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Full text of "Die Elenden"

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Digitized by the Internet Archive 
in 2011 with funding from 
Brigham Young University 


http://www.archive.org/details/dieelenden00hugo 











Die Elenden 





VICTOR AE O 


Die Élenden 


Mit 3eitgenoffifhen Abbildungen 


von 
INIETOR HUGO, DELACROTZ, 


BANEARD,BRION, JEANNIOT, 
CAZIN 


oO EP rm — — 


Karl Doegels Verlag ©. m. 6. D. - Berlin 


In neuer Überfegung und mit Dormort von 
Edmund Th. Rauer 


1.—10, Zaufend 


Koppright bn Karl Doegels Berlag G. m. b. 9. 
Berlin O 27 
Drud: Offizin Ludwig Braun, Leipzig 








ls N Niserable: 

















Vorbemerkung 


Wenn wir Victor Hugos „Epos in Romanform“, Die Elen- 
den, dem deutſchen Publifum des 20. Jahrhunderts in der vor- 
\ Tiegenden Geftalt barbieten, fo fol es nicht gefchehen, ohne über 
die Art der Überfesung einiges Drinsipielle vorauszuſchicken. 

Die Literaturentwiclung der legten 50 Jahre ftand im Zei- 
chen des Pſychologismus. Eine neue Unbekannte wurde in die 
Gleichung gezogen, ein modernes, febr bürgerlihes X: bie 
\ Einzelfeele, der Mifrofosmos. Hiftorifer werden vielleicht der- 
einft das Schrifttum unferer Zeit gering achten, unfere Jahr— 
zehnte zu den literarifch unfruchtbaren zählen; gewiß aber wer- 
den fie nicht abftreiten dürfen, daß wir die Typologie des 
Menſchlichen unerhört bereichert haben. 

Eine Folge diefer Entwidlung ift es, daß wir es heute zwar 
nicht mit einer Kultur, aber mit einem Naffinement des Leſers 
zu tun haben — einem Maffinement, bas fich zuſehends zu einer 

Gefahr, einer Bedrohung der Urfprünglichkeit, der fpontanen 
Empfänglichkeit auswächft. 

Mir „willen Beſcheid“. Wir empfinden die Motivation der 
‚Ereigniffe in älteren Literaturwerfen als Iempoverluft. Wir 
haben eine neue Ionalität des Geelifhen (die wir vorläufig 
‚gerne Atonalität nennen); brauchen Feine Modulationen mehr. 
| Sie find, möchten wir fagen, ſchon in unferem Ohr vorausgefeßt. 

Unfere Epik ift fprunghaft, balladesf. Der fmarte Epifer der 
! Moderne will nichts von der ethifhen Notwendigkeit eines Ab- 
| faufs wiſſen; oder er ahnt nichts von ihr. Er weiß — nein 





es ift ihm befannt, daß es immer aud anders Eommen fann, 

er Éennt nicht nur die Tüde des höchſt zufälligen telephonifchen | 
Anrufs, der fünf Sefunden vor Schluß ein Schiefal nach einer | 
anderen Richtung abbiegt — er ift fogar verliebt in ihn... 


Es ift nicht leicht, der ſolchermaßen gefchulten — | 
einen Roman Victor Hugos lesbar zu machen. Sofehr man 
fi aud dagegen wehren mag, einen Roman, ein lebendiges 
Gebilde, ein architektoniſches Gebäude wie die „Miserables“ | 
ad usum Delphini zu redigieren, man wird fit der Mot- 
wendigfeit nicht widerfeßen Fünnen, das Werf im weiteren Sinne 
des Wortes zu „überſetzen“, Motivationen, die dem modernen | 
Lefer felbftverftändlich und ermüdend erfcheinen, Furzerhand zu | 
opfern. In der vorliegenden Ausgabe ift, wollen wir fagen, die | 
Moute nicht geändert worden — aber wir haben einige Salte- | 
ftellen, Mangierbabnbôfe von Anno 1860, vom Fahrplan ge- | 
ftrichen. 

Die erftaunlihe Anziehungskraft, die Victor Hugo auch auf | 
den modernen Leſer ausübt, ift in der Vielgeſtalt feiner litera- | 
rifchen Perfönlichfeit begründet. Man kann feine Bücher als | 
Iozialfritifhe Studien, als Programmfchriften des — bamals | 
revolutionären — Dürgertums und als Kolportage lefen. Die- 
fer Mann, der als Noyalift begann und als Demofrat endete, 
bat die ganze Skala der politifchen Leidenfchaften durchlaufen, | 
bat fi von feiner inbrünftigen Phantafie in alle Gefinnungen 
treiben und aus allen Gefinnungen fortloden laflen; und von | 
überall bat er etlihe Argumente und reihlihe Sentiments mit- 
genommen! 

Er ift der Findlihfte Schriftfteller feines — im übrigen fo 
furchtbar erwachſenen — Jahrhunderts. | 





Er glaubt hundertprogentig an den Helden und feine Mif- 
fion, darum werden alle Gläubigen, alle werdenden Mütter, | 
alle Optimiften für ihn fein. Oft erfeht er Kenntnis des 
Menfhlihen durch DBegeifterungsfähigkeit. Sein Moralismus | 
ift vielleicht Flach, weil allzu pofitiv, aber nie peinlich; denn er 


bedient fi, in feiner Schwarzweißmanier der Charakterzeich— 
nung, des Schwarzen nur, um dem Weißen, das ja wahrhaftig 
nicht allein eriftieren kann, Relief zu geben. 

Er war, wenn diefes Einzelphänomen für das Ganze ftehen 
mag, ein Nepublifaner, der für Mapoleon I. fhwärmte, die 
Moyaliften begriff und den dritten Mapoleon nur haßte, weil 
dem nichts gelang. 

Diefes Liebenswürdige, phantafiebegabte Kind wurde drei- 
undadhtzig jahre alt und ftarb hochgeehrt; er war mit Recht 
ein Dichter, der feinen Enfeln drei Millionen Franfen vererbte. 


Rauer. 


Oorwort 


Solange es fraft Gefes und Sitte eine foziale Verdammnis 
gibt, die inmitten unferer Zivilifation künſtlich Höllen ſchafft 
und der göftlihen Vorſehung ein menfchliches Fatum hinzu- 
fügt; — folange die drei Probleme des Jahrhunderts, die Ent- 
mwürdigung des Mannes dur bas Proletarierdafein, die 
Schändung des Weibes durch den Hunger, die Verwahrlofung 
des Kindes durch die geiftige Finfternis, in der es gehalten 
wird, folange diefe drei Probleme nicht gelöft find; — folange 
in gewiflen Lebensbezirfen der foziale Scheintod möglich ift, 
oder, von einem noch allgemeineren Gefihtspunft aus betrachtet, 
_ folange auf Erden Unwiffenheit und Elend herrfchen, dürften 
Bücher wie diefes hier nicht unnüß fein. 


Soutevilleboufe, 1862 







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Erstes Buch 
Lin Öerechter 


1. Myriel 


Sm Sjahre 1815 war Charles-Francois-Bienvenu Myriel 
Bifchof von Digne. Er zählte damals etwa fünfundfiebzig Sabre 
und hatte fein Amt feit 1806 inne. 

Obwohl diefer Umftand nicht eigentlich zu unferer Erzählung 
gehört, ift es vielleicht nicht überflüffig, und wäre e8 aud nur 
um der Genauigfeit willen, hier gewiffe Bemerkungen und Ge- 
rüchte zu erwähnen, die im Umlauf waren, als er in feiner 
Diözefe eintraf. Was von Menfhen gefagt wird, gilt ja in 
ihrem Leben, mag es wahr oder falfd fein, ebenfoviel wie ihre 
Handlungen. Nun, Myriel war der Sohn eines Rates beim 
Parlamentsgeriht zu Air, entftammte alfo dem DBeamtenadel. 
Man erzählte, fein Vater babe ihm fein Amt vererben wollen 
und babe ihn darum fon mit achtzehn oder zwanzig Jahren 
verheiratet, wie dies wohl bei den Deamtenfamilien der Brauch 
if. Iroß diefer Heirat hatte Charles Myriel, wie behauptet 
wurde, viel von fih reden gemadt. Er war von gefälligem 
Äußern, wenn aud von Eleiner Statur, elegant, gefehmeidig, 
geiftvoll; der erfte Teil feines Lebens war zur Gänze weltlichen 
Dingen und galanten Abenteuern gewidmet. 

Da brad die Mevolution aus, die Ereigniffe überftürzten fic, 
die DBeamtenfamilien wurden blutig verfolgt, verjagt, außer 
Landes getrieben. Charles Myriel wanderte fhon zu Beginn 
der Revolution nad Stalien aus. Seine Frau erlag dort einem 
Lungenleiden, an dem fie fchon feit jahren Eranfte. Kinder 
hatten fie nicf. 


15 


Was ging damals in Myriel vor? War es der Zufommen- 
brud) der alten franzöfifhen Gefellfchaft, der Sturz feiner eige- 
nen Familie, waren eg die tragifhen Ereigniffe des Jahres 93, 
die den Ausgewanderten in der Fremde nod fchredlicher und 
ungeheuerlicher erfcheinen mußten, war es dies, was ihn der 
Melt entfremdete und zur Einſamkeit trieb? Oder hatte ibn 
inmitten feiner Zerftreuungen und Vergnügungen, die fein Leben 
ausfüllten, plößlich einer jener geheimnisvollen Schickſalsſchläge 
getroffen, die zuweilen felbft ben Mann ins Herz treffen, 
den allgemeine SKataftrophen nicht zu erfehüttern vermochten 
— wenn fie auch fein Glück und feine Eriftenz vernichteten? 
Niemand hätte diefe Trage zu beantworten gewußt; befannt 
war nur, daß er, aus Italien zurüdfehrend, Priefter war. 

1804 war er Pfarrer von Brignolles. Er war bereits alt 
und führte ein febr zurückgezogenes Leben. 

Zur Zeit der Kaiferfrönung führte ibn ein unbedeutendes 
Amtsgefhäft feiner Pfarrei — es ift darüber nibts Näheres 
befannt — nad Paris. Unter anderen einflußreihen Perſön— 
lichkeiten mußte er aud den Kardinal Feſch auffuchen. Eines 
Zages alfo, als der Kaifer feinen Onkel befuchte, wartete der 
würdige Pfarrherr zufällig gerade im Vorzimmer, und fo traf 
es fib, daB er unvermittelt Seiner Mojeftät gegenüberftand. 
Napoleon fab, daß der Alte ihn mit einer gewiffen Neugierde 
anftarrte, wandte fih um und fragte brügf: 

„Ber ift der gute Mann, der mich fo anſieht?“ 

„Sire,“ erwiderte Myriel, „Sie feben einen guten Mann und 
ich einen großen. So fommen wir beide auf unfere Rechnung.” 

Am felben Abend fragte der Kaifer den Kardinal nad dem 
Namen biejes Pfarrers, und einige Zeit fpäter war Muriel 
nicht wenig verwundert zu hören, daß er zum Biſchof von 
Digne ernannt worden fet. 

Was an allen diefen Gefhichten firenge Wahrheit war, 
fonnte niemand angeben, denn nur wenige Familien hatten vor 
der Nevolution mit den Myriels in Verbindung geftanden. 

Sp mußte Myriel das Schickſal aller teilen, die in einer 


16 





Kleinſtadt neu angefommen find, wo viel gefprochen und wenig 
gedacht wird. Er mußte es über fich ergehen laffen, obwohl er 
Bifhof war, ja gerade weil er Bifchof war. Aber fchließlih 
war alles Gerede, das fid mit ibm befchäftigte, eben nur auf 
vage Vermutungen geftüßt — Geſchwätz, leere Worte; Pa- 
lower, wie man in der energifchen Sprade des Südens fagt. 

Mie dem auch fei, nah neun jahren, die er in Digne zu- 
gebracht hatte, war all bas Geſchwätz, bas in Eleinen Städten 
zuerft die Eleinen Leute befhäftigte, verftummt, und niemand 
wagte e8 mehr aufjurühren. 

Muriel war in Begleitung eines alten Fräuleins, Mabe- 
moijelle Baptiftine, feiner Schwefter, die zehn Jahre jünger war 
als er, nad Digne gekommen. Seine ganze Dienerfhaft beftand 
aus einer Magd, desfelben Alters wie Fräulein Baptiftine, Frau 
Magloire, die feinerzeit MWirtfchafterin des Pfarrers Muriel 
gewefen war und jeßt bas Doppelamt der Rammerfrau Fräu- 
lein Baptiftines und der Haushälterin von Monfignore verfab. 

Mabemoifelle Daptiftine war eine hochgewachſene, blaffe, 
bagere, fanfte Perfon; fie war die DVerförperung alles deflen, 
was man ehrbar nennen möchte; denn um auf Ehrfurdt An- 
fprud zu erheben, muß eine Srau Mutter fein. Hübſch wor fie 
nie gewefen; aber ihr Leben, bas nur in einer langen Weihe 
Wwobltätiger Werke beftand, hatte ihr fchließlich eine gewiffe 
Meinbeit und Klarheit des Weſens verliehen, die man die 
Schönheit der Güte nennen möchte. Wenn fie in ihrer Jugend 
mager gemefen war, fo Eonnte man jeßt, in ihrem reiferen 
Alter, faft von Durkfichtigkeit fprechen. Sie war eher eine 
Seele als ein jungfräulichee Körper; gerade noch genug Leib, 
daß man ihr ein Gefchlecht beilegen fonnte — ein Minimum 
an Materie, das in Glanz gehüllt fhien. Ihre großen Augen 
hatte fie immer zu Boden gerichtet, als fuche ihre Seele einen 
Vorwand, nod auf Erden zu verweilen. 

Frau Magloire war eine Eleine Alte, blaß, beleibt, ftets ge- 
Ihäftig, immer außer Atem, und bas, einmal weil fie zu jeg- 
licher Zeit befhäftigt war, dann aber auch infolge ihres Afthmas. 


2 Hugo, Die Elenden. 7 


As Herr Mvriel eintraf, wurde er im bifôflihen Palais 
mit allen Ehren untergebracht, die von den faiferliben De- 
freten feftgefeht waren; denn die Staatsweisheit wies den Bi- 
Ihöfen den Rang gleich nad den Marfhällen zu. Der Bürger— 
meifter und der Präfident machten ihm fofort ihre Aufwartung, er 
aber, feinerfeits, befuchte zuerft den General und den Präfekten. 


2. Myrielwird Bifhof Bienvenu 


Das bifhöflihe Palais in Digne lag neben dem Hofpital. 
Es war ein geräumiges, fhônes Gebäude, bas zu Beginn des 
vorigen Jahrhunderts von Henri Puget, Doftor der Iheologie 
an der Univerfität Paris, Abbe von Simore, feit 1712 Bifchof 
von Digne, erbaut worden war. Es machte durchaus den Ein- 
brud eines richtigen Herrenfißes. Alles war darin groß angelegt, 
die Gemächer des Biſchofs, die Zimmer, der Seftfaal mit den 
Mandelgängen, die ihn, zu altflorentinifhen Arkaden aus- 
geftaltet, umliefen, und die mit berrlihen Bäumen bepflanzten 
Gärten. In dem Speifefaal, einem prächtigen Naum, der im 
Erdgefhoß lag und zu den Gärten binausfübrte, hatte Mon- 
fignore Puget am 29. Vuli 1714 die hochwürdigen Herren 
Charles Brülard de Genlis, den Erzbifhof Prinz d'Embrun, 
Antoine de Mefgrigny, Biſchof von Graffe, Philippe de Ven— 
döme, Grofprior von Frankreich, Abbe von Saint-Honoré de 
Lérins, Francois de Berton de Grillen, Bifhof von Vence, 
Céfar de Sabran de Forcalquier, Vifhof von Glancève, Sean 
Soanen, Hofprediger und Biſchof von Senez bewirtet. Die 
Bildniffe diefer fieben hochwürdigen Herren ſchmückten den 
Saal, und das denfwürdige Datum, der 29. Juli 1714, war 
mit goldenen Buchſtaben auf einer Marmortafel eingegraben. 

Das Hofpital war ein enges, niedriges Gebäude, einftöcig, 
mit einem Eleinen Gärtchen. 

Drei Tage nad feiner Ankunft befihtigte der Biſchof bas 
Hoſpital. Dann lief er den Direftor zu fich bitten. 

„Herr Direktor,” fagte er, ‚mit wieviel Kranken ift hr 
Spital augenblicklich belegt?’ 


18 





„Wir haben fehsundzwanzig Patienten, Monfignore.‘’ 

„Soviel babe ih aud gezählt.’ 

„Bir haben die Betten recht eng aneinander rücen müflen‘‘, 
meinte der Direftor. 

„Ich babe es bemerkt.‘ 

„Die Kranfenfäle find nur Fleine Zimmer und fehwer zu 
lüften.‘ 

„Das fheint mir aud fo.‘ 

„Selten fällt ein Sonnenftrahl in den Garten, und dann ift 
zu wenig Plat da, die Kranfen darin unterzubringen.‘ 

„Das babe ih mir aud geſagt.“ 

„Wenn Epidemien ausbrehen — wir hatten heuer den 
Typhus und vor zwei jahren das Fieber — , zählen wir manch— 
mal bis zu hundert Kranfe und wiffen nicht, wo wir fie unter- 
bringen ſollen.“ 

„Dieſer Gedanke ift mir auch gekommen.” 

„Was wollen Sie, Monfignore? Man muß fi barein 
ſchicken.“ 

Dieſes Geſpräch fand in dem Speiſeſaal im Erdgeſchoß ſtatt. 

Der Biſchof ſchwieg einen Augenblick, dann wandte er ſich 
unvermittelt an den Direktor. 

„Wieviel Betten könnte man wohl in dieſem Saal unter— 
bringen?“ 

„Im Speiſeſaal des biſchöflichen Palais?“ fragte der Di— 
rektor verblüfft. 

Der Biſchof überſchaute den Saal und ſchien die Maße zu 
überrechnen. 

„Man könnte hier ganz gut zwanzig Betten unterſtellen,“ 
ſagte er leiſe, als ob er mit ſich ſelbſt ſpräche; dann wieder laut: 

„Ich will Ihnen etwas ſagen, Herr Direktor. Hier liegt 
offenbar ein Irrtum vor. Sie ſind ſechsundzwanzig Leute in 
fünf oder ſechs kleinen Zimmern, wir ſind unſer drei und 
haben Platz für ſechzig; das kann nur ein Irrtum ſein, finde ich. 
Gut, Sie haben mein Haus und ich das Ihre, ſo wird es ſein. 
Geben Sie mir mein Haus zurück, dieſes hier gehört Ihnen.“ 


4 19 


Am nähften Tag wurden die ſechsundzwanzig armen Kran- 
Éen im bifbôflihen Palais untergebracht und der Biſchof bezog 
das Hofpital. 

De die Mevolution feine Familie ruiniert hatte, beſaß My— 
viel Fein Vermögen. Seine Schwefter bezog eine Mente von 
fünfhundert Franken, die, folange fie bei ihrem Bruder wohnte, 
für ihre perfünlihen Ausgaben augreichten. Myriel empfing 
vom Staat als Bifhof ein Gehalt von fünfzehntaufend Franken. 
Un dem Tage, als er das Hofpital bezog, feßte er feft, wie biefe 
Summe ein für allemal aufgeteilt werden follte. Wir geben 
bier eine von ihm eigenhändig gefchriebene Aufftellung wieder. 


. Ausgaben meines Haushaltes: 


110.898 Tleine. Seimittar. „li... Au ale a a 1500 Livres 
für die Miffionsfongregation . . . . . . . . .. 189702 
für die Lazariften von Montdidier . . . . . . . . 10. 


für das Seminar der ausmärtigenMiffionenin Paris 200  ,, 
für die Kongregation des Heiligen Geiftes . . . . 150 ,, 


für die Kirchen im Heiligen Lande . . . . . . . . 100 ne 
für die Gefellfhaft zur Dflege der Wöchnerinnen 300  ,, 
für die gleihe Gefellfhaft in Arles . . . . . . . 70. 0 
Hilfswerk für die Verbefferung der Gefängniffe. 400  ,, 
Hilfswerk für entlaffene Sträflinge . . . . . . - >50. 72 
für die Befreiung von Samilienvätern aus dem 

Gehmldgelangais SAR wi a Le 1000 7% 
Unterftüßungsfonds für ſchlechtbezahlte Schul- 

SEBter Der ADIDSCIE. à Lee ee > ue 2000 2 
für die Getreidefpeicher des Departements Hautes 

ES Li ne ne di 100, 1e 


Kongregation zu Digne, Manosque und Sifteron 

zur Erteilung unentgeltlihen Unterrihts an 

Mittellinie) Mädchee rin Li 1500 7 
DE SE, UNS 6 ee CR EE 6000 . + 
verfontibe Aufwendungen cken era men 1000, > 


Summa 15000 Sivres 
20 





Solange Myriel Bifhof von Digne war, änderte er nichts 
an diefer Beftimmung. Das nannte er feinen Haushalt führen. 

Sräulein Baptiftine unterwarf fi diefer Anordnung vor- 
behaltlog. Für diefe Fromme Frau war Muriel zugleih Bruder 
und Difhof, ein Freund, den die Natur ihr beftimmt hatte, 
und ein Vorgeſetzter, dem die Kirche fie unterftellte. Sie liebte 
und verehrte ibn. Wenn er fyrab, unterwarf fie fih; was er 
tat, war wohlgeton. Nur die Haushälterin, Frau Magloire, 
murrte ein wenig. Hatte doch der Bifchof, wie der Lefer wohl 
bemerft bat, nur faufend Livres fid felbft vorbehalten, was — 
mit Fräulein Vayptiftines Rente — fünfzehnhundert Franken 
jährlich ausmachte. Damit follten die beiden alten Frauen und 
der Greis ihren Lebensunterhalt beftreiten. 

Und wenn ein Landpforrer nach Digne Fam, fand der Bifchof 
no Mittel und Wege, ibn zu bewirten, danf der Haus— 
haltungsfunft Frau Magloires und der gefchieften Wirtſchafts— 
führung Fräulein Boptiftines. 

Eines Tages, er war damals fon faft drei Monate in 
Digne, jagte der Biſchof: 

„Mit diefer Summe bin id denn doch ein wenig beengt.“ 

„Das denfe io wohl auch!“ rief Frau Magloire. „Monſignore 
haben ja nicht einmal die Rente in Anfprud genommen, die Ihnen 
das Departement für die Koften einer Equipage und Meifefpefen 
fbulbet. Früher pflegten die Bifchöfe diefes Geld zu beheben.” 

„Allerdings, fagte der Biſchof, „Sie haben recht, Frau 
Magloire.!! 

Und er forderte feine Rente an. 

Der Generalrat prüfte einige Zeit fpäter feine Anſprüche 
und bewilligte ibm eine jährlihe Zumendung von dreitaufend 
Sranfen unter dem Titel: Gebühren des Herren Biſchofs für 
Koften einer Equipage, Poftfohrten und Aufwendungen bei 
Meifen in der Diözefe. 

Bei der Bürgerſchaft gab es ein großes Gefhrei, und ein 
Senator des Kaiferreiche, der ehemals Mitglied des Rats der 
FSünfhundert gewefen war, am 18. DBrumaire für Napoleon 


21 


geftimmt und dafür in der Nähe von Digne ein präcdtiges 
Gut gefhentt befommen hatte, fchrieb dem Kultusminifter, 
Bigot de Préameneu, einen febr entrüfteten, vertraulichen 
‘Brief, dem wir folgendes wörtlid entnehmen: 

„Koſten einer Equipage? Wozu eine Equipage in einer Stadt 
mit viertaufend Einwohnern? Reiſen in der Diözefe? Wozu 
jollen die dienen? Und feit wann reift man in diefem Gebirgsland 
mit der DPoftfutfhe? Es gibt ja gar Feine fahrbaren Straßen 
hier! Hier reift man zu Pferd. Sogar die Durancebrüde bei 
Chäteau-Arnour trägt kaum ein Ochfenfuhrwerf! Aber fo find 
dieſe Geiſtlichen — bhabfüchtig und geisig. Der bier bat fi 
zuerft als Apoftel aufgefpielt. Sekt macht er e8 wie die anderen, 
braucht eine Equipage und eine Poftfutfhe! Will Lurus haben 
wie die Bifchöfe von Anno dazumal. Ach, diefes ganze Pfaffen- 
pad! Herr Graf, es wird uns nicht beffer gehen, folange der 
Kaifer uns diefe Kerle nicht vom Halfe fhafft. Nieder mit 
dem Papſt!“ (Man ftand damals fehleht mit Rom.) „Ich für 
meinen Teil brauche nur den Kaifer und fonft nichts‘ uſw. ufw. 

Dagegen war Frau Magloire febr erfreut. 

„But, fagte fie zu Fräulein Baptiftine, „zuerſt bat Monfi- 
gnore für die andern geforgt, jeßt denkt er aud an fib. Für 
Mohltätigkeit ift genug gefchehen. Diefe dreitaufend Livres blei- 
ben für uns. Endlich!” 

Am felben Abend ftellte der Bifchof einen neuen Haus— 
haltungsfalfül auf und übergab ihn feiner Schwelter. 


Koften der Equipage und Meifefpefen: 


für Bouillon dem Spital . . . . . . . . : . . . 1500 £ivres 
für die Gefellfhaft zur Pflege der Wöchnerinnen 

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für die Gefelfchaft zur Pflege der Wöchnerinnen 

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Summa 3000 Livres 
22 





Das war Myriels Budget. 

Was die Mebeneinfünfte des Epiffopats betraf, Aufgebote, 
Dispenfen, Taufgelder, Predigtgebühren, Einweihungen von 
Kirhen und Kapellen, Hochzeiten ufw., fo trieb der Bifchof fie 


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von den Reichen um ſo ſtrenger ein, als er ſie insgeſamt den 
Armen zuwandte. 

Nach einiger Zeit floſſen ihm auch reichliche Hilfsgelder zu. 
Beſitzende und Bedürftige klopften an ſeine Tür, um milde 
Gaben zu ſpenden oder zu empfangen. Binnen Jahresfriſt war 


23 


der Bifchof der Schasmeifter der öffentlichen Wohltätigfeit, der 
Bankier des Elends. Beträhtlihe Summen floffen durch feine 
Hände, aber nichts Eonnte ihn veranlaffen, auch nur im gering- 
ften feine Lebenshaltung zu verändern und dem Motwendigften 
Überflüffiges hinzuzufügen. 

Meit entfernt davon — immer war, da in der menfchlichen 
Geſellſchaft mehr Elend als Brüderlichfeit herrſcht, alles bereits 
vergeben, bevor e8 eingegangen; e8 war mit dem Gelde wie mit 
einem Tropfen, der auf einen heißen Stein fällt. Soviel Myriel 
au befam, nie hatte er etwas. Oft beraubte er fich jelbft. 

Es ift Sitte, daß die Bifhöfe ihre Taufnamen an die Spike 
ihrer Sendſchreiben und Hirtenbriefe feßen; mit einem Inſtinkt 
der Dankbarkeit wählten die armen Leute von Digne unter 
allen Vornamen ihres Bifhofs den, der ihnen am finnvollften 
Ihien und nannten ihn Monfignore Vienvenu — Biſchof Will- 
fommen. “Sbm gefiel diefe Benennung. 

„Ich babe diefen Namen gern’, fagte er. „Bienvenu Elingt 
beffer als Monſignore.“ 

Wir wollen nicht behaupten, daß bas Bild, bas wir hier ent- 
worfen haben, fehr viel Wohrfcheinlichfeit für fih bat; darum 
müſſen wir uns darauf befchränfen zu verfichern, daß es wahr- 
heitsgetreu tft. 


3. Ein guter Sifbof bat es nibt leibt 


Obwohl der Biſchof feine Equipage in Almoſen verwandelt 
hatte, war er oft amtlich auf Meifen. Und die Diözefe von 
Digne ift ein Diftrift, in dem man nicht bequem reift. Es gibt 
dort. wenig Ebene und viel Gebirge, überdies faft Feine Straßen, 
wie fon erwähnt wurde; und dabei umfaßt fie zweiunddreißig 
Pfarreien, einundvierzig Vifariate und zweihundertfünfundacdt- 
zig Silialfirhen. Sie alle im Auge zu behalten, ift Feine Kleinig- 
feit. Aber der Biſchof bradte es zuftande. Er ging zu Fuß, 
wenn fein Ziel in der näheren Nahbarfchaft lag, fuhr in einem 
Bauernwägelchen, wenn er auf dem flachen Lande zu tun hatte, 
ritt auf einem Maultier ins Gebirge. Oft begleiteten ihn die 


24 





beiden Frauen. Wenn die Meife zu anftrengend war, blieb er 
allein. 

Eines Tages ritt er auf einem Efel in Senez, einer alten 
Bifhofsftadt, ein. Das Geld war befonders knapp, und fo hatte 
er fi Fein anderes Transportmittel leiften Fönnen. Der Bür— 
germeifter empfing ihn am Zor des Difchofspalais und maß 
ihn, wie er fo von feinem Eſel abftieg, mit empörten Bliden. 
Einige Bürgersleute ringsum blieben ftehen und lachten. 

„Herr Bürgermeifter,’ fagte der Bifchof, „und Sie, meine 
Herren Dürger, id verftehe fon, warum Sie empört find; 
Sie finden es unverfhämt, daß ein armer Geiftliher fich des 
Meittiers Jeſu Ehrifti bedient. Aber feien Sie verfichert, ich 
tat es aus Mot, nicht aus Eitelkeit.” 

Auch auf feinen Amtsreifen war er immer geduldig und 
nadhfihtig, feine Predigten Flangen eher wie Plaudereien. Bei 
den Haaren berbeigezogene Argumente Eonnte er nicht aus- 
ftehen. 

Sm Geſpräch war er freundlich und heiter. Lachen Éonnte er 
wie ein Schuljunge. 

Frau Magloire liebte es, ihn ,,bober Herr‘ anzureden. Eines 
Zages wollte er ein Bud von einem Megal holen, Éonnte es 
aber nicht erreichen, da er von Fleiner Statur war. „Frau Ma- 
gloire," rief er, „bringen Sie mir einen Stuhl! Der hohe 
Herr reicht nicht bis zu dem Brett da oben.’ 

Eine entfernte Verwandte, die Gräfin von Lö, ließ ſich fel- 
ten eine Gelegenheit entgehen, vor ihm von den „Hoffnungen‘ 
ihrer drei Söhne zu ſprechen. Sie hatte mehrere Derwandte, 
die fdon an der Schwelle des Grabes ftanden, und deren Erbe 
ihren Söhnen zufallen follte. Der jüngfte der drei follte von 
feiner Großtante bunberttaufend Livres Mente befommen; der 
zweite würde fogar den Herzogstitel feines Onfels erben; der 
ältefte fchließlih würde in die Dairfhaft feines Großvaterg ein- 
treten. Der Bifchof pflegte den unfchuldigen und verzeihlichen 
Prablereien einer Liebenden Mutter ſchweigſam zuzuhören. Ein- 
mal allerdings war er verfonnener als je, während Madame de 


25 


Lö fi) wieder in weitfchweifigen Erörterungen all ihrer Soff- 
nungen erging. Ungeduldig unterbrad fie fid: 

„Großer Gott, Better, woran denfen Sie nur?” 

„Mir fällt da”, fagte der Biſchof, „ein fonderbarer Aus- 
ſpruch ein, den ich, wenn ich mich recht erinnere, in den Schrif- 
ten des heiligen Auguftinus gefunden habe: ‚Seßet eure Hoff- 
nung in Shn, der ohne Nachfolger ift 

Bei paflender Gelegenheit verftand er es, harmlos zu fpot- 
ten, aber faft nie war fein Scherz ohne ernften Sinn. Wäh- 
rend der Faftenzeit Fam einft ein junger Vikar nad Digne und 
prebigte in der Kathedrale. Er war febr beredt. Seine Predigt 
galt der Mildtätigkeit. Er forderte die Reichen auf, den Mot- 
leidenden zu Hilfe zu fommen, denn nur fo fünnten fie der 
Hölle entgehen, die er ihnen ebenfo fchauerlich fchilderte, wie er 
bas Paradies lieblid und erftrebenswert darftellte. Unter feinen 
Zuhörern war ein reiher Kaufmann, der fich bereits zur Ruhe 
gefeßt hatte, ein gewiffer Géborand, ein Wucherer, der mit fei- 
ner Quchmweberei zwei Millionen verdient hatte. Zeit feines 
Lebens hatte Géborand feinem Unglüdlihen ein Almofen ge- 
geben. Seit jener Predigt aber wurde beobadıtet, daB er jeden 
Sonntag für die alten Bettlerinnen am Tor der Kathedrale 
einen Sou fpendete. Und dabei waren es fes, die ſich in biefen 
Betrag zu teilen hatten! Der Bifchof fab ihn eines Tages, wie 
er folhermaßen Wohltätigkeit übte, und fagte lächelnd zu feiner 
Schwefter: 

„Sieh bob den Herrn Géborand, wie er für einen Sou 
Paradies kauft!“ 

Menn es galt, Spenden einzutreiben, ließ er fi) auch durch 
eine abſchlägige Antwort nicht zurücffchreefen und fand oft Eluge 
Einwände. Einmal fammelte er in einem Salon für die Ar- 
men. Aud der Marquis de Champtercier war zugegen, ein 
reicher alter Geizhals, der e8 fertigbradhte, zugleich Ultraroyalift 
und Ultravoltairianer zu fein. Auch das gibt es. Der Bifchof 
berübrte feinen Arm und fagte: 

„Herr Marquis, Sie müffen mir etwas geben.’ 


26 





Der Marquis wandte fi um und ermiderte froden: 

nMonfignore, id habe meine Armen. 

„But, geben Sie fie mir.‘ 

Da er in der Provence geboren war, verftand er die Dialefte 
des Südens gut. Das gefiel den Leuten und frug nicht wenig 
dazu bei, daß feine Worte bei ihnen galten. Er war in der 
Hütte und auf der Alm zu Haufe. Die erhabenften Dinge ver- 
mochte er in die gewöhnlichften Worte zu Eleiden. Er ſprach 
alle Dialefte und drang ein in alle Herzen. 

Niemals urteilte er voreilig und ohne die Umftände zu prü- 
fen. Gern fagte er: „Wir wollen fehen, welchen Weg die 
Sünde genommen hat.’ 

Sid felbft nannte er fcherzhaft einen Erfünder; niemals gab 
er fi fireng oder 309 nach Art der QTugendbolde feine Stirn 
in düftere Falten; offen befannte er fi) zu feinen Fehlern und 
hielt fih an einen Lehrfoß, den man ungefähr fo zufommen- | 
faſſen Eonnte: 

„Der Menſch ift von Fleifh, darum trägt er feine Laft und 
feine Verſuchung immer bei fih. Sie lauert und er gibt ihr 
nach.” 

Gab es ein allgemeines Entrüftungsgefchrei, fo fagte er wohl 
au: „Dh, das muß ja eine Sünde fein, die von vielen Leuten 
begangen wird, daß alle Heuchler fo heftig proteftieren und ihr 
Alibi nachweiſen.“ 

Gegen die Frauen und gegen die Armen, auf denen das Un- 
recht der Geſellſchaft am fchwerften laftet, war er ftets nad- 
fihtig. ‚„„Die Sünden der Frauen, der Kinder, der Vebienten, 
der Schwachen, der Elenden und der Unwiſſenden“, fagte er, 
„find immer die Schuld der Männer, der Eltern, der Brot— 
geber, der Starken, Reichen und Wiflenden.‘ 

Dder: „Man muß die Unwiffenden belehren fo gut man 
fann; die Gefellfchaft lädt eine große Schuld auf fich, indem fie 
den Unterricht nicht unentgeltlich erteilt; fie ift verantwortlich 
für die Sinfternis des Geiftes, in der fie die Menſchheit ver- 
barren läßt. Wenn die Seele in Dunkelheit fhmacbtet, ift fie 


27 


der Sünde zugänglich. Nicht jener ift fhuldig, der die Sünde 
begeht, fonbern der die Finfternig erzeugt hat.‘ 

Eines Tages hörte er in einem Salon von einem Kriminal- 
prozeß fprehen, der damals in Vorbereitung war. Ein Unglüd- 
lier hatte aus Liebe zu einer Frau und dem Kinde, dag fie 
von ibm hatte, falſches Geld gemacht, weil er feinen anderen 
Ausweg fab, dem Elend zu entgehen. Falfhmünzerei wurde zu 
jener Zeit noch mit dem Tode beftraft. Man hatte die Frau bei 
ihrem erften Berfud, das Falfehgeld an den Mann zu bringen, 
verhaftet. Man bielt fie gefangen, aber Beweiſe Éonnte mon 
nur gegen fie nicht erbringen. Sp lag es an ihr, ob fie ihren 
Liebhaber belaften und dur ein Geftändnis dem Tode über- 
liefern wollte oder nicht. Sie leugnete. Man drang in fie. Aber 
fie bebarrte bei ihrer Ausſage. Da hatte der Eöniglihe Profu- 
rator einen guten Einfall. Er Eonfteuierte eine Untreue des 
Mannes und verftand es, Bruchſtücke aus Briefen von ihm fo 
gefchickt zufammenzuftellen, daß die Unglückliche glauben mußte, 
fie babe eine Otebenbublerin und würde von jenem Manne be- 
trogen. In der Zat ließ fie fih von ihrer Eiferfucht verführen, 
ihren Liebhaber zu verraten, alles zu geftehen und fogar Be— 
weife zu liefern. Der Mann war verloren. Er follte demnächſt 
zufommen mit feiner Mitfehuldigen in Air abgeurteilt werden. 
Man unterhielt fi darüber, und alle rühmten die Gefhidlih- 
Feit des Beamten. Indem er die Eiferfuht erregt hatte, war 
es ihm gelungen, den Zorn zu feinem Derbündeten zu maden 
und die Wahrheit zu erfahren. Er hatte die Rachſucht in den 
Dienft der Juſtiz geftellt. Schweigend hörte der Biſchof dies 
alles an. Endlich fragte er: 

„Welches Gericht urteilt über diefen Mann und diefe Frau?” 

„Die Aſſiſen.“ 

„Und welches über den Herrn Prokurator?“ 

Ein tragiſcher Fall ereignete ſich in Digne. Ein Mann 
wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt. Es war ein Un— 
glücklicher, der nicht wirklich gebildet, aber auch nicht ganz un— 
wiſſend war; auf Jahrmärkten hatte er ſich als Clown zur 


28 





Schau geftellt, war aber aud als öffentliher Schreiber tätig 
gewefen. Der Prozeß erregte in der Stadt großes Auffehen. 
Am Vorabend der Hinrichtung erfranfte der Gefängniggeift- 
lihe. Da aber ein Priefter den Delinquenten auf feinem leßten 
Gange begleiten mußte, fandte man nad dem Pfarrer. Es 
wurde berichtet, er babe fih mit der Begründung geweigert, 
die Sache gehe ihn nichts an. „Mit Poffenreißern babe ich 
nichts zu fun,” hatte er gejagt, „übrigens bin id aud Franf, 
und dies ift nicht meines Amtes.’ 

Diefe Antwort wurde dem Biſchof hinterbradht, und biefer 
fagte: 

„Der Herr Pfarrer hat recht. Dies ift nicht fein Amt, fon- 
dern meines.‘ 

Unverzüglich begab er fi in das Gefängnis, flieg in die 
Zelle des Poflenreißers hinab, redete ihn mit Nomen an und 
bot ihm die Hand. Den ganzen Tag blieb er bei ibm, vergaß 
zu effen und zu fehlafen, betete für die Seele des Derurteilten 
und ermahnte ihn, an fein Heil zu denfen. Er fagte ihm die 
beften Wahrheiten — nämlich die einfachften. Er war Vater, 
Bruder, Freund; Biſchof nur, um zu fegnen. Er belehrte ihn, 
gab ihm die Sicherheit wieder und tröftete ihn. Diefer Menſch 
war im Begriff, verzweifelt zu ſterben. Für ihn war der Tod 
ein Abgrund, ein gähnender Schlund, vor dem er entfeßt zurück— 
bebte. Er war nicht fo roh, daß er ftumpf geblieben wäre. Seine 
Verurteilung Hatte ihn ſchwer erfchüttert und ibn einen Blick 
tun loffen in jene geheimnisvolle Tiefe, die wir dag Leben nen- 
nen und die fih zumeift unferer Erkenntnis entzieht. Er fuchte 
um fi zu bliefen und fab nur Sinfternis. Der Bifchof Tieß ibn 
das Licht erfennen. 

As der Delinquent am nädften Tage abgeholt wurde, war 
der Bifchof bei ihm. Er wich nicht von feiner Seite und zeigte 
fi) der Menge in feinem violetten Kleid, mit dem Biſchofs— 
kreuze am Halfe, neben dem gefeflelten Verbrecher. Mit ibm 
beftieg er den Karren und bas Schafott. Der Unglückliche, der 
no am DBorabend niedergefchmettert und verzweifelt gemefen 


29 


war, hatte Saffung gewonnen. Vielleicht empfand er, daß feine 
Seele Gnade gefunden hatte. Der Bifchof umarmte ihn und 
flüfterte ihm, als das Fallbeil ſtürzte, noch zu: 

Ben der Menſch tötet, den erweckt Gott zu neuem Leben; 
wen die Brüder von fih ftoßen, den nimmt der Vater auf. Geh 
ein in bas ewige Leben, der Vater erwartet dich!’ 

As er vom Schafott herabftieg, war etwas in feinen Augen, - 
wovor die Menge fheu zurückwich. Man wußte nicht, was er- 
ftaunliher war, feine Bläſſe oder der heitere Frieden, den fein 
Antliß ausftrablte. 

Gerade das Erbabene wird felten verftanden; viele Leute 
hielten das Detragen des Bifchofs für Affeftation. Das war 
die Meinung der Salons. Das Volk allerdings, das fromme 
Handlungen nicht mißdeutet, war gerührt und bewunderte den 
Biſchof. 

Ihn hatte der Anblick der Guillotine aufs tiefſte erſchüttert, 
und lange konnte er ſich davon nicht erholen. 

In der Tat hat das Schafott, wenn es hoch aufgerichtet vor 
uns ſteht, eine unheimliche, die Phantaſie erregende Wirkung. 
Man mag über die Todesſtrafe keine eigene Meinung haben, 
ſich des Urteils enthalten, ſie bejahen oder verneinen, ſolange 
man die Guillotine nicht mit eigenen Augen geſehen hatz; iſt 
man ihr aber gegenüber geſtanden, ſo muß man ſich entſcheiden 
und Partei nehmen. Der eine wird ſie bewundern wie de 
Maiſtre, der andere ſie verabſcheuen wie Beccaria. Die Guillo— 
tine iſt das verwirklichte Geſetz, die materialiſierte Rache; ſie iſt 
nicht neutral und geſtattet uns nicht, neutral zu bleiben. Bei 
ihrem Anblick können wir uns nicht dem geheimnisvollen 
Schauer entziehen. Rings um das Fallbeil haben die ſozialen 
Probleme ihre Fragezeichen wirkſam vor unſer Auge gerückt. 
Das Schafott iſt eine Viſion. Es iſt nicht ein Gerüſt, eine 
Maſchine, ein toter Mechanismus aus Holz, Eiſen und Seil. 
Es iſt ein Lebeweſen, ſcheint es, ein Lebeweſen, das irgendeinem 
dunklen Trieb folgt. Es iſt, als ob es ſähe, höre, begreife, als 
ob dieſem Eiſen, dieſem Holz, dieſen Seilen ein Wille inne— 


30 





wohne. Unferer beängftigten Phantafie erfcheint es als furdt- 
bares MWefen, bas wiflentlih handelt. Denn es ift der Komplice 
des Henfers, es frißt Fleifh und fauft Blut. Es ift ein Un- 
geheuer, bas der Richter und der Zimmermann heraufbefchworen 
bat und bas mit dem Tode, den es gibt, fein fcheußliches Leben 
beftreitet. 

So war der Eindrudf tief und fhredlih geweien; am Tage 
nach der Hinrichtung und noch viele Tage fpäter war der Biſchof 
bedrückt. Die faft erzwungene Heiterfeit, die ihn in dem fchred- 
lihen Augenblick beherrfcht bat, war wieder verfhwunden; bas 
Schreckgeſpenſt der Juſtiz laftete auf ihm. Er, der fonft mit fo 
firahlender Zufriedenheit auf alle feine Handlungen zu bliden 
pflegte, fhien fih Vorwürfe zu machen. Zumweilen fprad er mit 
fi felbft, murmelte büfter vor fih bin. Seine Schwefter hörte 
ihn eines Abends fagen: 

„Ich dachte nicht, daB es fo gräßlich wäre. Es ift ein Un- 
recht, nur an bas göttliche Gefeß zu denken und das Menfchen- 
gejeß zu vernachläffigen. Den Tod feftzufesen, ift Gottes Sache. 
Mur ibm kommt es zu. Mit welchem Recht maßen die Men- 
ſchen fih an, eine Strafe zu verhängen, die fie felbft nicht 
fennen ?// | 


4, Eravatte 


Hier fügt fih eine Begebenheit ein, die wir nicht unerwähnt 
laffen dürfen, denn fie gehört zu jenen, die den Charakter des 
Bifhofs von Digne am deutlichften erfennen laffen. 

Nachdem die Bande des Gaſpard Bes auseinandergetrieben 
worden war, der die Täler um Ofioules unficher gemacht hatte, 
- flob einer feiner Unterführer, ein gewiffer Cravatte, ins Ge- 
birge. Er verbarg fit mit einigen verfprengten DBanditen ge- 
raume Zeit in der Graffhaft Nizza, entfam nah Piemont und 
tauchte plößlich wieder in Frankreich, bei Barcelonnette auf. 
Zuerft fab man ibn in Jauziers, dann in Tuiles. Er verbarg 
fi) in den Höhlen des Joug de l'Aigle, flieg von dort durch 
die Schluhten der Ubaye und Ubayette zu den Hügeln und 


31 


Dörfern herab. Schließlih Fam er nah Embrun, drang des 
Nachts in die Kathedrale ein und plünderte die Gafriftei. 
Seine Raubzüge feßten das ganze Land in Schreden. Die 
Gendarmen waren ibm auf den Serfen, aber vergeblih. immer 
wieder entkam er; zuweilen leiftete er fogar bewaffneten Wider- 
ftand. Er war tollfühn und elend. 

Inmitten diefer Schreden traf der Bifchof ein. Er befand 
fid gerade auf einer Amtsreiſe nah Chaftelar. Der DBürger- 
meifter befuchte ibn und empfabl ibm, umzufehren. Cravatte 
hielt bas Bergland bis zur Arche und darüber hinaus in Atem; 
felbft mit einer Esforte zu reifen fei gefahrvoll. Es bedeute, 
nußlos drei oder vier Gendarmen in Gefahr zu bringen. 

„Allerdings, fagte der Biſchof, ‚ih wünſche aud ohne 
Esforte zu reifen.” 

„Aber was fallt Ihnen ein!” rief der Bürgermeifter. 

„Doch, ic) lehne e8 ab, mit Gendarmen zu reifen, und id 
brece in einer Stunde auf.” 

„Sie bredhen auf?‘ 

„Allerdings.“ 

„Und allein?“ 

„Allein.“ 

„Monſignore, das werden Sie nicht tun.“ 

„Ich habe da“, erwiderte der Biſchof, „oben in den Bergen 
eine kleine Gemeinde, die ich ſeit drei Jahren nicht beſucht habe. 
Die Leute dort ſind mir gute Freunde. Sanfte, rechtſchaffene 
Hirten. Von dreißig Ziegen, die ſie hüten, gehört ihnen eine, 
und ſie flechten ſehr hübſche Wollſchnüre und ſpielen auf kleinen 
Flöten mit ſechs Klappen Lieder aus den Bergen. Ich muß 
ihnen von Zeit zu Zeit etwas von Gott erzählen. Was ſollten 
ſie von einem Biſchof denken, der ſich fürchtet, was ſollen ſie von 
mir halten, wenn ich nicht komme?“ 

‚Aber, Monſignore, die Räuber —?“ 

„Halt,“ ſagte der Biſchof, „die darf ich auch nicht vergeſſen. 
Sie haben recht. Ich könnte ihnen begegnen. Die haben es be— 
ſonders nötig, daß ich ihnen von Gott ſpreche.“ 


32 





„Monfignore, bas find Danditen! Eine Horde Wölfe!‘ 

„Herr Bürgermeifter, vielleicht bat Jeſus mich über fie zum 
Hirten eingefest. Wer begreift die Vorſehung?“ 

nMonfignore, fie werden Sie ausrauben.‘ 

„Ich babe ja nichts.‘ 

‚dann werden fie Sie totfchlagen.” 

„Einen alten Priefter, der Iandein zieht und Gebete mur- 
melt? Wozu?‘ 

„Mein Gott, wenn Sie ihnen begegnen!’ 

„Ich werde fie um ein Almofen für meine Armen bitten.’ 

Man mußte ihn gewähren laffen. Nur in Begleitung eines 
Knaben, der fi ihm als Führer angeboten hatte, machte er fit 
auf den Weg. Seine Unbeugfamfeit erregte im ganzen Lande 
großes Auffehen und gab Anlaß zu fchlimmen Befürchtungen. 

Meder feine Schwefter noh Frau Magloire nahm er mit. 
Auf einem Maultier ritt er über das Gebirge, begegnete nie- 
mand und Fam woblbebalten bei feinen Freunden, den Hirten, 
on. Er blieb vierzehn Tage bei ihnen, predigte, erledigte feine 
Amtsgefhäfte, gab ihnen nüßliche Lehren. Als er abreifen follte, 
beſchloß er, ein feierliches Tedeum abzuhalten. Er ſprach bar- 
über mit dem Pfarrer. Es ergab fi, daß Fein bifchöfliches 
Ornat aufzutreiben war. Man Fonnte ibm ein einfaches Meß— 
gewanb, wie es die Landpfarrer benüßen, mit verblihenen Da- 
maftverbrämungen und falfchen Goldtrefien anbieten. 

„Jun, Herr Pfarrer,” fogte der Bifchof, „kündigen wir 
unfer Iedeum an. Alles wird fich finden.’ 

Man fragte ringsum in den Kirchen an, aber alle diefe dürf- 
tigen Landpfarreien zuſammen Fonnten nicht genug Paramente 
in ihren Safrifteien aufbringen, um einen Domfantor an- 
ständig zu befleiden. 

Während man fih nod den Kopf zerbrah, wie biefem 
Mangel abzuhelfen wäre, wurde von zwei unbefannten Meitern, 
die fi) fofort wieder davonmachten, eine mächtige Truhe in bas 
Pfarrhaus gebracht und für den Heren Biſchof abgegeben. Man 
‚öffnete fie und fand darin einen Cborrof aus goldgewirkftem 
LS Hugo, Die Elenden. 33 
























Zud, eine biamantenbefehte Mitra, bas Kreuz eines Erz | 
bifhofs, einen prunfvollen Krummftab, Furz, alle die bifchöf- | 
lien Gewänder, die einen Monat vorher aus der Schakfam- | 
mer von Motre Dame zu Embrun geraubt worden waren. In | 
der Truhe lag ein Zettel, auf dem gefchrieben ftand: | 

„Dies fendet Cravatte dem Bifhof Bienvenu.“ | 

„Habe id nicht gefagt, daß alles fit finden wird! rief der | 
Biſchof. Und lächelnd fügte er hinzu: „Wer fi mit dem Pfar- | 
rerroc begnügt, dem fendet Gott das Ornat eines Erzbifchofs. | 


5. Neues Licht 


Einige Zeit ſpäter tat der Biſchof etwas, worüber die ganze | 
Stadt noch mehr in Erftaunen geriet als über die Meife dur | 
bas Gebiet der Banditen. 

In der Umgebung von Digne führte ein Mann ein einfames | 
Leben. Diefer Menfh, um das Furchtbare Furz herauszufagen, 
war ein ehemaliges Mitglied des Konvents. Er hieß G. Von 
dem Konventsmitglied G. fprad man in der Fleinen Welt, die | 
Digne hieß, nur mit Abfeheu. Ein Mitglied des Konvents! — | 
Mer bielte das für möglih?! Das hatte es zur Zeit gegeben, } 
als jeder den andern duzte und Bürger nannte. Diefer Menfch 
war faft ein Ungeheuer. Er hatte nicht für den Tod des Königs | 
geftimmt, aber viel hatte nicht gefehlt! Faft ein Königsmörder!| 
Es war ſchrecklich. Warum hatte man ihn nicht nach der Nüd- 
fehr der angeftammten Familie vor das Profofengericht geftellt? | 
Man hätte ibn ja nicht aufs Schafott bringen müffen, um jeden | 
Preis, man hätte Milde walten laffen Eönnen, gut, aber eine 
anftändige Verbannung auf Lebensdauer war bod dag minbdefte, 
was man verlangen durfte. Man hätte fchließlih ein Erempel) 
ftatuieren follen! Überdies war diefer Menſch noch dazu ein 
Atheift, wie das ja bei feinesgleichen ſich von felbft verfteht. 

Gänfegefhnatter über einen Geier. 

War übrigens diefer G. ein Geier? Ja, wenigftens nad) der] 
Wildheit zu ſchließen, mit der er fih in der Einfamfeit vergrub. 


34 


Da er nicht für den Tod des Königs geftimmt hatte, war er ja 
von den Verbannungsdefreten nicht betroffen und durfte fi in 
Frankreich aufhalten. 

Er wohnte drei viertel Stunden von der Stadt entfernt, 
abfeits von jeder menflihen Siedlung, fern von allen Wegen, 
in einem verftecften Winfel eines einfamen Tales. Dort hatte 
er, wie es hieß, ein Stüf Ader, eine Höhle — einen Zu- 
fluhtsort. Keine Nachbarn; nicht einmal, daß jemand dort vor- 
überfam. Seit er in jenem Tal wohnte, war bas Gras über 
den Pfad gewachſen. Man fprad von jenem Ort mie vom 
Haufe des Henfers. 

Der Biſchof jedoh badte an ben Mann, fab von Zeit zu 
Zeit hinab in jenes Tal und ließ feinen Blick auf der Baum— 
gruppe verweilen, die am fernen Horizont bas Haus des alten 
Konventsmitglieds bezeichnete. Dort ift eine Seele, dachte er, 
die einfam ift. 

Ich ſchulde ihm einen Beſuch, empfand er. 

Doh wollen wir es offen einbefennen, diefer Gedanke bien 
ihm, fo natürlich er auch im erften Augenblick war, nad Eurzer 
Überlegung feltfam und unmöglich, ja widerwärtig. Im Grunde 
genommen teilte er die allgemeine Meinung, und das Konvent: 
| mitglied Flößte ibm, ohne daß er fi) beffen Élar bewußt war, ein 
Gefühl ein, bas an der Grenze des Hafles Liegt. 

Indeſſen, darf die Räude des Scafes den Hirten zurüd- 
ſcheuchen? Mein. Aber wel ein Schaf war bas nun! 

Der gute Bifhof befand fih in einer fehwierigen Lage. 
| Mandmal mate er fih auf den Weg, um dorthin zu gehen, 
I Fam aber unverrichteterdinge wieder zurück. 

Eines Tages hieß es in der Stadt, ein junger Hirt, der 
dem alten G. diente, fei um einen Arzt gekommen; der alte 
Schuft fterbe, er fei bereits gelähmt und werde die Nacht nicht 
‚ überleben. 

Gott fei Dank, meinten manche. 

Der Bifhof nahm feinen Stod, jhlüpfte in den Mantel, 
denn feine Soutane war bereits allzu fchäbig, oder au, um 


J 35 





fid) nicht dem Falten Abendwind auszufeßen, und machte fich 
auf den Weg. 

Die Sonne berührte bereits den Horizont, als der Bifchof 
den fluchbeladenen Ort erreichte. Nicht ohne HerzFlopfen fab er 
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fi) endlich der Hütte gegenüberftehen. Er überquerte einen Gra- 
ben, ftieg über eine Hede, gelangte burd einen Vorgarten an 
einen Platz, von bem aus er zwifchen hohem Gefträud die Be— 
baufung erfannte. Es war eine niedrige, einfache, faubere Hütte 
mit einer vergitterten Safflade. Vor der Tür fab in einem Noll 


36 








ftuhl, wie ihn die Landleute gebrauden, ein Mann mit weißen 
Haaren, der der Sonne zulächelte. Neben ihm ftand ein junger 
Burfche, wohl jener Hirt, und reichte ibm eine Schale Mild. 

Während der Blick des Bifchofs auf ihm ruhte, wandte fit 
der Greis an den Knaben. 

„Danke, fagte er, ‚ih brauche nichts mehr.” Sein freund- 
liher Blick hatte fih von der Sonne gelöft und ruhte jeßt auf 
dem Burſchen. 

Der Biſchof trat näher. Das Geräufh feiner Schritte ver- 
anlaßte den Greis, fih umzumenden, und fein Geficht zeigte alle 
Verwunderung, die man nad einem langen Leben noch zu emp- 
finden vermag. 

„Seit ich hier bin,’ fagte er, ‚‚ift dies bas erftemal, daß man 
zu mir fommt. Wer find Sie, mein Herr?’ 

„Ich heiße Bienvenu Myriel.“ 

„Dienvenu Myriel. Diefen Namen babe ich gehört. Sind 
Sie der, den das Volk Bifhof Bienvenu nennt?” 

„Derſelbe.“ 

Der Greis lächelte leiſe. 

„Demnach ſind Sie mein Biſchof?“ 

„sn gewiſſem Sinne...” 

„Treten Sie ein, mein Herr.” 

Das Konventsmitglied bot dem Bifchof die Hand, aber der 
nahm fie nicht. Er fagte nur: 

„Ich freue mich zu fehen, daß man mich falfch berichtet bat. 
Sie fheinen mir nicht krank zu fein.’ 

„Ich werde bald ganz gefund fein‘, erwiderte der Greis. Und 
nach einer Paufe: „In drei Stunden fterbe id. Ich verftehe 

mid ein wenig auf die Medizin. Sch weiß, wie der Tod fid 
vorbereitet. Geftern waren nur die Füße Falt, heute ift die 
Kälte bis zu den Knien hinaufgeftiegen; jest fühle ich, wie fie 
langſam zum Leib hinanfteigt. Sobald fie das Herz erreicht, 
wird es mit mir aus fein. Schönes Wetter heute, ja? Ich babe 
mich berausfabren laffen, um einen leßten Blick auf all diefe 
Dinge zu werfen. Sprechen Sie ruhig, es ftrengt mich nicht an. 


37 


Sie taten recht, einen Mann zu befuen, der ftirbt. Es ift 
gut, in diefem Augenblick nicht allein zu fein. Man bat fo feine 
befonderen Wünſche. Ich hätte gern bis Tagesanbruch gelebt, 
aber ich weiß, daß meine Kraft kaum nod drei Stunden vor- 
hält. Dann ift Nacht. Nun, was tuf 8? Sterben ift eine ein- 
fahe Sade. Man braudt dazu Feine Morgenfonne. Sch werde 
im Licht der Sterne fterben.‘ 

Der Greis wandte fih dem Hirten zu. 

„Seh fblafen, du. Du haft geftern naht gewacht, bu bift 
müde.’ 

Der unge trat in die Hütte. Der Alte folgte ihm mit den 
Augen und fagte leife: 

„Während er fehläft, werde ich fterben. Gute Nachbarschaft 
für zwei Arten Schlaf.” 

Der Bifhof war nicht fo tief gerührt, wie man es hätte 
vieleicht erwarten follen. Das war eine Art zu fterben, in der 
nichts von Gott zu fühlen war. Und um alles zu fagen — denn 
auch die Éleinen Widerſprüche in großen Herzen dürfen nicht 
unerwähnt bleiben —, er, der lachte, wenn man ihn „hober 
Herr’ anfprad), empfand e8 doc ein wenig peinlich, daß er hier 
nicht „Monſignore“ angefprochen wurde; faft fühlte er ſich ver- 
fut, fein Gegenüber „Bürger anzureden. Er hatte eine An- 
wandlung, mit dem Mann in jener groben Vertraulichkeit zu 
iprechen, die bei Drieftern und Ärzten fo gewöhnlich ift, ihm aber 
fonft fremd war. Diefer Mann, diefes Konventsmitglied, biefer 
Volksvertreter war ein Mächtiger der Erde gewefen, und viel- 
leicht zum erftenmal in feinem Leben fühlte der Bifchof eine 
Meigung, hart zu fein. 

Der Alte dagegen ließ feinen Blick befcheiden und herzlich 
auf dem Fremden ruhen, und es war, als ob die Demut deflen 
in ibm fühlbar würde, der ſich anſchickt, in Staub zu zerfallen. 

Der Bifhof Fonnte fonft Neugierde nicht vertragen, fie galt 
ihm beinahe als Beleidigung; doch Eonnte er fit diesmal nicht 
verfagen, bas Konventsmitglied mit einer Aufmerkfamfeit zu 
betrachten, die ihren Urfprung nicht in der Sympathie hatte 


38 





und die er fi fonft, jedem anderen Menſchen gegenüber, wohl 
felbft verargt hätte. Aber ein Konventsmitglied ftand für ihn 
gewiflermaßen außerhalb des Gefekes, fogar außerhalb des Ge- 
bots der Liebe. Der alte G. mit feiner Ruhe, feiner faft auf- 
rechten Haltung und Fräftigen Stimme war einer jener impofanten 
Adtzigjährigen, die den Phyfiologen in Erftaunen feßen. Die 
evolution bat viele Menfhen bervorgebracbt, die das Format 
ihrer großen Zeit hatten. Man fpürte, daß diefer Greis feinen 
Mann geftellt hatte. Noch an der Schwelle des Todes hatte er 
feine männliche Kraft bewahrt. Sein flarer Blick, feine fefte 
Sprache, fein Éräftiges Achfelzucden Eonnte den Tod in Ver— 
legenbeit feßen. Asrael, der Zodesengel der Mohammedaner, 
wäre vor feiner Schwelle umgekehrt und hätte geglaubt, er 
ftehe vor einer falfhen Zür. ©. fhien zu fterben, weil er felbft 
einverftanden war. Auch fein Iodesfampf hatte etwas Frei— 
williges, Selbftgewolltes. Nur die Beine waren unbeweglich. 
Sie waren tot und Falt, während der Kopf noch in voller Kraft 
lebte, fie waren bereits ergriffen vom Reich der Schatten, 
während das Haupt nod in das Licht ragte. m diefem Augen 
blif glih G. jenem König aus dem orientalifhen Märden, 
deflen Oberkörper Fleifh, deflen Unterförper aber Marmor ift. 

Eine Steinbanf war da, der Bifchof feste fih. Unvermittelt 
begann er zu fprecen. 

„Ich beglükwünfhe Sie,” fagte er nicht ohne Vorwurf, 
‚nenn Sie haben wenigftens nicht für den Tod des Könige 
geſtimmt.“ 

Das Konventsmitglied ſchien den bitteren Beigeſchmack des 
Wortes „wenigſtens“ nicht zu beachten. G. lächelte nicht mehr, 
als er ſagte: 

„Beglückwünſchen Sie mich nicht zu voreilig, mein Herr; ich 
habe für den Tod des Tyrannen geſtimmt.“ 

Das war hart gegen hart geſprochen. 

„Was wollen Sie damit ſagen?“ fragte der Biſchof. 

„Daß der Menſch einen Tyrannen bat, die Unwiſſenheit. 
Gegen ihn habe ich geſtimmt. Dieſer Tyrann hat das Königtum, 


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die verfalfte Autorität, erfonnen. Aber die Wiſſenſchaft ift 
die wahre Autorität. Mur von ihr darf der Menſch fi führen 
laſſen.“ 

„Und von ſeinem Gewiſſen“, fügte der Biſchof hinzu. 

„Das iſt dasſelbe. Das Gewiſſen iſt jener Teil der Wiſſen— 
ſchaft, der uns eingeboren iſt.“ 

Etwas erſtaunt hörte der Biſchof Bienvenu dieſe Sprache, 
die ihm neu war. 

„Was Ludwig XVI. betrifft,” fuhr das Konventsmitglied 
fort, „ſo babe id gegen feinen Tod geftimmt. Ich halte e8 nicht 
für mein Recht, Menfhen zu töten, aber e8 ift meine Pflicht, 
bas Übel auszurotten. Sd babe für den Tod des Tyrannen ge- 
ftimmt, für das Ende der Proftitution der Frauen, der Skla— 
verei der Männer, der Unwiffenbeit der Kinder. Das war mein 
Ziel, als ich für die Republik ftimmte, für Brüderlichkeit, Ein- 
tracht, Aufftieg! Ich wollte mitwirfen am Sturz der Vorurteile 
und Irrtümer. Ihre Vernichtung fol uns das Licht bringen. 
Mir haben die alte Weltordnung geftürzt, diefes Gefäß allen 
Elends, und fo ift aus ihr eine Freudenurne geworden.” 

„Die Freude war gemifcht”, meinte der Bifchof. 

„Sie mögen fagen, fie war getrübt; und heute, nach jener 
verhängnisvollen Wiederfehr des Vergangenen, ift fie vollends 
verfhmwunden. Ad, bas Werk ift unvollendet, ich gebe es wohl 
zu. Wir haben das alte Regime zerftört, aber die Ideen, auf 
denen es fußte, Eonnten wir nicht unterdrüden. Es genügte 
nicht, den Mißbrauch abzufhaffen. Eine neue Gefittung mußte 
entwickelt werden. Die Mühle ift nicht mehr, aber nod immer 
weht derfelbe Wind.” 

„Sie haben zerftört. Das mag nützlich fein, aber ich miß- 
traue einer Zerftörung, die aus dem Zorn entfteht.” 

„Auch das Recht Fennt den Zorn, mein Herr; der Zorn be- 
leidigten Rechtsgefühls ift ein Element des Fortſchritts. Man 
mag fagen, was man will, die franzöfifhe evolution ift feit 
dem Erfheinen Cbrifti der gewaltigfte Schritt, den das Men- 
fhengefchlecht vorwärts getan bat. Sie hat alles foziale Unredt 


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ausgeglichen. Sie hat die Geifter befänftigt. Sie bat beruhigt, 
verföhnt, aufgeklärt. Sie hat der ganzen Erde den Stempel 
ihrer Zivilifation aufgedrüdt. Sie war gütig. Sie ift die Hei- 
ligung des Menfchenbegriffe.‘ 

„Und dreiundneungig?” 

Mit erbabener Feierlichfeit richtete fi) bas Konventsmitglied 
in feinem Stuhle auf und rief, fo laut ein Sterbender zu 
fprechen vermag: 

„Ach, da wären Sie alfo! 1793! Darauf babe ich gewartet! 
Dh, fünfzehn Jahrhunderte lang bat diefe Wolfe ſich zufam- 
mengeballt, dann ift fie geborften, und nun Flagt ihr ben 
Blitz an.” 

Vielleicht fühlte der Biſchof, ohne felbft ganz bewußt zu 
werden, daß etwas in ihm unficher wurde. Aber er bewahrte 
Haltung. 

„Der Richter fpriht im Namen der Gerechtigkeit, der Prie- 
fter im Namen des Mitleids, bas nur eine höhere Gerechtigfeit 
ift. Der Blitz darf fib nicht irren. Wie ftebt es mit Lub- 
wig XVII? 

Das Konventsmitglied ftreefte die Hand aus und ergriff den 
Arm des Bifchofs. 


„Ludwig XVII! Nun, wen beklagen Sie? Das unfhuldige 
Kind? Gut, ich beflage es mit Ihnen. Das Königefind? Das 
wäre zu erwägen. Für mich ift der Bruder des Cartouche, 
diefes unfchuldige Kind, das auf dem Greveplak an den Achſeln 
aufgehängt wurde, bis es ftarb, nur weil es eben der Bruder 
jenes Cartouche war, nicht minder beflagenswert als der Enfel 
jenes Ludwig XV., diefes unfchuldige Kind, bas im Temple zu 
Zode gemartert wurde, eben weil es der Enkel jenes Lub- 
wig XV. war.” 

„Mein Herr,” fagte der Bifchof, ‚ich Tiebe es nicht, daß 
Sie diefe Nomen in einem Atem nennen.‘ 

„Cartouche? Ludwig XV.? Welchen von beiden bevorzugen 
Sie?! 


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Eine Paufe trat ein. Der Vifhof bedauerte faft, hierher ge- 
fommen zu fein, und dod fühlte er fi feltfam berührt und 
ergriffen. 

„Ja, mein Herr,’ fuhr bas Konventsmitglied fort, „Sie 
lieben nicht die Härte der Wahrheit. Chriſtus ... der liebte fie. 
Der nahm eine Geißel und trieb bas Pad aus dem Tempel. 
Seine Geifel fagte raube Wahrheiten. Wenn er fagte, sinite 
parvulos, Yaffet die Kindlein zu mir Fommen, fo mate er 
zwifchen den Kindern Feinen Unterfchied. Ihm war e8 nicht 
peinlich, den ungen des Barabbas und den des Herodes ein- 
zuloden. Die Unfchuld, mein Herr, Erönt ſich felbft. Sie bedarf 
Feiner Auszeichnung. Sie ift an fich erhaben, berrlid — ob fie 
in Lumpen gefleidet ift oder in GSeidengewänder, die mit den 
Föniglichen Lilien geſchmückt find.’ 

„Das ift wahr”, fagte der Biſchof leife. 

„Einen Augenblick,“ fagte das Konventsmitglied, „Sie er- 
wähnten Ludwig XVII. Verftehen wir ung richtig: find es die 
Unfchuldigen, alle die Fleinen Märtyrer, die niedrigen und die 
hohen, die wir beflagen? Wenn es fo ift, dann will ich ein- 
fiimmen. Gut, aber dann dürfen wir nicht bei 1793 ftehen- 
bleiben, unfere Tränen müffen früher einfeßen. Ich will mit 
Ihnen die Kinder der Könige beflagen, wenn Sie mit mir ein- 
ftimmen in die Klage um die Kinder des Volkes.’ 

„Ich beflage alle‘, fagte der Biſchof. 

„Gut,“ vief G., „und wenn die Wagfchale fih fenfen foll, 
dann fei es auf die Seite des Volkes, denn es leidet feit 
längerer Zeit.” 

Mieder trat eine Paufe ein. Das Konventsmitglied brad fie. 
Der Greis ftüßte fih auf den Ellbogen, Fniff mit Daumen 
und Zeigefinger eine Falte in feine Wange, wie man e8 wohl 
mechanifd fut, wenn man einen anderen verhört, und ftellte 
den Bifchof ftreng zur Mede. 

„Ja, mein Herr, feit langem leidet bas Volk. Sie aber 
Éommen zu mir und fprechen mir von Ludwig XVII. ch Éenne 
Sie nicht. Seit id in diefer Gegend lebe, bin ich einfam, feße 


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meinen Fuß nicht vor meine Schwelle, febe niemand als biefen 
ungen, der mir hilft. Wohl ift Ihr Name zu mir ge- 
drungen, ih muß fagen, er Elang nicht übel, aber bas beweift 
nichts. Gefchickte Leute haben es nicht ſchwer, bem braven Volk 
etwas glaubhaft zu machen. Übrigens, id babe Ihre Equipage 
nicht vorfahren gehört, Sie haben fie wohl da hinter dem 
Wald, am Kreuzweg ftebengelaffen? ch Fenne Sie nicht, fage 
ih Ihnen. Sie erflären, Sie feien der Bifchof, aber das gibt 
mir für Ihre moralifhe Perfönlichkeit Feine Gewähr. Darum 
wiederhole ich meine Frage. Wer find Sie? Sie find ein Bi- 
fhof, ein Kirchenfürft, einer diefer mit ftattlihen Renten aus- 
geftatteten Herren, denen es nicht fehlt an fetten Pfründen, 
Sie haben als Bifhof von Digne fünfzehntaufend Franken 
Gehalt und zehntaufend Franfen Nebeneinkünfte, alfo zufam- 
men fünfundzwanzigtaufend Franken! Sie gehören zu jenen, 
die eine gute Küche führen, denen es an livrierten Dienern 
nicht fehlt, die Freitags Waſſerhühner effen, die in einer Gala- 
Éutfe, Lafaien hinten auf, einberfabren — und bas im Na— 
men Jeſu Ehrifti, der barfuß ging. Sie find ein Prälat. Ren— 
ten, Palaft, Pferde, Diener, einen guten Tifb, alle Annehm- 
lichfeiten des Lebens, all bas genießen Sie, aber bas fagt mir 
nur wenig. Über Ihren inneren, wefentlihen Wert weiß ich 
nichts, obwohl Sie bo zu mir gefommen find, um mir die 
Zröftungen der Weisheit zu bringen. Mit wen fprehe ich? 
Mer find Sie?’ 

Der Difhof fenfte den Kopf und fagte: 

„Vermis sum.“ 

„Ein Erdenwurm, der in der Karofle fährt”, murmelte das 
Konventsmitglied. Jetzt war der alte Rebell herriſch und der 
Biſchof demütig. 

„Mein Herr," fagte der Bifchof, ‚Tagen Sie mir doch, wiefo 
meine Œquipage, die dort hinter den Bäumen wartet, mein 
wohlbeftellter Iifh mit den Waflerhühnern, die ih Freitags 
efle, und meine Rente von fünfundzwanzigtaufend Livres, wiefo 
Ihließlih mein Palaft mit meinen Lafaien beweift, daß bas 


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Mitleid Feine Tugend, die Milde feine Pflicht und das Jahr 93 
nicht verabſcheuungswürdig ift?’‘ 

Das Konventsmitglied ftrih fih über die Stirn, wie um 

eine Wolfe zu verfheuchen. 
„Bevor ich Ihnen antworte, bitte ih Sie um DBerzeihung. 
Ich tat unrecht, mein Herr. Sie find hier in meinem Haufe, 
Sie find mein Gaft. Sch bin Ihnen Höflichkeit fhuldig. Sie 
erörtern meine Gebanfen, alfo babe id mich darauf zu be- 
fhränfen, Ihre Argumente zu befämpfen. Ihr Neichtum und 
Ihr bebaglihes Leben bieten mir im Kampf einen Borteil, 
den ich nicht benüßen darf. Es wäre gegen den guten Gefhmad. 
Sch verfpreche Ihnen, es in Zufunft nicht mehr zu tun.‘ 

„Ich danfe Ihnen‘, fagte der Biſchof. 

„But, Sie fagen alfo, das Jahr 93 fei verabfheuungs- 
würdig? Wir feien erbarmungslos geweſen?“ 

„Erbarmungslos, das ift es. Was halten Sie von Marat, 
der in die Hände Elatfchte, als er die Guillotine ſah?“ 

„Und was halten Sie von Boſſuet, der die Proteftanten- 
meßeleien mit einem Iedeum feierte?’ 

Diefe Antwort war hart, aber fie traf fharf wie eine Degen- 
fpiße. Der Bifhof fuhr zufammen und fand Feine Ermwiderung. 
Es war ibm fhmerslih, Boſſuet in diefem Zufammenhang 
nennen zu hören. Auch die beften Geifter haben ihren Fetifch 
und fühlen ſich verleßt, wenn die Logik mit ihnen refpeftlos 
umjpringt. 

Der alte Nevolutionär begann ſchwer zu atmen; die Atemnot 
des Todeskampfs würgten ihn in der Kehle; noch immer ftrahlte 
bas Licht in feinen Augen. 

„Bir Fönnen nod ein wenig fpreben. Sie verabjcheuen das 
Jahr 93 und finden es erbarmungslog, aber wie war die Mon- 
archie? Dh, ich beflage das Schickſal Marie Antoinettes, aber 
aud jene arme Sugenottin verdient mein Mitleid, die 1685 
unter Ludwig dem Großen, obwohl fie nod ihr Kind nährte, 
nadt bis zum Gürtel an einen Pfahl gebunden und vor die 
Wahl geftellt wurde, ihr Kind vor ihren Augen töten zu laffen 


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oder gegen ihr Gewiſſen ihren Glauben abzuſchwören. Wie 
beurteilen Sie diefe einer Mutter bereitete Tantalusqual? 
Mein Herr, beachten Sie es wohl, die franzöfiihe Revolution 
hatte ihren großen Sinn. Die Zufunft wird die Verirrungen 
ihres Zorns entfehuldigen, denn ihr Ergebnis war eine Ver— 
befferung der Welt. Sie bat graufam zugefchlagen, aber fie bat 
dem Menſchengeſchlecht Wohltaten erwiefen. Doch ich will nicht 
weiterfprechen, ich babe es allzu leid, und der Tod ift nahe.” 

Er abnte nicht, daB er Schritt für Schritt die inneren Ver— 
Ihanzungen des Bifhofs geftürmt hatte. Eine nur blieb ihm 
noch, ein Lester Hort des Miberftandes. 

„Der Fortſchritt muß an Gott glauben”, fagte er. „Das 
Gute verträgt Feine unfrommen Diener. Der Atheift ift ein 
Ihlechter Führer des Menſchengeſchlechts.“ 

Der alte DBolfsvertreter antwortete nicht. Ein Zittern durd- 
fhauerte ihn. Er blidte zum Himmel auf, und eine Träne frat 
in fein Auge. Faft ſtammelnd, den Blick in die Tiefe des Him- 
mels gefenft, flüfterte er: 

„O du, deal, nur du bift!‘ 

Der Biſchof empfand eine unausſprechliche Erfehütterung. 

Mach einem Schweigen wies der Greis zum Himmel hinauf 
und fagte: 

„Es gibt eine Unendlichkeit dort droben. Wenn fie von Fei- 
nem Ich belebt wäre, wäre das ch ihre Begrenzung; fie wäre 
nicht mehr unendlich; mit anderen Worten, fie wäre nicht mehr. 
Aber fie ift. Darum gibt es ein ch in ihr, bas Ich der Un- 
endlichfeit — Gott.’ 

Der Sterbende hatte diefe Iekten Worte mit erhobener 
- Stimme gefprohen, in efftetifher Verzückung, als ob er jenes 
höhere Wefen erfhaue. Als er ausgefprocdhen hatte, fbloffen fic 
feine Augen. Die Anftrengung hatte ibn erfchöpft. Offenbar 
hatte er in einer Minute die Kraft verbraucht, die ihm ver- 
blieben war. Seine Worte hatten ihn jenem genñbert, der im 
Zode ift. Der lebte Augenblif war nahe. 

Der Biſchof begriff; als Priefter war er bierbergefommen, 


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war von Falter Ablehnung ftufenweife bis zu höchſter Rührung 
gelangt; jeßt nahm er diefe zerfurchte, eifige Hand und beugte 
fi) über den Sterbenden. 

„Dies ift die Stunde Gottes. Wäre es nicht beflagenswert, 
wenn wir einander vergeblich begegnet wären?’ 

Der Revolutionär blickte auf. Ernft, den Mißmut überfhat- 
tete, lag auf feiner Stirn. 

„Herr Biſchof,“ fagte er mit einer Langfamkeit, die vielleicht 
mehr feiner Würde als der Schwäche feiner Todesftunde ent- 
fprang, ‚mein ganzes Leben war dem Studium und der Be— 
tradtung gewidmet. Sechzig Sabre war ich alt, als mein Vater- 
land mic) rief und befahl, daB ich mich in feine Angelegenheiten 
mifche. Ich babe gehorcht. Ich fab Mißbräuche und befämpfte 
fie. Ich fab Tyrannei, und id babe fie niedergerungen. Für 
Recht und Gefittung babe ich gefämpft. Linfer Land war vom 
Feinde bedrückt, ich babe es verteidigt. Franfreich war bedroht, 
ich babe mein Leben eingefeßt. Ich war nicht reich, und ich bin 
jeßt arm. Ich war einer der Führer des Staates, die Schab- 
fommern waren gefüllt mit Gold und Silber, fo daß wir die | 
Mauern ftüsen mußten, aber ih af zu Mittag für zweiund- | 
zwanzig Sous in der Mue de l'Arbre-Sec. ch habe den Un- 
glücklichen geholfen, babe die Bedrückten aufgerichtet. Wenn id 
Altartücher zerriß — und das habe ich getan — , fo gefchab es, 
um die Wunde des Vaterlandes zu verbinden. Sooft das Men- 
fhengefhhleht dem Licht entgegenftrebte, war id auf feiner 
Seite. Wenn der Fortfhritt erbarmungslos war, ftellte ih mid 
ihm entgegen. Es gefchah, daB ich meine eigenen Feinde, Leute 
von euch, befhüste. in Peteghem, in Flandern, dort, wo die 
Könige aus dem Merowingergefchleht den Winterpalaft hatten, 
gibt es ein Klofter der Urbaniftinnen, die Abtei der Ste. Claire 
en Beaulieu — die babe ih 1793 gerettet. ch tat meine | 
Pflicht, fo gut ich Eonnte. Man hat mid) verjagt, geheßt, ver- 
folgt, böfer Dinge bezichtigt, verleumdet, verflucht, proffribiert. 
Seit vielen Jahren ſchon fehe ich, ein Greis mit weißen Haaren, 
wie viele Leute auf mich verächtlich berabbliden, der armen, un- 


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wiffenben Menge bin ich ein Gezeichneter; gut, id nehme mein 
Schickſal an, ich haffe niemand. Aber jest zähle ich fehsundadht- 
zig Jahre und werde fterben. Was wollen Sie nod von mir?” 
„Ihren Segen’, fagte der Bifchof. Er Fniete nieder. 
As er aufblidte, hatte das Antlis des Konventsmitgliede 
einen erhabenen Ausdruck angenommen. Der Greis war tot. 


6. Eine Einfhränfung 


Es wäre verfehlt, wollte man aus dem Gefagten fchließen, 
Monfignore Bienvenu fei ein „‚philofophifch veranlagter Geift- 
licher” oder ein ,,çpatriotifher Pfarrer’ gemefen. Seine Begeg— 
nung mit dem Konventsmitglied G. hatte ibn in Staunen ge- 
febt und noch weicher geftimmt als je. Das war alles. 

Obwohl Monfignore Bienvenu Fein Mann der Politik war, 
muß vielleicht an diefer Stelle doch in aller Kürze gefagt wer- 
den, wie er zu den Ereigniffen feiner Zeit Stellung nahm. 

Gehen wir einige Jahre zurüd. 

Kurz nad feiner Ernennung zum Biſchof hatte der Kaifer 
Herrn Myriel zum Baron erhoben, zugleich mit einigen anderen 
Bifhöfen. Wie befannt, wurde der Papft in der Nacht vom 
5. auf den 6. Juli 1809 verhaftet. Bei diefer Gelegenheit wurde 
Myriel von Napoleon in die Synode der franzöfifhen und ita— 
lienifhen Biſchöfe berufen, die nach Paris einberufen worden 
war. Diefe Synode tagte in Notre-Dame und trat am 15. Juni 
1811 unter dem Vorſitz des Kardinals Feſch sufammen. Myriel 
war einer der fünfundneungig Bifchöfe, die an diefer Sitzung 
teilnahmen. Er erfhien nod drei» oder viermal bei ben Sikun- 
gen, aber als Difbof einer Diözefe im Hochland, als Menſch, 
der faft unmittelbar in der Natur lebte, an ländlihe Sitten ge- 
wohnt, brachte er in diefe Gefellfhaft erhabener Herren Ideen 
mit, die dort peinlich auffielen. Er wurde bald nad) Digne zu- 
rückgeſchickt. Man fragte ihn, warum er fo rafch heimgefehrt fei, 
und er fogte: 

„Ich war ihnen peinlih. Die Luft der Außenwelt fam mit 
mir in den Saal. Ich war ihnen unangenehm wie eine offene 


47 


Zür. Was wollen Sie, diefe Herren find Fürften, ich bin nur 
ein armer Bauernbiſchof.“ 

Er hatte in der Tat Mißfallen erregt. 

Da wir nichts verbeimlihen wollen, müflen wir hinzufügen, 
daß er Napoleons Niedergang Falt aufnahm. Seit 1813 nahm 
er an den gegen den Kaifer gerichteten Rundgebungen teil und 
fpendete ihnen Beifall. Als Napoleon von der Inſel Elba 
zurücfehrte, wollte der Biſchof ihn nicht befuden und weigerte 
fi, während der Hundert Tage in den Kirchen für den Kaifer 
beten zu loflen. | 

Außer feiner Schwefter, Fräulein Baptiftine, hatte er noch 
zwei Brüder; der eine war General, der andere Präfeft. Er 
ftand mit ihnen in lebhaftem Briefwechfel. Zu dem erfteren 
aber hatte er einige Zeit lang die Beziehungen abgebrochen, weil 
er na Napoleons Landung in Cannes an der Spike von zwölf— 
hundert Mann, die den Kaifer verfolgen follten, es fo angeftellt 
hatte, daß Napoleon ihm entwifchte. Mit bem anderen DBru- 
der, dem ehemaligen Präfeften, einem waderen und würdigen 
Manne, der in Paris Iebte, wechfelte er freundfchaftliche Briefe. 

Im übrigen war er in allen Dingen gerecht, wahr, Elug, be- 
fheidben und würdig. Ein guter Priefter, ein Weifer und ein 
Mann. Auch in feinen politifhen Anfichten war er — von jener 
Einzelheit abgefehen, die wir berichteten und die wir hart ver- 
urteilen — folerant und einfihtsvoll, vielleicht mehr als wir. 

Der Torwart des Stadthaufes war vom Kaifer in Amt und 
Würden eingefeßt worden. Es war ein ausgedienter Unteroffi- 
jier der alten Garde, einer, der Aufterliß mitgemacht und dorf 
bas Kreuz der Legion befommen hatte, Bonapartift von Scheitel 
bis zur Sohle. Gelegentlich entfchlüpften diefem armen Teu— 
fel unbedachte Äußerungen, die damals als aufrührerifche Reden 
bewertet wurden. Seit das Bildnis des Kaifers von bem 
Kreuz der Ehrenlegion entfernt worden wor, frug er nie mehr 
Uniform, um nicht bas Kreuz anlegen zu müflen. Er hatte das 
faiferlihe Bildnis ehrfürdtig aus dem Kreuz entfernt, dag Na— 
poleon ihm felbft an die Bruſt geheftet hatte, aber die freie 


48 


Stelle Tieß er leer. ‚Lieber fterben,”’ fagte er, „als die drei 
Kröten auf meinem Herzen tragen.’ 

Dft mate er fich laut über Ludwig XVIII. Iuftig. 

„Wenn der Alte mit feinem Podagra doch zum Teufel ginge! 
Menn er fi) doch mit feinen englifhen Gamafchen und feiner 
Perücke zu den Preußen fheren möchte!” So verftand er es, in 
einem einzigen Fluch die beiden Dinge zu vereinen, die er auf 
der Welt am meiften verabfcheute, England und Preußen. Er 
trieb e8 fo toll, daß er aus feinem Amt gejagt wurde. Jetzt lag 
er brotlos mit Weib und Kindern auf der Straße. Der Bifchof 
lie ihn Eommen, fehalt ihn milde aus und machte ihn zum Tür- 
büter der Hauptfirde. So war er in neun Jahren dank feiner 
frommen Handlungen und feines gütigen Verfahrens in ganz 
Digne Gegenftand zärtliher Verehrung. Sogar fein Verhalten 
gegen Napoleon wurde von dem Volk, bas feinen Kaifer an- 
betete, aber auch feinen Bifchof Tiebte, verziehen und ſchweigend 
übergangen. 


7. Monfignore Bienvenu ift einfam 


Saft immer find die Bifchöfe von einem Schwarm junger 
Geiftliher umbrängt wie die Generäle von jungen Offizieren. 
Un ihrer Gefolgfchaft gedeihen diefe Priefter, die der heilige 
Stanz von Sales, diefer feine Kopf, irgendwo Gelbiehnäbel- 
priefter nennt. Jede Karriere entwicelt Streber, die den Hoch— 
gefommenen den Hof machen. Jede Macht fhafft fih ihre Ge- 
folgfhaft, jedes Glück feinen Hof. Wer immer es auf eine 
glänzende Zufunft abgeſehen hat, fammelt fit um eine glänzende 
Gegenwart. Keine Metropole ohne ihren Stationsfomman- 
danten. Wenn ein Bifchof über einen gewiſſen Einfluß verfügt, 
folgt ihm auf Schritt und Tritt eine Esforte junger Cherubim 
aus den Seminaren, die um ibn einen undurchdringlichen Kreis 
bilden und aufpaflen, daß fein Lächeln nicht einem Fremden zu- 
fallt. Dem Biſchof gefallen bedeutet eine Anwartfchaft auf ein 
Unterdiafonst. Man will feinen Weg machen, und das Avoftolat 
ſchließt bas Canonicat nicht aus. 


4 Hugo, Die Elenden, 49 


Sp mie es bei den Veamten den Dreifpis gibt, fo unter 
den Männern der Kirche die Mitra. Da find diefe Bifchöfe, 
die bei Hof gut angefchrieben find, reich, in der Gefellfchaft 
etwas gelten, ohne Zweifel zu beten verftehen, aber darum 
nicht minder gefchieft find auch weltliche Bitten vorzutragen, und 
nicht anfteben, in den Vorzimmern der Großen zu fißen; fie find 
das Sinnbild der vereinigten GeiftlichEeit und Diplomatie, eher 
Abbés als Priefter, eher Prälaten als Bifchöfe. Wohl dem, 
der in ihrem Schatten gedeiht. Überall haben fie Einfluß, und 
fie Taffen auf Günftlinge und Schmeichler, auf alle diefe ge- 
fälligen jungen Leute fette Pfarreien, Pfründen, Arbibiafonate, 
Almofenierftellen und Ämter in den Kathedralen und bifchöf- 
lihen Palais herabregnen. indem fie felbft ihren Weg macen, 
fhleppen fie ihre Satelliten hinter fi her; es ift wie bei der 
Sonne, die ihre Planeten durd das Weltall fchleift. Bon ihrem 
Glanz fällt etwas ab auf ihre Gefolgfhaft. Ve reicher die Diö— 
zefe des Biſchofs, um fo fetter die Pfarre, die er feinem Günft- 
ling bieten Fann. Und gar erft Nom! Ein Bifchof, der es ver- 
fteht, Erzbifchof zu werden, ein Erzbifchof, der es zum Kardinal 
bringt, nimmt dic als Ronflaviften mit, du frittft in die Mota 
ein, befommft das Pallium, wirft Rammerberr, Monfignore 
fogar, und wer erft Bifchof ift, bat nur mehr einen Schritt zur 
Eminenz, und von der Eminenz zur Heiligkeit führt die Wahl- 
urne. Dos Barett darf immer von der Tiara träumen. Heut- 
zutage ift der Priefter der einzige Menfch, der e8 regelrecht zum 
König bringen Fann — und zu weld einem König! Welch eine 
Pflanzſchule der Hoffnungen ift doch ein Priefterfeminar! Wie 
viele fhüchtern errötende Chorfnaben, wie viele junge Abbes 
tragen auf dem Kopf bereits den berühmten Korb mit den Eiern 
aus der Fabel? Wie oft wird gewöhnlicher Ehrgeiz für innere 
Berufung gehalten, und das noch in feliger Selbfttäufhung? 

