühl, man könne hier in eine düftere Leere bin-
abftürzen, machte einen fhauerlihen Eindrud.
Savert blieb hier einige Minuten ruhig ftehen, blidte in die
Dunfelbeit hinab. Starr betrachtete er das Unfichtbare.
Plöslic nahm er den Hut ab und legte ihn auf die Brüftung
des Quais. Im nächſten Augenblid ftand eine hohe, ſchwarze
Geftalt auf der Brüftung, bücfte fid vor, richtete fid wieder auf
und fiel fenfrecht in die Sinfternis hinab. Dann hörfe man ein
dumpfes Aufflatfhen. Mur die Finfternis fab die Zuckungen
beffen, der im Waſſer untertauchte.
692
Drittes Buch
Enkel und Großbater
1. Der Lefer Hört wieder von dem Daum
mitder Zinfplatte
Einige Zeit nad den oben erzählten Ereigniffen erlebte Herr
Boulatruelle etwas febr Merfwürdiges.
Mie der Lefer fich vielleicht erinnert, war Boulatruelle ein
Mann, der fid) nicht darauf verfteifte, ein einziges Gewerbe aus-
zuüben. Er Elopfte bauptamtlih Steine, nahm aber aud die
Gelegenheit wahr, einen vereinzelten Wanderer etwas zu er-
leichtern. Aus diefer Mifhung von Straßenarbeiterfchaft und
Diebsgewerbe war ein Ideal entftanden: er glaubte an die
Schätze, die in dem Walde von Montfermeil vergraben fein
follten. Mod immer Élammerte er fid an die Hoffnung, eines
Zages am Fuße eines Baumes Geld zu finden. Zwifchendurd
holte er fi) aus den Iafchen Borüberfommender einen Éleinen
Vorſchuß.
Zur Zeit war er ſehr vorſichtig. Eben war er mit knapper
Not aus einer peinlichen Situation entronnen. Wie der Leſer
ſich erinnert, hatte man ihn mit den anderen Banditen in Jon—
drettes Stube aufgegriffen. Aber auch Laſter können zum Guten
ausſchlagen — daß er ſinnlos betrunken geweſen, hatte ihn ge—
rettet. Niemand wußte, ob er als Dieb oder als zu Beſtehlender
in Jondrettes Wohnung gekommen war. Seine Trunkenheit
war gerichtsnotoriſch, alſo ſetzte man ihn mangels jeglichen
Schuldbeweiſes in Freiheit. So war er wieder in ſeinen Wald
zurückgekehrt. Wie einſt beſorgte er die Straße von Gagny
nach Lagny, etwas abgekühlt, nicht beſonders aufgelegt zu Diebs—
unternehmungen, dafür aber um ſo feſter entſchloſſen, auch in
Zukunft ſeinem Retter, dem Wein, getreu zu bleiben.
Mas nun das ſeltſame Erlebnis betrifft, das der Straßen-
arbeiter kurz nach feiner Rückkehr unter das Raſendach feiner
Straßenorbeiterhütte hatte, fo beftand es in folgendem:
693
Eines Morgens begab fit Boulatruelle wie gewöhnlich zur
Arbeit. Plößlih bemerfte er burd die Zweige hindurch einen
Mann, von dem er nur den Mücken feben Eonnte, deffen Geftalt
ihm aber trotz der Entfernung befannt erfhien. Obwohl Bou-
lotruelle ein Trinker war, hatte er ein belles und fcharfes Ge-
dächtnis, dag ja für einen Mann, der den Kampf mit der öffent-
lihen Ordnung aufnimmt, eine unentbehrlihe Waffe ift.
„Wo zum Teufel babe ich diefen Menfhen fchon geſehen?“
Er wußte Feine genaue Antwort, war aber überzeugt, daß
biefer zum mindeften einem andern febr ähnlich war, deffen Bild
fid) in feiner Erinnerung eingegraben hatte.
Da er die Identität des Unbekannten nicht feftftellen Éonnte,
begann er zu überlegen. Gewiß war diefer Mann nicht aus der
Gegend. Er Fam von irgendwo, und zwar zu Fuß, denn um biefe
Zeit Eommen feine Poftwagen durch Montfermeil. Er war die
ganze Nacht lang gegangen. Von wo fam er? Nicht von febr
weit, denn er trug Fein Bündel und Feinerlei Gepäd. Alfo wohl
aus Paris. Was hatte er in diefem Walde zu fhaffen, und
noch dazu um diefe Stunde?
Boulatruelle dachte fofort an den Sas. Wenn er fein Ge-
dächtnis wachrief, Éonnte er fich leicht erinnern, daß er fchon vor
einigen Jahren hier in der Mähe einem ähnlichen Manne be-
gegnet war, der ganz guf mit dem, den er jeßt vor Augen hatte,
identisch fein konnte.
Im Nachſinnen hatte er zu Boden geblict. Als er jekt auf-
faute, war der Mann verfchwunden.
„zum Teufel!” murrte Soulatruelle, „den muß ich wieder-
finden! Mo der Kerl her ift, bas werden wir fon beraus-
bringen. Diefer Spaziergänger gebt nicht ohne Grund hier auf
und ab, und diefen Grund werde ich erfahren. In meinem Wald
gibt e8 Feine Geheimniffe, in die ih mich nicht einmiſche.“
Er nahm feine Hade, deren Spitze Scharf gefhliffen war.
Mit der Éann ich einen Mann ebenfogut wie das Straßen- |
pflafter entzweifchlagen, dachte er.
Er bemühte fih, dem Unbekannten nachzugehen. Mod war er
694
feine hundert Schritte gegangen, als e8 vollfommen bell wurde.
Diefer Umftand war ihm günftig. Fußfpuren im Sande, nieder-
getretenes Gras, gefnidte Zweige bezeichneten die Fährte des
Unbefannten. Ihr zu folgen, war zeitraubend. Endlich tauchte
er im Walde unter und gelangte auf einen Eleinen Hügel. ‘Pfei-
fend marfchierte nicht unmeit von ibm ein Jäger vorbei. Diefe
Beobachtung veranlaßte ibn, auf einen Baum zu fteigen. Er
war alt, aber gelenfig. Boulatruelle Eletterte auf eine Buche,
die ihm befonderg geeignet ſchien.
Auch diefer Einfall bewährte fih. Als Boulatruelle in die
Wildnis binabblidte, gemabrte er zum zweitenmal den Fremden.
Er ging oder, beffer gefagt, er ſchlich auf eine ziemlic entfernte,
von hohen Bäumen gut gegen Sicht gededte Lichtung zu, Die
Boulatruelle nur zu gut Fannte. Er hatte an diefer Stelle neben
einem Haufen von Mühlenfteinen einen Eranfen Kaftanienbaum
gefehen, der eine Zinfplatte auf der Ninde trug. Jene Lichtung
war in der Gegend unter dem Mamen „Lichtung Blaru“
befannt.
In freudiger Haft ftieg DBoulatruelle von feinem DBaume
herab, fo rafd, daß wir beffer fagen Eönnen, er ließ ſich berab-
fallen. Er hatte den Bau aufgefpürt, nun mußte er aud no
bas Wild finden. Aller MWahrfcheinlichfeit nah war der be-
rühmte Schaß dort vergraben.
Bis zur Lichtung Blaru war es reichlich weit. Auf dem aus-
getretenen Pfad, der viele Ummege mat, brauchte man eine
gute Viertelftunde. Ging man geradeswegs burd bas Geftrüpp,
bag in diefer Gegend fehr dicht ift, fo Éonnte man nicht vor einer
halben Stunde am Ziel fein. Es war unflug von Boulatruelle,
diefen Umftand nicht in Nechnung zu ftellen. Er glaubte an die
gerade Linie, verfiel alfo einer optifchen Täuſchung, die fo vielen
Menihen teuer zu ftehen gefommen ift.
Mollen wir einmal die Straße der Wölfe gehen, dachte er.
Mit aller Entfchloffenheit ftürzte er fih in das Dickicht. Er-
bittert Éämpfte er gegen Dornen, Stehpalmen, Brenneffein
und Kardien. Bald war er vollfommen zerfchunden und zerfraßt.
695
In der Senfung ftieß er gar auf einen Wafferlauf, den er
durchwaten mußte.
Erft nad) vierzig Minuten erreichte er fehmweißtriefend, außer
Atem, zerfhunden und wütend die Lichtung Blaru.
AM)
2 1
nr
dé
ANNE
HN
Miemand war da.
Er eilte auf den Steinhaufen zu. Der war da. Niemand
hatte ihn weggetragen.
Der Fremde war im Walde verfhmwunden. Wohin? Na
welcher Nichtung? Unmöglich, es zu erraten!
696
Am fhlimmften war, daß Voulatruelle hinter dem Stein-
haufen, vor dem Baum mit der Zinfplatte, einen frifh auf-
geworfenen Erdhügel fand, eine vergeflene oder weggemworfene
Schaufel und ein Soc.
Das Loc war Ieer.
„Dieb! fbrie Boulatruelle und fehüttelte die Fäufte gegen
den Horizont.
2. Mad bem Bürgerfriegder Kriegim Haus
Marius fchwebte lange Zeit zwifchen Tod und Leben. Wochen»
lang füttelte ihn bas Wundfieber, und gewiſſe ernfte Symp-
tome beufeten auf eine Derlekung des Gehirns, die nicht nur
durch die außerlihen Wunden entftanden fein mochten.
Nächtelang wiederholte er mit der Geſchwätzigkeit der Fie-
bernden den Namen Cofettes. Und täglich ein- oder zweimal
meldete fih in dem Haufe ein Herr mit weißen Haaren, der, wie
der Pförtner meldete, fehr gut angezogen war, erfundigte fi)
nad dem Befinden des Derwundeten und hinterließ ein großes
Paket Scharpie.
Endlih, nad vier Monaten, erflärte der Arzt, er Fônne jeht
für die Rettung des Patienten bürgen. Die Genefung made
fibtlihe Sortfohritte. Doch follte Marius noch zwei Monate auf
der Cbaifelongue bleiben, um die vollftändige Ausheilung des
Schlüffelbeinbruhs nicht zu ftören. In ſolchen Fällen gibt es
immer eine Lette Wunde, die fih nicht fchließen will. Übrigens
bewahrten ihn diefe lange Krankheit und Rekonvaleſzenz vor
Verfolgungen. Der Franzofe ift nicht fähig, febs Monate lang
zu zürnen. Überdies find, wie die Dinge nun einmal liegen, an
allen Revolutionen fo weite Kreife beteiligt, daß man nach ihrer
Überwindung gern, fo gut es geht, die Augen fchließt. Entfcei-
dend war fchließlich die ungebeuerlihe Verordnung des Präfeften
Gisquet, der den Ärzten die Pflicht auferlegte, Verwundete zu
denungieren. Diefe Beftimmung erbitterte die Öffentlichkeit, und
fogar der König erhob Einfpruh. Den Verwundeten Fam diefe
697
öffentlihe Stimmung zunutze. Wer nicht auf frifber Tat er- |
fappt worden war, Éonnte fiber fein, von den Kriegsgerichten |
unbebelligt zu bleiben. Man ließ aub Marius in Mube. {|
Gillenormand hatte inzwifchen alle Angfte und alle Freuden I
durchgemacht. Nur mit Mühe hatte man ibn hindern Eönnen, ||
die Nächte bei dem Verwundeten zuzubringen. Er ließ feinen |
großen Lehnftuhl neben das Bett Marius’ tragen und verlangte, I
daß feine Tochter die befte Wäfche, die man im Haufe hatte, zer |
riß, um daraus Komprefien und Derbände zu machen. Als
Fräulein Gillenormand einwandte, Batift eigne ſich weniger für |
Scharpie als grobe Leinwand, und neue Leinwand weniger als M.
gebrauchte, wollte er davon nichts hören. Sooft Marius ver:
bunden wurde, fab er zu, und wenn der Arzt totes Fleifch weg- |
ſchnitt, fhrie er felbft vor Schmerz auf. Es war rührend, zu |
feben, wie biefer zitternde Greis dem Derwundeten die Arznei |
reichte. Er beftürmte den Arzt mit Fragen und bemerfte felber |
faum, daß es immer die gleichen waren. |
Was Marius betrifft, fo ließ er fi) in aller Mube verbinden |
und pflegen, ohne an etwas anderes als an Eofette zu denken. |
Seit das Fieber gewichen war, hatte er ihren Namen nicht mehr |
ausgefprochen. Er ſchwieg, aber er tat e8 nur, weil feine Seele |
bei ihr weilte. |
Was aus Cofette geworden war, wußte er nicht. Der Dor- M
fall in der Rue de la Cbanvrerie lag wie eine Wolfe über
feinem Gedächtnis. Ungewiffe Schatten tauchten auf und nieder, |
Eponine, Gavroche, Mabeuf, Ihenardier — feine Freunde, |
mitten im Pulverdampf auf der Barrifade das feltfame Auf-
tauchen des Herrn Faucelevent; er begriff nicht, wie er mit !
feinem Leben davongefommen war, wie und von wen er gerettet !
worden, und niemand Eonnte e8 ihm fagen. Alles, was im Haufe |
befannt war, beftand in der Mitteilung, eine Drofchfe fei eines |
Nachts vorgefabren und babe ihn mitgebradt. Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft mifchten fi in feinem Kopf zu einem |
dunklen Wirrwarr. Doc gab es einen fiberen Punft, eine Ent-
fhloffenbeit, einen Willen: Cofette, die er wiederfinden wollte. |
698
Daß er dabei Schwierigfeiten überwinden mußte, begriff er.
Mir dürfen nicht verfehweigen, daß Marius fi) durd die
Zärtlihfeiten feines Großvaters nur wenig rühren ließ. Zu-
nächſt wußte er ja gar nicht, was für ihn geſchah; feinem fiebern-
den Gehirn erfhien die Güte des Greifeg feltfam und bebenflid.
Er blieb falt. Umfonft vergeudete der Greis fein armes Lächeln.
Marius fagte fib, alles werde gut fein, folange er nicht ſpreche
und alles mit fi geſchehen laffe; brädte er aber die Rede auf
Eofette, fo würde die Miene des Alten fi beträchtlich ändern,
der alte Iyrann fi bemasfieren. Es würde einen harten
Kampf feten. Wieder würde der Familienftreit aufflammen, er,
Marius, werde alle diefe Sarkasmen und bôbnifhen Einwände
zu hören befommen, bas Gerede von Fauchelevent, Coupelevent,
Geld, Armut, Elend, Stein um den Hals und Zukunft. Er
durfte mit dem beftigften MWiderftand rechnen. Und Marius
machte ſich darauf gefaßt.
Sm Ausmaße, in dem er gefundete, empfand er wieder Bitter-
feit gegen feinen Großvater. Der reis erduldete fie mit
Sanftmut.
Obne fih darüber zu äußern, hatte Gillenormand längſt be-
merkt, daß Marius ihn niemals Water angeredet hatte. Er
fagte ja nicht gerade Herr zu ibm, aber er fand immer einen
Ausweg, beide Anreden zu vermeiden.
Eine Krife ftand bevor.
Schon begann Marius, wie bas in folhen Fällen üblid ift,
Heine Vorpoftengefechte zu infjenieren. Er wollte dag Terrain
fondieren. Eines Morgens gefhah es, daß Herr Gillenormand,
der eben die Zeitung gelefen hatte, verächtlic über den Konvent
fprad und Danton, Saint-Juſt und Mobespierre mit einem
ropaliftifhen Schimpfwort apoftrophierte.
‚Die Leute von 1793 waren Rieſen“, fagte Marius ftreng.
Der Greis ſchwieg und war den ganzen Tag über nicht wie-
der zum Reden zu bringen.
Marius erinnerte fih der Hartnädigkeit feines Großvaters
und glaubte in diefem Schweigen einen verhaltenen, um fo
699
fongentrierferen Zorn zu erfennen. Er abnte, daß der Kampf
fürdterlich fein werde, und fammelte Waffen.
Er beſchloß, falls der Alte ibn zurückweife, fein Schlüffelbein
wieder zu zerfchmettern, die Verbände von feinen Wunden zu
reißen und die Nahrung zu verweigern. Seine Wunden waren
feine Waffen.
Und mit der tüdifhen Geduld der Kranken erwartete er den
günftigen Augenblick für den Kampf.
3. Marius greifton
Eines Tages ftand Gillenormand, während feine Tochter
Phiolen und Zaffen auf der Marmorplatte der Kommode ord-
nete, neben Marius und fagte freundlich:
„Siehft du, lieber Éleiner Marius, ich würde an deiner Stelle
lieber Sleifh ſtatt Fiſch eſſen. Für den Anfang der Mefon-
valeſzenz mag ja eine gebratene Seezunge recht geeignet fein, aber
wenn ein Mann wieder zu Kräften Fommen will, foll er lieber
Kotelette eſſen.“
Marius, deffen Kräfte fon faft ganz zurückgekehrt waren,
richtete fih auf, ftüßte feine beiden geballten Fäufte auf bas
Bett, fab feinen Großvater todernft an und fagte:
„Da fallt mir ein, daß ich dir bob etwas fagen muß.‘
„Was?“
„Ich will heiraten.“
„Das hatte ich erwartet“, fagte der Alte und lachte.
„Wieſo erwartet?’
‚Sta, eben erwartet. Du follft fie haben, deine Kleine.’
Marius war vollfommen verblüfft und begann zu zittern.
„Jaja,“ fuhr Gillenormand fort, ‚du folft deine hübſche
Kleine haben. Sie kommt täglich hierher in Geftalt eines alten
Herrn, der fih na deinem Befinden erfundigt. Seit du ver-
wundet bift, befhäftigt fie fit nur mehr mit Weinen und
Scharpiezupfen. Du fiehft, ih bin informiert. Sie wohnt Rue
de l'Homme Arme Mo. 7. Alſo heiraten willft du? Gut, von
700
mir aus. Aber eins will id dir fagen, hier bift bu ordentlich
hereingefprungen. Du haft dir gedacht: jeßt werde ich dem Alten,
| biefer Mumie aus der Regentſchaftszeit, diefem alten Steiger,
| meine Meinung fagen. Er hat fein Lotterleben Hinter fi, feine
Liebfhaften, feine Grifetten und Cofetten; der bat das Frou-
frou ausprobiert, hat den Frühling warm fein laffen, folange
es ging; jest fol er fih daran erinnern! Kampf bis aufs
Meffer! Nimm den Stier bei den Hörnern. So geht es unfer-
einem, ich biete dir ein Kotelett an, und du verlangft eine Frau.
Eine ſchöne Verwechſlung! Alfo du willft sanfen! Du weißt
wohl nicht, daß ich ein alter Feigling bin! Jetzt ärgerft du dic.
Den Alten dümmer zu finden als dich felbft, darauf warft du
nicht gefaßt. Deine ganze Rede fällt ins Waffer, Herr Advofat
| — es ift jammerfchade. est bleibft bu auf deiner Wut allein
ſitzen. Ich tue, mas bu willft — ärgere dich! Ich babe mich er-
Fundigt, denn id bin aud nicht auf den Kopf gefallen. Sie ift
ein nettes, anftändiges Mädchen. Der Lanzenreiter bat natürlich
gequaticht. Eine Menge Scharpie bat fie gezupft. Sie ift nett
— und ganz in dich vernarrt. Ich hatte die Idee, fie eines Mor-
gens hierher zu beftellen, wenn es dir erft beffer geht, aber bas
fommt ja nur in Nomanen vor, daß plôslih junge Mädchen an
den Betten von Derwundeten erfcheinen. Was follte die Tante
davon denken? Mod dazu warft du die ganze Zeit faft nadt,
mein Beſter. Trage nur Nicolette, die Éeinen Augenbli von
deiner Seite gewichen ift, ob bas ein Anblick für eine anftändige
Frau war. Und der Arzt? Mit jungen Mädchen heilt man das
| Fieber nicht. Ma, ſprechen wir nicht weiter darüber, es ift ja
erledigt. Da fiehft bu, was für ein Dieffchädel ich bin. Ich babe
wohl gemerkt, daß du mich nicht leiden Eonnteft. Was fol ich
nur fun, dachte ich, daß biefes dumme Geſchöpf anfängt, mich zu
lieben? Ma, da fiel mir deine Eofette ein. Die werde ich ibm
geben, dachte ich mir, dann wird er fon zu Verſtand Fommen.
Du dachteft natürlich, der Alte würde zu fhreien und zu
Ihimpfen anfangen — beileibe nein! Cofette: bravo! Verliebt?
Mit Vergnügen! Nichts, mas mir lieber wäre! Belieben der
701
Herr, ſich nur möglichſt rafd zu verheiraten. Sei glücklich fo gut
du kannſt!“
Der Greis begann zu fhluchzen. Er nahm Marius’ Kopf in
die Hände, drückte ihn an fit — und jeßt weinten beide.
„Vater!“ rief Marius.
„Alſo du magft mich doch leiden?“ rief der Alte.
Beide fonnten nicht ſprechen. Schließlich ftammelte der Greis:
„Jetzt ift alles gut, er hat Vater zu mir gejagt.”
Marius fagte fanft:
nBater, ich fühle mich jet wohl, mir fcheint, ich könnte fie
wiederſehen.“
„Das iſt ſchon geplant. Morgen.“
„Warum nicht heute?“
„Gut, heute. Du haſt Vater zu mir geſagt, das verdient eine
Belohnung, ich werde es ſchon ſo richten. Mag man ſie holen.
Dieſe Geſchichte iſt nicht neu, ſogar in Verſen iſt ſie ſchon ein—
mal geſchrieben worden. In der Elegie vom ‚jungen Kranken‘
von Andre Chénier — von diefem André Chenier, der von den
Schur..., wollte fagen von dem Rieſen von 1793... alfo,
der ermordet...”
Gillenormand glaubte zu bemerken, daß Marius leicht die
Stirn runzelte. Das war ein Irrtum, denn der junge Mann
dachte in diefem Augenblick überhaupt nicht an 1793. Der Groß-
vater aber, der jeßt volllommen die Saffung verloren hatte, fuhr
fort:
nDas heißt, ermordet ift ja nicht bas richtige Wort. Tatſache
ift nur, daß die genialen Führer der Mevolutionäre, die ja Gott
bewahre Feine fchlechten Leute waren, fondern natürlich Helden,
daß die e8 alfo unangenehm empfanden, André Chenier in ihrer
Mitte zu feben, und darum Tießen fie ibn ein bißchen guill.. .,
wollte fagen, im Yntereffle des öffentlihen Wohle haben biefe
großen Männer am 7. Ihermidor André Chenier erfucht, ein
flein wenig zu...”
Gillenormand erftidte an feiner eigenen Rede. Er Fonnte fie
weder binunterfhluden noch herausbringen. Mit einer Gefhwin-
702,
digkeit, die burdaus nicht feinem Alter angemeflen war, ftürzfe
er aus dem Zimmer, warf die Tür hinter fich zu, eilte, puterrot
vor Wut, mit bervorquellenden Augen die Treppe hinunter und
ftand plößlich dem braven DBasfe gegenüber, der im Vorzimmer
die Stiefel pußte. Er padte ibn am Kragen und fchrie außer
ſich:
„Hunderttauſendkreuzteufel, dieſe Schufte haben ihn um—
bringen laſſen!“
„Wen?“ fragte Baske tief erſchrocken.
„Andre Cheénier.“
„Allerdings, gnädiger Herr“, beſtätigte Baske faſſungslos.
4. Mademoiſelle Gillenormand trôftet fic
Darüber, daß Herr Fauchelevent bei ſeinem
Beſuch etwas unter dem Arm trägt
So ſahen ſich Coſette und Marius wieder.
Wir müſſen darauf verzichten, dieſe Begegnung zu beſchreiben.
Es gibt Dinge, die ſich der Schilderung entziehen.
Mit Coſette war ein Mann gekommen, ein Greis mit weißen
Haaren und ernſten Zügen. Das war Herr Fauchelevent: Jean
Valjean. |
Er war febr gut angezogen, wie der Pförtner fon bemertt
hatte, trug einen neuen, fchwarzen Anzug und ein weißes
Halstuch.
In Marius' Zimmer blieb er beſcheiden an der Tür ſtehen.
Unter dem Arm trug er einen Gegenſtand, der wie ein in Papier
eingeſchlagenes Buch in Oktavformat ausſah.
„Hat der Herr immer ſolche Bücher unter dem Arm?“ fragte
Fräulein Gillenormand leiſe Micolette, denn fie konnte Bücher
nicht leiden.
„Mein Gott,“ meinte ebenſo leiſe Gillenormand, der fie ge-
hört hatte, „er iſt eben irgendein Privatgelehrter. Iſt das ein
Fehler? Boulard, den ich noch gekannt habe, ging nie ohne ein
Buch aus, immer drückte er ſo eine Schwarte an das Herz.“
703
Dann begrüßte er mit Rete Stimme den Gaft.
„Herr Tranchelevent ..
Gillenormand änderte SA Namen nit abſichtlich, aber die
Unaufmerkjamfeit gegen Eigennamen war eine feiner ariftofra-
tifhen Neigungen.
„Herr Tranchelevent,“ fagte er, ‚ih babe die Ehre, Sie für
meinen Enkel, den Baron Marius Pontmercy, um die Hand |
von Mademoifelle zu bitten.” |
Herr Tranchelevent verneigte fic.
„Abgemacht“, erflärte der Großvater. Dann wandte er fi
zu Marius und Cofette:
„Ihr dürft euch anbeten.“
Sie ließen fid das nicht nod einmal fagen. Sofort begannen
fie zu plaudern. Marius hatte fi auf feinen Ellbogen geftüßt.
Cofette ftand.
„Mein Gott, murmelte fie, „alſo fehe ich Sie wieder! Bift
du es wirklich? Va, Sie find es. Sich auf eine folhe Sache ein-
lafien! Warum nur? Vier Monate lang war ich wie tot. Wie
Ihleht von Ihnen, an diefem Kampf teilzunehmen! Was babe
ih Ihnen nur getan? ch bin nicht böfe, aber Sie dürfen bas
nicht mehr fun. Als man nad uns fhidte, war ich fo fraurig!
Und dann, in meiner Freude, hatte ich gar nicht Zeit, mid) an-
zuziehen. Was follen Ihre Verwandten nur von mir denfen,
daß ich mit einer ganz zerfnitterten Salsfraufe hierhergelaufen
fomme! Aber fprehen Sie doh! Sie laffen mich ja ganz allein
reden. Wir wohnen nod immer in der Mue de l'Homme Arme.
Das mit Shrer Schulter war ja fhretlib! Man bat mir er-
zählt, daß die Wunde groß genug war, um eine Fauft binein-
zuftefen. Mit der Schere hat man das Fleiſch herausgefchnitten.
Die Augen babe id mir ausgeweint. Ihr Großvater fheint febr
gut zu fein. Aber ftüsen Sie ſich doc nicht fo auf den Ellbogen,
Sie werden fit anftrengen. Ich bin ganz dumm vor Freude.
Sch wollte Ihnen eine Menge Dinge fagen, aber jest babe ich
alles vergeffen. Wir wohnen nod in der Rue de P Homme Arme.
Aber wir haben Feinen Garten dort. Die ganze Zeit über habe
194
id Scharpie gezupft. Sehen Sie nur, meine Finger find ganz
zerfhunden. Das ift Ihre Schuld.”
Die beiden fühlten fih durch die Anweſenheit der andern ge-
ftört. Sie fhwiegen jeßt und begnügten fi), einander an der
Hand zu halten. Gillenormand wandte fih um und rief laut:
„Sprecht bob laut, Leute, quatft! Macht Lärm, zum
Teufel!“
Tante Gillenormand betrachtete dieſes Licht, das plötzlich in
ihrem Haufe aufgegangen war, betroffen. Sie war nicht kriege—
rich geftimmt, ihre Blicke waren weder empört noch neidiſch;
| die arme, fiebenundfünfzigjährige Unfchuld, biefes verfäumte
| Leben, betrachtete erftaunt den Triumph der Liebe.
„Wie hübſch fie ift”‘, fagte Gillenormand. „Du haft Glüd,
| Sunge, daß id nicht fünfzehn Jahre jünger bin, fonft Fönnteft
du ein Duell mit mir risfieren. Ich bin ganz und gar verliebt
in Sie, Fräulein. Das ift nur recht fo, bas gebührt Ihnen.
Werden wir aber eine hübfche Hochzeit befommen! Wir gehören
zur Pfarrei Saint-Denis du Saint-Sacrement, aber ich werde
eine Dispens verlangen, damit ihr in Saint-Paul heiraten
könnt. Saint-Paul ift hübſcher. Wahrfcheinlich, weil die Vefuiten
Les gebaut haben. Das Glanzftück jefuitifcher Architektur ift aller-
dings in Namur, es heißt Saint-Loup. Wenn ihr verheiratet
ſeid, müßt ihr hinfahren. Es lohnt die Reiſe. Ich bin durchaus
auf Ihrer Seite, Fräulein, meiner Meinung nad follen die
ı Mädchen heiraten. Die heilige Katherine mag von mir aus
zum Zeufel gehen. Jungfrau bleiben mag fchön fein, aber es ift
| ein Ealteg Vergnügen. Yn der Liebe heißt es auch: mehret euch.
Seanne d'Arc kann das Dolf retten, aber damit es erft ein
Volk gibt, muß anders verfahren werden. Ich weiß wirklich
nicht, wozu man Jungfrau bleiben ſollte? Man bekommt zwar
einen Ehrenſitz in der Kirche, aber weiß Gott, ein hübſcher
junger Kerl und nad Yabresfrift ein blonder unge — das ift
mir lieber als eine Kerze halten und Turris Eburnea fingen.”
est wandte er fih auf den Ferfen um.
nÜbrigens . .
45 Hugo, Die Elenden. 705
„Was denn, Vater?’
„Hatteſt du nicht irgendeinen intimen Freund?‘
„Ja, Courfeyrac.“
„Was iſt denn aus ihm geworden?“
„Er iſt tot.“
„Auch gut.“
Er ſetzte ſich zwiſchen die beiden, hieß Coſette Platz nehmen
und nahm ihre vier Hände in die ſeinen.
„Entzückend iſt ſie, die Kleine! Ein ſehr kleines Mädchen und
eine ſehr große Dame. Schade, daß ſie nur Baronin wird, es
hätte für eine Marquiſe gereicht. Was fie für hübſche Wimpern
bat! Die Liebe, Kinder, ift die Dummheit der Menfchen und
der Witz Gottes. Leider” — feine Miene verdüfterte fi —
„ah, wenn ich nur daran denke! Die Hälfte meines Vermögens
beftebt aus Leibrenten. Solang’ ich lebe... gut, aber wenn id
einmal tot bin, in zwanzig fahren oder fo, arme Kinder, dann
habt ihr feinen Sou! Sie werden es nicht leicht haben, Frau
Baronin.“
Jetzt ſagt eine ernſte, ruhige Stimme:
„Mademoiſelle Euphraſie Fauchelevent beſitzt ſechshundert—
tauſend Franken.“
Sean Valjean hatte bisher Fein Wort geſprochen. Man hatte
faft vergeflen, daß er da war.
‚Ber ift denn diefes Fräulein Euphrafie?” fragte der Groß-
vater erftaunt.
„Ich“, antwortete Cofette.
„Sehshunderttaufend Franken!’
„Es gehen nur vierzehn- oder fünfzehntaufend Franfen ab“,
fügte Sean DBaljean Hinzu. Dann Iegte er das Paket, das
Sante Gillenormand für ein Buch gehalten hatte, auf den Tiſch.
Er madte es felbft auf. Es enthielt ein Bündel Scheine. Man
zählte fie und fand fünfhundert Moten zu taufend Sranfen und
hundertachtundfechzig zu fünfhundert.
Das nenne ich ein gefcheites Buch“, erflärte Gillenormand
706
„Immerhin fünfhundertvierundachtzigtaufend Franken“, ftam-
melte die Iante.
„Das heißt die Dinge auf die Beine bringen, nicht wahr,
Fräulein Gillenormand“, rief der Großvater. „Hat diefer Teu-
felsferl, der immer den Baum der Träume fchüttelt, eine Éleine
Millionärin gefangen! Da fol einer fih noch auf die jungen
Leute verlaffen! So ein Student findet eine Studentin mit
fehshunderttaufend Franken! Der Schußengel macht es beffer
als Rothſchild.“
„Sünfhundertvierundachtzigtaufend Franken,‘ wiederholte
Fräulein Gillenormand, ‚da kann man ja gleich fagen: jeche-
hunderttaufend Franken!‘
Marius und Coſette hatten einander inzwifchen fehweigend
angefeben; fon achteten fie nicht mehr auf die andern.
5. Beffer man verbirgt fein Geld im Walde
als beim Motar
Der Lefer bat ohne Zweifel begriffen, daß Sean Valjean
nah dem Prozeß Champmathieu nur entfprungen war, um
nad Paris zu eilen und die Summe bei Lafitte abzuheben, die
er unter dem Nomen Madeleine in Montreuil fur Mer erwor-
ben hatte. Da er fürchtete, wieder gefangen zu werden — was
ihm ja in der Tat kurz nachher widerfuhr — , hatte er dag Geld
im Walde von Montfermeil, auf der Lichtung Dlaru, vergraben.
So war der Mann, den Boulatruelle eines Abends beobad)-
tete, in der Tat Sean Daljean. Später pflegte er immer nad)
Montfermeil zu Éommen, wenn er Geld braudte. Sp waren
die Meifen zu erflären, von denen wir bereits berichtet hatten.
As er fab, daß Marius genas, glaubte er den Augenblick nahe,
da diefes Geld von Mugen fein Eonnte; wieder war er von
Boulatruelle bemerft worden. Der Straßenarbeiter erbeutete
die Schaufel.
Der Schatz belief fi in der Tat auf fünfhundertvierund-
achtzigtaufend und fünfhundert Franken. Bei Lafitte hatte Jean
FE 707
Valjean jehshundertdreißigtaufend abgehoben. Die Differenz
war in den Sjahren 1823 bis 1833 verbraucht worden. Die
Klofterjahre hatten nur fünftaufend Franken gefoftet.
Übrigens wußte Sean Valjean, daß er Vavert nicht mehr zu
fürdten hatte. Der Moniteur hatte berichtet, daß der Polizei-
infpeftor Javert zwifchen dem Pont-au-Change und dem Pont-
Meuf ertrunfen aus dem Waffer gezogen worden fei. Ein
Shriftftüd, bas der Beamte, der übrigens untadelig und bei
jeinen Vorgeſetzten hochangefehen gewefen, binterlaffen hatte,
Tieß darauf fchließen, daß man e8 mit einem Selbfimord in einer
plößlichen Anwandlung von Wahnſinn zu tun hatte.
Allerdings, dachte Sean Valjean, als er mich freiließ, war er
offenbar fon Éranf.
6. Die beiden Alten tun alles, um Cofette
glüdiid zu madhen
Alles wurde für die Hochzeit vorbereitet. Der Arzt wurde be- |
fragt und erflärte, fie Fönne im Februar ftattfinden. Man fans |
im Dezember. |
Der Glücklichſte von allen war der Großvater. Dft verbradte |
er eine ganze DViertelftunde damit, Coſette anzufchanen.
Sean Valjean feinerfeits tat alles, um gewifle Hinderniffe |
hinwegzuräumen, und Erleichterungen zu faffen. |
Da er Bürgermeifter gewefen war, wußte er die heikle Auf- |
gabe zu Iöfen, für Coſette einen Zivilftend zu befchaffen. Sollte |
er ihre Herfunft preisgeben? Das konnte diefe Heirat vereiteln. |
Alfo erfand er eine ausgeftorbene Familie — bas fiherfte Mit- |
tel, um allen Schwierigfeiten vorzubeugen. Eofette, die einzig |
Überlebende, war nicht feine Tochter, fondern die eines andern |
Sauchelevent. Sehr einfach: zwei Brüder Faucelevent waren |
im Klofter Petit-Piepus Gärtner gemefen. Man mochte dort |
Erfundigungen einziehen. Selbftverftändlich erhielt man die |
denfbar befte Auskunft. Die waderen Nonnen, die übrigens für |
Probleme der Baterfhaft Fein befonderes Derftändnis hatten, |
708
hatten fi niemals darum gekümmert, welcher von den beiden
Fauchelevent der Vater Cofettes war. Dereitwillig fagten fie
aus, was man wollte. So wurde ein Üdentitätsprotofoll auf-
geſetzt, Coſette wurde vor dem Gefes Fräulein Euphrafie Fauche-
event, Doppelwaife. Jean Baljean richtete es fo ein, daß er
unter dem Namen Sauchelevent zugleich als ihr Vormund an-
erfannt wurde.
Mas die fünfhundertvierundadhtzigtaufend Franken betrifft,
| fo entdedfte er, daß fie ein Legat eines Mannes waren, der un-
befannt bleiben wollte. Ursprünglich follte es aus fünfhundert-
vierundneunzigtaufend Sranfen beftanden haben, von denen aber
zehntaufend für Fräulein Euphrafies Erziehung verausgabt
| worden waren. Die ganze Sache ermangelte nicht des Abfonder-
lichen, aber die eine Partei hatte Amors Binde um die Augen
und die andere war geblendet von den fehshunderttaufend
Sranfen.
Cofette erfuhr fblieflih, daß fie nicht die Tochter des Man-
nes war, ben fie fo lange Vater genannt hatte. Zu einer anderen
Zeit wäre fie untröftlich gewefen, jest aber war fie fo glücklich,
daß der Kummer fie nur leicht berübrte. Die Jugend trat in ihr
Recht, der Alte mußte abtreten. So ift dag Leben.
|| Überdies war Eofette feit langem daran gewöhnt, fit von
Rätſeln umgeben zu feben. Menfchen, deren Kindheit geheimnis-
voll ift, gewöhnen fi) daran, raſch mit veränderten Situationen
zu rechnen.
Doch behielt fie ihre Gewohnheit bei, Sean DBaljean Water
zu nennen.
Es wurde verabredet, daB das Paar beim Großvater wohnen
follte. Gillenormand beftand darauf, fein eigenes Schlafzimmer,
den fhônften Raum im Haufe, abzutreten.
„Ich werde dadurch jünger’, fagte er. „Es ift ein alter Plan
von mir. Immer wollte ich, daB in meinem Zimmer Hochzeit
gefeiert wird.’
109
7. Glück und Erinnerung
Dft date Marius insgebeim über diefen Herrn Faucelevent |
nach, der fih immer wohlwollend und Falt zeigte. Manchmal |
zweifelte er an feinen eigenen Erinnerungen. Es gab da eine
Lücke, eine dunfle Stelle: vier Monate des Todesfampfes. Viel
war verlorengegangen. Sekt fragte er fich oft, ob diefer Fauche—
levent, diefer ernfte und ruhige Menfch, wirklich auf der Darriz |
fade geftanden hatte,
Abgefehen von diefem Problem, gab e8 noch andere, die ibn
nicht ruhen ließen. Geftalten tauchten auf und verfanfen wieder,
ohne daß er recht begriff. Bald fab er Mabeuf fallen, hörte)
Gavrode im Kugelregen fingen, fühlte Eponines Falte Stirn
auf feinen Tippen; dann fab er Œnjolras, Courfeyrac, Combe-
ferre, Sean Prouvaire, Boſſuet, Grantaire, alle feine Freunde;
fie tauchten vor feiner Erinnerung auf und verfehwanden wieder.
Maren alle diefe teuren, fapferen Seelen nur Ausgeburten
feines Traumes? Hatten fie jemals gelebt? Der ganze Kampf |
auf der Barrifade verfanf in feinem Bergeffen wie im Pulver-)
dampf. Waren wirklich alle diefe Männer geftorben? Ein ein-)
ziger Sturz hatte fie fortgeriffen und nur ihn verfchont. Es war, |
als ob eine ganze Welt hinter einem Tbeatervorbang verſchwun⸗
den wäre.
Und war aud Sauchelevent einer von ihnen? Marius zögerte, |
wenn er den reis fo ernft und ruhig neben Cofette fisen ſah,
ihn für einen der Barrifadenfämpfer zu halten. Vielleicht hatte
bas Delirium ibm diefes Bild nur vorgegaufelt. Übrigens waren
beide Männer von Matur aus zurückhaltend. Marius brachte‘
Feine Frage über die Lippen.
Daß zwei Menfchen ein gemeinfames Geheimnis haben und
vermöge einer ftillfehweigenden Übereinkunft Fein Wort darüber
verlieren, ift vielleicht weniger felten als man glauben mödte.
Einmal nur verfuhte Marius, einen Anhaltspunkt zu finden.!
Zufällig Fam bas Gefpräh auf die Rue de la Chanvrerie. Er
wandte fih nach Sauchelevent um und fagte:
710
|
|
„Kennen Sie diefe Straße?’
„Welche?“
„Die Rue de la Chanvorerie.“
„seine Ahnung‘, antwortete Fauchelevent vollfommen un-
befangen.