Monfignore Bienvenu, diefer befcheidene, arme, dabei bôdft 
eigenartige Menfch, wurde nicht zu den großen Männern der 
Kirhe gezählt. Man erkennt es fchon daran, daß fich Feine 
jungen Priefter um ihn drängten. Wir haben fchon gefagt, daß 


50 








er in Paris nicht „gut ankam“. Rein zufunftsfreudiger Abbe 
wünfchte fi an diefen greifen Einzelgänger zu Elammern. Kein 
befheidenes Pflänzlein wollte im Schatten diefes Baumes 
grünen. Seine Canonici und Großvifare waren gute alte Män- 
ner, Leute aus dem Volk wie er, denen die Diözefe Fein Sprung- 
brett zum Kardinalsamt war, die ihrem Biſchof glichen und fi 
von ihm nur in dem einzigen unterfchieden, daß fie bereits am 
Ende ihrer Karriere angelangt waren, während er bod ein 
Ziel erreicht hatte. Man wußte, daB Monfignore Vienvenu nie- 
manden hochbrachte, und die jungen Leute, die aus feinem Se— 
minar bervorgingen, ließen fi bald ben Erzbifhöfen von Air 
oder Auch empfehlen und machten fid aus dem Staube. Denn 
Ihließlih, um es sufammensufaffen, man will vorwärtsgeftoßen 
werden. Ein Heiliger, der die Selbftverleugnung übertreibt, ift 
ein gefährlicher Nachbar; man Fönnte ſich leicht mit unheilbarer 
Armut anfteden, oder ein fo fteifes Rückgrat befommen, daß es 
ein für allemal aus wäre mit dem Avancement; Tugenden, die 
man beffer meidet. Darum wurde Monfignore DBienvenu allein 
gelaffen. Wir leben in einer dumpfen Gefellfchaft. Vorwärts— 
fommen, bas ift die höchfte Weisheit der Korruption. 

Nichts ift fheubliher als diefes deal des Erfolges. Seine 
trügerifche Ähnlichfeit mit dem Verdienſt täufcht die Menfchen. 
Für die Menge bedeutet Erfolg foviel wie geiftige Überlegen- 
heit. In unferer Zeit ift eine faft offizielle Philofophie in feinen 
Dienft getreten und ift noch ftolz darauf, feine Livree zu fragen. 
Wer das große Los gewinnt, gilt für einen Élugen Mann. 
Mer triumphiert, ift ehrenwert. Von fünf oder fechs glänzenden 
Ausnahmen abgefehen, bat unfer Jahrhundert, Éurafibtig, wie 
es ift, nur falfhe Helden bewundert. Wenn ein Notar Abge- 
ordneter wird, ein falfher Corneille einen Ziridates fehreibt, 
ein Eunuch fih einen Harem zulegt, ein Säbelraßler zufällig 
eine Entſcheidungsſchlacht fblügt, ein Apotheker für eine Armee 
Pappſohlen liefert und damit vierhunderttaufend Livres Mente 
ftiehlt, ein Haufierer fih auf den Wucher legt und damit fieben 
oder aht Millionen zufammenrafft, ein Intendant bei feinem 


a 51 


Amtsaustritt fo reich ift, daB er Finanzminifter werden Éônnte, 
dann gilt er heute für ein Genie, und man verwechfelt, was 
leicht vergoldet ift, mit dem maffiven Gold. 


ZweitesBuch 


Der fall 


1. Abend nad einem Tagmarſch 


An einem der erften Tage des Dftobers 1815 betrat ein 
Mann, der zu Fuß reifte, etwa eine Stunde vor Sonnenunter- 
gang die Fleine Stadt Digne. Die wenigen Leute, die fih um 
biefe Zeit am Fenfter oder an der Türſchwelle zeigten, betrach— 
teten den Fremdling mit einer gewiffen Unruhe. Es war fchwer, 
fi) einen herabgefommeneren Menfchen als diefen vorzuftellen. 
Er war von mittlerem Wuchfe, ſtämmig und bei Kräften. Sein 
Alter hätte man mit fechsundvierzig oder achtundvierzig fahren 
angeben können. Seinen Kopf bederfte eine Mütze, deren Leder- 
ſchirm fein fonnenverbranntes, ſchweißbedecktes Geficht zum Teil 
verbarg. Sein Hemd aus grober, gelber Leinwand, das am 
Halſe burd einen Éleinen filbernen Anker zufammengehalten 
wurde, ließ eine behaarte Bruft feben. Sein Halstuch hatte er 
wie einen Strif zufommengedreht, feine Hoſen waren aus 
blauem Zwillih, zerfohliffen und fhübig, bas eine Dein am 
Knie blanf gefheuert, bas andere durchlöchert. Er trug eine 3er- 
riffene, graue Joppe, deren Ärmel am Ellbogen einen liefen 
zeigten, einen vollen, gutverfcehnürten Zornifter, einen wuchtigen 
Rnotenftot, genagelte Schuhe, aber Feine Strümpfe. Das Haar 
trug er Furzgefchoren, der Bart war lang. 

Niemand Fannte ihn. Offenbar war er nur auf dem Durd- 
marſch. Von wo er fam? Aus dem Süden. Bielleicht vom 
Meere. Denn er betrat Digne durch basfelbe Tor, burd das 
Napoleon fieben Monate früher auf dem Wege von Cannes 
nad Paris eingezogen war. Sichtlih war er den ganzen Tag 
unterwegs gewefen. Er fchien febr müde. Frauen aus der Vor- 


AR 





ftadt, die gegen den Fluß zu liegt, hatten gefeben, wie er am 
Ende der Promenade, unter den Bäumen des Boulevard Gaf- 
fendi, ftebenblieb und aus einem Brunnen trank. Der Durft 
mußte ihn arg quälen, denn Kinder hatten beobachtet, daß er 

























































































































































































































































































































































































zweihundert Schritte fpäter, am Marktplatz, wieder Wafler aus 
dem Brunnen fchöpfte. 

An der Ede der Nue Poichevert angelangt, bog er links ab 
und wandte fih dem Stadthaus zu. Er trat ein und Fam erft 
nad) einer Viertelftunde wieder heraus. Ein Gendarm ſaß neben 


53 





dem Eingang auf einer Steinbanf, auf die General Drouot 
om 4. März geftiegen war, um der erregten Menge die Pro- 
Elamation aus dem Golfe von Juan vorzulefen. Der Wanderer 
nahm die Mütze ab und grüßte den Gendarmen fbeu. Der ant- 
wortete nicht, folgte ihm mit einem forfehenden Blick und ging 
dann in bas Haus. 

Es gab damals in Digne eine hübfche Herberge, la Eroir-de- 
Colbas, deren Wirt, ein gewifler Vacquin Labarre, in der Stadt 
wegen feiner Derwandtfchaft mit einem anderen Labarre hoch 
im Anſehen ftand, weil jener andere in Grenoble die Herberge 
zu den Trois Dauphins unterhielt und bei der Garde gedient 
hatte. Zur Zeit der Landung Napoleons im Golfe von Yuan 
hatte man fic in jener Gegend viel mit der Herberge der Troins 
Dauphins befhäftigt. Es wurde erzählt, General Bertrand habe, 
als Fuhrmann verkleidet, im Januar dort zu den Stammgäſten 
gehört, unter den altgedienten Soldaten Kreuze der Ehrenlegion 
und unter den Bürgern Napoleondors verteilt. Tatſache ift, daß 
der Raifer bei feinem Einzuge in Grenoble nicht in der Prä- 
feftur abfteigen wollte, fondern dem DBürgermeifter antwortete: 
„Ich Éenne bier einen braven Mann, bei dem Éebre ich ein.” 
Und er war in ben Trois Dauphins abgeftiegen. Diefer Ruhm 
jenes Tabarre aus Grenoble ftrablte fünfundzwanzig Meilen 
weit, und es fiel auch etwas davon auf die Eroir-de-Colbas ab. 
Man fagte von ihrem Wirt in der Stadt: er ift der Better 
jenes Labarre in Grenoble. 

Zu biefer Herberge, der beften am Ort, lenfte der Wanderer 
feine Schritte. Er trat in die Küche ein, zu der man unmittel- 
bar von der Straße aus gelangte. Alle Herde waren angeheizt, 
und aud im Kamin brannte ein luftiges Feuer. Der Wirt, der 
aud fein eigener Rod war, ftand über die Reffel gebeugt und 
überwachte die Zubereitung eines üppigen Abendbrots, das für 
eine Gefelfhaft vergnügter Subrleute beftimmt war, die im 
Mebenzimmer warteten. Wer gereift ift, weiß, daB die Roll— 
futfher viel auf gutes Effen halten. Am Bratſpieß ftaf ein 
fettes Kaninchen, von Nebhühnern flanfiert, und in den Keffeln 


54 











brieten zwei mächtige Karpfen aus dem See von Tauzet und 
eine Forelle aus dem See von Alloz. 

Als der Wirt die Tür fich öffnen und einen neuen Gaft ein- 
treten hörte, fragte er, ohne von feinen Keffeln aufzubliden: 

„Was wünſcht der Herr?‘ 

„Ich möchte hier eflen und fchlafen.‘ 

„Nichts leichter als dag,” er wandte den Kopf, maß ben 
Srembling mit einem flüchtigen Blick und ergänzte: ,,voraus- 
gefekt, daß Sie bezahlen.” 

Der Mann zog eine pralle Lederbörfe aus der Taſche feiner 
Joppe und antwortete: 

„Ich babe Geld.” 

„In diefem Salle — ganz zu Ihren Dienften.” 

Der Mann ftefte die Börfe wieder in die Taſche, entledigte 
fit feines Torniſters, ftellte ihn neben der Tür zu Boden, be- 
hielt feinen Stod in der Hand und fehte fih am Kamin auf 
einen Schemel. Dftoberabende find dort Falt, denn Digne Tiegt 
im Gebirge. 

Sm Hinundhergehen beobachtete der Wirt den Meifenden. 

„Bird bald gegeſſen?“ fragte der Mann. 

„Gleich.“ 

Während der Neuankömmling ſich an dem Kamin wärmte, 
an den er ſich mit dem Rücken gelehnt hatte, zog der wackere 
Herbergsvater Jacqin Labarre einen Bleiſtift aus der Taſche 
und riß von einem alten Zeitungsblatt, das auf der Fenſterbank 
lag, eine Ecke ab. Auf dieſem Fetzen Papier ſchrieb er ein paar 
Zeilen, faltete ſie, ohne zu ſiegeln, und ſteckte ſie einem Knaben 
zu, der als Küchenjunge und Hausburſche diente. Der Wirt 
flüſterte ihm ein Wort zu, und der Junge lief eilig in der Rich— 
tung nach dem Stadthauſe fort. 

Der Gaſt batte nichts davon bemerkt. 

„Wird bald gegeſſen?“ fragte er neuerlich. 

„Gleich“, ſagte der Wirt. 

Der Knabe kehrte zurück. Er brachte ein Stück Papier, das 
der Wirt haſtig entfaltete wie jemand, der eine Antwort erwartet. 


55 


Er fhien aufmerffam zu lefen, fehüttelte dann den Kopf und 
blieb einen Xugenblif lang nachdenklich. Endlich trat er zu 
dem Deifenden, der vor fih bin zu brüten fchien. 

„Herr, ih kann Sie nibt aufnehmen.” 

Der Mann richtete fich auf feinem Schemel auf. 

„Fürchten Sie, daß ich nicht bezahle? Wollen Sie, daß ich 
Geld erlege? Ich babe doch Geld, wie ich ihnen bereits ſagte.“ 

„Es ift nicht darum.‘ 

„Barum dann?‘ 

„Sie haben Geld... .” 

‚Allerdings.‘ 

„Aber ich babe Fein Zimmer frei’, erklärte der Wirt. 

„But, fo tweifen Sie mir einen Platz im Stall an’, er- 
widerte der Mann ruhig. 

„Das Éann ich nicht.” 

„Warum?“ 

„Die Pferde nehmen den ganzen Platz ein.“ 

„Gut, alſo einen Winkel im Speicher. Eine Schütte Stroh. 
Wir werden nach dem Eſſen darüber ſprechen.“ 

„Ich kann Ihnen nichts zu eſſen vorſetzen.“ 

Dieſe Erklärung, in ruhigem, aber feſtem Ton gegeben, 
machte den Fremden ſtutzig. Er erhob ſich. 

„Ha, ich ſterbe Hungers. Seit Sonnenaufgang bin ich unter- 
wegs. Zwölf Meilen bin ich gelaufen. Ich zahle. Ich muß etwas 
zu eſſen haben!“ 

„Ich habe nichts.“ 

Der Mann lachte auf und deutete nach dem Herd. 

„Nichts? Und was iſt das dort?“ 

„Alles beſtellt.“ 

„Von wem?“ 

„Von den Herren Rollkutſchern.“ 

„Wie viele ſind es?“ 

„Zwölf.“ 

„Aber das reicht für zwanzig Leute aus.“ 

„Sie haben alles beſtellt und vorausbezahlt.“ 


56 


Der Mann feste fih und fagte gelaffen: 

„Ich bin in der Herberge, id babe Hunger und bleibe.‘ 

Der Wirt beugte fih zu ibm herab und fagte mit einer Be— 
tonung, die den andern erzittern ließ: 

„Sehen Sie!’ 

Der Meifende hatte fich gebücdt und ftieß mit feinem Stock 
einige Kohlen ins Feuer. est wandte er fih lebhaft um, aber 
als er den Mund auftat, um zu antworten, fab ihn der Wirt 
feft an und fuhr leife fort: 

„Keine überflüfligen Worte! Wollen Sie, daB ih Ihnen 
Vbren Namen fage? Sie heißen Jean Daljean. Und foll id 
Ihnen fagen, wer Sie find? Als ich Sie eintreten fab, babe id 
Lunte gerochen und ins Stadthaus gefhidt. Hier ift die Ant- 
wort. Können Sie Iefen?” 

Er reichte dem Fremden das entfaltete Papier, bas den Weg 
von der Herberge zum Stadthaus und zurück gemacht hatte. 
Der Mann warf einen DBli darauf. Nah einem Furzen 
Schweigen fagte der Wirt: 

„Ich bin zu jedermann höflich, bas ift meine Gewohnheit. 
Gehen Sie.’ 

Der Mann fenfte den Kopf, nahm feinen Tornifter vom Bo— 
den auf und ging. 

Er ging die Hauptftraße entlang. Er fehritt vor ſich bin, dicht 
an den Häufern entlang wie einer, der gedemütigt und erniedrigt 
worden ift. Nicht ein einziges Mal wandte er fih um. Hätte er 
es getan, fo wäre ihm nicht entgangen, daß der Wirt der Eroir- 
de-Eolbag auf der Schwelle erfhienen war, im SKreife aller 
Gäfte feiner Herberge und vieler Leute von der Straße, und 
daß er mit dem Finger auf ihn zeigte; aus den mißtrauifchen 
und erfhredten ‘Blicken der Leute hätte er wohl erraten Éônnen, 
daß feine Ankunft in Eurzer Frift ein Ereignis der Stadt fein 
würde, 

Aber von alledem merfte er nichts. Leute, die bedrückt find, 
feben fi nicht viel um. Sie wiffen nur zu gut, daß ein fchlim- 
mes Schickſal ihnen folgt. 


57. 


Einige Zeit ging er weiter, durchſchritt Straßen, die er nicht 
fannte, achtete feiner Müdigkeit nicht, wie bas in großer Trauer 
wohl gefheben mag. Plötzlich fühlte er Iebhaften Hunger. Die 
Nacht brad herein. Er hielt Umfchau, ob er nicht irgendwo ein 
Quartier für die Nacht fände. 

Aus der guten Herberge hatte man ihn fortgefhidt, fie war 
ihm verfchloffen; alfo fuchte er ein befcheidenes Quartier, irgend- 
einen notdürftigen Unterjfchlupf. 

In diefem Augenbli flammte am Ende der Straße ein Licht 
auf, ein Kiefernzweig, der an einer Eifenftange hing, zeichnete 
fi) auf dem fablen Himmel der Dämmerung ab. Dabin wandte 
er feine Schritte. Es war in der Tat eine Schenfe, eine Éleine 
Gaftwirtfhaft in der Rue de Chaffaut. Der Meifende blieb 
einen Augenblick fteben und fab dur bas Fenfter in ein nie- 
deres Gemach, das von einer Éleinen Lampe auf dem Tiſch und 
von einem großen Feuer im Kamin erhellt wurde. Einige 
Männer faben auf den Bänken und tranfen. Der Wirt wärmte 
fit am Feuer. Im Kamin hing ein Eifenfeffel an einer Quer- 
ftange. Man betritt diefe Schenke, in der man aud Quartier 
finden Fann, von der Straße aus oder durch eine andere Tür 
aus einem Hof, in dem Dünger liegt. 

Der Reifende wollte nit die Straßenpforte wählen. 

Er fblid in den Hof, zögerte einen Augenblick, legte dann 
feu die Hand auf die Klinfe und öffnete. 

„Wer iſt da?’ fragte der Wirt. 

„Jemand, der zu effen und zu fchlafen begehrt.” 

„Gut. Hier gibt's zu effen, und hier Éann man ſchlafen.“ À 

Der Fremde trat ein. Die Irinfer wandten fih nad ihm um. | 
Die Lampe beleuchtete ibn von der einen Seite, bas Ramin- 
feuer von der anderen. Man befab ſich ihn, während er feinen 
Zornifter abnahm. 

„Hier ift Feuer”, fagte der Wirt. , Das Abendbrot kocht im 
Zopf. Wärmen Sie fidy hier, Kamerad.“ 

Der Fremde feste fih an den Kamin und firedte feine 
müden Beine aus. Ein wohliger Duft aus dem Keflel ftieg ibm 


58 





in die Naſe. Sein Geficht, foweit es unter der Kappe erfennbar 
war, nahm einen Ausdrud von Behagen an, hinter dem jebod 
die fharfe Schrift des Elends nicht unlesbar wurde. 

Es war übrigens ein Gefibt, bas Feftigfeit, Energie und 
Trauer erfennen ließ. Eine feltfome Mifhung aus Demut und 
Strenge. Die Augen leudteten unter den Brauen wie Feuer 
im Geftrüpp. 

‚Unter den Gäften befand fih ein Fifehhändler, der eben durch 
die Straßentür eingetreten war, nachdem er fein Pferd bei 
Labarre im Stall untergebradht hatte. Diefer Mann winfte 
den Wirt zu fit. Die beiden wechfelten flüfternd einige Worte, 
während der Fremde verfonnen am Feuer foß. 

Seht trat der Wirt wieder an den Kamin, legte dem Frem- 
den brüsf die Hand auf die Schulter und fagte: 

„Mach', daß du fortlommit!” 

Der Fremde wandte fih um und fragte ruhig: 

„Ab, Sie wiſſen ...?“ 

„Ja!“ 

„Man hat mich aus der anderen Herberge fortgejagt.“ 

„Und man jagt dich auch aus dieſer fort.“ 

„Und wohin ſoll ich gehen?“ 

„Sonſtwohin.“ 

Der Fremde nahm ſeinen Stock und ſeinen Torniſter und 
ging. 

Als er auf die Straße trat, wurde er von einigen Kindern 
empfangen, die ihm von der Croix-de-Colbas nachgelaufen waren 
und Steine nad ihm warfen. Er wandte fih um und drohte 
- ihnen mit dem Stod. Wie aufgefheudte Vögel ftoben fie aus- 
einander. 

Er Fam an dem Gefängnis vorbei. An der Tür hing eine 
eiferne Kette, an der die Glode befeftigt war. Er fhellte. 

As der Schließer öffnete, bat er mit demütig gezogener 
Kappe: 

„Herr Schließer, wollen Sie mir nicht öffnen und für biefe 
Nacht Unterkunft geben?’ 


59 


„Ein Gefängnis ift keine Herberge‘, antwortete die Stimme. 
„Machen Sie, daß Sie arretiert werden, dann laffe ih Sie 
herein.” 

Das Schiebefenfter wurde gefchloffen. 

Es wurde dunfel. Kalter Gebirgswind wehte. Im Schein 
des verlöfchenden Tages bemerkte der Fremde in einem der 
Gärten, die an die Straße ftoßen, eine Hütte, die mit Mafen- 
ftücfen belegt war. Kurz entfhloffen fprang er über den Zaun 
und drang in den arten ein. Er näherte ſich der Hütte. Sie 
hatte einen fehr niedrigen Eingang und war jenen Hütten nicht 
unñbnlich, die Straßenarbeiter im Chauffeegraben zu bauen 
pflegen. Er dachte wohl, dag wäre ein Unterfehlupf für einen 
Arbeiter. Ihn fror, und er bungerte. Den Hunger wollte er er- 
fragen, und hier würde er wenigftens Schuß gegen die Kälte 
finden. Solche Hütten find zumeift des Nachts nicht bewohnt. 
Er legte fih auf den Boden und froh hinein. Es war warm 
darin, aud fand er eine gute Schütte Stroh vor. Einen Augen- 
blick blieb er ausgeftrecft liegen, ohne fih zu rühren, fo müde 
war er. Da aber fein Tornifter ibn ftörte, wohl aud ein ganz 
gutes Kiffen abgeben mochte, madte er fih daran, ihn abzu- 
nehmen. In diefem Augenblif war ein grimmiges Knurren zu 
hören. Er blidte auf. Der Kopf einer gewaltigen Dogge er- 
fhien im Eingang. 

Es war eine Hundehütte, in die er geraten war. 

Aber er war ftarf und furdtlos. Mit feinem Stod als Waffe 
und feinem Tornifter als Schild bewehrt, kroch er aus der 
Hütte fo gut er Fonnte, wobei er allerdings feine Lumpen noch 
ärger zerriß. 

Auch aus dem Garten entfam er, rückwärts fehreitend und die 
Dogge in Schach haltend mit einem Manöver, bas die Stock— 
fechter „die gefchloflene Roſe“ nennen. 

Als er nicht ohne Mühe den Zaun überſtiegen und die Straße 
wieder erreicht hatte, fab er ſich von neuem allein, ohne Da, 
ohne Lager, fogar aus der Hundehütte mit einer Schütte Stroh 


60 








verjagt; er ließ fi auf einen Stein fallen, und ein Vorüber— 
gehender hörte ihn aufftöhnen: 

„Sicht einmal foviel wie ein Hund!’ 

Bald erhob er fi) wieder und wanderte weiter, Éam an der 
Präfektur und dem Seminar vorbei. Als er den Domplak über- 
querte, ballte er die Fauft. Erfhöpft und jeder Hoffnung bar, 
fireefte er fi auf einer Steinbanf aus. 

In diefem Augenblif Fam eine alte Grau vorüber, die eben 
die Kirche verlaffen hatte. Sie bemerkte den Mann im Schatten. 

„Bas tut Ihr ba, guter Freund?’ fragte fie. 

„Das feben Sie wohl, gute Frau, ich lege mich fchlafen””, 
antwortete er hart und zornig. 

Diefe gute Frau verdiente die Bezeichnung wirflih. Es war 
die Marquife de M. 

„Auf diefer Bank?’ fragte fie. 

„Neunzehn Sabre babe id auf Holzpritfchen gelegen,” fagte 
der Mann, „heute bleibt mir nur Stein übrig.’ 

„Sie waren wohl Soldat?” 

„Ja, gute Stau, Soldat.‘ 

nBoarum gehen Sie nicht in die Herberge?” 

„Weil ich Fein Geld habe.’ 

„Aber Sie Éônnen doch nicht im Freien fblafen? Gewiß 
haben Sie Hunger und frieren. Man wird Sie aus Mitleid 
aufnehmen.’ 

„Ich babe an alle Türen geklopft.“ 

„Und?“ 

„Uberall hat man mich fortgejagt.“ 

Sie berührte ihn am Arm und deutete auf ein kleines, 
niedriges Haus neben dem biſchöflichen Palais. 

„Überall haben Sie angeklopft?“ 

„Ja.“ 

„Waren Sie auch dort?“ 

„Nein.“ 

„Dann gehen Sie dahin.“ 


61 


2. Borfihtund Weisheit 


An diefem Abend war der Bifchof von Digne nah feinem 
Spaziergange in der Stadt lange in fein Zimmer eingefchloffen 
geblieben. Er arbeitete fleißig, no als es acht Uhr fehlug, hatte 
ein großes, aufgefhlagenes Sud auf den Knien liegen und 
machte auf Fleinen Zetteln Notizen, als Frau Magloire eintrat, 
um wie gewöhnlich das Silbergefhirr aus dem Wandſchrank 
neben dem Bett zu holen. Als der Biſchof einen Augenblid 
ſpäter merfte, daß der Tiſch gedeckt war und feine Schwefter 
vielleicht fhon wartete, ſchloß er fein Buch, ftand auf und trat 
in den Speifefaal. 

Es war ein rechteckiger Raum mit einem Kamin, einer Tür, 
die geradeswegs auf die Straße führte, und einem Fenfter auf 
den Garten hinaus. 

Srau Magloire hatte in der Tat fhon gedecft. Sie plauderte 
jebt mit Fräulein Baptiftine. Auf dem Tiſch, der an den Kamin 
gerückt war, ftand eine Lampe, und im Ramin brannte ein 
Seuer. Als der Biſchof eintrat, erörterte fie gerade lebhaft ihr 
Lieblingsthema, das aud Monfignore Bienvenu nicht mehr un- 
befannt war. Es handelte fi um die Klinfe der Straßentür. 

Als fie für das Abendbrot einholen gegangen war, hatte Frau 
Magloire an verfhiedenen Orten fhlimme Nachrichten erhalten. 
Von einem übelausfehenden Strolch war die Mede gemefen, 
einem verdächtigen Landftreicher, der fi in der Stadt herum- 
trieb; und wer heute nacht lange ausblieb, Fonnte fi) auf eine 
unangenehme Begegnung gefaßt machen. Die Polizei, war ge- 
fagt worden, fei doch recht leichtfertig, offenbar, weil der Herr 
Präfeft und der Herr Bürgermeifter nicht gerade gut aufein- 
ander zu ſprechen waren, und jeder dem andern zu ſchaden hoffte, 
wenn irgend etwas vorfiel. Darum war es für vorfichtige Leute 
am beften, felber für ihre Sicherheit zu forgen, und da fei es 
die erfte Pflicht, fein Haus anftändig zu verfchließen, zu ver- 
riegeln und zu verfperren, Eurz, feine Türen gut zu verwahren. 

Srau Magloire legte eine gewiffe Betonung auf das Wort 


62 


Züren, aber der Bifchof hatte in feinem Zimmer gefroren, und 
darum richtete er fi) jest am Kamin häusli ein; feine Ge- 
danken hatten eine andere Richtung genommen. Darum achtete 
er der Bemerkung nicht fonderlid, die Frau Magloire gemacht 
hatte, fie mußte fie wiederholen. Fräulein Baptiftine wollte ihr 
einen Gefallen tun, sugleid aber ihrem Bruder nicht miffallen, 
und darum Außerte fie ſchüchtern: 

„Bruder, haft du gehört, was Grau Magloire ſagt?“ 

„Mir ift fo, als ob ich etwas gehört hätte”, antwortete der 
Bifhof. Er wandte fih in feinem Stuhl halb um, legte die 
Hände auf feine Knie und richtete feinen heiteren, vergnügten 
DBli auf die alte Haushälterin: „Nun, was gibt’8? Schweben 
wir in großer Gefahr?” 

Test begann Frau Magloire von neuem, wobei fie, wohl 
ohne es felbft recht zu bemerfen, ein wenig ftärfer auftrug. Kurz 
und gut, ein barfüßiger Bandit, ein gefährlicher Räuber oder 
fo etwas Ähnliches trieb fih dem Vernebmen nach in der Stadt 
herum. Zuerft babe er bei Jaquin Labarre um Quartier nach— 
gefucht, aber dort hatte man ibn nicht aufnehmen wollen. Später 
war er auf dem Boulevard Gaffendi gefehen worden und habe 
fi aud fonft herum in den Straßen gezeigt. Ein Kerl, reif 
für den Galgen, mit einem Gefiht — fo redbt zum Angft- 
kriegen. 

„Wahrhaftig?“ meinte der Biſchof. Diefe DBereitwilligfeit, 
fie anzuhören, ermutigte Frau Magloire. DBielleiht war der 
Biſchof bob auch beunruhigt. Iriumphierend fuhr fie fort: 

„Ja, fo ift e8. Heute nacht gibt es gewiß ein Unglück in der 
Stadt. Alle Welt fagt das. Und dabei ift die Polizei fo nadh- 
läſſig“ (eine nüblihe Wiederholung!). , Man lebt in gebirgigem 
Sand, und nicht einmal Laternen brennen des Nachts in den 
Straßen! Da fol man fib binaustrauen. Stodfinfter ift es 
draußen. Darum fage ih, Monfignore, und dag Fräulein meint 
wie ich .../! 

„Ich meine gar nichts,“ unterbrad die Schwefter, „was mein 
Bruder entfheidet, wird gut fein.” 


63 


Frau Magloire fuhr fort, ohne diefen Einfprud zu beachten. 

„ir fagen alfo, daß diefes Haus gar nicht fiber ift, und 
wenn Monfignore erlauben, fo gehe ich fofort zu Paulin Mufe- 
bois, dem Schloffer, damit er die alten Riegel wieder an der 
Züre anbringt. Sie find nod zur Hand, das Ganze ift in einer 
Minute gemaht. Wir müflen die Riegel haben, Monfignore, 
und wäre es nur für heute nacht, denn eine Tür, die jeder von 
außen mit der Klinfe aufbriüden Fann, der erfte befte, der vor- 
beifommt, ift bas Schredflichfte von der Welt, noch dazu, wenn 
man bedenkt, daß Monfignore die Gewohnheit haben, immer 
gleich ‚herein‘ zu rufen. Und um Mitternacht, großer Gott, 
braucht Feiner erft um Erlaubnis zu fragen...“ 

In diefem Augenbli wurde Fräftig an die Türe geflopft. 

„Herein!’ rief der Bischof. 


3. Heroifher Geborfam 


Die Tür ging auf. 

Heftig wurde fie aufgeriffen — ein Mann trat ein. 

Mir Fennen diefen Mann. Es ift derfelbe, den wir eine 
Stunde vorher auf der Suche nah einem Obdach gefehen 
haben. 

Er tat einen Schritt vorwärts und blieb dann fteben, ohne 
die Tür hinter fich wieder zu verfchließen. Den Zornifter hatte 
er auf dem Rücken, den Stock in der Hand; in feinem Blick 
war etwas Rauhes, Kühnes, Erfehredliches. Licht vom Kamin- 
feuer fiel ihm grell ins Gefiht. Er fab unheimlich aus. 

Srau Magloire brachte nicht einmal die Kraft auf, einen 
Schrei auszuftoßen. Sie zitterte und blieb mit offenem Munde 
ftehen. Fräulein Baptiftine wandte fih um, warf einen Bli auf 
den Fremden, zuckte erfehroden zufammen, fab aber fofort nad 
ihrem Bruder, deflen Geficht tiefe Ruhe und Heiterfeit aus- 
ftrablte. 

Gelaffen betrachtete der Bifchof den Fremden. Als er den 
Mund auftat, um den Ankömmling zu fragen, was er wünfce, 
ftüßte diefer beide Hände auf feinen Stod, ließ den Blick baftig 


64 





über den Greis und die beiden Frauen bingleiten und fagte 
dann laut, ohne eine Anrede abzuwarten: 

„So ift e8, ich heiße jean Valjean. Sch bin ein Galeeren- 
fträfling. Neungehn Vabre war ih im Bagno. Bor vier Tagen 
bat man mid in Freiheit gefeßt, und jeßt gebe ih nah Pon- 
tarlier, dag ift mein Beftimmungsort. Schon vier Tage bin ich 
unterwegs, feit Toulon. Heute bin ich zwölf Meilen zu Fuß ge- 
laufen. Als id heute abend bier anfam, war ich in einer Ser- 
berge, aber man bat mich weggejagt, weil ich den gelben Pat 
babe; den mußte id im Stadthaus vorzeigen. So ift die Vor— 
Schrift. Dann war ich in einer anderen Herberge. Da haben fie 
gejagt: pad” dich! Beim einen fo, beim anderen fo, Feiner will 
mich. Ich war vor dem Gefängnis, der Scließer wollte mid) 
nicht bereinlaffen. Auch in einer Hundehütte. Der Hund hat 
mich gebiffen und verfcheucht, als wäre er ein Menſch. Als ob 
er wüßte, wer ich bin. Hier auf dem Platz wollte ih mid) auf 
eine Steinbanf legen, da Fam eine Frau, zeigte mir hr Haus 
und fagte: Klopfen Sie da an. Ich habe es getan. Was ift das 
für ein Haus hier? Eine Herberge? Ich babe Geld, bundert- 
neun Sranfen und fünfzehn Sous. Die babe id in neungehn 
Sahren, im Bagno, verdient. Sch will bezahlen. Was liegt mir 
daran, ich babe ja Geld. Sehr müde bin ich, zwölf Meilen zu 
Fuß — ! Und febr hungrig. Soll ich bleiben?” 

„Noch ein Gedeck, Frau Magloire!’ fagte der Bischof. 

Der Mann trat drei Schritte vor, bis an die Lampe heran, 
die auf dem Tiſch ftanb. 

„Hören Sie, fagte er, „Sie haben mid wohl nicht richtig 
verftanden. Sch bin ein Oaleerenfträfling. Zwangsarbeit. Ich 
komme von den Galeeren.” Er 309 ein gelbes Blatt Papier aus 
der Taſche. , Das da ift mein Pas. Ein gelber, wie Sie fehen. 
Das dient dazu, daß ich überall fortgejagt werde. Wollen Sie 
ihn lefen? Ich kann Iefen, Herr, ich babe e8 im Bagno gelernt. 
Das ift eine feine Schule für die, die Iernen wollen. Sehen 
Sie doch, was da fteht: Jean Valjean, entlaffener Sträfling, 
geboren zu... Nun, bas ift ja egal, Sie Fümmert das nit... 


5 Hugo, Die Elenden. 65 


Alſo: war neunzehn Jahre im Bagno. Fünf Jahre wegen Ein- 
brudhsdiebftahl, vierzehn Sabre wegen verfuchten Ausbruchs. 
Sehr gefährlih! Da fteht es. Jedermann wirft mich heraus. 
Mollen Sie mid aufnehmen? ft das eine Herberge? Wollen 
Sie mir zu effen und Unterfunft geben? Haben Sie einen Stall?” 

„Frau Magloire, fagte der Bifchof, „überziehen Sie das 
Bett im Alfoven mit neuen Laken.“ 

Frau Magloire ging hinaus, um zu fun, was ihr befohlen 
worden war. 

Der Biſchof wandte fih an den Fremden: 

„Seen Sie fih, mein Herr, und wärmen Sie fih. Wir 
werden gleich effen und man wird inzwifchen Ihr Bett bereiten.‘ 

est begriff der Mann erft ganz. Sein Geſicht, das bisher 
hart und finfter gewefen war, verriet Verblüffung, Zweifel und 
Freude. Er ftammelte wie ein Vrrer. 

nBabrhaftig, Sie wollen mich bierbebalten? Sie werfen 
mich nicht heraus? Mid, einen Sträfling, nennen Sie Herr? 
Sie duzen mich nicht? ch war feft überzeugt, daB Sie mich 
fortfhiden würden. Darum babe ich gleich gejagt, wer ich bin. 
Das wor eine gute Frau, die mich bierbergefhidt bat. Und 
effen werde ih auch! Und ein Bett haben mit Matratze und 
Lafen! Ein Bett... neunsebn Sabre lang babe ich nicht in 
einem Bett gelegen! Sie find gute Leute. Ich babe ja Geld, ich 
werde Sie fon bezahlen. Verzeihung, Herr Wirt, wie heißen 
Sie? Vh werde alles bezahlen, foviel e8 ausmacht. Sie find 
bob Wirt, nicht wahr?‘ 

„Ich bin ein Priefter aus diefem Ort“, fagte der Bischof. 

„Ein Priefter... ein waderer Priefter! Dann wollen Sie 
wohl gar Fein Geld? Sie find Pfarrer? Pfarrer von der großen 
Rirhe da? Ach, wahrhaftig, ich bin blöde, babe gar nicht be- 
merft, daß Sie bas Käppchen fragen.’ 

Inzwiſchen hatte er feinen Zornifter abgelegt, ben Stod in 
die Ede geftellt, feinen Paß eingeftecft und ſich gefeßt. Fräulein 
Baptiftines Blick rubte fanft auf ihm. Er fuhr fort: 

„Sie find menfohlih, Herr Pfarrer, Sie verachten mid 


66 


nicht. Das tut wohl — einmal ein guter Priefter. Sie brauchen 
wohl auch Fein Geld?” 

„Nein,“ erwiderte der DBifchof, „behalten Sie hr Geld. 
Mieviel haben Sie übrigens? Sagten Sie nicht, e8 wären 
hundertneun Franken?’ 

„Mund fünfzehn Sous.“ 

„Hundertneun Sranfen und fünfjehn Sous! Wie Tange 
brauchten Sie, um bas zu verdienen?’ 

„Neunzehn jahre.‘ 

Der Bifchof feufzte tief. 

„Ich babe noch alles’, fuhr der Fremde fort. „Seit vier 
Zagen babe ich nur fünfundgwanzig Sous ausgegeben, und die 
babe ich in Graffe verdient, beim Wagenladen. Da Sie Abbe 
find, muß ich Ihnen fagen, daß wir im Bagno einen Almofenier 
hatten. Auch einen Biſchof fab ich eines Tages, fo einen, der 
Monfignore angeredet wird. Das mar der Biſchof von Ste. 
Marie-Majore in Marfeille. Das ift der Pfarrer, dem die an- 
dern Pfarrer geborhen müflen. Sie müffen mich entfchuldigen, 
ich fage bas nicht gefchieft, aber unfereiner verfteht es nicht beffer. 
Sie werden mic ſchon verftehen. Er bat im Bagno die Meffe 
gelefen, und auf dem Kopfe hatte er einen fpißen Hut aus 
Gold. Es war am bellihten Mittag, alles an ihm glißerte. Wir 
ftanden ringsum in Reihen, vor ung hatte man Kanonen auf- 
geftellt, mit brennender Lunte. Wir faben nicht fehr viel; er bat 
auch gepredigt, aber er ftand weitab, man hörte nicht viel. Das 
ift ein Bifchof, verftehen Sie.’ 

Während er fprah, war der Bifchof aufgeftanden und hatte 
die Züre gefchloffen, die offen geblieben war. Grau Magloire 
trat ein. Sie brachte ein Gedeck und legte es auf den Tifch. 

„Frau Magloire,“ fagte der Bifchof, „decken Sie möglichft 
nahe am Kamin.” Und zu feinem Gaft gewendet: „Der Nacht— 
wind ift hart in den Alpen. Sie frieren wohl, Herr Valjean?“ 

Sooft er Herr fagte, leuchtete bas Geficht des Fremden auf. 
Der Gedemütigte dürfter nach Achtung. 

„Diele Lampe Teuchter febr ſchlecht“, fagte der Biſchof. 


di 67 


Frau Magloire begriff, ging in das Schlafzimmer des Bi- 
fhofs und holte die beiden filbernen Leuchter vom Kamin; fie 
ftellte fie brennend auf den Tiſch. 

„Herr Pfarrer,’ fagte der Fremde, „Sie find gut, Sie 
nehmen mich auf, Sie ftecfen fogar für mich hr Kerzen an. 
Und id babe Ihnen dod gar nicht verfchwiegen, wo ich ber- 
gefommen und daß ich ein Unglücflicher bin.’ 

„Sie brauchten mir bas nicht zu ſagen“, erwiderte der Bi— 
Ihof und berührte fanft die Hand des Fremden. „Dies ift nicht 
mein Haus, fondern das Haus Cbrifti. Wer hier eintritt, wird 
nit um feinen Namen gefragt, er braucht nur zu fagen, Daß er 
Mot leidet. Sie leiden, Sie haben Hunger und Durft, alfo 
feien Sie uns willfommen. Danfen Sie mir nicht, fagen Sie 
niet, daß id Sie in meinem Haufe aufnehme. Hier ift niemand 
zu Haufe außer dem, der eine Zuflucht fut. Sie find hier mehr 
zu Haufe als ih. Mas hier ift, gehört Ihnen. Wozu braude ich 
Ihren Namen zu wiffen? ... Sie haben wohl viel Arges durd- 
gemacht?‘ 

„Oh, die rote Yade, eine Ranonenfugel am Bein, ein Brett 
als Nachtlager, Sie, Sroft, Arbeit, Prügel, um nichts und 
wieder nichts die doppelte Kette, für ein Wort die Einzelzelle. 
Und fogar im Kranfenbett nod die Kette. Die Hunde. . . Die 
Hunde find beffer dran! Meunzehn Jahre! Ich bin jest ſechs— 
undvierzig alt. Und jetzt ... der gelbe Paß. Das ift dag Ende.‘ 

„Sie fommen von einem Ort des Jammers“, erwiderte der 
Bifhof. „Aber hören Sie, im Himmel ift mehr Freude über 
die Tränen eines reuigen Sünders als über bas weiße Gewand 
von hundert Gerechten. Wenn Sie von jenem Ort des Leidens 
heimfehren mit Haß und Groll wider die Menfhen, fo find Sie 
wohl zu beklagen; find Sie aber fanft, friedlih und wobl- 
wollend, dann taugen Sie mehr als jeder von ung.’ 

Inzwiſchen hatte Grau Magloire das Abendbrot aufgetragen: 
Brotfuppe, ein Stüf Sped, Hammelfleifh, Feigen, frifhen 
Käſe und ein Noggenbrot. Sie hatte nod eine Flafche von des 
Biſchofs altem Mauves beigefteuert. 


68 








Sofort fpiegelte bas Gefibt des Biſchofs jene Heiterkeit, die 
gaftfreundlihen Menfhen eignet. 

„zu Tiſch!“ rief er lebbaft, und er ließ den Fremden an 
feiner rechten Seite Plab nehmen, wie er es zu tun pflegte, 
wenn er einen Gaft bei fit hatte. Fräulein DBaptiftine nahm 
ruhig und unbefangen zu feiner Linken ihren Plas ein. Der 
Biſchof fprad bas Tifehgebet und teilte, wie es eine Gewohnheit 
war, felbft die Suppe aus. Der Fremde af gierig. 

Plöslich fagte der Biſchof: „Mir fheint, es fehlt etwas auf 
dem Tiſch!“ 

Frau Magloire hatte in der Tat nur die drei nötigen Gedede 
aufgelegt. Es war aber der Brauch des Haufes, daB alle ſechs 
Silberbeftedfe aufgelegt wurden, wenn ein Gaft bewirtet wurde. 
Harmlofe Eitelkeit. Liebenswürdiger, Eindlicher Lurus in diefem 
ernften, ruhigen Haufe, in dem die Armut für Anftändigfeit 
Halt. 

Frau Magloire begriff, ging wortlos hinaus, und einen 
Augenblick fpäter funfelten die drei Beſtecke auf dem Tiſchtuch. 


4. Einzelheiten über die Käfereien 
in Pontarlier 


Um unfere Lefer wiffen zu laffen, was an jener Tafel vor- 
ging, zitieren wir einen Brief Fräulein Baptiftines an ihre 
Jugendfreundin, die Vicomteſſe de Bois-Chevron. 

Der Mann achtete auf niemand. Er aß gierig wie einer, der 
am Verhungern ift. Mad dem Effen fagte er endlich: 

„Herr Pfarrer, das ift alles viel zu gut für mich, aber offen 
geftanden, die Nollkutfcher, die mich nicht an ihrem Tiſch haben 
wollten, lebten beffer als Sie.’ 

Unter uns gejagt, diefe Bemerkung ärgerte mich. Mein Bru- 
der antwortete: 

„Sie haben aud mehr Plage als ich.” 

„Dein, das nicht," fagte der Mann, „aber mehr Geld. Sie 


69 


find arm, bas febe id wohl. Vielleicht find Sie nicht einmal 
Pfarrer. Sind Sie wenigftens Pfarrer? Wahrhaftig, wenn der 
liebe Gott gerecht wäre, müßten Sie Pfarrer fein.‘ 

„Der liebe Gott ift mehr als gerecht”, fagte mein Bruder. 
Dann nad einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: „Herr 
Baljean, Sie gehen nad Pontarlier ?// 

„Mit vorgefchriebener Route. 

So war, wenn id mich recht erinnere, der Ausdruf. 

„Morgen, bei Zagesanbrudh, muß ich wieder unterwegs fein”, 
fuhr er fort. „Es ift ein harter Marſch. Wenn die Nächte auch 
Folt find, ift es bei Tag doch recht heiß.” 

„un, meinte mein Bruder, „Sie kommen da in eine gute 
Gegend. Meine Familie ift dur die Mevolution zugrunde ge- 
richtet worden, und ich bin zunächſt in die Franche-Comté ge- 
flohen; dort lebte ich einige Zeit lang von meiner Hände Arbeit. 
Ich war gutwillig, und fo fond ih Beihäftigung. Man fann 
dort frei wählen, in diefer Gegend. Es gibt Papiermühlen, 
Gerbereien, Branntweinbrennereien, Ölpreffen, große Ubren- 
fabrifen, Stahlwerfe, Rupfermerfe, mindeftens zwanzig Eifen- 
bütten, deren vier recht umfangreich find, und zwar die in Lobs, 
Châtillon, Audineourt und Beur ...“ 

Sch glaube mich nicht zu täuschen, dag waren wohl die Na— 
men, die mein Bruder nannte, dann unterbrad er fih und 
richtete das Wort an mid. 

„Liebe Schwefter, haben wir nicht dort Verwandte?” 

„Doch, antwortete ich, „wir hatten wenigftens welche, unter 
andern Herrn de Lucenet, der bei der Torwache zu Pontarlier 
Hauptmann war unter dem alten Regime.’ 

„Ja,“ meinte mein Druder, ‚aber Anno 93 war e8 nichts 
mit den Verwandten, da mußte jeder fih auf feine eigenen 
Hände verlaffen. Sch babe gearbeitet. Übrigens gibt es in der 
Gegend von Pontarlier, Herr Valjean, eine recht patriarcha— 
life und anheimelnde Ynbuftrie — die Käfereien . . . 

Nun feste mein Bruder, während er den Fremden wieder 
zuzugreifen nôtigte, auseinander, wie biefe Käfereien in Pon— 


70 





tarlier eingerichtet find. Man unterfheidet ihrer zwei Arten, die 
großen, die reichen Leuten gehören und über vierzig bis fünfzig 
Kühe verfügen, fo daß fie fieben- bis achttaufend Käfe im Jahr 
liefern Éônnen; und dann die Genoffenfchaftskfäfereien, die den 
Armen gehören; die Bauern des Mittelgebirges tun fih in 
biefen Detrieben zufammen, liefern den Milchertrag ihrer Kühe 
gemeinfom ein und teilen fi in den Gewinn. Sie nehmen auf 
gemeinfame Rechnung einen Käfer in Dienft, deflen Aufgabe 
es ift, dreimal täglich von den Mitgliedern der Genoffenfaft 
Milk abzuholen und die gelieferten Mengen auf einem dop- 
pelten Kerbholz zu vermerken. Gegen Ende April beginnt die 
Arbeit der Käfereien; Mitte Juni führen die Käfer ihre Kühe 
in die Berge. 

Der Fremde wurde während des Effens zuſehends Tebhafter. 
Mein Bruder hieß ihn von dem guten Mauves trinken, den er 
felber niemals trinft, denn er ift zu teuer. Er ſprach mit biefer 
verhaltenen Heiterkeit, die Sie ja an ihm Fennen, wobei er ge- 
legentlid ein freundliches Wort für mich einflocht. Immer wie- 
der Fam er auf die Annehmlichkeiten des Käferberufs zurück, als 
ob er den Mann darauf binlenfen wollte, daß er vielleicht auf 
diefem Wege ein Ausfommen finden würde — bod wollte er 
ihn offenbar nicht unmittelbar darauf ftoßen. 

Als wir bei den Feigen waren, wurde an die Tir geflopft. 
Es war Mutter Gerbaut, die ihren Jungen auf dem Arm trug. 
Mein Bruder Füßte den Kleinen auf die Stirn und lieh ſich 
von mir fünfzehn Sous, die ich gerade bei mir hatte, um fie 
der armen Frau zu geben. Unfer Gaft achtete mittlerweile nicht 
darauf, was vorging. Er fprad nicht und fab fehr müde aus. 
Als die arme alte Frau Gerbaut fortgegangen war, fprad mein 
Bruder das Danfgebet, dann wandte er fich zu dem Gaft und 
fagte: 

„Sie bedürfen gewiß fehr des Bettes.“ 

Frau Magloire hatte raſch abgededt. ch begriff, daB wir 
ung zurückziehen follten, um den Fremden fchlafen zu laffen. So 
fliegen wir in unfere Schlafgemäcder hinauf. Doch fandte ich 


71 


Srau Magloire Fur nachher nod einmal hinunter, damit 
fie ibm das Gemfenfell aus meinem Zimmer aufs Bett legen 
möchte. Die Nächte find jest eifig und folh ein Fell hält warm. 
Schade, daß es fon fo alt ift, alle Haare gehen ihm aus. 

Mein Bruder bat es feinerzeit gekauft, als er in Deutfbland 
war, in Zottlingen, in der Mähe der Donauquellen. 

Frau Magloire Fam gleich wieder heraus, wir beteten zu- 
fammen, und dann gingen wir, ohne ein Wort zu fprechen, jede 
in unfere Schlaffammer. 


5. Rube 


Nachdem Monfignore Bienvenu feiner Schwefter gute Nacht 
gefagt hatte, nahm er einen der beiden Silberleuchter vom Tifch, 
gab den andern feinem Gaft und fagte: 

„Ich werde Sie jest in hr Zimmer führen, mein Herr.” 

Der Mann folgte ihm. 

Das Haus war fo eingerichtet, daß man, um in bas Bet- 
zimmer und in den Alkoven zu gelangen, bas Schlafzimmer des 
Bifhofs durchqueren mußte. Als er durch diefes Zimmer fohritt, 
war Frau Magloire gerade dabei, das Silber in dem am Kopf- 
ende des Vettes ftebenden MWandfchranf zu verfchließen. Das 
pflegte allabendlih ihre letzte Verrichtung zu fein. 

Der Bifchof führte feinen Gaft in den Alfoven. Ein weißes, 
frifhes Bett war dort gerichtet. Der Fremde ftellte feinen 
Leuchter auf ein Éleines Tiſchchen. 

„Und nun gute Macht, fagte der Biſchof. „Bevor Sie 
morgen früh aufbrechen, follen Sie eine Taſſe Mil) von un- 
feren Kühen befommen, nod warm.” 

„Danke, Herr Abbe’, erwiderte der andere. 

Kaum hatte er diefe friedvollen Worte ausgefproben, als 
plüslid und ohne Übergang eine feltfame Regung ihn ergriff, 
über die jene beiden frommen Frauen zu Eis erftarrt wären, 
wenn fie fie hätten mit anfeben müflen. Mob heute wird es ung 
ſchwer, Klarheit darüber zu gewinnen, was in jenem Augenblid 


12 








in ibm vorging. Wollte er warnen, wollte er drohen? Oder ge- 
borte er ganz einfach einer inftinftiven, ihm felbft unverftänd- 
liben NRegung? Er wandte ſich jäh nach dem Greis um, kreuzte 
die Arme, richtete einen wilden Blick auf feinen Wirt und rief 
laut: 

„Wahrhaftig, Sie wollen mich bier fehlafen en gleich 
neben Ihrer Tür?’ 

Er unterbrah fih, lachte unheimlih auf und fuhr fort: 
„Haben Sie fit denn bas auch überlegt? Wer fagt Ihnen, daß 
ich nicht ein Mörder bin?’ 

„Das ift Gottes Sache“, erwiderte der Bifchof. 

Und er erhob zwei Singer der rechten Hand, fegnete den Gaft, 
der regungslog blieb, und trat, ohne fi) umzumenden oder zu— 
rüczublicfen, in fein Gemach. 


6. Jean Baljean 


Um Mitternaht ermachte Sean Daljeon. Sean Daljean ent- 
ftammte einer armen Sauernfamilie aus der Gegend von Brie. 
In feiner Kindheit hatte er nicht lefen gelernt. Als er in die 
Fahre Fam, wurde er Baumfcherer in Faverolles. Seine Mutter 
hieß Jeanne Mathieu; fein Vater Sean Valjean oder Vlajean, 
ein Name, der offenbar aus einem Spitznamen entftanden war, 
gufammengezogen aus voilà Jean, feht doch Sean. 

Sean Valjean war von nachdenflichem, wenn auch nicht trüb- 
finnigem Charakter, wie dies bei Tiebesfähigen Maturen fo 
haufig vorkommt. Alles in allem wohl etwas verfhlafen und 
matt, wenigfteng dem Außeren nah. Schon in frübefter Kind- 
heit verlor er Vater und Mutter. Die Mutter war an einem 
vernachläſſigtem Milchfieber geftorben, der Water, der gleich- 
falls Baumfcherer gewefen, holte fich bei einem Sturz den Tod. 
So verblieb Sean Valjean nur eine ältere Schwefter, die be- 
reits Witwe war und fieben Kinder, Knaben und Mädchen, zu 
ernähren hatte. Diefe Schwefter hatte Jean Valjean erzogen 
und, folange ihr Gatte lebte, durcdhgebradt. Nun, der Mann 


73 


ftarb. Damals war bas ältefte der Kinder acht Vabre alt, bas 
jüngfte eins. Sean nod nit fünfundzwanzig. Er trat an die 
Stelle des Vaters und erhielt jeht die Schwefter, wie fie ihn 
erhalten hatte. Das fat er ganz felbfiverffänblih, wie eine 
Pflicht. Seine Tugend verbraudte er in fchwerer, fchlecht- 
bezahlter Arbeit. Nie fab man ihn mit einer Freundin, er hatte 
Feine Zeit, Liebfehaften anzufangen. 

Des Abends Fehrte er müde nach Haufe zurück und af wort- 
[os feine Suppe. Während er af, griff wohl Mutter Jeanne, 
feine Schwefter, oft den ſchmackhafteſten Biffen aus feinem 
Zeller, ein Stück Fleifh, eine Scheibe Sped, bas Herz eines 
Kohlfopfs, um es einem ihrer Kinder zuzuſtecken; er blieb ruhig 
über feinen Zeller gebeugt, ohne den Kopf zu erheben, achtete 
deffen nicht. in Saverolles wohnte unweit von Daljeang Hütte, 
auf der anderen Seite der Straße, eine Bäuerin, die Marie- 
Claude hieß; die Kinder, die nie fatt werden Fonnten, liefen oft 
zu ihr hinüber, um angeblih im Namen der Mutter eine Pinte 
Milch auf Borg zu nehmen, die fie dann hinter einer Hecke oder 
in einem Winkel der Allee baftig austranfen, wobei fie einander 
den Napf aus der Hand zu reißen fuchten, fo daß fhließlich die 
Hälfte über die Schürzen lief. Hätte die Mutter von diefem 
Streich etwas erfahren, gewiß hätte fie die fleinen Sünder 
ftreng beftroft. Der raube, mürrifhe Sean Valjean aber be- 
zahlte hinter dem Rücken der Mutter die Schuld, und fo kamen 
die Kinder ungeftraft davon. 

In der Saifon verdiente er als Baumſcherer achtzehn Sous 
täglich; fpäter nahm er Dienft als Melfer, Handlanger, Hirt. 
Er tat was er Fonnte. Auch feine Schwefter raderte ſich ab, 
aber die fieben Kinder ließen ihr wenig Zeit. 

Es gefhah, daß ein Winter fireng war. Da fand Sean Feine 
Beſchäftigung. Es fehlte der Familie an ‘Brot, buchſtäblich. Der 
Familie mit ihren fieben Kindern. 

Eines Sonntags am Abend wollte Maubert Iſabeau, Bäder 
om Kirchplatz zu Faverolles, eben zu Bett gehen, als er von 
dem Scaufenfter feines Ladens herauf heftigen Lärm hörte. 


14 


Er Fam gerade zurecht, um einen Arm zu fehen, der durd ein 
Tod) eingedrungen war, das eben erft mit der Fauft in die Glas— 
Iheibe gefchlagen worden war; eine Hand ergriff ein Brot und 
309 e8 heraus. Iſabeau eilte hinaus. Der Dieb rannte, was feine 


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Beine hergaben; aber Iſabeau befam ihn zu faffen. Zwar hatte 
der Dieb bas Brot fortgeworfen, aber fein Arm war nod 
blutig und zerfchunden. Es war Jean Valjean. 

Dies trug fi Anno 1795 zu. Sean Valjean wurde vor Ge- 
richt geftellt, weil er ‚des Nachts in ein bewohntes Haus 


75 


eingebrochen wäre”. Er befaß ein Gewehr, das er fehr wohl zu 
handhaben verftand, denn er war aud ein wenig MWilddieb; das 
belaftete ihn. Wie der Schmuggler, wird aud der MWilddieb 
gern für eine Art Räuber angefeben. Doch, wir müſſen es 
nebenbei erwähnen, befteht ein gewaltiger Unterfchied zwifchen 
diefen Leuten und den fheußlihen Mördern, die die Städte be- 
völfern. Der Wilddieb lebt im Wald, der Schmuggler im Ge- 
birge oder auf dem Meer. Die Städte mahen den Menfchen 
graufam und erzeugen Serderbnis, das Gebirge aber, das Meer, 
der Wald, bringen wilde, menfchenfcheue Leute hervor, fie ent- 
wiceln den rauhen Cbarafter, ertöten aber nicht alle Menſch— 
lichkeit. 

Sean Baljean wurde fhuldig gefprodhen. Der Wortlaut des 
Geſetzes war Ear. Es gibt in unferer Zivilifation furbtbare 
Augenblife — jene Momente, da der Schiffbrud eines Men- 
fhen dur die Juſtiz feierlich verkündet wird. Wie düfter ift die 
Minute, in der die Gefellfchaft fih von einem Menſchen ab- 
wendet und ein benfendes Weſen unmiderruflih und für immer 
aus ihrer Mitte verftößt! 

Jean Daljean wurde zu fünf Vabren Arbeit auf den Ga- 
leeren verurteilt. 

Am 22. April 1796 wurde in Paris ein Sieg ausgerufen, 
den der Oberfommandierende der Armeen in Italien bei Mon- 
tenotte errungen hatte, jener General, den die Botfchaft des 
Direftoriums an den Nat der Fünfhundert vom 2. Floreal des 
Sahres IV Buona-Parte nennt; am felben Tage wurden in 
Disetre eine Meihe von Strafgefangenen an die Kette gelegt. 
Auch Sean Valjean wurde ein Glied diefer Kette. Ein alter 
Schließer jenes Gefängniffes, der heute neunzig Jahre zählt, 


erinnert fi noch jenes Unglüclichen, der damals in der Nord— 


ee des Hofes an das Ende der vierten Kette gefchmiedet wurde. 
Wie die andern, hatte er fih auf den Boden gefeñt. Offenbar 
begriff er nicht, was mit ihm vorging, empfand nur, daß eg 
etwas Schreckliches war. Vielleicht, wahrſcheinlich fogar, rang 
unter den verfchiedenen Gedanfen, die biefen unmiflenden 


76 








Menfhen peinigten, einer fi allmählich durch. Während hinter 
feinem Kopf mit ſchweren Hammerſchlägen fein Halseifen zu- 
gefblagen wurde, weinte er fo heftig, daß er Faum zu fprechen 
vermochte, und er fagte nur von Zeit zu Zeit: „Ich war Baum- 
fherer in Faverolles!“ Dann erhob er fehluchzend feine rechte 
Hand und fenfte fie, ftufenweife, fiebenmal, als ob er der Reihe 
nad fieben Köpfe von Kindern berübre, und daraus errieten 
die Leute, daß er, was immer er getan haben mochte, nur fchul- 
dig geworden fei, weil er biefe fieben Kinder hatte ernähren und 
befleiden wollen. 

Er Fam nad Toulon nad einer Meife von fiebenundzwanzig 
Zagen, die er, die Kette am Halfe, auf einem Karren zurück— 
gelegt hatte. In Toulon zogen fie ibm die rote Yade an und 
bier wurde fein ganzes früheres Leben ausgelöſcht, ja fogar auch 
fein Name, denn er war jeßt nicht mehr Jean Valjean, fondern 
Nummer 24601. Was wurde aus feiner Schwefter? Was 
aus den fieben Kindern? Wer kümmert fih darum? Was wird 
aus ein paar Blättern des Baumes, an deffen Fuß die Säge 
gefeßt worden ift? 

Es ift immer die gleihe Gefhichte. Diefe beflagengwerten 
Geihöpfe, die nunmehr ohne Stüße und ohne Führer waren, 
wurden auseinandergetrieben vom Zufall, vielleicht jeder wo- 
anders bin. Sie verließen die Heimat. Der Kirchturm des 
Ortes, der ihre Heimat gewefen war, vergaß fie; ihr Aer ver- 
gaB fie; Tchließlich vergaß aud Sean Valjean fie, nachdem er 
einige Sabre im Bagno zugebradht hatte. In feinem Herzen 
war an Stelle der Wunde die Narbe getreten, das war es. 
Kaum ein einziges Mal hörte er von feiner Schwefter. Das ge- 
fab, glaube ich, gegen Ende des vierten Jahres feiner Ge- 
fangenfhaft. Wie diefe Nachricht zu ihm gelangte, weiß ich 
nicht mehr zu fagen. Irgendwer, der fie in der Heimat gekannt 
hatte, war wohl der Schwefter begegnet. Sie wohnte in Paris, 
in einer armfeligen Straße nahe der Kirche Saint Sulpice, in 
der Aue du Geindre. Sie hatte nur mehr ein Kind bei fich, 
einen ungen, wohl den jüngften. Wo waren die fechs anderen? 


77 


Vielleicht wußte fie e8 felbft nicht. Jeden Morgen ging fie in 
die Druderei in der Mue bu Sabot Numero 3, wo fie als 
Falzerin arbeitete. Sie mußte um ſechs Uhr morgens dort fein, 
alfo zur Winterszeit lange vor Tagesanbruch. Im Haufe der 
Druderei gab es aud eine Schule, dorthin brachte fie den 
Eleinen jungen, der fieben jahre alt war. Da fie aber um fechs 
Uhr in ihrer Druderei fein mußte, während die Schule erft um 
fieben geöffnet wurde, mußte das Kind eine Stunde im Hof 
warten; im Winter eine Nahtftunde im Freien. In die 
Druderei ließ man das Kind nicht, weil e8 dort, wie gefagt 
wurde, ftöre. Wenn die Arbeiter morgens in ihre Werfftätten 
famen, faben fie den armen Kleinen auf dem Pflofter bocen, 
Ihlaftrunfen, oft fogar im Dunkel eingenict, zufammenge- 
fauert und über feinen Korb gebeugt. Wenn es regnete, er- 
bormte fidh die Frau des Hauswarts feiner und ließ ihn in ihre 
Loge eintreten, in der es ein fehmales Bett, ein Spinnrad und 
zwei Stühle gab; der Kleine fchlummerte dort in einem Winkel 
und ſchmiegte fih an die Rae, um es wärmer zu haben. Um 
fieben öffnete die Schule ihre Tore, dann trat er ein. Das wer 
alles, was man Sean Valjean fagen Fonnte. 

Gegen Ende des vierten Jahres Fam die Meibe an Sean 
Baljean, auszubrechen. Seine Kameraden halfen ibm, wie das 
an jenem traurigen Ort üblich ift. Er entfam. Zwei Tage lang 
ivre er frei umber — wofern man gebekt zu werden, jeden 
Augenblick zurückzuſchauen, beim leifeften Geräufch zu erfehreden, 
fi vor allem zu fürchten, einem rauchenden Schornftein, einem 
vorübergehenden Menfchen, einem bellenden Hund, einem ga- 
Ioppierenden Pferd, einer Uhr, die fchlägt.... wofern man dies 
Sreiheit nennen will. Am Abend des zweiten Tages wurde er 
wieder gefangen. Seit fechsunddreißig Stunden hatte er weder 
gegeffen noch gefhlafen. Das Seegericht verurteilte ihn wegen 
diefes Verbrechens zu einer Derlängerung feiner Strafe um 
drei fahre, fo daß er insgefamt at Jahre zu verbüßen hatte. 

Im fehlten Sabre war wieder die Meibe an ibm; aber es 
gelang ihm nicht einmal, aus dem Gefängnis zu fommen. Beim 


18 


Appell hatte er gefehlt. Die Kanone gab den üblichen Signal- 
Ihuß, und nachts fanden ihn die Leute der Munde unter dem 
Kiel eines im Pau befindlichen Schiffes; er leiftete Wider— 
ftand, wurde aber überwältigt. Das war Flucht und Widerſetz— 
lichfeit. Den Beftimmungen des Strafgefehes gemäß, befam er 
diesmal fünf Jahre, davon zwei in Doppelfetten. Macht zu- 
fammen dreizehn jahre. Als er im zehnten jahre wieder an die 
Reihe Fam, nahm er die Gelegenheit wahr, aber auch diesmal 
war ihm dag Glück nicht hold. Drei Jahre für biefen neuer- 
lihen Verſuch. Insgeſamt fechzehn jahre. Schließlich, im drei- 
zehnten jahr, als er einen lebten Verſuch wagte und nad) vier 
Stunden wieder gefaßt wurde, weitere drei Jahre. Drei Sabre 
für vier Stunden. Alles in allem neungehn jahre. Im Oktober 
1815 wurde er freigelaffen. Gefangengefeßt worden war er im 
Jahre 1796, weil er eine Senfterfheibe eingefchlagen und ein 
Brot geftohlen hatte. 


7. Neue Qualen 


As die Stunde feiner Befreiung fehlug, als diefes feltfame 
Mort: ,Ou bift frei” an fein Ohr drang, ſchien ihm der Augen- 
blief unerhört und unwahrfcheinlich, und ein Strahl Iebendigen 
Lichts fiel in feine Seele. 

Aber er follte bald verblaffen. Sean Daljean war von dem 
Gedanken der Freiheit beraufcht gewefen. Nun beginne dag neue 
Seben, hatte er gedacht. Aber nur zu bald erfuhr er, welche 
Sreiheit bas ift, der man einen gelben Paß gibt. 

Bitterfeit. Er hatte berechnet, daß er während feiner Ge- 
fangenfhaft im Bagno hunderteinundfiebzig Franken verdient 
haben müffe. Allerdings hatte er in biefer Rechnung die er- 
zwungene Muße der Sonntage und Feiertage vergeflen, die, 
auf neunsebn Jahre verrechnet, einen Verluſt von vierund- 
zwanzig Franken ergaben. Wie dem aber auch fei, durch ver- 
Ichiedene Abzüge blieben zu guter Lest nur bunbertneun Sran- 
fen und fünfzehn Sous übrig, die ibm bei feiner Entlaffung 


79 


ausbezahlt wurden. Er begriff bas nicht, er glaubte fich ge- 
Ihädigt oder, wenn wir bas Wort nicht fcheuen wollen, be- 
ftoblen. 

Am Tag nad feiner Entlaffung fab er in Graffe vor dem 
Tor einer Deftillation Männer, die Warenballen verluden. Er 
bot feine Dienfte an. Da die Arbeit eilig war, nahm man fie 
on. Er mate fih ans Werk. Er war gefcheit, Eräftig und ge- 
ſchickt. Er tat fein Deftes, und fein Dienftgeber bien zufrieden. 
Während er arbeitete, Fam ein Gendarm vorüber, bemerfte ibn 
und verlangte nach feinen Papieren. Er mußte den gelben Pat 
zeigen. Dann machte fih Jean Valjean wieder an die Arbeit. 
Kurz vorher hatte er einen der Arbeiter gefragt, was fie mit 
folcher Arbeit wohl im Tage verdienten, und man hatte ihm 
gefagt: dreißig Sous. Als der Abend Fam, ging er zu dem 
Herrn der Deftillation und bat um feinen Lohn, da er am näch— 
ften Morgen weiterwandern müßte. Der Herr fprad Fein Wort, 
fondern händigte ihm fünfzehn Sous aus. jean erhob Ein- 
fprud. Da wurde ibm gefagt: „Für dich ift bas genug.’ Er 
beftand auf feinem Recht, aber da fab ihn der Meifter fharf 
on und fagte: „Vorſicht, daß du nicht wieder ins Loch kommſt!“ 

Auch bier hatte man ihn offenbar beftohlen. 

Die Gefellichaft, der Staat hatte ibn im großen geplündert, 
jeßt Famen die Feinde einzelweife und beftablen ihn. Entlaffung 
if nicht Befreiung. Man verläßt das Strafhaus, aber die Ver- 
urteilung Éann man nicht loswerden. 

So war es ihm in Graffe ergangen. Der Lefer bat gefeben, 
wie er in Digne aufgenommen wurde. 


8. Erwadben 


As die Kirhturmuhr die zweite Stunde anzeigte, erwachte 
Sean Valjean. Was ibn aus dem Schlaf aufjagte, war bas 
allzu gute Bett. Zwanzig Jahre (ang hatte er nicht in einem 
Bert gelegen, und obwohl er ſich nicht entfleidet hatte, war die 
Empfindung jeßt doch allzu neu, um nicht feinen Schlaf zu ftören. 


so 


Mehr als vier Stunden hatte er gefhlafen. Die Müdigkeit 
war von ihm gewichen. Er war nicht gewohnt, lange zu Schlafen. 

Er fhlug die Augen auf, blifte im Dunfel um fib, dann 
ſchloß er fie wieder, um von.neuem einzufchlafen. Aber er Éonnte 
es nicht, und fo begann er nachzudenken. Er befand fi in einer 
wirren Geiftesverfaflung. In feinem Gehirn war ein dunfles 
Hin und Her, alte Erinnerungen und neue mifchten ſich durd- 
einander, wuchfen jäh an und verfehwanden wieder. Diele Ge- 
banfen kamen ihm, aber einer fchob fi hartnädig in den Vor— 
dergrund und verdrängfe die andern. Wir wollen es unummwun- 
den fagen, es war der Gedanfe an die ſechs Silbergedede und 
den großen, filbernen Schöpflöffel, die Frau Magloire auf den 
Tiſch gelegt hatte. 

Das Silberzeug Tieß ihm Feine Ruhe. Es war da, nur einige 
Schritte entfernt. Als er das Zimmer nebenan durhfcritten 
hatte, um hierher zu gelangen, wo er fich jeßt befand, hatte die 
alte Haushälterin es in den Wandſchrank am Kopfende des 
Bettes gelegt. Sean hatte es wohl bemerkt. Es war, wenn man 
aus dem Speifefaal eintrat, rechter Hand. Maflives Silber. 
Altes, gutes Silber. Mit dem fehweren Schöpflöffel würde es 
gewiß zweihundert Sranfen erbringen. Das Doppelte der 
Summe, die er in neungebn Sjahren verdient hatte. Allerdings, 
er hätte ja mehr verdient, wenn ihn die Verwaltung nicht be- 
ftohlen hätte... . Eine gute Stunde lang befhäftigte fi fein 
Geift mit diefen Dingen und Fampfte einen mühſamen Kampf. 
Es ſchlug drei. Wieder öffnete er die Augen, fette ſich auf, 
ftresfte den Arm aus, taftete nach feinem Tornifter, den er in 
eine Ede gelegt hatte, Tieß die Beine herabhängen und blieb 
regungslos auf dem Bettrand fisen. So verharrte er einige Zeit 
in tiefe Gedanfen verfunfen; wenn ibn jemand fo, einfam 
wachend, in diefem fehlafenden Haufe gefehen hätte, wäre er ein 
unheimliches Gefühl nicht losgemorden. Plötzlich bückte fich 
Sean, 309 die Schuhe ab, ftellte fie vorfihtig auf die Strob- 
matte neben dem Bett, nahm wieder feine nachdenflihe Haltung 
ein und verfanf in Regloſigkeit. 


6 Hugo, Die Elenden. 81 


Obne Unterlaß Eehrten die gleihen Gebanfen in fein Gehirn 
zurück; gleichzeitig mußte er, ohne recht zu begreifen warum, an 
einen Zwangsarbeiter namens Brevet denken, den er im Bagno 
gefannt hatte und deflen Hofen nur dur ein einziges Iragband 
bocgebalten wurden; bas Mufter diefes Iragbands Fam ibm 
immer wieder in den Sinn. | 

In diefer Stellung verharrte er, und vielleicht wäre er bis 
zu Tagesanbruch fo verblieben, wenn nicht die Uhr wieder ge- 
Ichlagen hätte. Ihm fhien, fie riefe ibm ein Vorwärts zu. 

Er ftand auf, zögerte noch einen Augenblick und laufte. 
Alles im Haufe war fil. Nun ging er aufrecht und in kurzen 
Schritten zum Fenfter. Die Nacht war nicht fonderlich dunfel. 
Der Vollmond fchien, nur zuweilen von Wolfen verdunfelt, 
die der Wind über den Himmel peitfchte. Immerhin entftand 
durch biefes Widerfpiel von Licht und Schatten eine Art Däm— 
merung, die genügte, um fi zurechtzufinden. 

Das Fenfter war nicht vergittert. Es führte in den Garten 
und war, wie bas auf dem Lande Sitte ift, nur ſchwach ver- 
klinkt. Er öffnete e8, aber da ihm ein Falter, fcharfer Wind ent- 
gegenmwehte, fchloß er es fofort wieder. Aufmerffam fab er in 
den Garten hinaus. Eine weiße, ziemlich niedrige Mauer, die 
man leicht überfteigen Fonnte, umfchloß ihn. Im Hintergrund 
waren jenfeits der Mauern in regelmäßigen Abftänden Baum- 
fronen zu erfennen, woraus man entnehmen Fonnte, daß die 
Mauer den Garten von einer Allee oder mit Bäumen be- 
pflanzten Straße trennte. 

Jetzt machte er eine entſchloſſene Bewegung, Fehrte in den 
Alfoven zurüd, nahm den Tornifter vor, öffnete und durchſuchte 
ibn, 309 einen Gegenftand heraus, den er auf das Bett legte, 
fete feine Schuhe in eine der Torniftertafhen, verfchnallte 
alles wieder, Iud den Sad auf die Schultern, feßte die Mütze 
auf, wobei er nicht vergaß, den Schirm tief über die Augen zu 
ziehen, fuchte taftend nad feinem Stock und ergriff endlich den 
Gegenftand, den er eben erft auf bas Bett gelegt hatte. Er glich 
einer Furzen, an einem Ende zugefpisten Eifenftange. | 


82 


In der Dunfelheit war es fehwer zu erfennen, wozu diefes _ 
Stück Eifen dienen mochte. War es ein Hebel, eine Keule? Im 
vollen Iagesliht hätte man erfannt, daß es ein Sergmanns- 
werfzeug war. Man verwendete damals die Strafgefangenen 
auch dazu, in der Mähe von Toulon in den Steinbrüchen 
zu arbeiten, und fo kam es, daß fie fih Bergmannswerfzeuge 
verfaffen Fonnten. 

Er nahm das Eifen in die echte, hielt den Atem an, näherte 
fi) Teifen Schrittes der Tür des Nachbarzimmers, in dem, wie 
der Lefer fich erinnert, der Biſchof fehlief, und fand fie halb an- 
gelebnt. Der Biſchof hatte fie nicht verfchloffen. 


Die tet 


Sean Valjean laufhte. Nichts war zu hören. 

Er ftieß die Tire an. Mit der Fingerfpiße fat er es, ganz 
leife und mit einer flüchtigen, ängftlihen Vorſicht, wie eine 
Rae, die in ein Zimmer fehleichen will. 

Die Tür gab nach und ließ geräufchlos einen Spalt frei. 

Sean wartete einen Augenblic, dann ftieß er fie ein zweites 
Mal an, kühner jest. Wieder gab fie Tautlos nah. Der Spalt 
war jest breit genug, daB man durdfchlüpfen Fonnte. Aber 
neben der Zür ftand ein Fleiner Tiſch, der den Zugang ver- 
iperrte. Sean Valjean erfannte die Schwierigfeit. Die Öffnung 
mußte erweitert werden. Œntfhioffen ftieß er ein drittes Mal 
zu, diesmal energifcher als vorher. Eine fehlechtgeölte Angel 
freifehte auf. Es Flang in der Dunkelheit wie ein rauber, lang- 
gezogener Schrei. 

Jean Valjean zitterte. 

Im erſten Augenblick, in dem der Schreck den Lärm phan— 
taſtiſch vergrößerte, bildete er ſich faſt ein, die Türangel ſei ein 
lebendiges Weſen, nehme plötzlich ein furchtbares Daſein an, 
belle wie ein Hund, um alle Welt zu warnen und die Schläfer 
zu wecken. 

Verwirrt blieb er ſtehen und fiel auf die Ferſen zurück. Er 


À 83 


hörte das Blut in feinen Schläfen bimmern, hörte den Atem 
wie einen Orkan aus der Sruft bervorbrehen. Ihm fehien es 
unmöglich, daß bas furchtbare Kreifchen der Türangel nicht bas 
gange Haus erfchüttert babe wie ein Erdbeben; die Türe hatte 
Alarm gefhlagen, der Alte würde aufftehen, die beiden Frauen 
mußten ein Gefchrei erheben, Fremde würden zu Hilfe Eommen, 
in einer Énappen DViertelftunde war die ganze Stadt in Aufruhr 
und die Gendarmerie auf den Deinen. 

Einen Augenbli lang glaubte er fich verloren. 

Wie verfteinert, wie zu einer Bildſäule erftarrt, blieb er reg- 
108 fteben. Einige Minuten verftrihen. Die Tür war jeßt weit 
offen. Er wagte einen Blick in das Zimmer zu werfen. Nichte 
hatte ſich gerührt. Er lauſchte. Alles ftill, niemand war durd 
bas Knaren der verrofteten Angel erwacht. 

Die fhlimmfte Gefahr war vorbei, aber noch immer war er 
febr erregt. Do ging er nicht zurück. Auch als er alles ver- 
Ioren geglaubt hatte, war er nicht zurücfgewichen. Er wollte nur 
raid zu Ende fommen. Er tat einen Schritt vorwärts und war 
in dem Zimmer. 

Es lag in tiefer Ruhe. Dort und da Éonnte man ungewiffe 
Formen von Gegenftänden gewahren, in denen er des Tags auf 
den Tiſch verftreute Papiere, aufgefchlagene Solianten, an ein 
Pult gelehnte Bände, einen Lebnftubl, auf dem Kleidungsftüce 
lagen, einen Betſchemel erfannt hätte, die aber jet nur als 
dunfle Umriffe und belle Sleden zu unferfheiden waren. Behut- 
fam drang jean Valjean vor, wobei er es forgfältig vermied, 
an Möbel anzuftoßen. Im Hintergrund des Zimmers war der 
ruhige, gleichmäßige Atem des fchlafenden Biſchofs zu ver- 
nehmen. 

Meiter drang er vor. 

Plötzlich blieb er ftehen. Er ftand vor dem Bett. Er hatte es 
früher erreicht, als er erwartete. 

Die Natur mifcht zuweilen ihre Phänomene und Schaufpiele 
faft planmäßig in unfere Handlungen, als ob fie ung nachdenf- 
lich ftimmen wollte. Faſt feit einer halben Stunde bededte eine 


84 


große Wolke den Himmel. In dem Augenblie, ba Jean Val— 
jean vor dem Bett baltmacbt, zerriß fie und ein Streifen Mond- 
licht fiel dur das Fenfter auf bas blaffe Gefibt des Bifchofs. 
Er fchlief friedlich. Auch im Bett war er faft beFleidet, trug — 


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wohl infolge der Falten Mächte im Alpenvorlande — ein 
braunes Baummollhemd, bas aud die Arme bis zu den Händen 
bedeckte. Sein Kopf lag in der entfpannten Haltung der Ruhe 
feitlich auf dem Kiffen; die linfe Hand, die den Hirtenring trug, 
diefe Hand, die fo viele gute Werke vollbradt hatte, hing aus 


85 


dem Bett. Sein Antlis fpiegelte Zufriedenheit, Hoffnung und 
Glück. Es war mehr als ein Lächeln, faft ein Strahlen. Auf 
feiner Stirn ein unbefchreibliher Widerfchein eines unfihtbaren 
Lichts. Vener geheimnisvolle Himmel, den die Seele der Ge- 
rechten während des Schlafs durchwandelt. 

Sean Valjean hatte niemals etwas Ähnliches gefehen. Es 
war nicht zu fagen, was in ihm vorging; er felbft hätte es nicht 
angeben können. Es war eine Art tiefes Staunen. Was er 
dachte? Unmöglich zu erraten. Er war gerührt, tief beeindrudt. 
Aber welcher Art war feine Nührung? Er fchien zugleich bereit, 
den Schädel des Greifes einzufchlagen und ihm die Hand zu Füffen. 

Plötzlich wandte er fih ab, ging, ohne fich weiter um den 
Bifhof zu kümmern, an dem Bett entlang auf den Wand— 
Ihranf zu und feßte fein Eifen an, um das Schloß aufsubreden. 
Der Schlüſſel ftaf. Er öffnete. Das erfte, was er gewahrte, 
war der Korb mit dem Silberzeug. Er nahm ihn, durchmaß mit 
großen Schritten und ohne jegliche Vorficht bas Zimmer, achtete 
nicht auf bas Geräuſch feiner Schritte, fondern erreichte die 
Zür, trat wieder in das Betzimmer, öffnete bas Fenfter, nahm 
feinen Stod, ftopfte das Silberzeug in feinen Iornifter, warf 
den Korb fort, fprang in den Garten, feste über die Mauer 
wie ein Tiger und floh. 


10. Der Bifhof beider Arbeit 


Bei Sonnenaufgang erging fih Monfignore Bienvenu in 
feinem Garten. Frau Magloire Fam in höchſter Aufregung ber- 
beigeeilt. 

„Monfignore, rief fie, ‚willen Sie, wo der Korb mit ben 
Silberſachen iſt?“ 

„Ja.“ 

„Gelobt ſei Jeſus Chriſtus!“ rief ſie, „ich wußte nicht, wo er 
hingekommen war.“ 

Der Biſchof hatte den Korb auf einem Beet liegen geſehen. 
Er deutete darauf. 


86 


„Da ift er,‘ 

„Leer! Und das Silber?’ 

„Ab, Sie meinen das Silber? Ich weiß nicht, wo es iſt.“ 

„Großer Gott, geftohlen! Der Mann von geftern hat es ge- 
ſtohlen!“ 

Mit der ganzen Behendigkeit einer flinken Alten ſtürzte Frau 
Magloire in das Gebetzimmer, lief in den Alkoven und kehrte 
zurück. Der Bifchof hatte ſich über eine Staude gebeugt, die von 
dem Korb gefnickt worden war, und betrachtete fie feufzend. Auf 
Frau Magloires Gefchrei wandte er fih um. 

„Monfignore, der Mann ift fort! Unfer Silber ift ge- 
ſtohlen.“ 

Während ſie noch ſchrie, bemerkte ſie in der Ecke des Gartens 
ein abgebröckeltes Mauerſtück. 

„Seben Sie, da ift er hinübergeklettert. Er iſt in die Nue 
Cochefilet gefprungen. Diefe Miedertracht! Unfer ganzes Silber 
geſtohlen!“ | 

Der Bifchof fchwieg einen Augenblid, dann fab er Frau 
Magloire ernft an und fagte fanft: 

„Bear es denn unfer Silber?” 

Frau Magloire war fprablos. Mad einer kurzen Pauſe fuhr 
der Bifchof fort: 

„Frau Magloire, zu Unrecht babe ich diefes Silber folange 
bei mir behalten. Es gehörte den Armen. Wer war denn jener 
Mann? Ein Armer gewiß doch.’ 

„Ab, Herr Jeſus!“ rief Frau Magloire, ‚ich fag es ja 
nicht um meinetwillen oder wegen des Fräuleing, uns fann es 
ja recht fein, aber wie wollen Biſchöfliche Gnaden denn jet 
eſſen?“ 

Verwundert ſah ſie der Biſchof an. 

„Ach, als ob es nicht Beſtecke aus Zinn gäbe!“ Frau Ma— 
gloire zuckte die Achſeln. 

„Zinn riecht.“ 

„Gut, dann nehmen wir Eiſen.“ 

Frau Magloire ſchnitt ein Geſicht. 


87 


„Eifen ſchmeckt.“ 

„Auch recht,” fagte der Bifchof, ,alfo Holz. 

Einige Augenblicke fpäter frühftücte er an demfelben Tifb, 
an dem geftern abend “Sean Daljean gefeflen hatte. Seine 
Schwefter fagte Fein Mort, Frau Magloire murrte dumpf. 
Monfignore DBienvenu machte die beiden darauf aufmerffam, 
daß er nicht einmal einen Holzlöffel oder eine Holzgabel be- 
nôtigte, um fein Brot in die Milch zu ftippen. 

„fo was fagt man dazu?” murrte Frau Magloire im Hin- 
undhergeben, „ſo einen Menſchen nimmt man in fein Haus 
auf! So einen läßt man im Mebenzimmer fhlafen! Ein Glüd, 
daß er nur geftoblen hat. Die Deine zittern einem, wenn man 
nur daran denkt.“ 

As Bruder und Schwefter vom Tifh aufftanden, wurde an 
die Züre geflopft. 

„Herein!“ fagte der Biſchof. Es wurde geöffnet, und eine 
ſeltſame Gruppe von Menfhen drängte fih über die Schwelle. 
Drei hielten einen vierten am Kragen gepadt. Es waren Gen- 
darmen. Der vierte war Sean Baljean. Ein Wachtmeifter, der 
die Truppe zu führen fehien, trat vor. 

nMonfignore . . ., begann er. 

Ber diefem Wort blickte Sean Valjean, der düfter und nieder- 
gefchlagen fchten, auf. 

Der Bifchof trat, fo rafh es ihm fein hohes Alter erlaubte, 
näher. 

„Ach, da find Sie ja,” fagte er zu Sean Valjean, „das ift 
mir lieb, Sie zu fehen. Ich hatte Ihnen doch aud die Leuchter 
gegeben, die filbernen, wiffen Sie, damit Sie zweihundert Fran- 
fen befommen follten, worum haben Sie die Befterfe genommen 
und die Leuchter hier gelaffen?’ 

Sean Valjean fchlug die Augen auf und fab den ehrwürdigen 
Bifhof mit einem Ausdrud an, den Feine menfblibe Sprache 
wiederzugeben vermöchte. 

„Monfignore,” vief der MWachtmeifter, „ſo wäre alfo wahr, 
was der Mann fagte? Wir trafen ihn, und er fab aus wie einer, 


88 





der etwas auf dem Kerbholz bat. Wir hielten ibn an und durd- 
fuchten ihn. Da fanden wir diefe Silberſachen.“ 

„Und er bat Ihnen gefagt,” unterbrach der Bifchof Tächelnd, 
„daß er fie von einem alten Priefter geſchenkt befommen bat, 
bei dem er die Nacht verbrachte. Ich verftehe. Darum haben 
Sie ihn hergeführt. Es ift ein Mißverſtändnis.“ 

„Und demnach können wir ihn wieder gehen laflen?’ fragte 
der Wachtmeiſter. 

„Gewiß.“ 

„Du kannſt gehen“, ſagte einer der Gendarmen zu Jean 
Valjean. „Biſt du taub?“ 

„Halt,“ rief der Biſchof, „bevor Sie geben . . . die Leuch— 
ter!“ Er trat an den Kamin, nahm die beiden Silberleuchter 
und reichte ſie Jean Valjean. Wortlos, ſtarr, ſahen ihm die 
beiden Frauen zu. 

Jean Valjean zitterte an allen Gliedern. Mechaniſch griff 
er nach den beiden Leuchtern. 

„Und jest gehen Sie in Frieden“, ſagte der Biſchof. „„Übri- 
gens, wenn Sie wiederkommen, mein Freund, brauchen Sie 
nicht durch den Garten zu gehen. Sie können immer die 
Straßentüre benützen, ſie iſt Tag und Nacht unverſperrt.“ 

Die Gendarmen zogen ſich zurück. 

Noch immer ſtand Jean Valjean da wie ein Menſch, der 
ohnmächtig wird. Der Biſchof trat nahe zu ibm und ſagte leiſe: 

„Vergeſſen Sie niemals, daß Sie mir verſprochen haben, 
Sie wollten dieſes Geld dazu verwenden, ein anſtändiger 
Menſch zu werden.“ 

Jean Valjean konnte ſich nicht erinnern, etwas Derartiges 
verſprochen zu haben, aber er blieb ſtill. Der Biſchof hatte mit 
Nachdruck geſprochen. Feierlich fuhr er fort: 

„Jean Valjean, mein Bruder, Sie gehören nicht mehr dem 
Böſen, ſondern dem Guten. Ich kaufe Ihre Seele. Ich entziehe 
Sie den ſchwarzen Gedanken und dem Geiſt der Verderbnis 
und überantworte Sie Gott!“ 


89 


DrittesBuch 


Im Jahre 1817 


1. Ein Doppelquartett 


Sm Sabre 1817 lieferten vier junge Parifer „einen famofen 
Streih”. 

Bon diefen vier Parifern war einer aus Touloufe, der an- 
dere aus Timoges, der dritte aus Cabors und der vierte aus 
Montauban; aber alle vier waren Studenten, und wer in Paris 
ftudiert, ift ein Parifer von Geburt. 

Diefe vier jungen Leute waren unbedeutend; Gefichter, wie 
man ihnen auf der Straße begegnet; weder gut noch fchlecht, 
weder Élug noch dumm, Feine Genies, aber auch Feine ausgemach- 
ten Zröpfe; hübſche Kerle, wie fie der April des Menfchen- 
lebens, bas zwanzigfte Lebensjahr, hervorbringt. 

Sie hießen Felir Iholomyes aus Touloufe, Liftolier aus 
Cabors, Sameuil aus Limoges und enblih DBlachevelle aus 
Montauban. Natürlich Hatte jeder feine Geliebte. DBlachevelle 
die Favourite, die fo genannt wurde, weil fie in England ge- 
wefen war, Liftolier die Dahlia, die einen Blumennamen zum 
nome de guerre gewählt hatte, Sameuil Zephine — der Name 
ift eine Abfürzung aus Joſephine; Tholomyès endlich Fantine, 
die Blonde geheißen wegen ihrer fhônen, goldblonden Haare. 

Favourite, Dahlia, Zephine und Fantine waren vier reizende, 
frifhe, fröhlihe Geſchöpfe, noch immer ein wenig Arbeiter- 
mädchen, denn fie hatten die Nadel nod nicht ganz weggeworfen, 
wohl fchon ein wenig dur ihre Liebfehaften aus der Bahn ge- 
fhleudert, aber noch mit einem Reſt jener Heiterfeit und Ehr- 
barfeit im Antlis und im Wefen, die bei den Frauen den erften 
Fall überdauert. Eine unter den vieren wurde die unge ge- 
nannt, weil fie die jüngfte war, eine andere die Alte; die Alte 
zählte dreiundzwanzig Jahre. Es fol nicht verfchwiegen werden, 
daß die drei anderen erfahrener, leichtfinniger, ja fogar leicht- 


90 


fertiger waren als die blonde Fantine, die ihre erften Illuſionen 
nod nicht überwunden hatte. 

Das hätte man von Dahlia, Zephine und vor allem von Fa- 
vourite wohl nicht behaupten können. Sie hatten jede in ihrem 
jungen Lebensroman fon manche Epifode hinter fi, und der 
Liebhaber, der im erften Kapitel Adolphe hieß, war im zweiten 
ein Alphonfe und im dritten ein Guftave. Armut und Eitelfeit 
find zwei fchlimme Ratgeber; der eine drängt, der andere lot; 
und da ift Fein bübfhes junges Mädchen aus dem Volke, das 
nicht beiden Gehör fhenfte. Diefe ſchlechtbewachten Seelen find 
empfänglich. Daher rührt mander Sündenfall, daher mancher 
Stein, der nach jenen Geſchöpfen geworfen wird. 

Favourite war in England gewefen und wurde darum von 
Zephine und Dahlia bewundert. Frühzeitig hatte fie es zu einer 
eigenen Wohnung gebracht. Ihr Dater war ein alter, brutaler 
Mathematiflehrer, der in jungen jahren einmal gefehen hatte, 
wie bag Kleid einer Rammerjungfer an einem Kaminvorfas 
hängenblieb; darüber war er in Glut geraten, und fo war Fa- 
vourite entftanden. Zumweilen traf fie ihren Dater auf der 
Straße, und er grüßte fie fogar. Eines Morgens empfing fie 
den Beſuch einer alten Frau, die wie eine DBetfchwefter ausfah. 

„Sie Éennen mich wohl nicht, Fräulein?“ 

„Stein. 

„Ich bin deine Mutter.’ 

Die Alte warf fih auf den Speifefhranf, af und trank, ließ 
eine Matrañe holen und blieb da. Diefe Mutter, eine mürrifche 
und frömmlerifche Perfon, fprad niemals mit Favourite, aß 
für vier, hielt mit dem Dortier vertraute Freundfhaft und 
ſprach ſchlecht von ihrer Iochter. 

Mas Dahlia zu Liftolier getrieben hatte — es hätte auch ein 
anderer fein Eönnen — , kurz zur Untätigfeit, war nichts weiter, 
als daß fie allerliebfte, rofige Fingernägel hatte. Wie follte fie 
da arbeiten? Wer tugendhaft bleiben will, darf feiner Hände 
nicht achten. 

Und was Séphine betrifft, fo hatte fie es Famenil angetan 


91 


mit ihrer fhelmifhen und fhmeidlerifhen Art zu fagen „Ja, 
mein Herr!’ 

Die jungen Leute waren Kameraden, die Mädchen Freun- 
dinnen. Solche Liebe hält mit folder Freundſchaft Nach— 
barſchaft. 

Tugend und Philoſophie ſind verſchiedene Dinge; Favourite, 
Zephine und Dahlia waren philoſophiſch veranlagt, Fantine 
tugendhaft. 

Tugendhaft? Und Iholomyes? Salomon würde fagen, daß 
die Liebe ein Zeil der Tugend ift. Und wir wollen nur bemerfen, 
daß es ja Santines erfte Liebe war, eine uneingefehränfte, freue 
Liebe. 

Santine war aud die einzige von den vieren, die fi nur von 
einem duzen ließ. 

Sie ftammte aus den Tiefen der Gefellfhaft. Sie war aus 
der undurchbringlien Sinfternis der fosialen Miederungen ber- 
vorgegangen und trug gewiflermaßen das Mal der Anonymität 
auf der Stirn. In Montreuil fur Mer war fie geboren, von 
welchen Eltern, wußte niemand zu fagen. Weder Vater noch 
Mutter waren befannt. Sie hieß Fantine, hatte niemals einen 
anderen Namen gehabt. Zur Zeit ihrer Geburt berrfhte noch 
bas Direktorium. Einen Familiennamen hatte fie nicht, weil es 
ihr an Familie gebrach, an einem Taufnamen fehlte es ihr, weil 
damals nicht getauft wurde. So befam fie den Namen, den ihr 
der erfte befte beilegte, bem die Kleine barfuß auf der Straße 
in den Weg gelaufen war. Sie befam ihren Namen, wie ein 
Megentropfen auf den Kopf fallt. Man nannte fie die Fleine 
Santine; mehr wußte man nicht darüber. Diefes Menſchenkind 
war eben fo auf die Welt gekommen. 

Mit zehn fahren verließ Fantine die Stadt und nahm bei 
einem Bauern Dienft. Fünfzehnjährig Fam fie nah Paris, um 
bas Glü zu ſuchen. Sie war bübfh und blieb rein, folange fie 
fonnte. Eine bübfhe Blondine mit fohönen Zähnen. Gold und 
Perlen waren ihre Mitgift, Gold auf dem Kopf und Perlen 
im Munde. 


92 


um zu leben, 


Ù 


Mit ihren Händen erwarb fie fi) ihr Brot 
liebte fie fchließlich, denn aud bas Herz ift hungrig. Sie liebte 


Tholomyès. 


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er war für ſie 
denen 


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liebenswürdiger Zeitvertreib 
iefe Straßen des Quartier Lat 


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es von Studenten und Gr 


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fetten wimme 


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irr des Pantheon 


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diefes Furzen Traums 





[43 


hügels, wo fo viele Abenteuer beginnen und enden, war Santine 


Tholomyès lange davongelaufen, aber fie hatte es fo e 


ingerichtet, 


93 


daß fie ihn immer wieder traf. Es gibt eine Art zu meiden, die 
dem Suchen gleicht. Kurz, die Idylle Fam zuftande. 

Blachevelle, Liftolier und Fameuil bildeten eine Gruppe, an 
deren Spitze Tholomyes ftand. Er war gemwiffermaßen der Kopf. 

Kein ganz junger Student mehr; und noch dazu reich, denn 
er hatte viertaufend Franken Rente zu verzehren, ein Einfom- 
men, das rings um Sainte Geneviève für fplendid gelten kann. 
Iholomyes war ein Lebemann von dreißig Sahren und nicht 
allzu gut erhalten. Er hatte Falten und ſchlechte Zähne. Auch 
die Haare gingen ihm aus, und er felbft fagte ohne allzu große 
Zrauer: Mit dreißig eine Slate, mit vierzig Éabl. Auch feine 
Verdauung war mangelhaft, und fein Auge tränte. Aber im 
Ausmaß, in dem feine Jugend erlofh, entzündete fi) feine 
Heiterkeit; er erfeßte die Zähne durch Späße, die Haare durch 
vergnügte Einfälle, die Gefundheit burd Ironie; und fein trä- 
nendes Auge lachte ohne Unterlaß. Er war bereits entblättert 
und ftand doch no in Blüte. Seine Jugend machte ſich vor- 
zeitig auf den Weg, aber fie trat fogufagen einen geordneten 
Rückzug an. Ein Stüd, bas er für das Vaudeville gefhrieben 
hatte, war abgelehnt worden. Bon Zeit zu Zeit fhrieb er Verſe. 
Auch verfchaffte es ihm eine gewifle Überlegenheit, daß er ein 
großer Zweifler war, was ja ſchwachen Köpfen immer gewaltig 
imponiert. 

Eines Tages nabm Tholomys die drei andern beifeite und fagte: 

„Es ift jeßt ein gutes Sahr, daß Fantine, Dahlia, Zephine 
und Favourite verlangen, wir follten ihnen eine Überrafhung 
bereiten. Wir haben es ihnen feierlich verfprochen. Jetzt be- 
fommen wir es immer zu hören, zumal ich. So wie in Meapel 
die alten Weiber dem heiligen Yanuarius zurufen: Faccia 
gialluta, fa un miracolo, Gelbgefiht, tu ein Wunder, ebenfo 
fagen unfere Schönen ohne Unterlaß: Iholomyes, wann kommt 
die Überrafhung? Nun, gleichzeitig befommen wir von unferen 
Eltern Briefe. Wir fisen zwifchen zwei Seuern. Der Fritifche 
Augenblid ift da, wir müflen etwas tun.‘ 

Iholomyes fenfte die Stimme und fagte geheimnigvoll etwas 


94 








ſo Luftiges, daß alle vier zu lachen begannen, und Blachevelle 
vergnügt ausrief: 

„Das ift eine Idee!“ 

Das Ergebnis war, daß in einer verräucherten Kneipe für 
nächſten Sonntag eine Tandpartie verabredet wurde, zu der die 
vier jungen Mädchen eingeladen werden follten. 


2. Dier und vier 


Mir können uns heute Faum mehr vorftellen, wie fi) vor 
fünfundzwanzig jahren fol eine Lanbpartie von Studenten 
und Grifetten abfpielte. Paris bat heute nicht mehr diefelbe 
Umgebung. Im letzten halben Jahrhundert hat fih rings um 
Paris alles verändert, und wo früher der Kuckuck rief, rattern 
jebt Waggons; wo die Poftkutfehe Érocb, fährt die Bahn, und an 
Stelle des Poftfehiffs ift der Dampfer getreten; für ung heute 
ift Fécamp, was damals Saint-Cloud war. 

Die vier Paare begingen gewiflenhaft alle Zorheiten, die da- 
mals bei Ausflügen aufs Land möglih waren. Die Ferien 
hatten eben begonnen, es war ein warmer, fonnenbeller Tag. Fa- 
vourite, die einzige, die fehreiben Eonnte, hatte im Namen der 
vier Frauen an Iholomyes gefehrieben: früh aufftehen ift fein. 
Darum waren auch fchon alle um fünf auf den ‘Beinen gewefen. 
Sie fuhren in der Poftfutfche nah Saint-Cloud, bewunderten 
den Waflerfall, der gerade troden lag, und meinten, er müfle 
doppelt fhôn fein, wenn Waſſer darin wäre. Dann frühftücten 
| fie in der QTete-Moire, leifteten fih eine Nundfahrt auf dem 
Teich, befuchten die Laterne des Diogenes, fpielten Roulette an 
der Bride von Sèvres, pflüdten in Putenur Blumen, Éauften 
in Neuilly Pfeifchen, aßen überall Apfelfuhen und waren 
befter Laune. | 

Um ganz glücklich zu fein, fehlte nur eine Fleine Widerwärtig- 
feit, etwa ein unvorbergefebener Regenguß; denn Favourite 
hatte, als man aufbrach, in belebrendem und mütterlihem Ton 
erklärt: 


95 


„Die Schneden Friechen über den Weg. Das bedeutet Negen, 
Kinder!” 

Iholomyes marfcdierte immer als leßter. Er war befter 
faune, aber man merkte, daß er regierte. Sein Hauptſchmuck 
waren Hofen mit „Elefantenbeinen“, Nanfinghofen mit Kupfer- 
ftegen. In der Hand fhwang er einen mächtigen Spazierſtock, 
der feine zweihundert Franken gefoftet haben mochte, und da er 
fi alles erlaubte, hielt er fogar fo ein neumobifhes Ding, eine 
Zigarre im Munde. hm war nichts heilig, er rauchte! 

Iholomyes ift grandios, fagten die andern voll Bewunderung. 
Diefe Hofen! Diefe Energie! 

Was Fantine angeht, fo war fie die reinfte Freude. Gott 
hatte ihr offenbar diefe prächtigen Zähne gegeben, damit fie 
lachen follte. Ihr Strobbüthen mit den langen, weißen Bän— 
dern trug fie lieber in der Hand als auf bem Kopf. hr dichtes, 
blondes Haar, bas ſich leicht auflöfte und immer wieder auf- 
gefteft werden mußte, hätte einer „Galatea auf der Flucht“ 
dienen können. Ihre rofigen Lippen sudten vor Lebendigkeit. Die 
finnlid gefhmwungenen Lippen, die einer alten Erigonemasfe 
nachgeahmt fchienen, mochten zu Kühnheiten herausfordern, 
aber die langen, befcheiden gefenften Wimpern wirften mil- 
dernd. Ihre ganze Toilette hatte irgend etwas Fröhliches, zu 
Gefang und Heiterkeit Anregendes; fie trug ein malvenfarbenes 
Baroͤgekleid, Eleine Goldkäferfchuhe, deren Bänder ein X auf 
die weißen ajourierten Strümpfe zeichneten, und einen Muffe- 
linfpenzer nah Morfeiller Art, der dort Canezou (ufammen- 
gezogen aus quinze und août, fünfzehnter Auguft) genannt wird, 
und diefer Name bedeutet, auf der Cannebière gefprocen, 
Ihönes Wetter, Sonne, Süden. Die andern drei Freundinnen, 
minder fhüchtern, wie wir fchon bemerften, waren tiefer aus- 
gefchnitten, und gerade im Sommer wirft der tiefe Ausſchnitt 
unter den großen, blumenbedecten Hüten anmutig und auf- 
munternd; aber der Canezou der blonden Santine, diefes durd- 
fihtige Kleidungsftück, bas fo viel verbirgt und doc wieder ver- 
rät, verheimliht und zugleich preisgibt, war eine Föftliche 


96 





Erfindung der Schüchternheit, und der berühmte Liebeshof der 
Vicomteſſe de Cette mit den grünen Meeraugen hätte gewiß 
diefem Kleidungsftüd, das doh auf Schambhaftigfeit Anfprud 
erhob, den großen Preis der Kofetterie zuerteilt. Die Naivität 
ift manchmal die größte Gefhidlihfeit, bas kommt vor. 

Santines Gefiht war ftrahlend und rein, ihr Profil fein, die 
Augen zeigten ein tiefes Blau; Eleine, gutgeformte Füße, pracht— 
voll angefeñte Gelenke, weiße Haut, die das Blau der Adern 
durchſchimmern Tieß, Eindlih frifhe Wangen, der Hals Fräftig 
wie jener der äginetifhen Juno, ein ftarfer, gefchmeidiger 
Maden, Schultern, die ein Couftou modelliert haben Fünnte, 
und in ihrer Mitte ein feines, dur den Muflelin erfennbares 
Grübchen; Heiterfeit durh Iräumerei gedämpft — bas war 
Santines Wefen; man ahnte unter diefen Bändern und Stoffen 
eine Statue, in diefer Statue eine Seele. 

Santine war ſchön, ohne es recht zu willen. Jene feltenen 
Träumer, die nur die Vollfommenbeit anerfennen wollen, hätten 
in diefer Éleinen Arbeiterin durch den Schleier der Parifer An- 
mut die heilige antife Harmonie erfhaut. Diefe Tochter des 
niedrigften Volkes hatte Raſſe. Sie war fhön auf doppelte 
Art, ſchön als Stil und als Rhythmus. 

Nachdem man fih auf der Rutſchbahn vergnügt hatte, mußte 
man ans Effen denfen; man war müde und hielt fehließlich 
feinen Einzug bei Bombarda, in jenem Reſtaurant, dag der be- 
rühmte Bombarda auf den Champs-Elyſées als Filiale feines 
Hauptgefhäfts in der Mue Mivoli an der Paſſage Delorme ein- 
gerichtet hatte. 

Tiſchgeſpräche und Liebesgeſpräche find gemeinhin ungegen- 
ſtändlich; die Neden DVerliebter möchte man mit den Wolken, 
die der Eſſer mit Maud vergleichen. 

Sameuil und Dahlia trällerten; Iholomyes trank, Zephine 
lachte, Fantine lächelte. Liftolier blies auf feiner Holztrompete, 
die er in Saint-Eloud erftanden hatte. Favourite beunrubigte 
Blachevelle mit zärtlichen Bitten und fagte: 


7 Hugo, Die Elenden. 97 


„Blachevelle, id bete did an!‘ 

Das ermunterte Blachevelle zu der Gegenfrage: 

Bas täteft du, Favourite, wenn ich dich nicht mehr liebte?“ 

‚Das folft du nicht einmal zum Spaß fagen!” rief Favou- 
rite. „Wenn du mich nicht mehr Tiebteft, Tiefe ich dir nach, würde 
dir die Augen ausfraben, did mit Waſſer begießen und suleñt 
ließe ich dich verhaften.” 

An Blachevelles Lächeln war zu erfennen, daß diefe Antwort 
feiner Eigenliebe wohl tat. 

„Ja,“ fagte Favourite, ‚ich würde die Polizei rufen! Nicht 
fhämen würde ih mich! Canaille!“ 

Blachevelle lehnte fih entzückt zurück und fhlof ſtolz die 
Augen. 

Dahlia flüſterte Favourite kauend zu: 

„Biſt du wirklich ſo verrückt in dieſen Blachevelle?“ 

„Widerlich iſt er mir“, ſagte Favourite ebenſo leiſe und nahm 
ihre Gabel. „Dieſer Geizkragen! Ich bin verliebt in den kleinen 
vis-à-vis, weißt bu, bu kennſt ibn doch? Er kehrt ſehr ben 
Schauſpieler heraus. Ich mag Schauſpieler gern leiden. Sooft 
er nach Hauſe kommt, jammert ſeine Mutter: Mein Gott, mein 
Gott, ſchon wieder hat man keine Ruhe! Gleich wird er zu 
ſchreien anfangen. Liebſter, Beſter, du bringſt noch meinen Kopf 
zum Zerſpringen! Er ſteigt nämlich immer bis zum Boden hin— 
auf, ſo hoch es nur irgend geht, und ſingt und deklamiert da 
oben, und weiß Gott was noch! Natürlich hört man ihn unten! 
Und er verdient zwanzig Sous täglich bei einem Anwalt mit 
Schreibarbeiten. Er iſt der Sohn eines alten Kantors von 
Saint⸗Jacques bu Haut-Pas. Ein feiner Burſche. Er vergöt— 
tert mich ſo ſehr, daß er eines Tages, als er mich Teig kneten 
fab, herüberrief: Mamſell, machen Sie Kuchen aus Ihren 
Handſchuhen, id werde fie eſſen! So etwas Nettes können doch 
nur Künſtler ſagen. Ein prächtiger Menſch. Ich bin auf dem 
beſten Wege, mich über die Ohren in ihn zu verlieben. Aber das 
iſt gleichgültig, darum ſage ich Blachevelle doch, daß ich ihn an— 
bete. Wie ich lieben kann, was?“ 


98 


Und nad einer Paufe fuhr fie fort: 

„Mir iſt recht elend, Dahlia. Den ganzen Sommer über bat 
es geregnet, und immer gab es Wind, obwohl ich Feinen Wind 
susftehen kann; Blachevelle ift furchtbar Enauferig. Auf dem 
Markt kann man nicht einmal Bohnen befommen, man weiß 
gar nicht mehr, was man auf den Tiſch bringen fol. Ich babe 
den Spleen, wie die Engländer fagen. Und die ‘Butter ift au 
nicht mehr zu bezahlen. Das Schredlichfte ift, daß wir in einem 
Zimmer effen, in dem ein Bett fteht. Das vergällt mir das 
ganze Leben.‘ 

Und jetzt wandte fie fih an Tholomyès und fragte energiſch: 

‚Bo bleibt die verſprochene Überraſchung?“ 

„Ach ja, jebt wäre e8 wohl an der Zeit. Meine Herren, die 
Stunde bat gefhlagen, die Damen follen ihre Überrafhung 
haben. Meine Damen, warten Sie einen Augenblif auf ung.’ 

„Vorher noch einen Kuß“, verlangte Blachevelle. 

„Auf die Stirn‘, mahnte Tholomyès. 

Jeder Eüßte feierlich feine Geliebte auf die Stirn, dann mar- 
chierten die vier Männer der Reihe nad) zur Türe hinaus, wo- 
bei fie die Zeigefinger vielfagend auf die Lippen legten. 

Favourite Flatfchte in die Hände. 

„Das fängt ja luftig an”, fagte fie. 

„Bleibt nicht zu lange weg, murmelte Fantine, ‚wir er- 


warten euch!” 


3. Luftige® Ende eines Scherzes 


As die jungen Mädchen allein geblieben waren, legten fie fic 
zu zweien in die Senfter, beugten fid) hinaus und begannen zu 


- plaudern. 


Sie fahen die jungen Leute aus dem Reſtaurant Bombarda 


Arm in Arm binaugmarfhieren; die vier wandten fit um, 


winften, lachten und verfchwanden in der ftaubbededten Menge 

der fonntäglihen Spaziergänger auf den Champs-Elyſées. 
„Bleibt nicht zu lange!” rief ihnen Fantine noch einmal nad. 
„Was fie uns wohl bringen wollen?’ fragte Zephine. 


| Wa 99 


„Gewiß etwas Hübſches“, meinte Dahlia. 

„Ich wollte, es wäre von Gold’, fagte Favourite. 

Bald waren fie von dem Treiben am Ufer ganz in Anfprud) 
genommen. Um diefe Zeit gehen dort die Poftkutfchen und Dili- 
gencen. Die Champs-Elyfees waren damals Ausgangspunft | 
aller Poftrouten nad) dem Süden und Weften; die meiften Dili- 
gencen folgten den Seinequais und fuhren durd bas Tor von 
Paſſy aus. Der Reihe na) raffelten diefe fhwarz-gelb Indierten 
mächtigen, fehwerfälligen, mit Gepñd überladenen und mit Men- 
ſchen vollgeftopften Gefährte in wilbem Galopp funfenfprühend 
und ftaubaufwirbelnd dahin. Der Lärm beluftigte die jungen 
Mädchen. Favourite rief: 

„Welch ein Getöfe! Als ob ein Bündel Ketten zerriffen würden!” 

Einmal hielt eine der Poftfutfhen, hinter den Ulmen ſchwer 
erkennbar, plößlih an und feste fih dann rafch wieder in Be— 
wegung. Santine wunderte fic. 

„Sonderbar,“ fagte fie, ‚ih dachte, die Poftfutfhen halten 
niemals auf der Strecke.“ 

Favourite zuckte die Achfeln. 

„Dieſe Fontine ift wirflih vom Mond gefallen. Ich bin 
immer neugierig, wenn ich fie befuche, man lernt nie aus. Die 
einfachften Dinge find ihr rätfelbaft. Wenn ic ein Neifender 
bin und zur Poft fage: ich geh’ ein wenig voraus, nehmen Sie 
mic drüben am Quai auf, nun, dann hält die Kutfche, wo fie 
mich gerade trifft, und läßt mich einfteigen. Das kommt doch alle 
Tage vor. Du Éennft wirflic bas Leben nicht, Liebling.’ 

So verging einige Zeit. Plötzlich fhien Favourite aus ihrer 
Nachdenklichkeit erwacht. 

‚Sun, und unfere Überrafhung?’ 

„Ja, wo bleibt die berühmte Überrofhung?!‘ rief Dahlia. 

„Sie find fon fo lange fort‘, fagte Fantine. 

Während fie auffenfzte, trat der Kellner, der ferviert hatte, 
ein. Er hielt etwas in der Hand, eine Sache, die einem Brief 
ähnlich fab. 

„Bas ift dag?‘ fragte Favourite. 


100 





„Ein Brief, den die Herren fürdie Damen zurückgelaſſen haben.‘ 

„Und warum haben Sie ihn nicht gleich gebracht?” 

„Beil die Herren befohlen hatten, ihn erft nach einer Stunde 
zu beſtellen.“ 





Favourite riß dem Kellner den Brief aus der Hand. 

„Keine Adreſſe!“ rief fie, „aber ja, da fteht etwas: Dies ift 
die Überraſchung!“ 

Sie erbrad den Brief, und da nur fie lefen Eonnte, las fie 
ihn vor: 


101 


„zeure Freundinnen! 


Miffet, daß wir Eltern haben. Was Eltern find, davon 
babt Ihr wohl Feine rechte DVorftellung. Im bürgerlichen 
Recht und im Ehrenfoder wird fo etwas Vater und Mutter 
genannt. Nun, diefe Eltern jammern, die alten Leutchen ver- 
langen nad) uns, diefe braven Männer und Frauen nennen 
ung verlorene Söhne, wollen, daß wir heimfehren, und maden 
ſich anheifchig, zu unferen Ehren ein Kälblein zu ſchlachten. 
Da wir tugendhaft find, folgen wir dem Befehl. Zur Zeit, 
ba hr dies lefet, bringen uns fünf madere Moffe zu Papa 
und Mama. Wir hauen ab, wie der Dichter fagt. Wir ver- 
duften — wir find fon verduftet! Die Zouloufer Poft reißt 
uns aus dem Abgrund — und diefer Abgrund feid hr, hr 
lieben Kleinen! Wir Éebren zurüd in die menfchliche Gefell- 
fhaft, zur Pflicht und Ordnung, und wir haben es febr eilig, 
machen drei Meilen in der Stunde. Das Vaterland will, daß 
wir, wie jeder andere anftändige Menfch, irgend etwas wer- 
den, Präfekten, Familienväter, Flurhüter oder Staatsräte. 
Blicket auf zu uns in Verehrung, denn wir find Männer, 
die fi zu opfern wiffen. Beweinet uns ohne Verzug, dann 
forgt für Erfas. Wenn diefer Brief Eure Herzen zerreißt, 
fo rächt Euch und zerreißt ihn. Lebt wohl! 

Zwei jahre lang haben wir Euch beglückt. Nichts für ungut! 

Blachevelle 
Fameuil 
Liſtolier 

Tholomyes 


P. S. Das Diner iſt bezahlt. — 


Die vier Mädchen fahen einander an. Favourite war es, Die 
bas Schweigen brad. 

„Das ift wenigftens einmal ein guter Witz!“ 

„Sehr ſpaßhaft“, meinte Zephine. 

„Das bat natürlich Blachevelle ausgeheckt“, vermutete Fa- 


102 


vourite. „Ich könnte mid in ibn verlieben. Kaum ift er weg, 
fo verliebe ih mich. So geht es.’ 

„Dein, meinte Dahlia, ‚die dee ift von Iholomyes. Un- 
verkennbar.“ 

In dieſem Falle — nieder mit Blachevelle! Und bob Tho— 
lomyès!“ rief Favourite. 

„Hoch Tholomyès!“ ftimmten Dahlia und Zephine ein. 

Sie lachten laut. Fantine lachte mit ihnen. 

Als fie aber eine Stunde fpäter nad Haufe Fam, meinte fie. 
Es war, wir fagten es fhon, ihre erfte Liebe gewefen; fie hatte 
fi) diefem Tholomyes mie einem Gatten gegeben, und das arme 
Mädchen hatte ein Kind. 


Viertes Buch 
Anbertraut — ausgeliefert 
l. Eine Mutter begegnet einer anderen 


Sm erften Viertel diefes Jahrhundert gab es in Montfermeil 
bei Paris eine Éleine Gaftwirtfhaft, die jet nicht mehr eriftiert. 
Sie wurde von den Eheleuten Ihenardier unterhalten und lag 
in der Muelle du Boulanger. Über der Tür war ein Brett an- 
gebracht, das irgendein Bild zeigte, etwas wie einen Mann, der 
‚einen anderen auf dem Rücken trägt, und biefer andere hatte 
ungeheure Generalgepauletten aus Gold und breite Silber- 
| fterne; rote Kleckſe ftellten das Blut dar; das übrige Gemälde 
| beftand aus Maud, und das Ganze bedeutete wohl eine 
Schlacht. Darunter fonnte man die Auffchrift fehen: 

Zum Sergeanten von Waterloo. 
Nichts ift gewöhnlicher als eine Fuhre oder ein Karren vor 
der Tür einer Herberge. Das Gefährt aber, oder beffer gefagt, 
\dag Bruchſtück von Gefährt, das vor der Kneipe „Zum 
| Sergeanten von Waterloo‘ an einem Frühlingsabend des 
Jahres 1818 ftand, hätte gewiß allein fhon burd feinen 


103 













Umfang die Aufmerffamfeit eines Malers auf fid gezogen, der 
da zufällig vorbeigefommen wäre. 

Es war das Vordergeftell eines Blockwagens, wie fie in be- 
waldeten Gegenden zum Transport von DBaumftämmen benußt 
werden. Diefes Geftell beftand aus einer mafliven Achſe aus 
Eifen, in die eine mächtige Deichfel geftedt war, und die von 
zwei riefenhaften Rädern getragen wurde. Das Ganze fab 
plump und mißfürmig aus. Man hätte fagen können, es fei das 
Sabrgeftell einer großen Kanone. 

Wozu ftand diefes Gefährt dort auf der Straße? Zunädft 
wohl, um den Verkehr zu hemmen, dann aber aud, um weiter- 
zuroften. In der alten fozialen Ordnung gibt es eine Unmenge 
von Dingen, die folhermaßen berumfteben und Feine weitere 
Dofeinsberehtigung haben als eben die, daß fie eben bebinder- 
lich find. 

Unter der Achſe hing eine Kette fo tief herab, daß fie faft bis 
zur Erde reichte, und in der Krümmung diefer Kette, wie auf 
einer Schaufel, faßen an diefem Abend zwei Eleine Mädchen, 
eines von etwa zweieinhalb jahren, dag andere, jüngere, viel- 
leicht achtzehn Monate; die Kleinere in den Arm der Größeren 
gelehnt. Ein gefhidt verfnotetes Tuch verhinderte, daß fie ber- 
unterfielen. Eine Mutter hatte diefe Kette gefehen und hatte 
gedacht: halt, bas ift ein Spielzeug für meine Kinder! 

Die beiden Kleinen waren nett und fogar etwas gewählt an- 
gezogen; ihre Augen Teuchteten, ihre frifhen Wangen ladbten; 
die eine war Faftanienbraun, die andere brünett. bre naiven 
Gefihter ftrablten Entzüden aus; ein Blumenbeet in der Nähe 
fandte einen Duft aus, der den Vorübergebenden von den bei- 
den Kindern zu kommen fhien. Die Kleine von achtzehn Mo- 
naten zeigte mit der Feufchen Unbefangenheit des frübeften Kin- 
des alters einen niedlichen Éleinen Pau. 

Einige Schritte abjeits ſaß auf der Schwelle der Herberge 
die Mutter, eine Frau von wenig einnehmendem Außern, die 
aber in diefem Augenbli immerhin etwas Nührendes an fi 
hatte; mittels eines langen Strids bradte fie die Kette zum 


104 








Schaufeln und überwachte babei ängftlih die beiden Kleinen 
mit jenem halb tierifchen, halb himmliſchen Ausdrud, der der 
Mutterfhaft eigentümlih ift. Bei jeder Bewegung Freifchten 
die Eifenringe gellend auf, die Éleinen Kinder jubelten, und die 
untergebende Sonne mifchte ihr Licht in all die Freude; es war, 
als ob diefe Laune des Zufalls eine Titanenfette in eine Gir- 
lande der Cherubim verwandelt hätte. 

Während die Mutter die Kleinen wiegte, fang fie eine da- 
mals berühmte Nomänze: 


„So muß es fein, jagt der Soldat . . .” 


Ihr Gefang und die Beobachtung der Kinder hinderte fie zu 
hören oder zu feben, was auf der Straße vorging. 

Inzwiſchen war, als fie die erfte Strophe jener Nomanze an- 
ftimmte, jemand näher getreten, und plößlic hörte fie knapp 
über ihrem Ohr eine Stimme. 

‚zwei hübſche Kinderchen haben Sie, Frau!” 

„. . . Zur fchönen, füßen Imogen“, fuhr die Mutter fort, 
wie es im Text wohl lautete; dann wandte fie fih um. 

Eine Frau ftand vor ihr. Auch fie Hatte ein Kind in den 
Armen. 

Überdies fchleppte fie einen recht umfangreichen Reiſeſack, der 
ziemlich ſchwer zu fein fohien. 

Das Kind diefer Frau war dag entzücfendfte Wefen, das man 
fi nur vorftellen Eonnte. Ein Mädchen von zwei oder drei 
Sahren. Und nicht weniger Fofett herausgepußt wie die beiden 
andern Kleinen. Es trug ein Häubchen aus feinem Linnen, war 
mit Bändern und Spitzen geſchmückt. Das Kleidchen war zurüd- 
gefhoben und lief die weißen, prallen, wohlgeformten Schenfel 
feben. Das Gefiht war rofig und verführerifh. Die Kleine 
verlodte den Beſchauer, fie anzubeißen wie einen Apfel. Don 
ihren Augen Éonnte man nur fehen, daß fie febr groß fein muß— 
ten und ſchöne Liber zeigten; denn fie fchlief. 

Sie fchlief den ungeftörten Schlaf ihres Alters. Mutterarme 
find Zärtlichkeit; Kinder fchlafen darin tief. 


105 


Mas die Mutter betraf, fo mate fie einen ärmlihen und 
traurigen Eindrud. Gefleidet war fie wie eine Arbeiterin, die 
wieder Bäuerin werden will. Sie war jung. War fie auch ſchön? 
Vielleicht, aber in diefer Kleidung Fam es nicht zur Geltung. 
Ihr Haar, von dem nur eine blonde Tode fihtbar war, ſchien 
fehr dicht, aber es war forgfältig unter einer Art Nonnenhaube, 
die am Kinn zufammengebunden war, verborgen. Schöne Zähne 
kommen nur beim Laden zum Vorſchein, und diefe Frau fchien 
nicht frôblit geftimmt. Es war, als ob ihre Augen nod nicht 
lange troden wären. Sie war blaß, fab müde und fränflid 
aus. An der Art, wie fie das fchlafende Kind in ihren Armen 
anfah, war zu erkennen, daß fie es felbft genährt hatte. Um ihre 
Hüften hatte fie ein breites, blaues Tuch, wie es die nvaliden 
gebrauchen, gefblungen. Sie hatte fonnenverbrannte, mit Som- 
merfproffen bedefte Hände, und der Zeigefinger der Rechten 
war hart und zerftohen; ein brauner Mantel aus difer Wolle 
und ein LeinenÉleid war ihre Bekleidung. 

Es war Fantine. 

Kaum war fie zu erfennen. Mur wenn man näher zufah, 
Eonnte man bemerfen, daß fie immer noch ſchön war. Eine trau- 
rige Falte, die wie einer erften ironifhen Regung entfprungen 
fhien, durdfehnitt die rehte Wange. Von der luftigen Muffe: 
linEleidung und den Bändern, die früher ihre Heiterkeit, ihre 
Marrbeit und Luft zu fingen zum Ausdrud gebradt hatten, war 
jest nicht mehr zu bemerfen als von jenen Iautropfen, die in 
der Sonne wie Diamanten glisern, aber bald verdunften und 
den fchwarzen Zweig bervortreten laflen. 

Zehn Monate waren feit jenem „guten Scherz‘ verftrihen. 

Mas hatte ſich inzwifchen zugetragen? 

Man errät es. Einfamfeit. Not. Fantine hatte Favourite, 
Zephine und Dahlia bald aus dem Geficht verloren; fobald bas 
Band geriffen war, bas jene Männer um fie gefhlungen, waren 
fie augeinandergelaufen, und vierzehn Tage fpâter wären fie 
fehr verwundert gewefen, wenn man ihnen gejagt hätte, fie feien 
Freundinnen: das war jest überflüffig. 


106 








Santine war allein geblieben. 

Der Vater ihres Kindes war fort, denn ad, ein folder Bruch 
pflegt ja unwiderruflid zu fein... alfo war fie vollends ver: 
einfamt, allein mit ihrer verringerten Arbeitsluft und ihrer ge 
fteigerten Freude am Vergnügen. Durd die Verbindung mit 
Tholomyes hatte fie fih daran gewöhnt, das fhlichte Gewerbe, 
das fie auszuüben verftand, zu verachten, und hatte ihre Ver— 
dienftmöglichfeiten vernadläffige. Nun war feine Hilfe zu er- 
hoffen. Santine konnte faum lefen und nicht fhreiben. Man 
hatte ihr in ihrer Kindheit nur beigebracht, ihren eigenen Namen 
aufs Papier zu fesen. So ließ fie dur einen ôffentliben 
Schreiber einen Brief an Tbolomnès richten, fpäter einen 
zweiten und nod einen dritten. Iholomyes hatte nidt geant- 
wortet. Eines Tages hörte Fantine einige Frauen über ihr 
Töchterchen fagen: 

„Nimmt man folbe Kinder ernft? Man fann nur die 
Achſeln zucken.“ 

Damals war ihr Tholomyeg eingefallen, der auch die Achſeln 
zudte und biefes Éleine, unfchuldige Lebewefen nicht ernft nehmen 
wollte. Da dachte fie ſchlecht von ibm. 

Aber was folte fie tun? Sie wußte fid Éeinen Mat. Sie 
batte einen Fehltritt begangen, aber im Grunde ihres Herzens 
war fie fhambaft und tugendhaft. Sie begriff ungefähr, daß fie 
dem Elend und der Schmad verfallen müffe. Sie mußte fid) 
ein Herz faffen, und fie tat es. hr Fam der Gedanke, na ihrer 
Baterftadt, Montreuil fur Mer, zurüdzufehren. Vielleicht 
würde fie dort einen Bekannten finden, der ihr Arbeit ver- 
fhaffte. Allerdings... fie mußte ihren Fehltritt verbergen. Es 
wurde ihr allmählih Élar, daß fie fih zu einer zweiten, nod 
härteren Trennung werde verftehen müflen. hr Herz zudte 
gufammen, aber fie rang ſich durch. Fantine befaß, wie der Lefer 
finden wird, einen wilden Lebensmut. Schon hatte fie jeglichem 
Schmuck entfagt, hatte fi in einen gefleidet und all ihre 
Seide, ihre Stoffe, Bänder, Spisen dem Kinde, der einzigen 
Eitelkeit, die ihr verblieben war, gefhentt. Sie verfaufte ihre 


107 


fleine Habe und löfte dafür zweihundert Franfen ein; nadbem 
fie ihre Eleinen Schulden bezahlt hatte, blieben ihr etwa adıtzig. 

Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, als fie an einem fchönen 
Srühlingsmorgen Paris verließ und ihr Kind auf dem Miden 
aus der Stadt binaustrug. Wer die beiden fo gefehen hätte, 
wäre gewiß einer Regung des Mitleids zugänglich gewefen. 
Diefe Frau befaß nichts auf der Welt als diefes Kind und die- 
fes Kind nichts als diefe Frau. Fantine hatte das Kind genährt, 
davon war ihre Bruſt efwas ermüdet, und fie buftete Leicht. 

Mir werden Feine Gelegenheit mehr haben, von Felir Tho— 
lomyes zu fprechen. Begnügen wir ung zu fagen, daß er zwanzig 
Jahre fpäter unter Louis Philippe ein angefebener Provinz- 
advofat war, einflußreic und begütert, ein verftändiger Wähler 
und fehr ftrenger Gefehworener; und aud dann noch ein Lebe— 
mann. 

Gegen Mittag war Fantine, nachdem fie eine Strede in den 
fogenannten Kleinfuhren für Paris und Umgebung, zu vier 
Sous die Meile, zurüdgelegt hatte, in Montfermeil eingetrof- 
fen. Als fie an der Herberge der Ihenardier vorüberfam, hatten 
die beiden Eleinen Mädchen, die fih auf ihrer Kette ergößten, 
Santines Aufmerkſamkeit erregt, und fie war vor ihnen wie vor 
einer Vifion der Freude ftehengeblieben. Tief gerührt betrachtete 
fie die beiden. Wo Engel find, Fann das Paradies nicht fern 
fein. Sie glaubte, auf dem Schild der Herberge bas gebeimnis- 
volle „Hier ift es!” der Vorfebung zu feben. Gewiß waren biefe 
beiden Kinder glücklich. Fantine hatte fie mit Bewunderung und 
Zärtlichkeit betrachtet und Fonnte fih nicht enthalten, in einem 
Augenbli, da die Mutter zu einem neuen Ders anfekte, zu 
fagen: „Zwei hübfche Kinderchen haben Sie, Frau!” 

Selbft die roheften Kreaturen find entwaffnet, wenn man 
ihre Kinder rühmt. Die Mutter bob den Kopf, dankte und Iud 
die Fremde ein, auf der Bank Plat zu nehmen. Sie felbft blieb 
auf der Schwelle fißen. 

„Ich bin Grau IThenardier”, fagte fie. „Wir betreiben bier 
diefe Gaſtwirtſchaft.“ 


108 








Dann fummte fie wieder einen Vers ihrer Romanze: 


„Bin ein Mitter, muß wohl ziehn 
Sern nach Paläftina Hin..." 


Diefe Frau Thénardier war eine rothaarige, fleifchige, plumpe 
Perfon, ein rechtes Soldatenweib in ihrer mangelhaften Grazie. 
Seltfam, fie liebte es dabei, fit zu zieren — eine Meigung, 
die fie offenbar fleißiger Romanlektüre verdanfte. Sie ver- 
Ihlang alte Bücher, und die bringen ja oft eine folhe Wirkung 
zuſtande. Übrigens war fie noch jung, kaum dreißig Sahre. Wenn 
fie, die da gebückt faf, aufgeftanden wäre, hätte ihre Rieſen— 
geftalt, die fih auf einem Jahrmarkt hätte feben laflen Fönnen, 
die Meifende gewiß in Angft verfeßt und ihr Zutrauen vermin- 
dert: fo daß, was wir eben zu erzählen im Begriffe find, nie- 
mals zuftande gefommen wäre. Ob ein Menfch fist oder auf- 
recht fteht, an folhe Dinge Fnüpft fih manchmal ein Schidfal. 

Die Meifende erzählte ihre Gefchichte, nicht ohne einige 
Änderungen an ihr vorzunehmen. Sie fei Arbeiterin, ihr Mann 
geftorben. In Paris gäbe es Feine Arbeit, und darum wolle 
fie es anderswo verfuchen, zum DBeifpiel zu Haufe; fie ſei heute 
morgen zu Fuß von Paris weggegangen, aber da fie das Kind 
getragen habe, fei fie bald müde geworden und in den Wagen ge- 
ftiegen, dem fie auf dem Wege nach Villemomble begegnet fei; 
von Villemomble fei fie zu Fuß nah Montfermeil berüber- 
gegangen. Die Kleine fei ein wenig gelaufen, aber nur eine 
kurze Strede, und fie fei ja noch fo jung, dann babe fie fie wie- 
der auf den Arm nehmen müffen. est fei der Schatz ein- 
geſchlafen. 

Darüber küßte ſie das Mädchen ſo leidenſchaftlich, daß es 
erwachte. Das Kind ſchlug die Augen auf, große, blaue Augen, 
die denen der Mutter glichen, und ſah um ſich. Was es ſah? 
Nichts, alles — und mit dieſem ernſten, faſt ſtrengen Blick 
kleiner Kinder, der das Geheimnis ihrer ſtrahlenden Unſchuld 
unſeren dämmernden Tugenden gegenüberſtellt. Man möchte 
ſagen, ſie wüßten, daß ſie Engel ſind, wir aber Menſchen. 


109 


Enblid begann die Kleine zu lachen, und obwohl die Mutter 
fie zurückhielt, glitt fie zur Erde herab mit der unzähmbaren 
Energie eines jungen Wefens, bas laufen will. Sie bemerfte 
die beiden Kleinen auf ihrer improvifierten Schaufel, blieb 
ftehen und fperrte, untrügliches Zeichen der Bewunderung, den 
Mund auf. 

Mutter Thénardier band ihre Mädchen Los, ließ fie von der 
Schaufel berabfteigen und fagte: 

„Spielt, ihr drei!” 

In diefem Alter werden Sefanntfhaften rafh gefbloffen; 
Feine Minute war vergangen, da waren die Éleinen Thénardierg 
bereits mit der neuen Freundin in dem febr ernfthaften DBe- 
fireben vereint, Löcher in die Erde zu kratzen, mobei fie ſich aufs 
befte zu amüfieren fhienen. 

„Wie heißt die Kleine?’ fragte inzwifchen Frau Thénardier. 

„Coſette.“ 

Coſette ... bas heißt, eigentlich hieß fie Euphraſie. Aber aus 
Euphrafie hatte die Mutter Eofette gemacht mit jenem an- 
mutigen Inſtinkt der Mütter und des Volkes, der aus Joſepha 
Pepita und aus Francçoiſe Sillette mabt. Das find Ableitun- 
gen, die geeignet find, die ganze Etymologie auf den Kopf zu 
ftellen. Ich babe eine Großmutter gefannt, die es zumege 
brachte, aus Iheodore Gnon zu machen. 

„Wie alt ift fie?‘ 

„Bald drei fahre.‘ 

„Wie meine Älteſte.“ | 

Inzwiſchen hatten fich die drei Éleinen Mädchen in der Hal- 
tung tiefer Beforgnis und doch zugleich beglüdender Spannung 
zufommengedrängt; irgend etwas war paffiert. Ein dicker Regen— 
wurm Fam aus der Erde gefrodhen. Sie fürdteten fid und 
waren doch entzüct. | 

„Ad diefe Kinder!” rief Mutter Ihenardier, „wie rafch die 
einander Éennen! Wenn man fie fo fieht, möhte man doch 
fhwören, daß es drei Schweftern find!‘ 

Dies Wort war der Funke, auf den die andere gewartet zu 


110 





haben fien. Sie nabm die Hand der Frau Thénarbdier, jah ihr 
feft ins Auge und fragte: 

„Wollen Sie mein Kind bei fit behalten?” 

Srau Tbénardier antwortete mit einer Gebärde des Er- 
ftauneng, die weder Einwilligung noch Ablehnung bedeuten 
mußte. 

Die Mutter Cofettes fuhr fort: 

„Sehen Sie, id Éann die Kleine nicht mitnehmen. Die 
Arbeit erlaubt es nit. Mit einem Kind findet man feine Be— 
ihäftigung. Bei uns zu Haufe find die Leute fo Éomifh in diefer 
Beziehung. Der liebe Gott bat mic zu Ihrer Herberge geführt. 
As ich Ihre bübfhen, fauberen Kinderchen fab, denen es offen- 
fihtlih fo gut geht, babe ich gleich biefes Gefühl gehabt, und 
habe mir gedaht: Das muß eine gute Mutter fein. Wirklich, 
die drei könnten Schweftern fein. Und dann fomme id ja aud 
bald wieder. Wollen Sie mein Kind folange behalten?‘ 

„Man müßte fih’s überlegen”, meinte Frau Ihenardier. 

„Ich würde febs Franken monatlich geben. 

Vebt wurde aus der MWirtsftube eine Männerftimme hörbar. 

„Sicht unter fieben Franken! Und fehs Monate voraus- 
bezahlt!“ 

„Sechs mal ſieben wären zweiundvierzig ...“, meinte Frau 
Thénardier. 

„Das werde ich geben“, ſagte die Mutter. 

„Und fünfzehn Franken Anzahlung für die erften Anfchaf- 
fungen‘, ließ die Männerftimme fi vernehmen. 

„Das wären zufammen fiebenundfünfzig Franken‘, fuhr 
Srau TIhenardier fort. Mitten in ihre Berechnung hinein aber 
fummte fie ihr: 

„So muß e8 fein, fagt der Soldat...” 

„Ich werde es bezahlen‘, fagte die Mutter. „Ich babe achtzig 
Sranfen. Mir bleibt no ein Reſt, um nah Haufe zu fom- 
men... wenn ich zu Fuß gebe. Wenn ic zu Haufe Geld ver- 
dient babe, Éomme id wieder und befuche meinen Sat. 

Die Männerftimme fragte von neuem: 


111 


„Iſt denn die Kleine ausgeftattet?/! 

„Es ift mein Mann‘, fagte Frau Ebénardier. 

ber gewiß bat fie eine Ausftattung, der Eleine Sas. 
Ich hatte e8 mir gleich gedacht, daß es Ihr Mann wäre. Und 
eine fhöne Ausftattung fogar, alles dutzendweiſe! Seidenfleider 
wie eine Dame. Alles habe id hier in meinem Reiſeſack.“ 

„Sie müflen es ihr hierlaffen‘‘, antwortete die Männerftimme. 

„Gewiß laſſe ich e8 ihr hier’, erwiderte die Mutter. , Das 
wäre doc zu foll, wenn ic) mein Kind nadt Tiefe!’ 

Jetzt wurde der Hausherr fichtbar. 

„Gut“, fagte er. 

Man wurde banbelgeinig. Die Mutter verbrachte die Nacht 
in der Herberge, erlegte das Geld, ließ das Kind zurück und 
machte fi am nädhften Morgen mit ihrem fchlaff gewordenen 
Reiſeſack wieder auf den Weg. 

Eine Nachbarin der Ihenardier begegnete ihr, als fie aus 
dem Ort hinausging, und erzählte fpäter: „Ich fab diefe Frau 
weinen, daß es zum Steinerweichen war.’ 

Der Wirt aber fagte zu feiner Frau, als Cofettes Mutter 
gegangen war: 

‚Sun werde ich die hundertzehn Franken doch bezahlen Éôn- 
nen, die morgen fällig find. Diefe fünfzig fehlten mir gerade 
nob. Weißt bu auch, daß der MWechfel gewiß proteftiert worden 
wäre? Wir hätten das Gericht auf den Leib gefriegt. Die haft 
du gut gefödert mit deinen Kleinen!” 

„Und ich dachte mir nicht einmal was dabei.” 


2. Erfte Skizze zweier verdädhtiger Gestalten 


Wer waren diefe Thenardierg? 

Diefe Leute gehörten zu jener Zwitterart von Menfchen, die 
fit aus ungebildeten Emporfömmlingen und berabgefommenen 
Gebildeten zufammenfest, gewiflermaßen eine Mifchung ift aus 
dem fogenannten Mittelftand und der Unterflaffe, und die Feh— 
ler der leßteren mit den Laftern der erfteren verbindet — Éurz, 


112 


die zwar die großherzigen Regungen des Arbeiters nicht Fennt, 

aber auch die Drdnungsliebe der Bürgerflafle eingebüßt bat. 
Es waren verfrüppelte Seelen, die, wenn zufällig irgendein 

Antrieb fie verführte, leicht zu Verbrechern entarten fonnten. 


ES FE 














Die Frau war eher roh, während der Mann einen richtigen 
Lumpen abgeben fonnte. 

Diefer Thenardier mußte dem Kenner der Phyſiognomik auf 
den erften Slif miffallen. Manche Menfhen braudht man 
nur anzufehen, um ihnen zu miftrauen. Sole Leute blidfen 


8 Hugo, Die Elenden. 113 


beunruhigt auf ihre Vergangenheit zurüd, brobend auf ihre Zu- 
Eunft. Etwas Unbefanntes ift in ihnen. Man weiß nicht, was 
fie getan haben oder no tun werden. Ein Schatten in ihrem 
Blick verrät fie. Man braucht fie oft nur ein Wort fagen zu 
hören, nur eine Gebärde von ihnen zu erhafhen, und man ahnt 
ein bunfles Geheimnis in ihrer Vergangenheit oder büftere 
Möglichkeiten ihrer Zufunft. 

Ihenardier war, wenn man ibm glauben will, Soldat ge- 
wefen, Sergeant, wie er behauptete; angeblich hatte er an dem 
Feldzuge von 1815 teilgenommen und fit dabei ausgezeichnet. 
Das Schild feiner Kneipe war eine Anfpielung auf eine feiner 
Maffentaten. Er hatte es felbft gemalt, denn er Fonnte alles, 
aber alles ſchlecht. 

Die Thenardier war gerade Flug genug, um alberne Bücher 
zu lefen. Sie lebte davon. Nichts anderes befchäftigte ihren 
DVerftand; das hatte ihr feinerzeit, als fie nod jung war, ja 
fogar no fpâter, den Schein einer gewiflen DBefinnlichfeit ver- 
lieben, fo daß fie neben ihrem Mann, einem Scurfen von 
Format und gefehulten Lumpen, geradezu angenehm wirfte. Sie 
war zwölf oder fünfzehn Jahre jünger als er. Später, als ihre 
romantifhen Schmadhtloden zu ergrauen begannen und aus der 
Pamela eine Megäre wurde, war die Ihenardier nur nod eine 
plumpe, böfe Frau, die dumme Bücher las. 

Man befhäftigt fih nicht ungeftraft mit Albernheiten. 

So geſchah es, daß die ältefte Tochter der Thénarbiers 
Eponine getauft wurde; und die jüngere, das arme Gefchöpf, 
follte gar Gülnare heißen; das Glück wollte, daß ein Roman 
von Dusray-Dumenil diefe Schmach von ihr fernbielt; fie fam 
mit dem Namen Azelma davon. 


3. Die Lerche 


Es genügt, um Erfolg zu haben, nicht, daß man ein Schuft 
iſt. Die Herberge ging ſchlecht. 

Dank der ſiebenundfünfzig Franken der Reiſenden aid 
TIhenardier einem Proteft entgehen und feinen Wechſel hono- 


114 








rieren. Aber fhon im nächſten Monat braudte er wieder Geld. 
Die Frau trug Eofettes Kleider nah Paris und verfeñte fie 
auf dem Mont de Diété für fehzig Franken. Sobald diefe 
Summe verausgabt war, gewöhnten fi die beiden daran, die 
Kleine für ein Kind zu halten, das fie aus reiner Barmbherzig- 
feit bei fit) behielten, und fie behandelten fie darnach. Da fie 
jest Feine Ausftattung mehr befaß, mußte fie die alten Kleider 
“und Hemden der Éleinen Thenardierg auftragen. ihre Nahrung 
war, was übrigblieb — etwas beffer als die des Hundes und 
etwas fchledhter als die der Kate. Hund und Rate waren 
übrigens ihre Tifbgenoffen. Cofette af mit ihnen unter dem 
Zifh aus einem Holznapf, der dem der beiden Tiere glich. 

Die Mutter hatte fi, wie der Lefer noch feben wird, in 
Montreuil fur Mer niedergelaffen. Allmonatlid ließ fie an die 
Thénardiers fhreiben, um Nachrichten über ihr Kind ein- 
subolen. Und unmwandelbar antworteten die Thenardierg: 

„Sofette geht es glänzend.” 

As die erften febs Monate abgelaufen waren, fandte die 
Mutter fieben Franken für den fiebenten; monatlich Tiefen ihre 
Zahlungen pünktlich ein. Aber das jahr war noch nicht voll, als 
TIhenardier fagte: 

„Bir find ja feine Wohltäter! Mas follen wir denn von 
ihren fieben Sranfen alles leiſten?“ 

Und er fohrieb, fie müffe jeßt zwölf Franfen bezahlen. Da fie 
der Mutter fagten, das Kind fer glücklich und gedeihe aufs befte, 
fügte fie fid und fandte zwölf Franken. 

Gewiſſe Maturen können nicht nad einer Seite lieben, ohne 
nach der anderen zu baffen. Mutter Thénardier Tiebte ihre bei- 
den Töchter leidenschaftlich, aber das hatte nur zur Folge, daß 
fie die Fremde verabfheute. So wenig Platz Eofette au ein- 
nahm, ihr ſchien immer, es fei Pla, der den eigenen Kindern 
gebühre, und fie hatte ein Gefühl, als ob Cofette ihren Kindern 
die Luft wegfchnappe. Diefe Frau hatte, wie viele ihrer Art, 
ein gewiffes Quantum Liebe und ein gewifles Quantum Püffe 


* 115 


und Flüche täglich zu verausgaben. Wäre Cofette nicht im Haufe 
gewefen, fo wären gewiß aud die Grobheiten den eigenen Kin- 
dern, fo febr fie auch geliebt wurden, zugefallen; die Fremde 
aber Teiftete ben beiden Mädchen den Dienft, alle Prügel auf 
fid) abzuziehen. Cofette Fonnte nichts tun, ohne einen Hagel un- 
verdienter und graufamer Züchtigungen auf ſich herabzuloden. 

Da die Thenardier gegen Cofette ſchlecht war, taten Eponine 
und Azelma desgleichen. In diefem Alter find die Kinder nur 
Kopien der Eltern. 

So verftrih ein Jahr, und noch eines. 

Sm Dorf hieß es: diefe Ihenardiers find doc gute Leute. 
Sie find nicht reich, aber fie bringen biefes arme Kind durd, 
bas man bei ihnen Tiegengelaflen bat. 

Denn man nahm an, Cofette fei von ihrer Mutter vergeffen 
worden. 

Inzwiſchen hatte Ihenardier erfahren — wir wiffen nicht, 
auf weldhen dunklen Ummwegen — , daß das Mädchen unehelich 
geboren war und daß die Mutter es verleugnen mußte. Sofort 
verlangte er fünfzehn Franken monatlich, fehrieb, die Kleine 
wachſe und efle für drei, drohte fogar, fie zurückzuſchicken. 

Die Mutter zahlte auch die fünfzehn Franken. 

Don Fahr zu Jahr wuchs bas Kind, wuchs au fein Elend. 

Solange Eofette Elein war, hatte fie den beiden anderen 
Kindern als Prügelfänger gedient; feit fie etwas größer war 
(no nicht ganz fünf Vabre), diente fie als Hausmagd. 

Cofette erledigte alle Gänge, fäuberte Stuben, Hof und 
Straße, wuſch Gefbirre, trug fogar Eleine Laften. Die Thé- 
nardiers fühlten fi zu diefen Forderungen um fo mehr berec- 
tigt, denn die Mutter, die fih noch immer in Montreuil fur 
Mer aufhielt, begann, unpünftlih zu zahlen. Sie blieb einige 
Monate mit ihren Sendungen im Rückſtand. 

Wenn fie damals, nad drei Vabren, noch Montfermeil ge- 
fommen wäre, hätte fie ihr Kind nicht wiedererfannt. Die 
niedliche, frifche, Eleine Eofette war jeßt mager und blaß. Sie 


116 











hatte etwas Unrubiges in ihrem Yefen, etwas „Tückiſches, 
Falſches“, wie die Thénardiers fagten. 

Die Ungerechtigkeit hatte fie verfchloffen, das Elend hatte fie 

häßlich gemacht. Mur ihre fohönen Augen waren ihr verblieben, 
aber e8 tat weh, in fie hineinzufchauen, denn fie fhienen nur fo 
groß, um all das Unglück zu faffen. 
. Sn der Gegend nannte man fie Lerche. Das Volk, das Bild- 
vergleiche Tiebt, hatte fie fo genannt, weil biefes Geſchöpf, faum 
größer als ein Vôgelben, allmorgendlich als erfte im Haufe 
und im ganzen Dorfe aufftand. 

Mur daß die arme Terche niemals fang. 


Fünftes Buch 


Der Abgrund 


Meere Sortioriftinder sumurckie 
des fhmarzen Glaſes 


Mas war aus diefer Mutter, die nach der Anficht der Leute 
von Montfermeil ihr Kind im Stich gelaffen hatte, geworden? 

Nachdem fie die Eleine Cofette bei den Thénardiers zurüd- 
gelaffen Hatte, war fie mweitergemanberf und fchließlih nad 
Montreuil fur Mer gekommen. 

Das war, wie der Lefer fi erinnert, im jahre 1818 ge- 
wefen. 

Zehn Sabre früher hatte Fantine ihre Heimat verlaffen. 
Montreuil fur Mer batte fit fehr verändert. Während Fan- 
tine immer tiefer ins Elend berabgefunfen war, hatte ihre Hei— 

matftadt einen Auffhwung zu MWohlftand und Gedeihen genom- 
men. Vor etwa zwei Jahren hatte fih ein Umſchwung in der 
Induſtrie vollzogen, der für diefen Fleinen Ort ein großes Er- 
eignis wurde. Diefe Einzelheit ift wichtig, und wir müflen auf 
fie näher eingehen. 

Seit undenflihen Zeiten war e8 das befondere Gewerbe von 
Montreuil fur Mer, englifhen Gagat und beutfhes Schwarzglas 


117 


nachzuahmen. Diefe Induſtrie hatte immer ihr Leben ge- 
friftet, aber infolge des hohen Preifes der Mohftoffe Eeinen 
Aufſchwung nehmen Éônnen. Als Fantine zurüdfehrte, war eben 
eine unerbôrte Umwälzung in den Arbeitsmethoden diefer In— 
duftrie vollzogen worden. Gegen Ende des jahres 1815 war 
ein Unbefannter in die Stadt gefommen und hatte die Idee 
gehabt, in der Gagaterzeugung bas Harz durch Gummilad zu 
erfeßen. Diefe geringfügige Anderung hatte genügt, eine Revo— 
Iution hervorzurufen. Denn jest war billiger Mobftoff zur Ge- 
nüge vorhanden, und fo Éonnten zunächſt die Löhne gefteigert 
werden, ein DBorteil, der für den ganzen Ort fühlbar wurde; 
dann fonnte die Ware verbeflert werden, was den Ronfumenten 
zunuße Éam, und ſchließlich Éonnte fie im Preife gefenft werden, 
obwohl der Sabrifant den dreifachen Gewinn einftrid. 

In Enappen drei jahren war der Mann, der diefe Idee ge- 
habt hatte, reich geworden, und reich auch die ganze Umgebung. 
Er war fremd im Departement. Über feine Herkunft war nichts 
befannt. Die Anfänge feines Aufftiegs lagen im Dunkel. 

Man erzählte fih, er fei mit fehr wenig Geld, höchſtens ein 
paar hundert Sranfen, in die Stadt gefommen. Aber mit die- 
fem befheidenen Kapital, bas er in den Dienft einer guten 
dee ftellte, hatte er ein Vermögen gemacht und dem Wohl- 
ftande der Stadt gedient. Als er nah Montreuil fur Mer ge 
fommen war, fchien er nah Kleidung, Haltung und Sprade 
ein einfacher Arbeiter zu fein. Es hieß, er habe damals, an 
jenem Dezemberabend, da er gänzlich unbeadhtet feinen Einzug 
hielt, einen Tornifter am Müden, und einen Knotenſtock in der 
Hand gehabt. Eben an jenem Abend war im Gemeindehaus ein 
Brand ausgebrochen. Diefer Mann batte fi in bas Feuer ges 
ftürgt und hatte, ohne die größte Gefahr zu feheuen, zwei Kin- 
der — es waren die des Gendarmeriehauptmannes — gerettet; 
fo war es vielleicht zu erklären, daß in der Aufregung niemand 
nad feinem Paß gefragt hatte. In der Folge hatte man feinen 
Damen erfahren. Er hieß Père Madeleine, Vater Madeleine. 


118 








2. Madeleine 


Er war etwa fünfzig Jahre alt, fab aus, als ob er irgend- 
einem geheimen Gedanken nahhinge, und war gütig. Das ift 
alles, was man von ihm fagen Fonnte. 

Dank des Auffhwungs der Induſtrie, den er veranlaßt hatte, 
war Montreuil fur Mer ein anfehnliher Sanbelsplas gewor- 
den. Spanien, das febr viel fhwarzen Jett Éonfumiert, fandte 
alljährlich große Aufträge. Montreuil fur Mer begann fogar 
London und Berlin Konkurrenz zu machen. Die Verdienfte, die 
Vater Madeleine aus diefen Geſchäften 309, waren fo beträdt- 
lib, daß er bereits im zweiten Yabre eine große Fabrik mit 
zwei geräumigen Werkftätten, einer für Männer, einer für 
Frauen, hatte einrichten Éônnen. Wer immer da Mot litt, Éonnte 
dort vorfprehen und war gewiß, Arbeit und ‘Brot zu finden. 
Vater Madeleine verlangte von den Männern nur Arbeits- 
willen, von den Frauen Sittenreinheit und Ehrlichfeit. Er hatte 
zwei Werfftätten eingerichtet, um die beiden Gefchlechter zu 
trennen und die Frauen und jungen Mädchen von den Män- 
nern fernzuhalten. %n diefem Punkt war er unbeugfam. Es 
war die einzige ace, in der er geradezu unduldfam war. Ge- 
wiß war diefe Strenge begründet, denn da Montreuil fur Mer 
eine Garnifonftadt war, fehlte es nicht an Verlockungen und 
Verderbnis. 

Im ganzen genommen, war Mabeleines Ankunft eine Wohl- 
tat, fein dauernder Verbleib ein Gefchenf der Vorſehung für 
diefe Stadt. Früher war die ganze Gegend verelendet gemwefen; 
jeßt gedieh alles in einem arbeitfamen Dafein. Der Puls eines 
werftätigen Lebens belebte und ftärfte alles. Arbeitslofigfeit und 
Elend waren unbefannt. Selbft die Armften hatten etwas, und 
auch der befcheidenften Hütte fehlte nicht jegliche Freude. 

Vater Madeleine befhäftigte alle. 

Und inmitten al diefer Iätigfeit, die von ihm ausging, er- 
warb er ein Vermögen, obwohl — höchſt fonderbarermeife — 
nicht feine Hauptforge diefem Ziel zu gelten fhien. Er dachte 


119 


offenbar mehr an die andern als an fi felbft. 1820 wußte man, 
daß er bei Saffitte 630 000 Franken deponiert hatte, aber be- 
vor diefe Summe beifammen war, hatte er eine gute Million 
für die Stadt und die Armen verausgabt. 

Das Hofpital war in Schwierigkeiten. Er hatte zehn neue 
Betten geftiftet. Er ließ zwei neue Schulen bauen, eine für 
Mädchen, eine für Knaben. Den beiden Lehrern feßte er eine 
Zulage aus, die ihr Gehalt um das Doppelte übertraf, und als 
fi jemand darüber wunderte, fagte er: 

„Die Amme und der Schulmeifter find die beiden höchften 
Beamten des Staates.“ 

Auch hatte er auf eigene Koften einen Kindergarten eingerich- 
tet — damals in Sranfreid noch etwas faft Unbefanntes —, 
aud Unterftügungsfaflen für alte und invalide Arbeiter ge- 
Ichaffen. Nings um feine Fabrik war ein neues Arbeiterviertel 
entftanden, in dem viele mittellofe Familien Unterkunft fuchten; 
hier hatte er eine Apotheke eingerichtet, in der Heilmittel un- 
entgeltlicd) abgegeben wurden. 

Zuerft hatten die guten Leute geglaubt, er wäre ein fchlauer 
Kerl, bem es lebtlih doc nur auf den Neichtum ankäme. Als 
dann aber der Segen des Wohlftands den Ort mehr traf als 
Madeleine felbft, hieß es: ein Ehrgeizling. Und dafür ſprach 
auch, daß er offenfichtlic religiös war und mit einer gewiflen 
Megelmäßigfeit die Kirche befuchte (mas damals höchſten Ortes 
gern gefehen wurde). Jeden Sonntag hörte er eine ftille Meffe. 
Der Deputierte des Ortes, der einen Mebenbuhler witterte, fand 
befonders diefe religiöfen Anwandlungen verdächtig. Er war 
unter dem Kaiferreih Mitglied der gefeßgebenden Körperfchaft 
gewefen und hing den religiöfen Anfhauungen jener Epoche an. 
Als er aber den reichen Sabrifanten Madeleine fonntäglich um 
fieben Uhr die ftille Meſſe befuchen fab, begriff er, was ihm 
drohe, und entfchloß fi, den Mebenbuhler zu überbieten; er 
nahm fi einen Yefuiten zum DBeichtvater und verfäumte weder 
das Hochamt noch die Befper. Das war eine Zeit, in der, wer 
ehrgeizig war, nicht ruhen durfte. Die Armen hatten davon 


120 











ebenfo ihren Vorteil wie der liebe Gott, denn der ebrenmerte 
Deputierte ftiftete auch zwei Betten im Spital... 

1819 ging eines Morgens das Gerücht burd die Stadt, 
Dater Madeleine fei auf Empfehlung des Herrn Präfeften 
und in Anfehung feiner großen Derdienfte um die Stadt zum 
Bürgermeifter von Montreuil fur Mer vorgefhlagen worden. 
Mer bisher gefagt hatte, der Alte fei nur ein Ehrgeizling, fand 
die Gelegenheit günftig und hielt den Beweis für erbracht, daß 
er recht gehabt hatte. Haben wir es nicht gefagt? Ganz Mon- 
treuil fur Mer war außer fih. Und dag Gerücht war nicht un- 
begründet. Einige Tage fpâter ftand die Ernennung im Moni- 
teur. Am nädften Tag aber fhlug Water Madeleine die ihm 
erwiefene Ehre aus. 

Sm felben Jahre 1819 waren die von Madeleine erfundenen 
neuen Erzeugnifle der Settinduftrie auf der Gemwerbeausftellung 
vertreten; auf den Dericht der Jury bin ernannte der König 
den Erfinder zum Ritter der Ehrenlegion. Neue Aufregung in 
der Kleinftadt. Aha, bas war e8, worauf Madeleine hinaus- 
wollte! 

Aber er lehnte wieder ab. 

Ein Nätfel, diefer Menſch. Die guten Leute zogen ſich aus 
der Affäre, indem fie fagten: ‚Alles in allem eine Art Aben- 
teurer.‘ 

Der Lefer bat gefehen, daB die Stadt ihm viel, die Armen 
ihm alles verdankten; feine Arbeiter waren ihm febr zugetan. 
Er nahm ihre Liebe mit fhwermütigem Ernft an. Als feftftand, 
daß er reich fei, grüßten ihn die Leute aus der feinen Gefell- 
fhaft von Montreuil fur Mer, und man nannte ihn jest Herr 
Madeleine; die Arbeiter und die Kinder aber beließen es bei 
Vater Madeleine, und ibm war es recht fo. Im Ausmaß, in 
dem er feinen Aufftieg nahm, regnete es Einladungen. Jetzt 
nahm die gute Gefellfbaft ihn in Anſpruch. Die Éleinen Salons 
von Montreuil fur Mer, die dem Handwerfer immer verfchlof- 
fen gewefen wären, öffneten ihre Türen dem Millionär. Aber 
er blieb zurückhaltend. 


121 


Aud diesmal mwußten die ganz Gefcheiten eine Erflärung. 
Er ift unmwiflend, fagten fie, ein Menfh ohne Erziehung. Wer 
fennt feine Herkunft? Vielleicht wüßte er fih nicht in guter 
Gefellfhaft zu bewegen. Man weiß ja nicht einmal beftimmt, 
ob er lefen kann. 

So war es: als man ihn Geld verdienen fab, hatte man ge- 
fagt: ein Schadyerer. Später, als man ihn Geld verfhenfen fab: 
ein Ehrgeizling. Als er die ihm angebotenen Ehrungen aus- 
fhlug: ein Abenteurer. Und als er ſich von der Gefellfchaft ab- 
ſchloß: ein ungebildeter Lümmel. 

1820 aber, fünf Jahre nach feiner Ankunft in Montreuil 
fur Mer, ftrahlten die Dienfte, die er feiner Stadt erwiefen, 
in fo hellem Licht und die Meinung des Landes war fo ein- 
heilig, daß der König ibn neuerlih zum Dürgermeifter er- 
nannte. Wieder wollte er ablehnen, aber der Präfekt drängte 
ihn, die Leute auf der Straße redeten ibm zu, bis er fchließlich 
annahm. Entfcheidend für feinen Entfhluß war der ärgerliche 
Ausruf einer alten Arbeiterin gemwefen, die zornig gefagt hatte: 

„Ein guter Bürgermeifter ift eine nüßliche Sache! Darf man 
nein fagen, wenn man Gutes tun fol?’ 

Dies war die dritte Stufe feines Aufftiegs. Vater Made: 
leine war Herr Madeleine, Herr Madeleine Herr Bürgermeifter. 

Zu Beginn des Jahres 1821 meldeten die Journale den 
Tod des Bifhofs Myriel von Digne, genannt Monfignore 
Bienvenu, der im Alter von zweiundadhtzig jahren und im 
Rufe hoher Heiligkeit verfchieden war. 

Der Bifhof war, um diefe Einzelheit hinzuzufügen, die von 
den Zeitungen nicht erwähnt wurde, feit Jahren blind gewefen, 
aber verfühnt mit diefem Schidfal, da ja feine Schweſter bei 
ihm war. 

Sofort nad) dem Erfcheinen der Todesanzeige im Stapdtblatt 
von Montreuil fur Mer legte Herr Madeleine fhwarze Kleider 
an und flang einen Trauerflor um feinen Hut. 

Man bemerkte es in der Stadt und mutmaßte allerlei. Man 
glaubte etwas über die Herkunft des Herrn Madeleine erfahren 


122 











zu haben. Offenbar war er mit bem Biſchof verwandt gewefen. 
Das fteigerte fein Anfehen, und felbft in der guten Gefellfhaft 
von Montreuil fur Mer dachte man beffer von ibm. Der mut- 
maßliche Verwandte eines Bifchofs war in der Fleinen Nach— 


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abmung des Saubourg Saint-Germain, die es in jeder fran- 
zöfifhen Kleinftadt gibt, wohlgelitten. Alte Frauen behandelten 
ihn mit Augzeihnung, junge lädhelten ibm zu. Eines Tages 
leiftete es fich die ältefte der vornehmen Damen jenes Kreifes, 
die bereits ein Altersrecht auf Neugierde hatte, die Frage: 


123 


„Sie find wohl ein Better des verftorbenen Bifchofs von 
Digne, Herr Bürgermeiſter?“ 

„Nein, gnädige Fran.’ 

„Aber Sie tragen doch Trauer nad) ihm.” 

„Ich ftand in meiner Jugend im Dienfte feiner Familie. 


3. Bliseam Dyrigont 


Allmählich erfhlaffte aller Widerftand. An feine Stelle trat 
allgemeine aufrichtige Achtung. Es gab 1821 eine Zeit, in der 
in Montreuil fur Mer die Worte „der Herr DBürgermeifter‘‘ 
nicht anders ausgefprocdhen wurden als 1815 die Worte ,, Seine 
bifhöflichen Gnaden“ in Digne. 

Ein einziger Menfh in der Stadt entzog fich diefer all- 
gemeinen Gefühlseinftellung und blieb, was auch Vater Mabe- 
leine tun mochte, widerfpenftig, als ob ein unbeftechlicher In— 
ftinft ibn wad und mißtrauiſch halte. Es fcheint, als ob in ge- 
wiffen Menfchen ein geradezu tieriſcher Irieb fi) geltend macht, 
der Antipathien und Sympathien hervorbringt und fbidfalbaft 
den einen vom andern frennt, der zwei Spielarten des Typus 
Menſch gegeneinander fcheidet wie Hund und Katze, Fuchs und 
Löwe. 

Wenn Herr Madeleine ruhig, leutfelig und von allen achtungs- 
voll begrüßt, die Straßen durchſchritt, gefhah es off, daß ein 
hochgewachſener Mann in einem eisgrauen Nidingevat, mit 
einem diefen Spazierfto und einem breitfrempigen Hute, fi 
jäh hinter ibm umbrebte, ihm mit den Augen folgte, bis er um 
eine Ecke gebogen war, die Arme verfhränfte und mit der 
Unterlippe die Oberlippe faft bis zur Naſe hochſchob, als ob er 
fagen wollte: wer das nur fein mag! Den babe id fchon einmal 
in meinem Leben gefeben. Auf jeden Fall laſſe ih mir von ihm 
nicht8 vormachen. 

Diefer Mann mit feinem faft drohend-ernften Gefiht war 
einer von jenen, die felbft auf einen flüchtigen Bli bin auf- 
follen. 


124 








Er hieß Javert und war Polizift. 

In Montreuil fur Mer verfah er den peinlichen, aber nüß- 
lichen Dienft eines Ynfpeftors. Den Anfängen von Mabeleines 
Aufftieg hatte er nicht beigewohnt. Denn Javert verdanfte 


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feinen Poften der Proteftion des Herrn Cbabouillet, Sefretürs 
des Staatsminifters Graf Angles. Als Vavert nah Montreuil 
fur Mer Fam, hatte der Fabrifant bereits den Grunbftein zu 
feinem Dermögen gelegt, und Vater Madeleine war fchon Herr 
Madeleine geworden. 


125 


Javert war im Gefängnis geboren; feine Mutter war eine 
Kartenlegerin, deren Gatte damals auf den Galecren faß. Als 
er herangewachſen war, begriff er, daß er gewiflermaßen außer- 
halb der menſchlichen Gefellihaft ftand und niemals in fie ein- 
dringen werde. Er gewahrte, daß die Gefellfichaft zwei Klaffen 
von Menfhen ftreng von fi fernhält, nämlich ihre Feinde und 
ihre Derteidiger; zwifchen diefen beiden Klaffen hatte er die 
Wahl. Zugleich aber fühlte er in fi eine Neigung zu Strenge, 
Megelmäßigfeit und Rechtſchaffenheit, die noch durch feinen Haß 
gegen das Zigeunergefindel beftärft wurde, dem er entftammte. 
Alſo wurde er Polizift. Er hatte Erfolg, und mit vierzig Jah— 
ren war er Inſpektor. 

In feiner Jugend hatte er in den Kerfern des Südens 
Dienft getan. 

Er hatte eine Stumpfnafe mit zwei breiten Flügeln, zu 
denen die Spiken feines gewaltigen Schnurrbarts aufftiegen. 
Mer zum erftenmal diefes Haargeftrüpp und diefe Nafenhöhlen 
fab, fonnte ſich eines unbeimlihen Gefühle nicht erwehren. 
Menn Vavert lachte, was felten genug gefhah und fürdterlich 
wirfte, [ôften fi feine dünnen Tippen voneinander und ließen 
nicht nur die Zähne, fonbern aud das Sabnfleifdh fehen; fein 
Schädel war Flein, das Kinn ftarf vorgebaut, die Haare wuchfen 
über die Stirn bis zu den Brauen herab. 

Den Charakter diefes Menfchen beftimmten zwei höchſt ein- 
face und verhältnismäßig gute Empfindungen, die er indeffen 
übertrieb und beinahe in fchlechte verzerrte: Reſpekt vor der 
Obrigfeit und Haß gegen jede Nebellion. In feinen Augen war 
Diebftapl, Mord, jedes Verbrechen überhaupt nur eine Form 
der Mebellion. Wer indeflen ein Staatsamt befleidete, vom 
Premierminifter bis zum Slurhüter herab, dem hing er in einer 
faft blinden, tiefen Serebrung an. Dagegen empfand er die 
tieffte Verachtung und Abneigung gegen jedermann, der aud 
nur ein einziges Mal die Schwelle des Erlaubten überfohritten 
hatte. Das war für ihn eine Megel, die Feine Ausnahmen zus 
ließ. Sein erftes Dogma war: Der Beamte fann nit irren. 


126 


Die Behörde bat immer recht. Sein zweites: Die Verdorbenen 
find unwiderruflich verloren. Von ihnen Éann nichts Gutes mehr 
fommen. 

Kurz, er war ein Anhänger jener überfpisten Denfer, die 
dem Menfhengefes die myſtiſche Macht zuerfennen, etwas zu 
bewirfen, was es doch nur feftzuftellen vermag. Er war Stoifer, 
düfterer Träumer, demütig und hochmütig zugleich, wie alle 
Sanatifer. Sein Bli war Falt und ftechend wie ein Bohrer. 
Sein Leitfpruh: Wachen, überwachen! Er war feft überzeugt 
von der Müslichkeit feines Wirkens, von der religiöfen Heilig- 
feit feiner Amtsverrichtungen, fühlte fi, obwohl er nur ein 
Spitel war, als Priefter. Wehe dem, der ihm in die Hände 
fiel! Er hätte feinen Dater verhaftet, wenn er ihn auf der 
Flucht von den Galeeren ertappt, feine Mutter verraten, wenn 
er fie dabei erwifcht hätte, wie fie fi der Polizeikontrolle zu 
entziehen fuchte. Und er hätte es getan mit jener inneren Be— 
friedigung, die nur die Tugend verleiht. Und dabei war er ein 
Mann, der feine Pflicht blutig ernft nahm, ein Mann der 
Selbftbefheidung, Selbftverleugnung, Zucht und Strenge. Die 
Fleiſch gewordene Pflichterfüllung, Polizei, wie die Spartaner 
fie fi) gedacht hatten. 

In feinen feltenen Mußeftunden las er, obwohl er nicht ge- 
rade ein Freund der Bücher war; fo Fam es, daß er nicht jeg- 
liher Bildung ermangelte. 

Lafter fannte er nicht. Wenn er mit fich felbft zufrieden war, 
bewilligte er fih eine Prife Tabaf. Das war die einzige 
Schwäche, die ihn menfhenäbnlih machte. 

Man wird unfchwer begreifen, daß Javert der Schreden 
aller jener leute war, die im ftatiftifhen Sjahresbericht des 
Fuftigminifteriums in der Mubrif „ohne feften Aufenthaltsort‘ 
geführt werden. Allein ſchon Javerts Name bradte fie aus der 
Faſſung; tauchte er auf, fo erftarrten fie zu Stein. 

Das war der Mann. Das war Vavert, der ein Auge auf 
Herrn Madeleine hatte, ein argmöhnifches, mißtrauifches Auge. 
Herr Madeleine hatte es wohl gemerkt, bod fchien er nicht 


127 


darauf zu achten. Er ftellte Javert nicht zur Mede, fuchte ibn 
nicht, wie er ibn auch nicht mied, ertrug biefen peinlichen Blick, 
ohne fi) darum zu Fümmern. Er behandelte Javert wie alle 
anderen Menfhen, unbefangen und gütig. 

Aus einigen Außerungen, die Savert entfchlüpften, Eonnte 
man erfahren, daß er heimlich mit der eingeborenen Meugierde 
feines Menfchenfchlags nad der Herkunft Herren Mabeleines 
forſchte. Er fhien zu wiffen und ließ es fogar durchblicken, irgend 
jemand babe irgendwo über eine verfhollene Familie Nad- 
forfhungen angeftellt. Einmal fagte er im Selbftgefpräh ganz 
laut: 

„Ich hab's!“ 

Dann war er drei Tage lang verſonnen und ſchweigſam ge- 
blieben. Offenbar war ihm der Faden, den er bereits in Hän- 
den hielt, wieder abgeriffen. 

Einmal aber ſchien Javerts feltfames Vefragen aud auf 
Herrn Madeleine Eindruck zu machen. Und bas gefchah bei fol- 
gender Gelegenheit. 


4 Vater Saudelevent 


Eines Morgens durbfritt Herr Madeleine eine ungepfla- 
fterte Straße von Montreuil fur Mer. Er hörte Lärm und be- 
merkte eine Anfommlung von Menfchen. Er trat näher und 
fab, daß ein alter Mann, der Vater Fauchelevent genannt 
wurde, unter einen Wagen geftürzt war, nachdem fein Pferd 
die Subre umgeworfen hatte. 

Diefer Fauchelevent war einer der wenigen Feinde, die Herr 
Madeleine damals noch hatte. Als Madeleine in die Stadt ge- 
kommen war, betrieb Fauchelevent, ein ehemaliger Amtsfchrei- 
ber, einen Handel, der fchlecht zu gehen begann. So hatte 
FSaucelevent feben müflen, wie ein einfacher Arbeiter reich 
wurde, während er, der diplomiert war, herunterfam. Das hatte 
ihn neidisch geftimmt, und feither nahm er jede Gelegenheit 
wahr, um Madeleine zu fhaden. Als er banferott machte, blieb 


128 





ihm nur ein Pferd und ein Wagen, und fo mußte er, da er ohne 

Samilie und Kinder war, als Fuhrmann fein ‘Brot fuchen. 
Das Pferd hatte beide Beine gebrochen und Fonnte fi nicht 

mehr erheben. Der Alte war zwifchen die Mäder geflemmt und 













































































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14 





Tag fo unglüdli, daß die ganze ſchwere Fuhre auf feiner Bruft 
laftete. Und der Wagen war fehwer beladen. Vater Fauchelevent 
ftöhnte jämmerlich. Man hatte verfucht, ibn herauszuziehen, 
aber vergebens. Ein falſch angefehter Stoß, eine ungefhidte 
 Hilfeleiftung Eonnten ihn ums Leben bringen. Man Eonnte ibn 


| 9 Hugo, Die Elenden. 129 


aus feiner gefahrvollen Lage nur befreien, indem man den 
Wagen bobbob. Vavert, der im Augenblick des Unglüdsfalles 
zur Stelle gewefen war, hatte um eine Winde gefhidt. 

As Madeleine näher trat, wurde ibm refpeftvoll Platz ge- 
macht. 

„Iſt denn Feine Winde zur Hand?’ fragte er. 

„Man bat bereits um eine geſandt“, erwiderte ein Bauer. 

‚Bann wird fie kommen?“ 

„Es ift nicht weit, aber eine Diertelftunde wird es wohl 
dauern.’ 

„Unmöglich, eine Diertelftunde!” rief Madeleine. 

Es hatte am Tage zuvor geregnet, der Erdboden war auf- 
geweiht, und bas umgeworfene Gefährt fanf von Augenblick 
zu Augenblick tiefer ein, fo daß die Bruſt des alten Subrmanns 
immer fchwerer belaftet wurde. Es fonnte Feine fünf Minuten 
mehr dauern, bis feine Rippen zerfehmettert waren. 

„Bir können unmöglich noch eine Diertelftunde warten’, 
fagte Madeleine zu den Bauern, die ihn nicht aus den Augen 
ließen. 

„Es wird nichts anderes übrigbleiben.” 

„Seht ihr denn nicht, daB der Wagen einfinft?‘' 

„Weiß Gott, allerdings...” 

„Hört, fagte Madeleine, „es ift noch genug Platz unter dem 
Magen, daß ein Mann hineinfohlüpfen und das Gefährt mit 
dem Mücken hochheben Éann. Er braucht e8 nur eine halbe Mi- 
nute zu halten, inzwifchen wird der arme Menfh berausgezogen. 
Iſt unter euch einer, der Muskel und ein Herz hat? Ich ſetze 
fünf Louisdor aus.” 

Niemand rührte fi. 

„zehn Louisdor“, fagte Madeleine. 

Alle blieften zu Boden. Einer murmelte: 

„Dozu gehörte ja eine Teufelsfraft. Und man risfiert, zu 
Brei zerquetfcht zu werden.” 

„Vorwärts,“ rief Madeleine, ‚zwanzig Louis!’ 

Mieder fchwiegen alle. 


130 








„An gutem Willen fehlt es nicht”, fagte eine Stimme. 

Madeleine wandte fih um und erfannte Javert. Diefer fuhr 
fort: 

„Es gehörte ein Miefenferl dazu, einen folhen Wagen mit 
dem Rücken hochzuheben.“ 

Mit einem ſcharfen Blick auf Madeleine ſagte er: 

„Ich babe nur einen einzigen Menſchen gekannt, Herr Mabe- 
leine, der zuſtande gebracht hätte, was Sie da verlangen. Es 
war ein Galeerenſträfling.“ 

„Oh“, ſagte Madeleine. 

„Im Bagno, in Toulon.“ 

Madeleine erblaßte. 

Inzwiſchen fuhr der Wagen fort, langſam zu ſinken. Vater 
Fauchelevent keuchte und ſtöhnte. 

„Ich erſticke! Das bricht mir alle Rippen entzwei!“ 

Wieder blickte Madeleine ringsum. 

„Iſt keiner da, der zwanzig Louis verdienen und dem armen 
Alten das Leben retten möchte?“ 

Wieder rührte ſich niemand. Javert aber ſagte: 

„Ich kannte nur einen einzigen Menſchen, der eine Winde 
erſetzen konnte — eben jenen Galeerenſträfling!“ 

„Es erdrückt mich!“ jammerte der Alte. 

Madeleine blickte auf, begegnete dem Falkenauge Javerts, 
ſah die Bauern unbeweglich ſtehen und lächelte traurig. Dann 
kniete er wortlos nieder, und bevor noch jemand einen Schrei 
ausſtoßen konnte, war er unter dem Wagen. 

Ein Augenblick bangen Schweigens folgte. 

Man fab Madeleine, der faſt flach auf dem Bauch lag und 
ſich unter dem furhtbaren Gewicht zweimal vergeblich plagte, 
: die Ellbogen den Knien zu nähern. „Vater Madeleine, laffen 
Sie ab davon!’ wurde gerufen. Sogar der alte Fauchelevent 
warnte ihn. „Herr Madeleine,” fagte er, „tun Sie es nidt; 
„wenn ich fterben muß, dann foll es gefheben, ich will nicht, daß 
Sie fih auch zerfhmettern laſſen.“ 

Madeleine antwortete nicht. Die Umftehenden feuchten. Die 


a 131 


Mäder waren fhon fo tief eingefunfen, daß Madeleine kaum 
mehr unter dem Wagen hervor Éonnte. 

Plöslih ging ein Zittern dur die gewaltige Mafle der 
Ladung, langfam wurde der Wagen gehoben und die Räder 
Töften fih halb vom Boden. Eine ftöhnende Stimme rief: 
„Macht raſch!“ Und alle ftürzten herzu. Die Hingabe des einen 
batte alle ermutigt. Zwanzig Arme hoben den Wagen. Der alte 
Fauchelevent war gerettet. 

Madeleine ftand auf. Er war blaß und fchweißüberftrömt. 
Seine Kleider waren zerfeßt und kotbedeckt. Alle waren zu 
Zränen gerührt. Der Greis umfing feine Knie und nannte ihn 
feinen lieben Gott. In Mabeleines Antlis war ein Ausdrud 
von himmliſchem befeligtem Weh, während er ruhig Javerts 
Blick erwiderte. 


5. Saudelevent wird Gärtner in Paris 


Fauchelevent hatte fi bei feinem Sturz das eine Bein ver- 
renkt. Dater Madeleine ließ ihn in das Spital bringen, dag er 
in dem Sabrifegebäude für feine Arbeiter eingerichtet hatte und 
in dem zwei barmherzige Schweftern befchäftigt waren. Am 
nächften Morgen fand der Alte einen Taufendfranfenfhein auf 
feinem Nachtſchrank, und dabei einen Zettel, auf den Madeleine 
gefchrieben hatte: 

„Ich Eaufe Ihren Wagen und hr Pferd.‘ 

Der Magen war zerbrocdhen, das Pferd tot. Fauchelevent 
wurde gefund, blieb aber an einem Beine gelähmt. Madeleine 
verfhaffte ihm durch DBermittlung der barmherzigen Schweftern 
und des Pfarrers eine Anftellung als Gärtner im Nonnenklofter 
zu Saint-Antoine in Paris. 

Kurze Zeit nachher wurde Madeleine Bürgermeifter. Als 
Vavert ibn zum erftenmal mit der Schärpe, die feine Würde 
fennzeichnete, auf der Straße begegnete, zuckte er zufammen wie 
eine Dogge, die einen Wolf in den Kleidern ihres Herrn wit- 
tert. Seither mied er es nah Möglichkeit, ihm zu begegnen. 


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Wenn ihn feine dienftlihen Obliegenheiten zwangen, beim Bür- 
germeifter vorgufprecen, fo benahm er fit ebrfurbtsvoll. 

So lagen die Verbältniffe, als Gantine in ihre Heimatftadt 
zurücffehrte. Niemand erfannte fie wieder. Das Tor der Mabe- 
leinefhen Fabrik war ihr wie ein freundliches Antlitz. Sie mel- 
bete fih und wurde in die Werfftätte der Frauen aufgenommen. 
Die Arbeit war Fantine neu, fie ging ihr nicht leicht von der 
Hand, und darum verdiente fie nicht allzuviel, aber genug, um 
ihr Leben zu friften. 


6. Frau VBieturnien gibt fünfunddreißig 
Sranfen für die Moralaus 


As Fantine fab, daß fie ausfommen Fonnte, war ſie glücklich. 
Die Luft zur Arbeit ermadte. Sie Faufte fi) einen Spiegel, 
freute fi zu feben, daß fie jung war, daß ihre blonden Saare 
und ihre weißen Zähne gefallen Fonnten, vergaß vieles, dachte 
nur mehr an ihre Eofette und an die Zukunft; es fehlte nicht 
viel, und fie war glücklich. Sie mietete ein Éleines Zimmer und 
faufte auf Kredit Möbel: Nüdfol in unordentlihe alte An- 
gewöhnungen. 

Da fie nicht fagen Eonnte, fie fei verheiratet, hatte fie fi) wohl 
gehütet, von ihrem Töchterchen zu fprechen. Doc) zahlte fie menig- 
ftens zu Anfang pünktlih ihre Schuld an Ihenardier. Da fie 
nicht fchreiben Eonnte, mußte fie fih eines öffentlihen Schrei- 
berg bedienen. Sie ſchrieb oft, und bas fiel auf. In den Werf- 
ftätten für Frauen wurde geflüftert, Santine fchreibe Briefe, 
und fie wolle fi wohl groß auffpielen. 

Und unter ihren Freundinnen war nicht nur eine, die fie um 
ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne beneidet hätte. 

Sie bradten heraus, daß fie minbeftens zweimal monatlich 
immer an die gleiche Adreffe rich. Es gelang ihnen, diefe 
Adreffe zu erfahren. Sie lautete: Herrn — Wirt, in 
Montfermeil. 