Diefe Antwort fhien Marius entfheidender als fie war.
„Ich babe geträumt”, badte er. „Es war eine Halluzination.
DBielleiht einer, der ibm ähnlich war. Fauchelevent ift nicht
dabeigeweſen.“
8. Zwei Unauffindbare
Aber fo glücklich Marius auch war, einige Gedanken ließen
ſich nicht aus ſeinem Geiſt verdrängen. Während die Vorberei—
tungen zur Hochzeit getroffen wurden, ſtellte er mit größter
Sorgfalt Nachforſchungen an. Denn er hatte Dank abzuſtatten
— Dank für ſeinen Vater und für ſich.
Da war Theénardier, und da war jener Unbekannte, der ibn
zu Gillenormand gebracht hatte.
Marius wollte unbedingt beide wieder ausfindig macen,
denn der Gedanfe war ibm ſchmerzlich, daß er felbft beirate und
glücklich fei, feine Schulden aber unbezablt laffe. Es war ihm
unmöglich, eine Vergangenheit der Leiden hinter fih zu laffen
und ohne Löfegeld in eine glückliche Zukunft einzutreten.
Das Thénardier ein Schuft war, befagte nichts dagegen, daß
er den Oberft Pontmerey gerettet hatte. Für alle Welt war er
ein Bandit, für Marius nicht.
Aber es gelang keinem der Leute, die Marius beauftragt
hatte, Thénardiers Spur wieder aufzufinden. Er war wie vom
Erdboden verfhwunden. Die Thenardier war, während der Pro-
zeß vorbereitet wurde, im Gefängnis geftorben. So blieben nur
Thénardier und feine Tochter Azelma übrig, und beide waren
im Schatten untergetaucht. An der Oberfläche Éonnte man nicht
einmal jene Éongentrifen Kreife bemerken, die fonft verraten,
wo etwas in den Tümpel der Ungewißheit gefallen ift.
711
Die Ihenardier war tot, Boulatruelle hatte man entlaffen, |
Elaquefous war verfhwunden. Die Sauptangeflagten waren |
entfprungen; fo war der Prozeß wegen des Überfalls im Gor- |
beaufhen Haufe recht unergiebig geworden. Das Dunfel blieb |
ungelüftet. Die Affifen mußten fih begnügen, zwei Selfers- |
belfer, Panchaud, der Digrenaille genannt wurde, und Demi- |
Liard, der ſich Deur-Milliards nennen ließ, zu je zehn Sahren !
zu verurteilen. Gegen die Entfprungenen wurde in contumaciam |
auf lebenslängliche Haft befunden. Ihenardier als Anführer war, |
ebenfalls in contumaciam, zum Tode verurteilt worden. Das |
war bas einzige, was über Thenardier zu melden war, nachdem |
er felbft fid) dem Zugriff feiner Verfolger entzogen hatte.
Was die Nahforfhungen nad dem Unbekannten betrifft, der |
Marius gerettet hatte, fo fbienen fie zuerft ergiebiger, gerieten |
aber bald auf einen toten Punkt. Der Drofıhfenfutfcher wurde |
ausfindig gemadt, der Marius am Abend des 6. Vuni in die
Nue des Filles-du-Calvaire gefahren hatte. Er erflärte, daß er
am 6. uni von einem Polizeiagenten in Dienft genommen
worden fei, und von drei Uhr nachmittags bis ein Uhr nabts |
am Quai des Champs-Elyfees gewartet habe, unweit des Aus- |
gangs der Sammelflonfe; gegen neun Uhr abends fei bas Gitter
der Rloafe geöffnet worden, und ein Mann fei herausgefommen,
der auf feinen Schultern einen andern, der wie tot ausfah, frug; |
dann babe der Polizeiagent den Lebenden verhaftet und ben
Zoten in Sefblag genommen. Der Kutfcher babe fie alle in
feiner Drofhfe nah der Rue des Filles-du-Calvaire gebradt. |
Hier fei der Iote berausgefhafft worden — eben derfelbe Ma-
rius, den der Kutfcher fofort wiedererfannte, obwohl er „dies—
mal’ lebend war; dann feien die beiden anderen wieder in den |
Wagen geftiegen und in aller Haft zur Porte des Archives ge- |
fahren. Da babe man ihn halten laffen, babe ihn bezahlt, und |
der Polizift fei mit dem andern verfhwunden. Mehr wiffe er, |
der Kutſcher, nicht, zumal jene Nacht fehr finfter war. |
So mußte Marius fih auf vage Vermutungen befbränfen. |
An feiner eigenen Identität Fonnte er wohl nicht zweifeln. |
712
| Mie aber war e8 möglich, daß er in der Rue de [a Chanvrerie
| gefallen und am Seineufer von einem Poliziften aufgefunden
worden war? Alfo hatte ihn jemand von der Markthalle bis zu
den Champs-Elyſées gefchleppt. Und wie? Durch die Klonfen.
Mer hatte dag getan?
Nicht die leifefte Spur feines Metters war aufsufinden.
Marius ging fogar fo weit, die nötige Vorſicht außer acht zu
laffen und die Präfektur an feinen Nachforſchungen zu inter-
| effieren. Aber aud von diefer Seite Fam Feine Aufflärung. Die
Polizei wußte weniger als jener Kutfcher. Über eine Verhaftung,
die am 6. uni vor dem Ausgang der Sammelfloafe ftatt-
gefunden haben follte, war nichts befannt. Es Iag darüber Fein
Bericht eines Agenten vor, und daher wurde der Vorfall in bas
Bereich der Fabeln verwiefen. Ein Kutfcher, der es auf ein
Irinfgeld abgefehen hatte, war, meinten die Poliziften, fogar der
Pphantaſie fähig.
Alles an diefem feltfamen Nätfel war unerflärlich.
Viertes Buch
Die Nacht des 16. Februar 1833
1. Borber
Die Naht vom 16. zum 17. Februar 1833 war eine ge-
fegnete. Über ihrem Dunkel ftand der Himmel offen. Denn
diefe Nacht war die Hochzeitsnaht Marius’ und Cofettes.
Die Mode von 1833 wollte die Heiraten nod anders als
heute. Sranfreid hatte damals noch nicht von den Engländern
die feine Sitte entliehen, gleich nad dem Serausfommen aus
der Kirche mit feiner Frau davonzulaufen, fein Glück ſchamhaft
zu verbergen und dag Entzücen des Hohen Liedes mit den Al-
lüren eines Banfrotteurg zu verquiden. In der zweiten Hälfte des
19. Sahrhunderts, alfo in unferer Zeit, begnügt man fih nicht
mehr mit dem Bürgermeifter und feiner Schärpe, mit dem
Driefter in feinem Meßgewand, mit dem Gefek und Gott; jeßt
719
ift der Poftillion von Lonjumeau zur Hauptfigur geworden, die
blaue ade mit den roten Auffchlägen, die grüne Lederhofe;
jest gehören Flüche über normannifhe Pferde, Peitfehe und
Stulpenftiefel zum Mequifit des Hochzeitsglücks. Mob treibt
Sranfreic die Eleganz nicht fo weit wie die britifhe Mobility,
die den Wagen der Meuvermählten mit alten Pantoffeln und
fhiefgetretenen Schuhen bombardiert, zur Erinnerung an jenen
Cburbill, der fpäter Marlborough wurde und der an feinem
Hochzeitstag von feiner wütenden Tante fo begrüßt wurde. Diefe
Schuhe und Pantoffel follen ibm Glück gebraht haben, und feit-
her gehören fie unweigerlich zu einem vornehmen Hochzeitsfeft
bei den Engländern; aber Geduld, der gute Gefchmad kommt von
den Inſeln zu uns herüber, bald werden auch wir fo weit fein.
1833 feierte man die Hochzeiten noch nicht im Galopp. Man
fand es nicht fhamlos, das Feft im eigenen Haufe zu begeben.
Und fo wurde aud die Hochzeit Marius’ und Cofettes im
Haufe Gillenormands gefeiert.
Am Abend zuvor übergab Sean Daljean Marius in Gegen-
wart Herrn Gillenormandg die fünfhundertvierundachtzigtaufend
Sranfen. Du Gütergemeinfchaft verabredet morden war, ergaben
fi) Feine fchwierigen Formalitäten. Sean Daljean bedurfte in
Hinkunft der Dienfte Touffaints nicht mehr. Cofette hatte fie
geerbt und zur Kammerfrau ernannt.
Auch für Sean Valjean wurde im Haufe Gillenormands ein
ſchönes Zimmer bereitgeftellt, und Cofette hatte ihn gebeten:
„Vater, ich bitte dich darum’, fo daß er endlich barein gewilligt
hatte, bei ihr zu wohnen.
Einige Tage vor der Hochzeit hatte Sean Daljean einen Un-
fall; dabei verleßte er fi am Daumen der rechten Hand. Die
Sache war nicht bedenflich, er hatte nicht erlaubt, daß irgend
jemand fi damit befchäftige, nicht einmal Coſette. Doc hatte er
die Hand mit Leinwand ummiceln müffen und trug den Arm in
der Binde, was ihn verhinderte zu fehreiben. So war Gille-
normand gezwungen, an Valjeans Stelle als Vormund Cofettes
aufzutreten.
714
Cofette fab auf dem Standesamt und in der Kirche ftrahlend
und rührend zugleich aus. Touffaint hatte fie mit Hilfe Nico—
lettes angezogen.
Sie trug ein weißes Taftunterfleid, darüber eine Robe aus
Cbiffon, ein Perlenkollier und einen Brautkranz aus Orangen-
blüten. Die weiße Farbe ließ fie wie eine Lichtgeftalt erfcheinen.
Der Großvater, der ftols und bocherbobenen Hauptes einher-
fhritt und in feiner Kleidung und feinem Gehaben die ganze
Eleganz vergangener Zeiten repräfentierte, war DBrautführer.
Er vertrat Jean Baljean, der wegen feines verbundenen Armes
Cofette nicht den Arm bieten Eonnte.
Sean Valjean, ganz in Schwarz gekleidet, folgte den beiden
lächelnd.
Die beiden jungen Leute ſtrahlten. Jetzt erlebten ſie dieſen
einmaligen, niemals wiederkehrenden Augenblick, den Kreu—
zungspunkt der Jugend und der Freude. Sie waren zuſammen
kaum vierzig Jahre alt. In ihrer Heirat war etwas Erhabenes:
dieſe beiden jungen Menſchen waren Lilien. Sie ſahen einander
nicht, ſie ſtaunten einander an. Coſette ſah Marius in einem
Glorienſchein, und für Marius ſtand Coſette auf einem Altar.
Und auf dem Grund dieſer beiden Apotheoſen wartete, dunkel
und ungewiß in Coſette, glühend in Marius, die Sehnſucht nach
dem Brautgemach.
Solche Tage ſind eine unbeſchreibliche Miſchung aus Gewiß—
heit und Träumerei. Man beſitzt bereits und iſt doch noch in
Erwartung. Noch hat man Zeit vor ſich, um das letzte zu er—
raten. Man genießt den Mittag und träumt zugleich von der
Mitternacht. Das Entzücken dieſer beiden Herzen ſtrömte über
auf die Menge und ſtimmte die Vorüberkommenden glücklicher.
In der Rue Saint-Antoine blieben die Leute vor Saint-
Paul ftehen, um durch die Glastüre des Wagens die Drangen-
blüten auf Eofettes Kopf zittern zu fehen.
Dann Éebrte die Gefellfhaft nad der Rue des Filles-nu-Eal-
vaire zurüd. Strahlend und beglüdt ftieg Marius an der Seite
Cofettes die Treppe binan, die man ibn einit als Sterbender
715
binaufgetragen hatte. Die Armen, die fi vor dem Tore bräng- |
ten und Almofen empfingen, fegneten das Paar. Überall waren |
Dlumen. Das Haus duftete nicht weniger als die Kirche; nad) |
dem Weihraud traten die Mofen in ihr Med. |
Plötzlich fhlug die Uhr. Marius blidte auf Eofettes reizen- |
den, entblößten Arm, und fein Blick ftreifte die DBrüfte, die |
dur die Spiken des Mieders rofig fhimmerten; Cofette ge- |
wahrte Marius’ Blick und errötete bis zum Weiß der Augen. |
Eine Menge alter Freunde der Familie Gillenormand war |
eingeladen worden. Man umbrängte Cofette, beeilte fi, fie als |
Baronin zu begrüßen. |
Théodule Gillenormand, der inzwifhen zum Hauptmann |
avanciert war, Fam aus Chartres, wo er in Garnifon ftand, um
der Hochzeit feines Vetters Pontmercy beizuwohnen. Cofette er- |
fannte ihn nicht. Und er, von jeher gewöhnt, daß alle Frauen
ihn febr hübſch fänden, erinnerte fi) Cofettes nicht mehr als
einer anderen.
„Wie vecht ich doch hatte, nicht auf bas Geſchwätz biefes Ra- |
valleriften zu hören”, date Vater Gillenormand. |
Eofette war nie zärtliher zu jean Valjean gewefen als an
biefem Tage. Das Glüc will, daß alle Welt glüdlich fei. Wenn
fie mit ihm [prad, fand fie den Zonfall wieder, in dem fie als
fleines Kind geredet hatte. Sie ftreichelte ihn mit einem Lächeln. |
Sean Daljean hatte fih im Salon auf einen Stuhl hinter
der Türe gefeht, fo daß er für die im Speifefaal verfammelte
Gefellfhaft faum zu feben war. Kurz bevor man fih zu Tiſch
fette, Fam Cofette in einer plößlihen Megung zu ibm, um ibn
mit einer tiefen Derneigung zu begrüßen.
„Biſt bu zufrieden, Vater?‘
„Ja, id bin zufrieden.‘
„But, dann folft du aber lachen!“
Und Jean Daljean lachte.
Einen Augenblid fpäter kündete Baske an, daß ferviert fei. |
Die Gäfte nahmen nach der Tifchordnung an der Tafel Platz.
Zur Rechten und Linfen der Braut ftanden zwei große Lebn- |
716
ftühle, einer für Gillenormand, der andere für Sean Valjean.
Gillenormand feßte fi; aber der andere Stuhl blieb leer.
Alle faben fih nad Herrn Fauchelevent um.
Er war nicht da.
Gillenormand rief Vaste.
„Weißt bu, wo Herr Fauchelevent iſt?“
„Ad, gnübiger Herr, eben bat mir Herr Fauchelevent auf-
getragen ihnen zu beftellen, daß feine Hand ihn fehmerzt, und
daß er nicht mit dem Herrn Baron und der Frau Baronin
fpeifen Fann. Er bittet, ibn zu entfehuldigen, er wird morgen
früh vorfprechen.‘
Der leere Lehnftuhl wirkte einen Augenblick [ang drückend.
Aber wenn auch Fauchelevent fehlte, Gillenormand war ja da,
und er ftrablte für zwei. Herr Fauchelevent babe nur recht ge-
tan, verficherte er, fi fofort zu Bett zu begeben, wenn feine
Hand ſchmerze; übrigens liege Fein Anlaß vor, fih zu beunrubi-
gen, bas Ganze fei nur ein harmloſes Wehweh.
Cofette und Marius befanden fih in einem fo egoiftifchen
Glückszuſtand, daß fie Mißbehagen gar nicht empfinden Fonnten.
Übrigens hatte Herr Gillenormand einen erlöfenden Gedanken.
„Großer Gott!‘ rief er, ‚der Lehnſtuhl ift leer. Komm ber,
Marius, deine Iante wird es, obgleich fie ein Recht auf dich
bat, fon erlauben. Diefer Stuhl gehört dir. Fortunatus neben
der Fortunata!“
Alle fpendeten Beifall, und Marius nahm neben Cofette
Pins. So fam es, daß Eofette, die zuerft Sean Valjeans Ab-
wefenbeit beflagt hatte, fchließlich mit ihr recht zufrieden war.
Sanft feste fie ihren zarten, weißbeichuhten Fuß auf ben
Marius’.
2. Der Koffer, von dem Jean Baljean
[id nie trennte
Mas war aus Sean Valjean geworden?
Sofort nachdem er auf Cofettes zärtlich geäußerten Wunſch
gelacht hatte, war er aufgeftanden und unbemerkt ins Vorzimmer
217
hinausgeſchlichen. Er traf dort Baske, erteilte ibm den Auftrag, |
feinen Weggang zu entfehuldigen, und ging. |
Die Fenfter des Speifefaals gingen nad) der Straße hinaus. |
Jean Valjean blieb einige Minuten reglos ftehen und Laufchte. |
Gedämpft Fam das Geräufd des Feftes bis zu ibm. Er hörte
die laute, berrifhe Stimme des Großvaters, Geigenfpiel, Klir- |
ren von Zellern und Gläfern, frôblihes Gelächter und deutlich |
unter all den anderen Stimmen die Cofettes. |
Da verließ er die Rue des Silles-dbu-Calvaire und ging in die |
Nue de l'Homme Arme. |
Er Fam nad) Haufe, zündete feine Kerze an und flieg hinauf.
Die Wohnung lag verlaffen da, denn aud Touffaint war fort.
Jean Valjeans Schritte ballten lauter wider als fonft. Die |
Türen aller Schränfe ftanden offen. Er ging in Cofettes Zimmer. |
Die Lafen waren von dem Bett genommen. Das Kiffen, feines
Bezugs und feiner Spitzen beraubt, lag auf den zufammen-
gelegten Schlafdecken am Fußende der Matratzen. Alle diefe |
Fleinen Gegenftände, an die Frauen ihr Herz hängen, hatte Eo- |
fette mitgenommen; fo blieben nur die fhweren Möbel und die
vier Wände zurüf. Auch Coſettes Bett war verlaflen. Nur
eines fhien auf einen Schläfer zu warten — bas feine.
Sean DBaljean betrachtete die Wände, ſchloß die Türen der |
Schränfe und ging von Zimmer zu Zimmer. Schließlich Fehrte |
er in das feine zurück und ftellte die Kerze auf den Tiſch. Er
nahm die Binde ab und bediente fich jeßt feiner rechten Hand,
als ob fie unverleßt wäre.
Er trat an fein Bett, und feine Augen blieben, zufällig oder
beabfihtigt, an dem Koffer hängen, von dem er fi nie hatte |
trennen wollen, und von dem Cofette fagte, fie fei eiferfüchtig
auf ihn. Sean Valjean hatte ibn am 4. Juli auf ein Tiſchchen
neben fein Bett geftellt. est trat er näher, zog einen Schlüffel
aus der Taſche und fperrte den Koffer auf.
Langſam nahm er daraus die Kleider, in denen Cofette vor
zehn Jahren Montfermeil verlaffen hatte: das ſchwarze Kleid, |
718
ein Umſchlagtuch, plumpe, Heine Kinderſchühchen, die Cofette
| vielleicht jeßt noch gepaßt hätten, ein warmes Jäckchen, einen
| Trifotunterrod, eine Schürze mit Tafhen und Wollftriimpfe.
| Alle diefe Dinge waren ſchwarz. Er hatte fie nach Montfermeil
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gebracht. In der Meibenfolge wie er fie aus dem Koffer nahm,
legte er fie auf das Bett. Er fann.
Es war Winter, ein Falter Dezember, da hatte er fie ge-
troffen, balbnadt, in Lumpen gehüllt, rotgefrorene Füßchen in
groben Holzfchuhen. Er, Jean Valjean, hatte fie von diefen
719
Lumpen befreit und fie in Trauerkleider geſteckt. Er dachte an |
den Wald von Montfermeil. Sie hatten ihn zufommen dur: |
fritten, Cofette und er; die Bäume waren kahl gewefen, Fein |
Bogel hatte den Himmel, den Fein Sonnenftrahl erhellte, be- |
lebt: und bob war es ſchön gemefen. Er ordnete die Kleinig- |
feifen, die ihm lieb geworden waren, auf dem Bett, legte bas |
Tuch zu dem Unterrod, die Strümpfe neben die Schuhe, das |
Kleidchen neben den Mod. Sie war damals nod fehr Hlein ge- |
weſen, hatte mit Mühe die große Puppe getragen; in der Taſche
hatte fie ihren Louisdor gehabt, hatte geladht; fo waren fie Hand |
in Hand weitergegangen. Niemand hatte fie befeffen als ihn. |
Und jet beugte fid diefer weiße, ehrwürdige Kopf auf das |
Bett herab, dies alte, ftoifche Herz drohte zu zerbrechen, fein Ge- M
fiht vergrub fit in Cofettes Kleidern, und wenn in biefem |
Augenblick jemand die Treppe heraufgefommen wäre, hätte er |
ben Greis furchtbar ſchluchzen gehört. |
3. Der legte Tropfen des Keldhes
Der Tag nad einer Hochzeit ift ruhig. Man läßt die Glück—
lihen allein. Man font ihren langen Schlaf. Der Irubel der |
Glückwünſche und Befuhe fett erft fpäter ein. | |
Am 17. Zebruar war es fon über Mittag, als Vaste, |
Staubtuh und Staubwedel unter dem Arm, das Vorsimmer |
aufräumte. Plöglih hörte er, wie an die Türe geflopft wurde. |
Der Fremde hatte nicht geläutet, wie es fih an einem ſolchen
Tage geziemte. Baske öffnete und fab Fauchelevent. Er führte |
ihn in den Salon, in dem no alles drunter und drüber war |
und der nod einem Schladhtfelde glich. |
„Ab, Herr, fagte er, „wir find ſpät aufgeftanden.‘
„Iſt Ihr Herr Schon auf?” fragte Sean Valjean.