Man ermittelte auch den Schreiber, und da der alte Bieder⸗ 


133 


mann einer Flaſche Notwein nicht widerftehen konnte, erfuhr 
man, daß Fantine ein Kind hatte. 

„Alſo fo eine war fie!” 

Es fand fi) fogar eine Frau, die eine Meife nah Mont- 
fermeil nicht fheute und mit Ihenardier ſprach. Als fie zurück: 
Fam, fagte fie: 

„Es bat mid fünfunddreißig Franfen gefoftet, aber jest bin 
ih im Bilde. ch babe das Kind geſehen.“ 

Diefe Frau war eine alte Here, eine gewiffe Victurnien, die 
Qugendwädhterin aller Welt. Sie zählte fehsundfünfzig Vabre, 
und die Masfe des Alters trat zurück hinter der der Häßlichkeit. 
Sie mederte, und ihr Verftand war fehrullig. Auch fie war, 
kaum zu glauben, einmal jung gewefen. Damals, Anno 93, hatte 
fie einen entlaufenen DBernhardiner geheiratet, der die rote 
Mütze genommen und zu den Jakobinern übergegangen war. 
Sie war vertrodnet, boshaft, tüdifé, ihr Mönch, deflen Witwe 
fie bereits war, hatte fie gehörig gezähmt und gemeiftert. Unter 
der Neftauration Fehrte fie in den Schoß der Kirche zurück, und 
fie tat es fo voll und ganz, daß die Priefter ihr ihren Mönd 
verziehen. Ihre Fleine Habe hatte fie, nicht ohne großes Auf- 
heben davon zu machen, einer frommen Gemeinde geftiftet. Im 
Biſchofspalais zu Arras war fie gern gefehen. Das war die 
Frau, die in Montfermeil gewefen war und fagen Fonnte: Ich 
habe das Kind gefehen. 

Alles bas nahm Zeit in Anfprud. Fantine war feit mehr als 
einem Jahr in der Fabrik, als eines Morgens die Auffeherin 
der Frauenwerfftätte ihr von dem Herrn Bürgermeifter fünfzig 
Sranfen überbrachte und beftellte, fie folle fi hier nicht mehr 
bliefen laffen; und der Herr Bürgermeifter laffe ihr fagen, fie 
folle am beften anderswohin ziehen. 

Das gefehah genau damals, als Ihenardier feine Forderung 
neuerlich erhöhte und fünfzehn Sranfen monatlid verlangte. 
Gantine war niedergefehmettert. Sie Fonnte nicht Montreuil 
fur Mer verlaffen, denn fie war mit der Miete im Rückſtand 
und hatte ihre Möbel noch nicht bezahlt. Fünfzig Franken 


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reichten nicht aus, um diefe Schulden abzugelten. Sie ftammelte 
einige flehentlihe Worte, aber die Auffeherin bedeutete ihr, fie 
babe fofort die Werkſtätte zu verlaffen. Fantine war ja aud nur 
eine mittelmäßige Arbeiterin. Von Schmad und Verzweiflung 
niedergedrückt, verließ fie die Sabrif und ging nad Haufe. 
Offenbar wußten jest alle von ihrer Schande! 

Man empfahl ihr, fih an den Herrn Dürgermeifter zu wen- 
den, aber fie wagte es nicht. Er hatte ihr fünfzig Sranfen ge- 
geben, weil er gut war, und er jagte fie aus dem Dienft, weil 
er gerecht war . .. 


7. Erfolge der Srau Victurnien 


Die Witwe des Mönchs hatte ihre Sache alfo gut gemacbt. 

Übrigens abnte Madeleine nichts. So verfnüpfen ſich die 
Umftände. Es war nicht feine Gewohnheit, in die Srauenwerf- 
ftätte zu gehen. Er hatte die Leitung dieſes Detriebes einem 
alten Fräulein anvertraut, die der Pfarrer ihm empfohlen 
hatte, und er hatte alles Vertrauen zu diefer wachfamen, wahr- 
haft ehrenwerten, gerechten Frau, die fogar zu geben verftanb, 
aber das Mitleid nicht fo meit trieb, zu verftehen und zu ver- 
zeihen. Ihr überließ Madeleine die Leitung der Werkftätte. 
Auch die beften Menfchen find zuweilen gezwungen, fi) eines 
Zeils ihrer Obliegenbeiten zu entledigen. Aus eigener Macht: 
vollfommenheit hatte die Auffeherin den Prozeß geführt, das 
Urteil gefällt und Santine ihm unterworfen. 

Mas die fünfzig Sranfen betraf, fo hatte fie fie aus einer 
Kafle entnommen, die Herr Madeleine ihr zur Unterftüßung 
, bedürftiger Arbeiterinnen anvertraut hatte, und über die fie 
nicht Rechenſchaft abzulegen braudte. 

Zunächſt ſuchte Fantine in Dienft zu treten; fie ging von 
Haus zu Haus, aber niemand wollte fie nehmen. Fortziehen 
hatte fie nicht Fünnen. Der Möbelhändler, dem fie ihre Einrich- 
tung — weld eine jämmerliche Einrichtung! — fehuldete, hatte 
geſagt: „Wenn Sie fortgehen, laſſe ih Sie als Diebin 


135 


verhaften.” Der Hauswirt, bem fie nod Miete fehuldete, hatte 
gefagt: „Sie find jung und hübſch, Sie können zahlen.” So 
teilte fie die fünfzig Sranfen unter dem Wirt und den Möbel: 
händler, gab drei Viertel ihrer Einrichtung zurück, behielt nur 
das Allernötigfte, und fand ſich ohne Arbeit, ohne Stellung und 
mit ungefähr hundert Franken Schulden wieder. 

Sie begann grobe Soldatenhemden zu nähen und verdiente 
damit zwölf Sous täglich. Ihre Tochter Eoftete fie zehn. Damals 
begann fie mit ihren Zahlungen an Thénardier in Verzug zu 
geraten. Dod lehrte eine alte Grau, die ihr abends die Kerze 
angiünbete, fie die Kunft des Lebens im Elend. Denn wenn man 
aud mit wenig gelebt hat, fo gibt es aud noch eine Steigerung 
— mit nihts auskommen. 

Santine lernte, wie man einen Winter ohne Heizung durd- 
hält, wie man einen Vogel los wird, der in feiner unergründ- 
lihen Sreßgier alle zwei Tage für einen Heller Futter braudt, 
wie man einen Unterrocd als Bettdecke und eine Bettdecke als 
Unterrof benüßt, wie man an der Kerze fpart, indem man feine 
Mahlzeit im Licht des bellerleucteten Fenfters von gegenüber 
einnimmt. 

Es wurde ein wahres Talent daraus. Fantine faßte fogar 
wieder ein wenig Mut. 

Anfänglich hatte Fantine kaum gewagt, auszugehen. Sobald 
fie die Straße betrat, fühlte fie, daß die Leute fi nach ihr um- 
wandten und mit dem Finger auf fie zeigten. Alle Welt fab fie 
an, niemand grüßte. Diefe robe Mißachtung ſchnitt fie ins 
Fleifh und fiel wie ein eifiger Wind in ihre Seele. In den 
Kleinftädten ift, fcheint es, eine Unglücfliche nadt und webrlos 
gegen den Hohn und die Neugierde aller. In Paris bleibt man un- 
befannt, da ift die Dunfelheit wie ein ſchützendes Kleid. Wie fehr 
fehnte fie fi danacb, wieder in Paris zu fein. Aber unmöglich . .. 

Alſo mußte fie fih an die Verachtung gewöhnen, wie fie fi 
an die Mot gewöhnte. Allmählich richtete fie fih ein. Mach zwei 
oder drei Monaten fhüttelte fie die Scham ab und ging aus, 
als ob nichts gewefen wäre. So fab Frau Victurnien fie bis- 


136 























meilen vom Senfter aus, aufrecht einberfreiten, mit einem bit- 
teren Lächeln um die Tippen, überzeugte fi) von dem Elend 
diefer Perfon, die fie „in ihre Schranfen gewiefen hatte‘, und 
war ftolz. 

Das Übermaß der Arbeit erfchöpfte Fantine; der leicte, 
trodene Huften wurde ſchlimmer. Manchmal fagte fie zu ihrer 
Nachbarin Marguerite: 

nSüblen Sie dodb, wie meine Hände warm find!‘ 

Wenn fie aber des Morgens mit einem alten, zerbrochenen 
Kamm ihre fhönen Haare ftrählte, die wie Seide Énifterten, 
empfand fie einen Augenblick befeligter Eitelkeit. 

Sie mar gegen Ende des Winters entlaffen worden; ein 
Sommer verging und wieder ward es Winter. Kurze Tage, 
weniger Arbeit. Winter, Kälte, Fein Licht, von Morgen bis 
Abend nur eine Furze Spanne Zeit, draußen Mebel, Dämme— 
rung, jugefrorene Senfter . . . 

Und ihre Gläubiger quälten fie. Sie verdiente fehr wenig. 
Ihre Schulden wuhfen an. Die Thénardies waren nicht die 
Leute, um Außenftände zu dulden; fie fchrieben Briefe, die 
Santine tief betrübten; allein das Porto erfhöpfte ihre geringe 
Barſchaft. Eines Tages fehrieben fie ihr, die Fleine Cofette fei 
troß der Kälte faft nat, fie brauche dringend eine Wolljade, 
und dazu wären mindefteng zehn Franken nötig. Fantine empfing 
biefen Brief und trug ibn einen ganzen Tag lang in der Hand. 
Am Abend endlich ging fie zu einem Barbier und 309 ihren 
Kamm aus der Frifur. Die herrlichen, blonden Haare fielen 
ihr bis über die Hüften herab. 

„Was würden Sie dafür geben?’ fragte fie. 

„zehn Franken.” 

„Schneiden Sie fie ab.’ 

Sie Faufte ein Wolljäckchen und fandte es den Thénarbiers, 
die darüber in arge Wut gerieten, denn fie hatten e8 auf bas 
Geld abgefeben. Das Jäckchen gaben fie Eponine, und die arme 
Lerche mußte weiterfrieren. 

Santine dachte: mein Kind friert nicht mehr. Ich babe es mit 


137 


meinen Haaren befleidet. Sie trug jet ein Éleines Häubchen, 
bas ihren gefchorenen Kopf verhüllte und ihr recht gut ftand. 

Inzwiſchen vollzog fih in Fantines Herz eine düftere Wand— 
lung. Sie begann zu baffen. Lange Zeit hatte fie die Verehrung 
aller für Vater Madeleine geteilt. Sekt aber bedachte fie, daß 
er es doch war, der fie fortgejagt hatte, daß er ihr Unglück ver- 
urfacht hatte, und fie begann ihn mit einem ganz befonderen 
Haß zu verfolgen. Wenn fie an der Fabrik vorbeifam, zu einer 
Zeit, da die Arbeiter an der Tür ftanden, lachte und fang fie 
auffällig. 

„Das wird Fein gutes Ende nehmen’, fagte eine alte Ar- 
beiterin einmal. 

Sie nahm fi einen Liebhaber, den erften beften, der ihr in 
den Weg Fam, einen Mann, den fie nicht liebte, nur aus Wut. 
Es war ein elender Kerl, eine Art Bettelmufifant, ein Nichts- 
tuer, der fie ſchlug und den fie verließ, wie fie ihn genommen 
hatte, mit Abſcheu. Ihr Kind Tiebte fie immer noch. Der Huften 
wurde nicht beffer, oft hatte fie Schweißausbrüche auf dem Rücken. 

Eines Tages erhielt fie von den Ihenardierg einen Brief, 
der folgendermaßen lautete: Eofette bat eine Kranfheit, die jet 
hier umgeht. Die Leute nennen fie Triefelfieber. Sie muß teure 
Medifamente befommen. Wir haben Fein Geld, Fünnen nichts 
auslegen. Wenn Sie uns nicht binnen acht Tagen vierzig 
Franken fchiefen, ift die Kleine tot. 

Sie begann wild zu lachen, dann fagte fie zu der Nachbarin: 

„Die find gut! Vierzig Sranfen! Zwei Napoleons! Wo foll 
ich die nur bernebmen! Blöd find diefe Bauersleute.“ 

Sie lief auf die Straße, tanzend und lachend. Jemand be- 
gegnete ihr und fragte: „Was haben Sie nur, daß Sie fo 
luſtig find?” 

„Mir haben Leute vom Land eine rechte Dummheit ge- 
fhrieben. Vierzig Franken wollen fie von mir. Dumme 
Bauern dag!’ 

Als fie über den Platz ging, fab fie eine Menfchenmenge, die 
einen feltfomen Wagen umftand, auf dem ein rofgefleideter 


138 

















Mann eine Rede hielt. Es war ein Zahnarzt, der dem Publi- 
fum Gebiffe, fhmerzftillende Mittel und Eliriere anbot. 

Santine mifhte fih unter die Leute und begann mit den 
andern über das Geſchwätz des Kurpfufchers zu lachen, der die 
Sprache des gemeinen Pöbels mit der der Leute von Stand zu 
einem feltfamen Kauderwelfch verband. Der Zahnreißer fab das 
lachende Mädchen und rief plößlich: 

„Sie haben bübfhe Zähne, Sie Kleine da unten! Wenn Sie 
mir Ihre beiden Schneidezähne geben, zahle ich Ihnen für jeden 
einen Napoleon.’ 

„Was find Schneidezähne?” fragte Fontine. 

‚Die beiden vorderften oben‘, erwiderte der Zahnarzt. 

„Mm Gottes willen!’ rief Fantine. 

„Zwei Napoleon,” murrte eine zahnlofe Alte neben ihr, „Die 
bat ein Glück!“ 

Santine Tief davon und hielt fi beide Ohren zu, um nicht die 
heifere Stimme des Mannes zu hören, der ihr nadrief: 

„Uberlegen Sie fih’s, meine Schöne, zwei Napoleons find 
fein Scherz! Wenn Sie do noch Luft Friegen, kommen Sie 
zum ‚Silbernen Kreuzer‘, dort finden Sie mid.” 

Santine Fehrte nah Haufe zurück. Zu Marguerite, die neben 
ihr arbeitete, fagte fie: 

„Was iſt das eigentlich, Friefelfieber?” 

„Sun, eine Krankheit.” 

„Braucht man da viel Medifamente?” 

„Schrecklich viel Medikamente.” 

„Und das kriegen aud Kinder?’ 

‚Kinder beſonders.“ 

„Kann man daran fterben?’ 

„Ganz leicht”, meinte Marguerite. 

Am Abend ging fie in die Parifer Straße, in der die Her- 
bergen find. 

As Marguerite am nähften Morgen vor Tagesanbrud — 
die beiden arbeiteten zufammen bei einer gemeinfamen Kerze — 
in Santines Zimmer trat, fond fie das Mädchen bloß und 


139 


Faltefhauernd auf ihrem Bett fisen. Die Haube war auf die 
Knie berabgefallen. Sie hatte nicht gefchlafen. Die Kerze hatte 
die ganze Nacht gebrannt und war faft ganz verbraudt. 

„Großer Gott, rief Marguerite verblüfft, „die ganze Kerze 
ift verbrannt! Was ift denn los?“ 

Dann fab fie Santine, die ihr den Furzgefchnittenen Kopf zu- 
wandte. Sie war um zehn Yabre gealtert. 

„Jeſus!“ rief Marguerite, ‚was haben Sie nur, Fantine?“ 

„Nichts,“ fagte Santine, „gar nichts. Mein Kind wird nicht 
an biefer fchrecflichen Krankheit ſterben.“ 

Und fie wies auf die beiden Napoleons, die auf dem Tifch 
lagen. 

„Großer Gott!" fagte Marguerite, ‚ein Dermögen! Woher 
haben Sie das Geld?’ 

„Ich babe es bekommen.“ 

Sie lädelte. Das Kerzenlicht erhellte ihr Gefiht. Ein blu- 
tiges Lächeln. Rötlicher Speichel benchte ihre Mundwinfel, und 
in ihrem Mund war ein ſchwarzes Loch. Zwei Zähne waren 
herausgeriflen. 

Vierzig Franfen fondte fie nah Montfermeil. Ihenardier 
hatte fi diefes Kniffs bedient, um Geld zu befommen. Cofette 
war nicht Franf. 

Santine warf ihren Spiegel aus dem Fenfter. Sie hatte ihre 
Scham verloren, jest gab fie aud nichts mehr auf ihre äußere 
Erfheinung, vernadhläfligte fih. Sie ging mit fhmubigem 
Häubchen aus. Aus Mangel an Zeit oder Gleichgültigkeit bef- 
ferte fie ihre Wäſche nicht aus, flifte ihr altes Mieder mit 
Rattunlappen, die fi bei der leifeften Bewegung wieder ab- 
löften. Die Leute, denen fie Geld fhuldete, machten ihr Szenen 
und ließen ihr Feine Mube. Überall, auf der Straße und auf der 
Treppe ihres Haufes, lauerten fie ihr auf. Sie hatte fieberglän- 
gende Augen und Schmerzen zwifhen den Schultern. Sie 
buftete ftarf. Sie haßte Vater Madeleine aus ganzem Herzen, 
aber fie Élagte nicht. Sie mußte fiebzehn Stunden täglich nähen, 
denn ein Unternehmer, der in den Strafanftalten arbeiten ließ, 


140 




















drückte die Preife und fenfte dadurd den Lohn der freien Ar- 
beiterin auf neun Sous herab. Neun Sous für fiebzehn Stun- 
| ben Arbeit. Und dabei waren die Gläubiger unerbittlicher als je. 
Der Möbelhändler, der faft feine ganzen Möbel zurücdgenom- 
| men hatte, verfolgte fie. Ihenardier fehrieb, er babe aus allzu 
| großer Güte lange genug gewartet, jeßt aber müfle er den auf- 
| gelaufenen Schulöbetrag, hundert Franken, fofort befommen, 
fonft werde er Eofette, die noch von ihrer eben überftandenen 
Krankheit ſchwach wäre, auf die Straße werfen; möge fie Ére- 
| pieren, wenn fie wolle. 

But,” fagte fie, „Ausverkauf!“ 

Und fie wurde Dirne. 


| 8. Wenn Herr Bamataboisnihts zutun hat 


In allen Kleinſtädten, und fo aud in Montreuil fur Mer, 
| gibt es eine Sorte junger Leute, die mit fünfzehnhundert Livres 
| Sahresrente in der Provinz ein Leben führen, wie man es in 
| Paris mit zweihunderttaufend beftreitet. Leute, Parafiten, die 
| ein wenig Land, ein großes Stüf Dummheit und ein Éleines 
| Berftand befiten, in einem guten Salon für Bauernlümmel 
| gelten würden, im Café aber den Edelmann herausfehren. Sie 
| fprehen von ‚ihren‘! Wiefen, ‚ihren‘! Wäldern, „ihren Päd- 
| tern, pfeifen Schaufpielerinnen aus, um fi als Kunftverftän- 
| bige aufzufpielen, zanfen fih mit ben Offizieren der Garnifon 
| herum, um ihren Mut zu beweifen, jagen, rauchen, gähnen, 
| trinken, fbnupfen, fpielen Billard, ffarren aus dem Fenfter des 
N Cafés, in dem fie leben, auf die Durchreifenden hinaus, die aus 
| der Poftkutfche fteigen, fpeifen im Reſtaurant, halten fih einen 
| Hund, der unter dem Tifch feinen Knochen frißt, und eine Ge- 
liebte, hängen an jedem Sou, Éleiden ſich übertrieben, verachten 
die Frauen, Fopieren London nah Parifer Kopien und Paris 
nad Kopien aus Pont-à-Mouffon, arbeiten nie, taugen zu nichte 
und fchaden auch nicht fonderlidh. | 

Wären fie reicher, würde man fie elegante junge Leute nennen. 


141 


Wären fie ärmer, bloß Nichtstuer. So find fie ganz einfach Un- 
befhäftigte. Und unter ihnen gibt es Langweilige, Gelangweilte, 
Verſchlafene und Schufte. 

Acht oder zehn Monate nad) den oben erzählten Vorfällen, 
in den erften Iagen des Januars 1823, an einem verfchneiten 
Abend, machte fi einer diefer eleganten Leute ein folcher Un- 
befhäftigter, ein Vergnügen daraus, eine Perfon zu beläftigen, 
die in einem tiefausgefchnittenen Ballkleid vor den Fenftern des 
Cafés der Offiziere auf und ab ging. Er rauchte, denn es war 
große Mode, zu rauchen. 

Sooft die Frau an ihm vorüberfam, blies er ihr mit einer 
Rauchwolke aus feiner Zigarre irgendeine Bemerkung zu, die 
er für geiftvoll oder heiter hielt: 

„Biſt bu aber häßlich!“ oder ,du follteft dich beffer ver- 
ſtecken!“ oder ‚wo haft du denn deine Zähne vergeffen?// 

Diefer Herr hieß Bamatabois. 

Die Frau, eine traurige Erfoheinung, die im Schnee auf und 
ab ging, antwortete nicht, warf nicht einmal einen Blick auf ibn, 
fondern feßte gelaffen und regelmäßig ihre Promenade fort, die 
fie alle fünf Minuten wie einen Spießrutenläufer an dem far- 
faftifen Slaneur vorüberführte. Diefer geringe Erfolg verdroß 
den Müßiggänger, der einen Augenblid, da fie fih ummandte, 
benüßte, um ihr nachzufchleichen, fein Kichern zu unterdrüden, 
eine Handvoll Schnee vom Boden aufzunehmen und ihr zwifchen 
die nadten Schultern zu ftefen. Das Frauenzimmer fébrie auf, 
wandte fih um, ftürzte fih auf den Mann, zerfrallte ihm das 
Gefiht und goß eine Flut gemeiner Schimpfworte auf ihn aus. 

Auf den Lärm kamen Offiziere in Mengen aus dem Café 
heraus, Paffanten blieben ftehen, es bildete fich ein vergnügter 
Kreis, der brüllend und applaudierend die beiden Kämpfenden 
einfchloß. Der Mann wehrte fih nah Kräften, fein Hut war 
bereits zu Boden gefallen; die Frau ftieß mit Händen und 
Füßen nad ibm, brüllte vor Wut und Has. 

Pröslic trat ein bobgemadfener Mann aus dem Kreife, griff 
bas Frauenzimmer an ihrem fotbefprigten Seidenmieder und fagte: 


142 








„Komm mit.’ 

Sie blickte auf. Sofort verftummte ihre Freifhende Stimme. 
bre Augen wurden ftarr, fie zitterte. Sie hatte Javert erfannt. 

Der elegante junge Herr benüste diefen Zwifchenfall, um 
fih aus dem Staub zu machen. 


9, Probleme der ftädtifhen Polizei 


Javert drängte die Zufehauer beifeite, durchbrach den Kreis 
und ging in großen Schritten zum Polizeibüro, bas fib am an- 
deren Ende des Platzes befand; die Unglücliche zerrte er hinter 
fi) her. Sie wehrte fi nicht. Kein Wort wurde gewechfelt. Die 
Zufchauer, aufs höchſte vergnügt, folgten ben beiden fcherzend 
und lachend. Auch dag höchſte Elend ift eine Gelegenheit zu ge- 
meinen Späßen. 

Sm Polizeibüro angelangt, das aus einem niedrigen, über- 
heizten Zimmer mit einem vergitterten Senfter und einer Glas- 
türe beftand, trat Javert mit Fantine ein und verfperrte die Tür 
zum großen Mißbehagen der Neugierigen, die fih auf die Zehen— 
fpißen ftellten und ihre Hälfe recdten, um etwas zu fehen. Die 
Meugierde ift eine Art Lecferei. Man fieht, wie man eine Deli- 
fateffe verfehlingt. 

Santine war in einer Ecke niedergefauert, wie eine furchtſame 
Hündin. Der Sergeant brachte eine brennende Kerze herein 
und ftellte fie auf den Tiſch. Javert feste fi, zog ein Stempel- 
papier aus der Zafche und begann zu fehreiben. 

Die Dirnen find durch unfere Gefesgebung vollfommen der 
Willkür der Polizei ausgeliefert. Die Polizei fpringt mit ihnen 
- um, wie fie will, beftraft fie nach Gutdünfen und vergewaltigt 
nach Belieben die beiden traurigen Rechte, die von biefen 
| Grauen ihr Gewerbe und ihre Freiheit genannt werden. 

Javert war Éalt. Sein ernftes Gefiht verriet Feinerlei Er- 
regung. Und doch war er ftarf in Anfpruch genommen. Das war 
einer jener Augenblicke, wo er ohne Kontrolle, aber mit der 
ganzen Gewiffenhaftigkeit feines Weſens, diefe furchtbare 


143 


Gewalt ausübte. Er fühlte, daß fein elender Polizeingentenftuhl 
ein Zribunal war. Er hatte zu urteilen, zu verurteilen. Er 
brachte alles, was an Gebanfen in feinem Kopf war, auf, um 
diefer großen Sache gerecht zu werden. Je mehr er die Tat 
jener Dirne prüfte, um fo tiefer war feine Entrüftung. Sie 
hatte unverfennbar ein ſchweres Verbrechen begangen. Er felbft 
hatte e8 gefeben, wie biefes Gefchöpf, bas außerhalb der Gefeñe 
ftand, die Gefellfhaft — in Perfon eines Grunbbefisers und 
Wählers erfter Klaffe — beleidigt und gefchändet hatte. Eine 
Proftituierte hatte einen Dourgeois angegriffen. Er hatte es 
felbft gefeben, Javert. 

Schweigend fhrieb er. 

Als er fertig war, unterzeichnete er bas Schriftſtück, faltete 
es zufammen und übergab es bem Sergeanten mit den Worten: 

„Nehmen Sie drei Mann und bringen Sie diefe Perfon 
ing Loch.” 

Zu Fantine aber fagte er: 

„Du baft febs Monate abzubrummen.” 

Die Unglüdlibe erzitterte. 

„Sechs Monate! Sechs Monate Gefängnis! rief fie, „und 
nur fieben Sous Verbdienft im Tag! Was foll aus Eofette wer- 
den? Ich fehulde den Ihenardiers nod mehr als hundert Gran- 
fen, Herr Inſpektor, wiffen Sie dag?’ | 

Sie froh auf dem von den fhmubigen Stiefeln all biefer 
Männer verunreinigten Boden mit gerungenen Händen zu 
Javert bin und jammerte. 

„Seien Sie gnädig, Herr Vavert! Sch ſchwöre es ihnen, ich 
war nicht Schuld. Wenn Sie von Anfang an dabei gemefen 
wären, hätten Sie es felbft gefehen. Diefer Herr, den ich nicht 
fenne, bat mir Schnee in den Rücken geftopft. Darf man uns 
denn Schnee in den Rücken ftopfen, wenn wir ruhig an ben 
Leuten vorübergehen und niemandem etwas fun? Da bin ich 
wütend geworden. Sch bin nicht ganz gefund. Und fhon feit 
einiger Zeit bat er mir immer grobe Sachen gefagt. Du bift 
häßlich, bat er gejagt, und du haft ja Feine Zähne. Ich weiß 


144 


bob, daß ich Feine Zähne babe. Ich babe nichts getan, id 
dachte, laß den Herrn ſich amüfieren. Sch benahm mid anftändig 
und fagte nichts. Da bat er mir den Schnee in den Rücken ge- 
ftopft. Lieber, guter Herr Inſpektor, ift denn niemand dabei- 


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gewefen, der beftätigen kann, daß es fo geweſen ift? Vielleicht 
war es nicht recht von mir, in Wut zu geraten. Aber Sie wiffen 
bob, im erften Augenblick ift man feiner felber nicht Herr. Es 
geht einfach mit einem burd. Und dann plößlich biefe Kälte am 
Rücken, wenn man fih’s gar nicht verfieht. Gewiß war es 


10 Hugo, Die Elenden. 145 


falfd, daB id dem Herrn den Hut beruntergeflagen babe. 
Warum ift er nur weggegangen? ch würde ihn um Derzeihung 
bitten. Mein Gott, e8 Fame mir nicht darauf an, ibn um Yer- 
zeihung zu bitten. Laflen Sie mid diesmal noch durchrutſchen, 
Herr Javert, bedenfen Sie do, im Gefängnis verdient man 
fieben Sous täglich und ich babe hundert Franfen zu bezahlen, 
fonft jagt man meine Kleine fort. Mein Gott, ich Éann fie bob 
nicht bei mir haben. Mit dem gemeinen Beruf... Schicken Sie 
mich nicht ins Gefängnis. Wenn die Kleine nicht gar fo jung 
wäre, Eönnte fie ja felbft ihr Brot verdienen, aber in dem Alter 
geht es doc no nicht. Ich bin von Natur aus gar Feine fchlechte 
Frau. Nur die Faulheit und die Luft, gut zu leben, haben mid 
fo weit gebracht. Branntwein babe ich getrunfen, aber nur, weil 
ich im Elend war, ich mag ihn gar nicht, aber man vergißt alles, 
wenn man davon trinkt. Als ich noch glücklicher war, hätte man 
nur in meinen Schrank fhauen müffen, da hätte man fchon ge- 
feben, daß ich nicht ein Eofettes Frauchen war, das unordentlich 
lebt. Wäſche hatte ich, fo viel Wäſche! Erbarmen Sie fi, Herr 
Javert!“ 


Man erweicht ein Herz aus Granit. Aber ein Herz aus Holz 


ift nicht zu rühren. 

„Vorwärts!“ fagte Javert, „ich babe dich angehört. Biſt du 
fertig? Vorwärts jebt, du haft fehs Monate! Dagegen vermag 
der liebe Gott felbft nichts.“ 

Die Gendarmen griffen nad ihr. 

Seit einigen Minuten ſchon war ein Mann eingetreten, ohne 
daß man feiner geachtet hatte. Er hatte die Tire wieder ge- 
fhloffen, fih an die Wand gelehnt und den verzweifelten Bitten 
Fantines gelauſcht. 

Als die Gendarmen jetzt Hand an die Unglückliche legten, die 
ſich nicht erheben wollte, trat er vor und ſagte: 

„Einen Augenblick!“ 

Javert blickte auf und erfannte Herrn Madeleine. Er 309 
den Hut und grüßte mit einer linkiſchen und ärgerlichen 
Gebärde. 


146 


© 


„Verzeihung, Herr Bürgermeifter.‘’ 

Diefe Worte löften in Fantine eine eigentümlihe Wirkung 
aus. löslich wor fie aufgefprungen, ftief die Gendarmen bei- 
feite, trat vor Madeleine bin, bevor man fie zurüdreißen Fonnte, 
fab ihn ftarr und wütend an und fchrie: 

„Ach, du bift alfo der Bürgermeifter !‘ 

Und fie fpie ibm ins Geficht. 

Madeleine trocknete fein Gefiht und fagte: 

„Inſpektor Javert, feßen Sie diefe Frau in Freiheit.” 

Javert glaubte im Augenbli, er fei wahnfinnig geworden. 
Auf einen Éursen Moment waren die heftigften Erregungen zu- 
fammengedrängt, die er zeit feines Lebens empfunden hatte. Eine 
Dirne fpie einem Bürgermeifter ins Geficht, das war fo unge- 
heuerlich, daß er es für ein Safrileg gehalten hätte, derlei nur 
für möglich zu halten. Gleichzeitig tauchte in ibm der Gedanfe 
auf, diefe beiden Menfhen, die Dirne und der Bürgermeifter 
feien vielleicht von demfelben Schlag, und biefes Attentat fei 
vielleicht gar nicht fo entfeßlich. Als er aber den Bürgermeifter 
fab, diefen Beamten, der fih in aller Ruhe das Gefibt ab- 
trocknete und befahl, man folle diefe Frau in Freiheit feßen, 
verlor er alle Saflung; er Fonnte im Augenblick weder einen Ge- 
danken faffen, noch ein Wort über die Lippen bringen. 

Hatte er vergeflen, daß der Bürgermeifter anwefend war? 
Ober ſchien es ihm fchließlih unmöglich, ſich vorzuftellen, eine 
Obrigfeit Fönne einen derartigen Befehl erteilen? War es fo, daß 
der Bürgermeifter nur etwas anderes gejagt hatte, als er meinte? 

Wie dem auch fei, er wandte ſich mit blaffem, kaltem Gefidht, 
mit einem verzweifelten Blick und leife zitternd an den Bürger- 
meifter und fagte, fo unerhört es aud Elingen mag, mit ge- 
fenftem Blick, aber fefter Stimme: 

„Herr Bürgermeifter, das ift unmöglich.” 

„Wieſo?“ fragte Madeleine. 

„Dieſe Elende bat einen anftändigen Mann beläftigt.” 

„Inſpektor Javert,“ fagte Madeleine ruhig und verfühnlich, 
„hören Sie mid an. Sie find ein Ehrenmann, ich fheue mich 


10* 147 


nicht, Ihnen Erklärungen zu geben. Es war fo: Auf dem Plas, 
von dem Sie diefe Frau wegführten, ftanden noch Leute herum; 
ich babe mich erfundigt und babe alles erfahren. Diefer anftän- 
dige Herr war fhuld, und die Polizei hätte ibn arretieren 
ſollen.“ 

„Aber dieſe elende Perſon bat den Herrn Bürgermeiſter be- 
leidigt“, beharrte Javert. 

„Das geht nur mich an. Eine Beleidigung, die mir angetan 
wird, iſt doch wohl meine Sache. Ich kann tun, was ich will.“ 

„Verzeihung, Herr Bürgermeiſter, aber eine Beleidigung iſt 
keine Privatſache, ſondern geht auch die Behörden an.“ 

„Inſpektor Javert, die höchſte Juſtiz iſt das Gewiſſen. Ich 
weiß, was ich tue.“ 

„Und ich, Herr Bürgermeiſter, weiß nicht, wie ich das alles 
verſtehen ſoll.“ 

„Dann begnügen Sie ſich damit, zu gehorchen.“ 

„Ich gehorche meiner Pflicht. Meine Pflicht iſt, dieſes 
Weibsſtück auf ſechs Monate ins Gefängnis zu ſetzen.“ 

„Hören Sie wohl, was ich ſage“, antwortete Herr Madeleine 
ſanft. „Sie wird nicht einen einzigen Tag abſitzen.“ 

Jetzt wagte Javert, den Bürgermeiſter ſcharf anzuſehen, und 
ſagte mit einer noch immer ſehr ehrerbietigen Stimme: 

„Es iſt mir ſehr unlieb, Herr Bürgermeiſter, Ihnen Wider— 
ſtand leiſten zu müſſen. Es iſt das erſtemal in meinem Leben, 
aber erlauben Sie mir gütigſt zu bemerken, daß ich innerhalb 
der Grenzen meiner Befugniſſe handle. Ich habe ſelbſt geſehen, 
wie dieſes Frauenzimmer Herrn Bamatabois, der Wähler und 
Beſitzer des ſchönen Hauſes mit dem Balkon an der Ede der 
Eſplanade iſt, eines Steinbaues von drei Stockwerken, be— 
leidigte. Nun, wie dem auch ſei, Herr Bürgermeiſter, das iſt 
eine Angelegenheit der Straßenpolizei, die mich angeht, und ich 
behalte dieſes Frauenzimmer in Haft.“ 

Madeleine kreuzte die Arme und ſagte mit einer ſtrengen 
Stimme, wie ſie von ihm noch niemals in der Stadt gehört 
worden war: 


148 


Æ à 
à“ nn — 


„Der Vorfall, von dem Sie fpreden, fällt in die Kompetenz 
der ftädtifchen Polizei. Laut Paragraph neun, elf, fünfzehn und 
fehsundfechzig der Kriminalprogeßordnung bin ich es, der in 
diefer Sache die Entfbeioung zu fällen hat. Sch ordne an, daß 
diefe Fran in Freiheit gefeßt wird.” 

Javert verfuchte eine leßte Anftrengung. 

„Herr Bürgermeifter . . .!/ 

„Ich erinnere Sie an den Paragraphen einundachtzig des 
Gefeßes vom 13. Dezember 1799 über willfürliche Gefangen- 
ſetzung.“ 

„Herr Bürgermeiſter, erlauben Sie ...“ 

„Kein Wort mehr!“ 

„Abher 

„Hinaus!“ rief Herr Madeleine. 

Javert empfing den Schlag aufreht, und ohne mit der 
MWimper zu suden, wie ein ruffifber Soldat. Er verneigte fi 
tief und ging. 

Santine trat zur Seite und fab ihn erftaunt vorübergehen. 
Sie war eine Beute feltfamer Erregung. Eben noch hatten zwei 
feindlihe Mächte um fie gefämpft: der eine, um fie in die 
Sinfternis hinabzuftoßen, der andere, um ihr dag Licht zu brin- 
gen. Während diefes Kampfes, der in ihren erfehrodenen Augen 
gewaltigen Umfang angenommen hatte, waren ihr die beiden 
Männer wie zwei Miefen erfhienen. Und er, den fie aufs 
Ihändlichfte beleidigt hatte, war ihr Metter! Hatte fie ſich ge- 
täuſcht? Mubte fie alles abſchwören, was fie feit langem emp- 
funden hatte? 

Sie fand fih nit zurecht. Faſſungslos blickte fie um fi, 
fühlte, wie bei jedem Wort, das Madeleine ſprach, die furchtbare 
Finfternis des Hafles fih aufhellte und eine neue Freude in 
ihrem Herzen wach wurde. 

Als Javert hinausgegangen war, wandte fi) Madeleine nad 
ihr um und fagte mit langfamer Stimme, gepreßt, als ob er 
Zränen unterdrüde: 

„Ich babe alles gehört. Mir war bas alles ganz unbekannt. 


149 


Ich glaube wohl, daß es fo fein muß, ich fühle es. Ich wußte 
gar nicht, daß Sie nicht mehr in meinen Merfftätten arbeiteten. 
Warum haben Sie fih damals nicht an mich gewandt? ch 
werde Ihre Schulden bezahlen, id werde hr Kind Fommen 
laffen, oder Ste mögen es felbft holen. Sie Fünnen hier Ieben, 
oder in Paris, oder wo immer Sie wollen. Ich werde für Sie 
und hr Kind forgen. Sie follen wieder anftändig und glücklich 
werden.’ 

Es war mehr, als Fantine ertragen Fonnte. Sie folle Cofette 
wiederbefommen, jollte von diefem fehändlichen Leben befreit 
werden! Frei fein, geachtet, mit Eofette! Sie fonnte nur 
ſchluchzen. Ihre Knie Enidten ein, fie fanf vor Madeleine 
nieder, und bevor er fie hindern Fonnte, fühlte er, wie fie feine 
Hand nahm und ihre Tippen darauf preßte. 

Dann fanf fie in Ohnmacht. 


SechstesBuch 
Javert 


l. Erholung 


Madeleine ließ Fantine in jenes Spital fhaffen, das er in 
feinem eigenen Haufe eingerichtet hatte. Er übergab fie den 
Schweftern, die fie zu Bett braten. Ein hisiges Fieber hatte 
fie ergriffen. Sie delirierte einen Teil der Nacht, fhlummerte 
aber endlich ein. 

As fie am nähften Morgen erwachte, hörte fie dicht neben 
dem Bett atmen, fhob den Vorhang beifeite und erfannte 
Madeleine. 

Vebt hatte fi Mabeleines Geftalt in Fantines Augen voll- 
ftändig verändert. Er wor ihr ein Lichtwefen geworden. Lange 
fab fie ihn an und wagte nicht, ibn anzureden. Endlich fragte 
fie ſchüchtern: 

„Bas tun Sie hier?’ 

Madeleine war fhon feit einer Stunde hier. Er wartete auf 


150 








Santines Erwahen. Sekt nahm er ihre Hand, fühlte ihren 
Puls und fagte: 

„ie fühlen Sie ſich?“ 

„But. Sch babe gefchlafen. Sch glaube, es geht fchon beſſer.“ 

Madeleine hatte die Naht und den Morgen damit sugebracbt, 
Erfundigungen einzuziehen. Jetzt wußte er alles, Éannte alle 
Einzelheiten aus Fantines frauriger Gefchichte. 

„Sie haben viel gelitten’, fagte er. „Aber beklagen Sie fic 
nicht, die Hölle, die Sie jeßt verlaffen, ift der Zugang zum 
Himmel. Man muß immer fo anfangen.” 

Er feufite fief. 

Mod in derfelben Nacht fchrieb Vavert einen Brief. Er trug 
ihn felbft am nächften Morgen zum Poftbüro von Montreuil 
fur Mer. Die Anfchrift Iautete: „An Herrn Chabouillet, Se- 
fretär des Herrn Polizeipräfeften.” Da der Vorfall fib be- 
reits in der Stadt berumgefprochen hatte, vermutete die Poft- 
halterin, die den Brief zu feben befam und Javerts Schrift 
erfannte, er reichte feine Entlaffung ein. 

Madeleine beeilte fih, an die Thénardiers zu fehreiben. Fan— 
fine fehuldete ihnen hundertzwanzig Fronfen. Er fandte drei- 
hundert, wies fie an, fich vollends bezahlt zu machen und bas 
Kind fofort nach Montreuil fur Mer zu bringen, da die Mutter 
erfranft ſei und es zu feben wünfche. 

Das feste Thenardier in Staunen. 

„Hol's der Teufel,“ fagte er zu feiner Frau, ,,biefes Kind 
geben wir nicht fo ohne weiteres her. Das wird ja nod eine 
Milchkuh. Mir wird allerlei Élar. Irgendein Idiot bat ſich in 
die Mutter vergafft.” 

Sao' ſandte er eine febr gefchieft aufgeftellte Rechnung über 
© Fünfhundert und einige Sranfen. Sie enthielt unter anderem 
zwei unanfechtbare Poften, eine AÄrzte- und eine Apotheferred- 
nung; Eponine und Azelma hatten nämlich lange Krankheiten 
überftanden. Cofette war, wir fagten es fchon, niemals Franf 
gewefen. Man hatte nur die Namen ausgetaufhf. Auf der 
Rechnung ftand, von Ihenardies Hand gefchrieben: 





151 





„Als Anzahlung erbalten . . . 300 Franken.“ 

Madeleine fandte unverzüglich weitere dreihundert Franken 
und fohrieb: 

„Bringen Sie fofort Cofette.! 

„Himmelherrgott,“ fagte Tbénardier, „Died Kind be- 
halten wir.” 

Inzwiſchen verbefferte fit Santines Zuſtand nicht. Sie lag 
nod) immer im Spital. 

Madeleine befuchte fie täglich zweimal. 

„Werde ich Eofette bald ſehen?“ fragte fie immer wieder. 

„Vielleicht ſchon morgen früh‘, antwortete er. „Sie fann 
jeden Augenblic eintreffen, id erwarte fie.‘ 

Dann ftrablte das Gefiht der Mutter. 

„Oh, ich werde fehr glücklich fein!‘ 

Doch begann ihr Zuftand ſich jeßt fogar von Woche zu Woche 
au verfehlimmern. 

Diefe Handvoll Schnee, zwifchen den Schulterblättern auf 
die nadte Haut gedrückt, hatte eine plößliche Unterdrückung der 
ZIranfpiration zur Folge gehabt, und jeßt brad die feit Jahren 
zurüctgehaltene Krankheit heftig dur. Man folgte damals in 
der Behandlung der Bruftfranfheiten den Indikationen Laën- 
necs. Der Arzt unterfuchte Fantine und fehüttelte den Kopf. 

Madeleine befragte ihn: „Nun?“ 

„Hot fie nicht ein Kind, das fie zu fehen wünſcht?“ 

„Ja.“ 

„Nun, dann beeilen Sie ſich, es kommen zu laſſen.“ 

Madeleine zitterte. „Was bat der Arzt geſagt“, fragte 
Fantine. 

Madeleine bemühte ſich, zu lächeln. 

„Er ſagt, wir ſollen Ihr Kind bald holen. Das wird Ihnen 
die Geſundheit bald wiedergeben.“ 

„Oh, er bat recht! Was haben dieſe Thénardiers nur, daß fie 
Eofette behalten? Ach, fie wird kommen. Dann werde id das 
Glüd bei mir haben.‘ 

Thénarbdier indeflen behielt bas Kind und fand taufend Aus- 


152 


flüchte. Cofette fei ein wenig leidend, jeßt im Winter dürfe fie 
nicht reifen. Auch wären nod einige unbedeutende Schulden zu 
bezahlen, über die noch Feine Nechnungen vorlägen. 

„Ich werde jemand um Cofette fchiefen”, entfehied Vater 
Madeleine. „Wenn es fein muß, fahre ich felbft hin.” 

Er fohrieb folgenden Brief und ließ Fantine unterzeichnen: 


„Herr Tbénarbdier, 


übergeben Sie Cofette dem Überbringer. 
Die fleinen Neftfhulden werden Ihnen bezahlt werden. 


Hochachtungsvoll 
Fantine.“ 


2. Wie Jean zu Champ wird 


Eines Morgens war Madeleine in feinem Arbeitszimmer da- 
mit befhäftigt, einige dringende Angelegenheiten des Bürger— 
meifteramts voraus zu regeln, für den Fol, daß er felbft nad 
Montfermeil reifen müßte, als ihm gemeldet wurde, der Polizei- 
infpeftor wünfche mit ihm zu fprechen. Als Madeleine diefen 
Namen hörte, fonnte er fid einer peinlihen Empfindung nicht 
erwehren. Seit dem Vorfall im Polizeibüro hatte Vavert ihn 
heuer gemieden als je, und Madeleine hatte ibn nicht zu fehen 
befommen. 

„Laſſen Sie ihn eintreten‘, fagte er. 

Madeleine blieb neben dem Kamin fißen, die Augen auf ein 
Aftenbündel gerichtet, in dem er blätterte und Notizen eintrug. 
Er unterbrach feine Arbeit wegen Javerts nicht. Er mußte an 
die arme Santine denfen und wollte ihn eifig behandeln. 

Javert grüßte refpeftvoll den Bürgermeifter, der ibm nod 
immer den Rücken zuwandte. Er trat zwei oder drei Schritte 
vor, dann blieb er ftehen, ohne dag Schweigen zu breden. 

Ein Phyfiognomifer, der mit Javerts Art vertraut gewefen 
wäre und diefen Wilden im Dienfte der Zivilifation, biefe 


153 


bigarre Mifhung aus Nömer und Spartaner, Mönd und Kor- 
poral, diefen Spißel, der nicht zu Lügen vermochte, feit längerer 
Zeit ftudiert hätte, ein ſolcher Phyſiognomiker, der nod dazu die 
alte geheime Abneigung Javerts gegen Madeleine gefannt und 
den Inſpektor in diefem Augenblick gefehen hätte, wäre vor die 
Frage geftellt worden: Was ift mit diefem Mann vorgegangen? 
Dffenbar hatte er eine heftige innere Erfehütterung überftanden. 
Wie alle heftigen Menfhen, war er jähen Stimmungsum- 
ſchlägen ausgefeht. Wie er fo eintrat und fid vor Madeleine 
verneigte, mit einem Blick ohne Groll, Zorn und Miftrauen, 
wie er einige Schritte hinter dem Lehnftuhl des DBürgermeifters 
ftebenblieb, faft in der Haltung eines Schuljungen, in der 
naiven Gebärde eines Menfchen, der nie fanft, aber immer ge- 
duldig war, machte er einen höchſt feltfamen und verblüffenden 
Eindruf. Er wartete, ohne ein Wort zu jagen oder fid zu be- 
wegen, in aufrichtiger Demut und ruhiger Ergebung, bis es dem 
Herrn DBürgermeifter belieben würde, fi) umzumwenden. Sein 
ganzes Weſen atmete Miedergefohlagenheit und Entichloffenheit 
zugleich. 

Endlich legte der Bürgermeifter die Feder beifeite und wandte 
fih Halb um. 

‚Jun, was gibt's, Javert?“ 

Javert blieb einen Augenblick ftehen, als ob er ſich fammle, 
dann fagte er mit trauriger Feierlichkeit, aber doch einfach: 

„Herr DBürgermeifter, ein fchweres Vergeben ift begangen 
worden.” 

„Was denn?‘ 

„Ein niedriger Beamter bat es an Reſpekt gegen eine über- 
geordnete PDerfönlichfeit fehlen laſſen. Ich Fomme zu Ihnen, 
Herr Bürgermeifter, um Ihnen biefe re pflichtgemäß zur 
Kenntnis zu bringen.” 

„Ber ift der Beamte?’ 

„Ich“, ſagte Javert. 

„Sie ſelbſt?“ 

„Jawohl, Herr Bürgermeiſter.“ 


154 


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‚And wer ift der Vorgefehte, der fi) über Sie zu be- 
flagen hat?‘ 

„Sie, Herr Bürgermeifter.‘ 

Madeleine richtete fih in feinem Lebnftubl auf. Javert fuhr 
ernft und mit gefenften Augen fort: 

„Herr Bürgermeifter, ich bitte Sie, meine Amtsentfeßung 
zu beantragen.” 

Madeleine wollte fprechen. Aber Javert fiel ihm ins Wort. 

‚Sie werden fagen, Herr Bürgermeifter, daß ich meine Ent- 
loffung einreichen Fünnte, aber das genügt nicht. Man nimmt 
feinen Abfehied in allen Ehren. Ich aber babe ein Vergehen be- 
gangen und muß beftraft werden. ch muß aus dem Dienft ge- 
jagt werden’, und nad einer Paufe fuhr er fort: „Sie find 
unlängft mit Unrecht ftreng gegen mich gewefen. Seien Sie es 
diesmal mit Recht.“ 

‚Aber was denn?’ rief Madeleine, „was fol das alles nur? 
Mo ift denn diefes Vergehen, das Sie gegen mich begangen 
haben? Sie wollen aus dem Dienft ausscheiden ...“ 

„Entlaflen werden.’ 

„Gut, entlaffen werden. Aber ich verftehe Fein Wort.’ 

„Sie werden gleich verfteben, Herr Bürgermeifter.’ Er 
feufate tief auf, dann fuhr er traurig und Falt fort: „Vor febs 
Wochen, gleich nach jener Szene mit dem Mädchen, babe ich Sie 
in meinem Zorn denunziert.“ 

„Denunziert?“ 

„Bei der Pariſer Polizeipräfektur.“ 

Madeleine pflegte nicht öfter zu lachen als Javert, aber jetzt 
lachte er. 

„Weil ich als Bürgermeiſter mich über die Polizei ge— 
ſtellt habe?“ 

„Nein, als alten Galeerenſträfling.“ 

Der Bürgermeiſter erblaßte. 

Ohne aufzublicken, fuhr Javert fort: 

„Ich glaubte es ſelbſt. Seit langem ging mir das im Kopf 
herum. Eine Ähnlichkeit, eine Auskunft, die Sie in Faverolles 


155 


eingeholt haben, Ybre Kraft, Ihr Bein, das ein wenig lahmt, 
weiß Gott, was noch alles! Dummbeiten! Aber fchließlih Fam 
ich fo weit, daß ich Sie für einen gewiffen Sean Valjean hielt.” 

„Für einen gewiflen . . .? Wie war der Name?‘ 

„Sean Baljean. Das ift ein Galeerenfträfling, den id vor 
zwanzig Sahren fab, als ich in Zoulon im Dienft war. Als er 
aus dem Bagno entlaffen wurde, bat biefer Sean Daljean, wie 
behauptet wird, bei irgendeinem Sifhof einen Diebftahl be- 
gangen. Dann ift er verfhwunden, und feit acht Jahren bat 
man ihn vergeblich gefucht. Sch hatte mir feft eingebildet . . . 
nun, id babe es getan. Zum Schluß gab der Zorn den Aus- 
flag, ich babe Sie bei der Präfektur angezeigt.” 

Madeleine hatte das Aftenbündel wieder vorgenommen und 
fragte vollfommen gleihgültig: 

‚And was bat man Ybnen geantwortet?” 

„Daß ih ein Narr bin.‘ 

„Stun und?‘ 

„Jun, man bat recht.” 

„Es ift ein Glüd, daß Sie das einfehen.”’ 

„Ich muß wohl, denn der richtige Sean Baljean ift gefunden.‘ 

Das Blatt, das Herr Madeleine in Händen bielt, fiel auf 
den Tiſch, er bob den Kopf, fab Savert feft an und rief mit 
unbefchreiblihem Ausdrud: 

„Im Ernſt?“ 

„Ss iſt es, Herr Bürgermeiſter. Irgendwo bei Ailly-Ie- 
Haut-Clocher wohnt ein Kerl, der ſich Champmathieu nennen 
läßt. Ein armfeliger Menfh. Niemand achtet auf ihn. Sole 
Leute leben eben . . . wovon, dag weiß niemand. Kürzlich, im 
legten Herbft, ift diefer Champmathieu verhaftet worden, weil 
er bei irgendeinem . . . es ift ja gleichgültig... . Moftäpfel ge- 
ftohlen bat. Alfo Diebftapl, Einbrud in einem Garten, Be- 
Ihädigung eines Baumes durch Abbrechen von Äften. Mein 
Champmathieu wird verhaftet, mit dem Aft in der Hand. Man 
fperrt ihn ein. Das ift nichts weiter als ein Fleines Vergehen, 
nicht der Dede wert. Aber hier febt die Vorfebung ein. Der 


156 


Polizeifutter war in unmôglibem Zuftand, darum läßt der 
Unterfuhungsrichter Cbampmatbieu nach Arras ins Departe- 
mentsgefängnig bringen. Dort fist ein alter Galeerenfträfling, 
ein gewiflfer Brevet, den man noch immer zurücdhält, der aber, 
weil er fid) gut geführt hat, Zellenauffeher geworden ift. Herr 
Bürgermeifter, ftellen Sie fih vor: Diefer Champmathieu ift 
noch nicht in der Zelle, da ruft biefer Brevet auch fon: ‚Ach, 
den kenn' id ja! Der ift ‚Langjähriger‘. Schau’ mid bob nur 
an, mein Befter! Du bift Jean Valjean. Jean Valjean? Der 
Champmathieu tut ganz erftaunt. ‚Zu nicht, als ob du von 
geftern wärft‘, fagt Brevet. ‚Du bift jean Valjean und warft 
in Toulon im Bagno, vor zwanzig jahren. Wir Éennen uns von 
dort!“ Cbampmatbieu Teugnet natürlih. Das ift ja begreiflic. 
Man geht der Sache nad und findet folgendes: diefer Champ— 
mathieu war vor dreißig Jahren Baumfcherer in verfhiedenen 
Orten, unter anderm aud, wie ausdrüdlic feftgeftellt worden 
ift, in Saverolles. Dann geht feine Spur verloren. Biel fpäter 
taucht er in der Auvergne auf, dann in Paris, wo er, wie be- 
hauptet wird, Zimmermann war und eine Tochter hatte, eine 
Wäſcherin. Aber das ift nicht bewiefen. Was war alfo diefer 
Sean Baljean, bevor er wegen erwiefenen Diebftabls auf die 
Galeeren Fam? Baumfcherer. Wo? In Faverolles. Noch etwas. 
Diefer Daljean hieß mit feinem Taufnamen Sean, und feine 
Mutter mit Familiennamen Mathieu. Was ift begreiflicher, als 
daß er nach feiner Flucht aus dem Bagno den Namen feiner 
Mutter annahm, um feine Spur zu verwifchen, und fih Sean 
Mathieu nannte? Gut, er ging in die Auvergne. Dort fagt man 
nicht jean, man Spricht den Namen dort Shan aus und nennt 
ihn kurzerhand Schan Mathieu. Das laßt fih der Mann gern 
gefallen und fchreibt fih von nun an Champmathieu. Sind Sie 
mir gefolgt? Nun, man zieht in Faverolles Erfundigungen ein. 
Die Familie des Sean DBaljean eriftiert nicht mehr. Spurlos 
verfhmwunden. Sie wiffen, in diefen Kreifen verfehwindet eine 
Somilie, ohne daß etwas auffällt. Wenn folhe Leute nicht ge- 
rade im Kot Ieben, fo do im Staub. Auch liegt diefe ganze 


157 


* 


Gefhichte dreißig Jahre zurüd, und in Faverolles ift Fein 
Menfh zu finden, der fih an Sean Valjean erinnert. Man 
fragt in Toulon nad. Außer Brevet find nod zwei Sträflinge 
ba, die Sean Valjean gefannt haben, zwei ‚Lebenglängliche‘, 
Cochepaille und Chenildien. Man holt fie aus dem Bagno und 
Ihafft fie nah Arras. Sie werden dem angeblihen Champ- 
mathieu gegenübergeftellt. Ohne zu zögern, entfcheiden fie fid. 
Er ift für fie, wie für Brevet, Sean Valjean. Dasfelbe Alter 
— vierundfünfzig Jahre — biefelbe Figur, basfelbe Ausfehen, 
nun, der gleihe Mann. Das war gerade in dem Augenblid, 
als ich meine Denunziation an die Parifer Präfektur fandte. 
Man antwortet mir, ich fei wohl verrücdt, der befagte Sean 
Baljeon befinde fich in Arras und fei in den Händen der Juſtiz. 
Sie begreifen, wie erftaunt id war, da ich doc glaubte, eben 
diefen Sean Valjean hier am Wickel zu haben. ch fbrieb dem 
Unterfuhungsrichter. Er läßt mid Fommen, id werde dem 
Champmathieu gegenübergeftellt ...“ 

Mun?⸗ 

Unbeirrbar und traurig fährt Javert fort: 

„Herr Bürgermeiſter, was wabr iſt, muß wabr bleiben. Es 
tut mir leid, aber er iſt Jean Valjean. Auch ich habe ihn wie— 
dererkannt.“ 

Mabeleine fragte ſehr leiſe: „Sind Sie deſſen ſicher?“ 

Javert lachte ſchmerzlich auf, wie jemand, der vollkommen 
überzeugt ift. 

„Ganz fiber. Und jest, nachdem ich den wirklichen Sean Val— 
jean gefeben babe, begreife ich gar nicht, wie ich bas andere auch 
nur glauben konnte. ch bitte Sie um Verzeihung, Herr Bür- 
germeiſter.“ 

So flehend und ernſt er auch die Bitte an jenen Mann rich— 
tete, der ihn vor ſechs Wochen vor ſeinen Untergebenen ge— 
demütigt hatte, war doch feine Haltung ſtolz und, wenn auch un- 
bewußt, voll Einfachheit und Würde. Madeleine antwortete nur 
mit der jähen Frage: 

„Und was ſagt der Mann?“ 


158 


„Ja, Herr Bürgermeifter, das ift eine ſchlimme Sache. Da 
er Sean Valjean ift, wird er als rüdfalliger Verbrecher be- 
handelt. Wenn ein Junge eine Mauer überfteigt, einen Aft ab- 
bricht und Äpfel Elaut, fo ift es ein dummer Streich; tut es ein 
Mann, fo ift es ein Vergehen; für einen ehemaligen Sträfling 
ift e8 ein Verbrechen. Einbruch und Diebftahl heißt bas dann. 
Das geht nicht mehr die Polizei an, fondern die Affifen. Jetzt 
geht es nicht mehr um ein paar Tage Haft, fondern um lebens- 
länglichen Dienft auf den Galeeren. Hol's der Teufel, der Kerl 
weiß, wozu er leugnet! Schwere Sache für einen andern als 
diefen Sean Valjean. Aber der ift pfiffig. Auch daran erfenne 
ih ihn wieder. Ein anderer würde e8 mit der Angft Ériegen, 
würde jammern und fehreien, alles ableugnen, um feinen Preis 
Sean Baljean fein wollen. Er aber tut, als ob er gar nichts be- 
griffe. Er fagt: ich bin Champmathieu, mehr weiß ich nicht. Er 
tut verwundert und fpielt den Blöden. Ein gefchiefter Kerl. 
Uber es wird ibm nichts nüßen, man bat ja die Beweiſe in 
Händen. Er ift von vier Perfonen wiedererfannt, der alte Gau- 
ner, und wird unweigerlich verurteilt. Die Sache wird bei den 
Affifen in Arras verhandelt. Ich felbft bin als Zeuge geladen.’ 

Madeleine hatte fi) wieder abgewandt, feine Aftenmappe 
aufgefhlagen und las wie ein vielbefchäftigter Mann. Endlich 
fab er ſich nach Javert um. 

„Genug, Savert. Sm Grunde genommen find diefe Einzel- 
heiten für mich unintereffant. Wir verlieren unfere Zeit, und 
wir haben Dringenderes zu tun. Gehen Sie zunädhft zu Frau 
Bufeaupied, der Gemüfehändlerin an der Ede der Rue Saint- 
Saulve. Sagen Sie ihr, fie möchte ihre Klage gegen den Fuhr- 
mann Pierre Chesnelong einreichen. Diefer Lümmel hat neulich 
die Frau und ihr Kind verlegt. Er foll beftraft werden. Dann 
gehen Sie zu Herrn Charcellay in der Rue Montre de Cham- 
pigny. Er beflagt fi, daB eine Negentraufe des Nachbarhauſes 
Waſſer auf fein Grundftüc ableitet und feine Bauten unter- 
wäſcht. Aber haben Sie denn aud Zeit, alles bas zu erledigen? 
Mann fahren Sie nah Arras?! 


159 


„Die Verhandlung ift morgen, ich reife heute abend mit der 
Poſt.“ 

Mabeleine machte eine faſt unmerkliche Bewegung. 

„Wie lange kann dieſe Verhandlung dauern?“ 

„Höchſtens einen Tag. Das Urteil wird ſpäteſtens am ſelben 
Abend gefällt. Ich warte aber nicht darauf, der Ausgang iſt ja 
unzweifelhaft. Sobald ich meine Ausſage gemacht habe, fahre 
ich zurück.“ 

„Gut“, ſagte Madeleine und verabſchiedete Javert mit einer 
Handbewegung. Aber der ging nicht. 

„Verzeihung, Herr Bürgermeiſter ...“ 

„Was gibt's denn noch?“ 

„Ich muß doch aus dem Dienſt gejagt werden.“ 

Madeleine ſtand auf. 

„Sie ſind ein Ehrenmann, Javert, und ich achte Sie. Sie 
übertreiben Ihr Vergehen. Auch dies iſt eine Beleidigung, die 
nur mich angeht. Ich wünſche, daß Sie auf Ihrem Platze ver- 
bleiben.” 

„Herr Bürgermeifter, das geht nicht.” 

„Aber ich fage Ihnen doch, daß das meine Sache iſt.“ 

Javert, ganz feinen eigenen Gedanken nahhängend, erwiderte: 

„Dein, ich übertreibe nicht. Für mich ftellt fih die Sade 
folgendermaßen dar. Sch hatte Sie in falfhem Verdacht. Das 
macht nihts aus. Schließlih ift es ja unfere Pflicht, jedem 
Verdacht nachzugehen. Aber ohne Beweife in Händen, in einem 
Anfoll von Zorn, aus reiner Rachſucht Sie, einen Ehrenmann, 
einen DBürgermeifter, einen Beamten als Galeerenfträfling zu 
benungieren, das ift febr fhlimm. % babe in Ihnen die Obrig- 
feit beleidigt, ich, der ich ein Diener der Obrigkeit bin. Wenn 
einer meiner Untergebenen fo etwas täte, würde ich ihn bienft- 
unfähig erflären und fortjagen. Alſo ...! Und nod eines, Herr 
Bürgermeifter, ich war oft fireng in meinem Leben, ftreng gegen 
die andern. Das war nur gerecht. Wenn ic) aber nicht auch 
gegen mich fireng wäre, wäre alle meine frühere Gerechtigkeit 
nur Lumperei. Darf ich mich denn mehr fhonen als die andern? 


160 


Wäre ich dazu befähigt gemefen, irgend jemanden zu beftrafen, 
wenn ich mich felbft ſchonte? ch wäre ja ein Schuft, id wünfche 
nicht, daß Sie mich gütig behandeln, denn als Sie zu andern 
gütig waren, babe ich es aud nicht gewollt. Darum darf ich es 
auch nicht für mich annehmen. Eine Güte, die es zuwege bringt, 
einer gemeinen Hure gegen einen Bürger recht zu geben, einem 
Polizeingenten gegen einen Bürgermeifter, Furz, dem Miedrigen 
gegen den Hocdgeftellten, dag ift eine fchlechte Güte; fold eine 
Güte müßte die Grundfeften der Gefellfhaft zerftören. Seien 
Sie verfihert, Herr Bürgermeifter, wenn Sie der wären, für 
den ich Sie hielt, wäre ich gar nicht gut zu Ihnen, das hätten 
Sie wohl gemerft! Im Intereſſe des Dienftes verlange ich, daß 
ein Erempel ftatuiert wird. Ich verlange ganz einfach die Dienft- 
enthebung des Inſpektors Javert.“ 

Alles das war in einem zugleich demütigen und ftolgen, ver- 
zweifelten und feften Ton gefprochen. 

„Jun, wir werden ja fehen‘‘, meinte Madeleine. Und er 
reichte ihm die Hand. Javert fuhr zurück und rief zornig: 

„Herr DBürgermeifter, das geht nicht, ein Bürgermeifter hat 
einen gemeinen Spiel nicht die Hand zu geben.’ 

Dann verneigte er fi und ging. 


Siebentes Buch 


Der fall Champmathieu 


1. Shwefter Simplice 


An dem Nachmittage nad Javerts Befuh ging Madeleine 
wie gewöhnlich zu Fantine. Bevor er an ihr Bett trat, ließ er 
Schwefter Simplice rufen. 

Die beiden Nonnen, die in Mabeleines Spital Dienft taten, 
waren Tazariftinnen — wie alle barmberzigen Schweftern — 
und hießen Schwefter Derpetua und Schwefter Simplicia. 

Perpetua war eine Bäuerin wie jede andere auch, eine plumpe 
Derfon, die bei Gott in Dienft getreten war, wie man fonftwo 


11 Hugo, Die Elenden. 161 


in Dienft tritt. Nonne war fie, wie man Köchin ift. Diefe Type 
ift nicht befonders felten. Die Klöfter nehmen folhe Bauers— 
leute gern auf und bilden aus ihnen leicht Kapuziner und Urfu- 
linerinnen. Diefe groben Leute vom Land leiften gewiffermaßen 
die religiöfe Hausarbeit. Man wird unfhwer vom Rubbirten 
sum Karmeliter. Das Foftet Feine große Mühe. Das Leben auf 
dem Dorf und im Klofter fest die gleihe Uniwiffenbeit voraus, 
Mönch und Dauer fteben auf der gleihen Stufe. Man ver- 
längere ein wenig den Kittel, und die Kutte ift fertig. So war 
auch Schwefter Perpetun, die aus Marines bei Pontoife 
ftammte, eine Nonne, die ihren Dialekt beibehalten hatte, mit 
den Kranken nicht fonderlih fchonungsvoll umging und fogar 
einem Sterbenden den lieben Gott ins Gefiht warf, wenn es 
darauf ankam. 

Schweſter Simplice war weiß wie Wade, und wenn man 
fie mit Perpetua verglich, war fie eine Wachskerze gegen ein 
Stearinliht. Wie alt fie war, hätte niemand anzugeben gewußt, 
denn fie fab nicht aus, als ob fie jemals jung geweſen wäre oder 
einmal alt werden follte. jedenfalls war fie ein Gefhöpf — wir 
wagen nicht zu fagen, eine Frau — von großer Ruhe, gutem 
Betragen, Fühlem Empfinden... und fie hatte nie gelogen. 
So fanft war fie, daß fie gebredhlich feheinen Éonnte, aber doc 
wieder hart wie Granit. Die Kranken faßte fie mit fanften, 
weihen Fingern an. In ihrer Rede war, möchten wir fagen, 
fhon das Schweigen, denn fie fprad nur das Allernötigfte, und 
ihre Stimme war fo fanft, daß fie im Beichtftuhl ebenfo an- 
genehm geflungen hätte wie im Salon. Wir fagten bereits, daß 
fie niemals gelogen, oder aud nur aus berechtigtem Yntereffe 
oder gleichgültig irgend etwas gefagt hatte, was nicht die reinfte 
Wahrheit war; bas war ihr befonderer Wefenszug, ihre betonte 
Tugend. Wegen diefer unbeirrbaren Wahrheitsliebe war fie in 
der ganzen Kongregation berühmt. Als fie bei dem heiligen Vin— 
cenz von Paula ihr Gelübde ablegte, hatte fie den Namen Sim- 
plicia gewählt. Die Sizilianerin Simplicia ift, wie der Lefer 
wohl weiß, jene Heilige, die fich lieber die Brüſte ausreißen ließ 


162 











als fagte, fie fei aus Segefta, ba fie bod in Syrakus geboren 
war — obwohl biefe Lüge ihr das Leben gerettet hätte. Das 
war die paffende Schußheilige für diefes Gefchöpf. 

Als fie in den Orden eingetreten war, war fie mit zwei Flei- 
nen Fehlern behaftet, von denen fie fi) allmählich etwas ent- 
wöhnt hatte; fie liebte Süßigkeiten und befam gern ‘Briefe. 

Diefes fromme Mädchen hatte eine Zuneigung zu Fantine 
gefaßt, deren verborgene Tugend fie wohl fühlte, und hatte fic 
zu ihrer befonderen Pflege erbötig gemacht. Madeleine nahm fie 
beifeite und empfahl ihr Santine mit einem Nachdruck, der der 
Schweſter fpäter nod oft in Erinnerung Fam. 

Dann trat er zu Fantine. 

Sie erwartete jeden feiner Befuche wie einen Lichtftrahl. Zu 
der Schwefter hatte fie gefagt: „Ich lebe nur, wenn der Herr 
Bürgermeifter da iſt.“ | 

An diefem Tage hatte fie ſchweres Fieber. Als fie Madeleine 
erkannte, fragte fie: 

„Und Coſette?“ 

„Bald“, antwortete er lächelnd. 

Er behandelte ſie auch diesmal wie gewöhnlich, nur blieb er 
zu Fantines großer Freude eine ganze Stunde. Es wurde auch 
bemerkt, daß er einmal plötzlich ſehr düſter wurde. Man erklärte 
es ſich aber daraus, daß der Arzt ihm leiſe geſagt hatte: „Es 
kann nicht mehr lange dauern.“ 


2. Schweſter Simplice 
wird auf die Probe geſtellt 


Santine verbrachte eine fchlechte Nacht. Der Huften war 
Ihredlih, bas Fieber nahm an Stärfe zu. Sie phantafierte. 
Als der Arzt am Morgen Fam, lag fie im Delirium. Er zeigte 
fid) beunruhigt und ordnete an, daß er gerufen werden follte, 
fobald Herr Madeleine Fäme. 

Den ganzen Vormittag war fie ftumpf, fprad wenig, und 
ihre Augen waren ftarr. Mur von Zeit zu Zeit Teuchteten fie 


u 163 


auf, wie von einem himmlifhen Licht burflutet. Wenn 
Schweſter Simylice fie nad) ihrem Befinden befragte, fagte fie: 

„Danke, es geht mir gut, aber id möchte Herrn Madeleine 
ſehen.“ 

Gegen zwölf kam der Arzt, ſtellte einige Rezepte aus, erkun— 
digte ſich, ob der Herr Bürgermeiſter im Krankenhaus geweſen 
ſei, und ging kopfſchüttelnd weg. 

Gewöhnlich erſchien Herr Madeleine gegen drei Uhr bei der 
Kranken. Da Pünktlichkeit ein Teil der Güte iſt, war er auch 
pünktlich. Schon gegen halb drei begann Fantine unruhig zu 
werden. In einem Zeitraum von zwanzig Minuten fragte ſie 
die Nonne wohl zehnmal: 

„Wie ſpät mag es ſein, Schweſter?“ 

Es ſchlug drei. Beim dritten Schlag ſetzte ſich Fantine auf, 
obwohl ſie ſich ſonſt kaum im Bett bewegen konnte, faltete 
krampfhaft ihre fleiſchloſen, gelben Hände, und die Nonne hörte 
ſie tief aufſeufzen. Dann wandte ſie ſich zur Seite und richtete 
den Blick auf die Tür. 

So verging eine halbe, eine ganze Stunde. Es wurde fünf. 
Die Schweſter hörte, wie ſie leiſe ſagte: „Morgen muß ich fort, 
er hätte heute kommen können.“ Auch Simplice war über 
Mabeleines Verſpätung verwundert. Sie ſandte eine Magd in 
die Fabrik, um ſich zu erkundigen, ob der Herr Bürgermeiſter 
ſchon zu Hauſe ſei und ob er heute nicht ins Spital käme. Bald 
war die Magd zurück. Fantine lag noch immer reglos und ſchien 
ihren Gedanken nachzuhängen. Leiſe erzählte die Magd Schwe— 
ſter Simplice, der Herr Bürgermeiſter ſei am ſelben Morgen 
in einem kleinen Tilbury allein, ja ſogar ohne Kutſcher fort— 
gefahren, ohne daß man wüßte, wohin er ſich gewandt habe. 
Leute wollten ihn auf der Straße nach Arras geſehen haben, 
während andere verſicherten, ſie ſeien ihm auf der Pariſer 
Straße begegnet. 

Während die beiden Frauen miteinander flüſterten, hatte ſich 
Fantine, in der das Fieber wieder aufflackerte, im Bette auf— 


164 





gefest und lauſchte, mit geballten Fäuften auf bas Kiffen geftüst. 
Plötzlich rief fie: 

„Sie fprechen von Heren Madeleine. Warum fprehen Sie fo 
leife? Was ift mit ihm? Warum Eommt er nicht?” 

Ihre Stimme war fo raub, daB die beiden Frauen eine 
Männerftimme zu bören glaubten und fih erfhroden um- 
wandten. 

„Antworten Sie do!” rief Santine. 

Stammelnd fagte die Magd: „Die Frau des Hauswarts hat 
mir gefagt, er Eönne heute nicht kommen.“ 

„Bleiben Sie ruhig, mein Kind,” fagte die Schwefter, ‚legen 
Sie ſich wieder zurück.“ 

Obne ihre Haltung zu verändern, rief Fantine wieder mit 
ihrer rauhen Stimme und in einem befehlenden Ion: 

„Worum fann er nicht kommen? Sie wiffen den Grund. Sie 
haben eben darüber flüfternd miteinander gefproden. % will 
es wiſſen.“ 

Haftig flüfterte die Magd der Nonne zu: „Sagen Sie ihr 
doch, er fei in der Stadtverordnetenverfammlung.’’ 

Schwefter Simplice errötete leifes man mutete ihr zu, fie 
follte Tügen. Andererfeits begriff fie, daB die Wahrheit der 
Kranken ein furhtbarer Schlag fein müßte und bei Fantineg 
elendem Zuſtand böfe Folgen haben fonnte. Nicht lange ver- 
weilte die Nöte auf ihren Wangen. Traurig und ruhig fagte fie: 

„Der Herr Bürgermeifter ift verreift.” 

Santines Augen funfelten. Eine unerhörte Freude verflärte 
ihr vergrämtes Geficht. 

nBerreift! Er holt Coſette.“ 

Und fie bob die Hände zum Himmel, ihr Gefiht nahm einen 
verflärten Ausdrud an, ihre Lippen bewegten fich; leife betete fie. 

„Schweſter,“ fagte fie, nachdem fie gebetet hatte, „ich will 
mic wieder zurüclehnen, ich will alles fun, was man von mir 
verlangt. Ich bin eben recht fchlecht gewefen. Verzeihen Sie mir, 
daß ich fo laut gefproden babe, es ift nicht gut, fo laut zu 
fpreden, das weiß ich wohl, Schweſter, aber fehen Sie, id bin 


165 


febr zufrieden jest. Gott ift gut, und Herr Madeleine ift aud 
gut, benfen Sie fih nur, er ift nah Montfermeil gegangen, 
meine Éleine Cofette abzuholen.” 

Sie legte fib zurüd, half der Monne das Kiffen zuredht- 
rüden und küßte das Fleine, filberne Kreuz, bas fie am Halfe 
trug und das ihr Schwefter Simplice gefchenft hatte. 

„Suchen Sie jest ruhig zu bleiben, Kind,” fagte die Schwe- 
fter, „und fpreben Sie nicht.“ 

„Er ift heute morgen nad Paris gefahren. Er hätte eigent- 
lic) gar nicht bis Paris fahren müffen. Montfermeil liegt, be- 
vor man in die Stadt kommt, linfer Hand. Erinnern Sie fid 
noch, wie er geftern, als ich nad Cofette fragte, geantwortet bat: 
Bald. Er will mir eine Überrafung bereiten, darum ließ er 
mid aud diefen Brief an die Thenardiers unterzeichnen. Die 
Fönnen doch nichts dagegen einwenden, nicht wahr? Sie find ja 
bezahlt. Die Obrigkeit buldet doch nicht, daß einer ein Kind 
zurücfbehält, wenn er fein Geld gefriegt hat. Morgen früh, 
Schwefter, morgen wird er fon zurüc fein, morgen ift ein 
Fefttag für mid. Ja, Montfermeil ift ein Dorf. Ich bin zu 
Fuß von dort herübergefommen, feinerzeit, und da fchien es mir 
recht weit. Aber mit der Poſt ift es wohl eine kurze Strede. 
Morgen wird er mit Eofette hier fein. Wie weit iſt Mont- 
fermeil von hier?’ 

Die Schwefter, die Feine Ahnung davon hatte, antwortete: 
„Oh, ich glaube ſchon, daß er morgen hier fein kann.“ 

Zwifchen fieben und acht Uhr Fam der Arzt. Da er Fein Ge- 
räufch hörte, glaubte er, Santine fhlafe, und näherte fi auf den 
Zehenfpisen dem Bett. Er 309 den Vorhang zurüd und fab fi 
Santine gegenüber, die ibn mit großen, ruhigen Augen anfab. 

„Nicht wahr, Herr Doktor," fagte fie, ‚man wird fie doc 
in einem Eleinen Bett hier neben mir fhlafen laſſen?“ 

Der Arzt glaubte, fie fei wieder im Delirium. 

„Sehen Sie,” fuhr fie fort, „es ift Plaß genug da.’ 

Der Arzt nahm Schwefter Simplice beifeite, die ihm den 
Hergang erzählte. 


166 





Er billigte ihr Verbalten. 

Mirflic ging es Fantine beffer. Der Druck war verringert, 
der Puls ftärfer. Neues Leben befeelte diefen erfchöpften 
Körper. 

„Herr Doktor,” fragte fie, ,,bat die Schwefter Ihnen gefagt, 
daß der Herr Bürgermeifter mir mein Püppchen bringen will?’ 

Der Arzt legte ihr Schweigen auf und ordnete an, daß jede 
Aufregung von ihr ferngehalten werden fol. Auch verordnete 
er ihr einen Aufguß von Cbinarinde und, falle bas Fieber in 
der Nacht zunähme, ein Schlafmittel. Als er ging, fagte er zu 
der Schwefter: „Es ftebt beffer mit der Kranken. Wenn das 
Glück wollte, daß der Herr Bürgermeifter wirklich morgen mit 
dem Kind kommt, wer weiß, die Krifen nehmen oft einen er- 
ftaunlichen Ausgang, und wir Ärzte Eennen Fälle, in denen eine 
plößlihe große Freude den Lauf einer Krankheit hemmt. Ich 
weiß wohl, daß dies eine organifche, weit vorgefchrittene Krank— 
heit ift, aber es gibt Geheimniffe, die ſich nicht ergründen laffen. 
Vielleicht retten wir fie doch.” 


3. Der Reiſende fommtan 
undwillwiederabreifen 


Es war faft acht Uhr abends, als der Wagen des Bürger- 
meifters vor der Poftherberge in Arras vorfubr. Madeleine 
ftieg aus, beantwortete zerftreut die Fragen der Herbergsleute, 
ließ fein Pferd in den Stall bringen, trat in einen Billardſaal 
zu ebener Erde und feßte fic. 

Die Wirtin Fam. 

„Wünſcht der Herr bier zu nädhtigen? Soll gedeckt werden?” 

Er fhüttelte den Kopf. 

„Der Stallknecht fagt, daß das Pferd des Herrn übermüdet 
iſt.“ 

Jetzt brach er ſein Schweigen. 

„Wird das Pferd morgen früh marſchfähig ſein?“ 

„Unmöglich, mein Herr, es muß mindeſtens zwei Tage ruhen.“ 


167 


„Iſt bier das Poſtbüro?“ 

„Ja, mein Herr.‘ 

Die Wirtin führte ihn in dag Büro; er wies feinen Paß vor 
und erfundigte fi, ob er no in derfelben Naht nad Mon- 
treuil fur Mer zurücfahren Éônnte. Der Platz neben dem Ku- 
rier war noch unbefeßt, er belegte und bezahlte ihn. 

„Mein Herr, fagte der Poftbeamte, „ſeien Sie pünftlih um 
ein Uhr nachts zur Stelle.’ 

Dann verließ Madeleine die Gaftwirtfchaft und ging in die 
Stadt. | 

Er kannte Arras nicht und durchſchritt aufs Geratewobl 
einige unbeleuchtete Straßen. Offenbar wollte er niemanden 
nach dem Weg fragen. Er überfohritt die Grinhonbrüde und 
geriet in ein MWirrwarr enger Gaffen, in dem er fid verirrte. 
Endlich, nach einigem Zögern, ſprach er einen Bürger an, warf 
aber vorher einen ſcheuen Bli um fi, als ob er fürchte, ein 
Fremder Fönne feine Frage hören. 

„Wollen Sie mir bitte fagen, mein Herr, wo das Geribts- 
gebäude iſt?“ 

„Sie find wohl nicht aus unferer Stadt?" antwortete der 
Bürger, ein älterer Mann. „Folgen Sie mir. Ich gehe gerade 
dahin. Zur Präfektur. Das Gerihtsgebäude wird gerade aus- 
gebeffert, darum finden vorläufig die Derhandlungen in der 
Präfektur ſtatt.“ 

„Sind aud die Affifen dort untergebracht?’ 

„Gewiß, mein Herr. Die Präfektur war vor der Mevolution 
bas bifhöfliche Palais. Herr de Conzie, der Anno 82 Biſchof 
war, hat darin den großen Seftfaal erbauen laffen, in dem jeßt 
die Schwurgerichtsverhandlungen ftattfinden.” 

Unterwegs fagte der Bürger: 

‚denn Sie einem Prozeß beimohnen wollen, ift es wohl ziem- 
lich fpät. Gewöhnlich wird die Sisung um fechs Uhr aufgehoben.” 

Sie famen auf einen großen Plat, und der Bürger zeigte 
Madeleine vier hohe, erleuchtete Fenfter in der Faflade eines 
düfteren Gebäudes. 


168 








„Weiß Gott, mein Herr, Sie fommen noch zurecht. Da haben 
Sie aber Glüf. Sehen Sie die vier Fenfter? Hier tagen die 
Geſchworenen. Es ift nod Licht, alfo ift die Verhandlung noch 
nicht zu Ende. Sind Sie an der Sache intereffiert? ft es ein 
Kriminalprogeß? Sind Sie etwa Zeuge?” 

„Ich babe damit nidhts zu tun,” antwortete Madeleine, ‚ich 
möchte nur mit einem Rechtsanwalt ſprechen.“ 

„Das ift etwas anderes. Sehen Sie, mein Herr, dort die 
Zür: wo der Poften fteht. Sie brauchen nur die große Treppe 
hinaufzugehen.“ 

Mabeleine folgte dieſer Weiſung und befand ſich einige Mi— 
nuten ſpäter in einem großen Saal, in dem eine Menge von 
Leuten — darunter viele Advofaten — flüfternd in Gruppen 
beifammen ftanden. Es ift immer ein bedrückender Anblick, diefe 
fhwarzgefleideten Leute in den Gerichtsfälen murmelnd bei- 
fammenfteben zu feben. Nur felten ift Erbarmen das Ergebnis 
biefer Geſpräche. Mur zu oft ift die Verurteilung fon im vor- 
aus befchloffene Sache. 

Diefer Raum, der nur von einer Lampe erhellt wurde, war 
ein altes Dorzimmer. Eine Flügeltür, die augenblidlih ver- 
fhloffen war, trennte e8 von dem Saal, in dem die Aſſiſen 
fagten. ; 

In diefer Dunkelheit fheute fi) Madeleine nicht, den erft- 
beften Anwalt, dem er begegnete, anzufprechen. 

„Wie fteht die Sache?” 

„Schon zu Ende.” 

„zu Ende!” 

Er hatte fo gefproden, daß der Advokat fit umiwanbte. 

„Derzeihung, find Sie etwa ein Verwandter?’ 

„Dein, id Eenne niemand hier. Wurde der Angeklagte ver- 
urteilt?’ 

„Selbftverftändlich, bas war nicht anders möglich.‘ 

„Zwangsarbeit?“ 

„Lebenslänglich.“ 

So leiſe, daß der andere ihn kaum verſtand, fuhr er fort: 


169 


„Iſt die Identität feftgeftellt worden?‘ 

„Welche Identität? ES war gar nicht von irgendeiner Iden— 
tität die Rede. Es war ein ganz einfadher Fall: die Frau hatte 
bas Kind getötet, der Kindsmord war bewiefen, aber die Ge- 
fhworenen haben die Frage der Vorſätzlichkeit verneint, daher 
mußte auf ‚lebenslänglich‘ erfannt werden.‘ 

„Alſo eine Frau?” 

„Natürlich. Die unverebelihte Limofin. Wovon ſprachen 
Sie?’ 

„Bon nichts Beſtimmtem. Aber warum ift der Saal nod) 
beleuchtet, wenn alles aus iſt?“ 

„Das ift ein anderer Prozeß, der vor etwa zwei Stunden 
begonnen hat. Ein Fall, der ebenfo Élar liegt. Es handelt fit 
um irgendeinen Kerl, einen rücfälligen Verbrecher, der fchon 
auf den Galeeren war und etwas geftohlen hat. Ich weiß nicht 
einmal feinen Namen. Dem Kerl fieht man übrigens den Ban— 
diten an der Mafe an. Für fein Gefiht allein fhon würde ich 
ihn auf die Galeeren ſchicken.“ 

„Meinen Sie, mein Herr, daß man nod in den Saal Fom- 
men fann?‘ 

„Das halte ich für ausgefhloffen. Es find fhon fehr viel 
Leute drin. Aber vielleicht find nad dem Verhör einige meg- 
gegangen, und Sie Fünnen, wenn die Sikung wieder eröffnet 
wird, bineinfommen./ 

„Wo iſt die Tür?‘ 

„Die große da..." 

Der Anwalt entfernte fih. In wenigen Augenblifen hatte 
Madeleine alle möglihen Empfindungen faft gleichzeitig 
burgefoftet. Die Worte diefes Unbeteiligten hatten fein Herz 
wie eifige Nadeln und glühende Klingen durchbohrt. 

Er trat zu einer der Gruppen und horchte. Da der Geribts- 
bof eine große Anzahl von Prozeflen zu bewältigen hatte, hatte 
der Präfident für heute zwei einfache und Eurze angefest. Mit 
der Kindsmörderin war begonnen worden, und jet follte der 
rücfälige Sträfling an die Reihe Fommen. Der Mann hatte 


170 





Äpfel geftoblen, und nicht einmal bas war hinreichend erwiefen; 
was aber feftftand war die Tatfache, daß er fbon auf den Ga- 
leeren gewefen war. Dadurch verfchlimmerte fi feine Lage. 
Übrigens war bas DVerhör und die Vernehmung der Zeugen 
bereits vorüber; e8 ftanden nur nod die Plädoyers des Ver— 
teidigers und des Staatsanwalts aus; vor Mitternacht würde 
man nicht zum Schluß fommen. Ohne Zweifel würde der An- 
geflagte verurteilt, denn der Staatsanwalt war ein tüchfiger 
Menſch und befam alle feine Opfer zu fallen; ein wißiger 
Menſch, der fogar Verſe fehrieb! Ein Gerichtsdiener ftand neben 
der Zür zum Gerichtsſaal. Madeleine wandte fib an ibn. 

„Bird bald geöffnet?” 

„Es wird nicht mehr geöffnet.” 

„Wie, es wird nicht geöffnet, wenn die Verhandlung wieder 
beginnt?’ 

„Sie bat fhon begonnen, aber e8 wird nicht mehr geöffnet.” 

„Barum ?’ 

„Der Saal ift ſchon überfüllt.” 

„Kein einziger Plat mehr?” 

„Dein, es darf niemand mehr eintreten”, und, nad einer 
Eleinen Paufe: „Es find vielleicht nod zwei oder drei Plätze 
hinter dem Herrn DBorfißenden frei, aber die werden nur an 
Beamte vergeben.” 

Der Gerichtsdiener Fehrte ihm den Rücken. 

Mit gefenftem Haupt entfernte fih Madeleine, durchſchritt 
das Vorzimmer, flieg langfam die Treppe hinab. Offenbar über- 
legte er. Ein heftiger Kampf, der in ibm feit geftern abend 
fobte, war no nicht ausgetragen; jeden Augenblick Fonnte er 
neu aufflammen. Als Madeleine am Zreppenabfaß angelangt 
war, lehnte er fih an die Rampe und Éreugte die Arme. Plöß- 
lich griff er in feine Rocktaſche, 309 ein Portefeuille heraus, 
nahm einen Sleiftift, riß ein Blatt aus einem Motisbud und 
fhrieb darauf: 

„Madeleine, Bürgermeifter von Montreuil fur Mer.’ 

Dann eilte er die Treppe hinauf, drängte ſich durch die 


171 


Menge, trat auf den Gerichtsdiener zu und reichte ihm das 
Blatt. 

‚„Überbringen Sie dies dem Herrn Präfidenten.’ 

Der Gerichtsdiener nahm das Dlatt, warf einen Blick darauf 
und gehordte. 


4. Ein Ort, 
andemmanfih Überzeugungen bildet 


Einige Minuten fpäter ftand Madeleine in einem getäfelten, 
von zwei Kerzen auf einem grünüberzogenen Tiſch erleuchteten 
Kabinett von ftrengem Ausfehen. Er hatte noch die lesten 
Worte des Gerichtsdienerg in den Ohren, der gefagt hatte: 

„Dies bier ift das Deratungszimmer. Sie brauchen nur dort 
die Tür mit der Kupferflinfe zu öffnen und befinden fih im 
Verhandlungsfaal, unmittelbar hinter dem Stuhl des Herrn 
Präſidenten.“ 

Mie dieſen Worten vermiſchte ſich eine vage Erinnerung an 
ſchmale Korridore und dunkle Treppen, die er ſoeben durchquert 
hatte. 

Der Gerichtsdiener hatte ihn allein gelaſſen. Der entſchei— 
dende Augenblick war gekommen. Madeleine bemühte ſich, ſeine 
Gedanken zu ſammeln, konnte es aber nicht. Wenn es am nötig— 
ſten iſt, reißen oft die Fäden, die im Gehirn die Gedanken ver— 
binden. Er befand ſich an dem Ort, wo die Richter beraten und 
ihr Urteil fällen. Mit ſtumpfer Ruhe ſah er in dieſem fried— 
lichen und zugleich ſchrecklichen Zimmer um ſich, in dem ſo viele 
Exiſtenzen vernichtet worden waren und in dem auch bald ſein 
Name ausgeſprochen werden ſollte. Er ſtarrte die Wand an, 
warf einen Blick auf ſich ſelbſt und wunderte ſich, daß er hier 
ſtand. 

Seit vierundzwanzig Stunden hatte er nichts gegeſſen, und 
er war zermürbt von der Fahrt in dem groben Gefährt; aber 
er fühlte nichts, empfand nichts. 

Er näherte ſich einem ſchwarzen Rahmen, der an der Wand 


172 





hing und unter Glas einen alten, handfehriftlichen Brief des 
Herrn Jean Nicolas Pace, DBürgermeifters von Paris und 
Minifters, offenbar irrtümlich datiert vom 9. juni des Jah— 
res II, enthielt. In diefem Brief überfandte Pace der Kom- 
mune die Lifte der Minifter und Deputierten, die in Haft ge- 
halten wurden. Ein Zeuge, der Madeleine in biefem Augenblid 
beobachtet hätte, wäre ohne Zweifel zur Anficht gefommen, daß 
diefer Brief ihn fehr intereffierte, denn er ließ ihn nicht aus dem 
Auge, fondern las ihn wohl zwei- oder dreimal. Und doch begriff 
er nichts von feinem Inhalt. 

In Gedanken verfunfen, wandte er fih um, und fein Blick 
fiel auf die Rupferflinfe der Tür zum Verbandlungsfaal. Er 
hatte fie faft vergeflen. Sein Blick blieb an der Klinfe hängen 
und wurde ftarr; Beftürzung fpiegelte fih in feinen Mienen. 
Schweiß perlte von feiner Stirn und riefelte über feine Schlä- 
fen herab. 

Mit einer entfchloffenen Gebärde wandte er fi ab; e8 war, 
als ob er fagen wollte: Großer Gott, muß ich denn? Er fab 
vor fi die Tür, durch die er eingetreten war, ging mit feften 
Schritten auf fie zu, öffnete fie und trat hinaus. Schon war er 
im Korridor, einem langen, fhmalen Korridor mit Stufen und 
Schaltern. Er atmete auf und laufchte. Nichts war zu hören. 
Da begann er zu laufen, als ob man ihn verfolgte. 

Er bog um mehrere Eden, endlich blieb er wieder ftehen und 
taumelte, fo daß er fi) an die Wand lebnen mußte. Der Stein 
war Falt, eifig lag der Schweiß auf feiner Stirn. Er fhaubderte. 

So verging geraume Zeit. Endlich fenfte er den Kopf, feufzte 
qualvoll auf, ließ die Arme berabfallen und ging langſam zurüd. 
Es war, als ob jemand ihn eingeholt hätte und zurücführe. 

Mieder gelangte er in bas Beratungszimmer. Sein Blick fiel 
auf die Klinfe. Sie glißerte wie ein furdtbarer Stern. Er fab 
fie an, wie das Schaf in bas Auge des Tigers blick. 

Er Éonnte den Blick nicht davon wenden. 

Schritt für Schritt näherte er fi der Tür. 

Wenn er geborcht hätte, wäre wohl ein undeutlihes Gemurmel 


173 


aus dem Mebenraum an fein Ohr gebrungen; aber er 
horchte nicht. 

Saft ohne es felbft zu bemerken, ftand er plôblid vor der Tür 
und griff Érampfhaft nach der Klinke. Er öffnete und befand 
fi im Verhandlungsſaal. 

Mechaniſch ſchloß er die Tür hinter fich, blieb ftehen und hielt 
Umſchau. 

Er befand ſich in einem geräumigen, ſchlechterleuchteten Saal, 
in dem es bald lärmend zuging, bald wieder ſtill war; hier 
wickelte ſich ein Kriminalprozeß mit ſeiner ganzen albernen und 
düſteren Gewichtigkeit vor den Augen der Menge ab. 

Auf der einen Seite des Saales, auf der auch er ſich befand, 
ſah er Richter mit zerſtreuten Mienen in abgetragenen Talaren, 
die an ihren Nägeln kauten und mit den Augenlidern klappten; 
auf der anderen Seite eine Menge in Lumpen; Advofaten in 
allen möglichen Haltungen; Juſtizſoldaten mit biederen, harten 
Gefihtern; alte, ſchmutzige Täfelung, ein unfauberer Plafond, 
Zifehe, die mit vergilbtem, ehemals grünem Serge überzogen 
waren, Türen mit fhwarzen Fingerabdrüden. An Nägeln hän- 
gende Lampen, die mehr Qualm als Licht verbreiteten; auf den 
Zifhen Kerzen in SKupferleuchtern. Finfternis, Häßlichkeit, 
Zraurigfeit. 

Niemand achtete feiner. Alle Blicke waren auf einen Punft 
gerichtet, eine Holzbank, die an eine Eleine Türe gelehnt war, 
linfer Hand vom Platz des Präfidenten. Auf diefer Bank faß 
ein Mann zwifchen zwei Gendarmen. 

Diefer Mann war er. 

Madeleine fuchte ihn nicht, er fab ihn fofort. Wie von felbft 
richteten fich feine Slide auf ibn, als ob er im voraus gewußt 
hätte, wo er war. 

Er glaubte ſich felbft zu fehen, gealtert, nicht ganz mit dem- 
felben Geſicht, aber dod ähnlich in der Haltung, mit ftruppigen 
Haaren, mit diefem wilden, unfteten Blick, in diefer felben gro- 
ben Joppe — er, wie er feinerzeit nad Digne gefommen war, 
Haß im Herzen, forgfältig diefen furdhtbaren Schak häßlicher 


174 


ne à SA NS 


Gedanken in feiner Seele verbergend, die er in neungehn Jahren 
der Kerferhaft gefammelt hatte. 

Diefer Menfdh fehien mindefteng fechzig Sabre alt zu fein. 
Es war etwas Rohes, Blödes, Verfhredtes in feinem Werfen. 

Als die Türe ging, war man zur Seite getreten, um Mabe- 
leine Plat zu machen; der Präfident hatte ben Kopf gewandt, 
hatte erraten, daß der Eintretende der Bürgermeifter von Mon- 
freuil fur Mer fein mußte und hatte gegrüßt. Der Staats— 
anwalt, der Madeleine in Montreuil fur Mer kennengelernt 
hatte, wohin ibn minifterielle Aufträge geführt hatten, erkannte 
ihn und grüßte gleichfalls. Madeleine bemerfte es Faum. 

Richter, Schreiber, Gendarmen, eine Menge graufam neu- 
gieriger Zufchauer, das hatte er alles fon einmal gefehen, da- 
mals, vor fiebenundzwanzig Jahren. Sekt fand er diefe graufigen 
Dinge wieder; fie erneuerten fich, fie eriftierten nod immer. 
Nicht fein überreizstes Gedächtnis hatte ihm bas vorgefpiegelt, 
dies waren wirflihe Gendarmen und wirflihe Micter, eine 
wirflihe Menge — Menfhen von Sleifh und Blut. Jetzt er- 
wachte die Vergangenheit rings um ibn, Gefpenfter tauchten 
wieder auf, die graufigen Erinnerungen feiner Resp Ass 
erftanden zu neuer, furchtbarer Wirklichkeit. 

Dies alles war ein gähnender Abgrund vor ihm. Er ſchloß 
die Augen, etwas in feiner Seele fagte ibm: Mie wieder! 
Niemals! 

Und burd eine tragifhe Fügung des Schickſals, bas ihn zum 
Mahnfinn treiben wollte, war er felbft es, der da vor ihm ftand, 
war er es — und biefer Mann, über dem man zu Gericht ſaß, 
wurde von allen Sean Valjean genannt. 

Alles war wieder auferftanden, diefelbe Mitternachtsftunde, 
faft diefelben Gefichter der Nichter, der Vuftisfolbaten und Zu- 
fhauer. Mur bing jest über dem Kopf des Präfidenten ein 
Kruzifir, das war damals, als er verurteilt worden war, nicht 
fo gewefen. Damals hatte man in Abwefenheit Gottes Recht 
gefprochen. 

Ein Stuhl ftand hinter ibm; er fanf darauf, von dem 


175 


Gedanken gepeinigt, man Fönne ibn feben. Er verbarg ſich hinter 
einem Stayel von Kartons, die auf dem Richtertiſch Tagen. 
Sest Eonnte er feben, ohne gefehen zu werden. Allmählich ge- 
wann er Saflung. Er erlangte wieder das Gefühl für die Wirf- 
lichkeit. Er war ruhig genug, um zuhören zu Eönnen. 

Herr Bamatabois befand fit unter den Gefchworenen. 

Jetzt fuchte Madeleine Javert, aber er fab ihn nicht, viel- 
leicht, weil die Zeugenbanf durch den Tifd des Schreibers ver- 
det war. Auch war der Saal, wie wir fon fagten, fpärlich 
beleuchtet. Als Madeleine eintrat, hatte der Anwalt fein Plä— 
doyer gerade beendet. Jetzt ſchickte fi der Staatsanwalt an, zu 
antworten. Es war eine ebenfo energifche wie gezierte Rede, 
die er hielt, die übliche NMede eines Staatsanwalts. 

Zunächſt beglückwünſchte er den Verteidiger zu der Aufrichtig- 
Éeit, mit der er gefproden, und machte fih die Zugeftändniffe, 
die er aus der Mede des Advofaten herausgehört, zunuße. Was 
der Advokat des Beſchuldigten einbefannt hatte, galt ihm als 
Geftändnis des Angeklagten felbft. Diefer Anwalt fhien ein- 
räumen zu wollen, daß der Angeklagte Sean Valjean fei. Das 
ftellte der Staatsanwalt feft. Diefer Menfh war alfo Sean 
Valjean. In diefem Punkte war die Anklage durchgedrungen, 
und man brauchte nicht weiter darüber zu fprechen. Jetzt ging 
er in einer gefchieften Abſchweifung auf die feelifchen Urfochen 
und Quellen der Kriminalität zurüd, fbleuderte den Donner 
der Verdammnis gegen die romantifhe Schule der Literatur, 
die damals noch jung war und von den Kritikern der ,,Ori- 
flamme’ und der ,, Quotidienne!’ als fataniftifche Schule ver- 
dammt wurde, wies — nicht ohne alle Wahrfcheinlichkeit — 
auf den Einfluß bin, den diefe perverfe Literatur auf Champ— 
mathieu ausgeübt haben mußte, oder eigentlih, auf Sean Val- 
jean. Nachdem er alles verbraucht hatte, was fit hierüber fagen 
läßt, Éebrte er wieder zu Sean Baljean zurüd. Wer war diefer 
Sean DBaljean? Ausführlihe Befchreibung des Mannes. Ein 
Ungeheuer, ausgefpien... ufw. ufw. Den Urtert aller Be— 
fhreibungen diefer Art findet man in dem Monolog des Thera- 


176 








PS ne u. De TOR Tr 
— R 








menes, der zwar auf der Bühne nicht viel taugt, aber der judi- 
ziellen Beredfamfeit große Dienfte geleiftet hat und nod täg- 
lich Teiftet. Sobald biefe Befchreibung beendigt war, rief der 
Staatsanwalt in einer oratorifhen Wendung, die ganz darnad 
angetan war, in der nächften Nummer des „Journal de Ia Pré- 
fecture// rühmend erwähnt zu werden: Und ein folder Menſch 
ufw. ufw., Vagabund, Bettler, ohne Eriftenzmittel, ufw. ufw., 
durch fein Vorleben allein fon befähigt zu allen Schandtaten 
und durch einen Aufenthalt im Bagno Faum gebeflert, ufw. ufw., 
ein folher Menſch, in flagranti bei einem Diebftahl ertappt, 
nur wenige Schritte entfernt von der Mauer, die er überftiegen, 
den geftohlenen Gegenftand no in Händen, ein folder Menſch 
leugnet fein Vergehen, den Diebftahl, den Einbruch, leugnet 
alles, fogar feinen Nomen, ja fogar feine Identität. 

„Bon hundert anderen Beweifen ganz zu ſchweigen,“ fuhr er 
fort, ‚auf die wir hier nicht zurückkommen wollen, wird er von 
vier Zeugen wiedererfannt, von Javert, dem untadeligen Polizei- 
infpeftor Yavert, und von drei ehemaligen Genoffen feiner 
Schande, den Sträflingen Brevet, Chenildien, Cocepaille. 
Mas wagt er biefer niederfehmetternden Einftimmigfeit ent- 
gegenzuftellen? Er leugnet! Welche Derftoctheit! Sie werden 
Gerechtigkeit üben, meine Herren Gefchiworenen, ufw. ufw. . . .!! 

Mährend der Staatsanwalt fprad, horchte der Angeflagte 
mit offenem Munde, mit einem Staunen, dag an Bewunderung 
ftreifte. Er war offenbar überrafcht, daß man fo ſchön ſprechen 
fonnte. Manchmal, an befonders energifchen Stellen der Mede, 
wenn die überftrömende DBeredfamfeit wie ein Orkan über den 
Angeklagten bereinbrad und Epitheta dur die Luft wirbelte, 
fhüttelte er leife den Kopf zum Zeichen feiner traurigen, ftum- 
men Beſchwerde. Zwei- oder dreimal hörten die Zufchauer, die 
ihm am nächſten faßen, wie er leife fagte: , Das fommt davon, 
daß man Herrn Baloup nicht gefragt hat.” Der Staatsanwalt 
machte die Gefchworenen auf diefes alberne, offenbar berechnete 
Gebaren aufmerffam, das beileibe nicht Dummheit, fondern Ge- 
ſchicklichkeit, Schlauheit, Gewandtheit und Betrug bemeife, und 


12 Hugo, Die Elenden. 177 


wies darauf bin, daß folhes Verhalten die tiefe Verderbtheit 
de8 Angeklagten neuerlich ans Tagesliht bringe. Er beantragte 
eine ftrenge Beftrafung. 

Der Verteidiger erhob fib, begann mit einigen Komplimen- 
ten über die bewunderungswürdige DBeredfamfeit des Staats— 
anwalts, replizierte, fo gut er Éonnte, gegen einige Argumente, 
fand aber Feine ftarfen Worte; offenbar hatte er das Gefühl 
eines Mannes, dem der Boden unter den Füßen weggezogen 
wird. 


5. Alles leugnen 


Sest waren die Plädoyers zu Ende. Der Prüfibent ließ den 
Angeklagten auffteben und richtete an ihn die üblihe Frage: 

„Haben Sie Ihrer Verteidigung etwas hinzuzufügen?’ 

Der Mann ftand da, drehte fein abjheuliches Hütchen zwi- 
fhen den Händen und fchien nichts zu begreifen. 

Der Präfident wiederholte feine Frage. 

Diesmal verftand ihn der Angeklagte. Er machte eine Be— 
wegung, als ob er aus dem Schlaf aufwache, ließ feinen Blick 
ringsum fhweifen, fab bas Publifum, die Gendarmen, feinen 
Advofaten, die Gefhworenen, den Gerichtshof an, legte feine 
ungeheure Fauft auf den Bord der Barriere vor feiner Bank 
und begann plößlich, mit einem Blick auf den Staatsanwalt, zu 
fprehen. Es war wie der Ausbruch eines Vulfans. So un- 
zufommenhängend braden die Worte aus feinem Mund ber- 
vor, daß fie ins Gedränge Éamen und alle gleichzeitig über feine 
Lippen zu gleiten verfuchten. 

„Ich babe folgendes zu fagen”, begann er. „Ich war Zim- 
mermann in Paris, nämlich bei Herrn Baloup. Es ift ein harter 
Beruf. As Zimmermann arbeitet man immer im Freien, im 
Hof, oder bei guten Meiftern in irgendeinem Schuppen, aber 
niemals in gefchloffenen Werfftätten, denn diefe Arbeit braucht 
Raum, verftehen Sie. Im Winter ift es fo Falt, daß man mit 
den Armen um fi fehlagen muß, um ein wenig Wärme zu be- 
kommen; aber die Meifter können das nicht leiden, denn fie 


178 





fogen, es ift verlorene Zeit. Eifen in der Hand zu halten, wenn 
das Pflafter friert, ift hart. Das verbraudt einen Menfchen 
raſch. In diefem Beruf wird man rafc alt. Mit vierzig ift einer 
fertig. Ich babe es bis dreiundfünfzig gebracht, das war eine 
große Plage. Und die Arbeiter find auch nicht gut. Wenn einer 
nicht mehr ganz jung ift, dann nennen fie ihn alter Ærottel 
und alter Efel. Sch babe nur dreißig Sous im Tag befommen, 
den Meiftern war es recht, daß fie fit auf mein Alter aus- 
reden Eonnten. Und dazu hatte ich noch meine Tochter, die Wä— 
fherin. Sie verdiente natürlih aud ein wenig. So zufammen 
ging’s gerade. Sie hatte es aud nicht leicht. Den ganzen Tag 
mit dem halben Leib im Waſſer, ob es regnet oder fehneit, und 
der Wind fährt einem ins Gefibt; fogar wenn e8 friert, immer 
dasfelbe, immer wafchen! Manche Leute haben nicht viel Wäſche, 
und denen ift es immer befonders eilig! Wäſcht man es nicht 
gleich, ift man den Kunden los. Die Bretter find ſchlecht zu- 
fammengefügt, überall träufelt es durch. Die ganzen Kleider 
werden durch und durch naß. Das geht durd die Haut. Sie hat 
aud) bei ben Enfants-Mouges gearbeitet, dort kommt das Waſſer 
aus Möhren, man muß nicht felber im Waſſer ftehen. Vor fi 
bat man bas fließende Waſſer, hinter fih den Bottih zum Spü— 
len. Alles im gefchloffenen Raum — da bat man es nit fo 
alt. Aber ein Dampf ift dort, fhrecdlih, und dag geht einem 
in die Augen. Um fieben Uhr abends fam fie nach Haufe, und 
gleich darauf bufd ins Bett! So mid’ war fie. Ihr Mann 
prügelte fie. Sie ift ſchon tot. Wir find nicht befonders glücklich 
gewefen. Sie war ein braves Mädel, ging nie auf den Ball, 
war immer ruhig. Sch erinnere mich an einen Karnevalgabend, 
ba legte fie ſich um act Uhr ins Dett, jamobl. Das ift die 
reinfte Wahrheit. Sie brauchen nur zu fragen. Wenden Sie 
fit an Herren Baloup. Fragen Sie den. Anfonften weiß id 
nicht, was man von mir will.’ 

Er fhwieg. Seine Nede hatte er laut, rafh, beifer und raub 
gehalten mit einer naiven, wilden Gereiztheit. Einmal hatte er 
fib unterbrochen, um jemand in der Menge zuzuniden. Die 


12* 179 


Behauptungen Éamen rudiweife aus ibm heraus, und er befräf- 
tigte fie mit Gebärden, als ob er Holz hadte. Als er zunde war, 
begannen die Zuhörer fhallend zu lachen. Er fab um fi, und 
als er alle lachen fab, begriff er nicht und begann auch zu lachen. 

Es war unheimlid. 

Der Präfident, ein aufmerffamer und wohlwollender Menſch, 
begann zu fprehen. Er brachte den Geſchworenen in Erinnerung, 
daß Herr Baloup, der ehemalige Brotherr des Angeklagten — 
wenn man ibm glauben dürfe —, daß alfo Herr Baloup ver- 
geblich geladen worden fei. Er hatte Bankerott gemacht und 
war nicht mehr aufzufinden. Dann wandte fih der Präfident an 
den Angeklagten, forderte ihn auf, aufmerffam zuzuhören, und 
fagte: 

„Sie befinden fid in einer Lage, in der man alles überlegen 
muß. Schwerer Verdacht laftet auf Ihnen, das Schlimmfte 
ftebt zu befürdten. In Ihrem Intereſſe fordere ih Sie no 
einmal auf, erklären Sie fi über diefe zwei Punkte: erftens, 
haben Sie, ja oder nein, die Mauer des Gartens des Herrn 
Pierron überftiegen, einen Aft abgebrochen und die Apfel ge- 
ftohlen, alfo Einbruhsdiebftahl begangen? Zweitens, ja oder 
nein, find Sie der entlaffene Galeerenfträfling Sean Valjean?“ 

Der Angeklagte fchüttelte den Kopf wie einer, der wohl ver- 
fteht, was er antworten fol, tat auch den Mund auf, wandte 
fid) dem Präfidenten zu und fagte: 

„Alſo zunächſt mal...” 

Dann ſah er zunächſt ſeinen Hut, dann den Plafond an und 
verſank in Schweigen. 

„Angeklagter,“ rief der Staatsanwalt ſtreng, „paſſen Sie 
auf. Sie antworten auf nichts, was man Sie fragt. Ihre Ver— 
wirrung allein verurteilt Sie. Es iſt klar, daß Sie nicht 
Champmathieu heißen, ſondern der Galeerenſträfling Sean Val— 
jean ſind, der ſich zunächſt unter dem Mamen Jean Mathieu zu 
verbergen ſuchte, dem Namen ſeiner Mutter, der dann in der 
Auvergne war, ebenſo in Faverolles — und dort Baumſcherer. 
Es iſt vollkommen klar, daß Sie bei einem Einbruchsdiebftahl 


180 








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reife Äpfel aus dem Garten des Herren Pierron geftoblen haben. 
Die Herren Gefchworenen werden fih barnad zu richten 
wiſſen.“ 

Der Angeklagte hatte ſich geſetzt. Jetzt aber ſprang er auf 
und ſchrie: 

„Sie ſind ein ganz ſchlechter Menſch! Das wollte ich ſagen. 
Und noch anderes, aber ich fand nicht die Worte. Geſtohlen habe 
ich gar nichts. Ich bin einer, der nicht alle Tage ißt. Ich kam 
von Ailly, es war nach einem Regen, der Boden war ganz gelb, 
und überall ſtand noch Waſſer; gerade daß am Wegrand die 
Grashalme hervorſtanden. Ich fand am Boden einen abgebroche— 
nen Aſt, auf dem noch Apfel waren, den habe ich aufgehoben, 
weil ich nicht dachte, daß man dadurch in Schwierigkeiten kommt. 
Jetzt ſitze ich drei Monate im Gefängnis, und man ſpringt mit 
mir ſo um! Man ſagt allerlei, verlangt, ich ſoll antworten, der 
Gendarm, der ein guter Kerl iſt, ſtößt mich mit dem Ellbogen 
an und flüſtert mir zu: So red' doch! Ich weiß aber nicht, wie 
ich es ſagen ſoll, ich bin kein Studierter. Das iſt falſch, daß nie— 
mand das ſehen will. Geſtohlen habe ich nichts, ich habe etwas 
von der Erde aufgehoben, was dort lag. Sie reden von Jean 
Valjean und Jean Mathieu. Ich kenne dieſe Leute nicht. Das 
ſind Dörfler, ich aber habe bei Herrn Baloup gearbeitet, in der 
Spitalſtraße. Ich heiße Champmathieu. Wenn Sie mir ſagen, 
wo ich geboren bin, da müſſen Sie recht ſchlau ſein, denn ich 
weiß es ſelber nicht. Nicht alle Leute haben Häuſer, worin ſie 
zur Welt kommen. Das wäre ja verdammt gemütlich. Ich 
glaube, mein Vater und meine Mutter waren Leute, die auf 
der Landſtraße lebten. Mehr iſt mir davon nicht bekannt. Als 
ich ein Kind war, nannte man mich Kleiner, jetzt werde ich 
Alter gerufen. Das ſind meine Taufnamen. Halten Sie es da— 
mit, wie Sie wollen. Ich war in der Auvergne, ich war in 
Faverolles, aber du lieber Himmel, kann man nicht dort ge— 
weſen ſein, ohne ein Sträfling zu ſein? Ich ſage Ihnen, daß ich 
nichts geſtohlen habe und daß ich Champmathieu bin. Ich war 
bei Herrn Baloup in Dienſt und hatte eine eigene Wohnung. 


181 


Machen Sie endlib Schluß mit diefem Unfinn. Warum ift 
denn alle Welt darauf aus, mir etwas anzutun?‘ 

Der Staatsanwalt war ftehengeblieben. est wandte er fi 
an den Präfidenten: 

„Herr Präfident, in Anbetracht der wirren, aber fhlauen 
Verſuche des Angeflagten, alles abzuleugnen, in Anbetracht der 
Tatſache, daß er für einen Idioten gehalten werden möchte, was 
ibm allerdings nicht gelingt: und bas möge er fi gejagt fein 
laſſen — ftellen wir den Antrag, der Gerichtshof möchte neuer- 
dings die Sträflinge Brevet, Cobepaille und Chenildieu fowie 
den Polizeiinfpeftor Javert vorrufen und fie ein letztes Mal 
über die Ydentität des Angeklagten mit dem Sträfling Sean 
Valjean befragen.’ 

Auf die Ermiderung des Präfidenten, daß der Inſpektor Ja— 
vert fofort nach feiner Dernehmung wieder die Stadt verlaffen 
habe, wozu ibm au die Erlaubnis erteilt worden fei, be- 
ſchränkte fi) der Staatsanwalt auf den Antrag, die drei Zeugen 
Brevet, Chenildieu und Cochepaille noch einmal zu vernehmen. 

Der Präfident wies einen Geribisdiener an, und einen 
Augenblick ſpäter öffnete fi die Tür des Zeugenzimmers. Der 
Gerichtsdiener, von einem Gendarmen begleitet, führte den 
Sträfling Brevet herein. Der alte Galeerenfträfling trug die 
Ihwarzgraue Yade der Zentralgefängniffe. Er mochte etwa fech- 
zig Jahre zählen und fab halb wie ein Kaufmann, halb wie ein 
Schuft aus. Es befteht ja zuweilen eine Ähnlichkeit... Nun, 
in dem Gefängnis, in bas neue Verfeblungen ihn gebradt hat- 
ten, war er faft fo etwas wie ein Schließer geworden. Jeden— 
falls war er ein Mann, von dem die Vorgefesten fagen: er fucht 
fit nüßlich zu machen. Die Gefängnisgeiftlichen beftätigten, daß 
er religiös war. Man darf nicht vergeflen, daß diefe Vorfälle 
in der Zeit der Reſtauration fpielen. 

„Brevet,“ fagte der Präfident, „Sie haben eine entehrende 
Strafe abzubüßen und dürfen daher feinen Eid ablegen.” 

Brevet blidte zu Boden. 

„Immerhin,“ fuhr der Präfident fort, „kann auch in einem 


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Menfhen, den das Gefek entehrt bat, mit Gottes Einwilligung 
ein Gefühl für Recht und Ehre wach bleiben. An diefes Gefühl 
appelliere ich in biefer entfcheidenden Stunde. Wenn es, wie ich 
hoffe, in Ihnen no lebt, dann überlegen Sie, bevor Sie ant- 
worten, und ziehen Sie in Betracht, daß diefes Wort einerfeits 
den Mann dort verderben, andererfeits aber die Juſtiz aufklären 
fann. Der Augenblick ift feierlich, noch immer haben Sie Zeit, 
fi zurückzuziehen, wenn Sie einen Irrtum aud nur für mög- 
lich halten. — Angeflagter, ftehen Sie auf! — Brevet, fehen 
Sie den Angeklagten an, fammeln Sie Ihr Gedächtnis und 
fagen Sie bei Ihrem Gewiffen und dem Heil Ihrer Seele, ob 
Sie bei Ihrer Ausfage verharren und diefen Mann als Ihren 
alten Kameraden aus dem Bagno, Jean Baljean, erfennen.” 

Brevet fab den Angeklagten an, dann wandte er fih dem 
Gerichtshof zu. 

„Ja, Herr Präfident, ich babe ihn gleich erfannt, und es ift 
jest aud nicht anders; biefer Mann ift Jean Valjean. Er Fam 
1796 nad Toulon und wurde 1815 entlaffen. Ich wurde im 
nächften Jahre freigelaffen. Er fieht jest blöd aus, aber bas ift 
eine Folge des Alters; im Bagno war er ein rechf gewißigter 
Kerl. Ich erfenne ihn ganz beſtimmt.“ 

„Segen Sie fi," fagte der Präfident, „Angeklagter, bleiben 
Sie ſtehen.“ 

Jetzt wurde Chenildieu hereingeführt, ein „Lebenslänglicher“, 
wie die rote Yade und die grüne Müse erkennen ließen. Er 
verbüßte feine Strafe in Toulon, von wo er hierher geholt 
worden war. Er war Flein, etwa fünfzig Sabre alt; lebbaff, 
fred, hatte fiebrige Augen und viele Falten in feinem gelben 
Gefiht. Bei feinen Gefährten im Bagno hieß er Ohnegott. 

Der Präfident richtete etwa diefelben Worte an ihn wie an 
Brevet. Als er ihn daran erinnerte, daß fein Ehrverluft ibn des 
Rechtes beraube, den Zeugeneid zu fchwören, bob Chenildieu 
den Kopf und ließ feinen Blick über die Menge hinfchweifen. 
Der Präfident forderte ihn auf, fi zu fammeln, und fragte ihn, 
ob er den Angeklagten Éenne. 


183 


Chenildieu lachte laut. 

„Ob ich den Eenne! Fünf Sabre lang find wir an berfelben 
Kette gebangen! Du nimmft es mir bob nicht übel, Alter?’ 

„Sesen Sie ſich“, fagte der Präfident. 

Sept führte der Gerichtsdiener Cochepaille herein. Auch er 
war ein „Lebenslänglicher“ und trug biefelbe Tracht wie Chenil- 
dien. Er war ein Dauer aus Lourdes und plump wie ein 
Pprenäenbär. Oben in den Bergen war er Hirt gewefen und 
fpäter Näuber geworden. Cochepaille war nicht weniger wild als 
fein Vorgänger, aber um fo dümmer. Er gehörte zu jenen Un- 
glücfliyen, die von der Natur als wilde Tiere gefhaffen und 
von der Geſellſchaft als Galeerenfträflinge gehalten werden. 

Der Präfident verfuhte aud ihn mit pathetifchen und ernften 
Morten zu beeindruden und fragte endlich, ob aud er den An- 
geflagten erkenne. 

„Das ift Valjean“, fagte Cochepaille. 

Jede der drei Ausfagen — fie waren offenbar aufribtig und 
guten Glaubens abgegeben — hatte in der Zuhörerfchaft ein 
Gemurmel zur Folge, bas dem Angeklagten nichts Gutes weis- 
fagte; von Mal zu Mal war diefes Gemurmel ftärfer geworden 
und hatte länger gedauert. Der Angeklagte hörte mit erftaunten 
Gefiht zu. Mach der erften Ausfage hatten die Gendarmen ihn 
murmeln gehört: „Na, das wäre einer.” Mad der zweiten, 
etwas lauter und faft befriedigt: „Gut. Mad der dritten hatte 
er gerufen: ‚Ausgezeichnet!‘ 

Der Präfident fragte ihn: 

„Angeklagter, Siehaben gehört. Was haben Siedazu zu ſagen?“ 

„Ich fage — ausgezeichnet!‘ 

Eine Unruhe ging durd bas Dublifum. Auch die Gefchmwore- 
nen Fonnten fi der allgemeinen Erregung nicht entziehen. Der 
Mann war verloren. 

„Gerichtsdiener!“ rief der Präfident, ‚Schaffen Sie Ruhe. 
Sch fchließe die Verhandlung.” 

In diefem Augenblick entftand rings um den Präfidenten eine 
Bewegung. Man hörte jemand laut rufen: 


184 


„Drevet, Chenildieu, Cochepaille, febt hierher!’ 

Alle, die diefe Stimme hörten, glaubten zu Eis zu erftarren, 
fo beklagenswert und furchtbar Flang fie. Alle Augen wandten 
fit nad der Stelle, von wo fie erflungen war. Da ftand ein 
Mann, der unter den bevorzugten Zuhörern Plaß gefunden hatte 
und jest langfam vordrang. Der Präfident, der Staatsanwalt, 
Herr Bamatabois und zwanzig andere, die ihn erkannten, ſchrien 
einftimmig auf: 

„Herr Madeleine!’ 


6. Champmathieu wundert ſich noch mehr 


Er war es in der Tat. Die Lampe des Gerichtsſchreibers 
warf ihr volles Licht auf ibn. Er hielt feinen Hut in der Hand, 
feine Kleider waren in Ordnung, fein Nindingeoat war forg- 
fältig zugefnöpft. Er war febr blaß und zitterte leicht. Seine 
Haare, die grau geweſen waren, als er nad Arras Fam, waren 
jest weiß. 

Alle fahen nah ihm. Die Aufregung war unbefchreiblid. 
Einen Augenblid lang war etwas wie ein Zögern in der Menge. 
Die Stimme hatte fo grell geflungen, der Mann aber fab fo 
ruhig aus, daß man zunächft nicht begriff. Man fragte fih, wer 
geihrien babe. Man wollte nicht glauben, daß ein Mann, der 
fo ruhig ausfab, fo furchtbar auffhreien Fönne. 

Aber diefe Unentfchiedbenbeit dauerte nur Sefunden. Bevor 
der Präfident oder der Staatsanwalt ein Wort jagen Eonnten, 
war der Mann, den jeßt noch alle Herr Madeleine nannten, zu 
den Zeugen Cocepaille, Brevet und Chenildieu getreten. 

„Erkennt ihr mich nicht?” 

Die drei blieben betroffen ftumm und fchüttelten die Köpfe. 
Der verfhüchterte Cochepaille grüßte militärifh. Herr Mabde- 
leine wandte fi zu den Gefchworenen und zum Gerichtshof und 
fagte gelaflen: 

„Meine Herren Gefchworenen, laffen Sie den Angeklagten 


185 


frei. Herr Präfident, laffen Sie mic verhaften. Ich bin der 
Mann, den Sie fuben, ih bin Sean Valjean.“ 

Miemand wagte zu atmen. Der erften Negung des Staunens 
war Grabesftille gefolgt. Man fühlte im Saal etwas wie jenen 
religiöfen Schauer, den das Große zu erregen vermag. 

Sm Gefiht des Präfidenten war nur Sympathie und Trauer 
zu erfennen. Er hatte dem Staatsanwalt einen Wink gegeben 
und Sprach leife mit feinen Beifißern. Dann wandte er fih an 
das Publifum und fragte mit einer Betonung, die von allen 
verftanden wurde: 

„Iſt vielleicht ein Arzt im Saal?” 

„Ich danfe ihnen, fagte Madeleine, ‚aber ich bin nicht 
verrückt. Sie follen e8 gleich fehen. Sie waren eben im Begriff 
einen großen Irrtum zu begehen. Laſſen Sie diefen Mann frei. 
Sch tue meine Pflicht, ich bin der unglückliche Verurteilte. Ich 
bin der einzige, der hier Élar fieht, und ich fage Ihnen die Wahr- 
heit. Was ich in diefem Augenblick tue, fieht Gott da broben, 
und bas genügt. Sie Fünnen mich verhaften, denn id bin ja 
bier. ch habe alles getan, was ich fun Fonnte. ch babe mid) 
unter einem falfchen Namen verborgen, ich bin reich geworden, 
Bürgermeifter . .. wollte wieder zu den anftändigen Leuten ge- 
hören. Es fheint, daB das nicht geht. Nun, ich kann Ihnen dag 
nicht alles fagen, ich will Ihnen aud nicht mein Leben erzählen, 
beizeiten kommt aud bas ans Licht. Ich babe wirflid jenen 
Biſchof beftoblen, es ift wahr. Man bat nicht unrecht, wenn man 
fagt, daB Jean Valjean ebenfo fchleht wie unglüdlic war. 
Vielleicht laſtet nicht alle Schuld auf ihm. Hören Sie mid) an, 
meine Herren Nichter! Ein Mann, der fo tief gefunfen ift wie 
ih, darf wohl die Vorfebung nicht belehren, ihm fteht es nicht 
an, der menſchlichen Gefellfhaft Ratſchläge zu erteilen, aber 
feben Sie, die Schande, der id zu entfommen fuchte, ift eine 
reht fhädlihe Sade. Die Galecren bringen den Oaleeren- 
fträfling hervor. Bedenken Sie das, wenn Sie wollen. Bevor 
ih dahin Fam, war ich ein armer Bauer, fehr wenig intelligent, 
eine Art Idiot, dort babe ich mich geändert. Ich war blöde, ich 


186 











wurde fchlecht, aber verzeihen Sie, Sie Fünnen das nicht ver- 
ftehen, was ich ba fage. Ich babe nichts hinzuzufügen. Ver— 
haften Sie mi. Mein Gott, Herr Staatsanwalt, Sie fagen, 
Madeleine ift verrüdt geworden, Sie glauben mir nicht. Das 
ift fehr traurig. Derurteilen Sie menigftens diefen Menfchen 
hier nicht. Diefe drei erfennen mid nit. Wäre doch Javert 
hier, er würde mich erkennen.‘ 

Seht wandte er fih an die drei Sträflinge. 

„Ich erkenne Sie, Brevet, erinnern Sie ſich ...?“ Zögernd 
fuhr er fort: „Erinnerſt bu did an die Hofenträger aus Trikot 
mit dem Damenbrettmufter, die du im Bagno hatteſt?“ 

Brevet war verblüfft und fab ihn von Kopf bis zu den 
Füßen erfhroden an. Er aber fuhr fort: „Chenildieu, Ohnegott, 
du haft auf der rechten Schulter eine Brandwunde, weil du did) 
einmal felbft in die Koblenpfanne gelegt haft, um die drei Buch— 
ftoben T. F. D. auszubrennen. Sag’, ift das wahr?” 

„Allerdings“, erwiderte Cbenildieu. 

„Und du, Cochepaille, du haft gleich neben der Schlagader 
am linfen Arm in blauen Buchftaben das Datum der Landung 
Napoleons in Cannes, den 1. März 1815, eingebrannt. Schieb 
deinen Ärmel zurück!’ 

Cochepaille fhob den Ärmel zurüd, und alle Bliefe richteten 
fih auf den nadten Arm. Ein Gendarm näherte eine Lampe, 
bas Datum wurde fichtbar. 

Test wandte ſich der Unfelige mit einem Lächeln, das alle ins 
Herz fbnitt, an die Nichter. Es war ein Lächeln des Triumphes 
und der Derzweiflung zugleich: 

„Sie feben wohl, id bin Jean Valjean.“ 

Und jest waren in diefem Saal weder Richter, nod An- 
Eläger, not Gendarmen: nur erftaunte Augen und bewegte 
Herzen. Keiner gedachte der Molle, die er bier zu fpielen Hatte. 
Der Staatsanwalt hatte vergeflen, daß es feine Pflicht war, 
Sühne zu heifhen, der Präfident, den Vorſitz zu führen, der 
Derteidiger, zu verteidigen. Seltfam, niemand fragte, Feine Be— 
hörde griff ein. Alle waren wie betäubt. 


187 


Miemand Éonnte mehr bezweifeln, daB man Jean DBaljean 
vor fit hatte. Plöslih war Licht in biefe ganze Angelegenheit 
gefommen, die eben nod im tiefften Dunkel gelegen hatte. 

„Ich will die Verhandlung nicht weiter ſtören,“ fagte Sean 
Baljean, ‚da niemand mich verhaftet, gehe ich. Sch babe noch 
Angelegenheiten zu erledigen. Der Herr Staatsanwalt weiß, 
wer ich bin und wo er mich findet; er wird mid verhaften 
loffen, wann es ihm beliebt.‘ 

Er ging auf die Türe zu. Niemand erhob feine Stimme, fein 
Arm firedte fi aus, ibn aufzuhalten. Alle wichen zurüd. Lang- 
fam fohritt er durch die Menge. Es wurde nie feftgeftellt, wer 
ihm die Türe geöffnet bat, aber Tatſache ift, daß die Türe offen 
war, als er zu ihr Fam. 

Er wandte fih noch einmal um und fagte: 

„Sie alle hier, Sie finden wohl, daß ih Mitleid verdiene, 
nicht wahr? Mein Gott, wenn ic) mir vorftelle, was id faft 
getan hätte, fo erfcheint mir mein jeßiges Leben beneidenswert.“ 

Er ging hinaus, und die Türe wurde gefhloffen, wie fie ge- 
öffnet worden war; feine Stunde verging, da war Cbamp- 
mathieu von jeglicher Anklage freigefprodhen; er wurde unver- 
züglih in Freiheit gefeßt. Tief erftaunt machte er fi davon, 
überzeugt, alle Menfchen wären verridt. 


AchtesBuch 
Der Gegenitoé 
1. Santine glücklich 


Der Morgen dämmerte. Fantine hatte eine fchlaflofe Fieber- 
nacht verbracht, umgaufelt von befeligenden Bildern; gegen 
Morgen fchlief fie ein. Schwefter Simplice, die bei ihr gewacht 
hatte, machte fich diefe Gelegenheit zunuße, um ihr einen neuen 
Chinarindenaufguß zu bereiten. Die gute Schwefter befand fi) 
feit Augenblicfen im Laboratorium des Spitals, über ihre Phi- 
olen und Fläſchchen gebeugt, weil fie im ſchwachen Licht der 


188 


Morgendammerung die Gegenftände nur ſchwer zu unterfheiden 
vermochte. Plöslic wandte fie fi um und ftieß einen leifen 
Schrei aus. Madeleine ftand vor ihr. Er war ftill eingetreten. 

„Sie find es, Herr Bürgermeifter !” 

Seife fragte er: 

„Wie geht es der armen Frau?‘ 

„Sicht Ichleht im Augenblick. Aber wir waren nicht wenig 
beſorgt.“ 

Sie erzählte ihm, was vorgefallen war. Die Schweſter wagte 
nicht zu fragen, ob er in Montfermeil geweſen ſei, aber ſie ſah 
wohl, daß er nicht von dort kam. 

„Gut,“ ſagte er, „Sie taten recht, die Arme nicht zu ent- 
täuſchen.“ 

„Ja, aber jetzt, Herr Bürgermeiſter, wenn ſie Sie ſieht, aber 
nicht das Kind, was ſollen wir ihr dann ſagen?“ 

Er blieb einen Augenblick nachdenklich. 

„Gott wird uns das Rechte in den Mund legen.“ 

„Aber wir können doch nicht lügen“, murmelte die Schweſter 
leiſe. 

Es wurde heller im Zimmer. Das Tageslicht fiel auf Made— 
leines Geſicht. Zufällig blickte die Schweſter gerade auf. 

„Mein Gott,“ rief ſie, „was iſt Ihnen geſchehen? Ihre 
Haare ſind ganz weiß!“ 

„Weiß?“ 

Schweſter Simplice beſaß keinen Spiegel. Sie ſuchte im 
Gerätekaſten des Arztes und fand darin einen kleinen Spiegel, 
deſſen ſich der Arzt bediente, um am Hauch feſtzuſtellen, ob ein 
Kranker tot ſei oder noch atme. Madeleine nahm den Spiegel, 
ſah ſeine Haare an und ſagte: 

„Wahrhaftig ...“ 

Aber er ſagte es ſo gleichgültig, als ob er an etwas anderes 
dächte. 

„Kann ich ſie ſehen?“ fragte er dann. 

„Wollten Sie lieber nicht erſt das Kind holen laſſen, Herr 
Bürgermeiſter?“ fragte die Schweſter. 


189 


„Doch, aber bas wird zwei bis drei Tage dauern.‘ 

‚Wenn fie nicht erfährt, daß Sie zurücgefommen find, wird 
fie Geduld haben; und wenn das Kind dann Fommt, denft fie 
natürlich, daß Herr Bürgermeifter eben mit dem Kind zurüd- 
gefommen find. Man braudte alfo nicht zu lügen.‘ 

Madeleine dachte einen Augenblif nad, dann fagte er mit 
rubigem Ernft: 

„Dein, Schwefter, id muß fie feben. Vielleicht eilt e8 ſehr.“ 

Die Nonne fhien diefes Wort vielleicht nicht zu beachten, das 
der ganzen Erflärung des Bürgermeifters einen feltfom dunklen 
Sinn gab. Sie fagte: 

„Sie Ihläft. Sie können eintreten, Herr Bürgermeiſter.“ 

Er trat in Fantines Zimmer und fehlug den Vorhang ihres 
Bettes zurück. Einen Augenblif ftand er reglos vor dem Bett 
und betrachtete abmwechfelnd die Kranfe und bas Kruzifir. Es 
war wie damals, vor zwei Monaten, als er fie bas erftemal im 
Spital beſucht hatte: fie fehlief, er betete. Nur war ihr Haar 
grau, feines weiß geworden. 

Plötzlich ſchlug Fontine die Augen auf und fragte mit einem 
friedlichen Lächeln: 

„Und Coſette?“ 

Das war nicht überraſchend, nicht eine Regung der Freude: 
es war die Freude ſelbſt. Dieſe einfache Frage „und Coſette?“ 
war mit fo tiefer Überzeugung, fo fiber im Glauben vorgetragen, 
daß er Feine Antwort fand. 

„Ich wußte bob, daß Sie hier waren”, fuhr fie fort. „Ich 
babe gefchlafen, aber ich babe Sie dot gefeben. Schon lange 
febe id Sie. Während der ganzen Nacht bin id Ihnen mit 
meinen Augen gefolgt. Aber fagen Sie mir doch, wo ift Cofette? 
Warum haben Sie fie mir nit aufs Bett gelegt, damit ich fie 
gleich fehe, wenn ih aufwache?“ 

Glücdlihermeife trat in diefem Augenbli der Arzt ein. Er 
fam Herrn Madeleine zu Hilfe. 

„Mein Kind, fagte der Arzt, „beruhigen Sie fib. ihre 
Kleine ift da.” 


190 





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Santines Augen leuchteten auf und ein Elares Licht ver- 
breitete fi über ihr ganzes Gefiht. Sie faltete die Hände mit 
einem Ausdruck, der alles in ſich fchloß, was ein Gebet an fanfter 
Ergebung und dringendem Verlangen auszudrüden vermag. 

„Oh,“ vief fie, „bringen Sie fie mir!’ 

Rührende Illuſion einer Mutter. Cofette war für fie nod 
immer bas Fleine Kind, das man bringt. 

„Noch nicht,” fagte der Arzt, ,nidt in diefem Augenblid. 
Sie haben nod immer Fieber. Der Anblick des Kindes würde 
Sie erregen und Ihnen fhaden. Sie müſſen zuerft gefund 
werden.‘ 

„Aber ich bin doch gefund!’ rief fie heftig, ‚‚ift bas doch ein 
Efel, diefer Arzt! Sch will mein Kind ſehen!“ 

„Sie ſehen,“ fagte der Arzt, ‚wie fie fit bereits aufregt. 
Solange Sie fi) in diefem Zuſtand befinden, werde id nicht 
erlauben, daß man Ihnen das Kind bringt. Es handelt fi) nicht 
darum, daß Sie das Kind fehen — Sie follen für das Kind 
leben. Sobald Sie vernünftig find, werde ich es felbft hierher 
bringen.” 

Sie ließ den Kopf hängen. 

„Derzeihen Sie, Herr Doktor, wirklich, ich bitte Sie um 
Verzeihung. Früher hätte ich nicht fo geſprochen, wie ich es 
jeßt getan babe, aber mir ift fo viel Unglück zugeftoßen, daß ich 
mandımal gar nicht mehr weiß, was ich rede. Ich begreife, daß 
Sie die Aufregung fürchten, und ich werde warten, folange Sie 
es wünſchen.“ 

Madeleine hatte fih auf einem Stuhl neben dem Bett nie- 
dergelaffen. Sie wandte fih nad ibm um; offenbar foftete es 
fie große Mühe, ruhig und gefaßt zu erfcheinen. Wenn man fie 
fo friedlich fähe, date fie, würde man ihr ohne Schwierigfeit 
Cofette zuführen. Doch Eonnte fie fih nicht enthalten, taufend 
Tragen an Madeleine zu richten. 

„Haben Sie denn eine gute Neife gehabt, Herr DBürger- 
meifter? D wie gütig find Sie, daß Sie fie felbft geholt haben. 
Sagen Sie mir nur, wie fie ausfiebt. Hat fie die Meife gut 


191 


ausgebalten? Ach, fie wird mich ja gar nicht erÉennen. Während 
all der langen Zeit hat fie mich beftimmt vergeflen. Diefe Kin- 
der haben ja Fein Gedächtnis. Wie gern möchte ich fie feben. 
Herr Bürgermeifter, finden Sie fie ſchön? ft fie nicht hübſch, 
meine Kleine? Gewiß haben Sie febr in der Poft gefroren! 
Könnte man fie nicht auf einen Eleinen Augenblick berbringen? 
Do, man Eönnte fie ja gleich wieder forttragen. Sie find doc 
bier der Herr, wenn Sie nur wollen. . .” 

Er nahm ihre Hand. 

„Sofette ift bübfh, es geht ihr gut, Sie werden fie bald 
fehen. Aber jest find Sie ruhig. Sie ſprechen zu lebhaft, und 
Sie ftrefen die Arme aus dem Bett. Sie werden wieder 
buften müſſen.“ 

In der Tat unterbradhen Huftenanfälle Santine faft bei jedem 
Wort. 

Santine murrte nicht, denn fie fürchtete, durch ihre allzu 
leidenfchaftlihen Worte das Vertrauen in ihre Selbftbeherr- 
ſchung erfhüttert zu haben. Darum begann fie von gleichgül- 
tigen Dingen zu fprechen. 

„Ein recht bübiher Ort, Montfermeil, nicht wahr? Im 
Sommer maht man fogar Landpartien dahin. Machen diefe 
Ihenardiers denn anftändige Gefhäfte? Diel Leute kommen 
dort nit hin. Es ift ja auch eine recht ſchlechte Budike, ihre 
Wirtſchaft.“ 

Madeleine hielt noch immer ihre Hand. Offenbar war er zu 
ihr gefommen, um ihr Dinge zu fagen, vor denen er jet zurüd- 
ſchreckte. Der Arzt hatte feine Vifite beendigt und fich zurück— 
gezogen. Mur Schwefter Simplice war noch zugegen. 

Piôblih, inmitten des Schweigens, fbrie Fantine auf: 

„Ich höre fie! Mein Gott, id höre fie!‘ 

Unten im Hof fpielte ein Kind, die Tochter der Portierfrau 
oder irgendeiner Arbeiterin. Die Kleine lief bin und her, lachte 
und fang. 

„Oh, es ift Cofette! Sch erkenne ihre Stimme.’ 

Das Kind lief wieder weg mie es gekommen war, die Stimme 


192 





verballte. Fantine laufchte nod eine Zeitlang, dann wurde ihr 
Gefiht düfter, und Mabeleine hörte fie flüftern: 

„Wie ſchlecht von dem Arzt, daß er mein Kind nicht zu mir 
läßt! Er ift nicht gut, diefer Menſch.“ 

Indeſſen wurde fie bald wieder heiter. Sie preßte den Kopf 
an das Kiffen und begann mit fi felbft zu ſprechen. 

„Ganz glüdlih werden wir fein. Und fogar einen Eleinen 
Garten werden wir haben. Herr Madeleine hat es mir ver, 
proben. Meine Kleine Éann dann im Garten fpielen.” 

Sie lade. 

Madeleine hatte Fantines Hand losgelaffen, er lauſchte ihren 
Morten, wie man dem Winde laufht, die Augen zu Boden ge 
richtet, in abgründige Gedanfen verfunfen. Plötzlich hörte fie 
auf zu fprehen. Er blidte auf. Fantine {bien entfeßt zu fein. 
Sie fagte nichts, fie atmete Faum mehr; fie hatte fit halb auf: 
gerichtet, ihre magere Schulter hatte bas Hemd zurückgeſchoben; 
ihr Gefiht, eben noch ftrahlend, war totenfahl, und ihr ftarrer 
Blick ſchien auf irgend etwas Furchtbares gerichtet. 

„Mein Gott, rief er, „was haben Sie, Fantine?“ 

Sie antwortete nicht, ließ den Gegenftand nicht aus dem 
Auge, den fie zu feben fbien und berührte nur mit der Hand 
feinen Arm, während fie mit der andern in den Hintergrund 
deutete. Er wandte fih um und fab Yavert. 


2, Die Obriäkers fritt in thre Nee 


Santine hatte Vavert feit dem Tage, da der DBürgermeifter 
fie aus den Händen jenes Mannes geriffen hatte, nicht mehr 
gefeben. Ihr krankes Gehirn Éonnte fi Feine Rechenſchaft ab- 
legen, aber fie ahnte, daß er fie holen komme. Sie Éonnte diefes 
fhredlihe Antlig nicht ertragen, fie verbarg ihr Gefibt in 
beiden Händen und fhrie angftvoll: 

„Herr Madeleine, retten Sie mid!” 

Sean Baljean — wir wollen ihn nunmehr fo nennen — war 
aufgeftanden. Sanft und ruhig fagte er zu Fantine: 


13 Hugo, Die Elenden. 193 


„Seien Sie rubig, Kind. Er fommt nidt um Ihretwillen.“ 

Dann wandte er fid zu Javert und fagte: 

„Ich weiß, was Sie wollen.” 

„Los, raſch!“ befahl Javert. Etwas Wildes, Frenetifches war 
in dem Ton feiner Worte. Er tat nicht, wie gewöhnlich, äußerte 
fi nicht, wies Feinen Haftbefehl vor. Für ihn war Sean Val- 
jean ein geheimnisvoller, unfaßbarer Feind, ein Kämpfer im 
Dunkel, mit dem er feit fünf Jahren gerungen hatte, ohne ihn 
bezwingen zu können. Diefe Verhaftung war nicht ein Anfang, 
fondern ein Schluß. Darum befhränfte er fih darauf, zu fagen: 

„208, raſch!“ 

Dabei trat er nicht vor; er warf Sean Daljean nur diefen 
fofzinierenden, tierifchen Sid zu, mit dem er feine Opfer an 
fi zu ziehen pflegte. Es war der ‘Blick, ben Fantine eben erft 
bis in ihr Mark dringen gefühlt hatte. 

Auf Javerts Ruf hatte Fantine die Augen wieder geöffnet. 
Aber der Herr DBürgermeifter war doch da. Was hatte fie zu 
befürdten? 

Javert trat in die Mitte des Zimmers und rief: 

‚Stun, kommſt du bald?’ 

Die Unglüdlihe blickte um fih. Es war nur die Nonne und 
der Herr Bürgermeifter im Zimmer. Wen Eonnte das rohe „du“ 
gelten? Mur ihr. Sie fchauerte. Und jekt fab fie etwas Un- 
erhörtes, etwas fo Unerhörtes, daß ihr felbft in ihren ſchwär— 
seften Fieberträumen nichts Ähnliches erfhienen war. Sie fab, 
wie der Spißel Vavert den Herrn DBürgermeifter am Kragen 
faBte; fab, wie der Herr Bürgermeifter den Kopf beugte. hr 
war, als ginge die Welt unter. 

Wirklich hatte Vavert Jean Valjean am Kragen gepadt. 

„Here Bürgermeiſter!“ fchrie Fantine. 

Javert lachte laut auf — fein widerwärtiges Lachen entblößte 
alle Zähne. | 

„Hier ift Fein Bürgermeifter mehr!’ 

Sean Daljean fuchte die Hand nicht abzuwehren, die den 
Kragen feines Ridingeontg fefthielt. Er fagte: 


19 





Javert 

„Du haſt Herr Inſpektor zu mir zu ſagen!“ 

„Mein Herr, ich möchte mit Ihnen ein Wort unter vier 
Augen ſprechen.“ 

„Laut! Sprich laut! Mit mir ſpricht man laut.“ 

Jean Valjean fuhr leiſe fort: 

„Ich muß Sie etwas bitten.“ 

„Ich ſage dir, du ſollſt laut ſprechen.“ 

‚Aber bas ſollen nur Sie allein hören ...“ 

„Was liegt mir daran? Ich höre nicht auf dich.“ 

Jean Valjean wandte ſich nach ihm um und ſagte raſch und 
ganz leiſe: 

„Geben Sie mir drei Tage! Ich will nur das Kind dieſer 
armen Frau hier holen. Ich werde alles bezahlen. Sie können 
mich begleiten, wenn Sie wollen.“ 

„Du willſt dich wohl über mich luſtig machen!“ ſchrie Javert. 
„Na, für ſo blöd hätte ich dich nicht gehalten. Drei Tage willſt 
du, damit du auskneifen kannſt? Und um das Kind dieſer Perſon 
da zu holen! Ausgezeichnet! Ein guter Witz!“ 

Fantine zitterte. 

„Mein Kind!“ rief ſie, „mein Kind holen? Alſo iſt es noch 
nicht hier? Schweſter, ſagen Sie mir, wo iſt Coſette? Ich will 
mein Kind. Herr Madeleine! Herr Bürgermeiſter!“ 

Javert ſtampfte mit dem Fuß. 

„Jetzt reißt die auch noch das Maul auf, die! Schweig du, 
Weibsſtück! Ein Schweineland das, in dem die Galeerenſträf— 
linge Beamte ſind und die Dirnen gepflegt werden wie Grä— 
finnen! Aber das wird ja jetzt anders. Es war auch ſchon die 
höchſte Zeit.“ 

Er ſah Fantine ſcharf an und rief: 

„Daß du es nur weißt, von einem Herrn Madeleine iſt hier 
nicht die Rede, und von einem Herrn Bürgermeiſter ſchon gar 
nicht. Der da ſteht iſt nur ein Dieb, ein Bandit und Bagno— 
ſträfling namens Jean Valjean. Und den habe ich am Kragen. 
Das iſt alles.“ 


ni 195 


Santine richtete fi im Bett auf, fab Jean Valjean on, 
dann Javert, dann die Monne; fie tat den Mund auf, als ob 
fie fprechen wollte, ein Röcheln Löfte fi aus ihrer Kehle, ihre 
Zähne ſchlugen aufeinander, fie griff mit krampfhaft geöffneten 
Händen um fih wie ein Ertrinfender und fiel dann auf das 
Kiffen zurüd. Ihr Kopf ftieß gegen die Bettkante und fanf auf 
die Bruft herab; der Mund ftand offen, die Augen waren leer 
und erlofehen. Sie war tot. 

Sean Valjean legte feine Hand auf Javerts Hand, preßte fie 
auf wie die eines Kindes und fagte zu Javert: 

„Sie haben diefe Frau getötet.’ 

„Schluß! fbrie Javert wütend. „Wir find nicht hier, um 
uns zu unterhalten. Das Éônnen wir uns erfparen. Die Wache 
wartet unten. Log, oder ich laffe dir Daumfchrauben anlegen!’ 

In einer Ede des Zimmers ftand ein altes Eifenbett, bas 
in ziemlich elendem Zuftand war und den Schweftern des Nachts 
als Mubeftätte diente. Sean Daljean trat an diefes Bett, brach 
im nächften Augenblick die Kante, die bereits Ioder war, ab —. 
was feinen Musfeln nicht fehwerfiel — , erhob diefe Waffe und 
bliefte Yavert an. Der Inſpektor 309 fih zur Türe zurüd. 

Mit feiner Eifenftange in der Fauft, trat Sean Valjean 
langfam an Santines Bett. Dort angefommen, wandte er fi 
um und fagte mit faum hörbarer Stimme: 

„Ich empfehle Ybnen nicht, mich jest zu ſtören.“ 

Sicher ift nur, daß Vavert zitterte. 

Ihm fiel ein, er Fönnte die Wache rufen, aber da mußte er 
befürchten, jean Valjean könne die Gelegenheit benüßen und 
enfipringen. Er blieb alfo fteben, hielt feinen Stod feft in der 
Hand und lebnte fit an den Türpfoften, ohne Sean Valjean 
aus den Augen zu laffen. 

Der ftüste feinen Ellbogen auf den Bettrand, feine Stirn in 
feine Hand; fo betrachtete er Fantine. Stumm, feinen Ge- 
danken hingegeben, vermeilte er fo. In feinen Mienen war nur 
ein unausfpreblihes Mitleid zu Iefen. Endlich beugte er fic 
über Santine und fprad leife zu ihr. 


196 


Mas er fagte? Was Fonnte der unglüdlihe Mann der toten 
Frau fagen? Miemand hat feine Worte vernommen. Oder die 
Tote? Es gibt rührende Ylufionen, die vielleicht höchſte Wirk- 
lichkeiten find. Außer Zweifel ift nur, daß Schwefter Simplice, 
die einzige Zeugin biefes Vorgangs, oft erzählte, in biefem 
Augenbli, als Sean Daljean fih zu dem Ohr der toten Fan- 
tine neigte, fei ein Lächeln über ihre blaffen Lippen gehufcht. 

Sean Valjean nahm Fantines Kopf in feine Hände und legte 
ihn forgfam, wie eine Mutter ihr Kind, zurecht; er ſchob ihre 
Haare unter der Haube surebt und Enüpfte bag Band ibres 
Hemdes zu. Dann fblof er ihre Augen. 

Santines Antlig fhien in dieſem Augenblick von einem felt- 
famen Licht überftrahlt. Der Tod ift der Eintritt in bas große 
Meid des Glanzes. Ihre Hand hing aus dem Bett. Sean Val—⸗ 
jean Éniete nieder und drüdte einen Kuß auf fie. Dann wandte 
er fih um und fagte zu Javert: 

„Jetzt ftehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.” 


3. Ein anftändiges Grab 


Javert lieferte Sean Daljean ins Stadtgefängnig ein. 

Die Verhaftung des Herrn Madeleine war für Montreuil 
fur Mer eine Senfation, ein außerordentlihes Ereignis. Wir 
müffen leider einbefennen, daB das einzige Wort ,,Galeeren- 
fträfling” genügte, um alle Welt ihm abfpenftig zu machen. In 
faum zwei Stunden war alles Gute vergeflen, was er getan 
hatte, und er war eben nur ein Zuchthäusler. Um der Gerebtig- 
feit willen müffen wir feftftellen, daß nod niemand wußte, was 
fit in Arras abgefpielt hatte. 

Einen ganzen Tag lang wurden Gefpräche wie etwa die fol- 
genden geführt. 

Miffen Sie fhon, ein entlaffener Sträfling! Wer? Der Bür- 
germeifter. Herr Madeleine? Allerdings. Nicht möglich? Er hieß 
gar nicht Madeleine, er hat irgendeinen gemeinen Namen, Vé- 
jean, Bojean, Boujean oder fo ähnlich. Großer Gott! Nun, er 


197 


ift verhaftet. Berbaftet?! Im Stadtgefängnis. Man wird ibn 
bald abholen. Wohin denn? Er kommt wegen Straßenraubs 
vor die Affifen. Nun, bas dachte ih mir immer. Diefer Menfch 
war zu gut, zu vollfommen, zu tadellos. Das Kreuz lehnt er ab, 
verteilt überall Almofen. Ich dachte mir’s doch immer, daß da 
etwas dahinterftect! 

Zumal in den Salons wurde fo gefprochen. Eine alte Dame, 
eine Abonnentin des „Drapeau blanc’, äußerte folgende Bemer- 
fung, deren ganze Tiefe nicht abzuſchätzen tft: 

„Dos ift mir ganz lieb. Es mag für diefe Bonapartiften eine 
Lehre fein!” 

So verfhwand das Phantom, das fi Madeleine genannt 
hatte, aus Montreuil fur Mer. Nur drei oder vier Leute in der 
Hanzen Stadt bewahrten ibm ein treues Andenken. Zu diefen 
zählte die alte Portiersfrau, die ihm gedient hatte. 

Am Abend desfelben Tages faß diefe wadere Alte in ihrer 
Loge, noch ganz beftürzt und traurigen Gedanken nahhängend. 
Die Fabrif war den ganzen Tag über gefbloffen gewefen, das 
Haupttor verriegelt, die Straße leer. Im Haufe waren nur noch 
die beiden Nonnen, Perpetun und Simplicia, die bei der toten 
Santine wachten. 

Zur Stunde, da Herr Madeleine nah Haufe zu kommen 
pflegte, ftand die brave Portiersfrau mechaniſch auf, nahm den 
Schlüffel zu feinem Zimmer aus einer Tode und ftellte den 
Leuchter bereit, als ob fie ihn erwarte. Dann feßte fie fich wieder 
und verfanf in Nachdenken. Sie hatte alles bas ganz unbewußt 
getan. 

Erft zwei Stunden fpäter ermachte fie aus ihrem Sinnen. 
Mein Gott, dachte fie, wie kommt es nur, daß ich den Schlüffel 
bereitgelegt babe? 

In diefem Augenblick wurde das Glasfenfter aufgedrückt, eine 
Hand griff herein, nahm den Schlüffel und den Leuchter und 
entzündete die Kerze an dem Licht in der Loge. 

Die Portiersfrau unterdrüdte einen Schrei. 

Sie Fannte biefe Hand, diefen Arm, diefen Rockärmel. Es 


198 





war Madeleine. Sefunden vergingen, bevor fie fpreden Eonnte, 
denn fie war, wie fie fpäter felbft erzählte, ganz außer fic. 

„Mein Gott, Herr Bürgermeiſter,“ fagte fie endlich, ‚ich 
dachte... ./ 


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Sie hielt inne, denn das Ende des Satzes, der fo refpeftvoll 
begonnen wurde, wäre peinlich gemwefen. Sean Valjean war für 
fie no immer der Bürgermeifter. 

Er beendete ihren Gedanfen. 


„Sie dachten, id wäre im Gefängnis. Ich war es. Sch babe 
199 


bas Fenftergitter ausgebroden und bin vom Dad berabgejprun- 
gen. So, jest bin ich da. Ich gehe in mein Zimmer. Holen Sie 
mir Schwefter Simplice, fie ift gewiß noch bei der Teiche diefer 
armen Frau.‘ 

Eilig gehorchte die Alte. 

Er gab ihr Feine weitere Anweifung. Er wußte gewiß, daß fie 
beffer auf ihn achten würde als er felbft. 

Er ftieg inzwifchen die Treppe hinauf, die in fein Zimmer 
führte. Oben angelangt, ließ er feinen Leuchter auf der höchſten 
Stufe fteben, öffnete geräufchlog die Tür und trat ein. Taſtend 
ſchloß er die Fenfterläden, dann holte er feinen Leudter. Dieſe Vor— 
fiht war nötig, denn fein Senfter war von der Straße aus zufehen. 

Es wurde an die Tür geflopft. 

„Herein!“ rief er. 

Es war Schwefter Simplice. Sie war bleih, hatte gerötete 
Augen, und die Kerze in ihrer Hand zitterte. Die Erfchütte- 
rungen des Tages hatten diefe Nonne wieder zur Grau gemacht. 

Sean Valjean fchrieb einige Zeilen auf ein Stüd Papier und 
reichte es der Monne: „Schwefter, überbringen Sie dies dem 
Herrn Pfarrer.” 

Das Blatt war nicht zufammengefaltet. Sie warf einen 
Bli darauf. 

„Sie können eg leſen“, fagte er. 

Und fie [as folgendes: 

„Ich bitte den Herrn Pfarrer, über alles, was ich hier zurüd- 
laffe, zu wachen. Es mögen aus dem Ertrag des Verkaufs die 
Koften meines Prozeſſes und die Beerdigung der Frau be- 
ftritten werden, die heute geftorben ift. Der Reſt fomme den 
Armen zu.” 

Die Schwefter wollte fprechen, aber fie Fonnte nur einige un- 
artifulierte Saute bervorbringen. Endlich fagte fie: 

„Wünſchen der Herr Bürgermeifter noch einmal biefe arme 
Tote zu ſehen?“ 

„Dein, id werde verfolgt, man könnte mich dort verbaften. 
Es würde ihre Ruhe ftören.” 


200 





Kaum hatte er gefprochen, als ein lautes Geräufch auf der 
Treppe hörbar wurde. Von unten erfcholl die Stimme der Por- 
tiersfran, die gellend rief: 

„Suter Herr, ih ſchwöre Ihnen bei Gott, daB den ganzen 
Tag und Abend über niemand hierhergefommen ift! Ich habe die 
Türe nicht aus dem Auge gelaſſen.“ 

„Es ift aber Licht im Zimmer‘, antwortete eine Männer- 
ftimme. 

Es war die Stimme Javerts. | 

Die Tür wor fo im Zimmer angebracht, daß fie, geöffnet, die 
rechte Ede verdedte. Sean Valjean trat in diefe Ecke. Schwefter 
Simplice Éniete an dem Tiſch nieder. 

Die Tür wurde aufgeriflen, Vavert trat ein. Man hörte das 
Flüftern von Männern und die heftige Einrede der Portiersfrau 
im Korridor. Die Monne blickte nicht auf. Sie betete. 

Javert fab die Schwefter und blieb betroffen fteben. Man er- 
innert fib, daß fein tieffter Wefenszug, bas Element, in dem er 
atmete, die Verehrung jeglicher Autorität war. Und die Autori- 
tät der Kirche war für ihn die höchſte; er war religiös — ober- 
flächlich, aber Eorreft, hierin wie in allen anderen Punkten. In 
feinen Augen war ein Priefter ein Geift, der nicht irren Fonnte, 
eine Tonne ein Gefchöpf, das der Sünde unfähig if. 

As er die Schwefter gewahrte, war feine erfte Negung, fi 
zurüdzuziehen. Aber fein Pflichtgefühl wurde wach, trieb ihn 
gebieterifch nach der anderen Richtung. Wenigftens eine Frage 
wollte er wagen. 

Das war jene Schwefter Simplice, die nie in ihrem Leben 
gelogen hatte. Javert wußte es und zollte diefer Tugend feine 
befondere Verehrung. 

„Schweſter,“ fagte er, „find Sie allein?’ 

Es war ein fchredlicher Augenblid. Die arme Portiersfrau 
glaubte ohnmächtig zu werden. 

Die Schwefter blidte auf und antwortete: 


„Ja.“ 
„Verzeihen Sie, Schweſter, wenn ich weiterfrage. Ich tue 


201 


nur meine Pflicht. Haben Sie heute abend nicht einen Mann 
hier gefeben, einen Entfprungenen, den wir fuchen, einen ge- 
wiffen Sean Valjean?“ 

‚Stein‘, antwortete die Schwefter. 





Sie Iog. Sie Iog zweimal, Schlag auf Schlag, ohne zu 
zögern. 

„Verzeihung“, fagte Javert und 309 fi mit einer tiefen 
Verneigung zurüd. 

Eine Stunde fpäter wanderte ein Mann mit rafhen 


202 


Schritten durch die Nacht, von Montreuil fur Mer nad Paris; 
es war jean Valjean. Mad der Zeugenausfage von zwei oder 
drei Subrleuten, die ibm begegnet waren, trug er ein Felleifen 
und war mit einem Kittel bekleidet. Woher er ihn hatte? Man 
bat es nie erfahren. 

Und no ein Wort über Santine. 

Der Pfarrer glaubte richtig zu handeln (und vielleicht fat er 
es auch), indem er von Jean Valjeans Nachlaß foviel wie mög- 
li für die Armen ficherte. Un alles in allem, worum ging es? 
Ein Zudthäusler, eine öffentlibe Dirne... 

Darum vereinfachte er die Deerdigung Fantines, befhränfte 
fie auf das unvermeidlih Notwendigſte und beftimmte ihr einen 
Pas im Maffengrab. 

Santine wurde alfo in einem Winfel des Friedhofs, für den 
feine Pacht verlangt wird, der allen und niemand gehört, be- 
graben. Glücdlicherweife weiß Gott, wo er feine Seelen zu 
finden bat. 


203 





ECofette 


Erstes Buch 
Der Kreuzer „Orion“ 


1. Nr.2460 1wır8 Nr.9430 


Sean Daljean war wieder gefangen worden. 

Man wird uns Dank wiffen, wenn wir die peinlichen Einzel- 
heiten biefes Vorfalls nur flüchtig ftreifen. Darum befhränfen 
wir ung darauf, zwei Zeitungsnotizen wiederzugeben. 

Sie find ein wenig fummarifc gehalten. Aber man möge be- 
denfen, daB es damals not feine ,, Gazette des Tribunaur‘’ gab. 

Die erfte Notiz entnehmen wir dem ,, Drapeau blanc, Sie 
ift datiert vom 25. Juli 1823. 

„Ein Arrondiffement des Pas-de-Calais wurde foeben Schau- 
plaß eines ungemôbnlihen Borfalls. Ein im Departement Un- 
befannter, ein gewifler Madeleine, hatte im Laufe der Testen 
Jahre vermittels eines neuen Verfahrens eine alte Lofal- 
induftrie, die Fabrikation von Jett und ſchwarzem Glas, be- 
deutend gehoben. Damit hatte er feinen und, wir müſſen es offen 
zugeben, des Arrondiffements Wohlftend begründet. In An- 
erfennung feiner Derdienfte war er zum Bürgermeifter ernannt 
worden. Die Polizei bat feftgeftellt, daB diefer Madeleine ein 
alter Galeerenfträfling ift, ein gewifler Sean Valjean, der 1796 
wegen Diebftahls verurteilt wurde. jean Valjean ift wieder 
dem Bagno zugeführt worden. Vor feiner Verhaftung fcheint es 
ihm gelungen zu fein, einen Betrag von über einer halben 
Million, ben er bei Laffitte deponiert hatte, abzuheben, Geld, 
bas er allem Anfchein nad) durchaus ehrlich erworben hatte. Es 
war nicht zu ermitteln, wo Sean Daljean diefe Summe ver- 
borgen hat, bevor er wieder nad Toulon gebracht wurde.” 


205 


Der zweite Artikel, etwas ausführlicher, erfchien unter dem 
gleihen Datum im Journal de Paris‘. 

„Ein entlaffener Sagnofträfling, ein gewifler Sean Valjean, 
erfien unlängft vor den Affifen von Var unter Umftänden, die 
geeignet waren, die allgemeine Aufmerkffamfeit zu erregen. Es 
war diefem Derbrecher gelungen, die Wachſamkeit der Polizei 
zu täufchen. Er hatte feinen Nomen gewechſelt und war fchließ- 
lib fogar zum DBürgermeifter einer Kleinftadt im Norden er- 
nannt worden. Dort hatte er ein recht einträgliches Gefchäft ge- 
gründet. Seine Entlarvung und Verhaftung ift dem unermüd- 
lichen Eifer des Minifteriums zu danken. Zur Konfubine hatte 
er eine öffentlihe Dirne, die bei feiner Feftnahme vor Schred 
ftorb. Der Verbrecher, der mit herfulifhen Kräften ausgeftattet 
ift, fand ein Mittel zu entfpringen; aber fon drei oder vier 
Zage fpäter Eonnte ibn die Polizei wieder aufbringen, eben als 
er in Paris in die Poftkutfche ftieg, die den Verkehr der Haupt- 
ftadt mit Montfermeil (Seine-et-Dife) vermittelt. Man fagt, 
daß er fich diefe drei oder vier Tage der Sreiheit zunuße gemacht 
bat, um wieder in den Beſitz einer beträchtlichen Summe zu ge- 
langen, die er bei einem unferer größten Bankiers hinterlegt 
hatte. Diefe Summe wird mit feche- oder fiebenhunderttaufend 
Sranfen angegeben. Mad dem Anflagenft fol er das Geld an 
einem nur ibm befannten Ort verborgen haben; in der Tat bat 
man es nicht wieder auffinden können. Jedenfalls ift der befagte 
Sean Valjean den Affifen des Departements Dar vorgeführt 
worden. Der Bandit verzichtete darauf, fid zu verteidigen. Das 
Gericht Fonnte den Beweis erbringen, daß er feine Näubereien 
in Gemeinfhaft mit andern vollbradht bat und Mitglied einer 
Mäuberbande im Süden war. Demgemäß ift Sean Valjean, 
fchuldig befunden, zum Tode verurteilt worden. Der Verbrecher 
bat darauf verzichtet, die Michtigkeitsbefchwerde zu erheben. 
Seine Mojeftät haben in ihrer unerfhôpfliben Güte gerubt, 
diefe Strafe in lebenslänglihen Dienft auf den Galeeren umzu- 
wandeln. Sean Valjean ift unverzüglich dem Bagno zu Toulon 
zugeführt worden.” 


206 


Unfere Lefer haben nicht vergeffen, daß Jean Valjean in 
Montreuil fur Mer zu den Kirchenbefuchern gezählt hatte. Nur 
fo ift es zu erflären, daß einige Journale, unter anderem der 
„Sonftitutionnel”, diefe Strafummwandlung für einen Triumph 
der kirchlichen Partei erflärte. 

Sean Valjean befam eine neue Nummer. Er hieß jest im 
Bagno 9430. 

Übrigens wollen wir, um nicht nod einmal darauf zurüd- 
fommen zu müffen, feftftellen, daB mit Herrn Madeleine auch 
der Wohlftand von Montreuil fur Mer verfhwand. Nach feinem 
Sturz Fam es zu einer fehr egoiftifhen Teilung, einer Zer- 
ftücfelung des blühenden Werfs, wie derlei fih in der menſch— 
lien Gefellfhaft tagtäglich vollzieht, obwohl die Geſchichte nur 
einen einzigen folchen Fall, die Aufteilung des aleranbrinifhen 
Reichs, notiert bat. Wenn fi) damals die Unterführer zu Kö— 
nigen gekrönt hatten, fo wollten jeßt die Werkmeifter Sabri- 
fanten werden. Wilde Konkurrenz war die Folge. Mabeleines 
geräumige MWerkftätten wurden gefchloflen, die Bauten verfielen, 
die Arbeiter zerftreuten fih. Manche verließen die Stadt, andere 
gingen zu anderen Befchäftigungen über. Alles wurde Flein, 
ftatt zu wachſen. Es fehlte an einem Zentrum. Madeleine hatte 
alles geleitet. Sobald er gefallen war, zog jeder an feinen Seilen 
— dem Geift der Organifation folgte der des eiferfüchtigen 
MWettftreits, dem der freudigen Zufammenarbeit der der Miß— 
gunft. Die von Madeleine angefnüpften Verbindungen riffen ab. 
Schließlich wurden die Produkte verfälfcht, dag Vertrauen der 
Konfumenten ging verloren; der Abfas fanf, es gingen Feine 
Aufträge mehr ein. Die Löhne fielen, Arbeitslofigfeit war die 
Folge, der Bankerott das Ende. Alles verfiel. 


2. Boulatruelle 


Kurze Zeit nachdem der Sträfling Sean Valjean fi), wie das 
Minifterium in Erfahrung brachte, in der Gegend von Mont- 
fermeil herumgetrieben hatte, wurde in eben jenem Dorfe beob- 


207 


achtet, daß ein alter Straßenarbeiter, ein gewiffer Soulatruelle, 
fit) im Walde auffällig zu fchaffen made. Es hieß im Dorf, 
Boulatruelle babe im Bagno gefeflen. Er wurde von der Polizei 
beobachtet, und da er nirgends Arbeit fand, wurde er von der 
Vermwaltungsbehörde als Straßenarbeiter auf der Strede zwi- 
fhen Gagny und Lagny befchäftigt. 

Diefer Boulatruelle war in der Gegend nicht mwohlgelitten; 
er war allzu höflich, allzu befcheiden, allzu raid bereit, jedermann 
zu grüßen oder den Gendarmen höflich zuzuläheln. Offenbar 
war er mit einer Näuberbande im Komplott und im Ernftfoll 
durchaus geneigt, jemand des Nachts zu überfallen. Zu feinen 
Gunften war nur zu fagen, daß er ein Säufer mar. 

Nun war folgendes beobachtet worden: 

Seit einiger Zeit entfernte fih DBoulatruelle früh am Tage 
von feiner Befhäftigung, die Straße zu pflaftern und in Ord- 
nung zu halten; dann ging er mit einem Spaten in den Wald. 
Man fab ihn des Abends auf einfamen Libtungen, beobachtete 
ihn in entlegenen Dieichten, wie er offenbar etwas fuchte, zu- 
weilen fogar Löcher grub. Brave Frauen, die ihm begegneten, 
hielten ihn fchlanfweg für Beelzebub; erfannten fie dann Boula- 
truelle, fo waren fie durchaus nicht etwa beruhigt. Auch fchien 
es, daß ibm foldhe Begegnungen unlieb waren. Augenfcheinlich 
ſuchte er fi zu verbergen und wollte feine Sade unerkannt be- 
treiben. 

Im Dorfe wurde gefagt, es fei nicht mehr daran zu zweifeln, 
daß bem Boulatruelle der Teufel erfchienen fei. Darum fuche er 
jest. So ein Lumpenkerl ift imftande, noch fein Glüd zu machen, 
wurde vermutet. Anhänger Doltaires meinten: wird Voula- 
truelle den Ieufel fangen, oder der Teufel Boulatruclle? Alte 
Frauen befreuzigten fich eifrig. 

Schließlich hörten Boulatruelles geheimnisvolle Arbeiten im 
Malde auf, er betreute wieder regelmäßig feine Straße. Mie. 
mand fprad weiter von der Sache. 

Einige Leute allerdings blieben neugierig, dachten, es gehe hier 
wohl nicht um die fabelbaften Schäße aus dem Märchen, viel- 


208 





leicht aber um eine recht folide Sache, eine beffere als Wechfel 
auf des Teufels Bank; der Straßenarbeiter babe vielleicht ein 
Geheimnis zur Hälfte aufgededt. Am lebbafteften intereffiert 
waren der Schulmeifter und der Gaftwirt Thenardier, der aller 
Melts Freund war und darum aud Boulatruelle nicht mied. 

Eines Abends meinte der Schulmeifter, in früheren Zeiten 
würde fich die Juſtiz Doch wohl mit der Frage befbäftigt haben, 
was diefer Boulatruelle im Walde treibe. Und damals hätte 
mon ibn fon zum Meden gebracht, man hätte eine geeignete 
Zortur angewendet, und, falls Soulatruelle noch immer wider- 
ftanden hätte, die Befragung burd das Waſſer gewählt. 

„Nun, dann wählen wir die Befragung burd den Wein’, 
meinte Ihenardier. 

Man feste fid) sufammen und Tieß den alten Arbeiter faufen. 
Er trank furchtbar — und ſprach wenig. Er verband den Durft 
eines MWanderers in der MWüfte mit der Verſchwiegenheit eines 
Richters. 

Aber man drang in ihn, entlockte ihm einzelne dunkle Worte, 
und ſchließlich konnten Thénardier und der Schulmeiſter ſich 
etwa folgenden Sachverhalt zuſammenreimen. 

Als Boulatruelle ſich eines Morgens auf ſeinen Arbeitsplatz 
begeben hatte, war er zu feiner Verwunderung an einer ent- 
legenen Stelle, im Geftrüpp, auf eine Schaufel und eine Hacke 
geftoßen. Es fab ganz fo aus, als ob diefes Gerät dort verfteckt 
worden fei. Dod hatte er geglaubt, e8 gehöre vielleiht Water 
Sir-Foures, dem Wafferträger, und hatte fih darüber Feine Ge- 
danken gemacht. Am Abend desfelben Tages aber hatte er, hinter 
einem Baume ftebend — und ohne felbft gefehen zu werden — 
einen Menfchen bemerkt, der nicht aus dem Dorfe war, ben er, 
Boulatruelle, aber recht gut Éannte, wie Ihenardier behauptete, 
alfo ein Kamerad aus dem Bagno. Diefer Mann fei in das 
dichtefte Dididt des Waldes eingedrungen. Poulatruelle wollte 
um feinen Preis den Namen nennen. Diefer Mann trug ir- 
gend etwas Viereckiges, vielleicht eine große Schachtel oder eine 
Eleine Truhe. est war Boulatruelle verwundert gewefen. Doc 


14 Hugo, Die Elenden. 209 


fom ihm erft nad fieben oder acht Minuten der Gedanke, er 
folle bem „Betreffenden“ nachgehen. Es war zu fpät, der war 
fon verfhwunden, und als Nacht war, konnte DBoulatruelle 
ihn nicht mehr finden. Er befhloß alfo, am Waldrand zu 
warten. Der Mond fhien. Zwei oder drei Stunden fpäter fab 
Boulatruelle feinen Mann wieder aus dem Walde Éommen, 
diesmal ohne die Éleine Truhe, aber mit Spaten und Sade. 
Boulatruelle war gar nicht auf den Einfall gefommen, den 
Mann anzureden, denn feiner Behauptung na war diefer wohl 
dreimal ftärfer als er und überdies mit einer Hade bewaffnet; 
fobald er ihn erfannte oder fid von ihm erfannt wußte, würde 
er gewiß zufchlagen. Man kann fagen: Nührendes Gefühl des 
alten Kameraden, der feinen Freund nach langer Zeit wieder- 
fiebt. Nun, Jade und Schaufel waren für Boulatruelle ein 
Fingerzeig. Schon am nädhften Morgen drang er felbft in bas 
Geftrüpp ein, und da er weder Sade und Schaufel wiederfand, 
glaubte er, an biefem Plase fei wohl etwas vergraben worden. 
Mun war der Koffer zu Flein gewefen, um einen Leichnam zu 
enthalten. Demnad war er mit Geld gefüllt. Darum hatte 
Boulatruelle fih auf die Suche gemadt. Er hatte den ganzen 
Wald durchgewühlt, aber vergeblih. Er hatte nichts gefunden. 


3. Die Kette bridt niht auf den Hammerſchlag 


Gegen Ende DÉtober des jahres 1823 fahen die Einwohner 
von Toulon nad einem fehweren Sturm den Kreuzer „Orion“ in 
ihren Hafen einlaufen, der fpäter in Breſt als Schulſchiff ver- 
wendet wurde, damals aber noch zum Mittelmeergefchwader zählte. 

Die Einfahrt eines Kriegsfhiffs in einen Hafen ruft immer 
eine Menge auf die Quais. Diefer Anblif hat ftets etwas 
Großes, und die Menge liebt das Große. 

Nun, der „Orion“ war feit langer Zeit Franf gemwefen. 
Während langer Fahrten hatten fih ganze Mufchelbänfe um 
feinen Kiel gelagert, fo daß feine Gefhwindigfeit wohl auf die 
Hälfte ihres urfprünglichen Standes herabgefunfen war. Darum 


210 


hatte man ibn [don im Vorjahre trodengelegt, war aber dann 
fpâter doch genötigt gewefen, ibn wieder in See ftehen zu 
laſſen. est war ein Led entftanden, und infolge diefer Havarie 
war der „Orion“ nad Toulon zurüdgefommen. 

Er war am Arſenal vor Anker gegangen. Bald wurde an 
feiner Wiederherftellung gearbeitet. Wenigftens am Steuerbord 
war der Numpf unverlebt, doch hatten fich einige Verkleidungen 
abgelöft, fo daß man, wie das üblich ift, die Lufen öffnen mußte, 
um Luft eindringen zu laffen und die Augtrodnung zu be- 
Tchleunigen. 

Eines Morgens nun war die neugierige Menge Zeugin fol- 
genden Vorfalls: 

Die Mannfhaft war gerade damit befchäftigt, die Segel feft- 
zumachen. Da verlor der Marsgaft, der eben dabei war, bas 
Hauptmarsfegel über Steuerbord hochzuziehen, bas Gleich— 
gewicht. Man fab ihn taumeln, die Menge auf dem Arfenalquai 
fhrie auf, Fopfüber ftürzte der Mann mit ausgeftreeften Armen 
in die Tiefe; halbenwegs befam er zuerft mit einer, dann mit 
beiden Händen die falfche Pertleine zu faffen und blieb hängen. 
Zief unter ihm das Meer. In feinem Fall hatte er die Pertleine 
zum Schwingen gebradt. Er hing am Ende des Taues und 
fhaufelte in der Luft. 

Ihm zu Hilfe zu eilen, bedeutete, fi einer furchtbaren Ge- 
fahr ausfeßen. Keiner der Matrofen, die übrigens ausnahmslos 
neugepreßte Fifcher aus dem Küftenland waren, wagte, fich diefer 
Aufgabe zu unterziehen. Schon ermüdete der Marsgaft, man 
fonnte fein angftverzerrtes Gefiht, feine Erfhöpfung erfennen. 
Seine Arme zitterten in furchtbarer Anftrengung. jeder Ver— 
fuch, ſich hochzuziehen, verfhlimmerte nur die Schaufelbewegung 
der Pertleine. Er ſchrie nicht, weil er befürchtete, Kraft zu ver- 
lieren. jeden Augenblick mußte er fallen, und ſchon wandten alle 
die Augen ab, um ihn nicht im Sturz zu feben. Es gibt Augen- 
bliefe, in denen bas Ende eines Strids, der Zweig eines 
Baumes ein Leben hält, und es ift furchtbar, ein Lebeweſen ab- 
reißen und fallen zu feben wie eine reife Frucht. 


14” 211 


Möglich bemerkte man einen Mann, der mit der Gewandtheit 
einer Tigerfage den Maft hinauffletterte. Er trug die rote Klei- 
dung des Sträflings; feine grüne Mütze ließ erraten, daß er ein 
„Lebenslänglicher“ war. Auf der Höhe des Marsfegels an- 
gelangt, verweilte er einen Augenblick; ein Windftoß trug ibm 
die Kappe fort, und man fah, daß er weiße Haare hatte. 

In der Tat hatte fi fofort nad dem Unfall ein Sträfling, 
der an Bord DBagnodienft tat, an den Wachtoffizier gewandt 
und inmitten des Zögerns und der Verwirrung der ganzen Be— 
ſatzung um die Erlaubnis gebeten, jein Leben risfieren und den 
Marsgaft retten zu dürfen. Auf einen bejahenden Winf des 
Offisiers hatte er mit einem Hammerſchlag die Kette, die fein 
Fußgelenk umfchloß, zerfehmettert, einen Strid ergriffen und 
war bis zu den Nahen emporgeflettert. Niemand beachtete in 
diefem Augenblick die Leichtigkeit, mit der er die Kette zerfchlagen 
hatte. Erft fpäter erinnerte man fich diefes Umftandes. 

Im nächſten Augenblid, wie gefagt, war er auf den Nahen. 
Er hielt einen Augenblif inne und maß mit den Augen den 
Abftand. Diefe Sekunden — der Wind fchaufelte inzwifchen 
den Marsgaft am Ende des Taues — fhienen den Zufchauern 
am Quai Sahrhunderte. Endlich blifte der Sträfling zum 
Himmel auf und fat einen Schritt vor. Die Menge atmete auf. 
Er Tief die Nahen lang. An der Spiße angefommen, büdte er 
fi, band das eine Ende des mitgebrahten Seiles feft und Tieß 
bas andere in die Tiefe fallen. Im nähften Moment Eletterte 
er an diefem Geil hinab, zum unausſprechlichen Entſetzen 
der Sufhauer, die jeßt zwei Menfchen über dem Abgrund 
hängen fahen. 

Man mußte ihn, wenn man ihn fo berabflettern fab, für eine 
Spinne halten, die eine Fliege fange — nur bradte biefe 
Spinne das Leben, nicht den Tod. Zehntaufend Blicke waren auf 
die beiden gerichtet. Kein Schrei, Fein Wort, nicht einmal ein 
Wimpernzucken ... alle hielten den Atem an, als ob fie fürchten 
müßten, der geringfte Hauch Eönne die beiden Gefährdeten ver- 
nichten. 


212 


Endlich hatte der Sträfling den Matrofen erreibt. Es war 
aud die höchſte Zeitz eine Minute fpäter hätte der Mann, er- 
ſchöpft und verzweifelt, fih in den Abgrund fallen laflen. Der 
Sträfling band ihn an dem Seil feft, an dem er ſich felbft mit 
der einen Hand hielt, während er mit der anderen arbeitete. 
Schließlich fab man ihn wieder zu den Nahen emporFlettern und 
den Matrofen nachziehen. Er ließ ihn dort einen Augenblid auf- 
atmen, um Kräfte zu fammeln, nahm ihn dann in die Arme und 
trug ibn bis nad dem Mars, wo er ibn den Händen feiner Ka- 
meraden übergab. 

Die Menge brad in ftürmifchen Beifall aus. Alte Rerfer- 
meifter hatten Tränen in den Augen, Frauen fanfen einander 
in die Arme, alle verlangten in höchfter Erregung, der Held folle 
begnadigt werden. 

Diefer hatte fib angefhidt, wieder binabzufteigen, um fi 
fofort wieder an die Kette legen zu laffen. Vielleicht um rafcher 
zu fein, ließ er fih an dem Maft hinab, bis er zur nächſten 
Rahe Fam und lief an biefer entlang. Alle Augen folgten ihm. 
Es gab einen Augenblick der Beforgnis. Sei es, daß er über- 
müdet war, fei es, daß ihm fehwindelte, man glaubte ihn zögern 
und fallen zu feben. Plötzlich gellte ein einziger Schrei aus der 
Menge auf: der Sträfling fiel ins Meer. 