‚Welcher? Der alte oder der neue?’
„Herr Pontmercy.“
„Ab, der Herr Baron?” |
Baron ift man hauptfählic für die Dienftboten. Auf fie fällt |
720
immer etwas von dem Glanz ab. Marius, der ja ein Friegerifcher
Mepublifaner war, der noch dazu feine Gefinnung erprobt hatte,
wor Baron wider Willen. Sein Titel hatte in der Familie eine
fleine evolution veranlaßt. est war es Gillenormand, der
ihn in den Vordergrund fhob, während Marius ihn zurüd-
ftellte. Aber der Oberft Pontmerey hatte gefehrieben:
„Mein Sohn wird meinen Titel tragen.’
Marius gebordte, und Coſette, in der fih die Srauenart
füblbar machte, war entzüct, Frau Baronin zu fein.
„Der Herr Baron?‘ wiederholte Baske, „ich werde nad-
feben. Ich will ihm fagen, daß Herr Fauchelevent hier iſt.“
„Dein. Sagen Sie ihm das nicht. Beftellen Sie ihm nur,
daß jemand ba ift, der ihn allein zu fprechen wünfcht. Nennen
Sie feinen Namen.‘
Sean Valjean blieb allein.
Der Salon war, wie wir bereits berichteten, in vollfommener
Unordnung. Auf dem Parkett Tagen allerlei Blumen, die aus
Girlanden und Frifuren herabgefallen waren. Die Kerzen, bis
auf den Stumpf niedergebrannt, bildeten auf den Leuchtern aus
Kriftall Stalaftiten aus Wachs. Kein Möbel ftand an feinem
Plat. In den Eden waren Lehnftühle zufommengerüdt und
fhienen ein Geſpräch fortzufeßen.
So vergingen einige Minuten. Sean Valjean fland noch
immer unbeweglich an dem Platze, an dem Baske ihn verlaffen
hatte. Er war febr blaß. Seine Augen glühten und lagen in-
folge der Schlaflofigfeit in tiefen Höhlen. Der ſchwarze Mod
war fo zerdrüct, daß man auf den erften ‘Blick erkannte, er fei
in diefer Nacht nicht abgelegt worden.
Jeetzt Fam von der Türe das Geräufh von Schritten näher,
Sean Valjean blickte auf.
Lachend und erhobenen Hauptes trat Marius ein. Auch er
hatte nicht gefchlafen.
„Ach Sie find es, Vater!‘ rief er, als er Valjean erkannte.
„Dieſer Schafsfopf, Basfe, tat geheimnisvoll. Aber Sie Fom-
men zu früh. Es ift erft halb eins, Cofette ſchläft noch.‘
46 Hugo, Die Elenden. 721
Daß Marius zu Saudelevent Vater gefagt hatte, bewies,
wie glücflid er war. Bis jet hatte zwifchen den beiden immer
Kälte und Scheu geftanden, das Eis zwifchen ihnen war nicht
zu brecen nod zu ſchmelzen gewefen. In feinem Glückszuſtand
hatte Marius alles vergeflen, Fauchelevent war für ihn, was er
für Eofette war, der Vater.
In einem Parorismus der Freude fprad er weiter:
„Ich freue mich fehr, Sie zu fehen! Sie haben uns geftern
gefehlt. Wie geht es Ihrer Hand? Beſſer doch?‘
Zufrieden mit der beftätigenden Antwort, begann er meiter-
suplaudern:
„Wir haben viel von ihnen gefprochen, wir beide. Cofette
liebt fie fo febr. Sie dürfen nie vergeffen, daß Ihr Heim bier
ift. Von der Nue de l'Homme Arme wollen wir nichts mehr
wiffen. Um feinen Preis der Welt! Wie können Sie nur in
einer Straße wohnen, die mürrifch, verärgert und Falt ift, und
in die nicht einmal ein Wagen einfahren Fann? Kommen Sie
nur bierber, gleich heute! Mir find feft entfchloffen, ein glück—
lihes Leben miteinander zu führen. Mein Großvater hat Ge-
fallen an Ihnen gefunden. Spielen Sie Whift? Wenn Sie
Whiſt fpielen, werden Sie ihm ganz unentbehrlich fein. Wenn
ich bei Gericht zu tun babe, werden Sie Eojette fpazierenführen,
wie damals im Lurembourg. Erinnern Sie fih noh? Sie früh-
ftüefen doc mit ung?’
„Mein Herr, fagte Sean Valjean, ‚ih muß Ihnen etwas
fagen. Ich bin ein Galeerenfträfling.”
Es gibt Töne, die fo hoch find, daß unfer Obr fie nicht mehr
erfaffen kann. Und ähnlich geht eg mit gewiflen Gedanken — fie
berühren zunächft dag Gehirn deflen, dem fie mitgeteilt werden,
nicht. Die Worte „ich bin ein Gnleerenfträfling‘ erreichten wohl
bas Ohr Marius’, aber er verftand nicht. Er begriff, daß man
ihm da etwas gefagt babe, aber wußte nicht, was e8 war.
Jetzt erft merkte er, daß der Mann, der ihm gegenüberftand, |
in furchtbarer Verfaſſung war. Sein eigenes Glück hatte Ma-
rius gehindert, die Bläffe des andern zu bemerfen.
122
Jean Baljean nahm das fhwarze Tuch ab, in dag fein Arm
gehüllt war, widelte die Hand aus der Leinwand und zeigte ben
entblößten Daumen Marius.
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„Ich babe nichts an der Hand”, fagte er.
Marius fab den Daumen an.
„Ich babe aud nichts daran gehabt”, fuhr Sean DBaljean
fort. „Aber id mußte bei Ihrer Hochzeit fernbleiben. So gut
id es Fonnte, babe id es auch getan. Ich babe diefe Verlegung
er 123
vorgefhüst, um nicht eine Fälſchung zu begehen, denn fonft
Fönnte Ihr Heiratsfontraft ungültig erflärt werden.” |
Marius ftammelte:
„Was ſoll bas bedeuten?”
„Das ſoll bedeuten, daß ich auf den Galeeren war.’
„ber mir ift, als ob ich verrückt werden ſollte!“
„Herr Pontmercy, ich war neunzehn Vabre auf den Galeeren.
Wegen Diebftahls. Dann wurde ich zu Iebenslänglicher Kerfer- |
haft verurteilt. Wieder wegen Diebftahlse. Als Rückfälliger.
Augenblieli bin ic ein Bannbrüchiger.“ |
Marius mochte not fofebr vor der Wirklichfeit zurückſchrek—
fen, jchließlih mußte er fit ergeben. Er begann zu begreifen, |
und wie es in folhen Situationen zu gefheben pflegt, er begriff |
zuviel. Ein ſchreckliches Licht ging ibm auf, er glaubte jeßt, daß |
auch ibm Furchtbares bevorftehe. |
„Sagen Sie alles!’ rief er. „Sie find Eofettes Vater!’
Und mit einer Bewegung höchften Abfcheus trat er einige |
Schritte zurüd. |
Sean Baljeon richtete fih fo majeftätifh auf, daß er über |
fein eigenes Maß hinauszuwachſen ſchien. |
„Sie müffen mir wohl glauben, mein Herr; obwohl unfer |
Eid vor dem Gericht nicht gilt . . .// |
Er ſchwieg einen Augenblick, dann fuhr er mit höchſter Feftig- |
Feit fort, indem er jede Silbe bervorbob: |
„Sie glauben mir. ch, der Vater Eofettes? Nein, vor Gott |
nicht. Sch bin ein Dauer aus Faverolles. Als Baumſcherer ver- |
diente ich mein Brot. Ich heiße nicht Fauchelevent, fondern Sean |
Valjean. Mit Eofette bin ich nicht verwandt. Serubigen Sie |
fih. Und was bedeutet Eofette? Sch bin einer, der vorübergeht.
Vor zehn Jahren wußte id noch gar nicht, daß es Cofette gab. |
Ich Liebe fie, das ift wahr. Wenn man ein Kind aufwachſen ge-
feben bat, liebt man es, zumal, wenn man felbft fon alt ift. |
Ein Greis ift für alle Éleinen Kinder ein wenig Großvater. Sie
fönnen, glaube ich, vorausfesen, daß ich etwas wie ein Herz |
724
befiße. Sie war eine Waiſe. Weder Vater nob Mutter. Sie
brauchte mich. Darum begann ich fie zu lieben. Kinder find ja
fo ſchwach, daß der erftbefte, fogar einer wie ich, ihr Beſchützer
werden kann. Diefe Pflicht babe ich gegen Cofette erfüllt. Ich
bilde mir nicht ein, daß man eine foldhe Kleinigkeit eine edle Tat
nennen Fann, aber wenn es eine ift, fo bedenfen Sie, daß ich fie
vollbradht habe. Stellen Sie diefen mildernden Umftand in
Rechnung. Heute fheidet Cofette aus meinem Leben aus, unfere
Wege trennen fih. In Zukunft bin ich niemand für fie. Cofette
ft die Baronin Pontmerey. Eine andere Vorſehung wacht über
ihr. Sie bat gewonnen bei diefem Tauſch. Alles ift gut. Was
die jechshunderttaufend Sranfen betrifft, fo fprehen Sie mir
nicht davon; man bat fie mir zur Aufbewahrung gegeben. Wie
fonnte man es mir anvertrauen? Nun, ich erftatte es ja zurüd.
Niemand darf mehr von mir verlangen. Sa, ich fage Ihnen
fogar meinen wahren Namen. Ich lege darauf Wert, daß Sie
wiflen, wer ich bin.”
Sean Valjean fab Marius in die Augen.
Mod waren die Gedanken des jungen Mannes wirr und un-
zufommenhängend. Er war fo faflungsios, daß er, faft als ob
dDiefe Mitteilung ibm ärgerlich fei, fragte:
ber warum fagen Sie mir das nur? Wer zwingt Sie
dazu? Sie fonnten hr Geheimnis doc für fit behalten. Mie-
mand bat Sie denunziert, niemand verfolgt Sie. Sie haben
einen Grund, mir freimillig folhe Mitteilung zu machen.
Sprechen Sie weiter. Noch haben Sie nicht alles gefagt. Was
bezweden Sie mit Ihrem Geftändnig?”
„Was ich bezwede? Nun, was Fann ein Menſch damit be-
zwecken, daß er fagt: ich bin ein Galeerenfträfling? Ja, meine
Veranlaſſung ift vielleicht feltfam. Ich tue es aus Gewiſſen—
haftigfeit. Segreifen Sie, es gibt unglücfliherweife ein Band,
das mein Herz feffelt. Zumal wenn man alt ift, find folbe Fei-
jeln zäh. Alles ringsum löſt fih auf — fie bleiben beftehen.
Hätte ich diefes Band zerreißen Fünnen, fortgeben, weit von hier,
ich hätte es gewiß getan. Yn der Mue du Bouloy warten die
125
Poſtkutſchen! Sie find glücklich — id gehe. Sch babe es ver: |
fucht, biefes Band zu zerreißen, id habe daran gezerrt, aber eg |
hielt gut, id babe mir felbft das Herz herausgeriffen. So habe |
ich begriffen, daß ich nicht anderswo als hier leben kann. Ich |
muß bleiben. Natürlich haben Sie recht, es war dumm von mir, |
ich Éonnte ja ganz einfach bleiben. Sie bieten mir ein Zimmer |
in Ihrem Haufe, die Baronin Pontmersy liebt mich, hält einen |
bequemen Lehnftuhl für mich bereit; Ihr Großvater wünſcht
nichts anderes als mic hier zu haben. Ich gefalle ibm. Wir |
leben alle zufammen, effen an einem Tiſch, ich reihe Eofette.... . |
Verzeihung, der Baronin Pontmercy den Arm. Es ift die|
Sreude, bas Glück, alles. Wir leben als eine Familie!‘ |
Bei diefem Wort regte fih in Sean Valjean Zorn. Er ver-
Ihränfte die Arme, fiarrte den Fußboden an, als ob er ein Loc
in die Erde bohren wollte, und fprad laut: |
„Eine Familie? Dein. Ich gehöre zu Feiner Familie, nicht zu |
der Ihren und nicht zu der der Menſchen ſchlechthin. Ich bin in
ollen Häufern, wo Menfhen untereinander find, überzählig. Sch
bin ein Unglücklicher, der außen fteht. Habe ih Water und
Mutter gehabt? Faft bezweifle id es. An dem Tag, da ich Diefes |
Kind verheiratete, war alles vorbei; ich fab fie glücklich, fie hatte
den Mann gewonnen, den fie liebt, alle Freuden einer Familie
— da fagte ich mir: dringe nicht ein! Ich Eonnte Fügen, gewiß, |
Sie alle täufchen, Fauchelevent bleiben. Solange es für bas
Kind war, Eonnte ich es. Aber jebf, da es um meinetwillen ge-
ſchehen fol, Fann ich es nicht mehr tun. Ich braucte ja nur zu
Ichweigen, gewiß, und alles wäre weitergegangen. Sie fragen,
was mich zu fprechen zwingt: ein Eomifches Ding, mein Gewiffen.
Es wäre ja leicht gewefen, zu fchweigen. Eine Naht lang habe
ich verfucht, mich zu diefem Entſchluß durchzuringen. Ich babe |
alle Gründe, febr gute Gründe, die fih dafür anführen laſſen,
erwogen und bob — ich habe getan, was id Éonnte. Mur zwei |
Dinge gelangen mir nicht: ich Eonnte weder jenes Band zer- |
reißen, bas mein Herz umfchlungen hält, noch Fonnte id jenen
Berater zum Schweigen bringen, der da zu mir fpridt, wenn
726
ich allein bin. Darum bin ich hierher gefommen, um hnen
heute morgen alles zu fagen — alles oder faft alles. Dinge, die
nur mich betreffen, behalte ich für mich. Das MWichtigfte wiflen
‚Sie jest. Ich babe mein Geheimnis hierher getragen und vor
Ihnen entblößt. Oh, e8 wäre wohl äußerlich alles gut gewefen,
‚wenn ic) Fauchelevent geblieben wäre. Aber diefes fcheinbare
Glück genügt nicht. Der Menfh muß mit fich felbft zufrieden
fein. Sollte ich, ohne Sie zu warnen, Sie in Beziehungen zum
Bagno bringen? Sollte ih mich an Ihren Tifh feßen, mit dem
Gedanken, daß Sie mich fortiagen würden, wenn Sie wüßten,
wer ich bin? Sol ih mid von Ihren Bedienten betreuen laffen,
‚die mir verächtli den Mücken Fehren würden, wenn fie mein
Geheimnis erführen? Sollte id mir einen Druck Ihrer Hand
| fteblen? Sooft in diefem Haufe vier Leute einig und glücklich
beifammengefeflen wären, Ihr Großvater, Sie beide und ic,
immer wäre einer unter ung ein Unbefannter gemefen. Ob, es
‚gibt Fälle, in denen Schweigen Lügen bedeutet. Und diefe Lüge,
dieſen Diebftabl, diefen elenden Verrat hätte ih Iropfen für
| Tropfen täglich ausfpeien und wieder auffaugen follen. Damit
hätte ich Schlafen follen. Coſette zulächeln, mein Brot eflen?
Solcher Betrug, um glidlih zu fein?’
In einem Ion, der fi) nicht befehreiben laßt, fuhr er fort:
„Herr Dontmercy, id bin ein Ehrenmann, wenn aud nicht
im gewöhnlichen Sinne. Im Ausmaß, in dem id mich vor
Ihnen erniedrige, fteige ich in meiner eigenen Achtung. ch wäre
fein Ehrenmann, wenn Sie mich achten würden, weil id den
Betrug fortfeße; jeßt aber, da Sie mit verachten, bin ich es.
‚Mein Geihie will, daß ih nur erfhlihene Wertſchätzung ge-
‚nießen Éann, die mich demütigt und kränkt; damit id mic achten
Kann, müffen die andern [let von mir denfen. Dann bin id
ſtolz. Sch bin ein Galeerenfträfling, der feinem Gewiſſen folgt.
Ich weiß wohl, daß das unglaublich Flingt. Aber was joll ich
tun? Es ift doch fo. Sch babe gewiffe Verpflichtungen mir felbft
| gegenüber auf mic genommen, und die halte ih. Es gibt im
| Leben Begegnungen, die uns Verpflichtungen auferlegen,
127
Zufälle, die ung binden. Mir ift viel gefchehen in meinem Leben, |
Herr Pontmerey!’ |
Wieder machte jean Daljean eine Paufe. Er würgte, als ob |
feine Worte einen bitteren Nachgeſchmack hätten. |
„Früher babe id, um zu leben, Brot geftohlen; heute will id |
nicht zu bemfelben Zwed einen Namen fteblen.// |
Wieder trat eine Paufe ein. Beide fchwiegen, jeder von feinen |
Gedanken in Anfprud genommen. Marius ſaß am Tifh und |
ftügte den Kopf in die Hände. Jean Valjean ging auf und ab. |
„Stellen Sie fi) doc vor, was gefchehen wäre, mein Herr. |
Gut, ich fage alfo nihts und bleibe Herr Gauchelevent. Vo |
nehme meinen Plas in Ihrem Haufe ein, bin einer der Ybren, |
fomme morgens in Pantoffeln zum Frühſtück, abends gehen wir |
zu dritt ins Theater, ich begleite Madame Pontmercy in die |
Æuilerien, oder nad der Place Royal; immer find wir bei- |
fammen. Eines Tages fisen wir da, Sie, id, wir plaudern,
lachen, plößlic hören Sie den Namen Jean Valjean rufen,
feben, wie eine Hand, die Hand der Polizei, mir die Maske
vom Gefiht reißt.” |
Marius war entfeßt aufgefprungen.
„Jun, was fagen Sie dazu?‘
Das Schweigen Marius’ war eine Antwort.
„Sie feben,” fuhr Sean Valjean fort, ‚daß ich recht hatte, |
nicht zu Schweigen. Seien Sie glücflich, feien Sie der Engel
eines Engels, machen Sie fi Feine Sorge darum, wie ein
ormer Derdammter fein Herz zerfleifht und bob feine
Pflicht tut.“
Marius trat zu Jean Valjean und reichte ihm die Hand.
Sean Valjean reichte fie ibm nicht, Marius mußte fie ſelbſt er- |
greifen. Sie war kalt wie Marmor.
„Mein Großvater hat Freunde,“ ſagte Marius, „wir werden
Ihre Begnadigung erwirken.“ |
„Das ift unnötig. Man glaubt mich tot, und bas genügt. Die |
Toten werden nicht verfolgt. Der Tod ift ebenfogut wie eine Be—
gnabigung. Und überdies ift die Pflicht der einzige Freund, deflen
128
Hilfe id in Anfpruch nehme; ich brauche Feine andere Gnade als
die meines Gewiffens.//
In diefem Augenblif wurde fanft die Türe geöffnet, und
Cofettes Kopf tauchte in dem Spalt auf. Man fab nur ihr lie-
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benswürdiges Geſicht und das Haar, das noch ungeordnet, aber
um ſo reizender war; fie fab erſt Jean Valjean, dann Marius
an und rief lächelnd:
Betten, daß ihr von Politik fprecht! Wie dumm von euch!
Statt zu mir zu Éommen . . .”