Der Sturz mar gefährlih. Die Fregatte „Algeciras“ war 
neben dem „Orion“ vor Anker gegangen; der unglüdlihe Ga- 
leerenfträfling war alfo zwiſchen biefe beiden Schiffe gefallen. 
Man mußte befürchten, daß er, auftauchend, unter eines der 
beiden geraten würde. Eilig fprangen vier Mann in ein Boot. 
Die Menge feuerte fie an, wieder peitfhte die Angft alle Geifter. 
Aber der Mann tauchte nicht an der Oberflähe auf. Er war im 
Meere verfunfen, ohne eine Spur zu binterlaffen, als ob er in 
eine Tonne DI gefallen wäre. Man fudbte nad ihm, vergeblich. 
Bis Abend wurden die Bemühungen fortgefeßt, aber auch feine 
Leiche konnte nicht geborgen werden. 

Am nädhften Tag widmete bas „Journal de Toulon“ diefem 
Vorfall einige Zeilen: 


245 


17. Movember 1823. 
Geftern fiel ein Sträfling, der an Bord des „Orion“ 
Dienft tat, nachdem er einem Matrofen Hilfe gebradht hatte, 
ins Meer und ertranf. Die Leiche Fonnte nicht geborgen wer- 
den. Man nimmt an, daß fie an den Pfeilern des Arfenals 
hängengeblieben ift. Diefer Mann war im Megifter unter 
Mr. 9430 eingetragen und hieß Sean Valjean. 


ZweitesBuch 


Einlöſung eines Verfpretbens, das der Toten 
gegeben wurde 


1. Waffermangelin Montfermeil 


Montfermeil liegt zwifchen Livry und Chelles, am Südrand 
des Plateaus zwifchen Durcq und Marne. Heutzutage ift e8 ein 
recht ftattlicher und bübfher Plas, in dem es nicht an ſchönen 
Villen und Sonntags an Ausflüglern fehlt. 1823 aber gab es 
dort weder weiße Häufer noch vergnügte Bürgersleute; damals 
war Montfermeil ein Dorf, das im Walde verloren lag. Wohl 
gab es einige Landhäufer aus dem 18. Jahrhundert, erfennbar 
an ihrem vornehmen Ausſehen, ihren Gußeifenbalfong und 
hoben Senftern, aber darum war der Ort doch nur ein Dörfchen. 
Noch hatten ihn nicht die reihen Tuchhändler, die fich zur Ruhe 
feßen, entdeckt. Ruhig und gefällig lag er da, ohne Verkehr, ein 
Dies, an dem es fit billig, einfam und gemächlich leben läßt. 
Mur fehlte es wegen des hochgelegenen Plateaus an Waffer. 

Es mußte von ziemlich weit berbeigefhafft werden. Das 
Ende des Dorfes, das gegen Gagny bin liegt, bezieht fein 
Waſſer aus den prächtigen Ieichen, die im Walde liegen; das 
andere, rings um die Kirche und gegen Chelles bin, mußte fi 
bas Trinkwaſſer aus einer Eleinen Quelle befchaffen, die, etwa 
eine Diertelftunde von Montfermeil entfernt, an der Cheller 
Straße lag. 


214 





Daher Fam es, daß die Mofferverforgung oft ref ſchwierige 
Aufgaben ftellte. Die vornehmen Haushalte, die Ariftofratie von 
Montfermeil, sablten einen Liard für den Scheffel Wafler und 
ließen es von einem Mann beranfhaffen, der fi nur biefer 
Aufgabe widmete und mit der MWofferverforgung von Mont- 
fermeil etwa acht Sous täglich verdiente. Aber der gute Mann 
arbeitete im Sommer nur bis fieben Uhr abends, im Winter 
gar nur bis fünf, fo daß, wer bei Einbrudh der Naht Fein 
Waſſer im Haufe hatte, entweder felbft welches holen oder fi 
den Durft verfneifen mußte. 

Dos war der Schreden diefes armen Geſchöpfs, das unfere 
Lefer gewiß nicht vergeffen haben, der fleinen Eofette. Man 
erinnert fi), daß Cofette ben Thénarbdiers doppelt nützlich war, 
denn einerfeits mußte ihre Mutter Koftgeld bezahlen, anderer- 
feits leiftete das Kind Dienfte. Als nun die Mutter mit ihren 
Zahlungen in Verzug geriet, behielten, wie in den vorigen 
Kapiteln auseinandergefeßt worden ift, die Ihenardiers Cofette. 
Sie erfeßte ihnen eine Magd. Darum auch hatte fie, wenn es 
an Waſſer fehlte, welches zu beforgen. Und da das Kind fi 
nicht wenig davor fürchtete, des Nachts zu jener Quelle zu 
gehen, achtete es um fo aufmerffamer darauf, daß bas Waſſer 
fhon des Tages im Haufe nicht ausging. 

Weihnachten des Jahres 1823 waren für Montfermeil be- 
fonders glänzend. Der Winter hatte mild eingefest. Mod hatte 
es nicht gefchneit. Parifer Afrobaten hatten von dem Bürger: 
meifter die Erlaubnis erhalten, in der Hauptftraße des Dorfes 
Buden aufzuftellen, und eine Menge wandernder Händler hatte 
von der gleichen Erlaubnis Gebraud gemacht und auf dem 
Kirchplatz, ja bis zur Bäckergaſſe hinab, wo die Thénardiers 
ihre Wirtfhaft betrieben, Hökerbuden aufaeftellt. So Fam 
Leben in die Gaftwirtfhaften und Budifen, und das Tiebe 
Dörfchen fab fröhliche und erregte Tage. 

Am Weihnachtsabend foßen mehrere Männer, Fuhrleute und 
Haufierer, an dem mit vier oder fünf Kerzen beftellten Tiſche 
des Gaftsimmers. Es war ein Speiferaum, wie ibn alle 


215 


Budiken diefer Art aufweifen. Tiſche, Zinnfrüge, Flaſchen, 
Trinfer und Raucher; wenig Licht, viel Lärm. Die TIhenardier 
überwachte das Abendbrot, dag noch an einem hellen Feuer 
fhmorte. Herr Thénardier trank mit feinen Gäften und beftritt 
die Koften des politifchen Geſprächs. 

Eofette befand fih an ihrem gewöhnlichen Aufenthaltsort, 
fie bocte unter dem Küchentifch neben dem Kamin. Ihre Klei- 
der waren zerlumpt, an den nadten Füßen hatte fie Holzpan- 
tinen. Sm Schein des Kaminfeuers ftridte fie an Moll 
ftrümpfen, die für die Éleinen Töchter der Thénardiers beftimmt 
waren. Aus einem Mebenzimmer hörte man das Laden und 
Scherzen zweier Kinderftiimmen. Das waren Eponine und 
Azelma. 

Sm Kaminwinkel hing auf einem Nagel eine Karbaͤtſche. 

Zuweilen übertönte der Schrei eines kleinen Kindes, das in 
einem anderen Raum des Hauſes untergebracht ſein mochte, 
den Lärm in der Gaſtſtube. Das war der kleine Knabe, den 
die Thenardier in einem der vorigen Winter befommen hatte, 
„ohne zu wiffen warum, offenbar ale MWirfung der Kälte”, 
wie fie fagte. Er war jekt etwa drei jahre alt. Die Mutter 
hatte ibn genährt, aber fie Fonnte ihn nicht leiden. Wenn das 
Geſchrei unerträglich wurde, fagte Ihenardier wohl zu ihr: 

„Dein unge jault fhon wieder. Sieb bob nah, was 
er will.’ 

„Ab laß doch,” antwortete die Mutter, „er langweilt mid.’ 

Und der vernadhläffigte Kleine jammerte in der Dunfelbeit 
weiter. 


2. Dervollftändigung zweier Porträts 


Wir haben bisher die Tbénardiers gewiffermaßen nur im 
Profil gezeigt. est ift es an der Zeit, ſich wieder mit diefem 
würdigen Paar zu befhäftigen und es von allen Seiten zu be- 
tradıten. 

Thenardier hatte die Fünfzig überfchritten. Frau Ihenardier 
mochte bald Dierzig erreichen. Aber da Frauen mit Viersig 


216 





ebenjo weit find wie Männer mit Fünfzig, Eonnte man fagen, 
die beiden feien gleich alt. 

Unfere Lefer erinnern fih vielleicht nod der erften Schilde— 
rung diefer Frau, einer großen, blonden, geröteten, vierfchrö- 
tigen Perfon. Sie beforgte die ganze Wirtfhaft, hielt die 
Zimmer in Stand, führte die Küche. Ihre einzige Bediente 
war Cofette: das Mäuschen im Dienfte eines Elefanten. Alles 
zitterte, wenn die Ihenardier ſprach, Fenfterfheiben, Möbel 
und Menfchen. hr breites, mit Sommerfproffen überfätes Ge- 
fiht gli einem Sieb. Auch hatte fie einen Bart. Sie fab aus 
wie ein Schwerathlet, der fih als Mädchen verkleidet bat. 
Sluden Éonnte fie prachtvoll, und fie rühmte fi, daß fie eine 
Nuß mit der Fauft fprengen Éonnte. Wenn fie nicht ihre Ro- 
mane gelefen hätte — wovon eine gewiſſe Geziertheit und 
Zimperlichfeit ihres Weſens herrührte —, wäre wohl niemand 
darauf verfallen, fie für ein Weib zu halten. Hörte man fie 
reden, fo dachte man: ein Gendarm. Sah man fie trinken, fagte 
man wohl: ein Fuhrmann. Molträtierte fie Cofette, fo dachte 
man: ein Henfer. 

Menn fie fchlief, ftand ftets ein Zahn aus ihrem Munde 
hervor. 

Thénardier war ein Éleiner, magerer, ſchwächlich ausfebender 
Mann, der Frank zu fein fhien; dabei fühlte er fi glänzend, 
fogar feine Kranfheit war nur Betrug. Er pflegte vorfihts- 
halber immer zu lächeln und war faft zu allen Leuten höflich, 
fogar zu dem Bettler, bem er einen Pfennig verweigerte. In 
feinem DBlif war etwas von einem Marder, und dem Gefibt 
na hätte man ibn für einen Schriftfteller Halten können. Eine 
gewiffle Ähnlichkeit mit den Bildniffen des Abbe Delille fiel 
auf. Bei den Fuhrleuten Fehrte er den großen Trinfer heraus. 
Mod nie hatte ihn jemand unter den Tiſch trinken können; er 
rauchte aus einer großen Pfeife. 

Unter einer Blufe trug er ein ſchwarzes Gewand. Gern 
wollte er für literarifch gebildet gelten und Éebrte den Mate- 
rialiften heraus. Oft berief er fih auf irgendwelche große 


217 


Damen, wenn er einen eigenen Gebanfen befräftigen wollte, 
nannte Voltaire, Raynal, Parny und feltfamerweife auch den 
heiligen Auguftinus. Er behauptete feft und fteif, er babe eine 
MWeltanfhauung. Er war halb Philoſoph, Halb Schurke. Wie 
unfere Lefer fi erinnern, behauptete er, gedient zu haben. 
MWeitfehweifig erzählte er, wie er bei Waterloo als Sergeant 
der Sechfer allein gegen eine Esfadron Zotenfopfhufaren ge- 





kämpft hätte; und fehliehlich hatte er im Feuer einer Kugel- 
fprise mit feinem Leibe einen gefährlich verwundeten General 
gedeeft und gerettet. Daher rührte auch die Darftellung auf 
feinem Wirtshausfehild und der Name feiner Rafhemme, die 
„Wirtshaus des Sergeanten von Waterloo” hieß. Iatfache ift, 
daß er am 18. uni 1815 bei Waterloo als Leichenfledderer 
einen Stabsoffizier, einen gewiflen Pontmerey, beftohlen, und, 
als diefer zu Bewußtfein gefommen war, zur Meinung ge- 
bracht hatte, er fei fein Retter. 

Er war liberal, bonapartiftifh gefinnt. Er hatte fih an dem 


218 





Volksbegehren für das Aſyl beteiligt. Im Dorf hieß es, er fei 
in einem Priefterfeminar erzogen. 

Unferer Meinung nach war er in Holland zum Kellner aus- 
gebildet worden. Aller Wahrfcheinlichfeit nach war er ein Slam- 
länder aus Lille, der in Paris den Franzofen, in Brüffel den 
Belgier fpielte: ftets nad beiden Seiten bin gedeckt. Mas feine 
Heldentaten betrifft, fo übertrieb er wohl. Das Abenteuer war 
jein Lebengelement. In Wirklichkeit hatte er an jenem Juni— 
tage 1815 zu den Fledderern und Marfetendern gehört, die 
jedem verfauften, jeden beftablen und hinter jeder Truppe ber- 
liefen, meift mit dem guten Inſtinkt für den Sieger. Diefer 
Feldzug hatte ihm, wie er ſich ausdrüdte, Quibus eingebracht, 
und damit hatte er feine Gafiwirtfhaft in Montfermeil ge- 
gründet. 

Aber Quibus, geftohlene Börfen und Uhren, goldene Ringe 
und filberne Kreuze, der Ertrag eines Schlachtfeldes, reichte 
nicht aus, um es wirklich weiterzubringen. Thenardier batte im 
Sahre 1823 etwa fünfzehnhundert Franfen Schulden an- 
gefammelt, und die Sorgen drohten ihn zu verflingen. 


3. Wein für Menfhen, Waffer fürdie Pferde 


Vier neue Gäfte waren eingetreten. 

Eofette war in trübfinniges Nachdenken verfunfen; denn ob- 
wohl fie erft acht Jahre zählte, hatte fie fon fo viel durch— 
gemacht, daß fie düfter wie eine Greifin zu grübeln verftand. 

Ihr eines Auge war von einem Fauftfchlage der Thenardier 
blau angelaufen, was jener Tiebenswürdigen Frau Gelegenheit 
gegeben hatte zu äußern, die Kleine febe do wirflih allzu 
häßlich aus. 

Cofette dachte darüber nad, daB es jetzt Naht fei, pech- 
ſchwarze Nacht, und daB die Karaffen und Krüge in den Zim- 
mern der Neuankömmlinge wohl gefüllt werden müßten; und 
daß Fein Wafler mehr im Zuber war. 

Eine gewiſſe Beruhigung bereitete es ihr, daß im Haufe 


219 


Théènardier nicht viel Waſſer getrunfen wurde. An Durft fehlte 
es den Leuten ja nicht, die hier vorbeifamen, aber fie hielten fit 
doc lieber an den Weinfrug als an die Waflerflafche. Wer 
hier inmitten fo vieler Weintrinfer ein Glas Waſſer verlangt 
hätte, wäre für einen Tropf gehalten worden. 

Und bob gab es einen Augenblid, in dem das Mädchen zit- 
terte. Das war, als die Thenardier den Dedel von einer Raffe- 
rolle hob, die auf dem Herd ftand, ein Glas nahm und rafch zu 
dem Zuber trat. Sie drehte den Hahn auf, und bas Kind, das 
den Kopf gehoben hatte, beobachtete fcharf den dünnen Faden 
Maflers, der auslief. Das Glas wurde nur zur Hälfte gefüllt. 

„Hola, Fein Wafler mehr!" hatte die Thenardier gefagt. Das 
Kind atmete nit. 

„Ad was,” fagte die Thenardier und prüfte ihr halbgefülltes 
Glas, „es wird auch fo gehen.” 

Cofette wandte fich wieder ihrer Arbeit zu, aber eine Viertel- 
ftunde lang Flopfte ihr Herz, als ob es zerfpringen follte. 

Zuweilen fat einer der Trinfer einen Blick auf die Straße 
hinaus und rief etwa: 

„Sinfter wie in einem Badofen! oder „Sin eine foldhe 
Sinfternis getraut fi wohl nur eine Katze ohne Laterne.” 

Dann begann Eofette von neuem zu zittern. 

Sekt trat einer der Haufierer in die Gaſtſtube und fagte 
ärgerlich: 

„Mein Pferd bat Eein Waſſer befommen!” 

„Doch“, fagte die Thenardier. 

„Und ich fage ihnen, daß es Feines befommen bat, Frau’, 
antwortete der Haufierer. 

Eofette war unter dem Tiſch bervorgefrochen. 

nDob, Herr,’ rief fie, „das Pferd bat getrunfen, einen 
ganzen Eimer voll. Ich felbft babe ihm den Eimer gebracht.” 

Eofette Iog. 

„Was, du Éleiner Däumling, du lügſt ja ſchon wie eine 
Große!’ rief der Haufierer, „ich fage dir, daß bas Pferd Fein 


220 


Waſſer befommen bat, free Mange! Es bat eine Art zu 
fhnaufen, wenn es fein Wafler befommen bat, die ich febr 
wohl kenne.“ 

Mit einer Stimme, die vor Angft beifer war, beftand 
Cofette darauf: 

„Doch, es bat getrunken.‘ 

„Schluß! rief der Haufierer wütend, „mein Pferd muß 
Waſſer Eriegen, mehr ift darüber nicht zu fagen.” 

Coſette kroch wieder unter den Tifch. 

„Natürlich,“ fagte die Ihenardier, „wenn das Tier Fein 
Waſſer gefriegt bat, fo muß es jetzt welches kriegen.“ 

Sie blickte um fic. 

„Wo iſt denn die Kleine?’ 

Sie bückte fit und fab Eofette, die ſich unter dem Tiſch faft 
zwifchen den Deinen der anderen Zecher verfrochen hatte. 

„Willſt du wohl hervorkommen!“ ſchrie fie. 

Cofette tauchte aus dem Toh auf, in dem fie fi ver- 
borgen hatte. | 

„un, du MWechfelbalg, hol’ Waffer für das Pferd!‘ 

„Aber es ift doch Fein Waſſer mehr da’, fagte Eofette 
ſchwach. 

Die Thénardier riß die Türe auf. 

„Nun, dann hol' welches.“ 

Coſette ließ den Kopf hängen, dann holte fie aus der Ramin- 
ecke einen leeren Zuber. Er war größer als ſie, das Kind hätte 
ſich bequem hineinſetzen können. 

Die Ihenardier trat wieder an den Herd und koſtete mit 
einem Holzlöffel aus der Rafferolle. 

„Das ift ganz gut,’ murmelte fie, „das kann gar nicht 
fhaden. Ich glaube, ich hätte meine Zwiebel paifieren können.“ 

Sie 30g eine Lade auf und fuchte zwifchen Kleingeld, Pfeffer 
und Cbarlotten eine Minze heraus. 

„Da, du Affel, am Rückweg holft du vom Bäder ein großes 
Brot. Hier find fünfzehn Sous.“ 


224 


Eofette Hatte eine Eleine Taſche in ihrer Schürze, wortlos 
nahm fie die Münze und ftedte fie ein. 

Dann blieb fie fteben, den Zuber in Händen, fpähte durch die 
offene Tür hinaus. Es war, als ob fie von irgendwo Hilfe er- 
wartete. 

„Los, was ftehft du noch dal’ ſchrie die Thénarbdier. 

Cofette ging. 


4. Eine Puppe erfbeint auf der Szene 


Auf dem Wege zur Kirche waren die Höferbuden in langer 
Zeile aufgereibt. Da die Stunde des Gangs zur Mette bevor- 
ftand, waren in zahlreihen Lampions Kerzen angezlindet, was 
der Straße, wie der Schulmeifter von Montfermeil fagte, ein 
magifches Ausfehen gab. Dafür war Fein Stern am Himmel 
zu feben. 

Die Iekte der Buden, die gerade Ihenardiers Tür gegen- 
überftand, hatte allerlei bunte Slitter, Glasfaben und glißern- 
des Blechzeug ausgeftellt. In der vorderften Meihe aber ftand 
eine ungeheure, faft zwei Fuß hohe Puppe, die in ein rofa 
Kreppkleidhen gehüllt war, ein Golbbäubhen auf dem Kopf 
trug, Emailleaugen und echte Haare hatte. Den ganzen Tag über 
war diefes Wunder die Augenweide aller zehnjährigen Mädchen 
von Montfermeil gewefen, ohne daß fi) auch nur eine einzige 
Mutter gefunden hätte, die fo reich oder fo verfehwenderifch 
war, ihrem Kinde ein folches Geſchenk zu maden. Eponine und 
Azelma hatten Stunden damit verbracht, fie anzufchauen, und 
aud Cofette hatte ihr einen, wir miüffen e8 der Mahrheit 
halber feftftellen, flüchtigen Blick zugeworfen. 

As Cofette nun aus dem Haufe trat, bedrüdt und nieder- 
gefhlagen, wie fie war, Éonnte fie es fi bo nicht verfneifen, 
biefer herrlichen Puppe, der „Dame“, wie fie fie nannte, einen 
Blick zu gönnen. Wie verfteinert blieb das arme Kind ftehen. 
Aus der Nähe hatte fie diefes Wunderwerk noch nicht geſehen. 


222 


Für fie war die Höferbude ein Palais, die Puppe eine Viſion. 
Sie war Pracht, Neihtum, Glück, fie erfchien diefem arınem, 
von düfterem Elend niedergedrücdten Kind wie ein fehimärifch 
firahlendes Wefen. Cofette maß mit dem naiven und zugleid 


Are, 


ih 


alu 
nl 


Ve 





traurigen Eifer der Kindheit die Kluft, die fie von diefer Puppe 
trennte. Sie begriff, daB man Königin oder mindeftens Prin- 
zeffin fein müßte, um fo etwas befißen zu dürfen. Sie betrachtete 
das Schöne rofa Kleidchen, das herrlihe Haar und dachte: wie 
glüklih muß diefe Puppe fein! 


223 


Sie Éonnte die Augen nit von der Zauberbude abwenden. 
Se mehr fie binfab, um fo rätfelhafter war der Bann. Sie 
glaubte einen Bli in das Paradies zu fun. Hinter der großen 
waren noch andere Puppen, die Feen und Genien glichen. Der 
Krämer, der hinten in der Bude auf und ab ging, fehien ihr 
etwa wie der bimmlifhe Vater. | 

Sn ihrer Verzückung vergaß fie alles, fogar den Auftrag, den 
fie erhalten hatte. Plößlich aber rief die raube Stimme der 
Thenardier fie zur Wirklichkeit: 

„Biſt bu noch nicht fort, Faulpelz! Na warte nur! Was haft 
du dort zu fuhen? Vorwärts, Balg!“ 

Die Ihenardier hatte einen Blick auf die Straße hinaus- 
geworfen und hatte die verzückte Cofette gefehen. Nun rannte 
die Kleine mit ihrem Zuber, fo rafd fie Éonnte, in die Nacht 
hinaus. 


5. Die Kleine allein 


Da die Gaftwirtfhaft der Ihenardiers in jenem Teil des 
Dorfes lag, der um die Kirche gruppiert ift, mußte Cofette das 
Waſſer aus der Quelle am Wege nach Chelles holen. 

Sie fab fi) Feine von den Duden mehr an. Solange fie in 
der Bäckergaſſe und in der Nähe der erleuchteten Buden war, 
deren Lampions ihr Licht auf den Weg warfen, ging es gut; 
bald aber wurde es rings um fie dunkel. br wurde bang zumut, 
fie begann den Zuber heftig an feinem Henkel zu ſchwenken. So 
entftand ein Geräuſch, das ihr Gefellfhaft leiftete. 

Ve weiter fie ging, um fo undurddringlider wurde die Fin- 
fternis. est war Fein Menſch mehr auf den Straßen. Solange 
zu beiden Seiten nod Häufer oder wenigftens Gartenmauern 
waren, blieb fie ziemlich tapfer. Hier und da fab fie burd ver- 
fhloflene Fenfterläden den Schimmer einer brennenden Kerze. 
Das war Leben, Licht, und flößte ibr Mut ein. Ve weiter fie 
aber in die Finfternis vordrang, um fo langfamer wurde ihr 


224 


Schritt. Und als fie bas leßte Haus erreicht hatte, blieb Cofette 
fteben. 

Es war ihr fon ſchwer genug gefallen, an der legten er- 
leuchteten Bude vorbeizufommen. Nun aud bas Iekte Haus 
hinter fih zu laffen, war fier unmöglid. Sie ftellte den 
Zuber auf den Boden, vergrub ihre Finger in den Haaren und 
begann langſam den Kopf zu Fragen, eine Gefte, die bei Kin- 
dern Unentfehiedenheit bedeutet. Was fie da vor fih fab, war 
nicht mehr Montfermeil, bas waren die Felder, eine fchwarze, 
öde Wüſtenei. Verzweifelt fpähte fie in die Dunfelheit hinaus, 
in der es feine Menfchen mehr gab, wohl aber Tiere, vielleicht 
auch Gefpenfter. Sie fonnte die Tiere im Grafe hören, in den 
Baumwipfeln fab fie deutlich die Gefpenfter. Da nahm fie ihren 
Zuber auf, die Furcht flößte ihr Mut ein. 

„Ab was,” fagte fie, ‚ich werde fagen, daß Fein Waſſer 
mehr da war.’ 

Kurz entfhloffen Eehrte fie nah Montfermeil zurüd. 

Aber fie war Feine hundert Schritte gegangen, da blieb fie 
ſchon fteben und begann wieder den Kopf zu Fragen. Jetzt fab 
fie die Ihenardier, diefes fheuflihe Weib mit dem Hpänen- 
maul und den wutflammenden Augen. Kläglich blickte fie um 
fih. Was tun? Wohin gehen? Vor ihr dag Gefpenft der Thé- 
nardier, hinter ihr die böfen Geifter der Naht und des Waldes. 
Sie entfchied fi) gegen die Thenardier. Wieder nahm fie die 
Richtung zur Quelle und begann zu laufen. Laufend verlieh fie 
bas Dorf, laufend durdquerte fie den Wald, fab und hörte 
nichts. Als ihr der Atem ausging, blieb fie nicht fteben, fon- 
dern ging wenigftens im Schritt weiter. 

Sie hatte große Luft zu weinen. 

Das nächtliche Weben des Forftes hüllte fie ein. Sie wagte 
feinen Gedanfen zu faffen, wagte nicht, um fich zu bliden. 

Vom Waldrand bis zur Quelle hatte fie fieben oder act 
Minuten zu gehen. Eofette Fannte den Weg gut genug, mußte 
fie ihn doc) täglich mehrmals zurüclegen. Sie verirrte fih nicht. 
Ein Inſtinkt führte fie. Obwohl fie nicht aufblifte, aus Furcht, 


15 Hugo. Die Elenden. 225 


in den Zweigen oder im Geftrüpp etwas zu feben, ging fie den 
richtigen Weg. Sie erreichte die Quelle. 

Es war ein etwa zwei Fuß tiefes, natürliches Becken, rings- 
um moosbewachſen. Murmelnd ſchoß das Wafler hervor. 

Cofette nahm ſich nicht einmal die Zeit, aufsuatmen. Es war 
ftotfinfter. Aber fie Fannte fid ja hier aus. Mit der Linfen 
taftete fie nach einer jungen, über dag Wafler geneigten Eiche, 
die ihr gewöhnlich als Stüßpunft diente, griff einen Aft, hing 
fit daran, beugte fi) vor und tauchte den Zuber ins Waffer. 
Die Erregung verdreifachte ihre Kräfte. Während fie fo über 
bas Wafjer gebeugt war, bemerkte fie nicht, daB der Inhalt 
ihrer Schürzentafche hineinfiel. Das Fünfzehnfousftüd war ver- 
loren. Eofette bemerkte es nicht. Sie zog den faft gefüllten 
Eimer hoch und ftellte ibn ins Gras. 

Gebt bemerkte fie, daB fie erfhôpft war. Gern wäre fie fofort 
zurücgelaufen, aber die Mühe, den Zuber hochzuziehen, hatte 
ihr alle Kraft genommen. Sie mußte fid einen Augenblick nie- 
derfeßen. Gebückt hockte fie im Graſe. 

Sie fhloß die Augen und fhlug fie wieder auf, ohne zu 
wifjen warum; fie Eonnte nicht anders. Das Waſſer neben ihr, 
von der ‘Bewegung aufgefheucht, 309 Kreife, die Schlangen 
glihen. Der Himmel über ihr war mit ſchwarzen Wolfen über- 
zogen, die Rauchſäulen ähnlich waren. Die Dunkelheit fhien 
fi über fie zu beugen, nach ihr zu greifen. 

Supiter ging gerade unter. Das Kind fab mit erfchredten 
Augen diefen großen Stern, den fie nicht Fannte, und der ihr 
Furcht einflößte. Der Planet ftand Enapp über dem Horizont 
und fhimmerte durch eine dichte Mebelfchicht unheimlich groß. 
Man hätte ibn für eine blutige Wunde halten Eönnen. 

Kalter Wind ftrid über die Ebene bin. Nur das Raſcheln 
der Blätter war zu vernehmen. Etwas bemädhtigte fi) des 
Kindes, fürdterliher als Furcht. Eifiger Schauer erfaßte fie. 
Ihr Blick fiel auf den Zuber, wieder Fam ihr die Angft vor 
der Ihenardier zu Hilfe. Mit beiden Händen umflammerte fie 
den Henkel. Mühſam hob fie das Gefäß bob. Sie tat etwa ein 


226 


Dusend Schritte, aber der Zuber war zu ſchwer, fie mußte ihn 
wieder abfeten. Nachdem fie Atem gefchöpft hatte, bob fie ihn 
wieder auf und lief diesmal eine etwas größere Strede. Mod 
einmal mußte fie ftehenbleiben. Wieder einige Sefunden Ruhe. 
Vorgebeugt, den Kopf gefenft wie eine Greifin, machte fie fi 
wieder auf den Weg. Das Gewicht des Zubers zerrte an ihren 
mageren Armchen. Tief gruben fih die Henkel des Eimers in 
ihre Eleinen, feuchten Hände. Von Zeit zu Zeit mußte fie 
ftehenbleiben, und jedesmal fehwippte Waſſer über den Rand 
des Zubers und benäßte ihre nadten Deine. 

Ihr Keuchen Élang wie ein qualvolles Röcheln. Schluchzen 
fhnürte ihre Kehle zu. Uber fie wagte nicht, zu weinen, jo 
febr fürchtete fie, fogar aus der Ferne, die Ihenardier. Es war 
ihre Gewohnheit, fi immer vorzuftellen, diefe Frau wäre zu- 
gegen. 

Raſch Fonnte fie auf diefe Weiſe nicht vorwärts kommen. 
Mochte fie ihre Ruhepauſen nod fo fehr Fürzen und jedesmal 
bis zur Erfhöpfung weiterlaufen! Mit Angft und Entfeßen 
wurde fie fit bewußt, daß fie eine Stunde brauchen würde, um 
fo nach Montfermeil zurücdzufommen und daß die Thenardier 
fie fhlagen würde. Diefe Angft paarte fih mit dem Grauen 
vor der nähtlihen Einfamfeit im Walde. Sie war müde zum 
Umfinfen, als fie den Wald noch nicht Hinter fib hatte. Unter 
einem alten Kaftanienbaum machte fie eine lete, längere Sta— 
tion, dann fammelte fie all ihre Kräfte und begann tapfer 
gegen das Dorf zu auszufchreiten. 

In diefem Augenblif fühlte fie, wie der Eimer plößlic 
leicht wurde. Eine Hand, die ihr ungeheuer groß fhien, hatte 
den Henkel ergriffen. Sie bliefte auf. Etwas Großes, Schwar- 
je8 ging in der Sinfternis neben ihr. Es war ein Mann, der 
hinter ihr bergefommen war und den fie nicht gehört hatte. 
Mortlos hatte er den Henkel des Zubers ergriffen. 

Es gibt einen Inſtinkt, der bei der erften Begegnung das 
Richtige weift. 

Das Kind fürtete fih nicht. 


zu 227 


6. Vielleicht iſt Boulatruelle Dodb Flug 


Am Nachmittag desfelben Weihnachtstages 1823 durchſchritt 
ein Mann langfam den entlegenften Teil des Boulevard de 
PHôpital in Paris. Diefer Mann fab aus wie einer, der eine 
Wohnung fut, und er fhien die befheidenften Häufer diefes 
dürftigen Stadtviertelg zu bevorzugen. 

Der Lefer wird beizeiten erfahren, daß diefer Mann wirf- 
li ein Zimmer in jener Gegend gemietet hatte. 

Seiner Kleidung wie auch feiner ganzen Perfünlichfeit nad) 
war er der Typus deflen, was man „bettelarm aber anftändig‘ 
nennt: außerfte Armut mit peinlichfter Sauberfeit verbunden. 
Das ift eine feltene Mifchung, die Elugen Beobachtern dop- 
pelte Achtung einflößt und bemeift, daß, wer fi fo trägt, 
ebenfo würdig wie arm ift. Der Mann trug einen fehr alten 
und ftarf abgebürfteten runden Hut, einen Mod aus grobem, 
ockergelbem Tuch, der fchon fadenfcheinig war, eine Weſte mit 
ungebeuerlien Zafchen, ſchwarze Hofen, die bereits an ben 
Knien grau geworden waren, ſchwarze Wollftrümpfe und derbe 
Schuhe mit fupfernen Schnallen. Man hätte ihn für einen 
alten Sauslebrer einer guten Familie halten können. An feinen 
weißen Haaren, feiner gefurchten Stirn, feinen blaffen Lippen 
und feinem Gefiht, das Kummer und Tebensmüdigfeit er- 
fennen Tieß, hätte man den Sechziger erkennen können, bot 
ließen fein ficherer, wenn auch bedädhtiger Gang, feine ent- 
Ihiedenen Bewegungen erfennen, daß er kaum fünfzig zählte. 
Die Falten auf feiner Stirn waren gut gezogen und Fonnten 
einen aufmerffamen Beobachter für ihn einnehmen. Seine 
Lippen wurden von einer fcharfen Salte umrahmt, die auf 
Strenge fchließen Tieß, aber Demut bedeuteten. In der Tiefe 
feines Blickes war eine büftere Ruhe. In der Linfen trug er 
ein in ein Tuch verfnotetes Paket. Die Rechte ftüßte fih auf 
einen Stod, den er wohl jelbft aus einer Hede gefhnitten 
hatte. 

Der Boulevard war wenig belebt, zumal zu bdiefer winter: 


228 


lichen Zeit. Doch fhien unfer Mann, wenn auch unauffällig, 
felbft diefe wenigen eher zu meiden als zu fuchen. 

Gegen viertel fünf, mit Einbrud der Dunfelheit, fam er 
an dem Theater der Porte-St.-Martin vorüber, wo an diefem 
Sage „Die beiden Sträflinge” gegeben wurden. Das Pro- 
gramm, von den XIheaterlampen erleuchtet, intereffierte ihn 
offenbar, denn obwohl er jest rafch ging, blieb er einen Augen- 
blick fteben, um es zu Iefen. Eine Sefunde fpäter bog er in die 
Sadgaffe la Planchette ein und näherte ſich dem Poftbüro der 
Strede nad Lagny. Die Poftkutfhe mußte um halb fünf ab- 
fahren. Die Pferde waren fhon angefpannt, und die Paffagiere, 
von dem Poftillion berbeigerufen, Eletterten eilig die hohe Eifen- 
treppe zu den Dedffißen empor. 

„Haben Sie nod einen Platz frei?” fragte der Mann. 

„Einen einzigen, gleich hier neben mir, auf dem Kutſchbock.“ 

„Ich nehme ihn.” 

„Steigen Sie auf.‘ 

Bevor die Poftfutfhe fih in Bewegung fete, warf der Do- 
ftillion einen ‘Blick auf die dürftige Kleidung feines Paflagiers 
und den geringen Umfang feines Gepäds; er verlangte fein Geld 
im voraus. 

nSabren Sie bis Lagny?!’ fragte er. 

ra." 

Der Reiſende bezahlte bis Lagny. 

Das Gefährt febte fih in Dewegung. Nachdem man bas 
Meichbild der Stadt verlaffen hatte, wollte der Kutfcher eine 
Unterhaltung anfnüpfen, aber der Meifende antwortete ein- 
filbig. So mußte der Kutfcher ſich damit begnügen, vor fih bin 
zu pfeifen und den Pferden Fräftige Flüche zuzurufen. 

Bald wurde es Falt, der Kutfeher hüllte fih in feinen Man- 
tel. Der Reiſende fchien nichts zu fpüren. So Fam man durd 
Bournay und Neuilly fur Marne. 

Gegen febs Uhr abends war man in Chelles. Der Kutfcher 
hielt an, um feine Pferde verfchnaufen zu laffen. 


229 


„Ich fteige hier ab”, fagte der Fremde. Damit nahm er 
Bündel und Stod und fprang aus dem Wagen. 

Sm nächſten Augenbli war er verfhwunden. 

In die Gaftwirtfhaft, vor der die Poftkutfche hielt, war er 
nicht eingetreten. 

Als der Wagen einige Minuten fpäter in der Richtung nad) 
Lagny weiterfuhr, begegnete man dem Unbekannten nicht auf 
der Chauſſee nah Chelles. 

Der Kutfcher wandte fih nad den Paflagieren im Innern 
des Magens um. 

‚Der Mann ift nibt von bier, ich Éenne ibn nicht. Sieht 
aus, als ob er feinen Sou befäße. Aber ihm liegt nichts an 
Geld, er zahlt bis Lagny und fteigt in Chelles aus. Es ift 
Nacht, alle Häufer find verfhloffen. Er war nicht in der Her- 
berge, und bier ift er auch nicht. Offenbar ift er in den Erd— 
boden verfhwunden.” 

Dun, der Reiſende war nicht verfhmwunben, aber er hatte 
baftig in der Dunkelheit die Hauptftraße von Chelles durd- 
fhritten und war dann vor der Kirche in den Seitenweg ein- 
gebogen, der nah Montfermeil ging; offenbar Fannte er doch 
die Gegend. 

Raſch fehritt er aus. An der Stelle, wo fein Weg die alte 
Allee von Gagny nad Lagny Freuzt, hörte er Stimmen. Raſch 
trat er in den Straßengraben und wartete, bis die Paſſanten 
vorüber waren. Diefe Vorfiht war übrigens überflüffig, denn 
die Dezembernadt war, wie wir fchon gefagt haben, außer- 
ordentlih dunkel. Man fab Faum zwei oder drei Sterne am 
Himmel. 

Test begann der Weg anzufteigen. Der Unbefannte feßte 
aber den Weg nah Montfermeil nicht fort; er wandte fih zur 
Rechten und erreichte mit großen Schritten querfeldein ben 
Wald. 

Aufmerffam fpähte er dur den Mebel und betrachtete die 
Bäume, als ob er fit zurechtfinden wolle. Er ging jest lang- 
famer, Schritt für Schritt, wie wenn er einen geheimnisvollen 


230 


Weg fuden wollte, den nur er Éannte. Einen Augenblif lang 
blieb er unentſchloſſen fteben. Schließlich taftete er fich zu einer 
Lichtung burd, in der ein Haufen Steine lag. Lebbaft trat er 
näher. Mur einige Schritte von dem Steinhaufen entfernt ftand 
ein bider Baum, der mit Auswüchſen, gleihfam den Warzen 
der Pflanzen, bededt war. Der Fremde ftreichelte die Rinde, 
als ob er diefe Auswüchſe wiederzuerfennen fuchte. 

Gegenüber diefem Daum, einer Eſche, ftand ein Kaftanien- 
baum, beffen Rinde fi abfhälte; man hatte ihm darum eine 
Zinfmanfchette gegeben. Der Fremde ftellte fih auf die Zehen- 
fpisen und betaftete dag Metallftüd. 

Eine Weile lang ging er zwifchen dem Baum und dem Stein 
bin und her, prüfte den Boden, ob er nicht jüngft aufgewühlt 
worden fei. Dann fuchte er fich zu orientieren und feßte feinen 
Marſch durch den Wald fort. 


7. Eofette gebt mit bem Unbefannten 
durch die Nacht 


Sie empfand, wir ſagten es ſchon, keine Furcht. 

Der Mann redete ſie an. Seine Stimme war tief und leiſe. 

„Kind,“ ſagte er, „das iſt nicht leicht, was du da trägſt.“ 

Coſette blickte auf und antwortete: 

„Ja, guter Herr.“ 

„Gib her, ich trag' es für dich.“ 

Coſette ließ den Zuber los. Der Mann ging neben ihr her. 

„Wirklich verdammt ſchwer“, murmelte er. „Wie alt biſt du, 
Kleine?“ 

„Acht Jahre, guter Herr.“ 

„Und kommſt du weit her damit?“ 

„Von der Quelle im Wald.“ 

„Und wie weit gehſt du noch?“ 

„Eine gute Viertelſtunde von hier.“ 

Eine Zeitlang blieb der Fremde wortlos. 


231 


„Demnach haft du alfo Feine Mutter?’ fragte er ſchließlich 
unvermittelt. 

„Ich weiß nicht”, fagte das Kind. 

Der Mann blieb fteben, feßte den Eimer auf den ‘Boden, 
beugte fi) über bas Kind und legte feine beiden Hände auf ihre 
Schultern; er bemühte fi, in der Finfternis ihr Gefibt aus- 
zunehmen. 

Sm Schwachen Licht der Sterne war bas magere, Elägliche 
Geſicht Cofettes undeutlich zu erkennen. 

ie heißt du?’ 

„Coſette.“ 

Es war, als ob ein elektriſcher Schlag den Mann treffe. Er 
ſah ſie noch einmal an, griff dann wieder nach dem Zuber und 
begann zu gehen. 

„Wo wohnſt du?“ fragte er nach einiger Zeit. 

„In Montfermeil.“ 

„Gehen wir hier richtig?“ 

„Ja, guter Herr.“ 

Nach einer Pauſe begann er wieder zu fragen: 

„Wer ſchickt dich denn um dieſe Zeit nach Waſſer in den 
Wald?“ 

„Frau Theénardier.“ 

Offenbar ſuchte der Mann ſeine Erregung zu verbergen, aber 
ſeine Stimme zitterte eigentümlich. 

„Wer iſt denn das, dieſe Frau Thénardier?“ 

„Meine Gnädige“, ſagte bas Kind. „Sie bat die Wirt— 
ſchaft.“ 

„Die Wirtſchaft? Nun, ich werde heute nacht dort ſchlafen. 
Führe mich!“ | 

„Bir find gerade auf dem Wege dahin.” 

Der Mann ging ziemlich rafch, aber Eofette folgte ihm mühe- 
los. Sie fühlte ſich jeßt nicht mehr müde. Mehrmals blidte 
fie ruhig und vertrauensvoll zu ihm auf. Man batte fie nicht 
gelehrt, zur Vorſehung aufzubliden und zu beten. Doch emp- 
fond fie jeßt etwas wie Hoffnung oder Freude. 


232 


So verftrihen einige Minuten. 

Der Mann begann wieder zu fragen: 
„Hat denn Frau Ihenardier Feine Magd?“ 
„Nein.“ 





„Alſo biſt du allein?“ 

„Ja, guter Herr.“ 

Wieder folgte eine Pauſe. 

„Eigentlich, ſie hat ja die zwei Mädchen“, begann diesmal 
Coſette. 


233 


„Welche Mädchen?’ 

nDonine und Zelma.“ 

So kürzte das Kind die romantifhen Namen ab, die der 
TIhenardier fo feuer waren. 

„Wer ift das, Ponine und Zelma?“ 

„Das find die Fräuleins von Frau Ihenardier; ihre Töchter.’ 

„Und was tun die beiden?’ 

„Oh, fie haben fhöne Puppen, Goldfaden, alles mögliche. 
Sie fpielen und unterhalten ſich.“ 

„Den ganzen Tag?’ 

„a, guter Herr.’ 

„And du?‘ 

„Ich arbeite. Manchmal, wenn die Arbeit zu Ende ift und 
wenn man es mir erlaubt, unterhalte ih mich auch.” 

„Die mabft bu das? 

„Wie es geht. ch babe nicht viel Spielzeug. Ponine und 
Zelma wollen nicht, daß ich mit ihren Puppen fpiele. Vh babe 
einen Bleifäbel, fo lang”, und fie zeigte den Fleinen Finger. 

„Schneidet er denn?‘ 

„Doch, guter Herr, Salat und Köpfe von Fliegen.’ 

Sie erreichten das Dorf. Cofette führte den Fremden durd 
die Straßen. Sie famen aud an der Bäckerei vorüber, aber 
Cofette dachte nicht an das Brot, bas fie mitbringen follte. Der 
Mann Hatte aufgehört zu fragen und ſchwieg bumypf. Als fie 
aber die Kirche hinter fi) hatten, bemerkte er die Hökerbuden 
und fragte: 

„Iſt denn hier Jahrmarkt?“ 

„Nein, guter Herr, Weihnachten.‘ 

Sie näherten ſich jest der Herberge. Scheu berührte Eofette 
feinen Arm. 

„Suter Herr... 

„Sun? 

„Dir find jeßt gleich zu Haufe.” 

a, und?“ 
„Wollen Sie mir jeßt den Zuber geben?” 


234 


„Warum?“ 

„Wenn Frau Thenardier ſieht, daß man ibn mir getragen 
hat, prügelt ſie mich.“ 

Der Mann gab ihr den Zuber. Im nächſten Augenblick ſtan— 
den die beiden vor dem Eingang der Herberge. 


8. Unannehmlichkeit, einen Armen bei fic 
aufzunehmen, der vielleihtreih ift 


Cofette Eonnte fih nicht enthalten, einen DBli nah der 
großen Puppe zu werfen, die noch immer in der Schaubude 
bellbeleuchtet ftand, dann Élopfte fie. Es wurde geöffnet. Die 
Thénardier ftand mit einer Kerze in der Hand auf der Schwelle. 

„Ab, da bift bu ja, Éleines Aas! Du haft ja ſchön lang ge 
braudt! Wo haft bu dich denn herumgetrieben, Fratz?“ 

„Da ift ein Herr, der bier fchlafen will”, fagte Coſette 
jitternd. 

Sofort wechfelte die Thenardier ihre Miene, wurde liebens- 
würdig, wie das bei den Gaftwirten üblich ift, und faßte den 
Sremden ins Auge. 

„Iſt das der Herr?‘ 

„Ja, rau‘, fagte der Mann und führte die Hand zum 
Hute. 

Reiche Reiſende pflegen nicht fo höflich zu fein. Diefe Ge- 
bärde, des weiteren auch der kurze Blick, den die Ihenardier 
auf Kleidung und Gepäck des Fremden warf, ließ die liebens- 
würdige Miene wieder verfchwinden, und fie fagte troden: 

„Treten Sie ein, guter Mann. 

Der „gute Mann’ folgte. Die Thenardier warf ihm einen 
zweiten Blick zu, prüfte den Mod, der fon ganz fadenfcheinig 
war, bemerkte, daB der Hut bereits die Form verloren hatte 
und wandte fi dann mit einem Zwinfern und Rümpfen der 
Mafe zu ihrem Mann, der noch immer mit den Fuhrleuten 
zechte. Thénarbier antwortete mit einem kaum merflihen Winf 
des Zeigefingers und zugleich mit einem verädhtlichen Herab- 


237 


ziehen der Mundwinkel; das bedeutete in diefem Falle: Herr 
Sabenibts! 

Jetzt wandte fi die TIhenardier wieder dem Fremden zu. 

„Ich babe leider Feine Schlafftelle mehr frei, guter Mann.” 

„Bringen Sie mid unter, wo immer Sie wollen, auf dem 
Boden oder im Stall. Ich werde fo viel zahlen wie für ein 
Zimmer.” 

nRoftet vierzig Sous.“ 

„Gut, vierzig Sous. 

„Nun denn, von mir aug.’’ 

nBierzig Sous,“ fagte ein Kutfcher leife zu Thénarbier, 
„das ift doch zuviel? Es Éoftet bot nur einen Franken!“ 

„Für den zwei’, erwiderte die Ihenardier in gleichem Ton. 
„Ganz Arme nehme id billiger nicht an.” 

„Das ift ganz richtig,” fügte ihr Gatte freundlich Hinzu, „das 
fchadet dem Haufe, wenn man foldhe Gäfte hat.” 

Inzwiſchen hatte der Mann fein Bündel und feinen Stod 
abgelegt und an einem Tiſch Plat genommen; Cofette beeilte 
fih, eine Flafche Wein und ein Glas vor ihn hinzuftellen. Der 
Haufierer, der Waſſer für fein Pferd verlangt hatte, ging in 
den Stall. est nahm Cofette ihren Platz unter bem Küchen— 
tif wieder ein und griff nach der Striderei. 

Der Fremde hatte kaum an dem Wein genippt; mit felt- 
famer Teilnahme betrachtete er bas Kind. 

Eofette war häßlih. Wenn fie glücklich geweſen wäre, hätte 
fie ein hübſches Kind fein können. Wir haben bas traurige 
Éleine Geſchöpf ſchon gezeichnet. Sie war mager und blaß, fab 
troß ihrer acht Jahre kaum wie fes jahre alt aus. Ihre gro- 
Ben, tiefliegenden Augen waren vom Weinen faft erlofchen. 
Ihre Mundwinfel waren gekrümmt, wie man es bei Menfhen 
findet, die viel Angft ausftehen, zumal bei Derurteilten und 
unbeilbar Kranken. ihre Hände waren von Froftbeulen ent- 
ftellt. Das Kaminfeuer, deffen Licht auf die Kleine fiel, bob die 
fharf vorfpringenden Knochen deutlich hervor und betonte die 
Magerfeit des armen Gefhöpfs. Da dag Kind immer fror, 


236 


hatte es fit daran gewöhnt, die beiden Knie gegeneinander zu 
preffen. Seine Kleidung beftand aus einem elenden eben, der 
im Sommer Mitleid, im Winter Grauen erregen mußte. Sie 
hatte nur ein zerfchliffenes Stück Leinwand auf dem Leibe, Fein 
Stückchen Wolle. Stellenweife Fam die bloße Haut zum Vor- 
fhein, und man Fonnte die blauen und fchwarzen Fleden er- 
fennen, die von Frau Ihenardiers Mißhandlungen herrührten. 
Die nadten Beine waren gerötet. Die ganze Erfheinung des 
Kindes, fein Gehaben, der Klang feiner Stimme, die langen 
Paufen zwifchen den Worten, fein Blick, jede Gefte, alles ver- 
riet den einzigen Trieb, der bas unglidlihe Weſen beherrfchte 
— die Surbt. 

Alles an ihr war Furcht; die Burt ließ Eofette die EI- 
bogen an die Hüften preffen und die Ferſen an fich ziehen, den 
Atem anhalten und eine Haltung einnehmen, in der fie mög- 
lihft wenig Raum brauchte. In der Tiefe ihrer Augen lag 
Verwunderung und Schreien. 

Der Mann in dem gelben Mot lie fie nicht aus den Augen. 

Plöslich rief die Thénardier: 

„Jun, und dag Brot?‘ 

MWie immer, wenn die Tbénardier laut ſprach, Fam Cofette 
unter dem Tiſch hervor. Sie hatte das Brot vollftändig ver- 
geflen. So 309 fie fih in die Derteidigungsftellung aller ver- 
ängftigten Kinder zurück — fie log. 

„Der Bäder hatte fchon gefchloffen.” 

„Dann mufbteft du anflopfen.” 

„Ich babe geklopft, aber er bat nicht geöffnet.‘ 

„Ich werde ihn morgen fragen, ob das wahr ift. Wenn du 
gelogen haft, fo folft du etwas zu fpüren befommen. Jetzt gib 
mir die fünfzehn Sous zurück.“ 

Eofette griff in die Iafche und wurde totenblaß. Die fünf- 
zehn Sous waren nicht mehr ba. 

„Vorwärts,“ fbrie die Thenardier, „haſt du gehört!” 

Cofette wandte ihre Taſche um. Nichts. Wo mochte die 


251 


Münze bingefommen fein? Die Kleine brachte Fein Wort über 
die Lippen. Sie war wie zu Stein erftarrt. 

„Haft du es vielleicht verloren?’ fchrie die Thénarbier, „oder 
willft du es mir ſtehlen?“ 

Und fie fredte die Hand nad) der Karbatfche aus, die in der 
Raminede hing. 

Sest fand Cofette die Kraft zu fchreien. 

„Dein, ic tu’s nicht wieder!‘ 

Schon hatte die Tbénarbier die Karbatfche in der Hand. 

Der Mann in dem gelben Mod hatte in feine Weftentafche 
gegriffen, ohne daß jemand darauf geachtet hätte. Übrigens 
waren die anderen Gäfte mit Trunk und Spiel befhäftigt und 
fümmerten fih nicht um das was vorging. 

Eofette drüdte fih angftvoll in die Raminede und fuchte ihre 
armen balbnadten Glieder nah Möglichkeit zu decken. Die The- 
nardier holte aus. | 

„Einen Augenblid, Frau,” fagte der Mann, „aber da ift 
der Kleinen eben etwas aus der Taſche gefallen und unter den 
Tiſch gerollt. Vielleicht ift es die Münze, die Sie ſuchen?“ 

Er büdte fih und fhien nad) etwas zu greifen. 

„Richtig, da ift es“, fagte er und reichte die Münze der 
TIhenardier. 

„Allerdings ...“ 

Coſette kroch unter den Tiſch zurück, in „ihren Winkel“, wie 
es die Thénardier nannte; ihr großes Auge war erſtaunt auf 
den Fremden gerichtet und nahm einen Ausdruck an, den es bis— 
her nicht gekannt hatte. 

„Wollen Sie nicht etwas eſſen?“ fragte die Thénardier den 
Gaſt. 

Er antwortete nicht. Offenbar dachte er tief nach. 

Eine Tür ging auf, Eponine und Azelma traten ein. 

Die Kleinen waren wirklich hübſch und glichen eher Bürger— 
mädchen als Bauerntöchtern; die eine hatte glänzendes, kaſta— 
nienbraunes Haar, die andere lange, ſchwarze Zöpfe, die auf 


238 


den Mücken herabhingen; beide waren lebhaft, fauber, friſch und 
e8 war eine Freude, fie anzufchauen. Sie waren warm und fo 
geſchickt geFleidet, daß die Dicke des Mollftoffs nicht ungefchmei- 
dig wirkte. Auch bewies das fibere Auftreten der Kinder, daß 
fie nicht ſchüchtern waren. Als fie eintraten, hatte die Thénar- 
dier mürrifch, aber doch vol zärtlicher Liebe gejagt: 

„Ab, da feid ihr ja wieder!‘ 

Dann bob fie eine nad der andern auf den Schoß, ſtrich 
ihnen die Haare aus dem Geficht, glättete die Schleifen und 
feßte fie fanft, wie es nur Mütter fun, wieder auf die Erde. 

Die beiden Mädchen hatten eine Puppe mitgebracht, mit 
der fie aufs anmutigfte fpielten. Zumeilen blickte Eofette von 
ihrer Stridarbeit auf, ihr Blick war büfter. 

Eponine und Azelma achteten nicht darauf. Für fie war Co— 
fette wie ein Hund. Diefe drei Mädchen zählten zufammen 
feine vierundzwanzig Sabre, und doch waren fie fon eine Kopie 
der menfchlichen Gefellfhaft: hier Neid — bier Verachtung. 

Die Puppe der Schweftern Thénardier fab recht abgeriffen 
und alt aus, aber nichtsdeftoweniger mußte fie Coſette bewun- 
derungsmwürdig erfcheinen, da fie doch in ihrem Leben niemals, 
wenn wir das Kinderwort gebrauchen wollen, eine richtige 
Puppe beſeſſen hatte. 

Plötzlich bemerkte die Thénardier, die in der Gaſtſtube auf 
und ab ging, daß Coſette nicht arbeitete, ſondern den beiden 
ſpielenden Mädchen zuſah. 

„So arbeiteſt du!“ ſchrie ſie. „Ich werde dich mit der Kar— 
batſche arbeiten lehren!“ 

Ohne aufzuſtehen, wandte ſich der Fremde der Thénardier zu. 

„Laſſen Sie ſie doch ſpielen“, ſagte er faſt ängſtlich. 

Von einem Reiſenden, der eine Hammelkeule und zwei Fla— 
ſchen Wein beſtellt hätte und nicht wie ein elender Schnorrer 
ausſah, hätte dieſer Wunſch einen Befehl bedeutet. Aber daß 
einer mit einem verbeulten Hut und einem abgeſchabten Rock 
etwas wolle, glaubte die Thénardier nicht dulden zu dürfen. 
Darum ſagte ſie grob: 


239 


„Sie bat zu arbeiten, denn fie ißt ja auch. ch ernähre fie 
nicht, damit fie faulenzt.“ 

‚Bas arbeitet fie denn da?” fragte der Fremde mit einer 
fanften Stimme, die nicht zu feinen Laftträgerfchultern paßten. 

„Strümpfe, wenn es Ihnen paßt”, antwortete die Ihenar- 
dier. „Strümpfe für meine Töchter, die Feine mehr haben und 
bald nadt laufen müſſen.“ 

Der Fremde ftreifte die rotgefrorenen Beinchen Cofettes mit 
einem Blick und fuhr fort: 

„ie lange braudt fie, um fol ein Paar fertigzuſtricken?“ 

„Dei ihrer Faulbeit gewiß drei oder vier Tage.“ 

„Und was mag ein folhes Paar Strümpfe wert fein, wenn 
es fertig iſt?“ 

Die Ihenardier warf ihm einen verächtlichen Blick zu. 

„Mindeftens dreißig Sous.“ 

„Würden Sie es mir für fünf Franken ablaffen?‘ 

„Himmelherrgott!“ rief einer der Fuhrleute, „für fünf Fran- 
fen? Denke wohl! Für fünf Plemper!“ 

Sekt glaubte Thenardier, ein Wort zur Sache Jagen zu müffen. 

„Nun, mein Herr, wenn es Ihre Laune will, follen Sie dies 
Paar Strümpfe für fünf Franfen haben. Wir fhlagen unferen 
Gäften nicht gern etwas ab.’ 

„Aber das Geld muß gleich bezahlt werden”, fagte die Ihe- 
nordier furz und entfchieden. 

„Ich Kaufe alfo diefes Paar Strümpfe”, erwiderte der 
Mann, z0g ein Fünffranfenftüf aus der Tafhe und legte es 
auf den Tiſch. „Hier ift das Geld.‘ 

Dann wandte er fih an Eofette: 

„Jetzt gehört deine Arbeit mir. Geh fpielen, mein Kind!‘ 

Thenardier trat an den Tifb und nahm wortlos das Fünf- 
franfenftüd. Seine Frau fand ihre Sprache nicht wieder. Sie 
biß fi in die Lippen, und ihr Gefibt verriet Haß. 

Eofette zitterte, aber fie wagte doch zu fragen: 

„Darf ich fpielen?” 

„Spiel? ſchon!“ fhrie die Thénardier wütend. 


240 


„Danke, flüfterte die Kleine. 

Ihr Mund dankte der Wirtin, aber ihre Fleine Seele 
wandte fi bem Fremden zu. 

Thénarbier hatte fid wieder an den Tifh der Zecher gefekt. 
Seine Frau flüfterte ihm ins Ohr: 

„Wer mag der Gelbe fein?‘ 

„Ich babe Millionäre geſehen,“ erwiderte Ihenardier pañig, 
‚Die Nöde wie diefen anhatten.” 

Cofette hatte ihren Strumpf beifeitegelegt, war aber auf 
ihrem Pas verblieben. Sie rührte fih immer fo wenig als 
möglih. Aus einer Schadtel, die hinter ihr fand, hatte fie 
einige alte Quchlappen und einen Éleinen Dleifäbel genommen. 

Eponine und Azelma achteten nicht darauf, was vorging. 
Ihre ganze Aufmerffamfeit galt einer fehr wichtigen Maß— 
nahme, fie hatten fih der Kate bemächtigt. Die Puppe war 
weggelegt worden, und Eponine, die Ältere, verfuchte bas 
Kästchen, fo febr es ſich auch fträubte und fo febr es minute, in 
eine Menge Fleiner roter und blauer Lappen zu wideln. Wäh— 
rend fie biefe ernfte und fchwierige Arbeit vollbrachte, erklärte 
fie in diefer füßen und Tiebenswürdigen Sprache der Kinder, 
deren Anmut ebenfo unnadabmlih ift wie der Glanz der 
Flügel eines Schmetterlinge, den Zweck ihres Werkes: 

„Siehft bu, diefe Puppe ift luftiger als die andere. Sie be- 
wegt fi, fie fehreit, fie ift foger warm. Verſtehſt bu, wir 
wollen mit ihr fpielen. Sie ift meine Tochter, ich bin eine 
Dame. Ich Fomme zu dir zu Vefud und du fiehft fie. Da 
merfft du, daß fie einen Schnurrbart bat und tuft erftaunt. 
Hernach fiehft du die Ohren, und den Schwanz, und ftaunft 
noch mehr. Und du fagft: Mein Gott, und ich fage darauf: Va, 
Madame, das ift meine Tochter, und ich babe fie fo befommen. 
Heute find die Eleinen Mädchen fo.” 

Azelma hörte diefen Vorſchlag Eponines mit Begeifterung. 

Inzwiſchen hatten die Zecher begonnen, ein zotiges Lied zu 
fingen, und fie brüllten fo laut, daß die Dede davon zitterte. 
Thenardier ftimmte ein und feuerte fie an. 


16 Hugo, Die Elenden. 241 


Mie die Vögel aus allem ein Meft zuftande bringen, machen 
Kinder aus den unmôglidbften Dingen eine Puppe. Während 
Eponine und Azelma die Kate als Fräulein herauspußten, be- 





Éleidete Cofette ihren Säbel. Dann nabm fie ihn auf den Arm 
und wiegte ihn in den Schlaf. 

Die Ihenardier war wieder zu dem Gelben zurücfgefehrt. 
Mein Mann bat recht, dachte fie, vielleicht ift der Kerl ein 
Rothſchild. Die Meichen find oft fo fbrullig! 

„Mein Herr . . .", fagte fie. 


242 


Auf diefe Anrede wandte fi) der Fremde um. ‘Bisher hatte 
die Ihenardier ihn „guter Mann“ angeredet. 

„Sehen Sie, mein Herr,” fuhr fie fort und fete ihre füß- 
libfte Miene auf, die noch abftoßender wirfte als ihre wütende, 
‚ich will ja gern, daß das Kind fpielt, ich hab’ gar nichts da- 
gegen, aber es geht bo nur einmal, weil Sie freigebig find. 
Verſtehen Sie, die hat nichts, darum muß fie arbeiten.‘ 

„Ach, fie ift wohl nibt Ihr Kind?‘ 

„Beileibe nein, Herr, es ift eine Eleine Arme, die wir aus 
purem Mitleid aufgenommen haben. Und ein wenig blöd tft 
bas Kind auch. Wahrfcheinlich bat es Waller im Kopf. Sehen 
Sie nur den großen Kopf an! Wir tun für fie, was wir können, 
aber wir find nicht reich. Da ift es leicht, Briefe in ihre Heimat 
zu freiben, man Ériegt doc Feine Antwort. Schon febs Mo— 
nate! Die Mutter muß geftorben fein.” 

„So“, meinte der Mann und verfanf wieder in feine träu- 
merifche Stimmung. 

„An der Mutter war auch nicht viel’, fuhr die Ihenardier 
fort. „Sie bat bas Kind im Stich gelaſſen.“ 

Während diefes Geſprächs hatte Cofette, der ein Inſtinkt zu 
fagen fhien, daß von ihr die Rede war, fein Auge von der 
Thénarbdier gewandt. Vielleicht fehnappte fie ein oder das andere 
Wort auf. 

Endlid gab der „Millionär dem Drängen der Wirtin nad 
und willigte darein, ein Abendbrot zu beftellen. 

Bas befehlen der Herr?’ 

„Brot und Käſe.“ 

Er iſt doch ein Schnorrer, dachte die Thénardier. 

Die Trinker waren noch immer bei ihrem Geſang, und auch 
Coſette ſummte unter dem Tiſch vor ſich hin. Plötzlich ſtockte 
fie. Sie hatte fi) umgedreht und bemerkte die Puppe der kleinen 
TIhenardierg, die zugunften der Katze vernachläffigt worden war 
und am Boden lag. 

Sie ließ ihren Säbel fallen, der doch immer nur ein halbes 
Kind abgeben Eonnte, und blifte zunächſt feu um fih. Die 


16* 


243 


Thenardier ftand bei ihrem Mann und flüfterte, Ponine und 
Zelma fpielten mit der Katze, die Gäfte foffen und grölten; 
niemand achtete auf fie. Es hieß Feinen Augenblick verlieren. 
Sie Érod auf Händen und Füßen unter ihrem XIifc hervor, 
verficherte fid no einmal, daß niemand aufpaßte, glitt dann 
rafd zu der Puppe bin und ergriff fie. Im nächſten Augenblid 
war fie wieder auf ihrem Plas; fie hatte fich fo gefeßt, daB ihr 
Schatten auf die Puppe fiel. Das Vergnügen, mit einem fo 
Föftlichen Gegenftand zu fpielen, war für fie offenbar fo außer- 
ordentlich, daß fie fit mit höchſtem Eifer daranmadıte. 

Niemand hatte fie bemerft, nur der Fremde, der langfam 
fein dürftiges Mahl verzehrte, beobachtete fie. 

Diefes Glück dauerte faft eine Diertelftunde. Aber fo vor- 
fibtig Cofette auch gewefen war, fie bemerfte nicht, daß ein Fuß 
der Puppe aus dem Schatten hervorftand, und daß bas Feuer 
des Kamins grell darauf fiel. Diefer bellbeleuchtete, rofige Fuß 
lenkte [chließlich auch Azelmas Blicke auf fib, und fie fagte zu 
Eponine: 

„Aufgepaßt!“ 

Verblüfft hielten die beiden Kleinen in ihrem Spiel ein. 
Coſette hatte gewagt, ihre Puppe anzugreifen. 

Eponine ſtand auf und ging, ohne die Katze loszulaſſen, zu 
ihrer Mutter. Sie zupfte die Thénardier am Rock. 

„Laß mich in Ruhe“, ſagte dieſe. „Was willſt du denn?“ 

„Sieh doch, Mutter!“ 

Und ſie deutete auf Coſette. 

Das Kind, von dem Genuß dieſes ſeltenen Beſitzes ganz be— 
rauſcht, merkte nichts. 

Das Geſicht der Thénardier nahm einen wütenden Ausdruck 
an. Ihr beleidigter Stolz war noch wilder als ihr Zorn. Co— 
fette hatte ſich unterſtanden, den ungeheuerlichen Abſtand nicht 
zu wahren, der fie von der Familie ihrer Brotherren trennte. 
Sie hatte die Puppe der Fräulein angetaftet. Eine Zarin, die 
einen Muſchik dabei ertappt, wie er bas blaue Ordensband des 
Zarewitſch probiert, Fönnte nicht tiefer empört fein. 


244 


Heifer vor Wut frie fie: 

„Coſette!“ 

Coſette nahm die Puppe und legte ſie mit einer Gebärde, in 
der Verzweiflung und Bewunderung lag, wieder auf den 
Boden. Dann aber tat ſie, was ſie dieſen ganzen an Auf— 
regungen ſo reichen Tag über nicht getan hatte, weder auf dem 
Wege durch den Wald, noch als ſie das Geld verlor, noch als 
die Karbatſche drohte — ſie brach in Tränen aus. 

Der Fremde war aufgeſtanden. 

„Was gibt's denn?“ fragte er. 

„Sehen Sie es denn nicht?!“ rief die Thénardier und deu— 
tete auf das corpus delicti, das zu Füßen Coſettes lag. 

„Was denn?“ 

„Dieſes Bettelkind hat ſich unterſtanden, die Puppe meiner 
Kinder anzufaſſen.“ 

„Darum all der Lärm? Was iſt denn dabei, wenn ſie mit 
dieſer Puppe ſpielt?“ 

„Mit ihren dreckigen Fingern hat ſie ſie angegriffen, mit 
ihren ſcheußlichen Händen“, ſchimpfte die Thénardier. 

Coſette ſchluchzte nur noch lauter. 

„Ruhig, du!“ ſchrie die Thénardier. 

Der Fremde trat zur Tür, öffnete ſie und ging hinaus. Dieſe 
Abweſenheit des Beſchützers der Kleinen machte die Thénardier 
ſich zunutze, um Coſette unter dem Tiſch einen Tritt zu ver— 
ſetzen, der das arme Kind laut aufſchreien ließ. 

Gleich darauf ging die Türe wieder auf, und der Fremde 
kehrte zurück; in den Händen hielt er die märchenhafte Puppe, 
von der wir ſchon geſprochen haben und die ſeit dieſen Morgen 
das Entzücken aller Kinder des Dorfes war. Er ſtellte ſie vor 
Coſette hin und ſagte: 

„Da, ſie iſt für dich.“ 

Coſette blickte auf; ſie hatte den Fremden mit der Puppe wie 
eine aufgehende Sonne angeſtarrt, hörte ſprachlos die unfaß— 
lichen Worte „ſie iſt für dich“ — und jetzt verkroch ſie ſich, zog 
ſich ängſtlich unter den Tiſch zurück. 


245 


Sie weinte nicht mehr; vielleibt wagte fie Éaum mehr zu 
atmen. 

Die IThenardier, Eponine und Azelma waren ftarr. Sogar 
die Zecher waren aufmerffam geworden. Eine feierlihe Stille 
herrfchte in der Kafchemme. 

Wieder begann die Ihenardier nachzudenken. Wer mochte 
nur diefer Alte fein? Ein Armer? Ein Millionär? Oder eine 
Miihung aus beiden, ein Gauner? 

Das Gefibt ihres Mannes nahm jenen Ausdrudf an, der im 
Antlis des Menfhen die Vorherrſchaft gewinnt, fobald fein 
tieriſcher Inſtinkt burbbridt. Der Kafchemmenwirt betrachtete 
bald die Puppe, bald den Fremden. Er fchien zu wittern. Das 
dauerte nur eine Sekunde. Dann trat er zu feiner Frau und 
flüfterte: 

„Das Zeug Éoftet mindeftens dreißig Sranfen. Keine Dumm- 
heiten! Der Mann muß in Watte gewickelt werden.’ 

Plumpe Cbaraftere haben es mit naiven gemeinfam, daß fie 
feine Übergänge Eennen. 

„Na, Eofette,' fagte die Ihenardier in dem füßlichften Ton, 
deflen fie fähig war, „willft du denn das Püppchen nicht 
nehmen?” 

Endlich wagte Cofette fih aus ihrem Schlupfwinfel heraus. 

„Kleinchen,“ ermunterte fie die Ihenardier zärtlich, „der 
Herr fchenft dir eine Puppe. Nimm fie doc, fie gehört dir. 

Eofette betrachtete das Wunderding faft mit Schreden. Noch 
war ihr Geficht mit Tränen beneßt, aber ihre Augen leudteten 
jeßt auf wie der Himmel bei Sonnenaufgang. Was fie empfand, 
war nicht anders, als wenn man ihr unvermittelt gefagt hätte: 
Kleine, du bift die Königin von Sranfreih. 

Und doch fchien fie zu befürchten, der Blitz müſſe fie treffen, 
wenn fie nad diefer Puppe griff. 

Endlich wagte fie fih näher und murmelte ſchüchtern: 

„Darf ich?“ 

Der Fremde nickte Coſette zu und legte die Hand der Puppe 
in die ihre. Sofort zog ſich das Kind zurück, als ob „die Dame“ 


246 


fie verbrennen müßte, und blidte verlegen zu Boden. Um auf: 
richtig zu fein, müflen wir fogar hinzufügen, daß fie dabei die 
Zunge aus dem Mund hängen lie. Plöslic griff fie nad der 
Puppe und fagte: 

„Ich will fie Katherine nennen.” 

Es fab bizarr genug aus, wie biefes Kind in elenden Lumpen 
nach der Puppe in rofa Muflelin griff. 

„Darf ich fie auf einen Stuhl feßen?’ fragte fie. 

„Doc, mein Kind‘, antwortete die Ihenardier. 

Fest war es an Eponine und Azelma, neidifhe Slide zu 
werfen. Eofette feßte Katherine auf einen Stuhl, hodte dann 
vor ihr auf dem Boden nieder und betrachtete fie in REN. 
tigem Staunen. 

„Spiel bob, Eofette”, fagte der Fremde. 

„Ich fpiele ja.” 

Die Ihenardier empfand es unerträglich, biefe Szene weiter 
mit anzufehen. Darum bat fie den Fremden um die Erlaubnis, 
ihre Kinder und auch Eofette zu Bett zu fhiden, „denn die 
Kleine bat fi heute febr geplagt”, wie fie mütterlih bin- 
zufügte. 

Der Fremde hatte fih wieder an den Tifch gefeht und ver- 
fanf in nadbenflihes Iraumen. Die Zecher waren von ihm 
abgerüct und fangen nicht mehr. Aus der Ferne betrachteten 
fie ibn mit refpeftvoller Schen. Diefer Sonderling, der fo elend 
angezogen war, die Fünffranfenftüce aber fo locker in der Taſche 
fisen hatte, war gewiß eine unheimliche Erfcheinung. 

Stunden verftrihen. Die Mette war vorüber, der Mabt- 
wächter hatte Schlafengzeit ausgerufen, die Zecher waren ge- 
gangen, und die Kneipe war gefchloffen worden. Schon war das 
Feuer im Kamin erlofchen, aber der Fremde ſaß noch immer in 
der gleihen Stellung an feinem Platz. Von Zeit zu Zeit wech- 
felte er den Arm, auf den er fich ftüßte. Aber er hatte, feit 
Eofette nicht mehr da war, Fein Wort gefproden. 

Die Ihenardierg waren, fei es aus Höflichkeit, fei es aus 
Meugierde, in der Gaftftube geblieben. 


241 


„Will er fo die Macht verbringen?’ murrte die Thénarbdier. 
Als es zwei Uhr fblug, gab fie fit befiegt und fagte zu ihrem 
Gatten: 

„Ich gebe ſchlafen. Tu du, was du willſt.“ 

Der Gatte feste fi) an einen Tiſch in der Ecke, zündete eine 
Kerze an und begann den „Courier Francais‘ zu ftudieren. 

MWieder verging eine gute Stunde. Der wadere Wirt hatte 
feine Zeitung bereits dreimal vom Datum bis zum Drudver- 
merk durchftudiert. Noch immer rührte fih der Fremde nicht. 

Thénardier hüftelte, räufperte fi, ſchneuzte fih, Enarrte mit 
feinem Stuhl; vergebens. 

Er ift wohl eingefchlafen, dachte er. 

Endlih nahm er feine Mütze ab, trat vorfihtig näher und 
fragte: 

‚Wollen der Herr fih nicht zur Ruhe begeben?’ 

Sich zur Ruhe begeben fchien ihm vornehmer als fchlafen 
gehen. Schlafen gehen klang fo vertraulich, ja fogar familiär. 
Sich zur Ruhe begeben ift ein Lurus und feßt Reſpekt voraus. 
Es ift einer von jenen Ausdrücken, der die myſtiſche Macht be- 
fist, fih am nächſten Tag auf der Rechnung geltend zu machen. 
Ein Zimmer, in dag man flafen geht, Foftet zwanzig Sous, 
ein Zimmer, in bas man ſich zur Ruhe begibt, zwanzig Franken. 

„Ab ja, fagte der Fremde, „Sie haben recht. Wo ift Ihr 
Staff?’ 

„Ich werde den Herrn führen, fagte Ihenardier lächelnd. 

Er nahm bas Licht, der Fremde ergriff fein Bündel und 
feinen Stock; dann führte Thenardier ihn in ein Zimmer in der 
erften Etage, das mit erftaunlihem Lurus eingerichtet war; die 
Möbel waren aus Mahagoni, das gewaltige Doppelbett von 
einem Himmel überdacht. 

„Bas fol dag?” fragte der Meifende. 

„Es ift unfer Brautzimmer,“ fagte der Wirt, ‚wir be- 
wohnen es jeßt nicht. Ich vergebe es höchſtens brei- oder viermal 
im Jahre.“ 

„Der Stall wäre mir ebenfo recht geweſen“, ermwiderte der 


248 


Fremde brüsk. Doc fhien Ihenardier diefe wenig verbindliche 
Äußerung zu überhören. Er zündete zwei neue Wachslichter an, 
die auf dem Kamin ftanden. Im Alfoven brannte ein lebbaftes 
Feuer. | 

Auf bem Kamin ftand unter einer Glasglocke der Kopfpus 
einer Frau, Silberdraht und Drangenblüten. 

„Was ift denn dag?’ fragte der Fremde. 

„Der Brautfranz meiner Fran.‘ 

Der Sremde betrachtete das Schauftüc mit einem Blick, der 
zu fagen fhien: Diefes Ungeheuer ift alfo einmal Jungfrau 
gewesen! | 

Übrigens log Thenardier. Alg er diefes Haus gemietet hatte, 
um eine Herberge daraus zu machen, war biefes Zimmer fehon 
fo eingerichtet gewefen, er hatte es mit allen Möbeln und aud 
dem Brautſchmuck gekauft, wobei er vielleiht dachte, biefer 
Schmuck würde feiner Gattin ein Air von zarter Anmut ver- 
leihen und dem ganzen Haus etwas von jener, wie es die Eng- 
länder nennen, Wohlanftändigfeit geben. 

Als der Gaft fih ummwandte, war der Wirt verfhwunben. 
Thénardier hatte fich diskret zurückgezogen, ohne auch nur gute 
Macht zu wünſchen. Er wollte einen Gaft nicht mit refpeftlofer 
- Herzlichfeit behandeln, dem er morgen eine halsabfehneiderifche 
Rechnung zu präfentieren gedachte. 

Als der Gaftwirt in fein Zimmer trat, fond er feine Frau 
bereits im Bett. Sie fchlief noch nicht. Beim Geräufd feiner 
Schritte wandte fie fih um und fagte: 

„Und daß bu e8 gleich weißt, morgen fhmeif” ich Cofette 
hinaus!“ 

„Soſo“, antwortete Thenardier kalt. Weitere Reden wurden 
zwifchen den beiden nicht ausgetaufcht, und einige Minuten 
fpäter war die Kerze ausgelöfcht. 

Der Fremde feinerfeits feste fib, nachdem der Wirt ge- 
gangen war, in einen Tehnftuhl und blieb eine Weile nachdenf- 
lib. Dann 309 er feine Schuhe aus, nahm eine der beiden 
Kerzen, verlöfchte die andere, öffnete die Tür und ging hinaus. 


249 


Er fam durd den Korridor bis zur Treppe. Hier hörte er ein 
ſchwaches Geräufh, das mie der Atem eines Kindes Flang. 
Diefem Geräufh folgte er und gelangte zu einem breiedigen 
Verſchlag, der unter den Stufen der Treppe zwifchen alten 
Körben, zerbrohenem Gefbirr, Spinnweben und Staub frei- 
gelaffen war; wenn man einen zerfchlifienen Sad voll Stroh 
ein Dett nennen will, fo lag bier ein ‘Bett, und darin fchlief 
Eofette. 

Er beugte fit über fie und betrachtete fie. 

Sie ſchlief tief. Ihre Lumpen hatte fie nicht abgelegt. Im 
Winter ſchlief fie immer befleidef, um weniger zu frieren. 

Die Puppe, deren große glänzende Augen offen fanden und 
im Sinftern leuchteten, hielt fie an fich gedrüdt. Don Zeit zu 
Zeit ftieß fie einen fhweren Seufzer aus, als ob fie aufmachen 
wollte. Neben ihrem Bett ftand nur einer ihrer Holzfchuhe. 

Eine offene Türe neben Cofettes Verſchlag gab den Eintritt 
in ein siemlih geräumiges Zimmer frei. Im Hintergrund fab 
man durch die Glastüre zwei Éleine, weißüberzogene Bettchen. 
Hier fhliefen Azelma und Eponine. 

Der Fremde trat ein. Er bedachte, daß diefes Zimmer an den 
Schlafraum der Ihenardier grenzen mochte und wollte fit eben 
zurücfziehen, als fein Blick auf den Kamin fiel, einen biefer un- 
geheuerlihen Serbergsfamine, in denen zumeift nur ein Éleines 
Feuerchen brennt und die fo Falt ausfehen. In diefem war Fein 
Feuer, nicht einmal eine Spur von Afche, aber etwas anderes 
309 die Aufmerkſamkeit des Fremden auf fih: zwei Éleine, nied- 
lihe Kinderfehuhe von verfhiedener Größe. Er erinnerte fid 
der uralten, reigenben Sitte, daß die Kinder am Weihnadhts- 
tage einen Schuh in den Kamin ftellen, in den dann eine gute 
See ein Geſchenk für fie legen fol. Eponine und Azelma hatten 
nicht verfäumt, fo zu fun, und haften jede einen ihrer Schuhe 
in den Kamin geftellt. 

Der Fremde beugte fid vor. 

Die Fee, ihre Mutter, war fchon dagemwefen; in jedem der: 
Schuhe funfelte ein neues Zehnfousftüd. 


250 


Eben wollte der Fremde fich wieder zurückziehen, als er ab- 
feits, in einem dunklen Winfel des Ramins, einen anderen 
Gegenftand bemerkte. Es war ein fhmuiger, grober Holzſchuh. 
Cofette hatte in jenem rührenden Zutrauen der Kinder, das 
oft getäufcht, nie gänzlich entmutigt wird, auch ihre Pantine in 
den Kamin geftellt. 

Wie füß und erbaben ift doch die Hoffnungsbereitfchaft eines 
Kindes, das nur die Verzweiflung Fennengelernt bat! 

Der Holzſchuh war leer. 

Bevor der Fremde leife in fein Zimmer zurücffehrte, griff er 
in feine Weftentafche, 309 einen Louisbor hervor und ftecfte ihn 
in Cofettes Pantine. 


9, Thénardier am Werf 


Am nächſten Morgen, wohl zwei Stunden vor Sonnenauf- 
gang, ſaß Herr Ihenardier bei einer Kerze im Gaftsimmer, 
hielt eine Feder in der Hand und bereitete die Rechnung von 
dem Herrn im gelben Mod vor. 

Seine Frau ftand hinter ihm, beugte fib vor und folgte 
feiner Schrift mit den Augen. Die beiden wechfelten fein Wort. 
Der eine fhwieg aus tiefer Nachdenflichfeit, der andere wohl 
aus jener frommen Andacht, mit der der Menfchengeift dem 
Wunder gegenüberfteht. 

Mad einer guten Diertelftunde vollbrabte Thénardier fol- 
gendes Meifterwerf: 


Rechnung für den Herrn von Wr. 1: 


Abenbbest, 7 au court NON 
en kun ae 
lem a Yun alten ONE 
688 
DDRM 


Summa 23 Franken 
Statt Bedienung war geſchrieben Bedinnung. 


271 


„Dreiundzwanzig Franken! rief Grau Tbénardier mit einer 
Begeifterung, der eine gewifle Bedenklichkeit beigemifcht war. 

Wie alle großen Künftler, war Ihenardier mit feinem Werk 
nicht zufrieden. 

„Noch immer zuwenig‘, murrte er. Seine Miene glich der 
Caftlereaghs, der auf dem Wiener Kongreß die Kriegsfchulden 
Frankreichs feftfest. 

„Herr Tbénardier, du haft ganz redht. So muß mans 
machen,” murmelte die Frau, die fih der Puppe erinnerte. 
„Nur fürchte ich, er wird’s nicht bezahlen.” 

Mit kaltem Lächeln erwiderte Thenardier: 

„Er wird bezahlen.’ 

Diefes Lachen war ein Zeichen höchſter Sicherheit. Was fo 
gefagt wurde, mußte ftimmen. Die Frau madte aud Feine Ein- 
wendungen mehr. Sie rüdte die Stühle zurecht, während ihr 
Mann in der Stube auf und ab ging. 

„Ich babe fünfzehnhundert Franken Schulden’, fagte er. 

„Vergiß aber nicht,” fagte die Frau, ‚daß ich heute Eofette 
fortjage. Diefes Scheufal! Wenn ich ihre Puppe fehe, werde ich 
rofend. Ich möchte lieber Ludwig XVIII. heiraten, als fie einen 
Zag länger unter meinem Dad dulden.‘ 

Thénardier ftedte feine Pfeife an und fagte zwifchen zwei 
Zügen: 

„Du bringft dem Mann die Rechnung.“ 

Damit ging er. 

Kaum war er draußen, als der Fremde eintrat. Ihenardier 
tauchte fofort wieder in der balboffenen Tür auf. Der Gelbe, 
der ihn wohl nicht gefehen Hatte, trug Stof und Bündel in 
der Ham. 

„So früh fhon auf den Beinen?‘ fragte die Ihenardier. 
„Wollen der Herr uns fchon verlaffen?/! 

Dabei drehte fie verlegen die Rechnung in den Händen und 
fniff mit ihren Mägeln das Blatt. Ihr Geficht zeigte zwei 
Gefühle, die ihr ganz fremd waren, Schüdternheit und Be— 


252 


denfen. Offenbar fchien e8 ihr gewagt, einem Gaft, der fo ärm— 
lib ausfah, eine folhe Rechnung zu präfentieren. 

Der Fremde dagegen fab nachdenklich und zerſtreut aus. 

„Ja, ich gehe.‘ | 

„Hat denn der Herr nicht Gefhäfte in Montfermeil ?/! 

„Dein, ich bin nur auf der Durchreife. Was bin ich Ihnen 
ſchuldig?“ 

Wortlos reichte ſie ihm die Rechnung. 

Der Fremde entfaltete das Blatt und ſah es an; aber ſeine 
Gedanken weilten offenbar anderswo. 

„Machen Sie denn gute Geſchäfte hier in Montfermeil?“ 
fragte er plötzlich. 

„Es geht, mein Herr“, erwiderte ſie erſtaunt, keine Abfuhr 
zu bekommen. „Allerdings, die Zeiten find ſchwer“, fuhr fie 
flagend fort. „Bürgerliche Herrfchaften Fommen fo felten zu 
ung. Alles Fleine Leute. Wenn wir öfters reiche und freigebige 
Gäfte wie Sie hätten . . . die Ausgaben find fo groß. Die 
Kleine zum Beiſpiel, was bas Foftet, man Fünnte den Kopf 
verlieren.’ 

„Welche Kleine?’ 

„Jun, die Kleine, Sie wiffen doch, Coſette.“ 

„Ach fo." 

‚Mon verdient nichts, aber Steuern foll man zahlen, Ge- 
- werbefteuer, Einfommenfteuer, Gemeindefteuern für Türen und 
Senfter, Pachtfteuer! Der Herr weiß, wie unerfättlich die Re— 
gierung ift. Und dann babe ich doch aud meine Töchter. An- 
derer Leute Kinder zu ernähren habe ich wirklich nicht nötig.’ 

Mit einer Stimme, die gleichgültig Elingen follte, aber doch 
zitterte, fragte der Fremde: 

‚Denn man fie Ihnen wegnähme?‘ 

Das gerötete Gefiht der Wirtin ftrablte. 

„Ad, guter Herr, nehmen Sie fie doch, nehmen Sie fie 
gleich mit, wickeln Sie fie in Zuefer und Butter und feien Sie 
von der heiligen Sungfrau und allen Heiligen im Paradies 
geſegnet!“ 


253 


„Abgemacht!“ 

„Sie wollen ſie ſofort mitnehmen?“ 

„Sofort, rufen Sie ſie.“ 

„Coſette!“ ſchrie die Thénardier. 

„Inzwiſchen kann id ja die Rechnung bezahlen. Wieviel 
macht es?“ 

Er warf einen Blick auf die Rechnung und konnte eine Be— 
wegung des Erſtaunens nicht unterdrücken. „Dreiundzwanzig 
Franken?“ 

Dieſer Satz ſchloß mit einem Rufzeichen und einem Frage— 
zeichen. 

Doch die Thénardier hatte ſich inzwiſchen gefaßt. Ruhig er- 
widerte ſie: 

„Ja doch, mein Herr, dreiundzwanzig Franken.“ 

Der Fremde legte fünf Fünffrankenſtücke auf den Tiſch. 

„Holen Sie die Kleine“, ſagte er. 

In dieſem Augenblick trat Thénardier vor und ſagte: 

„Der Herr bat ſechsundzwanzig Sous zu bezahlen.” 

„Sehsundzwanzig Sous?’ fragte die Frau. 

„Zwanzig für bas Zimmer und fechs für das Abendbrot. 
Und was die Kleine betrifft, muß ich mit dem Herrn nod 
Iprechen. Laß uns allein.” 

Die Thénardier hatte eine jener Ahnungen, die blißhaft in 
einem wachen Gehirn auftauchen. Sie fpürte, daß jeht der Star 
die Bühne betrat, und ging wortlos hinaus. 

Als die beiden allein waren, bot Thénarbier dem Fremden 
einen Stuhl an. Diefer feste fih, während Ihenardier ftehen- 
blieb; fein Geſicht drückte Gutmütigfeit und Einfalt aus. 

„Ich möchte Ihnen nur jagen, mein Herr, begann er, „daß 
ich biefes Kind von Herzen gern habe. Es ift Fomifch, aber man 
gewöhnt fi an fo etwas. Was fol diefes Geld da? Mehmen 
Sie bob die Fünffranfenftüde weg. Wahrhaftig, ich mag die 
Kleine ſchrecklich gern!” 

„Wen?“ 


254 


„Na, die kleine Eofette. Sie wollen fie ung wegnehmen? 
Nun, ich will mit Ihnen ganz offen fprechen, fo aufrichtig, wie 
Sie ein Ebrenmann find. Ich Fann dag nicht zugeben. Sie 
würde mir fehlen. Bon Elein auf war fie bei uns. Wohl wahr, 
daß fie uns teures Geld Foftet, fie bat auch ihre Fehler, und wir 
find weiß Gott nicht reih! Wahr ift au, daß ich, als fie krank 
war, vierhundert Franken für fie ausgegeben babe. Aber ver 
liebe Gott will, daß man aud einmal etwas Gutes tut. Sie hai 
weder Vater noh Mutter. Ich babe fie aufgepäpelt. Für fie 
und für mich babe ih immer Brot. Wirklich, ich hange an ihr. 
Man gewinnt fo etwas lieb, werftehen Sie. Sich bin vielleicht 
nicht febr gefcheit, aber ein gutmütiger Kerl bin ich. Bei mir 
geht nicht alles nad der Rechenmaſchine. Ich babe fie gern, die 
Kleine, und wenn meine Frau aud etwas heftig ift, fie mag 
fie au. Für uns ift fie wie ein eigenes Kind. Ich möchte gar 
nicht mehr leben, wenn ich ihr füßes Geplapper nicht mehr im 
Haufe hören folte.” 

Der Fremde fab ihn fbarf an. 

„Begreifen Sie bob, mein Herr, man Éann fein Kind nicht 
fo ohne weiters einem Durchreifenden mitgeben. Habe ich nicht 
recht? Und außerdem, Sie find reich, es wäre ja ein Glück für 
die Kleine, aber man müßte es doc fiber wiflen. Wenn wir 
annehmen, daß ich fie bergebe und das Opfer bringe, gut, aber 
ih muß doc wiflen, wohin fie fommt, ich kann fie nicht aus dem 
Auge verlieren. Don Zeit zu Zeit muß ich fie doch befuchen 
Éônnen, mich überzeugen, daß ihr guter Pflegevater aud auf 
fie aufpaßt. Es gibt Dinge, die man nicht machen Fann. Ich 
weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen. Wenn Sie fie wegführen 
würden, müßte ich immer denken: was mag wohl aus unferer 
fleinen Serde geworden fein? Man müßte doch irgendwas 
Schriftliches feben, einen Zipfel von einem Paß oder fo etwas.” 

Der Fremde hatte Ihenardier nicht aus den Augen gelaffen. 

„Herr Wirt, fagte er, „wenn man fünf Meilen weit aus 
Paris herausfährt, nimmt man Feinen Paß mit. Wenn id 
Cofette nehme, fo nehme id fie eben, und Schluß. Sie brauchen 


255 


dazu weder meinen Namen zu wiffen, noch meinen Aufenthalts- 
ort. Mein Wunſch ift, daß fie Sie nie wiederfieht. ch fehneide 
das Band burd, bas fie an Sie bindet. Paßt es ihnen? Va 
oder nein?” 

Mie die Dämonen und Genien an gewiffen Zeichen die 
Gegenwart eines übergeordneten Gottes erkennen, fo begriff 
aud Thenardier, daß er e8 hier mit einem robuften Willen zu 
tun hatte. Schon geftern abend hatte er ihn beobachtet, Feine 
Gefte, feine Bewegung des Mannes im gelben Mod war ihm 
entgangen. Bevor der Unbekannte fo deutlich feine Anteilnahme 
an Cofette befundete, hatte Ihenardier etwas geabnt. Mit 
Überrofhung hatte er bemerkt, daß die Slide des Alten immer 
wieder zu dem Kinde zurücffehrten. Wer war diefer Menfch? 
Warum Fleidete er fich fo ſchäbig, wenn er über fo beträchtliche 
Geldmittel verfügte! Der Vater Cofettes Éonnte er nicht fein. 
Der Großvater? Warum batte er fi dann nicht fofort vor- 
geftellt? Wer ein Recht bat, macht es geltend. Diefer Menſch 
hatte offenfichtlich Fein Anrecht auf Eofette. 

Thenardier verlor fih in vagen Vermutungen. Alg er aber 
begriff, daß diefer Mann ein Intereſſe daran hatte, ungenannt 
zu bleiben, fühlte er fih ftarf; und als dann der Fremde fo 
far und unmißverftändlich erflärte, was er zu fun gedenfe, 
fühlte er fi wieder ſchwach. Darauf war er nicht gefaßt ge- 
wefen. Seine Vermutungen waren entkräftet. Er dachte eine 
Sekunde nah. Ihenardier war einer von jenen Menfchen, die 
eine Situation fofort überfchauen. Dies war, dachte er, der 
Augenblick, um rafch vorzugehen. Wie alle großen Feldherren, 
demagfierte er im entfeheidenden Augenblick feine Batterie. 

„Fünfzehnhundert Franken“, fagte er. 

Der Fremde 309 ein altes Portefeuille aus ſchwarzem Leder 
aus der Taſche, dem er drei Banfnoten entnahm. Er ftüßte 
feinen Daumen auf die Scheine und fagte: 

„Jetzt laſſen Sie Cofette kommen.“ 

Einen Augenblick ſpäter trat ſie in die Gaſtſtube. Der 
Fremde ſchnürte fein Bündel auf und entnahm ibm ein Woll— 


256 


Fleid, eine Schürze, ein Jäckchen, einen Unterrod, Wolftrümpfe 
und Schuhe; eine vollftändige Bekleidung für ein fiebenjähriges 
Mädchen. Ganz in Schwarz. | 

„Stimm bas, Kind, und zieh dih raſch an.’ 

Der Morgen graute bereits, als die Einwohner von Mont- 
fermeil, die eben ihre Türen öffneten, auf der Straße nad) 
Paris einen armgefleideten Mann ausfchreiten fahen, der ein 
fleines, in Trauer gefleidetes Mädchen an der Hand führte. 


Da Eofette nicht mehr ihre Lumpen trug, erfannten viele 
fie nicht. 


10. Oft serihledtertiich, 
wer fi zu verbeffern ſucht 


Gemwohnheitsmäßig hatte die Ihenardier ihrem Gatten freie 
Hand gelaffen. Sie mar auf große Dinge gefaßt. Als der 
Fremde mit Cofette fortgegangen war, ließ Ihenardier eine gute 
DViertelftunde verftreichen, bevor er fie beifeite nahm und ihr die 
fünfzehnhundert Sranfen zeigte. 

„Das iſt alles?’ fragte fie. 

Seit ihrer Hochzeit war es bas erftemal, daß fie eine Hand- 
lung ihres Herrn zu Fritifieren wagte. 

Der Schlag traf. 

„Du haft recht,” fagte er, „ih bin ein Ybiot. Gib mir 
meinen Hut.’ 

Er faltete die drei Banknoten zufammen, bob fie in die 
Taſche und eilte davon; aber er Tief zunächſt in der falfchen 
Richtung, nad rechts. Einige Nachbarn, bei denen er fi er- 
funbigte, brachten ihn auf die richtige Spur, denn die Lerche 
und ihr Begleiter waren auf dem Wege nad SLivry gefeben 
worden. Er folgte diefem Hinweis und ging, vor fih bin 
Iprechend, mit langen Schritten weiter. 

Diefer Menſch ift unzweifelhaft eine Million in einem 
gelben Mod, murmelte er, und ich bin ein albernes Vieh. Erft 


17 Hugo, Die Elenden. 257 


bat er zwanzig Sous gegeben, dann fünf Franken, dann fünfzig, 
Ihließlih fünfzehnhundert, immer mit der gleihen Bereit- 
willigfeit. Er hätte aud fünfzehntaufend gegeben. Ich werde 
ihn fon noch einholen. 

Aud war e8 fonderbar, daß er für die Kleine bereits Kleider 
mitgebracht hatte. Sicher ftecfte da ein Geheimnis dahinter. Und 
fol ein Geheimnis läßt man fit nit wieder entkommen, 
wenn man es einmal am Wickel bat. Die Geheimniffe der 
Reichen find Schwämme von Gold, man braudht fie nur aus- 
zupreflen. 

Diefe Erwägungen befhäftigten ihn, und er Fam neuerlich zu 
feiner Schlußfolgerung: id bin ein albernes Vieh. 

Wenn man Montfermeil auf der Straße gegen Livry zu ver- 
läßt, bat man einen weiten Ausblif auf die Hochebene. Er 
hatte erwartet, daß er den Mann und die Kleine fehen würde, 
aber fo gefpannt er auch Ausfhau hielt, er Fonnte nichts be- 
merken. Wieder fuchte er Erfundigungen einzuholen, aber damit 
verlor er nur Zeit. Man fagte ihm, der Mann und das Kind 
hätten die Richtung nad den Wäldern um Gagny eingefchlagen. 
Alfo folgte er ihnen dahin. 

Sie hatten einen Vorfprung, aber ein Kind geht langfam, 
und er lief fhnell. Auch war ihm die Gegend vertraut. 

Plötzlich blieb er fteben, ſchlug fih vor die Stirn, wie 
jemand, der die Hauptfadhe vergeflen bat und halbenwegs wie- 
der umfehren möchte. 

„Ich hätte mein Gewehr mitnehmen müffen!” rief er. 

Dann aber nad einem kurzen Zögern: 

„Ad, inzwifchen entwifchen fie mir.’ 

Er madte fi) wieder auf den Weg und lief, faft fiber, die 
beiden einzuholen, haftig weiter; wie ein Fuchs lief er, der eine 
Kette Birkhühner wittert. 

Und wirflih, als er an den Zeichen vorübergefommen war 
und die große Lichtung zur Mechten der Straße von Bellevue 
überquerte, bemerfte er hinter einem Straud einen Hut, der 


258 





ihn mit großen Erwartungen erfüllte. Yn der Tat, Eofette und 
der Unbefannte hatten fi) hier niedergefeßt. Die Kleine war 
nicht zu feben, aber der Kopf der Puppe ragte über dem 
Straud hervor. 

Ihenardier täufchte fid nicht. Offenbar hatte der Mann bier 
Daß genommen, um Cofette ein wenig Naft zu gönnen. Im 
nächften Augenblick ftand der Wirt vor ihnen. 

„Entfhuldigen Sie, mein Herr, rief er atemlos, „hier 
haben Sie Ihre fünfzehnhundert Franken wieder!” 

Und er reichte dem Fremden die drei Vanfnoten. 

Bas bedeutet dag?’ fragte der Alte. 

„Das bedeutet, daß ich Coſette wiederhaben will”, antwortete - 
Ihenardier refpeftwoll. Cofette erzitterte und fehmiegte fih an 
ihren Beſchützer. Diefer fab Ihenardier tief in die Augen und 
fragte gedehnt: 

„Sie wollen Eofette wiederhaben?’’ 

„Ja, mein Herr, id will fie wiederhaben. Und ich will ihnen 
aud jagen, wiefo ich dazu komme. Ich babe nicht dag Recht, fie 
Ihnen abzutreten. Ich bin ein Ehrenmann, verftehen Sie? Die 
Kleine gehört nicht mir, fie gehört ihrer Mutter. Ihre Mutter 
bat fie mir anvertraut, id Fann fie nur ihr wiedergeben. Sie 
werden fagen: die Mutter ift tot. Möglich. Aber auch in diefem 
Salle Éann id das Kind nur jemand geben, der mir einen 
friftlihen Auftrag der Mutter vorzeigt, daß ich das Kind ihm 
aushändigen fol. Das ift klar.“ 

Mortlos 309 der Fremde das Portefeuille heraus. Der Wirt 
war von freudigem Schreck durchſchauert. 

Soſo, dachte er, da hätten wir ihn. Er will mid) beftechen. 

Bevor der Fremde fein Portefeuille öffnete, blickte er um 
fih. Kein Menſch war zu fehen. Erft nachdem er fid) davon 
überzeugt hatte, Elappte er das Portefeuille auf, 309 aber nicht 
bas erwartete Danfnotenbündel heraus, fondern ein Fleines 
Blatt Papier, das er entfaltete und dem Wirt binbielt. 

„Sie haben rest. Lefen Sie.‘ 


en 259 


Thénarbdier nahm das Blatt und las: 


Montreuil fur Mer, 25. März 1823. 
Herr Ihenardier, 


übergeben Sie Cofette dem Überbringer. . 
Die Heinen Meftfbulden werden Ihnen bezahlt werden. 


Hochachtungsvoll 
Fantine. 


„Kennen Sie dieſe Unterſchrift?“ fragte der Fremde. 

Es war Fantines Hand. Ihenardier erkannte fie. Er konnte 
feinen Einwand erheben. Ein doppelter Ärger regte ſich in ibm, 
der Ärger, die erhoffte Beftehungsfumme zu verlieren, und der, 
geflagen zu fein. 

„Sie Eönnen das Blatt zu Ihrer Rechtfertigung behalten.‘ 

TIhenardier trat einen wohlgeordneten Rückzug an. 

„Die Unterfchrift ift ja ganz gut nachgeahmt“, murmelte er. 
„But, ſei's darum!’ 

Uber er wagte nod einen leßten verzweifelten Verſuch. 

„Mag es hingehen”, fagte er. „Sie find ja wohl der Mann. 
Aber Sie müffen mir alle meine Eleinen Auslagen erfeßen, 
man fehuldet mir einen beträchtlichen Betrag.” 

Der Fremde erhob fich und fagte, während er mit der Finger- 
fvibe etwas Staub von feinem Armel fortfchnellte. 

„Herr IThenardier, im Januar fehuldete Ihnen die Mutter 
hundertzwanzig Franken. Im Februar fandten Sie eine Rech— 
nung über fünfhundert Franken. Sie erhielten im Februar 
dreihundert, Anfong März wieder dreihundert. Seither find 
neun Monate verfloffen, das macht, da fünfzehn Franfen mo- 
natlid verabredet worden waren, hundertfünfunddreißig Fran- 
fen. Da Sie damals hundert Sranfen zuviel erhalten haben, 
können Sie jest fünfunddreißig beanfpruden. Ich habe Ihnen 
fünfzehnhundert gegeben.’ 

Thenardier hatte bas Gefühl eines Wolfes, der in die Falle 
gegangen ift. Wer ift diefer Teufelskerl? dachte er. 


260 





Und er fat, was jeder Wolf getan hätte, er zerrte an der 
Salle. Schon einmal hatte die Unverfrorenheit gefiegt. 

„Herr Dhnenamen,” fagte er kurz entfchloffen, und diesmal, 
ohne feinen höflihen Ton beizubehalten, „ich werde Cofette 
wieder an mich nehmen, wenn Sie mir nidf faufenb 
Zaler geben.’ 

Ruhig fagte der Fremde: 

„Komm, Cofette.!! 

Er nahm Eofette an der Hand und hob feinen Stod auf, 
der noch am Boden lag. 

Thenardier fab den ftarfen Knüttel und bedadhte, daß die 
Gegend einfam war. Er verftand, daß alle weitere Mühe unnüß 
fei, und kehrte um. 


11. Mr. 9430 tauht wieder auf und Cofette 
sieht bas große Los 


Sean Valjean war nicht tof. 

As er ins Meer fiel (oder eigentlich, als er fi ins Meer 
fallen ließ), war er ohne Kette. Er ſchwamm bis an ein Schiff, 
bas vor Anker Tag, und Eletterte in ein Boot, bas ausgefekt 
war. Dort verbarg er fih bis zum Abend. Mit Einbrud der 
Macht warf er fid) wieder in die Wogen und erreichte die Küfte 
unweit von Cap Brun. Da er etwas Geld bei ſich hatte, Eonnte 
er ſich Kleider verfhaffen. Ein Kafhemmenmwirt in der Nähe 
von Balaguier trieb damals das einträglihe Geſchäft, ent- 
fprungene Sträflinge zu befleiden. Dann marfdierte Sean 
Valjean, wie alle Derfolgten, die fih dem Geſetz entziehen 
müffen, auf unbegangenen Mebenmwegen nad Paris. Sein erfter 
Unterfhlupf war Pradeaur, fpäter Fam er nad Veauffet, 
Briançon, in die Hochalpen. Es war eine unftete, gewagte 
Flut. Er erreichte Paris, und in Montfermeil haben wir ihn 
wiedergefunden. 

Seine erfte Sorge in Paris war es gewefen, für ein Eleines 
Mädchen von fieben oder acht Jahren Zrauerfleider zu beforgen 


261 


und ein Quartier zu mieten. Dann war er nad Montfermeil 
gegangen. Man erinnert fi, daß er fon anläßlich feiner erften 
Flucht eine geheimnisvolle Meife in jene Gegend unternommen 
hatte, mit der fit aud die Juſtizbehörden befchäftigten. Aber 
man bielt ihn ja für fot, und diefer Umftand begünftigte bas 
Dunfel, bas er um ſich zu verbreiten ftrebte. In Paris war ibm 
aud ein Zeitungsblatt in die Hände gefallen, bas die Nachricht 
von feinem Tode gebracht hatte. Das berubigte ibn und brachte 
ihm faft ben Frieden, als ob er wirklich geftorben wäre. 

Mod am felben Abend, an dem Jean Valjean Eofette den 
Klauen der Ihenardierg entriffen hatte, Fam er nad) Paris zu- 
rück. Bei einbrehender Mat hielt er burd das Tor von 
Monteaur feinen Einzug. Hier nahm er eine Drofchfe, die ibn 
nad) der Efplanade des Obfervatoriums brachte. Dort entlief 
er fie wieder, bezahlte ben Kutfcher, nahm Cofette an der Hand, 
und die beiden marfchierten burd eine Reihe dunfler Straßen 
nad dem Boulevard de l'Höpital. 


Drittes Buch 
Das Haus Öorbeau 
1. Das Meftdes Ubus und der Serbe 


Das Haus auf bem Boulevard de l'Hoͤpital, das die Brief— 
träger nur nah der Nummer fünfzig bis zweiundfünfzig 
fannten, war bei den Einwohnern des traurigen Vorftabtquar: 
tiers Marhe-aur-Cheveaur unter dem Namen Haus Gorbeau 
befannt, und damit hatte es folgende Bewandtnis: 

Um 1770 waren in Paris, am Châtelet, zwei Fönigliche 
Profuratoren tätig gewefen, deren einer Corbeau, der andere 
Menard hieß — Nabe und Fuchs; eine Fügung, die Iofen Mäu- 
lern Gelegenheit gab, Lafontaines Fabel [herzhaft auf fie anzu- 
wenden. Den Sammlern luftiger Anefboten ift nicht unbefannt, 
daß die beiden Würdenträger fih an Ludwig XV. mit der Bitte 
um Abänderung ihres Namens wandten, und tatfählih wurde 


262 





bem Naben Corbeau geftattet, fih binfürder Gorbeau zu ſchrei— 
ben, während Menard, minder glücklich, nur die Erlaubnis er- 
hielt ein D vor feinen Namen zu feßen, fo daß er, peinlid 
genug, den Namen Prenard tragen mußte. 

Mad der Iofalen Tradition war Meifter Gorbeau der Er- 
bauer und Eigentümer jenes geräumigen, öden Haufes auf dem 
Boulevard de l'Hôpital, vor dem Sean Daljean jest ftehen- 
blieb. Wie ein fheuer Vogel hatte er diefen entlegenen Plas 
gewählt, um hier fein Meft zu bauen. 

Er griff in feine MWeftentafche, zog einen Schlüffel hervor, 
Ihloß die Türe auf und flieg, nachdem er forgfältig wieder ab- 
gefperrt hatte, die Treppe hinauf. Eofette trug er noch immer 
auf dem Arm. 

Auf dem Treppenabfaß angelangt, zog er einen anderen 
Schlüffel hervor und öffnete eine Türe. Das Zimmer, das er 
betrat, glicd) eher einer Werkſtätte und war ziemlich geräumig; 
eine Matrabe lag auf dem Boden. Das übrige Mobiliar beftand 
aus einem Tiſch und einigen Stühlen. Ein eiferner Ofen glübte 
im Winfel. Der Widerfchein einer Straßenlaterne beleuchtete 
fpärlich die dürftige Einrichtung. Im Hintergrund, in einer Art 
Verfehlag, ftand ein Gurtbett. Sean Valjean trug das Kind 
dahin und legte es nieder, ohne daß es aufwadhte. 

Er mate Feuer und zündete eine Kerze an, die auf dem 
Tiſch bereitftand. Dann begann er, Eofette mit einem Blick voll 
Entzüden und innigfter Zärtlichfeit zu betrachten. Die Kleine 
Ichlief in jener ungetrübten Dertrauengfeligfeit, die nur der 
höchſten Kraft und der äußerften Schwäche möglich ift, ohne zu 
wiflen, wo fie fit befand. 

Er beugte fi über fie und Füßte ihre Hand. 

Es war fhon heller Tag, als das Kind ermadte. Das fable 
Licht einer Dezembermorgenfonne fiel durch das Fenfterfreuz 
und 309 lange Streifen über den Plafond. Plötzlich polterte 
eine fchwerbeladene Fuhre an dem Haufe vorbei und erfchütterte 
wie ein Sturm die Grunbfeften des Gebäudes. 

„Ja, Frau!’ rief Cofette und fuhr bob, „ich bin Schon da!“ 


263 


Und fon war fie aus dem Bett gejprungen, taftete, während 
ihre ſchlafſchweren Augen no halb gefchloffen waren, an 
der Wand. | 

„Mein Gott, mein Beſen!“ jammerte fie. 

est öffnete fie die Augen ganz und blidte in bas lächelnde 
Gefiht Jean Valjeans. 

„Ach richtig! fagte fie. „Guten Tag, mein Herr.” 

Kinder machen fid raid mit Freude und Glück vertraut, denn 
Freude und Glück ift ihre zweite Natur. 

Cofette bemerkte Katherine zu Füßen ihres Vettes, nahm fie 
auf und begann Sean Daljean auszufragen. Wo fie fei, und ob 
Paris wirflid fo groß fei, und ob Madame Tbénardier be- 
fiimmt nicht hierher Fame. Und plötzlich rief fie aus: 

„Wie hübſch es hier iſt!“ 

In Wirklichkeit war es ein recht ungemütlicher Aufenthalt 
— aber ſie fühlte ſich frei. 

„Soll ich nicht auskehren?“ fragte ſie. 

„Du ſollſt ſpielen“, ſagte Jean Valjean. 


2. Beobachtungen der Wirtin 


Jean Daljean gebrauchte die Vorſicht, niemals bei Tage aus— 
zugehen. Erſt in der Dämmerung wagte er einen Spaziergang 
von ein oder zwei Stunden, zuweilen allein, oft mit Coſette; er 
bevorzugte dann die entlegenſten Seitenalleen der Boulevards 
und trat erſt nach Einbruch der Nacht in eine Kirche ein. Am 
liebſten beſuchte er die des heiligen Medardus, die am nächſten 
lag. Wenn er Coſette nicht mitnahm, blieb ſie bei der Alten, 
der Verwalterin des Hauſes, von der Valjean das Quartier 
gemietet hatte. Doc zog es Coſette vor, mit Valjean fpazieren- 
zugehen. Sogar einem vertraulihen Stündchen mit Katherine 
entjagte fie gern zugunften eines Ausflugs. 

Es erwies fi, daß Cofette von heiterer Natur war. 

Die Alte führte die MWirtfehaft, Fochte und beforgte die 
Einkäufe. 


264 





Man lebte einfach, dod wurde der Kamin nie Falt, wie es 
wohl bei den Allerärmfien gefchehen mag. An dem Mobiliar 
änderte jean Valjean nichts, doc lief er die Glastüre, die 
zu Cofettes Verſchlag führte, durch eine Holztüre verſchließen. 

Er trug noch immer feinen gelben Mod, feine ſchwarze Knie— 
bofe und feinen alten Mod. Auf der Straße hielt man ihn für 
einen Bettler. Zuweilen gefhah es, daß mildtätige Frauen ihm 
einen Sou in die Hand drüdten. Sean Valjean nahm die 
Münze an und verneigte fi tief. Oder es ereignete fich, daß er 
jelbft einem “Bettler begegnete; dann hielt er zuerft fürforglic 
Umſchau, ob niemand ihn fehe, frat dann zu dem Armen und 
drückte ihm rafch eine Münze, oft fogar ein Silberftüd in die 
Hand. Daraus entftanden unangenehme Folgerungen. Man be- 
gann ihn in der Gegend den Bettler, der Almofen gibt, zu 
nennen. 

Die alte Dermieterin, eine mißgünftige und miürrifche, 
fhwerhbörige DPerfon, beobachtete Sean Valjean aufmerkfam, 
ohne daß er es bemerfte. Ihr ſchlechtes Gehör hatte zur Folge, 
daß fie zur Gefhwäsrigfeit neigte. Sie befaß noch zwei Zähne 
aus ihrer befieren Dergangenheit, einen im Oberfiefer, einen 
im Unterkiefer, und biefe beiden pflegte fie gegeneinanderzu- 
preffen. Urfprünglih hatte fie Coſette auszufragen verfucht, 
aber nur wenig berausbefommen, da die Kleine nur anzugeben 
wußte, fie fei aus Montfermeil. Eines Morgens aber bemerkte 
die Spionin, daß Jean Valjean auf fonderbare Weife fi in 
dem unbewohnten Teil des Haufes zu fhaffen machte. Mit bem 
Schritt einer alten Kate folgte fie ihm, und Éonnte, ohne felbft 
bemerft zu werden, burd einen Türſchlitz beobachten, wie er, 
offenbar aus Vorficht, mit bem Nüden gegen die Tür ftebenb, 
ein Etui aus der Taſche zog, diefem Mabel und Zwirn entnahm 
und den Schoß feines Modes aufzutrennen begann; dann nahm 
er ein gelblihes Papier, bas er entfaltete, aus dem Verſteck. 
Mit Schreden erfannte die Alte einen Iaufendfranfenfchein. 
Es war wohl der zweite oder dritte, den fie in ihrem Leben zu 
jehen befam. Außer fih vor Erregung lief fie davon. 


265 


Kurz nachher Fam Jean Valjean zu ihr und bat fie, biefen 
Zaufendfranfenfhein zu wechfeln; er babe, wie er fagte, geftern 
abend feine halbjährlihen Zinfen erhalten. Wo nur? dadıte 
die Alte — ift er doch erft um fes Uhr ausgegangen, und um 
diefe Stunde halten die Raffen der Staatsbank doch gewiß 
nicht offen. 

Die Alte wedfelte den Schein, hielt aber nicht reinen Mund. 
Diefe Banknote, reihlih Éommentiert und vervielfältigt, gab 
den Gevatterinnen aus der Rue des Vignes-Saint-Marcel 
Anlaß zu erregten Disfuffionen. 


An einem der folgenden Tage trug es fih zu, daß Sean 
Valjean in Hemdsärmeln auf dem Korridor Holz fägte. Die 
Alte war gerade im Zimmer und räumte auf. Sie benüßte die 
Gelegenheit, näherte fih dem Rock Jean Valjeans, der an 
einem Magel hing und unterfuhte ibn. Die Naht war wieder 
vernäht. Die madere Frau betaftete dag Kleidungsftüf und 
glaubte in den Schößen und Taillen Papierbündel zu fühlen. 
Dffenbar wieder Zaufendfranfenfcheine! 

Überdies bemerkte fie, daß noch fonft allerlei in den Taſchen 
fete. Da waren nicht nur das Nähzeug, das fie ſchon gefehen 
hatte, fondern aud eine bide Brieftaſche, ein fehr großes 
Mefler und — verdächtig genug — einige Perücen in verfchie- 
denen Farben. Es war, als ob in jeder Modtafhe eine Mas— 
fierung für beftimmte, unvorhergefehene Fälle vorbereitet wären. 


3. Ein Fünffranfenftüd 
rollt lärmend über den Doden 


Bei Sankt Menardus gab es einen Bettler, der auf dem 
Randſtein eines zugefehütteten Brunnens zu boden pflegte und 
dem Jean Valjean oft ein Almofen zuſteckte. Nie ging er an 
ihm vorbei, ohne ihm einige Sous zu reihen. Zumweilen ſprach 
er fogar mit ihm. Andere Bettler, die diefem offenbar mißgün- 
ftig waren, behaupteten, er fei ein Polizeifpisel. Tatfade ift, 


266 





daß er ein ehemaliger Kirchendiener und fünfundfiebzig Jahre 
alt war; faft nie hörte er auf, Gebete vor fih bin zu murmeln. 

Eines Abends Fam Jean Daljean dort vorbei. Er hatte Co- 
fette nicht bei fi. Unter einer Laterne, die eben angezündet 


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worden war, bemerfte er den Bettler an feinem gewohnten 
Plat. Wie immer, betete er, tief vorgebeugt, vor fih bin. Sean 
Daljean trat zu ihm und bot ihm fein gewöhnliches Almofen. 
Plötzlich blickte der Bettler auf, fab Sean Valjean fharf ins 
Gefiht und beugte fi unverzüglich wieder vor. Diefe blishaft 


267 


Schnelle Bewegung gemügte, um Sean Valjean erzittern zu 
laffen. Ihm war, als ob er im Schein der Laterne nicht das 
Ichieffalgergebene, gutmütige Gefiht des alten Kirchendienerg, 
fondern ein furchtbares, nur zu befanntes Geficht gefehen hätte. 
Ihm war zumute wie einem Manne, der fih unverfebens einem 
Tiger gegenüberftehen fieht. Erfchroden, faft zu Stein erftarrt, 
fuhr er zurück; er wagte weder zu atmen noch zu fprecen, konnte 
weder bleiben noch enteilen. Der Bettler hielt den Kopf wieder 
vorgebeugt und fhien nicht weiter auf ibn zu achten. Ein In— 
ftinft, vielleicht der geheimnisvolle Trieb der Selbfterhaltung, 
hielt Sean Valjean davon ab, ein Wort zu fprechen. Der Bett- 
ler hatte die gleiche Figur, die gleiche Haltung, diefelben Lum— 
pen wie immer. 

Sch bin verrüdt, dachte Sean Valjean. Ich träume. Es ift 
unmöglich. 

Tief beeindruckt ging er nach Haufe. 

Kaum wagte er fich felbft einzubefennen, daß er glaubte, 
Javert erfannt zu haben. 

Als er nachts darüber nachdachte, bedauerte er, den Mann 
nicht noch einmal angefprocen und dadurd gezwungen hatte, ein 
zweites Mal aufzubliden. 

Am nädften Tage kehrte er bei einbrecdhender ‘Dunkelheit 
wieder an jenen Platz zurück. Der Bettler war zur Stelle. 

„Guten Tag, Mann”, fagte Sean Daljean entfbloffen und 
reichte ihm einen Sou. 

Der Bettler blidte auf und fagte mit Elägliher Stimme: 

„Danfe, guter Herr! 

Es war der alte Kirchendiener. 

Sean Valjean fühlte ſich vollkommen beruhigt. Er begann zu 
lachen. 

„Wo, zum Teufel, glaubte id nur biefen Javert zu ſehen?“ 
fragte er fi, „habe ich jeßt erft Flare Augen?’ 

Und er dachte nicht weiter darüber nad. 

Einige Tage fpäter, an einem Abend — es mochte acht Uhr 


268 





fein — ſaß er in feinem Zimmer und ließ Cofette mit lauter 
Stimme budftabieren; da hörte er die Haustüre gehen. Das 
war fonderbar. Die Alte, die aud im Haufe wohnte, pflegte 
bei Einbruch der Dunkelheit zu Bett zu gehen, um Licht zu 
Iparen. 

Sean Valjean gab Eofette ein Zeichen, fie folle ſchweigen. Er 
hörte, wie jemand die Treppe hinaufftieg. Es Fonnte immerhin 
die Alte fein, die, von einem Unmwoblfein betroffen, vielleicht 
zum Apotheker gegangen war. Er laufchte. Es waren fehwere 
Zritte, die von einem Manne herzurühren fchienen; aber die 
Alte trug plumpe Schuhe, und der Gang alter Frauen ift dem 
der Männer nicht unähnlich. 

Sean Valjean blies die Kerze aus. Er hieß Cofette ins ‘Bert 
gehen und fagte leife: „Geh ganz ftill ins Bett, Kleine. Wäh— 
rend er fie auf die Stirn Füßte, wurden die Schritte unhörbar. 
Sean Valjean blieb reglos, den Rücken gegen die Tür, auf dem 
Stuhl fisen; in der Dunkelheit hielt er den Atem an. Nach 
einiger Zeit wandte er fih, da er nichts hörte, geräufhlos um, 
und als fein Blick die Tür traf, fab er im Schlüſſelloch Licht. 
Der Schein glih einem unheimlichen Stern in der Sinfternis 
der Mauer. Offenbar ftand da jemand mit der Kerze in der 
Hand hinter der Tür und horchte. 

Mieder vergingen Minuten. Vebt verſchwand das Licht. 
Doch waren Feine Schritte zu vernehmen. Offenbar hatte der 
Unbefannte feine Schuhe ausgezogen. 

Sean Baljean Iegte ſich angefleidet auf fein Bett und tat die 
ganze Nacht lang Fein Auge zu. 

As er gegen Morgen einzufchlummern begann, wedte ihn 
das Ruarren einer Tür, die am Ende des Korridorg zu einer 
Manfarde führte; wieder hörte er diefelben Schritte wie geftern 
abend. Sie näherten fih. Er fprang aus dem Bett und legte 
fein Obr an das Schlüffelloh, bas ziemlich groß war; gewiß 
würde er im Dorübergehen den Fremden, der die Macht in 
biefem Haufe zugebraht und an der Türe gehorcht hatte, feben 
fonnen. 


269 


Es war wirflid ein Mann. Diesmal ging er, ohne ftehen- 
zubleiben, an jean DBaljeans Tür vorüber. Im Korridor war 
es noch zu dunkel, man konnte dag Gefiht nicht ausnehmen. 
Als der Mann aber auf den Treppenabfaß trat, fiel ein Licht— 
ftrabl auf ihn und zeichnete fharf die Umriffe feiner Geftalt 
ab; Sean Daljean Eonnte den Rücken ganz überfhauen. Der 
Fremde war hochgewachſen, trug einen langen Rock und einen 
ftarfen Knüttel unter dem Arm. Der Stiernaden erinnerte 
an Javert. 

Sean Valjean hätte verfuchen können, ihm durch bas Fenfter 
nachzuſehen, aber dazu hätte er es öffnen müflen, und bas 
wagte er nicht. 

Dffenbar war der Fremde mit einem Schlüffel in bas Haus 
gefommen, als ob es fein eigenes wäre. Wer hatte ihm den 
Schlüffel gegeben? Und was bedeutete bag? 

Als die Alte um fieben Uhr morgens Fam, um aufzuräumen, 
warf ihr Jean Daljean einen durchdringenden Blick zu, aber 
er fragte nichts. An der Frau war nichts Ungemöhnliches zu 
bemerfen. | 

Mährend fie fegte, fagte fie: 

„Hat der Herr nicht heute nat jemand ins Haus gehen 
gehört?" 

Für diefes Alter und in jener Stadtgegend ift at Uhr 
abends fpäte Nacht. 

„Richtig ja’, antwortete er ganz unbefangen. „Wer war 
es denn?’ 

„Unſer neuer Mieter.‘ 

„Wie heißt er denn?’ 

„Ich Éann es nicht einmal genau fagen. Dumont oder Dau- 
mont. Ein gewöhnliher Name.’ 

„Und was ift biefer Herr Dumont?! 

Die Alte fab ihn tüdifh an und antwortete: 

„Rentner, wie Sie.” 


270 





Vielleicht meinte fie nichts damit, aber Sean Valjean miß— 
traute ihr. Als die Alte gegangen war, nahm er aus dem 
Schrank eine Hundertfranfenrolle und fteefte fie in die Zafche. 
Obwohl er dabei recht vorfihtig zu Werke ging, fiel eine Münze 
sur Erde und rollte laut über den Boden. 

Als es dunfelte, flieg er die Treppe hinab und hielt na bei- 
den Seiten auf dem Voulevard Ausfhan. Er fab niemand. 
Offenbar war die Straße vollftändig verödet. Allerdings Éonnte 
fih jemand hinter den Bäumen verborgen halten. 


Er ftieg die Treppe wieder hinauf. 
„Komm, Coſette“, fagte er. 
Er nahm fie bei der Hand und führte fie fort. 


Viertes Buch 
Jagd im Dunkeln, ſtumme Meute 
l. Strategifdher 3id3ad 


Sean Valjean verließ alsbald den Boulevard und bog in 
eine Seitenftraße ein; fooft er nur Fonnte, wählte er Seiten- 
wege, ging aud mandmal ein Stück zurück, um fi zu über- 
zeugen, daß er nicht verfolgt werde. 

Diefes Manöver ift dem Hirfch, dem die Jäger auf den 
Ferfen find, eigentümlich. Zumal auf Streden, wo die Fährte 
fi) tief in den Boden einprägt, hat es den Vorzug, die Jäger 
und die Hunde zu täufchen. Man nennt diefen Solid in der 
Sägerfprache den „falſchen Rückweg“. Es war eine Vollmond- 
nacht. Sean Valjean fühlte fi dur diefen Umftand begün- 
ftigt. Der Mond fand noch fief am Horizont und fchnitt 
fharfe Schatten in die Straßenfaflfade. Sean Daljean Eonnte 
im Dunkel an den Wänden entlang gleiten, zugleich aber die 
belferleuchtete Gegenfront fharf beobachten. Vielleicht bedachte 
er nicht zur Genüge, daß ihm dermaßen die dunfle Seite ent- 
ging. Als er aber in dem Straßengewirr rings um die Rue de 


271 


Poliveau untergetaudht war, glaubte er gewiß zu fein, daß er 
nicht verfolgt werde. 

Eofette Tief neben ihm her, ohne Tragen zu ftellen. Die Lei- 
den, die fie in ihren erften fes Lebensjahren ausgeftanden 
batte, hatten zur Folge gehabt, daß fie einen pafliven Charakter 
entwidelte. Sie hatte fib — ein Umftand, auf den wir no 
des öfteren zurückkommen werden — , ohne e8 recht felbft zu be- 
merfen, an die Schrullen ihres Beſchützers und an die Launen 
des Schickſals gewöhnt. Auch fühlte fie fi in Sicherheit, wenn 
er nur bei ihr war. 

Sean Valjean wußte ebenfowenig wie Cofette, wohin diefer 
Weg ihn führte. Er Iegte fein Schiefal in Gottes Hand mie 
fie das ihre in feine. Ihm war, als ob auch er geführt werde 
wie fie; er glaubte ein unfichtbares Weſen zu fühlen, das ibn 
lenkte. Er hatte Feinen feften Plan, Feine Elar umriffene Ab— 
fit. In diefem Augenblick war er nod nicht einmal feft über- 
zeugt, daß er es mit Yavert zu fun hatte, und wenn biefer 
Sremde aud wirklich Javert war, ob Javert ihn erfannt babe. 
Mar er denn nicht verkleidet? Glaubte man ibn nicht tot? 

Allerdings, feit einigen Tagen gefhahen Dinge, die bedenf- 
lih fhienen. Mehr war nicht nötig. Er hatte fi) entfhloffen, 
nie wieder in bas Haus Gorbeau zurüdzufehren. Wie ein Tier, 
bas aus feinem Verſteck aufgefheucht ift, fuchte er zunächſt ein 
Loch, in dem er fid verbergen Fünnte, und dachte, er würde 
fpäter ein dauerndes Verſteck finden. 

Sean Valjean durbquerte im Zickzack das Quartier Mouf- 
fetar, das fon im Dunkel lag, als ob dort noch die Polizei- 
ordnung des Mittelalters gälte. In firategifher Vorſicht 
freuzte er zu mehreren Malen die Rue Zenfier und die Nue 
Eopeau, dann die Mue du Pattoir-Saint-Victor und die Rue 
du Puits-PHermite. Es gibt in diefer Gegend Herbergen, aber 
er wollte in feine eintreten, denn er fand Feine paflende. Doc 
war er überzeugt, daB man, falls man ihm nachgegangen fein 
jollte, feine Spur Tängft verloren babe. 

Als es elf Uhr fchlug, ging er gerade die Rue de Pontoife 


272 


entlang und Fam an dem Polizeifommiffariat vorbei, bas in 
Nummer 14 untergebracht ift. Einige Sefunden fpäter hieß 
ihn ein Inſtinkt fi ummenden. Ym Schein der Laterne, die 
an dem Kommiffariat angebradt war, Fonnte er drei Männer 
erfennen, die in biefem Augenbli der Meibe nah an dem 
Bureau vorbeifamen. Einer der drei trat in den Hauseingang. 
Der Mann, der an der Spike marfhierte, fhien Daljean 
höchſt verdächtig. 

„Komm, Kind”, fagte er zu Cofette und beeilte fih, aus der 
Rue de Dontoife hinauszufommen. Er wählte wieder einen 
Umiveg, umging die Paflage des Patriardes, die zu biefer 
Nachtſtunde Schon gefperrt war, durchmaß die Rue de l'Epée de 
Bois und die Mue de l’Arbalète; endlich verfhwand er in der 
Nue des Poftes. 

Es gibt dort an der Stelle, wo heute das Kolleg Rollin ift, 
an der Abzweigung der Rue Neuve Ste.-Genevieve eine Weg- 
kreuzung. Der Mond fhien grell herab. Sean Valjean trat in 
ein Haustor und bebachte, daß er die drei Leute, falls fie ihn 
noch verfolgen jollten, hier febr gut erfennen würde, wenn fie 
auf dem hellbeleuchteten Platz träten. 

In der Tat vergingen Feine drei Minuten, als die Männer 
fhon erſchienen. Es waren jest ihrer vier, alles hochgewachſene 
Leute in langen braunen Röcken, mit runden Hüten und Knüt- 
teln in der Fauft. Ihre Größe war nicht minder unheimlich 
wie die Art, in der fie fih im Dunfeln vorwärts bewegten. 
Man hätte fie für vier Gefpenfter halten Eönnen, die fib als 
Bürger verkleidet hatten. 

Inmitten der Wegfreuzung blieben fie fteben und fchienen zu 
beraten. Sie faben unentfchloffen aus. jener, der fie zu führen 
fhien, deutete mit der Nechten nad der Richtung, in der Jean 
Valjean weitergegangen war; ein anderer fhien nach der ent- 
gegengefehten Seite gehen zu wollen. In dem Augenblid, als 
der erftere fi ummandte, fiel bas Mondlicht voll auf fein Ge- 
fibt. Jean Valjean erfannte deutlih Vavert. 


18 Hugo, Die Elenden. 273 


2. Glücklicher weiſe fahren auf der 
Aufterliger Brüde Wagen 


Vebt war für Jean Valjean alles Har. Für jene Männer 
allerdings dauerte die Ungewißheit nod an. Er machte fi) alfo 
ihr Zögern zunuße, denn was jene an Zeit verloren, Fonnte 
er als Gewinn buden. Er trat aus dem Haustor, in dem er 
fid) verborgen hatte, und eilte in der Richtung gegen den Jardin 
des Plantes weiter. Cofette begann zu ermüden, er bob fie auf 
und trug fie. Nächtliche Spaziergänger waren nicht zu feben, 
die Laternen hatte man wegen des Mondfcheins nit an- 
gezündet. 

An der Rue de la Clef und dem Jardin des Plantes vorbei 
kam er zum Quai. Hier wandte er ſich um. Weit und breit 
kein Menſch. Auch in den Seitenſtraßen war niemand zu ent— 
decken. Er atmete auf. 

Jetzt ging er auf den Pont d'Auſterlitz zu. Damals gab es 
dort noch einen Wächter, der Mautgeld erhob. Er näherte ſich 
dem Mann und reichte ihm einen Sou. 

„Zwei Sous!“ ſagte der Invalide, der den Dienſt verſah, 
„Sie tragen ein Kind, das gehen kann. Sie müſſen für zwei 
zahlen.“ 

Es war ärgerlich, daß fein Übergang über die Brücke Gegen- 
ftand einer Erörterung geworden war. Daljean bezahlte. Lieber 
wäre es ihm gewefen, wenn feine Flucht glatter vonftatten ge- 
gangen wäre. 

Gleichzeitig mit ihm fuhr ein großer Laftwagen zum rechten 
Ufer hinüber. Das war günftig. Er fonnte im Schatten der 
Fuhre gehen. 

Mitten auf der Brücke begehrte Cofette, deren Füße erftarrt 
waren, zu geben. Er feste fie zu Boden und nahm fie an 
die Hand. 

Sobald er die Brücke überfohritten hatte, bemerkte er zur 
Rechten einige Lagerpläße. Um dahin zu gelangen, mußte er 
einen breiten, bell vom Mond beleuchteten Raum überfchreiten. 


214 


Er zögerte nibt. Seine Verfolger waren offenbar einer falfhen 
Spur gefolgt. Jean Valjean glaubte fih außer Gefahr. Er 
wurde gefucht, aber nicht verfolgt. Eine Heine Gaffe, die Rue 
du Chemin-Bert-Saint-Antoine, zog fi zwiſchen hohen 
Mauern dahin. Ein dunkler, enger Weg, wie für ihn ge- 
Ihaffen. Bevor er eintrat, blickte er fih um. Er fonnte von 
feinem Standplas aus die Aufterlißer Brücke in ihrer ganzen 
Länge überfchauen. Eben tauchten am anderen Ende der Brücke 
vier Schatten auf. Sie kamen vom Jardin des Plantes ber- 
über und wollten offenbar das rechte Ufer erreichen. 

Dier Schatten — vier Männer! Sean Valjean erfehauerte. 
Die Spürhunde hatten das Wild wieder aufgefcheucht. Aber 
noch blieb eine Hoffnung. Bielleiht hatten die vier Männer 
ihm nicht gefeben, als er mit Cofette den hellen Plas über- 
Ihritten hatte. Er braudte nur in die Eleine Straße einzu- 
biegen, bis zu den Lagerpläßen vorzuftoßen und zwifchen den 
Gemüfefeldern und Schutthalden zu verfehwinden. 

Ihm fhien, man könne ſich biefer Eleinen ftillen Straße 
anvertrauen. 


3. Umbertaften. 


Nach ungefähr breibundert Schritten Fam er an eine Stelle, 
wo die Straße fit gabelte. Er hatte vor ſich gewiffermaßen die 
beiden Zweige eines Y. 

Wohin ſollte er fih wenden? Er zögerte nicht, fondern bog 
rechts ab. 

MWarım? 

Gegen linfs mußte er in die Vorftadt gelangen, alfo in be- 
wohntes Gebiet, rechts aber auf unbebautes Land, in eine ver- 
faffene Ode. Doch gingen die beiden nicht mehr befonbers 
ſchnell. Eofettes kurze Schritte verzögerten Sean Valjeans 
Gang. Er mußte fie wieder aufnehmen. Sie Iegte den Kopf 
an feine Schulter und fchwieg. 

Don Zeit zu Zeit Échrte er fi um und hielt Ausfchau. 


* 275 


immer war er beftrebt, fit auf der dunklen Seite der Straße 
zu halten. Als er ſich die erften Male ummwandte, fab er nichts; 
ringsum war tiefes Schweigen. Schon fühlte er fih etwas 
fiherer. Plösli bemerfte er, daß fich nicht meit hinter ibm 
etwas bewegte. est begann er zu laufen, hoffte, eine Quer- 
ftraße zu erreichen und dort die Spur fälfchen zu Éônnen. 

Er erreichte eine Mauer. Doch war der Weg nicht vollends 
verfperrt. Die Mauer fehloß eine Querftraße ab, wieder mußte 
Sean Valjean fich entfcheiden, ob er nad) rechts oder nad) linfs 
weitergeben follte. 

Er fab nad rechts. Hier lief die Straße zwifchen Schuppen 
und Scheunen weiter und endete in einer Sadgafle. Der Hin- 
tergrund, eine hohe weiße Mauer, war deutlih zu erkennen. 

Dann fab er nad linke. In diefer Richtung war die Straße 
offen. In einem Abftand von etwa zweihundert Schritten ging 
fie in eine andere über. Vielleicht war dort bas Heil zu finden. 

In dem Augenblick, als er eben weitergehen wollte, bemerfte 
er an der nächſten Ede in diefer Straße etwas Regungsloſes, 
eine Art ſchwarze Statue. 

Das war unverkennbar ein Mann, ein DPoften, den man 
ausgeftellt hatte, um ihm den Weg zu fperren. 

Jean Valjean fuhr zurüd. 

Gleichzeitig wurde ein Geräufch hörbar. Jean Valjean wagte 
einen Blick um die Straßenede und bemerfte fieben oder acht 
Soldaten, die in der Rue Poloneau vordrangen. Er fonnte 
ihre Bajonette aufblisen fehen. 

In ihrer Spike erkannte er Javert. Sie marfchierten lang- 
fam und vorfibtig. Oft blieben fie ftehen. Wahrſcheinlich durd- 
fuhten fie alle Mauerwinfel und Haustore. 

In der Art, wie fie fi) bewegten, Eonnten fie eine Viertel— 
ftunde brauden, um an dem Ort zu gelangen, an dem Sean 
Valjean fi jest befand. Es war ein furbtbarer Augenblid, 
nur einige Minuten trennte jean Daljean vor dem Abgrund, 
der fih zum drittenmal vor ihn auftat. Und diesmal drohte ihm 
nicht nur das Bagno, diesmal würde man ibm Cofette ent: 


276 


reißen; er würde zu einem Leben verurteilt werden, dem das 
Grab vorzuziehen war. 

So ftand ibm nur ein Ausweg offen. 

Sean Daljean war in gewiffenm Sinne ein Doppelmenfch; 
zur Hälfte hegte er die Gedanken eines Heiligen, zur anderen 
Hälfte befab er die furchtbaren Fähigkeiten eines Sträflings. 
Mad Bedarf Éonnte er feine Perfünlichfeit wechfeln. 

Bei feinen zahlreichen Ausbrücen aus dem Bagno war er, 
wie der Lefer fi wohl erinnert, ein Meifter in der Kunft ge- 
worden, fi ohne Leiter aus reiner Musfelfraft an Mauern 
hodyzuarbeiten, indem er nur die ſchwachen Unebenheiten des 
Bauwerks als Griffe und Stüßen benüßte. Er maß die Mauer 
vor fi) mit den Augen und bemerkte, daB fie von einer Linde 
überragt wurde. Die Mauer mochte etwa achtzehn Fuß hoc 
fein. Es war nur ſchwer, Cofette da hinauf zu befommen. Sie 
Fonnte nicht Elettern. Sie im Stich laffen? Er dachte nicht 
daran. Sie mitnehmen war unmöglih. Ein Mann braudt 
feine ganze Kraft, um allein einen folhen Weg zurüczulegen. 
Die geringfte Laft mußte das Gleichgewicht verfehieben und 
feinen Sturz zur Folge haben. 

Va, wenn er ein Seil hätte! Jean Valjean hatte Feines. 
Mie Fommt man um Mitternacht in der Rue Polonceau zu 
einem Seil? Gewiß hätte jean DBaljean, wenn er ein König- 
reich befeflen hätte, in diefem Augenblid ein Königreich für 
ein Seil gegeben. 

Aber gerade die Fritifcheften Situationen erleuchten ung zu- 
weilen blishaft, fei es, um uns zu blenden, fei es, ung ben 
ribtigen Weg finden zu laffen. Der verzweifelte Bli jean 
Valjeans fiel auf die Laterne in der Sackgaſſe Genrot. 

Es gab damals noch feine Gaslaternen in den Straßen von 
Paris. Ber Einbruch der Nacht wurden Lampen in kurzen Ab- 
ftänden ausgeftellt, die an Seilen aus der Straßenmitte herab- 
gelaflen wurden. 

Mit dem Mut des Entfheidungsfampfs ftürzte fit Sean 
Valjean in die Sadgafle, ftieß den Éleinen Schranf auf, in 


277 


dem das Seil verfnotet war, fehnitt es mit bem Meſſer durch 
und war im nächften Augenblic wieder bei Cofette. Sekt hatte 
er fein Seil. Zugleich) aber begann die vorgerüdte Stunde, 
der unheimliche Ort und die Dunkelheit, endlich aud Sean Val: 
jeans feltfames Gehaben Cofette zu beunrubigen. Jedes andere 
Eleine Kind hätte wohl längſt fon zu fchreien begonnen. Sie 
beſchränkte fi darauf, Sean Valjean am Schoß feines Modes 
zu zupfen. Die Schritte der anmarfchierenden Patrouille war 
jeßt deutlich zu hören. 

„Vater,“ fagte fie Teife, ‚mir ift fo bang. Wer Fommt 
denn dort?’ 

„Still! Es ift die Thénardier! Sag’ Fein Wort, laß mid) 
nur machen. Wenn du fhreift oder weinft, erwifcht fie bib. Sie 
will dich holen.” 


Gleich darauf begann er ohne Haft, aber aud ohne Zeitver- 
luſt mit jener feltfamen Präzifion, die folhen Augenblicen 
eigentümlich ift, fein Halstuch abzulöfen; er band es um Cofet- 
tes Achſeln und trug Sorge, daB das Kind nicht gequeticht 
werde. Dann band er bas andere Ende des Tuches an dag Seil, 
nahm bas Gegenftücd des Seils zwifchen die Zähne, zog feine 
Schuhe und Strümpfe ab, warf fie über die Mauer und be- 
gann mit der Sicherheit eines Mannes, der eine Leiter er- 
fteigt, die Mauer zu erflimmen. Nach einer Énappen halben 
Minute Fniete er auf der Mauerbrüftung. 

Mortlos fab ihm Eofette zu. Sean Valjeans Nat und der 
Name der Ihenardier hatten fie zu Eis erftarren laffen. 

est hörte fie ihn leiſe rufen: 

„zehne dich an die Mauer!’ 

Sie gehorchte. 

„Sag' Fein Wort und fürchte dich nicht!” 

Gleich darauf fühlte fie, daB fie hochgehoben wurde. Bevor 
fie begriff, was mit ihr gefehah, war fie auf dem Gipfel der 
Mauer. Sean DBaljean ergriff fie, nahm fie auf den Rüden, 
legte fi platt auf den Bauch und Frod an der Brüſtung ent- 


278 


lang. Wie er erraten hatte, ftieß die Mauer bier an ein Ge- 
bäude, deflen Dad ſchräg abfiel und die Linde faft ftreifte. 

Die Situation war für ihn fehr günftig. Gegen den Garten 
zu reichte das Dach viel tiefer hinab als ſtraßenwärts. 


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Sm felben Augenblik Tieß ibn Lärm auf der Straße er- 
roten, daß die Patrouille angefommen war. 

„Sucht die Sadgaffe ab!’ befahl Javert. , Die Rue Droit- 
Mur und die Fleine Rue Picpus find bewacht. Ich bürge dafür, 
daß er in der Sackgaſſe iſt.“ 


279 


Die Soldaten mahten fih auf die Suche. 

Sean Daljean aber Tieß fih an dem Dad) hinabgleiten, be- 
fam die Linde zu faflen, Eletterte ein letztes Stück und fprang 
zu Boden. Eofette hatte aus Mut oder Angft nicht einmal laut 
zu atmen gewagt. Ihre Hände waren ein wenig serfunbden. 


4. Anfang eines Rätſels 


Sean Valjean befand fih in einem geräumigen, recht eigen- 
artigen Garten; einem jener traurigen Gärten, die für den 
Winter und die Nacht beftimmt zu fein fheinen. Er war redt- 
edig und endete in einer Pappelallee; au in allen Winkeln 
ftanden Bäume, die Mitte aber war fhattenlos; hier Eonnte 
man einen vereinzelten fehr hoben Baum, einige verfrüppelte 
Dhftbäume, Beete und eine alte Senfgrube erfennen. Hier 
und da waren von Moos bewachſene Steinbänfe zu fehen. 

Zur Seite hatte Jean Valjean das Gebäude, von deflen 
Dad er abgeftiegen war; an der Mauer ftand eine Statue, 
deren arg verftümmeltes Geficht in der Dunkelheit kaum er- 
fennbar war. 

Das Haus gli eher einer Ruine, doch fhienen einzelne 
Räume noch als Schuppen benüßt zu werden. 

Das Hauptgebäude in der Rue Droit-Mur machte um die 
Ede der Rue Piepus einen Bogen und bildete fomit gegen den 
Garten einen rechten Winfel. Alle Senfter waren vergittert; 
nirgends war Licht zu fehen. Aud war von einem anderen Ge- 
bäude nichts zu bemerfen. Der Garten verlor fih in Finfternis 
und Naht. Nur ganz undeutlih waren Mauerftüde zu er- 
fennen — vielleicht die niedrigen Dächer der Rue Polonceau. 

Nichts Wilderes, Einfameres Éonnte man fi) vorftellen als 
diefen Garten. Daß fi hier niemand aufhielt, war zu biefer 
Stunde weniger erftaunlib, aber e8 war faum anzunehmen, 
daß auch zur Mittagszeit hier jemand einen angenehmen Auf- 
enthalt finden Eönnte. 

Sean DBaljeans erfte Sorge war es, feine Schuhe wieder 


280 


zu juhen und wieder anzuziehen. Dann brachte er Coſette in 
den Schuppen. Wer eben feinen Verfolgern entfhlüpft tft, 
fühlt fit nirgends fiber genug. Cofette, die nod immer an bie 





Ihenardier dachte, wünſchte gleihfalls nichts Beſſeres als ein 
möglichft fiberes Verſteck. 

Zuerft hörte man von draußen Larm und Rufe. Mach einer 
Viertelftunde aber ſchien fi die Truppe der Verfolger zu ent- 
fernen. Sean Valjean atmete nod immer faum. Er hatte fanft 
feine Hand auf Cofettes Mund gelegt. 


281 


Plötzlich wurde aus der tiefen Stille des Gebäudes ein an- 
deres Geräuſch hörbar, ein Gefang, der ebenfo himmliſch und 
göttlich Élang wie eben erft der Straßenlärm entferlih. Es war 
eine Hymne, ein Gebet, das in die fchweigende Nacht aufftieg; 
Baljean glaubte Frauenftimmen zu erfennen, aber Stimmen, 
die zugleih von ungfrauen und von Kindern berzurühren 
fhienen. Unverfennbar Flangen fie aus dem Gebäude neben dem 
Garten herüber. Es war, als ob nad der Herenmufif der Dä— 
nonen ein Chor der Engel erklingen follte. 

Eofette und Jean Daljean Énieten nieder. 

Sie wußten nicht, wo fie fit befanden, aber fie fühlten, der 
Mann und das Kind, der Büßer und die Unfchuldige, daß fie 
niederfnien mußten. 

Der Gefang Fang wie übernatürlihe Muſik in einem un- 
bewohnten Gebäude. Solange er anhielt, date Jean Valjean 
an nichts anderes. Erft als er verftummte, fchien er zu er- 
wachen. Wie lange das gedauert haben mochte, hätte er nicht 
angeben können. Die Stunden der Verzückung find Sekunden. 

Alles verſank wieder in tiefe Stille; weder auf der Straße 
nod im arten irgendein Geräuſch. 


5. Mobimmer bas Rätſel 


Der Morgenwind fefte ein. jean Valjean ſchloß daraus, 
daß es gegen ein oder zwei Uhr fein mochte. Cofette war ftill. 
Da fie neben ihm foß und den Kopf an feine Bruſt gelehnt 
hatte, dachte er, fie fei eingefchlafen. Er beugte fi über fie 
und fab fie an. Ihre Augen fanden weit offen, fie [bien nad» 
zudenfen. | 

Immer noch zitterte fie. 

„Möchteſt du ſchlafen?“ 

„Mir iſt ſo kalt!“ antwortete ſie. „Iſt ſie denn noch 
immer da?“ 

„Wer?“ 

„Frau Theénardier.“ 


282 


Sean Baljean hatte längft vergeffen, welchen Mittels er fi 
bedient hatte, um Cofette fhweigen zu machen. 

„Ach, die ift fort! Fürchte dich nicht weiter.‘ 

Das Kind feufzte, als ob ihm eine große Laft von der Bruſt 
genommen würde. 

Der Boden war feucht, der Schuppen nad allen Seiten 
offen, der Wind von Augenblik zu Augenblick froftiger. Jetzt 
309 Sean Valjean feinen Mod aus und hüllte Cofette darein. 

„Iſt dir jeßt weniger kalt?“ 

„Ja, Vater.“ 

„Gut, dann warte einen Augenblick. Ich komme gleich 
wieder.“ 

Er trat aus der Ruine und begann an dem Hauptgebäude 
entlang zu gehen, um einen beſſeren Unterſchlupf ausfindig zu 
machen. Er ſtieß auf Türen, aber ſie waren verſperrt. Die 
Fenſter im Erdgeſchoß waren mit Eiſengittern verſehen. 

Als er den inneren Winkel des Gebäudes erreichte, bemerkte 
er einige Bogenfenſter, die ſchwach erleuchtet waren. Er hob 
ſich auf die Zehenſpitze und ſah hindurch. Das Fenſter führte 
zu einem großen, mit mächtigen Steinflieſen gepflaſterten 
Saal, der durch Arkaden und Säulen geteilt ſchien. Das Licht 
kam von einer kleinen Lampe, die in einer Ecke brannte. Nichts 
in dem Saal rührte ſich. Doch glaubte er, wenn er ſeine Augen 
ſchärfer anſtrengte, auf dem Boden etwas zu bemerken, einen 
Gegenſtand, der mit einem Laken bedeckt war und die Form 
eines menſchlichen Körpers andeutete. Dieſe Geſtalt lag mit 
dem Geſicht gegen den Boden, die Arme kreuzweiſe ausgeſtreckt, 
reglos wie ein Leichnam. Etwas neben ihr ſah wie eine 
Schlange aus, offenbar ein Strick, den jene unheimliche Ge— 
ſtalt um den Hals trug. 

In dem ganzen Saal webten die Schauer des Halbdunkels. 

Jean Valjean hat ſpäter oft geſagt, daß ihm in ſeinem 
Leben manches Schauerliche widerfahren ſei, nie aber habe 
etwas ſein Blut ſo ſehr zu Eis erſtarren laſſen wie dieſe rätſel— 
hafte Geſtalt, die im Dunkel der Nacht ein unbekanntes 


283 


Mofterium vollzog. Furchtbar war ihm die Vorſtellung, dies 
fei eine Iote, fbredliher noch aber der Gedanfe, daß dort ein 
lebendiges Weſen liege. 

Er hatte immerhin den Mut, die Stirn gegen die Fenfter- 
fcheibe zu preffen und zu beobachten, ob die Geftalt fich bewege. 
Ihm ſchien eine beträchtliche Zeit verfloffen, als er noch immer 
nicht die leifefte Bewegung bemerft hatte. Plöslih padte ihn 
ein unausfprechliches Grauen und er entflob. Ohne fih umzu- 
Ihauen, Tief er in ben Schuppen. Wenn er fih umfähe, würde 
er — davon war er überzeugt — die Geftalt hochaufgerichtet, 
mit den Armen fchlenfernd, einherfchreiten feben. 

Keuchend erreichte er die Ruine. Seine Knie fchlotterten, 
Schweiß perlte von feinem Körper. 

Mo befand er fih? Wer hätte ſich je vorftellen mögen, daß 
es inmitten von Paris eine derartige Grabftätte gab? Und was 
bedeutete biefes feltfame Haus, diefer Bau voll nächtlicher Ge- 
beimniffe, der in der Dunkelheit verängftigte Seelen mit Engel- 
ftimmen an fi lodte und ihnen, wenn fie näher traten, die 
furchtbare Bifion einer Gruft vorhielt? Und bod war dies ein 
Haus, bas auf der Straße eine gewöhnliche Nummer führte! 
Kein Traum . . . 

Er mußte die Wand berühren, um ſich davon zu überzeugen. 

Mieder beugte er fi über Eofette. Sie ſchlief. 


6. Immer rätfelbafter 


Das Kind hatte den Kopf auf einen Stein gelegt und war 
eingefchlafen. Er feste fih neben fie und begann fie anzu- 
Ihauen. Je länger er fie betrachtete, um fo ruhiger wurde er. 
Bald war er wieder im Defiß feines Fühlen Geiftes. Er begriff, 
daß von nun an diefes Gefhöpf der Sinn feines Lebens war. 
Er brauchte nichts, was nicht ihr Bedarf war, hatte nichts zu 
fürdten, was nicht ihr drohte. 

Während er fo nadfann, hörte er zumeilen ein feltfames 
Geräufh. Es war dag Geflingel einer Éleinen Glode und Fam 


284 


aus dem Garten. Man fonnte es fchwach, aber deutlich er- 
fennen. Es erinnerte an das Schellen der Gloden einer Herde 
auf nächtlicher Heide. 

Jetzt wandte fi Sean Valjean um. Sofort erfannte er, 
daß jemand im Garten war. Ein Gefchöpf, das einem Manne 
nicht unähnlich war, ging in einem Melonenbeet auf und nieder, 
bückte fi, richtete fit wieder auf, blieb zumeilen ftehen; Sean 
Valjean erzitterte. In diefem Augenbli war es ihm Elar, daß 
Javert und die Spikel nicht einfach forfgelaufen waren, ohne 
Beobachter in der Gegend zurüdzulafien. Sobald diefer Mann 
im Garten ihn bemerfen würde, dag war gewiß, würde er um 
Hilfe rufen und ihn als Einbrecher dem Poliziften übergeben. 

Er nabm Coſette fanft auf und frug fie hinter eine Anhäu- 
fung alter, bereits außer Gebraud gegogener Möbel im Hinter- 
grunde des Schuppens. Cofette rührte fih nicht. 

Jetzt begann er den Mann im Melonenbeet zu beobadıten. 
Sonderbar war, daß jede feiner Bewegungen das feltfame Ge- 
Elingel bervorbradte. Ram er näher, fo verftärfte fit der Saut 
des Glöckchens, entfernte er fi), fo wurde er ſchwächer. Machte 
er eine überftürgte Bewegung, fo war fie von einem kurzen 
Tremolo begleitet. Blieb er fteben, fo wurde es ganz ftill. 
Dffenbar hatte man diefem Mann das Glöckchen umgebunden, 
aber was follte es bedeuten? Wer war diefer Mann, dem man 
ein Glöckchen umgebunden hatte mie einem Teithammel oder 
einer Leitkuh? 

Mährend er fi diefe Frage ftellte, berührte er Cofettes 
Hand. Sie war eifig. 

„Großer Gott!’ flüfterte er. 

Leife rief er fie an. 

„Coſette!“ 

Sie tat die Augen nicht auf. 

Er ſchüttelte ſie. 

Sie rührte ſich nicht. 

Im nächſten Augenblick war er aufgeſprungen. Furchtbare 
Gebanten durchfreugten fein Hirn. Es gibt Augenblide, in 


285 


denen fhredliher Argwohn über uns hereinbricht wie eine Ko- 
borte von Furien. Gerade wenn wir lieben, begeht unfere Vor— 
fiht die tollften Marrbeiten. 

Mod immer lag Cofette blaß und reglos vor ihm. 

Sie atmete. Er hörte ihren Atem, einen ganz ſchwachen 
Atem, der, wie ihm fchien, jeden Augenblick erlöfchen Eonnte. 

Mie follte er fie wärmen? Wie fie aufwecken? 

Diefer Gedanke verdrängte jede andere Erwägung. Entfest 
eilte er aus der Ruine. Eofette mußte um jeden Preis binnen 
einer DBiertelftunde in ein Bett, in einen warmen Raum ge- 
bracht werden. 


7. Der Mann mitdem Glöckchen 


Jean Daljean ging auf den Mann im Garten zu. Er hielt 
die Geldrolle, die er zu fich geftecdft hatte, in der Hand. 

Der andere ftand gebüct und fab ihn nit. Mit einigen 
Schritten war jean Daljean bei ihm. 

„Hundert Franken!’ rief er. 

Der Mann fuhr zurück und blickte auf. 

„Sie können hundert Franken verdienen, fagte Sean Val—⸗ 
jean, „wenn Sie mir für eine Nacht ein Obdach geben.” 

Test fiel der Mond bell auf bas verfhredte Gefiht Sean 
Valjeans. 

„Ach Sie ſind's, Vater Madeleine!“ ſagte der andere. 

Dieſer Name, zu dieſer Stunde an dieſem ſeltſamen Ort 
ausgeſprochen, ließ Jean Valjean zurückſchrecken. 

Alles hatte er erwartet, nur das nicht. Der Mann, der ge— 
fproden hatte, war ein gebeugter, halb lahmer reis, bäuerlich 
gekleidet, mit einem Glöckchen an einem Lederriemen, der um 
fein Tinfes Knie gefchlungen war. Sein Gefiht war in der 
Dunfelheit nicht zu erfennen. 

Vebt nahm er die Mütze ab und fagte zitternd: 

. „Großer Gott, wie fommen Sie denn hierher, Vater Made- 
leine? Wie find Sie denn bier bereingefommen, um Cbrifti 


286 


willen! Sind Sie denn vom Himmel gefallen? Und wie jehen 
Sie denn aus? Kein Halstuh, feinen Hut, nit einmal einen 
Rod? Willen Sie, wenn einer Sie nicht Éennen würde, möchte 
er ja Angft Friegen! Großer Gott, werden denn alle Heiligen 
heutzutage verrüdt? Aber wie find Sie denn nur bier berein- 
gekommen?” 

Er fprah, ohne den andern zu Wort Fommen zu laffen. 
Dabei verriet er eine fo ländlihe Gutmütigkeit, daß Daljean 
fih beruhigen Fonnte. 

„Wer find Sie und was ift bas für ein Haus?’ fragte Sean 
Valjean. 

„Du lieber Gott, das iſt aber doch ſtark! Sie ſind es, der 
mich hierher gebracht hat, in dieſes Haus, und jetzt erkennen 
Sie mich nicht?“ 

„Nein. Und wie kommt es, daß Sie mich kennen?“ 

„Sie haben mir doch das Leben gerettet.“ 

In dieſem Augenblick fiel ein Strahl des Mondlichts auf 
ſein Geſicht und Jean Valjean erkannte den alten Fauchelevent. 

„Ach, Sie ſind es! Jetzt erkenne ich Sie.“ 

„Das iſt ein Glück“, murmelte der Alte vorwurfsvoll. 

„Ja aber, was machen Sie denn hier?“ 

„Nun, ich decke meine Melonen zu.“ 

Der alte Fauchelevent hielt in der Tat in dem Augenblick, 
da Jean Valjean zu ihm getreten war, eine Strohhaube in der 
Hand, die er eben über eine Melone ſtülpen wollte. Offenbar 
hatte er ſchon feit etwa einer Stunde im Garten dieſer Be— 
Ihäftigung obgelegen, und bei diefer Bewegung hatte er die felt- 
famen Gebärden gemadt, die jean Valjean beobachtet hatte. 

„Nun,“ fuhr der Alte fort, „ich dachte mir, bei diefem Elaren 
Mondliht kann es leicht frieren. Ob ich nicht meinen Melonen 
ihre Röcke anziehe? Und Sie, Sie hätten aud den Ybren 
nicht zu Haufe laffen follen. Aber wie kommen Sie nur 
hierher?’ | 

As Jean Daljean fi von diefem Manne wenigftens unter 
dem Namen Madeleine erfannt fab, befhloß er vorfibtig zu 


287 


fein. Er begann felbft zu fragen. Ihre Nollen waren vertaufbt, 
er, der Eindringling war es, der den andern zur Mede ftellte. 

„Wozu brauden Sie denn die Glodfe da an Ihrem Knie?‘ 

„Die? Na, die habe ich, damit man mir aus dem Meg geht.” 

„Damit man Ihnen aus dem Meg geht?’ 

Der Alte zwinkerte mit einem unausfpreblihen Ausdrud. 

„Wiſſen Sie, es find nur Frauen in diefem Haus, und viele 
junge Mädchen. Offenbar könnte ich denen gefährlich werden. 
Darum trage ih die Glode. Die fol fie warnen. Wenn id 
fomme, laufen fie fort.” 

‚Aber was ift denn das für ein Haus?’ 

„Das wiffen Sie ganz genau, denfe ich.’ 

„Ich babe Feine Ahnung ...“ 

„Und Sie haben mich doch hier als Gärtner untergebracht!” 

„Antworten Sie mir, als ob ih nichts wüßte.‘ 

„Jun, das Rlofter Petit-Dicpus doch!“ 

est erinnerte fih Sean Valjean. Der Zufall, alfo die Vor— 
fehung, hatte ibn genau in biefes Klofter gebracht, in dem vor 
wer fahren der alte Fauchelevent nah feinem Sturz unter 
dem Wagen untergefommen war. 

„Alſo dag Klofter Petit-Picpus“, fagte er leife. 

„Aber wie zum Teufel, find Sie nur hier hereingefommen, 
Vater Madeleine? Sie find zwar ein Heiliger, aber immerhin 
bo ein Mann? Und Männer fommen bier nie herein.” 

„ber Sie find ja doch hier?’ 

„Ich bin auch der einzige.‘ 

„Und dabei muß ich fogar hierbleiben!‘ 

„Ad du lieber Gott!’ rief Fauchelevent. 

Sean Valjean trat auf den Alten zu und fagte ernft: 

„Vater Fauchelevent, ich babe Ihnen bas Leben gerettet.‘ 

‚And ich babe mich zuerft daran erinnert.‘ 

„But, Sie Eönnen heute für mid fun, was ich damals für 
Sie tat.” 

Sauchelevent nahm die Éräftigen Hände Sean Valjeans in 
feine faltigen, zitternden. 


288 





„Verfügen Sie über mich!‘ 

Eine unausfpreblihe Freude fhien fein Gefiht zu verflären. : 

„Was ſoll ic tun?’ fragte er wieder. 

„Das will ich Ihnen gleich fagen. Haben Sie eine eigene 
Stube?’ 

„Ich babe eine eigene Barade da hinter der Nuine des alten 
Klofters, in einem Winkel, in den fein Menſch kommt. Dort 
find drei Zimmer.’ 

Diefe Baracke war in der Tat fo gut hinter der Ruine ver- 
filet, daß auch Sean Valjean fie nicht gefehen hatte. 

„But, fagte er, ,,jett babe ih Sie um zwei Dinge zu 
bitten.’ 

„Und zwar, Herr Bürgermeiſter?“ 

„Eritens fagen Sie niemand, mas Sie von mir wiffen. 
Zweitens fuhen Sie nicht mehr von mir zu erfahren.‘ 

„te Sie wollen. Ich weiß, daß Sie nihtsllnanftändiges tun 
fönnen und immer ein guter Mann waren. Übrigens haben Sie 
mich ja bierhergebradht. Sch ftehe Ihnen ganz zur Verfügung.” 

„Abgemacht. Und jest fommen Sie mit mir. Wir wollen das 
Kind holen.’ 

„Was, ein Kind gibt es da auch noch?’ 

Aber er fragte nicht weiter, fondern folgte Yean Valjean 
wie ein Hund feinem Herrn. 

Mod war Feine halbe Stunde vergangen, als Eofette, deren 
Wangen fih an einem Kaminfeuer wieder gerötet hatten, be- 
reits im Bett des alten Gärtners fchlief. Sean Daljean hatte 
fein Salstud und feinen Mod wieder an fih genommen; 
Fauchelevent hatte jet den Riemen mit dem Glöckchen abge- 
ſchnallt und die beiden Männer faßen an dem Tiſch, auf dem 
der Gärtner ein Stück Käfe, ein Brot, eine Flaſche Wein und 
zwei Gläfer hingeftellt hatte. Und jest fagte der Alte, indem er 
Sean Valjean die Hand aufs Knie legte: 

„Ach, Dater Madeleine, Sie haben mic gar nicht erfannt! 
Erft retten Sie den Leuten das Leben und dann vergeflen Sie 
fie? Sie find ja undanfbar.” 


19 Hugo, Die Elenden. 289 


8. Wie die Beute Savertentging 


Die Ereigniffe, die wir eben von der Kehrfeite gefeber 
haben, waren unter den denkbar einfadften Umftänden zuftand: 
gekommen. 

As Sean Valjean in jener Nacht, da ihn Vavert am Ber: 
der toten Santine verhaftet hatte, aus dem Stadtgefängnis vor 
Montreuil fur Mer entfprang, hatte die Polizei vermutet, dei 
Flüchtling babe fih nad Paris gewandt. Paris ift ein Mal 
from, in dem alles fit verliert, jeder in der Unmenge der an 
deren verfehwindet. Kein Wald Fann einen Menfhen fo gu 
verbergen wie die Menfchenmenge von Paris. Alle Flüchtling: 
wiffen bas. Gern tauchen Sie in Paris unter, aber aud bi 
Polizei ift fi darüber im Elaren und fut, was anderswo ent 
Ihlüpft ift, bier. In Paris ſuchte fie aud den ehemaliger 
Bürgermeifter von Montreuil fur Mer. Vavert wurde nad 
Paris zitiert, um an den Nachforſchungen teilzunehmen, uni 
wirklich trug er dazu bei, daB jean Valjean wieder ergriffen 
wurde. Sein Eifer und feine Klugheit fielen bei diefer Ge 
legenbeit Herrn Cbabouillet, dem Sekretär der Präfektur auf 
der ja auch fon früher Javerts Proteftor gewefen war uni 
der den Polizeiinfpeftor aus Montreuil fur Mer zur Parifa 
Polizei verfegte. Und bier machte ſich Javert auf mannigfad 
und achtbare Weife (wenn folk ein Wort in einer folden Stel 
lung am Paste ift) nützlich. 

Er dachte nicht mehr an Jean Valjean, fo wie diefe Jagd: 
hunde den Wolf von geftern vergeflen, um dem von heute nad 
zufpüren, als er, der fonft niemals Journale lag, im Dezember 
1823 ein Blatt in die Hände befam; als begeifterter Mon 
archiſt wollte er Einzelheiten über den triumphalen Einzug dei 
Königlichen Hoheit, des Generaliffimus, in Bayonne erfahren 
Mährend er den Artikel las, fprang ibm der Name Year 
Valjean, der weiter unten auf der gleichen Seite genann 
wurde, in die Augen. Die Zeitung meldete, daß der Sträfling 
Sean Valjean ums Leben gefommen fei, und der Bericht wat 


290 





fo beftimmt formuliert, daß Javert nicht zweifeln fonnte. Er 
begnügte fih zu fagen: Ma, eine Sorge weniger. Dann warf 
er das Dlatt weg und dachte nicht weiter daran. 

Einige Zeit fpäter ging von der Präfektur des Departements 
Seine-et-Dife ein Bericht über die Entführung eines Kindes 
ein, dag, wie gefagt wurde, unter eigenarfigen Umftänden aus 
der Gemeinde Montfermeil verfchleppt worden war. Eine 
Kleine von fieben oder acht jahren, die von ihrer Mutter 
einem Wirt in jenem Ort anvertraut worden war, fchien, wie 
es in dem Bericht hieß, von einem Unbefannten verfchleppt 
worden zu fein. Diefes Kind hörte auf den Namen Eofette und 
war die Tochter einer gewiffen Fantine, die in einem Spital 
geftorben fein follte. Einzelheiten hierüber fehlten. Diefer Be— 
richt Fam Javert unter die Augen, und er wurde nachdenklich. 

Der Name Fantine war ibm wohlbefannt. Er erinnerte fic, 
daß Sean Valjean ihn lächerlicherweife um eine Frift von drei 
agen gebeten hatte, weil er vorgebli bas Kind jenes Ge- 
ſchöpfs abholen wollte. Er entfann ſich auch, daß Sean Valjean 
in Paris verhaftet worden war, als er eben in die Poftfutfche 
fteigen wollte, die nach Montfermeil fährt. Gewiffe Anzeichen 
hatten fogar darauf bingebeutet, daB er damals fon zum 
zweitenmal in jenen Wagen geftiegen war und daß er fi ſchon 
früher in Montfermeil herumgetrieben hatte. Was er dort zu 
Ihaffen hatte? Man Eonnte es nicht erraten. Jetzt aber begriff 
Javert. Dort war Fantines Kind. Sean Daljean fuchte es. 
Und diefes Kind war von einem Unbekannten geftohlen? Wer 
fonnte diefer Unbekannte fein? %ean Saljean? Der war 
doch tof! 

Immerhin fuhr Javert, ohne jemand etwas zu verraten, 
nah Montfermeil. Er hoffte große Aufflärungen zu erhalten, 
aber er fand nichts. 

Sn den erften Tagen hatten die Thénardiers aus Ärger 
allerlei erzählt. Das Verſchwinden der Lerche hatte im Dorfe 
Aufſehen erregt. Verſchiedene Derfionen tauchten auf, fblief- 
lih hieß es, bas Kind fer geftohlen worden. So war jener 


* 291 


Polizeibericht zuftande gefommen. Nachdem aber die erfte Wut 
verraucht war, hatte Ihenardier mit feinem fharfen Inſtinkt 
herausgefühlt, daB es gar nicht in feinem Intereſſe lag, die 
Behörden auf fib aufmerffam zu maden; wenn biefe „Ent— 
führung‘ Cofettes erft Staub aufwirbelte, Eonnte es nicht aus- 
bleiben, daß viele fragwürdigen Gefchäfte der IThenardiers in 
den Blickwinkel der Juſtiz gerückt wurden. Der Ubu kann es 
nicht leiden, daB man ihm eine Kerze binftellt. Was follte er 
auch) fagen, wenn man ihn fragte, warum er die fünfzehnhundert 
Sranfen angenommen hatte? Er änderte alfo feine Taftif, ver- 
bot feiner Frau über die Sade zu ſprechen und fat verwundert, 
wenn von dem geftohlenen Kind geredet wurde. Er begriff ein- 
fady nicht, was man von ihm wollte. Gewiß war er traurig ge- 
wefen, als man ihm eines Tages die liebe Kleine fortgefchleppt 
hatte, gewiß hätte er fie aus ZärtlichFeit noch gerne ein paar 
Sage bei fi gehabt, aber fchließlich war es bob dag Natür— 
libfte von der Welt, daß ihr Großvater — und der war es ja 
geivefen — fie abgeholt hatte. 

Bis zu diefer Verſion war der Bericht gereift, als Vavert 
nad Montfermeil Fam. Der Großvater Tieß Sean DBaljean 
verblaflen. 

Wohl ftellte Javert einige Fragen, um zu prüfen, wie weit 
Ihenardiers Bericht ftihhaltig war. Wer war denn biefer 
Großvater und wie hieß er? 

Aber Ihenardier hatte ganz unbefangen geantwortet: 

„Ein begüterter Bauer. ch babe feinen Pas gefehen. Wenn 
id mich nicht irre, hieß er Guillaume Lambert.‘ 

Lambert ift ein Dame, der gutmütig und beruhigend wirft. 
Javert fuhr nad Paris zurüd. 

Sean Valjean ift tot, dachte er und ich bin mit der Naſe 
gegen eine Mauer geftoßen. 

Er war eben dabei, diefe Gefchichte wieder zu vergeflen, als 
er im Mär; 1824 von einer abfonderlihen Perſönlichkeit 
hörte, die in der Pfarrei Saint Medard wohnte und „der 
Bettler, der Almofen verteilt‘ genannt wurde. Diefer Menſch 


292 





fei, wurde gefagt, ein Nentner, deffen Name man nicht genau 
anzugeben wiffe und der mit einem Fleinen, achtjährigen Mäd- 
en zufammen lebe, von dem auch nicht mehr befannt fei, als 
daß es aus Montfermeil ftamme. 

Montfermeil! 

Savert ftußte. 

Ein alter Bettler, der Spißeldienfte leiftete, ein ehemaliger 
Kirchendiener, dem jener Unbefannte Almoſen zuſteckte, gab 
noch weitere Einzelheiten. Diefer Mentner fei ein ganz abfon-. 
derliher Menfch, gebe nur des Abends aus, fprede mit nie- 
mand, außer einigen DBettlern, und laffe feinen an ſich beran- 
fommen. Er trage einen fehauerlichen alten, gelben Mod, der 
einige Millionen wert fei, denn der Alte habe ihn ganz und 
gar mit Iaufendfranfennoten ausgeftopff. 

Diefer Bericht reiste Sjaverts Neugierde. Um diefen Rentner 
aus nächfter Nähe zu feben, ohne ihn Eopffcheu zu machen, ent- 
lieh er eines Tages diefem Kirchendiener feine Kleider und 
hodte fih an dem Platz, den fonft der alte Spitzel einnahm, 
Gebete vor fih hinnäſelnd und fpionierend, nieder. 

Das verdähtige Individuum näherte fich wirflich dem alfo 
verÉleideten Javert und bot ihm ein Almoſen. Javert bob den 
Kopf und war, als er Sean Daljean zu erfennen glaubte, nicht 
weniger außer fi als jener felbft. 

immerhin war es möglich, daß die Dunkelheit ibn getäufcht 
hatte. Schließlih war jean Valjeans Tod offiziell gemeldet. 
Savert zweifelte ernfthaft. Als gewiffenhafter Mann wollte er 
niemand am Kragen paden, bevor er feiner Sahe nit 
fiher war. 

Er ging dem Manne alfo bis zum Gorbeaufhen Haus nad 
und verfuchte ‚die Alte”, die Bermicterin, zum Sprecden zu 
bringen. Das war nicht fehwer. Die Alte beftätigte die Sache 
mit den verborgenen Millionen und erzählte ihm die Gefchichte 
von dem Taufendfranfenfchein. Sie hatte ibn gefehen, ja, fie 
hatte ibn mit ihren eigenen Händen berührt! Javert mietete 
ein Zimmer in dem Haus. Am felben Abend hielt er feinen 


293 


Einzug. Er laufhte an der Tür des geheimnisvollen Mieters, 
weil er hoffte, ibn am Klang feiner Stimme wiederzuerfennen, 
aber Sean Valjean Hatte den Kerzenihimmer durch das 
Schlüffelloh bemerft und bewahrte Stillfehweigen. Am nächſten 
Tage mate fi Jean Valjean davon. Aber der Lärm des 
Sünffranfenftides, das zu Boden gefollen war, hatte die Alte 
aufmerffam gemacht, die fofort auf den Gedanken Fam, ihr 
Mieter wolle ausrüden, und Javert fchleunigft davon in 
Kenntnis feste. Als Jean Valjean abends fortging, erwartete 
ihn Javert bereits mit zwei anderen Leuten hinter den Bäumen 
des Doulevards. 

Er hatte auf der Präfektur angegeben, daß er eine Verhaf— 
fung vornehmen wollte, hatte aber den Namen des Indi— 
viduums nicht genannt, bas er zu greifen hoffte. Den hielt er 
geheim, und dazu bewogen ihn drei Gründe. Erftens Fonnte die 
geringfte Ynbisfretion Sean Daljeon alarmieren; zweitens be- 
deutete einen alten entfprungenen Sträfling, der früher zu 
den gefährlichften Verbrechern gezählt worden war und jest für 
tot galt, wieder einzubringen einen glänzenden Erfolg, den die 
Parifer Poliziften gewiß einem Neuling aus der Provinz, wie 
Vavert, nit gönnen würden; er mußte alfo befürdten, daß 
man ibm den Galecrenfträfling wegſchnappen würde; drittens 
und letztens war Javert ein Künftler. Er Tiebte das Unvorber- 
gefebene und bafte die Erfolge, deren Reiz durch vorherige 
Ankündigung berabgemindert ift. Gern arbeitete er feine 
Meifterwerfe im Dunflen aus und enthüllte fie dann mit einer 
einzigen Gebärde. 

So war Javert Sean Valjean von Baum zu Baum, von 
Straßenefe zu Straßenedfe gefolgt und Hatte ihn Éeinen 
Augenbli Yang aus der Sicht verloren; aud als Jean Daljean 
fi in Sicherheit wiegte, hatte Javerts Auge auf ihm gerubt. 
Warum verhaftete Vavert Daljean nicht? 

Meil er noch immer zweifelte. 

Man muß in Betracht ziehen, daß die Polizei in jener Zeit 
feinen guten Stand hatte; die liberale Preſſe fab ihr fharf 


294 





auf die Singer. Einige willkürlihe Verhaftungen, von denen in 
den Zeitungen ein großes Aufheben gemacht worden war, waren 
fogar in der Kammer erörtert worden, und die Präfektur war 
verfhüchtert. Ein Attentat auf die perfönlihe Freiheit war 
fein Scherz. Die Agenten fürhteten febr, fih zu vergreifen, 
denn im Ernftfalle hielt der Drüfeft fih an fie. Ein Irrtum 
fonnte die Dienftentlaffung bedeuten. Man ftelle fih nur die 
Mirfung einer Furzen Nachricht, die durch zwanzig Blätter 
läuft und folgendermaßen lautet, vor: 

„eltern wurde ein bejabrter Mann, Großvater, ein ehren- 
werter Rentner mit weißen Haaren, der fein achtjähriges 
Enkelkind fpazierenführte, verhaftet und als entiprungener 
Galecrenfträfling in der Polizeidirektion eingeliefert.” 

Wenn wir alfo wiederholen, daß Javert feiner Sache nod 
nicht ganz ficher war, fo wird begreiflich, daß die Stimme des 
Gerviffens, verbunden mit der des warnenden Präfekten, ihre 
Wirkung tun mußte. 

Sean Daljean zeigte ibm den Rücken und marfchierte durch 
die Sinfternis. Seine traurige Gemütsverfaffung, feine Unruhe, 
die Angft, der Umſtand, daß er obdachlos durch die Nacht 
wanfen mußte, und gar noch die Notwendigkeit, feine Gangart 
dem des Kindes anzupaflen, alles das verurfachte, ohne. fein 
Miffen, eine derartige Veränderung in Sean Valjeans ganzer 
Haltung und verlieh ihm etwas fo Greifenbaftes, daß felbft die 
Polizei, felbft ein Javert unfiher werden konnte und wurde. 
Dazu Fam, daß man nicht allzu nahe an die Verfolgten beran- 
gehen durfte, fchließlich die Erklärung des Ihenardier, der ihn 
den wirklichen Großvater der Kleinen genannt hatte und die 
amtliche DBeftätigung des Iodes im Bagno. 

Einmal verfiel er darauf, einfad an Daljean heranzufreten 
und fi feine Papiere zeigen zu laflen. Wenn jener Mann aber 
nicht Sean Valjean war, zugleich aber aud nicht der brave alte 
Rentner, fondern irgendein anderer Gauner, der womöglich mit 
irgendweldhen Parifer Verbrecherbanden in dunfler Verbindung 
ftand, vielleicht fogar das Haupt einer gefährlichen Bande — ? 


295 


vielleicht hatte er Bertraute, Komplicen, nicht nur einen Unter- 
fhlupf, der ihm offen ftand? 

Die Umwege, die der Unbekannte machte, fhienen allerdings 
darauf hinzudeuten, daß man es hier nicht mit der Arglofigfeit 
in Perfon zu tun babe. Aber fein Opfer vorzeitig feftnehmen, 
hieß bas nicht den Braten vom Feuer nehmen, bevor er gar 
war? Was Fonnte denn paffieren, wenn man wartete? Yavert 
war feiner fiber genug, um ein neuerlihes Entfehlüpfen nicht 
zu befürdten. 

Er ging alfo hinter ihm ber, und taufend Fragen beftürmten 
fein Gehirn. Als aber der Verfolgte in der Rue de Pontoife 
an einer hellerleuchteten Schenfe vorüberfam, fab Yavert ibm 
ins Gefiht und erfannte Sean Valjean endgültig. Es gibt auf 
diefer Welt zwei Gefchöpfe, die fo zittern Fönnen: die Mutter, 
die ihr Kind wiederfindet, und den Tiger, der feine Beute fieht. 
Auch avert erfchauerte. 

Sobald er endgültig wußte, daß er es mit dem furchtbaren 
Galeerenfträfling zu tun hatte, bedadte er auch, daß er nur 
zwei Leute bei fi hatte, und forderte darum in dem Kommif- 
fariat in der Rue de Pontoife Verftärfung an. Wer einen 
Dornenftof ergreifen will, muß ſich mit guten Handſchuhen 
verfeben. 

Diefer Aufenthalt und die Veratung am Kreuzweg Rollin 
hätten Javert bald feine Spur verlieren laffen. Mafd aber er- 
riet er, daß es Valjeans erftes Beftreben fein mußte, den Fluß 
zwifchen fit und feine Verfolger zu bringen. Sein fiherer In— 
ftinkt führte ibn geradeswegs zur Aufterliger Bride. Eine ein- 
fache Anfrage an den Mautwächter klärte ihn vollftändig auf. 

So erreihte der Polizift die Brücke rechtzeitig, um Sean 
Valjean mit Cofette den hellerleuchteten Platz am anderen Ufer 
überqueren zu feben. Er bemerfte, daß die beiden in die Rue 
bu Cbemin-Vert-Saint-Antoine einbogen. Da fiel ibm ein, 
daß die Sadgaffe Genrot am anderen Ende diefer Straße nur 
den Ausgang zur Nue Droit-Mur offen läßt. Er verfiberte 
fi) alfo diefer Ausbruchsſtelle und fandte eiligft auf einem Um- 


296 





wege einen der Agenten dorthin. Eine Patrouille, die zum Ar- 
jenal zurücmarfchierte, Fam ihm in den Weg, er verlangte ihre 
Unterftüßung. Ber folhen Unternehmungen find Soldaten die 
beften Zrümpfe, die man ausfpielen Fann. Auch ift es ein altes 
Prinzip, daß man auf der Jagd nach dem wilden Eber die Ge- 
ſchicklichkeit des Jägers mit der Kraft der Spürhunde verbindet. 

As Javert die Situation foweit geflärt hatte und wußte, 
daß fein Opfer rechts in eine Sackgaſſe geraten, linfs auf den 
ausgeftellten Poften ftoßen mußte, bemwilligte er fi eine Prife 
Zabaf. 