129
jean Daljean fuhr zufammen. |
„Coſette“, ftammelte Marius, Eonnte aber nicht weiter. |
fprehen. Die beiden Männer faben wie ertappte Verbrecher aus. |
„Jetzt babe id euch in flagranti erwiſcht“, fagte Cofette. |
„Gerade babe id noch gehört, wie Papa fagte: Gemwiffen . . . |
Pflicht . .. das ift alles nur Politik! Sch will das nicht. Schon |
am erften Iag nad) der Hochzeit von Politik fprechen, das geht |
wirklich nicht. Das ift nicht recht.‘
„Du ierft, Coſette,“ erwiderte Marius, „wir fprachen von |
Geſchäften. Es handelt fi um die Frage, wie wir die ſechs—
bunderttaufend Franken anlegen follen.”
„Das ift alles Unfinn. Sch bin da. Werde id hier gebraucht?“
Fest öffnete fie kurz entfhloffen die Tür und trat in den |
Salon. Sie trug ein langes, weißes Peignoir mit weiten |
Ärmeln, die faft bis zu den Füßen berabfielen. Auf alten |
gotifhen Bildern fieht man biefe entzüdenden Gewänder, von
Engeln getragen. |
Sie betradhtete fih von Kopf bis zu Fuß in einem großen
Spiegel, dann rief fie fröhlid:
„Sp, nun bleibe ich bei euch. In einer halben Stunde wird |
gefrühftückt, da könnt ihr euch nach Luft unterhalten. Ich werde
eud ganz vernünftig zuhören.’
Marius ergriff ihren Arm und fagte zärtlich:
langweilen.‘
„Du haft heute ein bübfhes Salstud umgenommen, Marius. !
Sie find recht Évfett, edler Herr. Mein, id werde mich nicht!
langweilen.‘
„Doch, gewiß!‘
„Nein, denn es handelt fih ja um euch. Wenn id es aud
nicht verftehe, ich werde doc zuhören. Wenn man die Stimmen)
hört, die man liebt, braucht man ja nicht zu wiflen, was ge⸗
iprodhen wird. Darum bleibe ich bei euch.‘
„Es ift unmöglich, liebe Coſette.“
„Unmöglich?“
730
A0]
„Schön, fagte Cofette, „und ich wollte euch fo viele Meuig-
feiten erzählen. ch hätte euch gefagt, daß Großvater nod)
hläft, daß die Tante zur Meſſe gegangen ift, daB der Ramin in
Vaters Zimmer raudt, daß Nicolette den Schornfteinfeger ge-
holt bat, daß Touffaint und Micolette fih fehon gezanft haben
und daß Micolette fih über Touffaint Iuftig macht, weil fie
ftottert. Sp, jeßt erzähle id euch gar nichts. Ad, unmöglich?
Nun, jeßt werde ich einmal fagen: unmöglich! ch bitte, mein
Éleiner Marius, laß mich doch bei euch!”
„Ich ſchwöre dir, wir müſſen allein fein.’
„Sp, jeßt reden Sie mit der Männerftimme, Herr. Gut, ic)
fann ja gehen. Und Sie, Vater, haben mir aud nicht geholfen.
hr feid beide Iyrannen. Ich werde es dem Großvater jagen.
MWenn ihr glaubt, ich Fomme wieder und erzähle euch Gefchichten,
fo irrt ihr euch. Ich bin ſtolz.“ |
Und fie ging.
Die Türe fiel ins Schloß, und es war, als ob es in dem
Zimmer wieder dunfel würde.
Marius überzeugte fib, daß die Tür wirklich gefchloffen war.
„Arme Coſette,“ murmelte er, „wenn fie erfahren wird ...“
Sebt begann Sean Valjean an allen Gliedern zu zittern. Ein
entfester Blick fiel auf Marius.
„Oh, Sie wollen es Eofette jagen! Ad), daran hatte ich nicht
gedacht. Man ift flarf genug, bas eine zu erfragen, aber dann
verjagt die Kraft. Herr, ich bitte und beſchwöre Sie, geben Sie
mir hr heiligftes Ehrenwort, daß Sie nichts fagen werden.
Genügt es denn nicht, daß Sie es willen? ch Fonnte es von
felbft jagen, ohne gezwungen zu werden, der ganzen Welt hätte
ich es fagen können, nur ihr nicht. Wie foll man ihr begreiflich
machen, was ein Galeerenfträfling ift? Großer Gott!’
Er ſank in den Stuhl und verbarg fein Gefiht in ben Hän-
den. Man hörte nichts, aber an dem Zuden feiner Schultern
fonnte man erfennen, daß er mweinte. Stille Tränen — furdt-
bare Tränen.
731
„Seien Sie ruhig,” fagte Marius, ‚ich werde Ihr Ge-
beimnis für mich behalten.”
Er war vielleicht nicht fo mitleidvoll, wie er hätte fein follen;
aber feit allzu kurzer Zeit mußte er fih mit einer fbredlihen
und unerwarteten Wirflichkeit auseinanderfeßen, mußte be-
greifen, daß er nicht Fauchelevent, fondern einen Galeerenfträf-
ling vor fit hatte.
„Ich muß hnen aud einige Worte wegen des Geldes fagen,
dag Ihnen zur Aufbewahrung gegeben wurde und bas Sie fo
treu verwahrt haben. Das ift ein Beweis von hoher Ehrlichkeit.
Sie müffen belohnt werden. Beftimmen Sie felbft den Betrag
— ſcheuen Sie ſich nicht, ibn bob zu bemeſſen.“
„sh danke Ahnen, mein Herr”, antwortete Sean DBal-
jean fanft.
Einen Augenbli Tang blieb er in Machdenfen verfunfen,
dann meinte er:
„Jetzt ift alles fo ziemlich erledigt. So hätte ich nur noch ..“
„Was?“
Sean WValjean zögerte, dann ſtammelte er mit erſtickter
Stimme:
„Glauben Sie jetzt, da Sie alles wiſſen und allein zu be—
ſtimmen haben, daß ich Coſette nicht wiederſehen ſoll?“
„Ich denke, es wäre wohl das beſte“, antwortete Marius kalt.
„Ich werde ſie nicht mehr ſehen“, murmelte Jean Valjean.
Er ging zur Tür, legte die Hand auf die Klinke, ſchon ging die
Tür auf. Aber noch immer ſtand er ſtill. Jetzt wandte er ſich
nach Marius um. Er war totenblaß. Jetzt hatte er keine Tränen
mehr in den Augen, aber ein ſeltſam unſeliges Feuer leuchtete
aus ihnen. Seine Stimme war eigentümlich ruhig.
„Wiſſen Sie, mein Herr,“ ſagte er, „wenn es Ihnen recht iſt,
werde ich doch kommen, Coſette beſuchen. Ich ſehne mich ſehr da—
nach, das können Sie mir glauben. Wenn ich nicht an ihr hinge,
wäre ich abgereiſt, ohne mit Ihnen zu ſprechen, wie ich es getan
habe. Aber da ich bleiben wollte, wo Coſette iſt und ſie auch
732
micberfeben, mußte id Ihnen alles fagen. Sie verftehen mich
doch, nicht wahr? Das ift ja leicht zu verftehen. Wiffen Sie, ich
habe das Kind neun Jahre lang bei mir gehabt. Erft wohnten
wir in biefem Haus auf dem Boulevard, dann im Klofter, zu-
legt in der Nähe des Turembourg. Dort haben Sie uns das
erftemal gefehen. Sie erinnern fi) wohl not an den blauen
Plüſchhut. Dann find wir in bas Quartier des Invalides ge-
zogen, dort hatten wir bas Haus mit dem arten. Rue Plumet.
Ich wohnte in dem Éleinen Hinterhof, Eonnte fie immer fingen
und Klavier fpielen hören. Das war mein Leben. Niemals
trennten wir ung, neun Jahre und einige Monate. Ich war wie
ihr Vater — fie war mein Kind. Ich weiß nicht, ob Sie mid
ganz verftehen, Herr Pontmerey, aber jeßt wegzugehen, fie nicht
mehr zu feben, nie mehr mit ihr zu fprechen, gar nichts von
allem zu behalten, das ift ſchwer. Wenn Sie e8 erträglich fin-
den, Fomme ich von Zeit zu Zeit zu Cofette. Sch muß ja nicht oft
fommen, und ich werde nicht lange bleiben. Sagen Sie ihr, fie
ſoll mich in dem Fleinen Zimmer unten empfangen, in dem Erd-
gefhoß. ch würde ja auch durch die andere Tür bereingeben,
die für die Dienftboten ift, aber es würde auffallen. Ich glaube,
es ift befler, wenn ich durch das Haupttor gehe. Wirklich, ich
möchte Cofette zuweilen feben. Selten, nur fooft es ihnen be-
liebt. Verſetzen Sie ſich in mein Lage. Ich babe ja fonft nichte.
Mir müffen auch aufpaffen. Wenn ich gar nicht mehr Fomme,
wird es einen fehlechten Eindruf machen, und man wird bas
feltfom finden. Do Fann ih, wenn Sie e8 wiünfchen, nur
abends Fommen, bei Einbrudy der Dunkelheit.”
„Kommen Sie jeden Abend, fagte Marius, „Coſette wird
Sie erwarten.”
Marius verneigte fih, bas Glück geleitete die Verzweiflung
zur Tür, und die beiden Männer trennten fid.
133
Fünftes Buch
Dämmerung
l. Das Zimmer im Erdgeſchoß
|
Am nähften Tage, gegen Cinbrud der Dämmerung, Flopfte
Sean Valjean an die Tür des Haufes Gillenormand. Baske
öffnete. Ohne zu warten, daß Sean Valjean ihn anredete,)
fagte er: |
„Der Herr Baron hat mid beauftragt, Sie zu fragen, ob}
Sie in den erften Stock hinauffommen oder unten bleiben!
wollen?’ |
„Ich bleibe unten’, antwortete Sean DBaljean. |
Baske, der es übrigens nicht an Mefpeft ermangeln Tieß,]
öffnete die Tür des Zimmers im Erdgefhoß und fagte:
„Ich werde die gnädige Frau verftändigen.‘ |
Diefes Zimmer war ein feuchter Raum mit gewölbter Dede;
er diente gelegentlih als Speicher, ging nad der Straße hin-
aus, war mit roten liefen bepflaftert und empfing fein ſpär—
lihes Licht durch ein vergittertes Fenfter.
Hier blieb der Staub ungeftört Liegen. Mod war die Der
folgung der Spinnen nicht organifiert. Ein fhônes, breites, mit
toten Fliegen geſchmücktes Gewebe fpannte fi über die Fenfter-
ſcheibe. In einer Ede waren Ieere Flafchen aufgeftapelt. Die
Wände waren einft odergelb getüncht gewefen, doch hatten fehl
große Stücfe der Bemalung abgelöft. Im Kamin brannte ein
euer. Offenbar hatte man alfo erwartet, daB Sean Valjea
jagen würde:
„Ich bleibe unten.” |
Zu beiden Seiten des Ramins ftanden Lebnftüble. An Stelle
eines Teppichs hatte man einen alten Dettvorleger ausgebreitet,
deſſen Wolle ſchon ganz abgefchabt war.
Sean Valjean war fehr müde. Seit Tagen hatte er nicht
mehr gegeflen, nicht gefchlafen. Er ſank in einen der Stühle.
Baske Fam wieder, ftellte eine brennende Kerze auf den
1347
|
|
Kamin und 309 fi zurück. Sean Valjean fab, das Kinn auf die
Bruft geftübi, in feinem Stuhl und bemerkte nichts.
Plöglih fuhr er auf. Cofette ftand binter ihm. Er hatte fie
nicht eintreten gejehen, fühlte aber, daß fie da war.
„Ad, rief Cofette, ‚id wußte, Vater, daß Sie eigentümliche
Launen haben, aber das hätte ih nicht von Ihnen erwartet.
Welch eine dee! Marius fagte, Sie verlangen, daß ih Sie
bier empfange.“
„Ja, id möchte es.
„Auf diefe Antwort war ich gefaßt. Gut, dann mögen Sie
wiflen, daB id Ihnen jest gleich eine Szene maden werde.
Zangen wir von vorne an. Küffen Sie mid, Papa.”
Sie bot ihm die Wange. Aber Sean Valjean rührte
fih nicht.
„Sie rühren fit nicht. Yo ftelle das feft. Das ift die Haltung
des Schuldbewußtfein. Immerhin, id verzeihe Ihnen. Jeſus
Cbriftus bat gefagt: Haltet die andere Wange bin. Hier ift fie.‘
Wieder rührte fih Jean Valjean nidt.
„Nun, jetzt wird die Sade ernft! Was habe ich Ihnen denn
getan? Ich bin wirklich beleidigt. Sie follten mich lieber ver-
fübnen. Sie fpeifen heute mit ung.”
„Ich babe ſchon gegeſſen.“
„Das iſt nicht wahr. Ich werde Herrn Gillenormand ſagen,
daß er Sie ausſchelten ſoll. Die Großväter ſind wie geſchaffen
dazu, den Vätern die Leviten zu leſen. Gut, jetzt kommen Sie
mit mir in den Salon, fofort.”
„Unmöglich.“
Coſette verlor ein wenig die Faſſung. Jetzt gab ſie es auf,
Befehle zu erteilen und begann zu fragen.
„Aber warum denn? Sie ſuchen das häßlichſte Zimmer des
Hauſes aus... denn es iſt ſcheußlich hier ...“
„Du weißt... Sie wiſſen, Baronin, daß id meine Eigen-
heiten babe. Es find Schrullen . . .!
Cofette fhlug die Hände sujammen.
135
„Baronin! Sie willen... . Das find ja lauter Neuigkeiten.
Mas bedeutet denn dag?’
Sean Valjean fuchte feine Zuflucht bei einem fchmerzlichen
Lächeln.
„Nun, Sie wollten ja Frau Baronin ſein, jetzt ſind Sie es.“
„Aber doch nicht für Sie, Vater!“
„Nennen Sie mich nicht mehr Vater. Nennen Sie mich
Herr Jean, oder Jean, wenn Sie wollen.“
„Nicht mehr Vater? Bin ich nicht mehr Coſette? Herr Jean?
Was iſt denn das? Die reinſte Revolution! Was iſt denn ge—
ſchehen? Sehen Sie mir doch in die Augen! Und Sie wollen
nicht bei uns bleiben? Was ſoll denn das?“
„Nichts.“
A0?"
„Alles ift wie immer.”
„Aber warum wechſeln Sie dann den Namen?‘
„Sie haben ihn ja aud geändert, Sie find jest Frau Ba—
ronin Pontmercy, ich bin Herr Sean.’
„Ich verftehe Fein Wort davon. Das iſt alles barer tin
Sch werde meinen Mann bitten, daß er erlaubt, Sie Herr jean
zu nennen. Ich hoffe, er wird nicht darauf eingehen. Sie be-
reiten mir großen Kummer. Schrullen Fann man ja haben, aber
darum muß man Cofette niht Kummer machen. Sie haben fein
Recht, böfe zu fein, denn Sie find ja gut.’
Er antwortete nicht.
Lebbaft ergriff fie feine Hände, bob fie mit einer unwiderfteh-
lihen Gebärde zu ihrem Geficht und preßte fie zwifchen ihren
Hals und ihr Kinn. Diefe Gefte war von unbefchreibliher Zärt-
lichkeit.
„Seien Sie wieder gut“, ſagte ſie. „Ich meine damit, Sie
ſollen freundlich ſein und zu uns kommen. Es gibt hier Vögel,
wie in der Rue Plumet. Sie ſollen hier wohnen und dieſes Loch
in der Rue de l'Homme Arme verlaffen, uns nicht Rätſel auf-
geben, fit benehmen wie alle Leute, Éurz, wieder mein
Vater fein.‘
136
Er löfte feine Hände aus den ihren.
„Ste brauden feinen Bater mehr, Sie haben einen Gatten.”
Eofette wurde jornig.
„Aber das bat wirflic feinen Sinn mehr!‘
„Wenn Touſſaint hier wäre,’ begann Sean Daljean wieder,
der ſich auf andere zu berufen fuchte, wie mon in der Not nad
dem ſchwächſten Aft greift, „ſo würde fie beftätigen, daB id
immer meine eigenen Ideen hatte. Das ift nichts Neues. Mir
war mein Winkel im Dunfel immer lieb.’
„Aber hier ift es kalt und gar nicht bell. Und es ift aud un-
erträglich, daß Sie fih Herr Sean nennen laffen wollen. Ich
will aud nicht, daB Sie zu mir ‚Sie‘ fagen. Sd bin wütend!
Seit geftern haben es alle darauf abgefehen, mich zornig zu
machen. Ich begreife überhaupt nichts mehr. Ich richte ein Zim-
mer aufs nettefte ein — wenn ich den lieben Gott felber binein-
jeßen hätte Eönnen — id hätte es getan. Jetzt läßt man mir
mein Zimmer fteben. Mein Mieter bleibt den Zins fhuldig. ch
beftelle ein gutes Eleines Abendeflen — bolla, fon will man
nicht bei mir effen. Vater Fauchelevent will plößlich Herr Sean
heißen und nur in einem häßlichen, verfchimmelten Keller emp-
fangen werden, wo die Mauern einen Dart haben, und wo es
nichts gibt, als Ieere Slajhen und Spinnweben! Sie find fon-
derbar, bas weiß ich, gut, es ift Ihre Art, aber Leuten, die
jung vermählt find, gewährt man Waffenftillftand. Sie hätten
etwas fpäter mit biefen eigentümlichen Neigungen bervortreten
. follen. Und Sie find vollfommen glüdlid in biefer widerwär-.
tigen Nue de l'Homme Arme? Sch war troftlos dort! Was
haben Sie nur gegen mih? Pfui!“
Dann wurde fie fharf, fab Sean Valjean ernft an und fagte:
„Sind Sie etwa böfe, weil ich glücklich bin?‘
Die Naivität dringt oft, ohne es felbft zu wiflen, tief in bas
Weſen der Dinge ein. Diefe Trage fhien Eofette einfach, Jean
Valjean aber furchtbar. Eofette zerfleifchte fein Herz.
Er erblaßte und fchwieg eine Zeitlang, dann murmelte er, als
ob er mit fich felbft ſpräche:
47 Hugo, Die Elenden. 731
„Ihr Glüd war bas Ziel meines Lebens. Vebt kann Gott
mid) abberufen, Eofette, du bift glücklich; meine Zeit ift um.‘
„Jetzt haben Sie wenigftens du gejagt!’ rief Cofette.
Und fie fiel ibm um den Hals.
2. Abwärte
Am nächſten Tage Fam Sean Valjean zur felben Stunde.
Cofette fragte jeßt nicht mehr, wunderte fit Faum nod; au
Iud fie ihn nicht mehr ein, in den Salon zu treten. Sie vermied
es, ihn Dater oder Herr Sean anzureden. Auch wehrte fie fi
nicht dagegen, daß er fie Baronin anfprab. Doch war fie nicht
mehr fo froh wie früher. Wenn fie jebt fähig gemefen wäre
traurig zu fein, gewiß wäre fie traurig gewefen.
Dffenbar hatte fie mit Marius eine jener Auseinander-
jeßungen gehabt, bei welchen der geliebte Mann fagt, was er
will, und nichts erklärt. Die Neugierde der Derliebten geht nicht
über ihre Liebe hinaus.
Das Zimmer im Erdgefhoß war ein wenig Eomfortabler ge-
macht worden. Baske hatte die Flaſchen fortgefhafft, Nicolette
die Spinnweben entfernt.
Und an allen weiteren Tagen fam Jean Daljean zur felben
Stunde. Täglich Fam er, denn er wagte nicht, Marius’ Erlaub-
nis anders als wörtlich zu nehmen. Der junge Mann richtete es
jo, ein, daß er nie zu Haufe war, wenn Sean Valjean Fam.
Allmählich gewöhnte fih das Haus an Herrn Fauchelevents neue
Schrulle. Zouffaint erklärte fogar:
„Er ift immer fo geweſen.“
Und der Großvater fagte: „Ein Original.” Damit war
alles gejagt.
So verftrihen mehrere Wochen. Ein neues Leben bemädhtigte
fit) allmählich Cofettes. Beziehungen, die aus der Heirat ent-
ftanden waren, Beſucher, Sorgen des Haushalts, Vergnü—
gungen, alle diefe ernften Dinge. Cofettes Luxus war nicht teuer.
Er beftand nur im Zufammenfein mit Marius. Mit ihm aussu-
138
gehen, wenn er ausging, zu Haufe bleiben, wenn er blieb, bas
war ihre größte Sorge. Immer wieder genoß fie die neue
Sreude, Arm in Arm mit ihm ausgehen zu dürfen am bellidten
Tage, fi) mit ihm ohne Begleiter in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Aud gab es allerlei Widerwärtigfeiten. Touffaint Eonnte fic
mit Micolefte nicht vertragen und ging. Marius hatte viel zu
tun, das Geriht nahm ihn oft in Anfprud.
Die Unterdrückung des vertraulichen ‚„Du’, die Anrede als
Baronin — alles bas bewirkte, daß „Herr Jean“ für Cofette
ein anderer wurde. Er hatte fit ja bemüht, fie von fid zu ent-
- fernen, nun gelang e8 ihm. Sie wurde wieder heiter, war aber
weniger zärtlich. Doc liebte fie ihn immer noch, dag fühlte er
wohl. Einmal fagte fie zu ihm: „Sie waren mein Vater, jet
find Sie es nicht mehr, dann waren Sie mein Onfel, jest find
Sie auch das nicht mehr. Erft Fauchelevent, jest Sean. Wer
find Sie eigentlih? Alles bas ift mir recht unlieb. Wenn ic)
nicht wüßte, daß Sie fo gut find, würde ich mich vor ihnen
fürchten.“
Aber er wohnte noch immer in der Rue de l'Homme Arme,
wollte bas Stadtviertel nicht verlaffen, in dem aud Co—
fette lebte.
Seit einiger Zeit beobachtete Jean DBaljean, daß bas junge
Paar recht zurückgezogen lebte. Die Sparfamfeit Marius’ hatte
für Sean Valjean eine eigentümliche Bedeutung.
Warum halten Sie fih nicht einen eigenen Wagen?’ fragte
er einmal Cofette. „Ein hübfches Coupé Eoftet nicht mehr als
- fünfhundert Franken monatlih. Sie find reich.‘
„Ich weiß nicht”, erwiderte Cofette.
‚And Touffaint ift weggegangen, ohne daß Sie Erfaß geſucht
haben, warum?”
Nicolette genügt mir.’
„Aber Sie brauchen dod eine Zofe.“
13% babe Marius.“
„Sie follten ein eigenes Haus führen, Bebiente haben, einen
“ Magen und eine Loge in der Oper. Es gibt nichts, was für Sie
47° 739
zu ſchön ift. Warum wollen Sie nicht daraus Nutzen ziehen, daß |
Sie reich find? Der Reichtum ift gut, wenn er fi) mit dem
Glück verbindet.’
Eofette antwortete nicht.
Jean Baljeans Beſuche wurden nicht Fürzer. Im Gegenteil,
wenn bas Herz ausgleitet, gerät e8 auf eine fhiefe Ebene. Oft
ftimmte er, wenn er feinen Beſuch in die Länge ziehen wollte, |
ein Loblied auf Marius an, fand ihn ſchön, edel, tapfer, geift-
voll, beredt, gütig. Cofette zu feben, in ihrer Gegenwart alles zu
vergeflen, war fein Glück. Mur fo Éonnte er feine Wunde
Ichließen.
Es gefbab, daß Baske Fam und beftellte:
„Herr Gillenormand läßt die Frau Baronin daran erinnern,
daß bereits ferviert iſt.“
Sehr nahdenflih ging Daljean we.
Einmal blieb er länger als gewöhnlich. Am nächſten Tag be-
merfte er, daß der Kamin nicht geheizt worden war. Salt, dachte
er, Fein Feuer! Aber fofort fand er eine Erflärung. Es bat
weiter nichts zu befagen, meinte er, wir find im April, es ift
nicht mehr alt.
„Mein Gott, wie falt es bier ift!” rief Eofette, als fie eintrat.
„Sicht doch!‘
„Haben Sie Basfe gefagt, er folle nicht heizen?’
„Ja. Wir find bald im Mai.’
„Aber bier im Haufe wird bis juni geheizt. Diefer Keller
da braucht bas ganze Jahr Feuer.‘
„Ich dachte, es wäre unnütz.“
„Das ift wieder eine von Ihren Ideen“, ermiderte Eofette.
Am nädften Tag war geheizt, aber die beiden Sebnftüble
ftanden in der anderen Ede des Zimmers, gleich neben der Tür. |
Mas bedeutet das? fragte fit Sean Daljean.
Er ftellte die Lehnftühle wieder an ihren alten Platz. Doch
fand er einigen Troft darin, daß wieder geheist war. Diesmal
blieb er nod Yänger als fonft. Als er aufftand, um zu gehen,
fagte Cofette:
740
nGeftern bat Marius etwas Sonderbares geſagt.“
„Was denn?’
„Er fagte: wir haben dreißigtaufend Livres Rente. Sieben-
undzwanzigtauſend von dir, dreitaufend von meinem Großvater.
Würdeſt bu den Mut haben, mit dreitaufend auszukommen?“
„Gewiß doch, fagte ich, mit dir natürlich. Aber warum fragft
du? Ich wollte e8 nur wiffen, fagte er.’
Sean Daljean Hatte nichts dazu zu fagen. Cofette erwartete
wohl von ihm eine Erflärung, aber er fchwieg. Als er in die
Rue de l'Homme Arme zurückehrte, war er fo verfonnen, daß
er das Haustor vermedfelte und in ein Nachbarhaus eintrat.
Erft im zweiten Stock bemerkte er, daß er ſich geirrt hatte.
Allerlei Vermutungen befhäftigten ihn. Offenbar machte fic
Marius Gedanken über den Urfprung der fehshunderttaufend
Sranfen und befürchtete, fie ftammten aus einer unreinen Quelle.
Vielleicht hatte er entdeckt, daß fie von ihm, jean Valjean, ber-
famen, und fcheute fi) vor diefem verdächtigen Neichtum. Er
309 es fogar vor, mit Cofette in Armut zu leben, ftatt einen
zweifelhaften Neichtum zu genießen.
Auch ahnte Jean Valjean, daß man ihn los fein wollte,
Am nächſten Tag erfchraf er, als er in das Zimmer eintrat.
“Die Lehnftühle waren verfhmwunden. Nicht einmal ein Seffel
war da.
„Ab, wo find denn die Lehnſtühle?“ fragte Eofette, als
fie eintrat.
„Sort, erwiderte jean Valjean.
„Aber das ift ſtark!“
„Ich babe Baske gejagt, er folle fie nehmen‘, ftammelte Jean
ë … tits
„Und warum?”
„Ich bleibe nur einige Minuten.‘
‚Aber daß Sie kurz bleiben, ift doch Fein Grund zu ſtehen!“
Cofette zudte die Achfeln.
„Heute laſſen Sie die Lehnftühle hinausfchaffen, neulich
ließen Sie bas Feuer löfhen. Sie find wirklich ſeltſam.“
171
„Adieu“, murmelte Sean Daljean.
Er fagte nicht: adieu Cofette, aber er brachte e8 auch nicht
übers Herz zu fagen: adieu, Frau Paronin.
Diesmal hatte er begriffen.
Am nädften Tag Fam er nicht. Cofette bemerfte es erft am
Abend. Es tat ihr weh, aber ein Kuß Marius’ tröftete fie.
Und am zweitnächſten Tag Fam er wieder nicht.
Cofette wurde nicht weiter aufmerffam, aber fie fandte
Micolette zu Herren Sean, um zu fragen, warum er nidt ge-
kommen fei. Nicolette brachte den Beſcheid, Herr Sean babe
viel zu fun, er werde bald Éommen, fobald als möglih. Auch
wolle er verreifen. Die gnädige Frau werde fi ja erinnern, daß
er von Zeit zu Zeit verreifen müßte. Kein Grund, fi zu be-
unruhigen. Man möge fi nicht darüber Gedanfen maden.
Sechästes Buch
Dunkelheit und legtes Licht
1. Letztes Auffladern
der verlöfhenden lampe
Eines Tages ging Sean Valjean die Treppe hinunter, ging
einige Schritte auf der Straße und feste fi) auf jenen Prell-
ftein, auf dem ihn in der Nacht vom 5. zum 6. juni Gavrode
gefeben hatte. Er blieb einige Minuten fißen, dann ftieg er
wieder hinauf. Das war die lebte Schwingung des Penbels.
Am nächſten Tag ging er nicht mehr aus. Und am übernädften
verließ er bas Bett nicht mehr.
Die Pförtnerin, die feine befcheidene Mahlzeit bereitete,
etwas Kohl, einige Kartoffeln und Sped, blickte in den irdenen
Zopf und fagte:
„Aber Sie haben ja geftern nichts gegeflen, lieber Mann!”
„Doch.“
„Aber der Topf iſt ja noch ganz voll!“
„Sehen Sie den Waſſerkrug. Er iſt ganz leer.“
742
„Das beweift nur, daß Sie getrunfen haben, und wenn
einer trinkt, aber nicht ißt, fo ift das Fieber.’
„Ich werde morgen eſſen.“
„Dder am Dreifaltigfeitstag! Warum denn nicht heute? Wer
jagt denn, id effe morgen? Mein ganzes Effen unberührt laffen.
Die Bohnen haben Sie nicht einmal angerührt, und fie waren
doch fo gut.”
Sean Valjean ergriff die Hand der alten Frau.
„Ich verfprebe Ihnen, alles aufzueflen‘‘, fagte er freundlich.
„Ich bin gar nidbt zufrieden mit Ihnen“, entgegnete die
Pförtnerin.
Sean Daljean fab feinen anderen Menfchen als diefe Frau.
Es gibt in Paris Straßen, die Fein Menſch benüßt, Häufer, die
niemand betritt. In einer folhen Straße und in einem foldhen
Haufe wohnte Sean Daljean.
Eine Woche verftrih, ohne daß Sean Valjean ausging. Er
blieb im Bett. Die Pförtnerin fagte zu ihrem Mann:
„Der gute Alte da oben fteht nicht mehr auf und ift nicht
mehr. Das fann nicht lange dauern. Er hat wohl Kummer. Ich
bin überzeugt, daß feine Tochter ſchlecht verheiratet iſt.“
nBenn er reich ift, antwortete der Pförtner im Ton ebe-
"männlicher Überlegenheit, „ſo kann er einen Arzt holen laffen, ift
er arm, fo Fann er es nicht. Wenn er feinen Arzt holt, ftirbt er.’
„Und wenn er doc einen holt?”
„Dann ftirbt er auch“, erklärte der Pförtner.
Am felben Tage fab die Pförtnerin auf der Straße einen
Arzt, der in jener Gegend wohnte. Sie bat ihn auf eigene Ver—
‚antwortung, zu dem Alten hinaufzugehen.
… Mg der Arzt wieder herunterfam, fragte ihn die Pförtnerin:
„Stun, Herr Doktor?‘
„Ihr Kranker ift wirklich krank.“
„Bas bat er denn?”
‚les und nichts. Soviel mir fcheint, hat er jemand verloren,
on dem er febr hängt. Manche Leute fterben an folhen Sachen.“
„Und was bat er Ihnen geſagt?“
743
„Daß es ibm gut geht.‘
„Kommen Sie wieder?’
„Ja, aber beffer wäre, es Fäme ein anderer an meiner Statt.”
2. Erlöſchen
Eines Abends hatte Sean Valjean Mühe, ſich auf dem EN
bogen aufzurichten; er fühlte feinen Puls und fand ihn Faum.
Sein Atem war Eur und feßte zuweilen ganz aus.
Don Todesahnungen aufgefchredt, raffte er fi zufammen, ftand
auf und Eleidete fi) an. Dabei mußte er mehrere Male einhalten;
als er in den Mod fchlüpfte, trat ibm Schweiß auf die Stirne.
Seit er allein war, hatte er fein Bett in das Vorzimmer ge-
ftellt, um die verödeten Räume möglichft wenig zu benüben.
Feder Schritt, den er von einem Möbelftücd zum andern fat,
ermüdete ihn fo fehr, daß er fit feßen mußte. Das war nicht
die gemôbnlihe Müdigkeit, die Erfehöpfung ift und zugleich
Sammlung neuer Kraft; es war der ſchwache Meft der Lebeng:
fraft, die verftrömt und fich nicht mehr erneuert.
Einer der Stühle, auf den er fich fallen ließ, ftand vor dem
Spiegel, der ihm einft fo verhängnisvoll geworden war, als er
darin Cofettes Schrift las. Er blidte hinein und erfannte fid
foum. Er war adhtzig Sabre alt! Bevor Cofette geheiratet hatte,
hätte man ihm Faum fünfzig gegeben; diefes einzige Jahr zählte
für dreißig. Auf feiner Stirn waren nicht die Runzeln des
Greifenalters, fondern bas geheimnisvolle Mal des Todes. Man
fühlte die unerbittlihe Klaue des Schickſals. Seine Wangen
waren fchlaff, die Haut hatte eine Farbe, die an Erde erinnerte;
die beiden Mundwinfel waren berabgezogen wie bei den Masken,
die man auf antifen Gräbern fiebt. Vorwurfsvoll blidte er
ing Leere.
Sept befand er fi im letzten Stadium der Verzweiflung, in
jenem Zuftend, wo der Schmerz fozufagen nicht mehr beweglih
ift, fondern erftorrt; eine Schicht der Verzweiflung lag auf
feiner Seele. |
747
Es war dunfel geworden. Er fhleppte fih mübfam an einen
Tiſch, auf dem Feder, Tinte und Papier bereitlag. Seine Hand
gitterte, als er ſchrieb:
„Ich fegne dich, Cofette. Du follft alles wiflen. Dein Patte
bat recht, daß er mir zu verftehen gab, ich follte mich fort-
packen; doc ift mandyes nicht wahr, was er glaubt; und doch
bat er ref. Er ift ein vorzügliher Menſch. Du folft ihn
immer lieben, wenn ich tot fein werde. Cofette, ich will dir
fagen, daß das Geld dir gehört. So verhält es fih damit:
der weiße Jett kommt aus Norwegen, der fhwarze aus Eng-
land, das ſchwarze Glas aus Deutfchland. Vett ift leichter,
Eoftbarer, teurer. Man fann in Franfreich Imitationen ber-
ftellen fo gut wie in Deutfchland. Dazu braudht man einen
Eleinen, zwei Qundratzoll großen Amboß und eine Spiritug-
lampe, um die Wachsmaſſe zu fchmelzen. Früher verwendete
man Harz, bas mit Ruß verfeßt wurde und vier Franken pro
Pfund Foftete. Sch babe entdeckt, daB man auch Gummilack
und Zerpentin verwenden Fann. Dann Eoftet bas Pfund nur
dreißig Sous, und der Stoff ift fogar beffer. Die runden
Budel werden aus violettem Glas gemadt und auf einem
fleinen Eifenrahmen in die Harzmaffe eingefest. Für fchwar-
jen Schmudf muß das Glas violett fein, für Goldſchmuck
ſchwarz. Befonders die Spanier Faufen bas gern. Spanien ift
das Land des Jetts ...“
Hier unterbrach er fih. Die Feder fiel ihm aus der Hand,
er begann verzweifelt zu fchluchzen.
In diefem Augenblif wurde an die Tür geflopft.
3. Ein Verleumder, der zum Ehrenretter wird
An demfelben Tage oder, genauer gejagt, am felben Abend,
als Marius fih in fein Arbeitsfabinett zurücfgezogen hatte, um
einen Akt zu ftudieren, bradte ihm Baske einen Brief und
meldete, der Schreiber warte im Vorzimmer.
145
Ein Brief fann, ebenfo wie ein Menſch, ordinär ausfeben.
Grobes Papier, ſchlechte Faltung mißfallen auf den erften Blick.
Der Brief, den Baske brachte, war von diefer Art. Er roch nad)
Zabaf. Nichts weckt leichter Erinnerungen wie ein Gerud.
Marius erfannte ihn. Er las die Anfchrift, die lautete: „An
den Herrn Baron Pommerci, im eigenen Haufe.” Der Tabak:
geruch half ihm, die Schrift wiederzuerfennen.
Das war das Papier, das diefelbe Tinte; die gleiche Schrift,
der gleiche Tabaf: die Stube Jondrettes tauchte in feiner Er-
innerung auf.
Seltfam, jeßt wurde er auf eine der beiden Spuren ver-
wiefen, die er fo lange gefuht und bereits verloren ge-
glaubt hatte.
Haftig entfiegelte er bas Schreiben und las folgendes:
„Herr Baron,
wenn bas Höchſte Wefen mic mit den nötigen Talenten aus-
geftattet hätte, wäre ich der Baron Tbénard, Mitglied der
Akademie der Wiffenfhaften, aber fo bin ich es nicht. Ich
babe nur denfelben Namen mie er und bin glüdlid, wenn
diefer Name mich Ihrer Güte empfiehlt. Die Wohltat, die
Sie mir erweifen, wird gegenfeitig fein. Ich befise ein Ge-
beimnis, bag eine Perfon betrifft, die Sie betrifft. Diefes
Geheimnis ftelle ich Ihnen zur Verfügung, damit ich Ihnen
nüßen kann. Sie follen ein einfades Mittel finden, aus
Ihrer ebrenmerten Familie dag Individuum zu verjagen, das
fein Recht darauf bat, denn die Frau Baronin ift von guter
Herkunft. Die Tugend fol nicht länger mit dem Verbrechen
gufammentwobnen.
Sch erwarte im Vorzimmer die Befehle des Herrn Barons.“
Der Brief war unterzeichnet: Thenard. Diefe Unterfchrift
war nicht gefälfcht. Der Schreiber hatte ſich begnügt, fie etwas
zu verfürzen.
Der fhwülftige Stil und die ſchlechte Orthographie hätten
746
genügt, um Marius auf die rechte Spur zu lenfen. Yet be-
ftand Fein Zweifel mehr.
Marius war fief erregt. Mad einer erften Wallung des
+ Staunens empfand er ein intenfives Glücksgefühl. Jest brauchte
er nur noch den andern zu finden, den Mann, der ihn gerettet
hatte, dann war er wunſchlos.
Er 309 eine Lade aus feinem Schreibtifch, entnahm ihr einige
Noten, ftedte fie in die Tafhe und gab Vaste Beſcheid:
„Laſſen Sie den Mann eintreten.’
„Herr Thénard!“ meldete Vaste.
Und nod einmal war Marius überrafht. Der Mann, der
eintrat, war ihm vollfommen unbefannt. Es war ein Greis mit
einer plumpen Naſe, der das Kinn im Halstuch verbarg und
grüne ‘Brillen aufhatte; die glatten Haare hingen in die Stirn
wie bei den Perücden der Kutfcher vornehmer englifher Herren.
Er hatte graue Haare und war vom Kopf bis zu Fuß in ein
Ihwarzes, fhäbiges, aber fauberes Gewand gekleidet. Eine Un-
menge Serloden baumelten über der Weſtentaſche und ließen
eine Uhr ahnen. Er hatte einen alten Hut in der Hand. Übri-
gens ging er gebüct, und die Krümmung feines Rückens be-
fonte die Tiefe feiner Derneigung.
Marius war fo enttäufcht,daß er den Unbefannten ziemlich übel-
launig empfing. Er mufterte ihn vom Kopf bis zu Fuß, während
der Sremde fi maflos tief verneigte, dann fragte er barf:
„Bas wollen Sie?’
Der Mann antwortete mit einem liebenswürdigen Lächeln.
„Es Scheint mir unmöglich, daß ich nicht fon die Ehre ge-
habt haben follte, dem Herrn Baron in irgendeinem Salon zu
- begegnen. Wenn ich nicht irre, babe ich Sie vor einigen jahren
bei der Fürftin Bagration und im Salon des Grafen Dambrai,
Pairs von Frankreich, geſehen.“
Marius beobadtete die Sprechweiſe des Unbekannten fharf.
Seine Enttäufhung wuchs. Der Mann fprad in einem näfeln-
den Zonfall, der ganz und gar nicht der fharfen, trocdenen Rede—
weife Thenardiers entſprach.
747
„Ich kenne weder die Fürftin Bagration nod den Grafen
Dambrai.“
Dieſe Antwort war kurz. Aber der Unbekannte verneigte ſich
um ſo tiefer.
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9 N |
|
III
SEK N
„Wollen der Herr Baron mic anhören. Es gibt in Amerika,
nicht weit von Panama, einen Ort namens La Joya. Diefer
Ort beftebt aus einem einzigen Haus. Es ift ein vierecfiger, drei-
ftöcfiger Dau aus Ziegeln, die in der Sonne gebrannt find.
148
Jede Seite des Haufes ift fünfhundert Fuß lang, und jedes
Stockwerk fpringt gegen bas untere zwölf Fuß zurück, laßt alfo
eine Terrafle frei, die wie ein Nundgang um bas ganze Haus
läuft. In der Mitte ift ein Hof, in dem Vorräte und Munition
aufbewahrt werden. Das Haus bat weder Fenfter noch Türen.
Man begnügt fih mit Schießfcharten und Stridleitern, auf
welden man vom Fußboden zum erften Stock, von diefem zum
zweiten und dritten binauffteigen und von da wieder in den Hof
binabgelangen kann. Auch die Zimmer find nicht durch Türen
verbunden, denn im Haufe gibt es nur Leitern. Abends werden
fie eingezogen, man legt die Karabiner in den Schießfcharten
bereit. Niemand Éann eindringen. So ift diefer Ort, der acht—
hundert Einwohner bat, des Nachts eine Zitadelle. Warum fo
viel Vorfiht? Nun, das Land ift gefährlib. Es wimmelt von
Menfhenfrefiern. Warum geht man alfo dahin? Ad, es ift ein
wunderbares Land. Man finder dort Gold.’
„Bas fol sas alles?!’ unterbrad ibn Marius, deflen Ent-
täuſchung jest in Ungeduld umfchlug.
„Ich bin ein alter Diplomat, Herr Baron, aber ich bin
europamüde. Unfere alte Zivilifation geht mir auf die Merven.
Jetzt will ich e8 mit den Wilden verſuchen.“
„Und?“
„Herr Baron, der Egoismus iſt das höchſte Geſetz auf Erden.
Die elende Bäuerin wendet ſich um, wenn die Kutſche vorüber—
fährt; die Bäuerin, die eigenes Land beſitzt, wendet ſich nicht um.
Der Hund des Armen bellt den Reichen an, der Hund des
Reichen den Armen. Jeder für ſich! Das Intereſſe beſtimmt
alle menſchlichen Handlungen. Das Gold iſt der Magnet, der
uns alle anzieht.“
„Kommen Sie zum Schluß!“
„Ich möchte nach La Joya gehen. Wir ſind unſerer drei. Ich
habe eine Frau und eine Tochter; das Mädchen iſt ſehr ſchön.
Die Reiſe iſt lang und teuer. Ich brauche dazu etwas Geld.“
„Und was habe ich damit zu tun?“
„Hat denn der Herr Baron meinen Brief nicht geleſen?“
749
Allerdings: der Inhalt des Schreibens war Marius ent-
gangen. Er hatte nur die Schrift aufmerffam geprüft. Überdies
hatte er einen neuen Fingerzeig empfangen: Der Unbefannte
hatte gefagt, meine Frau und meine Tochter. Wieder fab
Marius ibn [harf an wie ein Unterfuhungsrichter. Schließlich
fagte er:
„Außern Sie ſich deutlicher.
Der Unbekannte ftedte die Hände in die Tafchen und ftreifte
Marius durd feine Brillen mit einem grünen Blick.
„Gut, Herr Baron. Deutliher. Ich will Ihnen ein Ge-
heimnig verraten.‘
„Ein Geheimnis?‘
„Ein Geheimnis.”
„Das mich betrifft?‘
„zum Zeil.”
„Und was ift dag?‘
„Ich beginne gratis,” fagte der Unbefannte, „Sie werden
gleich feben, daß die Sade Sie intereffiert. Sie haben, Herr
Baron, einen Dieb und Mörder im Haufe. Beachten Sie wohl,
Herr Baron, daß ich hier nicht von alten, weit zurückliegenden,
verjährten Dingen fpreche, die dur Amneftie und Reue getilgt
fein können. Ich fpreche von Verbrechen, die in jüngfter Zeit
begangen wurden, von Verbrechen, die der Juſtiz noch nicht be-
fannt find. Es ift diefem Manne gelungen, hr Vertrauen zu
erringen und unter falfhem Namen in Ihre Familie einzu-
dringen. Ich weiß feinen wirfliden Namen. Und ih will ihn
Ihnen gratis fagen. Er heißt Sean Valjean.“
„Das weiß ich.”
„Und ich will Ihnen auch ſagen, was er iſt. Er iſt ein Ga—
leerenſträfling.“
„Auch das weiß ich.“
„Sie wiſſen es, ſeit ich die Ehre gehabt habe, es Ihnen zu
ſagen.“
„Nein, ich wußte es ſchon früher.“
750
Die falte Antwort Marius’ ftimmte den Unbefannten zornig.
Verftohlen warf er Marius einen wütenden Blick zu. Sofort
befänftigte er fi wieder, aber es gibt Blicke, die man wieder-
erkennt, und biefer entging Marius nicht. Gewiffe Flammen
fönnen nur aus beftimmten Seelen aufzuden. Brillen verbergen
nichts. Man fieht die Hölle auch durch ein Fenfter.
„Ich erlaube mir nicht, Herren Baron Lügen zu ſtrafen“, er-
widerte der Unbefannte lächelnd. ‚Jedenfalls fehen Sie jekt,
daß ich gut informiert bin. Jetzt follen Sie aber etwas erfahren,
was nur mir befannt ift. Diefer Punft geht das Vermögen der
Frau Baronin an. Es ift ein außerordentlic wichtiges Geheim-
nis, ich will es verkaufen. Billig. Es foftet zwanzigtaufend
Franken.“
„Ich kenne dieſes Geheimnis ſo gut wie die andern.“
Der Unbekannte fand es angemeſſen, den Preis zu ſenken.
„Geben Sie zehntauſend, Herr Baron, und ich ſpreche.“
„Ich wiederhole Ihnen, daß Sie mir nichts zu ſagen haben.
Ich weiß alles, was Sie mir mitteilen wollen.“
Wieder blitzte es auf in den Augen des Unbekannten.
„Ich muß doch eſſen, Herr Baron. Es iſt ein außerordentlich
wertvolles Geheimnis. Geben Sie zwanzig Franken, und ich
ſpreche.“
Marius ſah ihn ſcharf an.
„Ich kenne Ihr wertvolles Geheimnis. Mir iſt der Name
Jean Valjeans ebenſo bekannt wie der Ihre.“
„Der war nicht ſchwer zu erraten, Herr Baron. Ich hatte die
Ehre, ibn unter meinen Brief zu ſetzen. Thénard.“
Mende."
nBie bitte?’
„Thénardier.“
In der Gefahr ſtreckt das Stachelſchwein ſeine Stacheln aus,
der Käfer ſtellt ſich tot, die Soldaten bilden ein Karree. Dieſer
Mann lachte. Dann ſchnippte er mit den Fingern ein Stäub—
en von feinem Ärmel.
751
„Und Sie find aud der Arbeiter Jondrette,“ fuhr Marius
fort, „der Schaufpieler Favantou, der Dichter Genflot, der
Spanier Don Alvarez und Frau Balizard.“
„Frau wie?’
„Und in Montfermeil hatten Sie eine Herberge.‘
„Eine Herberge? Niemals!”
„Und id fage Ihnen, daß Sie Ihenardier heißen und ein
Lump find.” À
Marius griff in die Tafhe, 309 eine Banknote heraus und
warf fie ibm ins Geficht.
„Danke! Verzeihung! Fünfhundert Franfen — Herr
Baron!”
Faſſungslos prüfte der Mann das Papier.
„Gut“, fagte er endlich mit einem wilden Entfhluß. ‚Dann
ohne Umfchweife.”
Und mit der Behendigfeit eines Affen nahm er feine Haare
ab, vif die Brille herunter — kurz, er nahm fein Gefibt ab,
wie ein anderer den Hut lüfter. Sekt trat feine zerbeulte, wider-
wärtig rungelige Stirn hervor, die Naſe wurde ſcharf wie ein
Schnabel, das wilde, liftige Geficht des Beutemachers wurde
fihtbar.
„Der Herr Baron ift unfehlbar‘‘, fagte er mit einer Stimme,
die nicht mehr näfelte. „Ich bin Thénardier.“
Und in diefem Augenblick verfhwand auch der Buckel.
Thenardier war gedemütigt. Er fab diefen Baron Pontmercy
um erftenmal, und bod erfannte ihn der Baron fogar in feiner
Verkleidung. Va, er war nicht nur über Ihenardier, er war fo-
gar über Sean Valjean aufgeflärt.
Wie der Lefer fib erinnert, war Ihenardier einige Zeit Ma-
rius’ Nachbar gemwefen, hatte ihn aber, wie bas in Paris wohl
gefchieht, niemals zu Gefiht befommen. Der Gedanke, daß jener
Marius diefer Baron Pontmerey fei, lag ihm fern.
Übrigens hatte feine Tochter Azelma, die er mit der Aus-
forfhung der Meuvermählten beauftragt hatte, allerlei beraus-
gebracht, und auch er hatte manche geheimnisvolle Zufammen-
152
bänge aufgefpürt. Durch emfige Nachforſchungen war es ihm ge-
lungen zu erraten, wer der Mann war, dem er damals am Aus-
gang der Sammelflonfe begegnet war. Dann hatte er ben
Namen berausgebradt. Er wußte, daß die Baronin Pontmerch
niemand anderes war als Cofette. Aber über biefen Punkt
wünſchte er fich nicht zu äußern. Wer war Eofette? Er wußte es
ja felbft nicht. Irgendein uneheliches Kind offenbar, denn die
Gefhichte Fantines war ihm immer unglaubwürdig erfchienen.
Wozu aber follte er davon fprehen? Sollte er fein Schweigen
verfaufen? Er batte beffere Trümpfe auszufpielen. Oder er
glaubte es wenigftens. Überdies würde der Baron Pontmercy
aller Wahrfcheinlichfeit nach, wenn man ihm ohne alle weiteren
Beweiſe fagte, feine Frau fei ein unebelihes Kind, Faum mit
einer anderen Münze zahlen als mit einem Fußtritt.
Thénardier fab Marius fat zärtlich an.
„Thénardier,“ begann Marius, id babe Ihnen Ihren Na—
men genannt. Was hr Geheimnis betrifft: wollen Sie, daß
ich e8 ihnen fage? Ich bin auch informiert. Sie werden feben,
daß ich mehr weiß als Sie. Sie fagen, daß Jean Valjean ein
Mörder und Dieb ift. Er ift ein Dieb, denn er hat einen reichen
Sabrifanten beftohlen, deffen Ruin er verurfacht hat, einen ge-
wiffen Madeleine. Und er ift ein Mörder, denn er bat den
Polizeiagenten Javert ermordet.’
„Ich verftehe Fein Wort davon’, antwortete Thenardier.
„Sie werden gleich verftehen. Im Arrondiffement Pas-de-
Calais lebte um 1822 ein Mann, der einmal mit den Behörden
Schwierigkeiten gehabt hatte, fi) aber fpäter unter dem Namen
Madeleine wieder in die Höhe brachte. Diefer Mann wurde ein
Gerechter im höchſten Sinne des Wortes. Durch die Hebung
der Vnbuftrie ſchwarzen Glafes begründete er den Wohlſtand
einer Stadt. Er felbft wurde gleihfalls reich, wenn auch nur in
zweiter Linie und gewiffermaßen gelegentlih. Er war der Nähr-
vater der Armen, gründete Spitäler, baute Schulen, forgte für
die Kranken, gab jungen Mädchen eine Ausfteuer, half Witwen,
adoptierte MWaifen. Er war, möchte ich jagen, der Vormund der
48 Hugo, Die Elenden. 753
ganzen Stadt. Das Kreuz der Ehrenlegion fehlug er aus, aber
fblieBlih wurde er Bürgermeifter. Ein entfprungener Galeeren-
fträfling wußte bas Geheimnis einer fhändliben Strafe, zu der
diefer Mann feinerzeit verurteilt worden war; er benungierte
ihn, ließ ihn verbaften und benüßte die Gelegenheit diefer Ver—
baftung, um in Paris bei Lafitte, von deſſen Raffierer ich die
ganze Sache erfahren habe, mit Hilfe einer falfhen Unterfchrift
einen Betrag von mehr als einer halben Million abzuheben, die
jenem Madeleine gehörte. Diefer Sträfling, der Madeleine be-
ftapl, ift Sean Daljean. Und was bas andere Verbrechen be-
trifft, Eönnen Sie mir aud nichts Meues erzählen. Sean DBal-
jean hat den Agenten Javert getötet. Gut, ich felbft war dabei.”
Ihenardier warf Marius jest den ftolgen lit eines Man-
nes zu, der fon gefchlagen war und in Iekter Minute bas ver-
forene Terrain wiedergemwinnt.
„Sie find hier auf einer falfhen Spur, Herr Baron.”
„ie, Sie beftreiten das? Es find Tatſachen.“
„Dein, e8 find Schimären. Das Vertrauen, mit dem der
Herr Baron mic beehrt, madt es mir zur Pflicht, Ihnen bas
zu fagen. Sean Daljean bat Vavert nicht getötet.‘
„Wieſo nicht?”
„Er bat weder Javert getötet noh Madeleine beftohlen.
Madeleine Éann er nicht beftohlen haben, denn Sean Baljean ift
felbft Madeleine.”
„Aber was erzählen Sie da?’
„Und zum zweiten hat er nicht Javert getötet, weil Javert
Selbftmord begangen hat.’
„Beweiſen Sie das!’ ſchrie Marius außer fi.
‚Der Polizeiagent Javert wurde unter dem Pont-au-Change :
aus dem Wafler gezogen.”
„Beweiſe!“
Thénardier zog einen Umſchlag aus der Taſche, in dem zu—
ſammengefaltete Blätter von verſchiedener Größe lagen.
„Das ſind meine Akten“, ſagte er ruhig. „Herr Baron, ich
habe mich in Ihrem Intereſſe gründlich mit Jean Valjean
154
befhäftigt. Wenn id fage, daB Sean Valjean Madeleine ift und
daß Javert ſich felbft getötet bat, fo babe id aud die Beweiſe
in der Hand. Nicht gefchriebene, denn biefe find ja verdächtig,
man fann fhreiben, was man will, aber gedruckte.‘
Erzogzweivergilbte, rauchgeſchwängerte Zeitungsblätter heraus.
„Zwei Tatſachen, zwei Berichte”, fagte er.
Er reihte Marius die beiden Blätter, die der Lejer bereits
fennt. Das eine, ältere, war eine Nummer des ,, Drapeau blanc”
vom 25. juli 1823, in der die Identität Mabeleines und Jean
Valjeans feftgeftellt wurde. Das andere eine Nummer des
„Moniteur‘‘ vom 15. Juni 1832, in der der Selbftmord Va-
verts gemeldet und von einem Bericht des Polizeingenten erzählt
wurde, daß er auf der Barrikade in der Mue de Ia Cbanvrerie
durch den hochherzigen Entfchluß eines Ynfurgenten gerettet wor-
den fei, der ihn, ftatt ihn befehlsgemäß zu erfchießen, laufen ließ.
Marius las. Hier hatte er es mit unanzweifelbaren Tat-
fachen zu fun, denn diefe Blätter Fonnten nicht gedruckt worden
fein, nur um Ihenardiers Behauptungen zu beftätigen. Der Be—
richt des , Moniteur“ war eine Communiqué der Polizeipräfef-
tur. Marius fonnte nicht zweifeln. Der Kaffierer hatte fi offen-
bar getäufht. Plöslih wudbs Sean Valjean zu gewaltiger
Größe an, trat aus dem Dunfel hervor.
„Ja, aber dann ift diefer Unalüdlihe ein bemunderungswür-
biger Mann! Das Vermögen gehörte ihm alfo wirflib! Er ift
Madeleine, der Netter Javerts! Ein Held! Ein Heiliger!”
„Weder ein Held noch ein Heiliger”, antwortete Ihenardier.
„Ein Dieb und ein Mörder.”
„Noch immer?‘
„Noch immer. Er hat zwar nicht Madeleine beftohlen, aber er
iſt ein Dieb. Er hat nicht Javert ermordet, aber er ift ein Mör-
der. Sch will ihnen alles fagen, Herr Baron, und ich verlaffe
mich, was die Entlohnung betrifft, auf Ihre Güte. Diefes Ge-
heimnis ift gemünztes Gold wert. Herr Baron, am 6. uni
1832, vor etwa einem jahre, an dem Tag der Rebellion, hielt
fih ein Mann in der Sammelfloafe auf, dort, wo fie fid in die
48* 755
Seine ergieBt, zwifchen dem Pont-des-nvalides und dem Pont-
d'Jéna. Diefer Mann mußte fid) aus Gründen, die übrigens
nichts mit Politik zu tun hatten, verbergen. Darum hatte er die
Kloafe zu feinem Wohnſitz auserforen und fih einen Schlüffel
verfchafft. Dies gefhah, wiederhole ih, am 6. Juni. Es mobte
gegen acht Uhr abends fein. Da hörte diefer Mann in der Kloake
ein Geräufh. Sehr verwundert budte er fib und hielt Aus-
ſchau. In der Dunfelbeit näherten fih Schritte. Es war fonder-
bar, incbiefer Kloake befand fi) außer ihm nod ein Mann. Das
Gitter war nicht weit von diefer Stelle entfernt. Ymmerbin Tieß
es genug Licht durch, daß jener Mann den Neuankömmling
ziemlich gut feben und etwas bemerfen Fonnte. Diefer Mann
ging gebüct. Er trug etwas auf dem Rücken. Und diefer Mann,
der da gebücft ging, war ein alter Galeerenfträfling, der Gegen-
ftand aber, den er auf dem Rücken trug, war ein Leichnam. Alfo:
ein Mörder, in flagranti ertappt. Was den Diebftahl betrifft,
fo verfteht er fi von felbft. Denn für nichts und wieder nichts
bringt man niemand um. Der Sträfling wollte alfo feinen
Leibnam in den Fluß werfen. Ein Umftand war befonders auf-
fällig. Bevor der Mörder zu dem Gitter gelangen Fonnte,
mußte er an einem Schlammloch vorüberfommen, und in biefes
hätte er die Leiche ganz gut werfen Fünnen. Allerdings, die
Ranalräumer hätten am nächſten Tage den Toten gefunden, und
man hätte fit nach dem Mörder auf die Suche gemadt. So
hatte er es vorgezogen, mit feiner Loft durch biefes Schlammlod)
hindurchzumwaten, und das muß furchtbar fehwer gemwefen fein.
Da hieß es fein eigenes Leben aufs Spiel feßen. Mir ift es
no heute unbegreiflich, wie er dabei Iebendig berausgefommen
ift. Herr Baron, die Kloake ift nicht das Marsfelb. Man ift
dort etwas beengt. Wenn zwei Menfchen in der Klonfe find,
müffen fie einander notwendigerweife begegnen. Und bas gefchah.
Der Mann, der hier feinen Wohnſitz aufgefchlagen hatte, und
der andere, der nur vorbeifam — biefe beiden mußten einander
guten Tag fagen, fo unlieb es ihnen au war. Und der Fremde
fagte zu dem Klonfenbewohner: du fiehft, was id ba auf dem
156
Rücken babe. Ich muß hinaus, bu haft den Schlüffel, gib ibn
mir. Diefer Sträfling fab fürdterlih aus. Er war nicht einer,
dem man etwas abſchlägt. Der andere verfuchte zu parlamen-
tieren, um wenigftens Zeit zu gewinnen. Er fab ſich den Toten
on, Éonnte aber nur bemerken, daß er jung ausfab, bübfh an-
gezogen war, einem Neichen gli) und viel Blut im Geficht hatte.
Während er fi) alfo mit dem Sträfling unterhielt, fand er eine
Gelegenheit, unauffällig einen Feben von dem Mod des Er-
mordeten abzureißen. So etwas ift ein Beweisſtück, begreifen
Sie? Das genügt, um eine Spur zu verfolgen und einen Ver—
breder zu überführen. Dann öffnete er, ließ den andern mit
feiner Laft auf dem Buckel hinaus, fperrte wieder zu und 309 fi)
zurüd. Sie begreifen jeßt wohl. Der Mann, der diefen Toten
trug, war Sean Daljean, und jener mit dem Schlüffel fpricht
gerade mit Ihnen; der Fetzen Tuch aber...
Thenardier 309 ein etwa zwei Zoll langes, ſchwarzes, zerriffe-
nes Stück Tuch aus der Tafche.
Marius war aufgeftanden. Er vermochte Faum zu atmen.
Mortlos, ohne bas Stüf Tuch aus dem Auge zu laffen, eilte er
zur Wand, fuchte taftend den Schlüffel eines neben dem Kamin
eingebauten Wandſchranks. Er fand ibn, ſchloß auf, griff ohne
bingufeben in den Schranf und warf dann einen alten, ſchwar—
zen, blutbefleckten Mot auf den Boden.
„Der junge Mann war ich und dies hier ift der Rock!“ rief er.
Thenardier erftarrte zu Stein. Verzweifelt und ftrahlend zu-
gleich richtete fih Marius auf. Wieder griff er in die Taſche,
trat vor Ihenardier bin, hielt ihm die Fauft, in der er no
einige Banknoten hatte, unter die Naſe und fhrie:
„Sie find ein Schurfe! Sie find ein elender Lügner, ein Ver—
leumder und Schuft! Sie fommen hierher, um jenen Mann an-
zuflagen, und Sie haben ihn nur gerechtfertigt! Sie wollten ihn
zugrunde richten, aber Sie haben feine Ehre wiederhergeftellt!
Sie find ein Dieb, und Sie find ein Mörder! Ich habe Sie
fehr wohl damals auf dem Boulevard de l'Höpital gefeben,
Ihenardier-Sondrette! ch weiß genug, um Sie fofort in das
757
Bagno zu fhifen. Mehr noch, wenn Sie wollen! Da haben Sie
nod taufend Sranfen, Sie Hund! Feiger Schurfe! Mag Ihnen
das eine Lehre fein, Sie Schadyerer mit Geheimniffen, nehmen
Sie not diefe fünfhundert Franken und paden Sie fib fort!
Mur Waterloo bewahrt Sie vor dem Schlimmſten!“
„Waterloo?“ murmelte Ihenardier und ftedte die beiden
Banknoten ein.
„Allerdings, Sie Mörder, Sie haben einem Oberften das
Leben gerettet...”
„Einem General’, antwortete Thenardier und bob den Kopf.
„Einem Oberften,” fdrie Marius, „für einen General würde
ich Feinen Pfifferling geben. Und jeßt fommen Sie hierher aus
purer Niedertracht! Es gibt Fein Verbrechen, bas Sie nicht be-
gangen hätten. Verſchwinden Sie! Sort mit Ihnen aus Paris!
Laffen Sie fi) anderswo aufhängen.”
Theénardier verneigte fich fief.
„Ewigen Dank, Herr Baron’, fagte er.
Und er ging.
Auch wir wollen mit diefem Menfchen fertig werden. Zwei
Tage fpäter fhiffte er fih unter falfhem Namen nad Amerika
ein. Das moralifhe Elend diefes Menfhen war unabänderlic.
Er war in Amerika, was er einft in Europa gewefen. Mit dem
Geld, das Marius ihm gegeben, wurde er Sflavenhändler.
Sobald Thénarbdier fort war, eilte Marius zu Cofette in den
Garten.
„Coſette!“ rief er, „komm fchnel! Baske, eine Droſchke!
Komm Cofette! Großer Gott, er ift es, der mir bas Leben ge-
rettet hat! Wir dürfen Feine Minute verlieren!”
Cofette gehorchte.
Er war foffungslos. est erfhien ihm jean Valjean als eine
erbabene, unvergleihliche Geftalt. Diefer Sträfling nahm die
Geftalt Eprifti an.
Sm nähften Augenblid ftand die Drofchfe vor der Zür. Ma-
rius bob Cofette hinein und folgte ihr.
„Kutſcher,“ vief er, „Rue de l'Homme Arme No. 71
158
4. Sehbte Naht, Der Log briht an
Sean Daljean hörte an die Türe Flopfen und wandte fit um.
„Herein“, fagte er ſchwach.
Die Tür ging auf, Eofette und Marius erfhienen.
Die junge Frau eilte an den Tifh. Marius blieb auf der
Schwelle ftehen und lehnte fit an den Türpfoften.
„Sofette”, fagte Jean Daljean und richtete fi) in feinem
Lebnftubl auf. Eine unausfpreblihe Freude war in feinen
Augen.
Außer fib vor Rührung, ſank ihm Cofette an die Bruft.
„Vater!“ rief fie.
„Coſette,“ ftammelte Jean Valjean, „du bift es! Großer
Gott!!!’ Er Schloß fie in feine Arme. „Alſo du bift es! Du ver-
zeihft mir alſo!“
Marius, der die Liber niederfchlagen mußte, um die Tränen .
zu unterdrüden, fraf vor und murmelte, Frampfhaft mit dem
Schluchzen Fämpfend:
„Vater!“
„Alſo auch Sie verzeihen mir?“
Marius konnte nicht ſprechen.
Jetzt ſaß Coſette bei dem Greis, ſtrich ihm ſeine weißen Haare
aus der Stirn und küßte ihn.
Unendlich beglückt, ließ Jean Valjean ſie gewähren. Es war,
als ob Coſette ein wenig begriffe und die Schuld Marius’ ab-
fragen wollte.
„Ach,“ ftammelte Sean Daljean, ‚wie dumm man bob ift!
Sch glaubte fon, ih würde fie nie wiederfehen. Stellen Sie
ſich vor, Herr Pontmercy, ih dachte mir: Mie werde ich fie
wiederfehen. Wie dumm! Man zählt nie auf Gott. Oh, ich war
febr unglüdlih. Wahrhaftig, ich mußte Eofette zumeilen fehen.
Auch ein Herz braudt, wie ein Hund, den Knochen, an dem es
nagen Fann. Aber ich begriff, daß ich überzählig war. Wohl
überlegte ih mir alles. Sie brauchen mich nicht mehr, dachte ich,
bleib in deinem Winkel, man darf ſich nicht ewig den Leuten
159
auforangen. Aber Gott fei gefegnet, ich fehe fie wieder. Weißt
du, Cofette, daß dein Mann febr hübſch ift? Ach, Herr Pont—
merch, erlauben Sie, daß ich du zu ihr fage. Es ift nur für
kurze Zeit.‘
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„Das war fchledht von dir,” fagte Cofette, „daß du uns fo
allein gelaffen haft. Wo warft du denn nur? Früher dauerten
deine Reiſen immer nur drei oder vier Tage. Sch babe oft Mico-
lette gefchicft, aber immer befam fie ben Beſcheid: noch verreift.
Seit wann bift du denn zurück? Warum haft bu ung nicht gleich
760
verftändigt? Marius, er ift febr Eranf, fühle nur, wie feine
Hand falt if!‘
„Alſo ihr feid da! Sie verzeihen mir alfo, Herr Pontmercy!’
Bei diefem Wort ſchmolz Marius’ Herz, er ſchrie auf.
„Sofette, bôrft du es? Er verlangt, daß ich ihm verzeihe!
Weißt du aud, was er getan hat? Er bat mir dag Leben ge-
rettet. Mehr noch, dich bat er mir gefchenft. Und dann bat er
fih felbft geopfert. Und ich Undankbarer, Unbarmherziger, id
ftehe da, und er fagt zu mir: Danfe! Cofette, wenn id mein
Leben lang vor diefem Mann auf den Knien gelegen wäre, es
wäre nicht genug! Die Barrifade, die Kloafe, das Schlammloch
— alles für mid und für dich, Cofette! Tauſendfach bat er mid
vor dem Tod bewahrt und fi) dem Tode ausgefest! Er befist
jede Art von Mut, Tugend, Heroismug — er ift ein Engel!‘
„Stil, fagte Sean Daljean, „warum fagen Sie dag?”
„Barum haben Sie nichts gefagt? Sie find felbft ſchuld. Sie
retten den Leuten dag Leben und verftefen fih! Mehr no,
unter dem Vorwande, ſich zu demasfieren, verleumden Sie fic
felbft! Es ift ſchrecklich!“
„Ich babe die Wahrheit gejagt‘, antwortete Jean Valjean.
„Sein, denn nur die ganze Wahrheit ift wahr. Sie find
Madeleine, warum haben Sie das nicht gefagt? Sie haben Ja—
vert gerettet, warum haben Sie es verheimlicht? ch fchulde .
Ahnen mein Leben, warum fagten Sie es nicht?‘
„Ich dachte wie Sie. Sie hatten ja recht. Ich mußte gehen.
Wenn Sie gewußt hätten von der Kloafe, hätten Sie mich ge-
zwungen, bei Ihnen zu bleiben. Alfo mußte ich ſchweigen. Wenn
ich gefprochen hätte, wäre ich Ihnen hinderlich geweſen.“
„Wer? Uns hinderlih? Glauben Sie wirklich, daß Sie jekt
bierbleiben werden? Mein, wir nehmen Sie mit. Großer Gott,
wenn ich bedenke, daß nur ein Zufall mid) aufgeflärt hat! Wir
nehmen Sie gleich mit. Sie gehören zu uns. Sie find Cofettes
und mein Vater. Keinen Tag mehr follen Sie in diefem fchred-
lihen Haus zubringen.“
761
„Ich werde morgen nicht mehr hier fein, aber auch nicht bei
Ihnen.“
„Was meinen Sie damit?“ fragte Marius. „Oh, wir werden
nicht erlauben, daß Sie wieder verreiſen. Sie dürfen uns nicht
mehr verlaſſen. Sie gehören uns, wir laſſen Sie nicht.“
‚Diesmal für immer’, beſtätigte Cofette. , Der Wagen war—
tet unten. Ich nehme dich gleich mit. Wenn es nötig iſt, auch
mit Gewalt. Dein Zimmer in unſerem Haus erwartet dich.
Wenn du nur wüßteſt, wie hübſch der Garten jetzt iſt. Die
Azaleen gedeihen prächtig. Auch kannſt du friſche Erdbeeren aus
meinem Garten eſſen. Ich begieße ſie immer ſelbſt. Und jetzt iſt
es aus mit Frau Baronin und Herr Jean, bei uns iſt Republik,
alle Welt duzt ſich, nicht wahr, Marius? Wir ſind alle fröhlich
und glücklich. Großvater wird ſich ſehr freuen. Du ſollſt ein
eigenes Beet im Garten bekommen, dann wollen wir ſehen, ob
deine Erdbeeren ebenſogut gedeihen wie meine. Ich werde alles
tun, was du willſt, aber du mußt mir auch gehorchen.“
Jean Valjean lauſchte ihren Worten, ohne zu hören. Er
fühlte nur die Muſik ihrer Stimme.
„Ja,“ ſagte er ſchließlich, „das wäre ſehr ſchön, wenn wir
zuſammen leben könnten. Ich könnte zu den Leuten gehören, die
einander fröhlich guten Tag zurufen. Schon am frühen Morgen
ſieht man einander. Jeder könnte ein Beet bebauen. Sie wird
mich ihre Erdbeeren eſſen laſſen, ich ſchenke ihr meine Roſen.
Sehr ſchön, nur... ſchade!“
Jean Valjean lächelte.
Coſette nahm ſeine Hände in die ihren.
„Mein Gott,“ rief ſie, „deine Hände ſind ja noch kälter ge—
worden. Biſt du krank?“ |
„Oh, id fühle mic, febr wohl. Nur ...“
—
„Ich ſterbe.“
„Sterben!“ rief Marius.
„Ja, aber es bedeutet nichts“, entgegnete Jean Valjean.
„Coſette, ſprich weiter, ich will deine Stimme hören.“
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Marius ftarrte wortlos den Greis an.
„Vater,“ vief Cofette, „du wirft leben! Sch will, daß bu
lebſt!“
Jean Valjean ſah ſie innig an.
„Ja, verbiete mir nur zu ſterben. Wer weiß, vielleicht ge—
horche ich dir. Ich war ſchon dabei, als ihr kamt. Das hat mich
aufgehalten. Mir ſcheint, ich bin wiedergeboren.“
„Aber Sie ſind ja noch voll Lebenskraft,“ rief Marius, „wie
können Sie glauben, daß man ſo leicht ſtirbt? Sie hatten Kum—
mer, gut, aber das iſt jetzt zu Ende. Jetzt bitte ich Sie um
Verzeihung, und auf den Knien! Sie werden leben mit uns und
lange! Wir ſind zwei, aber wir haben nur einen einzigen Ge—
danken, Ihr Wohlergehen.“
„Siehſt du wohl, Vater,“ ſagte Coſette weinend, „auch Ma—
rius ſagt, daß du nicht ſterben wirſt.“
Wieder lächelte Jean Valjean.
Jetzt wurde an die Tür geklopft. Es war der Arzt.
„Guten Tag, Herr Doktor“, ſagte Jean Valjean. „Dies ſind
meine Kinder.“
Marius näherte ſich dem Arzt. Er fragte nur „Herr Dok—
tor ...?“, aber in dieſer Frage lag alles. Mit einem bedeu—
tungsvollen Slif antwortete der Arzt.
„Daß die Sade uns nicht gefällt,” fagte Sean Valjean, ,,ift
fein Grund, gegen Gott ungerecht zu fein.’
Test ſchwiegen alle bedrüdt. Jean Valjean betradhtete Co-
fette, als ob er ihr Bild in die Emigfeit mitnehmen wollte. Der
Arzt fühlte feinen Puls.
„aAlſo Sie find es, die er brauchte!’ murmelte er.
Sean Valjean fab jest aud Marius und den Arzt heiter an.
Man hörte, wie er mit [hwaher Stimme fagte:
„Sterben bedeutet nichts. Es ift fbredlib, nicht zu leben.“
Plötzlich richtete er fih auf. Die Rückkehr der Körperfraft
ift zuweilen ein Vorbote des Todeskampfes.
„Ihr feid beide gut”, fagte Sean Valjean. „Ich will euch
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jagen, was mic) gefränft bat. Es fat mir leid, Herr Pontmercy,
daß Sie bas Geld nicht anrühren wollten. Diefes Geld gehört
wirklich Ihrer Frau. hr follt wiffen, meine Kinder, gerade
darum freut es mic befonders, daß ihr gefommen jeid. Der
Ihwarze Jett Fommt aus England, der weiße aus Norwegen.
Ihr findet das alles in dem Brief da. Was die Armbänder be-
trifft, babe ich entdeckt, daß es gar nicht gut ift, die Verfchlüffe
zu Flöten. Ungelötet find fie hHübfcher und Fommen billiger. Wenn
ihr bas left, werdet ihr begreifen, daB man auf diefe Weife viel
Geld verdienen Fann. Ich fage euch das alles nur, damit ihr
beruhigt ſeid.“
Er winfte Cofette und Marius, fie follten näher treten. Leife,
als ob er fon aus der Ferne fpreche, fuhr er fort:
„Tretet näher, ihr beiden! Ich Liebe euch febr. Auch bu liebft
mich, Cofette. Es ift fchön, fo zu fterben. Wußte ich es doch, daß
du den Alten immer gern batteft! Du wirft doc ein wenig um
mich weinen, nicht wahr? Aber nicht zuviel! ch will nicht, daß
du wirflih Kummer haft. hr ſollt euch amüfieren, Kinder. Faft
hätte ich vergeflen, euch zu fagen, daß die Schnallen beffer find
und einträglicher, wenn man den Dorn wegläßt. Wir haben
Ichließlich fogar mit den Berliner Sabrifanten erfolreih Eon-
Éurriert. Gegen das Schwarze Glas aus Deutfhland Fann man
aber nicht kämpfen. Ein Gros, zwölfhundert gutgedrechfelte Per-
Ien, Éoftet nur drei Sranfen. Wenn man von den Schnallen
zwölf Dusßend für zehn Franken herftellt, Fann man fie für
jechzig verkaufen. Da dürft ihr euch nicht wundern, wo die ſechs—
hunderttaufend Franfen herfommen. Es ift fauberes Geld. Ihr
fönnt mit gutem Gewiffen reich fein. hr follt eud einen Wagen
halten, von Zeit zu Zeit ins Ihenter gehen und euren Freunden
Gefellfehaften geben. Ich babe Eofette gefchrieben, fie wird den
Brief finden. Er liegt dort auf dem Kamin zwifchen den beiden
Leuchtern. Sie find aus Silber, aber für mid) find fie Gold, ja
fogar Diamanten. Wenn man ein Zalgliht in fie ſteckt, wird es
zu einer Kerze. Sch weiß nicht, ob er, der fie mir gefhentt bat,
da droben zufrieden mit mir ift. Sch tat, was ich konnte. Ber-
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geßt nicht, liebe Kinder, daß ich ein armer Mann bin, und laßt
mich in irgendeiner Ecke begraben. Ich will bas fo. Setzt feinen
Namen auf meinen Stein. Wenn Eofette zuweilen mich befuchen
will, wird es mich freuen. Auch Sie follen fommen, Herr Pont-
merch. Sch war, offen gefagt, nicht gerade immer Ihr Freund:
Verzeihen Sie mir. Aber ich weiß, daß Sie Eofette glüdflich
machen, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Ich war immer glüd-
lib, wenn das Kind rofig war, immer traurig, wenn ich fie blaß
fab. In der Kommode liegt ein Fünfhundertfranfenfchein. Ich
babe nichts davon verbraudt. Gebt bas Geld den Armen. Co-
fette, fiehft du dort auf dem Bett bas Kinderfleid? Erfennft
bu es? Erinnerft bu did an Montfermeil, Cofette? Du batteft
damals große Angft. Erinnerft du did noch, wie ich dir ben
Eimer abnabm? Damals babe ich zum erftenmal dein armes,
Éleines Händchen berührt. Ach, e8 war fo falt! Du batteft rote
Hände, damals, aber jest find fie weiß. Und die große Puppe!
Erinnerft du dih? Du nannteft fie Katherine. Es tat dir fo
leid, daß bu fie nicht ins Klofter mitnehmen durfteft! Wie oft
babe ich lachen müflen über dich, mein Engel! Wenn e8 geregnet
hatte, warfft bu Strohhalme in den Ninnftein und fahft ihnen
nad. Einmal Faufte id dir einen Schläger und einen Ball mit
gelben, blauen und grünen Federn. Du haft e8 vergeflen. Und
die Thénarbdiers waren fehr fchleht zu dir. Man muß es ihnen
nicht verübeln. Du follft jest aud den Namen deiner Mutter
wiſſen. Sie hieß Fantine. Merk’ dir diefen Namen: Fantine.
Knie immer nieder, wenn du ihn ausfpribft. Sie hat viel ge-
Titten und dich febr geliebt. Cofette, eg war nicht meine Schuld,
daß ich all die Zeit über nicht zu dir Fam. Mir bat es bas Herz
zerriſſen; Kinder, ich febe nicht mehr ganz Elar, ich hätte euch
mod vieles zu fagen, aber es ift ja nicht wichtig. Denft ein
"wenig an mich. Ihr feid gefegnete Geſchöpfe. Ich weiß nicht,
was bas ift, aber ich febe jest Licht. Kommt nod näher. Gebt
mir eure lieben Köpfe, damit id meine Hände darauf lege.“
Cofette und Marius Enieten nieder und legten die Hände
Sean Valjeans, die bereits reglos waren, auf ihre Köpfe. Er
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faß zurückgelehnt im Licht der beiden Leuchter, fein weißes Ge-
fit war dem Himmel zugewandt.
Er war tot.
Diefe Naht war tief dunfel und von feinem Stern erhellt.
5. Das Gras wuhertdarauf und der Megen
vermifhtes
Auf dem Friedhof des Père Lahaife, unweit des Maffen-
grabs, fern von dem vornehmen Viertel der Gräberftadt, fern
von diefen Phantafiegräbern, die im Angeficht der Ewigkeit einer
iheußlihen Mode huldigen, in einem ftillen Winfel, an einer
alten Mauer findet man unter einer Eibe einen Grabftein. Auch
on ihm hat der Zahn der Zeit genagt, Moos und Flechten über-
wuchern ihn, das Wafler macht ihn grün, die Luft ſchwarz. Es
führt fein Pfad dahin, denn das Gras wächſt dort hoch, niemand
will feine Füße naß maden. Wenn die Sonne fheint, fommen
die Eidechſen aus ihren Derfteefen hervor. Ningsum wiegt fi
im Winde wilder Hafer.
Der Stein ift Éabl. Man bat ihn nicht länger und breiter
gemacht als nötig war, um einen Leichnam zu bededen.
Es fteht Fein Name darauf.
Dod bat vor vielen Jahren eine Hand mit Dleiftift vier
Verſe darauf gefchrieben, die der Megen und der Staub fhon
etwas verwifcht haben, und die heute gewiß fchon verlöfcht find:
„Er ſchläft. Sein Schidfal feltfam war.
Er ftarb, als feinen Engel er verlor.
Und dies geſchah von ungefähr,
So wie die Nacht dem Tage folgt.”
Finis
Die Aluftrationen
auf Seite 218, 281 und 298 find von BictorYugo, auf
©eite 233 und 575 von Jeanniot. Das Bild auf dem
Umſchlag, auf Seite 569 wiederholt, ift von Delacroir,
die Zeichnung auf Seite 409 von Cazin, das Bild gegen-
über der Zitelfeite von Bayard, Alle übrigen Illuftra=
tionen find von dem Elfäfler Öuftave Brion.
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FRET tue
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LANTA TU i
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DEMCO 38-297
BRIGHAM YOUNG UNIVERSITY
Fi) 4:
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