Und jest begann er zu fpielen. Das war für ibn ein höllifcher 
und doch Eöftliher Augenblick. Er ließ fein Opfer vor ſich ber- 
laufen, wußte, daß er e8 in Händen hielt, wollte aber den 
Augenblick der Verhaftung fo weit als möglich hinausfchieben. 
Er brauchte ja nur zuzupaden. An einen Widerftand des Ver— 
folgten war in Anbetraht der Patrouille nicht zu denken, jo 
energifch, ftarf und vom Mut der Verzweiflung beflügelt jean 
Valjean aud fein mochte. 

Als aber Javert, der unterwegs alle Winfel der Gaffe wie 
die Taſchen eines Diebes durchſucht hatte, in die Mitte des 
ausgemorfenen Netzes Fam, fand er die Fliege nicht. Man ftelle 
fih feine Wut vor! 

Er fragte feinen Poften in der Rue Droit-Mur, aber der 
war, ohne fi zu rühren, an feinem Plate geblieben und hatte 
niemand vorbeifommen gefehen. 

Nun, gewiß bat Napoleon in Rußland, Merander in In— 
dien, Caefar in Afrika, Cyrus in Senythenlande Fehler be- 
gangen. Auch Javert durfte es tun. Wer ift vollfommen auf 
diefer Welt? 

Attila bat zwifchen Orient und Okzident gefchwanft, Hanni- 
bal in Capua die Entfheidungsftunde verfäumt, Danton ift in 
Arsis-fur-Aube eingefchlafen. 

Mie dem auch fei, in dem Augenblick, als Javert begriff, 
daB Sean Valjean ihm entfchlüpft fei, verlor er nicht den Kopf. 
Er wußte nur zu gut, daß der alte Sträfling nicht weit fein 


297 


fonnte, ftellte daher Poften auf und organifierte die Über. 
wachung des Quartiers. Das erfte, was ihm auffiel, war bas 
abgefhnittene Laternenfeil. Das war ein wertvoller Fingerzeig, 
der ihn allerdings irreführte, weil er feine Aufmerkſamkeit auf 
bas Sackgäßchen Genrot ablenfte. Es gibt in diefer Sackgaſſe 
ziemlich niedrige Mauern, hinter denen Gärten liegen. Sean 
Valjean mochte fih dahin gewandt haben. 

Gewiß hätte Valjean, wäre er aud nur einen Augenblid 
früher in der Sadgaffe gewefen, einen folhen Verſuch unter- 
nommen und wäre verloren gewefen. Javert durchſuchte die 
Gärten fo gründlich, daß er eine vermißte Stecknadel gefunden 
hätte. 

Bei Zagesanbrud ließ er zwei tüchtige Leute als Beobachter _ 
zurück und begab fib, zutiefft befhamt, von einem Verbrecher 
irregeführt worden zu fein, zur Präfektur. 





Fünftes Buch 
Die Friedhöfe nehmen, was man ihnen gibt 


1 Wie maninein Klofter fommt 


Sean Daljean begriff, daß er und Coſette verloren waren, 
wenn fie nad Paris zurückkehrten. Da ein glüfliher Wind ihn 
hierher verfchlagen hatte, in biefem Klofter verborgen, durfte 
er nicht daran benfen, e8 wieder zu verlaffen. Für einen Un- 
glüdlihen in feiner Lage war biefes Klofter zugleich der ge- 


298 


fährlichfte und doch auch der ficherfte Aufenthalt; der gefähr- 
lichfte, denn Fein Mann durfte hier eindringen, bei Gefahr, 
entdeckt und der Polizei ausgeliefert zu werden; der ficherfte, 
denn bier würde man ibn gewiß nicht vermuten. Und wer follte 
aud Eintritt erhalten, um ihn bier zu fuchen? Sid an einem 
unmöglichen Ort aufhalten, bedeutete das Heil. 

Auch Fauchelevent Eonnte in diefer Naht feinen Schlaf 
finden. Viele Gedanken befhäftigten ibn. Das einzige, was er 
verftand, war, daß er nichts begriff. Wie Eonnte Herr Made— 
leine über diefe Mauern gekommen fein? Man überfteigt ſolche 
Mauern nicht. Und ganz gewiß nicht mit einem Kind in den 
Armen! Und was war das für ein Kind? Woher Famen die 
beiden? 

Seit Fauchelevent im Klofter war, hatte er aus Montreuil 
fur Mer Feine Nachrichten mehr erhalten. Dater Madeleine 
machte ein Geſicht, dag einen Frager nicht gerade ermunterte, 
und überdies dachte fib Fauchelevent: Man foll die Heiligen 
nicht ausfragen. Aus einigen Worten, die jean Valjean ent- 
fhlüpft waren, glaubte der Gärtner entnehmen zu dürfen, Herr 
Madeleine fei vielleicht infolge der allgemeinen wirtfchaftlichen 
Schwierigfeiten zufommengebrodhen und befinde fid auf der 
Flucht vor feinen Gläubigern. Oder er babe fid in einer poli- 
tien Sade Fompromittiert und wünfche fih darum zu ver- 
bergen. Und bas gefiel Fauchelevent recht gut, ba er, wie die 
meiften Bauern in Mordfranfreich, im Grunde feines Herzens 
Bonapartift war. 

Aber wie follte er ihn hier im Klofter erhalten? Das war 
die Frage. Fauchelevent ſchreckte vor diefen fier wahnfinnigen 
Unterfangen nicht zurück; diefer arme pifardifhe Bauer, den 
nur feine Ergebenheit, fein guter Wille und eine gewifie 
Bauernſchlauheit unterftüßte, machte fid daran, die Schwierig- 
feiten zu überwinden, die ihm die ftrenge Megel des heiligen 
Benediktus in den Weg legte. 

Bei Tagesanbruch tat Vater Fauchelevent, der alles reiflich 
erwogen hatte, die Augen auf und fab Madeleine, der auf 


299 


feinem Strohſack ſaß und die fchlafende Cofette betrachtete. 
Auch Fauchelevent feßte fid auf und fagte: 

„Da Sie nun einmal bier find, wie macht man es, daß Sie 
auch hereinkommen?“ 

Diefer Ausdruck Éenngeihnete die ganze Situation und 
wecte Jean Valjean aus feiner Träumerei. Die beiden Män- 
ner begannen zu beraten. 

„Zunächſt“, erklärte Saucelevent, „dürfen Sie feinen Fuß 
aus diefem Zimmer feßen, weder Sie noch die Kleine. Ein 
Schritt in den Garten, und alles ift aufgeflogen.” 

„Sehr richtig.‘ 

„Sie find allerdings in einen fehr guten, will fagen, in einen 
fehr ſchlechten Augenblick bierbergefommen, Vater Madeleine, 
denn eine der Damen ift gerade fhmwer Franf. Folglich wird 
nicht fo leicht jemand fi um uns Fümmern. Allem Anfchein 
nad ftirbt fie gerade. Das vierzigftündige Gebet ift bereits an- 
gefagt. Die ganze Gemeinde ift in Aufregung. Alfo find die 
Tonnen befhäftigt. Die Frau, um die es fib handelt, ift eine 
Heilige. Wir find alle Heilige bier. Der einzige Unterfchied ift, 
daß die Nonnen fagen: ‚meine Zelle‘, während ich fage: ‚meine 
Bude‘. est wird alfo dag Gebet für die Sterbende gefpro- 
hen, und dann fommt das Totengebet und die Totenwache. Für 
heute haben wir Ruhe, aber für morgen Fann ich nicht bürgen.“ 

‚Allerdings ift diefe Parade in einem Mauerwinfel ein- 
gebaut,” bemerkte Sean Daljean, ‚und hinter diefer Nuine und 
den Bäumen fo gut verborgen, daB man fie vom Klofter aus 
gar nicht ſieht.“ 

„Wozu ich noch bemerken möchte, daß die Tonnen niemals 
hierherkommen.“ 

„Alſo?“ 

Dieſes Fragezeichen ſchien zu bedeuten: demnach kann man 
ja hier ſehr gut verborgen bleiben. Und darauf antwortete 
Fauchelevent: 

„Aber da ſind die Kleinen zu bedenken.“ 

„Welche Kleinen?“ 


300 


As Fauchelevent den Mund auftat, um zu antworten, ließ 
fi ein Glockenſchlag vernehmen. 

„Die Nonne ift tot. Das ift das Zeichen.” 

Mod einmal fchlug die Glode an. 

„Ja, das ift dag Zeichen, Herr Madeleine. Und fo wird die 
Gode jede Minute anfchlagen, vierundzwanzig Stunden lang, 
bis die Teiche aus der Kirche binausgetragen wird. Ja fehen 
Sie, fo fteht’s: bei der Mefreation, wenn die Kleinen Er- 
bolungsftunde haben, verfteben Sie, braudt nur ein Ball bier- 
herzurollen, dann kommen die Kleinen alle troß des ftrengen 
Verbots und treiben hier ihre Späße. Es find die reinften 
Zeufel, diefe Engelchen.“ 

„Wovon fprehen Sie denn?’ 

„un, von den Kleinen. Die werden Sie gleich entdeden. 
Dann gibt es ein großes Gefhrei: Hallo, ein Mann! Heute 
allerdings befteht diefe Gefahr nicht. Heute wird nur gebetet.// 

„Ich begreife, Vater Fauchelevent. Sie fprechen von Pen- 
fionärinnen.‘ Und Jean Valjean dachte: Das wäre ja eine 
Sade für Cofette! 

„Natürlich, rief Fauchelevent, „Penſionärinnen! Und die 
würden hübfh um Sie herumfpringen. Hier ein Mann zu fein 
ift Schlimmer als die Peft befommen. Sie feben do, daß man 
mir biefes Glöckchen umgebunden bat, als ob ih ein Dich 
wäre.” 

Sean Daljean wurde immer nachdenflicher. Diefes Klofter, 
dachte er, wäre ein gutes Aſyl. 

„Ja, 88 ift nur ſchwer, hierzubleiben‘’, fagte er laut. 

‚Dein, die größte Schwierigkeit ift die, hinauszukommen.“ 

Sean Valjean fühlte, wie ihm das Blut zum Herzen drang. 

„Hinaus?“ 

„Ja, Herr Madeleine, denn um wieder hereinzukommen, 
müſſen Sie doch erſt mal draußen ſein. Hier dürfen Sie ſich 
nicht finden laſſen. Für mich find Sie vom Himmel gefallen, 
weil id Sie Fenne, aber diefe Nonnen ziehen es vor, wenn 
man durch die Tire hereinkommt.“ 


301 


Plötzlich wurde ein längeres Glocdenläuten hörbar. 

„Ach,“ fagte Saudelevent, ‚die Mütter werden ins Kapitel 
gerufen. Das Kapitel wird immer zufammenbeftellt, wenn eine 
geftorben ift. Sie ift bei Tagesanbruch geftorben. Man ftirbt 
meift um diefe Zeit. Können Sie nicht eben dort hinausgehen, 
wo Sie hereingefommen find? Ich frage ja nicht, um Sie aus- 
zuborchen, aber wie find Sie nur hier bereingefommen ?/ 

Sean Baljean wurde blaß. Der bloße Gedanfe, fich wieder 
in diefe Straße hinauszumwagen, ließ ibn erfhauern. Wenn man 
aus einem Wald, in dem es von Tigern wimmelt, entfloben ift, 
nimmt man nicht gern den Dat eines Freundes an, der uns 
wieder hineinfchiefen will. Sean Valjean ftellte fit vor, daß 
die Polizei nod das ganze Quartier unter Auffiht halte und 
überall Poften aufgeftellt babe; von allen Seiten griffen 
Fäuſte nad feinem Kragen, und Javert Iauerte wohl in der 
Sackgaſſe. 

„Das iſt ganz unmöglich“, ſagte er. „Vater Fauchelevent, 
ſtellen Sie ſich vor, daß ich vom Himmel gefallen bin.“ 

„Natürlich glaube ich das. Sie brauchen mir ſo etwas gar 
nicht erſt zu ſagen. Der liebe Gott hat Sie in die Hand ge— 
nommen, um Sie einmal aus der Nähe zu beſehen, und dann 
hat er Sie wieder fallen laſſen. Nur wollte er Sie in ein 
Männerkloſter bringen und hat ſich geirrt. Hören Sie, ſchon 
wieder ein Glockenzeichen! Das gilt dem Pförtner. Er ſoll die 
Behörden verſtändigen, daß der Totenbeſchauer benachrichtigt 
wird. Das iſt ſo das Zeremoniell des Sterbens. Die guten 
Frauen können dieſe ärztliche Viſite nicht leiden. So ein Arzt 
iſt gemeinhin ein Ungläubiger, will von allem den Schleier 
wegziehen. Manchmal kümmert er ſich um Dinge, die ihn gar 
nichts angehen. Wie eilig ſie es diesmal haben, nach dem Arzt 
zu ſchicken. Was das nur bedeutet? Ihre Kleine ſchläft noch 
immer. Wie heißt ſie denn?“ 

„Coſette.“ 

„Iſt ſie Ihre Enkelin? Sind Sie der Großvater?“ 


„Ja.“ 
302 





„Die können wir leicht binausfriegen. ch babe eine Tür, 
die in den Hof geht. Wenn id da Élopfe, öffnet mir der Pfört- 
ner. Sch babe meine Butte am Puel, da ftedfe ich die Kleine 
vorher hinein, fo trage ich fie hinaus. Papa Fauchelevent geht 
mit feiner Butte aus. Das ift nichts Befonderes. Wir fagen 
bloß der Kleinen, fie folle fi ruhig verhalten. Sie kann unter 
der Plane ganz gut verftedft bleiben. So bringe td fie für die 
Zwifchenzeit zu einer guten alten Freundin, einer Gemiife- 
händlerin in der Rue du Chemin-Vert, die taub ift und ein 
Feines Bett bat. Der ſchrei' ich ins Ohr, daß dies eine Michte 
von mir ift, und fie fol fie mir bis morgen gut aufheben. Dann 
fann die Kleine mit Ihnen zufammen wieder bereinfommen. 
Herein bring’ ih Sie fchon wieder. Das muß ich wohl. Aber 
Sie, wie bringe ih Sie nur hinaus?’ 

Sean Valjean fchüttelte den Kopf. 

„Mich darf niemand feben. So fteht die Sade, Vater 
Sauchelevent. Suchen Sie mich auch wie Eofette in der Butte 
und unter der Plane hinauszuſchmuggeln.“ 

Sauchelevent Fraste fi) mit dem Mittelfinger hinterm Ohr, 
was bei ihm höchſte Derlegenheit bedeutete. 

Mieder gab die Glocke ein Zeichen. 

„Der Totenbefhauer geht wieder. Er bat gejagt: fie ift tot, 
ausgezeichnet. Wenn der Arzt den Daf nah dem Paradies 
vidiert bat, fenden die Teichenbeftattungsanftalten eine Bahre. 
Wenn die Tote eine Mutter war, wird fie von den anderen 
Müttern in den Sarg gelegt, war fie eine Schwefter, von den 
Schweftern. Dann komme id und nagle den Sarg zu. Das 
gehört auch zu meinen Gärtnerpflichten. Ein Gärtner ift immer 
aud ein wenig Zotengräber. Dann Fommt die Teiche in den 
niedrigen Saal in der Rire, der eine Verbindungstür zur 
Straße bat. Nur der Iotenarzt darf da bereinfommen. Mich 
und den Leichenträger rechnen fie namlich nicht zu den Män- 
nern. In diefem Saal vernagle ich den Sarg. Dann holen ibn 
die Zotengräber ab und hü, Kutfcher! fchon geht die Fahrt in 
den Himmel. Kurz, man bringt eine Schachtel hierher, in der 


303 


nichts ift, und trägt eine volle wieder hinaus. Das ift bas 
Leihenbegängnis. De profundis!“ 

Ein Sonnenftrahl glitt über Cofettes fchlafendes Antlis. 
Sie hielt den Mund halb offen und glich einem Engel, der 
Licht bringt. Sean Valjean hatte fid wieder ihr zugewandt und 
hörte nicht mehr auf Sauchelevent. 

Aber daß einem niemand zuhört, muß Fein Grund fein zu 
fchweigen. Der wackere Gärtner feste gemädlich feine Aus— 
führungen fort. 

„Degraben wird fie auf dem Friedhof Vaugirard. Angeblich 
fol er aufgelaffen werden, diefer Friedhof. Er ift fbon febr alt 
und widerfpricht ben jehigen Meglements. Er bat Feine Uniform 
mehr und fol penfioniert werden. Schade, er war fo bequem. 
Ich babe dort einen Freund, den Iotengräber, Papa Meftienne. 
Die Nonnen von bier haben das Privileg, bei Einbrud der 
Naht auf den Friedhof binausgebradt zu werden. Es gibt 
eine Sonderverordnung der Präfektur für fie. Was alles feit 
geftern abend paffiert ift! Mutter Crucifirion ift tot und Vater 
Madeleine..." 

„Begraben“, fagte Sean Daljean traurig lächelnd. 

„Weiß Gott, wenn Sie wirflid ganz hier wären, könnte 
bas einem Grab ziemlich ähnlich werden”, meinte Fauchelevent. 

Zum viertenmal lautete die Glode. Fauchelevent nahm feinen 
Glodenriemen von der Wand und band ihn um fein Knie. 

„Diesmal gilt es mir. Die Mutter Priorin verlangt nad mir. 
Herr Madeleine, warten Sie hier und rühren Sie ſich folange 
nicht. Wenn Sie Hunger haben, dort ift Wein, Brot und Käſe.“ 

Einige Minuten fpäter Flopfte Fauchelevent, deſſen Glödlein 
die Nonnen ringsum aus dem Wege gefheucht Hatte, an eine 
Eleine Tür, und eine fanfte Stimme antwortete: 

„Herein!“ 

Es war die Tür des Sprechzimmers, das für die dienſtlichen 
Meldungen des Gärtners beſtimmt war. Es grenzte an den 
Kapitelſaal. Die Priorin ſaß auf dem einzigen Stuhl des 
Raumes und erwartete Fauchelevent. 


304 





2. Saubelevent der Shwierigfeitgegenüber 


In Eritifhen Fällen fofort den nötigen Ernft und die an- 
gemeffene innere Bewegtheit zur Schau zu ftellen, ift ein Vor— 
recht gewifler Charaktere und Berufe, insbefonders aber der 
Priefter und der Nonnen. Als Fauchelevent eintrat, war beides, 
Ernft und Bewegtheit, auf dem Gefiht der Priorin, der liebens- 
würdigen und gelehrten Mabemoifelle de DBlemeur, genannt 
Mutter Innocentia, die fonft fo heiter war, zu erfennen. 

Der Gärtner grüßte fie fheu und blieb auf der Schwelle 
ftehen. Die Priorin Tieß den Roſenkranz durch ihre Finger 
gleiten, blickte auf und fagte: 

„Ad, Sie find es, Vater Fauvent!“ 

Diefe Abfürzung war im Klofter üblich. 

Fauchelevent grüßte zum zweitenmal. 

„Ich babe Sie rufen laffen, Vater Fauvent.” 

„Hier bin ich, ehrwürdige Mutter.’ 

„Ich babe mit Ihnen zu fprechen.” 

„Und auch ich möchte der ehrwürdigen Mutter etwas ſagen“, 
erwiderte Fauchelevent mit einer Kühnbeit, die ihn felbft in 
Erftaunen feßte. 

Die Priorin fab ibn an. 

„Ad, haben Sie mir eine Mitteilung zu machen?‘ 

„Eine Bitte.’ 

„Gut, ſprechen Sie.’ 

Der madere Fauchelevent gehörte zu jener Sorte von 
Bauern, die gern den Stier bei den Hörnern fafflen. Unwiffen- 
heit, mit Gefchieflichkeit gepaart, ift zumeilen eine Mabt. Man 
achtet ihrer nicht, und fchon bat fie uns untergefriegt. Seit 
mehr als zwei Jahren wohnte er im Klofter und erfreute fid 
allgemeiner Beliebtheit. Da er faft immer einfam und in feinem 
Garten wenig befhäftigt war, hatte er nichts anderes zu fun 
als feine Neugierde zu ftillen. Zwar fab er in dem Abftanp, 
der ihm auferlegt war, die verfchleierten Frauen, die vor ihm 
famen und gingen, nur wie wandelnde Schatten. Danf der 


20 Hugo, Die Elenden. 305 


Aufmerffamfeit, die er ihnen widmete, waren biefe Gefpenfter 
für ihn bald Fleifh und Blut geworden, und die er für tot ge- 
halten, fhienen ibm jeßt lebendig. Es war wie bei den Tauben, 
deren Gefihtsfinn fhürfer wird, oder wie bei den ‘Blinden, die 


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beffer hören. Bald hatte er die Bedeutung der verfehiedenen 
Glockenzeichen begriffen, und jeßt bot ibm bas rätfelbafte ver- 
Ihwiegene Klofter Feine Gebeimniffe mehr. Die Sphinr plau- 
dere ihm ihre Nätfel aus. Fauchelevent wußte alles, ſchwieg 
über alles. Das war fein Trick. Man hielt ibn im Klofter für 


306 


blöde. Blöde fein, das ift im Klofter ein großes Verbienft. Die 
Mütter hielten große Stüde auf ibn. Er war ein fonderbarer 
Kauz von einem Stummen. Flößte Vertrauen ein. Überdies 
war er verläßlich und ging nur aus dem Klofter, wenn glaub- 
bafte Notwendigfeiten und Amtspflihten als Gemüfe- und 
Dbftgärtner ihn dazu zwangen. Diefe Zurüdhaltung wurde ihm 
bo angerechnet. Michtsdeftoweniger hatte er zwei Männer zum 
Sprechen gebradt, im Klofter den Pförtner, der mancdherler 
aus dem Sprechzimmer verraten Fonnte, auf dem Friedhof den 
ZIotengräber, der Einzelheiten über die Begräbnisftätte wußte; 
fo wußte er doppelt über feine Nonnen Befcheid, über ihr 
Leben und über ihren Iod. Doch mißbrauchte er diefe Kennt- 
niffe nicht. Die Kongregation hing an ibm. Alt, lahm, Furz- 
fihtig, ein wenig taub — mehr DBorzüge Fonnte ein einziger 
Mann wirflih nicht aufmweifen! 

Mit dem Selbftbewußtfein eines Mannes, deflen Wert an- 
erfannt wird, begann er jeßt eine ebenfo Fonfufe wie tiefgrün- 
dige Mede vom Stapel zu laffen. Er verbreitete fih zunächſt 
über fein Alter, allerlei Gebrechen, daß zum Deifpiel die letzten 
Jahre geradezu doppelt zählen, dann über die Beſchwerden der 
Arbeit, die Größe des Gartens, die Nachtarbeit (wie unlängit, 
da er wegen des Mondlihts die Melonen hatte einwideln 
müffen), und Fam endlich zu folgendem Ergebnis: er babe einen 
Bruder (Unruhe der Priorin), beileibe Feinen jungen Bruder 
(die Priorin gibt Zeichen der Beruhigung), und diefer Bruder 
würde, wenn es erlaubt wäre, ganz gern zu ibm ziehen und 
ihm bei der Arbeit behilflich fein. Diefer Bruder fei ein ber- 
vorragender Gärtner, der der Kloftergemeinde große Dienfte 
tun würde, beffere, als er, Sauchelevent, tun Eönne. Wenn man 
aber diefen ‘Bruder nicht in Dienft nehmen wolle, müfle er, 
wenn aud mit Bedauern, ausfcheiden, denn er fühle fich feiner 
Aufgabe nicht mehr gewachfen. Überdies habe diefer Bruder 
auch eine Éleine Enkelin, die er mitbringen möchte, um fie im 
Klofter erziehen zu laflen. Wer könne wiffen, ob fie nicht der- 
einft eine gute Monne würde. 


20° 307 


As er mit diefer Rede fertig war, lief die Priorin den 
Roſenkranz ruhen und fagte: 

„Können Sie fih für heute abend eine ftarfe Eifenftange 
verfhaffen ?// 

„Wozu?“ 

„Um ſie als Hebel zu benützen.“ 

„Doch, ehrwürdige Mutter“, antwortete Fauchelevent. 

Ohne ein Wort hinzuzufügen, ſtand die Priorin auf und ging 
in das Nachbarzimmer, den Kapitelſaal, wo die Mütter offen— 
bar verſammelt waren. Fauchelevent blieb allein. 


3. Mutter Innocentia 


Eine Viertelſtunde verſtrich. Endlich kam die Priorin zurück 
und nahm Platz. 

Beide, die Priorin und Vater Fauchelevent, fhienen ernften 
Gedanken nadhzuhängen. Wir wollen bas Geſpräch, das fich er- 
gab, nach unferem beften Können wiedergeben, als ob wir mit- 
ftenographiert hätten. 

„Vater Fauvent?“ 

„Ehrwürdige Mutter?“ 

„Sie kennen die Kapelle?“ 

„Ich habe eine kleine vergitterte Bank darin, um dem 
Gottesdienſt beizuwohnen.“ 

„Waren Sie ſchon einmal im Chor?“ 

„Zwei⸗ oder dreimal.” 

„Es handelt fih darum, eine Steinplatte zu heben.‘ 

„Iſt fie Schwer?” 

„Es ift die Steinfliefe neben dem Alter.” 

„Der Stein, der das Grabgewölbe abſchließt?“ 

„Ja.“ 

„Wieder ſo eine Gelegenheit, wo zwei Männer beſſer am 
Platz ſind als einer.“ 

„Mutter Aſcenſion iſt ſtark wie ein Mann. Sie wird Ihnen 
helfen.“ 


308 


„Eine Frau ift niemals ein Mann.” 

„Wir können Ihnen aber nur eine Frau als Helferin zur 
Verfügung ftellen. jeder tut, was er kann. Weil Mobillon vier- 
bundertundfiebzehn Briefe des heiligen DBernardus und Mer- 
lonus Horftius nur dreihundertfiebenundfechzig Briefe desfelben 
mitzuteilen weiß, verachte ich den Merlonus Sorftius doch nicht.‘ 

„Ich auch nicht.” 

„Das Berbienft befteht darin, nach beften Kräften zu wir- 
fen. Ein Klofter ift Feine Zimmermannswerfftatt.’ 

„Und eine Frau ift Fein Mann. Mein Bruder, der ift ſtark!“ 

„Außerdem haben Sie ja einen Hebel.’ 

„Das ift der einzige Schlüffel, mit dem man ſolche Türen 
aufkriegt.“ 

„Und in dem Stein iſt ein Ring.“ 

„Da ſtecke ich den Hebel hinein.“ 

„Und die vier erſten Sängerinnen unter den Müttern vom 
Chor können Ihnen helfen.“ 

„Wenn wir aber das Gewölbe offen haben?“ 

„Dann muß man es wieder zumachen.“ 

„Das iſt alles?“ 

„Nein.“ 

„Ich bitte um Ihre Befehle, ehrwürdigſte Mutter.“ 

„Fauvent, Sie genießen unſer Vertrauen.“ 

„Ich bin hier, um alles zu tun.“ 

„Und um über alles zu ſchweigen.“ 

„Jawohl, ehrwürdige Mutter.“ 

„Wenn das Gewölbe geöffnet iſt ...“ 

„Dann mach' ich es wieder zu.“ 

„Aber vorber ...“ 

„Was, ehrwürdige Mutter?“ 

„Man muß etwas hinunterlaſſen.“ 

Schweigen trat ein. Die Priorin ſchob die Unterlippe vor, 
als ob ſie zögere, dann nahm ſie das Geſpräch wieder auf. 

„Vater Fauvent?“ 

„Ehrwürdige Mutter?“ 


309 


„Sie wiflen, daß eine Mutter im Haufe geftorben ift, heute 
morgen.‘ 

„Nein.“ 

„Haben Sie denn die Glocke nicht gehört?“ 

„Hinten im Garten hört man nichts.“ 

„Wahrhaftig nicht?“ 

„Kaum daß ich es höre, wenn Sie nach mir ſchellen.“ 

„Sie iſt bei Tagesanbruch geſtorben.“ 

„Uberdies weht der Wind um dieſe Zeit nach der anderen 
Seite.“ 

„Es iſt Mutter Crucifixion, eine Selige.“ 

Die Priorin ſchwieg, bewegte die Lippen wie zu einem ſtillen 
Gebet, dann fuhr ſie fort: 

„Vor drei Jahren hat ſich eine Janſeniſtin, Madame de 
Béthune, zum wahren Glauben bekehrt, nachdem ſie Mutter 
Crucifixion beten geſehen hatte.’ 

„Ah, jetzt höre ich auch die Glocke, ehrwürdige Mutter!“ 

„Die Mütter haben ſie in die Totenkammer getragen, die 
an die Kirche ſtößt.“ 

„Ich weiß.“ 

„Kein anderer Mann als Sie kann und darf dieſen Raum 
betreten. Das wäre ja ſchön, wenn ein Mann in unſere Toten- 
fammer käme!“ Die Priorin wechfelte das Thema. „Bei ihren 
Lebzeiten fhon bat Mutter Crucifirion Befehrungen vollbrabt. 
Mad ihrem Tode wird fie Wunder tun.” 

„Unbedingt“, erwiderte Sauchelevent. 

„Vater Fauvent, unfere Gemeinde ift in Mutter Erueifirion 
gefegnet. Ohne Zweifel ift es nicht aller Welt gegeben, zu 
fterben wie Kardinal Berulle, den der Tod antrat, während er 
die Mefle las; er baucdbte feine Seele bei den Worten ‚Hanc 
igitur oblationem‘ aus. Aber wenn Mutter Crucifirion aud) 
eines folhen Glücks nicht teilhaftig wurde, fo hat fie doch einen 
febr Schönen Tod gehabt. Sie blieb bis zum lebten Augenblic 
bei vollem Bewußtſein. Sie ſprach mit uns und fpäter mit den 
Engeln. Auch Eonnte fie uns ihren Iekten Willen aufgeben. 


310 


Wenn Sie etwas mehr Glauben hätten und ın der Zelle ge- 
wefen wären, gewiß hätte fie mit einer einzigen Berührung ihr 
Dein geheilt. Sie lächelte. Man fühlte, wie fie fib Gott 
näherte. In diefem Tode war ein Vorgeſchmack vom Paradies.’ 

Fauchelevent glaubte, dies fei dag Ende eines Gebetes. 

„Amen“, fagte er. 

„Vater Fauvent, man muß den Willen der Ioten erfüllen.‘ 

Mieder nahm fie einige Kügelhen ihres Roſenkranzes durd. 
Fauchelevent fchwieg. 

„Ich babe heute nacht über diefe Trage mit mehreren Got- 
tesgelahrten gefprochen,” fuhr fie fort, ‚die mit den Regeln 
bes geiftlichen Lebens vertraut find. Überdies handelt es fi 
hier nicht um eine gewöhnliche Iote, fondern um eine Heilige.” 

„Wie Sie, ehrwürdige Mutter.’ 

„Sie fchlief feit zwanzig Jahren in ihrem Sarg. Sie hatte 
eine befondere Erlaubnis unferes heiligen Vaters Pius VII.’ 

‚Desfelben, der den Rai . . ., den Bonaparte gefrönt hat.’ 

Für einen gefhidten Burfhen wie Fauchelevent war diefe 
Erwähnung ein arger Bot. Glüdlihermeife war die Priorin 
fo in ihren Gedanfen verfunfen, daß fie nichts bemerkte. 

„Vater Fauvent?“ 

„Ehrwürdige Mutter?“ 

„Der heilige Diodorus, Erzbiſchof von Capadocien, befahl, 
daß auf ſeinem Grabe das einzige Wort acarus ſtehen ſollte. 
Das bedeutet: Wurm auf der Erde. Und es wurde ſo getan. 
Iſt das etwa nicht wahr?“ 

„Unzweifelhaft, ehrwürdige Mutter.“ 

„Der ſelige Mezzocane, Abt von Aquila, wollte unter einem 
Galgen begraben ſein. Auch ſeinem Willen wurde gefolgt.“ 

„Sehr richtig.“ 

„Der heilige Terentius, Biſchof des Hafens an der Tiber— 
mündung, verlangte, auf ſeinem Grabſtein ſolle das Zeichen 
ſtehen, mit dem man die Grabſteine der Vatermörder kenntlich 
machte. Das tat er in der Hoffnung, die Vorübergehenden 


311 


würden auf fein Grab fpeien. Und fo geſchah es. Man muß 
den Toten gehorchen.“ 

„Sp ift eg.’ 

„Der Leihnam des Sernarbus Guido, der in Frankreich ge- 
boren war, bei Roche-Abbeille, wurde, wie er es verlangt hatte, 
und obwohl der König von Kaftilien Einſpruch erhob, in die 
Dominifanerfirde nad Limoges gebracht und das, obzwar Ber- 
nardus Guido Bifhof von Tuy in Spanien war. Darf etwa 
jemand das Gegenteil behaupten?’ 

„Gewiß nicht, ehrwürdige Mutter.” 

„Plantavit de Ia Foſſe bezeugt diefen Tatbeſtand.“ 

Mieder glitten einige Derlen des Roſenkranzes durch ihre 
Finger. 

„Vater Sauvent, Mutter Erueifirion muß in demfelben 
Sarge beftattet werden, in dem fie zwanzig Jahre lang ge- 
fhlafen hat.” 

„Das iſt nur recht und billig.’ 

„Es ift die Fortfeßung ihres Schlafes.“ 

„Demnach fol ich alfo diefen Sarg zunageln.” 

„Ja.“ 

„Und den von der Beſtattungsanſtalt laſſen wir beiſeite?“ 

„So iſt es.“ 

„Ich ſtehe der ehrwürdigen Gemeinde zur Verfügung.“ 

„Die vier Mütter Sängerinnen werden Ihnen helfen.“ 

„Um einen Sarg zu vernageln? Dazu brauche ich ſie nicht.“ 

„Nein, aber um ihn hinabzulaſſen.“ 

„Wo hinab?“ 

„In das Gewölbe.“ 

Fauchelevent fuhr auf. 

„In das Gewölbe unter dem Altar?“ 

„Unter dem Altar.“ 

PAIE, ARR 

„Sie haben eine Eifenftange.‘ 

a. aber... 


312 


„Sie heben den Stein, indem Sie die Stange in den Ming 
ſchieben.“ 

He. 1.1 

„Den Toten muß Gehorfam werden. Es ift der letzte Wunſch 
der Mutter Crucifirion, in dem Gewölbe unter dem Altar be- 
ftottet zu werden, und nicht in profaner Erde zu ruhen. Sie 
bat ung darum gebeten. Das bedeutet: fie bat e8 ung befohlen.” 

„Das ift aber doch verboten.‘ 

nBerboten von den Menfchen, befohlen von Gott.’ 

„Wenn das aber herausfommt?‘ 

„Wir vertrauen Ihnen.“ 

„Oh, ich bin ein Stein in Ihrer Mauer.“ 

„Das Kapitel iſt verſammelt. Ich babe die Mütter befragt, 
und ſie haben entſchieden, daß Mutter Crucifixion ihrem Ge— 
lübde gemäß in ihrem Sarg und unter unſerem Altar be— 
ftattet wird. Sagen Sie ſelbſt, Vater Fauvent... wenn bier 
in diefem Haufe Wunder gefheben follten?! Welcher Ruhm 
für die Gemeinde! Wunder fteigen aus den Gräbern auf.” 

‚Aber, ehrwürdige Mutter, wenn der Agent der Sanitäts- 
fommiffion . . .// 

‚Der beilige Denedistus II. bat in der DBegräbnisfrage 
dem Conftantinus Pogonatus Widerftand geleiftet.‘ 

„Doch der Polizeifommiflär . . .” 

„Shonodemariug, einer der fieben deutfchen Könige, die unter 
der Regierung des Conftantius in Gallien einfielen, hat aus- 
drücklih das Recht der Klofterinfoflen anerkannt, in ihren Klö— 
ftern begraben zu werden: alfo unter dem Hochaltar.‘ 

„Aber der Inſpektor von der Präfektur...” 

„Die Welt vermag nichts wider das Kreuz. Martinug, der 
elfte General der Kortäufer, gab feinem Orden diefen Wahl- 
fprud: Stat crux dom volvitur orbis.“ 

„Amen“, fagte Sauchelevent. Er war nicht davon abzubrin- 
gen, fih fo aus der Affäre zu ziehen, wenn in feiner Mähe 
Latein gefprochen wurde. 

Seder Zuhörer genügt einem Spreder, der lange fehmweigen 


313 


mußte. Der Rhetor Gymnastoras blieb, als er aus dem Ge- 
fängnis entlaffen wurde, vor dem erftbeften Baum fteben und 
gab fi) die größte Mühe, ibm alle die Probleme und Syllo— 
gismen zu erklären, die er inzwifchen hatte bei fi) behalten 
müffen. Auch die Priorin unterftand bem Schweigegebot. Ihre 
Schleuſen waren unter höchſtem Drud, und fo ergoß fie denn 
wie einen Strom folgende Rede über den alten Vater Fauche— 
levent. 

„Zu meiner Nechten habe ih Benedictus, zu meiner Linfen 
Bernardus. Wer ift diefer DBernardus? Der erfte Abt von 
Clairvaur. Fontaines in Burgund ift der gefegnete Ort, an 
dem er zur Welt fam. Sein Vater hieß Tecelin, feine Mutter 
Ulethe. Er begann mit Citeaur und vollendete fein Werf mit 
Clairvaur. Von dem Bifhof von Chälons-fur-Saöne, Guil- 
laume de Cbamypeaur, wurde er zum Abt geweiht. Er hatte 
fiebenhundert Movizen und gründete hundertfehzig Klöfter. Er 
war es, der 1140 auf dem Konzile zu Sens Abeilard, Pierre 
de Bruys und feinen Schüler Henry niederfämpfte, fpäter auch 
noch eine andere Art von Abtrünnigen, die fib Apoftolifer 
nannten. Er wiberlegte den Arnaldo von Brescia, fprad den 
Bann aus wider den Mönch Raoul, den Judenſchlächter, be- 
herrfchte 1148 bas Konzil zu Reims, ließ den Gilbert de la 
Porée, Bifhof von Poitiers, verurteilen, item den Eon de 
l'Etoile, ſchlichtete Streitigkeiten zwifchen den Fürften, war der 
Matgeber König Ludwigs des ungen und des Paypftes 
Eugen III. ordnete die Angelegenheiten des Templerordens, 
predigte den Kreuzzug und fat nicht weniger als zweihundert- 
fünfzig Wunder in feinem Leben; einmal bradte er es an 
einem Tage bis auf neununddreißig. Und wer ift Benedictug? 
Der Patriarh von Monte Caffino; er ift der zweite Begründer 
des Klofterwefens, der Dafilius des Weftens. Sein Orden bat 
vierzig Päpſte, zweibundert Kardinäle, fünfzig Patriarchen, 
taufendfehshundert Erzbifchöfe, viertaufendfehshundert Bi— 
fhôfe, vier Kaifer, zwölf Kaiferinnen, fehsundvierzig Könige, 
einundvierzig Königinnen, dreitaufendfehshundert Éanonifierte 


314 


Heilige hervorgebracht und befteht über vierzehnhundert Sabre. 
Die Sanct Bernardus, bie Sanitätsfommiffion! Hie Sanct 
Benedictus, hie Inſpektorat der Wegepolizeil Der Staat, die 
Polizei, die Leichenbeftattungsanftalt, Fennen wie diefe Dinge 
überhaupt? Nicht wenige Leute wären recht erbittert, wenn fie 
feben müßten, wie man uns behandelt. Man laßt uns nicht 
einmal dag Net, unferen Staub Yefus Chriſtus zu geben. 
Ihre Sanitätsfommiffion ift eine Erfindung der Nevolution. 
Gott als Untergebener des Polizeifommiffariats — bas ift 
unfer Yabrbundert. Schweigen Sie, Fauvent!’ 

Sauchelevent fühlte fit unter diefer Dufche nicht gerade wohl, 
aber die Priorin fuhr fort: 

„Das Anrecht des Klofters auf eigene Gräber darf niemand 
bezweifeln, und nur Sanatifer und im Irrtum Befangene Fön- 
nen es leugnen. Wir leben in einer Zeit furdtbarer Unfiber- 
heit aller Begriffe. Man ift unwiffend in allen Dingen, die zu 
wiflen verlohnt, aber man weiß alles mögliche, was beffer un- 
gewußt bliebe. Man ift kraß und unfromm. Es gibt in diefer 
Zeit Menfhen, die den Unterfchied zwiſchen bem erhabenen 
Sanet Bernardus und dem fogenannten Bernhard von ben 
ormen Katholiken, einem waderen Driefter aus bem drei- 
zehnten Jahrhundert, nicht wiffen! Andere wieder find ſolche 
Lüfterer, daß fie das Schafott Ludwigs XVI. mit dem Kreuz 
Cbrifti vergleichen. Ludwig XVI. war bod nur ein König. 
Hüten wir uns vor Gottes Unwillen! Schon weiß man nicht, 
was Gut und Böfe ift. Man Éennt den Namen eines Voltaire, 
weiß aber nicht, wer Céfar de Bus war! Und bob war Céfar 
de Bus ein Seliger und Boltaire ein Unfeliger! Der lefte 
Erzbifchof, der Kardinal von Périgord, wußte nicht einmal, daß 
Charles de Gondren der Nachfolger des Vérulle war, und 
Francois DBourgoin der des Gondren, und jean François 
Senault der des DBourgoin, und Pater de Sainte Marthe 
der des Yean Francois Senault. Man kennt den Mamen 
des Pater Coton, nicht weil er einer von ben breien war, 
welche die Einführung des Oratoriums durcdfesten, fondern 


317 


weil der bugenottifhe König Seinrib IV. über ibn unflätige 
Sachen fagte. Die Weltleute finden unferen Heiligen Franz 
von Sales Tiebenswert, weil er beim Spiel mogelte. Und 
man greift die Meligion an. Warum? Weil es fchlechte 
DPriefter gegeben hat, weil Sagittaire, Bifhof von Gap, der 
Bruder des Salone, Bifhof von Embrun war und weil beide 
die Nachfolger Mommols waren. Aber was liegt daran? ft 
darum Martin von Tours weniger ein Heiliger und bat er 
nicht die Hälfte feines Mantels einem Bettler gejhentt? Man 
verfolgt die Heiligen, man verfchließt die Augen gegen die 
Mahrheit. Die wildeften Tiere find die wildeften Beſtien. Mie- 
mand fürchtet die hölfifchen Feuer. O über diefes fchlechte Wolf! 
„Im Namen des Könige“ bedeutet heute ebenfoviel wie ‚im 
Namen der Revolution‘. Man weiß nicht, was man den Toten 
und den Lebenden fchuldet. Es ift verboten, als Heiliger zu 
fterben. Das Begräbnis ift eine Angelegenheit der Zivilbehörde. 
Es ift fhauderbaft. Der heilige Leo II. bat eigens zwei ‘Briefe 
geichrieben, einen an den Petrus Motarius, den andern an den 
König der Weftgoten, um die Autorität des Erarhen und die 
Suprematie des Kaifers in allen Fragen der Totenbeftattung 
anzufechten. Gautier, Bifhof von Chälons, wiberfeste fih in 
berfelben Sache dem Herzog Dthon von Burgund. Sogar die 
Beamten waren auf feiner Seite. Früher hatten wir vom Ka— 
pitel auch in weltlichen Dingen etwas zu fagen. Der Abt von 
Citeaur, ein Orbensgeneral, war erblihes Mitglied des bur- 
gundifchen Parlaments. Wir tun mit unferen Toten, was wir 
wollen. Iſt etwa der Leichnam des heiligen Benediectus nicht in 
Frankreich, in der Abtei von Fleury, die jest Saint-Benoit- 
fur-Loire heißt, obwohl er in talien, in Monte Caffino, ftarb, 
und zwar am Sonnabend den einundzwanzigften März 543? 
Alles das ift unanfechtbar. Sch verabfheue die Pfalanten, ich 
verabſcheue die Brüder vom freien Gebet, ich baffe die Keker, 
aber einen Menfchen, der meinen Behauptungen widerfpredhen 
wollte, würde ich noch mehr verurteilen. Man braucht, um bar- 
über volle Klarheit zu erlangen, nur die Werke folgender 


316 


Sobriftfteller zu Iefen: Arnoult Wion, Gabriel Buselin, Tri- 
themius, Maurolicus und dom Luc d'Achery.“ 

Test fhôpfte die Priorin Atem und wandte fi wieder 
Sauchelevent zu: 

„Vater Fauvent, abgemacht?“ 

„Abgemacht.“ 

„Wir können auf Sie zählen?“ 

„Ich werde gehorchen.“ 

„Brav!“ 

„Ich bin dem Kloſter ganz ergeben.“ 

„Wohlverſtanden: Sie verſchließen den Sarg. Die Schwe— 
ſtern tragen ihn in die Kapelle. Es folgt das Totenamt. Dann 
gehen alle ins Kloſter zurück. Zwiſchen elf und Mitternacht 
kommen Sie mit Ihrer Eiſenſtange. Alles wird ganz im ſtillen 
beſorgt. In der Kapelle ſind nur die vier Mütter Sängerinnen, 
Mutter Aſcenſion und Sie. Sie dürfen nicht vergeſſen, die 
Glocke abzunehmen.“ 

„Ehrwürdige Mutter?“ 

„Ja?“ 

„War der Totenbeſchauer ſchon da?“ 

„Er kommt um vier Uhr. Das Zeichen wurde ſchon gegeben. 
Hören Sie es denn nicht?“ 

„Ich achte nur auf mein Zeichen.“ 

„Das iſt brav von Ihnen, Vater Fauvent.“ 

„Ehrwürdige Mutter, ich brauche eine Stange von minde— 
ſtens ſechs Fuß Länge.“ 

„Wo wollen Sie die hernehmen?“ 

„Wo es Gitter gibt, fehlt es auch nicht an Eiſenſtangen. Ich 
habe eine Menge Eiſenzeug hinten im Garten.“ 

„Alſo drei viertel Stunden vor Mitternacht. Vergeſſen Sie 
nicht!“ 

„Ehrwürdige Mutter?“ 

„Was gibt's?“ 

„Wenn Sie vielleicht noch ſolche Aufträge hätten... mein 
Bruder iſt ſehr ſtark. Der reinſte Türke.“ 


317 


„Machen Sie e8 fo rafh wie möglich.” 

„Sehr fhnell fann id es nicht. Sch bin fon ein alter 
Menſch. Gerade darum brauche ich ja den Gebilfen. Au bin 
ich lahm.” 

„Lahm fein ift Feine Schande, eher ein Segen. Der Kaifer 
Heinrich II., der den Gegenpapft Gregor befämpfte und Bene— 
diet VIII. wieder einfeßte, hatte zwei Beinamen: Der Heilige 
und Der Labme. Aber vergeffen Sie nicht, Vater Fauvent, 
das Totenamt beginnt um Mitternacht. Alles muß eine gute 
DViertelftunde vorher fertig fein.’ 

„Ich werde mich bemühen, der Gemeinde meinen Eifer zu 
bemeifen. Zwei Männer hätten die Sade beffer gefhafft. Die 
Megierung fol nichts davon ahnen. Iſt alles fo in Ordnung, 
ehrwürdige Mutter?‘ 

„Nein.“ 

„Was gibt's denn noch?“ 

„Wir haben noch nicht für den leeren Sarg geſorgt.“ 

Wieder folgte eine Pauſe. Fauchelevent und die Priorin 
dachten nach. 

„Vater Fauvent, was ſoll mit dem leeren Sarg geſchehen?“ 

„Nun, der wird begraben.“ 

„Leer?“ 

Wieder eine Pauſe. Fauchelevent machte mit der Linken eine 
Geſte, wie wenn er eben eine beunruhigende Frage gelöſt hätte. 

„Ehrwürdige Mutter, ich nagle auch dieſen Sarg in dem 
niedrigen Saal in der Kirche zu. Niemand außer mir braucht 
dorthin zu kommen. Dann breite ich das Totentuch darüber.“ 

„Ja, aber wenn die Träger kommen und den Sarg in den 
Leichenwagen bringen, und die Totengräber, wenn ſie ihn hin— 
einlaſſen ... die werden doc merken, daß nichts drin iſt!“ 

„Hol's der Ten. 

Die Priorin befreuzigte fih und fab den Gärtner ftreng an. 
Der ...fel blieb in der Kehle ftecfen. 

Er beeilte fich, eine gute Idee vorzubringen, damit fein Fluch 
in Vergeſſenheit gerate. 


318 


„Ehrwürdige Mutter, ich tue Erde in den Sarg. Das wiegt 
ebenfoviel wie ein Menſch.“ 

„Sie baben redbt. Erde und Menſch ift das gleiche. Sie 
wollen alfo die Sache mit dem leeren Sarg in Ordnung bringen.” 

„Alles fol erledigt werden.” 

Das Gefiht der Priorin, das bisher düfter gewefen wor, 
heiterte fih auf. Sie entließ den Gärtner mit einem Wink, 
und Fauchelevent ging zur Türe. Als er fie eben öffnen wollte, 
fagte die Priorin fanft: 

Vaater Fauvent, id bin zufrieden mit Ihnen. Führen Sie 
mir morgen na dem Segräbnis Ihren Bruder vor und jagen 
Sie ihm, er foll die Kleine mitbringen.‘ 


4. Sean Baljean fheint Auftin Eaftillejo 
gelefen zu haben 


Die Schritte eines Lahmen find wie die Blicke des Ein- 
Gugigen, fie Eommen langſam ans Ziel. Überdies war Fauche— 
levent fehr verfonnen. In diefem Zuftand braudte er eine 
Viertelftunde, um in feine Oartenbarade zurücdzufehren. 

„Jun, wie ftebt 8?" fragte Sean Valjean. 

„Die Schwierigfeiten find behoben, und fie find aud wieder 
nicht behoben. Ich babe die Erlaubnis, Sie einzulaffen; aber 
bevor ich von ihr Gebraud machen Fann, müflen Sie erft bin- 
ausfommen. Darüber ftolpern wir. Für die Kleine ift geſorgt.“ 

erden Sie fie hinaustragen?” 

„Bird fie Schweigen?‘ 

„Dafür bürge ich.” 

„Aber Sie, Vater Madeleine? Gehen Sie bob da hinaus, 
wo Sie hereingefommen find!’ 

Sean Valjean befchränfte fi) darauf, wie das erftemal zu 
antworten: 

„Unmöglich.“ 

Fauchelevent, der eher mit ſich ſelbſt zu ſprechen ſchien, 
murmelte: 


319 


‚Die andere Sade geht mir auch im Kopf herum. Sch babe 
gefagt, id werde Erde hineintun, aber Erde ftatt einen Men- 
fhen, das tft ganz etwas anderes, dag rutſcht und verfchiebt bas 
Gleichgewicht. Die Träger werden es gleich merken. Verfteben 











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Sie, Vater Madeleine, die Megierung wird uns darauf 
kommen.“ 

Jean Valjean ſah ihn ſcharf an, denn er hielt ihn für be— 
trunken. 

„Wie zum Teu..., na, fagen wir Deubel, wie ſollen Sie 


320 


binausfommen? Und alles bas muß morgen gefheben! Morgen 
fol ih Sie au bereinbringen. Die Priorin erwartet Sie.’ 

Sept erklärte er Jean Valjean, daß es fih um eine Belob- 
nung für einen Dienft handle, den er, Fauchelevent, der Ge- 
meinde geleiftet. Er erzählte ihm alles, was vorgefallen war. 

„Bas tu” ich nur mit dem leeren Sarg?” ſchloß er. 

„zegen Sie etwas hinein.’ 

„Einen Toten? Ich hab’ doc feinen.’ 

„Nein.“ 

„Was dann?“ 

„Einen Lebenden.“ 

„Wen denn?“ 

„Mich“, ſchlug Jean Valjean vor. 

Fauchelevent fuhr auf, als ob eine Bombe unter ſeinem 
Stuhle geplatzt wäre. 

„Sie?“ 

„Warum nicht?“ 

Jean Valjean lächelte ſo ſelten wie die Sonne im Winter 
ſcheint, aber jetzt lächelte er. 

„Erinnern Sie ſich, Fauchelevent, wie Sie geſagt haben: 
Mutter Crucifirion iſt tot. Da babe ich Hinzugefügt: und 
Vater Madeleine begraben. Sp fteht die Sache.’ 

„Ah fo, Sie mahen Spaß!’ 

„Ganz und gar nicht. Ich meine es todernft. Ich babe 
Ihnen doch gefagt, Sie follen aud für mich eine Butte und 
eine Plane beforgen. Nun, die Butte wird aus Tannenholz 
fein, ein Sarg, und die Plane ein ſchwarzes Tuch.” 

„Ein weißes Tuch. Nonnen befommen ein weißes Tuch.” 

„Bon mir aus ein weißes.’ 

„Sie find Fein gewöhnlicher Menfh, Vater Madeleine!’ 

Diefe verwegene, wilde Idee, die fupifhe Erfindung eines 
Bagnofträflings, die hier den friedlihen Trott des Klofter- 
lebens durchbrechen follte, verſetzte Fauchelevent in Fein ge 
ringeres Staunen als etwa eine Möve einem Parifer, der ihr 
auf der Rue Saint-Denis begegnet. 


21 Hugo, Die Elenden. 321 


„Ber vernagelt den Sarg?’ fragte Sean Valjean. 

„Ich.“ 

„Wer breitet das Tuch darüber?“ 

„Wiederum ich.“ 

„Sind Sie allein?“ 

„Außer mir und dem Polizeiarzt darf niemand in die Toten— 
kammer. Es ſteht ſogar an der Wand aufgeſchrieben.“ 

„Können Sie mich heute nacht, wenn alles im Kloſter ſchläft, 
in dieſer Kammer verbergen?“ 

„Nein, aber ich kann Sie in einem kleinen ſchwarzen Loch 
verſtecken, das zur Totenkammer führt, in dem ich meine Be— 
gräbnisgeräte aufbewahre. Nur ich habe den Schlüſſel dazu.“ 

„Wann ſoll der Leichenwagen kommen, um den Sarg ab— 
zuholen?“ 

„Gegen drei Uhr nachmittags. Das Begräbnis findet auf 
dem Friedhof Vaugirard ſtatt, kurz vor Einbruch der Nacht. 
Er ift nicht ganz nahe.” 

„Gut, ich bleibe in Ihrem Gerätfaften während der Nacht 
und über Vormittag. Aber was effe ich? Sch werde Hunger 
haben.” 

„Etwas zu effen findet ſich.“ 

„Dann fônnen Sie mid gegen zwei Uhr vernageln.” 

Sauchelevent lie die Finger Enaden. 

‚Aber das ift doch ganz unmöglich!” 

nPab, einen Hammer nehmen und damit ein paar Mägel in 
ein Brett ſchlagen?“ 

Mas Fauchelevent unerhört fhien, war für Sean Valjean 
höchſt einfah. Er hatte Schlimmeres erlebt. Wer Gefangener 
war, beberrfdt die Kunft, feine Körperlänge nad dem Loch zu 
regulieren, durch bas man entfliüpfen kann. Sic vernageln 
laffen und in einer Kifte wie ein Stüf Ware transportieren, 
längere Zeit in einer Holzfifte leben, Luft finden, wo feine ift, 
ftundenlang den Atem fparen, erftiden ohne zu fterben, alles 
bies gehörte zu den Talenten Sean Valjeans. 

Übrigens bat der Sarg nicht nur Sträflingen, fondern au 


322 


einem Kaifer als Transportmittel gedient. Wenn man dem 
Mönch Auftin Caftillejo glauben will, bediente fi Karl V. 
diefes Mittels, als er nach feinem Ihronverzicht nod einmal 
die Plombes fehen wollte, um fie in das Klofter des heiligen 
Juſtus und wieder herauszufchmuggeln. 

Sauchelevent hatte fih ein wenig beruhigt. 

„Wie wollen Sie denn atmen?‘ 

„Ich werde eben atmen.‘ 

„In fol einer Kifte! Wenn ich daran denfe, möchte id er- 
ſticken.“ 

„Sie haben gewiß einen Bohrer. Machen Sie in Mund— 
höhe ein paar Eleine Löcher und nageln Sie den Dedel zu, 
ohne ihn allzu feft an den Sarg zu preſſen.“ 

„Gut! Aber wenn Sie buften oder niefen?’ 

„Ber flieht, buftet nicht und nieft nicht. Meine einzige 
Sorge ift, wie fih die Sache auf dem Friedhof regeln läßt.“ 

„Gerade das beunruhigt mid am wenigften‘‘, meinte 
Sauchelevent. „Wenn Sie ficher find, daß Sie es in dem Sarg 
aushalten, aus der Grube Hole ih Sie fon wieder. Der 
Zotengräber ift ein alter Säufer, ein guter Freund von mir. 
Pater Meftienne, ein Alter, der gern den alten Wein trinkt. 
Der Zotengräber ſteckt die Toten in den Graben, ich ftedfe den 
Zotengräber in den Sad. Wie, das follen Sie gleich hören. 
Mir kommen gegen Sonnenuntergang draußen an, etwa drei 
Viertelftunden, bevor das Gittertor des Friedhofs gefchloffen 
wird. Der Seibenmagen fährt bis zur Grube. Ich hinterher. 
Das ift meine Pflicht. Ich babe einen Hammer, eine Zange 
und ein Stemmeifen in der Taſche. Der Wagen hält an, die 
Zräger fdlingen ein Seil um den Sarg und laffen ihn in die 
Grube hinab. Der Priefter fagt feine Gebete her, macht das 
Kreuz, fprengt Weihwaſſer über den Sarg und geht. Ich bleibe 
mit Vater Meftienne allein. jest gibt es zwei Möglichkeiten. 
Entweder ift er fon voll, oder er ift es noch nicht. Im erfteren 
Salle fag’ ich zu ihm: Komm, wir heben einen, bevor der ge- 
mütlihe Winfel gefperrt wird. Dann nehme ich ibn mit, fchenfe 


21% 323 


ihm wacker ein, trinke ihn unter ben Tifh, nehme feine Legiti- 
mation aus feiner Taſche und gehe allein wieder auf den Grieb- 
bof. Sie haben weiter nichts zu tun dabei. ft er fhon voll, 
dann fage ich einfach: Fahr ab, ih mad’s allein. Er geht und 
ich ziehe Sie aus dem Loch.“ 

jean Baljean reichte ihm die Hand hin, in die Fauchelevent 
herzlich einfchlug. 

„Abgemacht, alles wird gut gehen!‘ 


5, Nicht einmal Säufer ſind unſterblich 


Als am nächſten Tage die Sonne ſich anſchickte unterzugehen, 
begrüßten die ſpärlichen Paſſanten des Boulevard du Maine 
ehrfurchtsvoll einen ſehr altmodiſchen, mit Totenköpfen, Knochen 
und Tränen verzierten Leichenwagen. In dieſem befand ſich ein 
Sarg, der, mit einem weißen Tuch bedeckt, von einem ſchwarzen 
Kreuz gekrönt war. Eine Equipage folgte, in der ein Prieſter 
im Chorhemd und ein Chorknabe mit einem roten Käppchen 
ſaß. Zwei Leichenträger in grauer Uniform mit ſchwarzen Auf— 
ſchlägen gingen zur Rechten und Linken des Leichenwagens. 
Ganz zum Schluß kam ein alter Mann im Arbeitskittel, der 
hinkte. Dieſer ganze Zug ſtrebte dem Friedhof Vaugirard zu. 

Aus der Taſche des Arbeiters ragte ein Hammer, ein 
Stemmeiſen und eine Zange hervor. 

Der Friedhof Vaugirard nimmt unter den Friedhöfen von 
Paris eine Sonderſtellung ein. Er hat ſeine eigentümlichen Ge— 
bräuche, zum Beiſpiel ein beſonderes Tor für Wagen und eines 
für Fußgänger. Die Bernhardinerbenediktinerinnen von Petit— 
Piepus hatten, wie wir bereits ſagten, die Erlaubnis erwirkt, 
in einer beſonderen Ede beſtattet zu werden — dieſes Terrain 
gehörte ganz ihrer Gemeinde. Die Totengräber hatten, da dort 
auch des Abends Beerdigungen ftattfanden, im Sommer fpät- 
abends und im Winter fogar des Nachts Dienft und mußten 
fi einem befonderen Reglement unterwerfen. Die Tore der 
Friedhöfe von Paris wurden damals mit Sonnenuntergang 


324 


geichloffen. Das war eine Verordnung des Magiftrats, der fit 
aud der Friedhof Vaugirard nicht widerfeßen fonnte. Die bei- 
den Tore waren vergittert und lagen neben einem Pavillon, 
den der Friedhofspförtner bewohnte. Mit unerbittlicher 
Strenge wurden fie abgeriegelt, fobald die Sonne hinter dem 
Dom des invalides verfhwand Wenn ein Totengräber den 
Friedhof um diefe Zeit noch nicht verlaffen hatte, fo gab es für 
ihn nur eine Möglichkeit wieder herauszukommen: feinen 
Zotengräberausweis. Eine Art Bricffaften war am Fenfter der 
Pförtnerwohnung angebrabt. Der Iotengräber warf die Karte 
hinein und der Pförtner, der fie berabfallen hörte, 309 an der 
Schnur, fo daß bas Fußgängertor ſich öffnete. Hatte der Toten- 
gräber feine Karte nicht bei fib, fo mußte er feinen Namen 
nennen. Der Pförtner, der oft fhon im Bett lag, ftand auf, 
um ibn feftzuftellen, und öffnete die Tür mit dem Schlüffel. So 
fonnte der Iotengräber heraus, mußte aber fünfzehn Sranfen 
Strafe zahlen. 

Die Sonne war nod nicht untergegangen, als der Leichen- 
wagen in die Straße des Friedhofs Vaugirard einbog. 

Mutter Erueifiriong Beerdigung unter dem SHauptaltar, 
Cofettes Wegfhaffung aus dem Klofter, Sean Valjeans Ein- 
fhmuggelung in den Totenfaal und in den Sarg — alles war 
gelungen. 

Sauchelevent fpazierte fehr zufrieden hinter dem Teichenwagen 
einher. Sein Doppelfomplott, bas eine zugunften der Monnen, 
bas andere zugunften Mabeleines, eines für und eines wider 
das Klofter, war bis jest geglüct. Sean Daljean war fo ruhig 
gewefen, daß feine Ruhe fih aud dem andern mitteilte. est 
zweifelte Sauchelevent nicht mehr an dem Erfolg. Was nod zu 
tun blieb, war eine Kleinigkeit. Im Laufe der lebten zwei 
Fahre hatte er den Totengräber, ben waderen Vater Meftienne, 
zehnmal unter den Tifch getrunfen. Der Meftienne war leicht 
zu behandeln. Mit dem konnte man madhen, was man wollte. 
Den konnte man ftriegeln, mie es einem beliebte. Meftiennes 
Kopf richtete fih ganz nad) Fauchelevents Kappe. 


32> 


Der Gärtner war, wie man fieht, feiner Sache fiber. 

As der Leihenzug in die Friedhofsftraße einbog, rieb 
Fauchelevent ſich vergnügt die Hände und fagte leife: 

„Ein Mordsſpaß!“ 

Plöslich hielt der Wagen. 

Man hatte das Gitter erreicht. Sekt mußte die Erlaubnis 
zur Beerdigung vorgewiefen werden. Der Mann von der 
Teihenbeftattung unterhandelte mit dem Friedhofspförtner. 
Während diefer Unterredung, die immer ein oder zwei Minuten 
in Anfprud nahm, trat ein Unbekannter neben Fauchelevent. 
Es war wohl ein Arbeiter; er trug eine Voppe mit breiten 
Taſchen und eine Schaufel. 

Sauchelevent fab ihn an. 

„Wer find denn Sie?’ fragte er. 

„Der Totengräber.!/ 

Ein Kanonenfhuß hätte Fauchelevent nicht mehr erfchreden 
Fönnen. Wer eine Kanonenfugel mitten in die Bruft befommt 
und dann noch lebt, fchneidet fiber Fein anderes Geſicht. 

„Der Zotengräber!‘ 

„Ja.“ 

„Sie?“ 

PA 

„Totengräber ift bob Vater Meftienne.‘ 

„Bar. 

„Wieſo war?’ 

„Er ift tot.” 

Fauchelevent war auf alles gefaßt, nur nicht darauf, daß ein 
Iotengräber fterben Éônne. Und bob ift es wahr, aud die 
Totengräber fterben. Bei der großen Gräberei graben fie fchließ- 
lib aud ſich ein Grab. 

Saucelevent ftand mit offenem Munde da. Stotternd 
fagte er: 

„Unmöglich!“ 

„Aber wahr.“ 


326 


‚Aber der Iotengräber ift doch Vater Meftienne‘‘, verfudte 
er noch einmal ſchwach. 

„Noah Napoleon Ludwig XVIII. Nah Meftienne Gribier. 
Bauer, ich heiße Gribier.“ 

Zotenblaß ftarrte Sauchelevent Gribier an. 

Es war ein langer, magerer, blaffer, finfterer Menfh. Er 
fab aus wie ein verkrachter Mediziner, der ftrads Totengräber 
geworden ift. 

Sauchelevent begann wild zu lachen. 

‚Ita, toll geht’s ja zu auf der Welt! Papa Meftienne ift 
tot? Gut, der Feine Papa Meftienne ift tot, fo lebe der Fleine 
Papa Lenoir! Kennen Sie den? Ein fabelhafter Noter zu fes 
Sous pro Kapfel. Schießt alles ab, was dag Surène hervor- 
bringt, Schodfchwerenot! Echte Surene! Ach, tot ift der alte 
Meftienne, tut mir leid; bei Lebzeiten war er recht lebhaft. 
Aber aud Sie, Sie fteben vorderband gut auf den Beinen. 
Nicht wahr, wir geben jeßt einen heben, wir beide?‘ 

„Ich babe ftudiert. Bis zum vierten Jahrgang hab’ ich es 
gebracht. ch trinfe niemals.“ 

Der Wagen fuhr wieder [os und bog jest in die große Fried- 
hofsallee ein. 

Saucelevent ging langfam. Er hinfte vor Angft mehr als je. 
Der Zotengräber ftapfte voraus. 

Mod einmal eraminierte Fauchelevent den unerwarteten Gri- 
bier. Es war einer von denen, die, wenn fie jung find, alt aus- 
feben, und obwohl fie mager find, über genug Kräfte verfügen. 

„Kamerad! rief Fauchelevent. 

Der andere wandte fih um. 

„Ich bin der Totengräber des Kloſters.“ 

„Kollege alſo“, fagte der andere. 

Fauchelevent war des Lefens und Schreibens unfundig, aber 
ſchlau genug, um zu begreifen, daß er es hier mit einem be- 
ängftigenden Menfhen und überdies mit einem guten Sprecher 
zu fun hatte. 

„Sa ja,” murmelte er, „Vater Meftienne ift tot.’ 


327 


„Mauſetot“, fagte der andere, „Der liebe Gott bat in feinem 
Bud nacgefehen, welche Wechfel jeht zum Proteft kommen, 
und da bat er geliehen, daß Meftienne an der Reihe war. 

„Der liebe Gott‘, murmelte Fauchelevent mechaniſch. 







































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































































„Der liebe Gott,” fagte der andere dozierend, „den die Pbi- 
lofophen den ewigen Dater, die Jakobiner bas höchſte Wefen 
nennen.’ 


„Wollen wir denn nicht Bekanntſchaft ſchließen?“ ftammelte 
Fauchelevent. 


328 


„Die ift fhon gemadt. Site find ein Bauer, ich bin ein 
Pariſer.“ 

„Wiſſen Sie, ich ſage immer: ſolange man zuſammen nicht 
einen gehoben hat, kennt man ſich nicht. Glas ausgetrunken, 
Herz ausgeſchüttet! Kommen Sie mit mir eins trinken. So 
was lehnt man doch nicht ab.“ 

„Erſt die Arbeit.“ 

Verloren, dachte Fauchelevent. 

Noch einige Biegungen der kleinen Allee, und man war an 
der Begräbnisſtätte der Nonnen. 

„Bauer,“ ſagte der Totengräber unvermittelt, „ich habe 
ſieben Mäuler zu ſtopfen. Da ſie eſſen müſſen, darf ich nicht 
trinken.“ Und ernſthaft fügte er hinzu: „Ihr Hunger iſt der 
Feind meines Durſtes.“ 

Der Leichenwagen bog jetzt in eine Gruppe von Zypreſſen 
und fuhr durch ungepflegtes Gelände. Man war offenbar dicht 
vor dem Segräbnisplas. Fauchelevent ging zwar langfamer, 
aber er Éonnte dadurch den Wagen nicht aufhalten. Glücflicher- 
weife famen die Mäder in dem locferen, vom winterlihen Negen 
aufgeweichten Erdreich ſchwach vorwärts. 

Wieder wandte er fih an den Totengräber: 

„Und fo einen guten Wein aus Argenteuil gibt es dort‘, 
murmelte er. 

‚Mann vom Lande, bas dürfte nicht fein, daß ein Mann wie 
ih Totengräber ift. Mein Vater war Pförtner am Prytaneum. 
Er beftimmte mid für die Literatur. Aber er hatte Unglüd. Er 
verlor an der Börfe. Sch Éonnte nicht den Dichterberuf er- 
greifen. immerhin bin id öffentliher Schreiber.” 

„Alſo Sie find nibt Totengräber?’’ fragte Fauchelevent, der 
nad) diefem ſchwachen Zweig der Hoffnung griff. 

„Das eine fchließt bas andere nicht aus. Ich Éumuliere biefe 
beiden Berufe.’ 

Saucelevent Fannte bas Wort Fumulieren nicht. 

„Gehen wir trinken”, fagte er. 

Mir müffen bier eine DBemerfung einfchalten. Faucelevent 


329 


bot in feiner Angft einen gemeinfamen Irunf an, aber über die 
Trage, wer ihn bezahlen follte, äußerte er fi nicht. Gemeinhin 
hatte er es fo gehalten, daß er einlud und Meftienne bezahlte. 
Diesmal refultierte die Einladung offenbar aus der Lage, die 
durch Einftelung des neuen Totengräbers gefchaffen war, und 
fie mußte von ibm, Sauchelevent, ausgehen, aber der alte 
Gärtner vermied volle Klärung. So erregt er aud war, dachte 
er zunächſt nicht ans Zahlen. 

Inzwiſchen fuhr der Totengräber mit überlegenem Lächeln fort: 

„Eſſen muß der Menfh. Ich babe Vater Meftiennes Amt 
übernommen. Wenn man fein Gymnaſium faft gemadt bat, ift 
mon auch Philofoph. Zur Arbeit der Hand fügt man gern die 
des Armes. Ich babe meinen Schreiberftand auf dem Markt in 
der Rue de Sèvres. Wiffen Sie, der Negenfhirmmarft. Alle 
Köhinnen von der Croix-Rouge kommen zu mir. Sch made 
ihnen ihre Lichesbriefe an ihre Soldaten. Morgens fchreibe id 
gurrende Brieflein, abends bin ich Iotengräber. So ift das 
Leben, Bauer.” 

Der Wagen rollte immer weiter. Fauchelevent hatte den 
Höhepunkt feiner Unruhe erreicht und blickte faffungslos um 
fib. Der Schweiß ftand ibm auf der Stirn. 

‚Aber man Éann nicht zwei Herren dienen’, fuhr der Toten- 
gräber fort. „Ich werde mic zwifchen Feder und Schaufel ent- 
fheiden müflen. Die Schaufel macht meine Hand ſchwer.“ Der 
Magen hielt. Der Chorknabe ftieg aus der Equipage, dann 
folgte der Priefter. 

Eines der Mäder des Wagens war in einem Erdhaufen feft- 
gefahren, hinter dem man in eine offene Grube blickte. 

„Ein Mordsſpaß!“ wiederholte Fauchelevent außer fi. 


6. Zwiſchen vier Brettern 


Alles ging wie Sean Valjean es vorausgefehen hatte. Auch 
er verließ fih, wie Fauchelevent, auf Vater Meftienne. Sekt 
zweifelte er nicht mehr an dem guten Ausgang. Mie war eine 


330 


Situation Eritifcher, nie gleichzeitig die Ruhe des Betroffenen 
vollendeter. 

Die vier Bretter eines Sarges fchließen, wenn biefer Aus- 
druck erlaubt ift, einen furdtbaren Frieden in fih. Es war, als 
ob etwas von der Ruhe der Toten auf Sean DBaljean über- 
gegangen wäre. Aus feinem Sarge Fonnte er allen Phaſen des 
Dramas folgen. Kurz nahdem Fauchelevent den Dedfel ver: 
nagelt hatte, hatte er gefühlt, wie er zuerft getragen, dann 
gefahren wurde. Als der Wagen weniger ftieß, begriff er, daB 
er jeßt durch eine gufgepflafterte Straße Fam, bur einen der 
Boulevards. Aus einem dumpfen Geräufch erriet er, daß der 
Magen jest über die Aufterliger Brücke fuhr. Als er bas erfte- 
mal hielt, war man offenbar an der Friedhofsmaner ange- 
fommen, beim zweitenmal an der Grube. 

est faßten Hände nah dem Sarg, ein raubes Meiben 
wurde an den Brettern vernehmbar: man fchlang alfo gerade 
das Seil um den Sarg, um ihn in die Grube zu fenfen. 

Dann folgte eine leichte Betäubung. Die Träger hatten den 
Sarg wohl fhräg geftellt, ver Kopf war vor den Füßen unten 
angefommen. Als er wieder in horizontale Tage Fam, wurde ihm 
beffer. Er fühlte eine gewiſſe Kälte. 

Eine Stimme fprad etwas aus der Höhe herab, eifig und 
feierlih. Tangfam, daß er eines nad dem andern greifen Fonnte, 
flangen die lateinifhen Worte, die er nicht verftand, an 
fein Obr: 

„Qui dormiunt in terrae pulvere, evigilabunt: alii in 
vitam aeternam, et alii in opprobrium, ut videant 
semper.“ 

Eine Rinderftimme antwortete: 

„De profundis.“ 

Die tiefe Stimme begann von neuem: 

„Requiem aeternam dona ei, domine.“ 

Und wieder die Kinderftimme: 

„Et lux perpetua luceat ei.“ 


331 


Dann war etwas wie ein leichtes Klatfhen von Negentropfen 
auf dem Dedel zu vernehmbar. Offenbar Weihwaſſer. 

Es wird gleid zu Ende fein, dachte er. Mod ein wenig Ge- 
duld. Der Priefter wird gehen. Fauchelevent führt Meftienne 
in die Kneipe. Mid läßt man allein. Dann kommt Faudelevent 
zurüd, diesmal. allein, und ich fteige heraus. Die Sade kann 
eine gute Stunde dauern. 

Die tiefe Stimme begann von neuem: 

„Requiescat in pace.“ 

Und die Rinderftimme: 

„Amen.“ 

Sean Valjean fpiste die Ohren und hörte Schritte fid 
entfernen. 

Aha, jeßt gehen fie. Ich bleibe allein. 

Test hörte er ein furchtbares Getôfe, das wie ein Donner- 
flag auf den Dedel des Sarges niederging. 

Es war eine Schaufel Erde. Eine zweite folgte. 

Eines der Löcher, dur bas er atmete, war verlegt. 

Eine dritte, 

Dann eine vierte. 

Es gibt Dinge, die der ftärffte Mann nicht erträgt. Sean 
Valjean fiel in Obnmabt. 


7. Man erfñbrt ben Urfprung des Wortes: 
Seine Karte nibt verlieren 


Und folgendes trug fi inzwifchen über dem Sarge zu, in 
dem jean Daljean lag. 

Als der Wagen fi entfernt hatte und der Priefter und der 
Chorfnabe wieder in ihre Œquipage geftiegen waren, fab 
Saucelevent, der den Totengräber nicht aus den Augen ließ, 
wie diefer fit büdte und feinen Spaten ergriff. 

Ein äußerſter Entfhluß reifte in ihm. 

Er trat zwifchen die Grube und den Totengräber, breitete 
die Arme aus und fagte: 


392 


„Ich bezahle es!‘ 

„Was, Bauer?’ fragte der Totengräber verwundert. 

„Nun,“ ftotterte Fauchelevent, „ich bezahle.’ 

„Was?“ 

„Den Wein.“ 

„Welchen Wein?“ 

„Den Argenteuil.“ 

„Geh zum Teufel!“ ſagte der Totengräber. Und er warf den 
erſten Spaten voll Erde auf den Sarg. 

Der Sarg ächzte. Fauchelevent glaubte zu taumeln und 
fürchtete, er würde ſelber in die Grube fallen. Röchelnd 
ſtöhnte er: 

„Kamerad, raſch, bevor die Budike ſchließt! Ich bezahle! 
Hören Sie, Kamerad, ich bin der Totengräber des Kloſters. 
Ich ſoll Ihnen helfen. Das iſt eine Arbeit, wie geſchaffen für 
die Nacht. Zuerſt ein Gläschen!“ 

Während er dieſen letzten Verſuch wagte, überlegte er: 

Wenn er auch trinkt, wird er betrunken werden? 

„Provinzler,“ ſagte der Totengräber, „wenn Sie abſolut 
darauf beſtehen, gut. Trinken wir eins. Aber nach der Arbeit. 
Niemals vorher.“ 

Schon wieder hatte er den Spaten bereit. Fauchelevent fiel 
ihm in den Arm. 

„Argenteuil zu ſechs!“ 

„Großer Gott, Sie find ja ein Glödner! Bimbam bimbam, 
immer dasſelbe!“ 

Und die zweite Schaufel folgte. 

Fauchelevent geriet in einen Zuftand, in dem man nicht mehr 
weiß, was man fpridht. 

„Kommen Sie doch, ich zahle ja’, fchrie er. 

„Wenn wir das Kindchen ba zu Bett gebracht haben’, fagte 
der Iotengräber. 

Die dritte Schaufel. 

Jetzt ftieß er den Spaten in die Erde und fügte hinzu: 


333 


„Heute wird e8 Falt. Die Iote wird fhimpfen, wenn wir fie 
ohne Dede laſſen.“ 

Während er wieder feine Schaufel belud und fid bückte, 
Elaffte eine feiner Taſchen auf. Fauchelevents irrer Blick fiel in 
die Zafche und wurde ftarr. Die Sonne war nod nit ganz 
untergegangen. Es war noch bell genug, daß er etwas Weißes 
in der Iafche bemerfte. 

Alle Lift, deren ein pifardifher Dauer fähig ift, biste in 
Fauchelevents Auge auf. Er hatte eine Idee. 

Dhne daß der Zotengräber etwas bemerkte, griff er ibm in 
die Taſche und 309 dag Weiße heraus. 

Vierte Schaufel. 

Als er fit ummwandte, um die fünfte aufzunehmen, fab ibn 
Sauchelevent ruhig an und fagte: 

‚Übrigens, Herr Neuling, haben Sie Ihre Karte? 

„Welche Karte?” 

„Frau Sonne geht zu Bett.” 

„Bon mir aus fol fie fih ihre Nachtmütze aufſetzen.“ 

„Der Pförtner wird gleich ſchließen.“ 

„Na und?’ 

„Haben Sie Ihre Karte?” 

„Ach, meine Karte’, fagte der Totengräber und griff in die 
Taſche. 

Er ſuchte dann noch in der anderen. Auch in der Weſten— 
tafche, in den Hofentafchen. 

„Nein, ich babe fie nicht. Ich babe fie vergeſſen.“ 

„Sünfzehn Franken Strafe‘, erklärte Fauchelevent. 

Der Iotengräber wurde grün. Grün ift die Bläſſe derer, die 
immer weiß find. 

„SKreuzhimmeldonnerwetter! Fünfzehn Franken!’ 

„Dreimal hundert Sous“, beftätigte Saucelevent. 

Die Schaufel fiel zu Boden. 

Jetzt mußte Fauchelevent feine Trümpfe ausfpielen. 

„Na, Rekrut, nicht verzweifeln! Hier ift nicht von Selbft- 
mord die Mede. Es finder fi) immer ein Ausweg. Fünfzehn 


334 


Franken find immerhin fünfzehn, aber Sie müffen fie ja nicht 
bezahlen. Ich bin alt, Sie find jung. Ich weiß alle Schliche 
und Tricks. Sch will Ihnen einen freundfhaftlihen Nat geben. 
Eins ift klar. Die Sonne geht unter, fie fteht fchon über dem 
Dom. In fünf Minuten wird gefchloffen.‘ 

„Allerdings.“ 

„In fünf Minuten werden Sie mit der Grube da nicht 
fertig, die iſt teufliſch tief, und dann iſt es ja auch noch ein 
Stück Weg bis zum Gitter. Wenn Sie hinkommen iſt alles zu.“ 

„Weiß Gott.“ 

„Alſo — fünfzehn Franken Strafe.“ 

„Fünfzehn Franken!“ 

„Aber Sie haben ja noch Zeit. Wo wohnen Sie?“ 

„Zwei Schritt hinter dem Tor. Eine Viertelſtunde von hier. 
Rue de Vaugirard No. 87.“ 

„Na, wenn Sie Ihre Beine in die Hand nehmen, kommen 
Sie noch raus. Und wenn Sie erſt draußen ſind, huſch huſch, 
dann laufen Sie nach Hauſe, holen Ihre Karte, kommen wie— 
der her und der Pförtner öffnet Ihnen. Wenn Sie die Karte 
haben, brauchen Sie nichts zu bezahlen. Dann begraben Sie 
Ihren Toten. Ich warte einſtweilen hier, daß er nicht ausrückt.“ 

„Ich ſchulde Ihnen das Leben, Bauer!“ 

„Aber jetzt los!“ 

Der Totengräber drückte ihm noch die Hand, dann lief er 
davon. Als er verſchwunden war, beugte ſich Fauchelevent über 
die Grube und rief leiſe: 

„Vater Madeleine!‘ 

Nichts. 

Fauchelevent ſchauderte. Er fiel mehr in die Grube als er 
hinabſtieg und begann zu ſchreien: 

„Sind Sie da?“ 

Totenſtille. 

Fauchelevent, der kaum mehr Luft bekam, ergriff Hammer 
und Stemmeiſen und ſprengte den Deckel ab. Im Sarge lag 
Jean Valjean, blaß mit geſchloſſenen Augen. 


335 



















































































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Fauchelevents Haare firäubten fih, er taumelte zurück. 


Mob immer regte fih Jean Val 













































































































































































„Er ift tot”, murmelte Fauchelevent. 
































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Schultern Éamen, 


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So rette 
Dann begann er zu ſchluchzen 


[24 


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Es ift Vater Meftiennes Schuld, feufzte er. Warum ift er 
geftorben, der Trottel? Muß Érepieren, gerade wenn niemand 


336 


daran denkt. Er bat Herren Madeleine umgebraht! Water 
Mabeleine. Es ift aus. Hat fo etwas einen Sinn? Mein Gott, 
und die Kleine, was fange id nur mit der an? Was wird bie 
Gemüfehändlerin fagen? Daß ein Menſch fo ftirbt, ift bas 
möglih? Wenn ich mir vorftelle, daß derfelbe unter meinem 
Magen war! Vater Mabeleine erftidt, wie ich es voraus- 
gefehen babe. Er bat mir nicht glauben wollen. Ein fhôner 
Blödfinn! est ift er tot, der brave Menfh! Und die Kleine! 
Ma, zunächſt geh’ ich nicht nad Haufe. Ich bleibe hier. Zwei 
Alte find nötig, damit eine doppelte Trottelei herausfommt, 
Ichluchzte er. Wie er nur erft in bas Klofter bineingefommen 
ift? Das war fchon der Anfang. So was maht man nid. 
Vater Madeleine! Vater Madeleine! Madeleine! Herr Mabe- 
leine! Herr Bürgermeifter! Er hört nicht. So, jetzt möcht' ich 
wiflen, wie man da herauskommt. 

Und er fuhr fi verzweifelt in die Haare. Aus der Ferne 
Fang das Knirſchen der Torflügel herüber. 

Sauchelevent beugte fi über Sean Valjean. Plötzlich aber 
fuhr er fo weit zurüd, als er es in der engen Grube Fonnte. 
Sean Valjean hatte die Augen geöffnet und fab ibn an. 

Der Anbli eines Ioten ift unangenehm, der einer Aufer- 
ftehung aber nicht weniger. Fauchelevent mar wie verfteinert, er 
wußte nicht, ob er einen Lebenden oder einen Toten vor 
fit babe. 

„Ich bin eingefchlafen’‘, fagte Sean Valjean. 

Und er feste fih auf. 

„Heilige Mutter Gotteg,' rief Fauchelevent und fiel auf die 
Knie, „Sie haben mir aber einen Schreck eingejagt!“ 

Die frifhe Luft hatte Sean Valjean gewedt. 

„Mich friert”, fagte er. 

Erft jest fand fih Fauchelevent in der Wirklichkeit, die 
manches Dringliche hatte, zurecht. 

„Geben wir rafch fort’, empfahl Fauchelevent. 

Er ſuchte in feiner Iafche und holte eine Flaſche hervor. 

„Aber zuerft einen Tropfen!” 


22 Hugo, Die Elenden. 33] 


Die Flaſche vollendete, was die frifche Luft getan. Sean 
Valjean trank einen Schluck Aquavit und war wieder im DBoll- 
befiß feiner Kräfte. Er Fletterte aus dem Sarg und half 
Sauchelevent, ibn wieder zu vernageln. Drei Minuten fpäter 
waren fie aus dem Graben. 

Übrigens war Saucelevent ruhig. Man hatte Zeit. Der 
Sriedhof war gefhloffen, Gribier Eonnte nicht Fommen. Der 
„Rekrut“ war zu Haufe und fuchte feine Karte, die er gewiß 
nicht finden würde, ba fie ja in Fauchelevents Taſche ſteckte. 
Obne Karte Eonnte er den Friedhof nicht wieder betreten. 

Saudelevent und Sean DBaljean vollendeten die Beerdigung 
des leeren Sarges. Als die Grube zu war, fagte Fauchelevent: 

„Sehen wir.’ 

Es war jest finftere Nacht. 

Sean Valjean hatte es nicht Leicht, zu gehen. In dem Sarge 
war er fteif gefroren wie ein Leichnam. 

„Sie find ſteif“, fagte Fauchelevent. „Schade, daß ich lahm 
bin, fonft Éénnten wir es auf einen Wettlauf anfommen laſſen.“ 

„Pah, in vier Schritten bin ich wieder frifch.” 

Sie fhritten die Allee entlang. Als fie an dem Pavillon des 
Pförtners vorbeifamen, warf Fauchelevent die Karte des Toten- 
gräbers in den Schliß, die Schnur wurde gezogen, und die Tür 
ging auf. 

‚Alles in Ordnung”, fagte Fauchelevent befriedigt. „Ich 
habe wirklich eine gute Idee gehabt.“ 

Sie kamen unbehelligt durch das Tor Vaugirard, denn 
Schaufel und Spaten ſind in der Friedhofsgegend ſo viel wert 
wie Päſſe. 

In der Rue Vaugirard war kein Menſch zu ſehen. 

„Vater Madeleine,“ ſagte Fauchelevent, der die Haus— 
nummern eifrig ſtudierte, „Sie haben beſſere Augen als ich. 
Zeigen Sie mir No. 87.“ 

„Wir ſtehen gerade davor.“ 

„Es iſt hier niemand auf der Straße,“ ſagte Fauchelevent, 
„geben Sie mir den Spaten und warten Sie einen Augenblick.“ 


338 


Als er in Gribiers Zimmer eintrat, fagte er: 
„Ich bringe Ihnen Ihren Spaten.’ 
Gribier war höchſt erftaunt. 

„Sie find es, Bauer?’ 


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„Ihre Karte finden Sie morgen früh beim Pförtner.” 

„Was ſoll bas bedeuten?” 

„Das bedeutet, daß Ihnen die Karte offenbar aus der Taſche 
gefallen ift. Sch babe fie gleich nachher in der Grube gefunden, 
babe die Sache abgemacbt und die Karte bem Pförtner gegeben. 


29% 339 


Sie können fie fit morgen abholen. Die fünfzehn Franken 
brauden Sie nit zu bezahlen. So fteht die Sache, Rekrut! 

„Vielen Dank, Bauer!’ rief Gribier entzüdt. „Und nächftes 
Mal lade ih Sie sum Wein ein.‘ 


8. Das Verhör gut beftanden 


Eine Stunde fpäter — es war fbon ftodfinftere Naht — 
erfhienen zwei Männer und ein Kind in der fleinen Nue 
Dicpus Mo. 62. Der ältere von beiden bob den Türflopfer 
und pochte. 

Die beiden hatten Eofette von der Gemüfehändlerin abgeholt, 
bei der Fauchelevent fie geftern abend untergebradt hatte. Der 
Pförtner, der bereits feine Ynftruftionen erhalten hatte, öffnete 
die Fleine Pforte, die für das Dienftperfonal beftimmt war und 
direft vom Hof in den Garten führte, Er geleitete die drei in 
bas Spredzimmer, in dem Sauchelevent geftern die Aufträge 
der Priorin empfangen hatte. 

Sie faß bereits, mit ihrem Mofenfranz in Händen, in einem 
Lebnftubl und wartete. Eine der Mütter ftand tief verfehleiert 
neben ihr. Eine Kerze beleuchtete fpärlich den Raum. 

Die Priorin ftreifte Sean DBaljean mit einem prüfenden 
Blick. Niemand fiebt jchärfer als Menfchen, die immer ihren 
Blick gefenft halten. 

„Sie find der Bruder?’ fragte fie endlich. 

„Ja, ehrwürdige Mutter‘, antwortete Fauchelevent. 

„Wie beißen Sie?’ 

Wieder antwortete Fauchelevent: Ultime Fauchelevent.‘ 

Er hatte wirflic einen Bruder gehabt, der Ultime hieß. 

„Und von wo find Sie?’ 

„Aus Piequigny bei Amiens“, antwortete Fauchelevent. 

„Und wie alt find Sie?‘ 

Sauchelevent: „fünfzig Sabre.’ 

„Und welchen Beruf üben Sie aus?” 

Sauchelevent: „Gärtner. 


340 


„Sind Sie ein guter Chriſt?“ 

Saudelevent: „Wie alle in meiner Familie.‘ 

„Und die Kleine gehört ihnen?” 

Saudelevent: „Ja, ehrwürdige Mutter.’ 

„Sie find ihr Vater?‘ 

Saucelevent: „Ihr Großvater.’ 

Die Mutter fagte leife zu der Priorin: 

„Er antwortet gut.’ 

Allerdings hatte Jean DBaljean noch Fein Wort gefprocen. 

Die Driorin fab Cofette aufmerffam an und bemerfte leife 
zu der Mutter: 

„Sie wird häßlich werden.” 

Diefe Prognofe bewies, daß Eofette gefallen hatte und einen 
Sreiplat im Penfionat befommen würde, 

Dann fprahen die beiden Nonnen noch einige Minuten in 
einer Ede des Sprechzimmers, fchließlih wandte fib die 
Priorin um: 

„Vater Fauvent, Sie müffen einen zweiten Glodenriemen 
beforgen. Wir brauchen jest deren zwei.’ 


341 











Marius 


Erstes Buch 


Der Öroßbürger 


1. Der Fleine Gavroche 


Acht oder neun jahre nad den Ereigniffen, die im zweiten 
Zeil diefer Gefchichte berichtet wurden, Éonnte man auf dem 
Boulevard du Temple und im Gebiet des Château d'Eau einen 
Eleinen jungen von elf oder zwölf Jahren fehen, der ganz gut 
das "deal des Parifer Straßenjungen hätte darftellen Eönnen, 
wenn er nicht froß des Lächelns, das er immer auf den Tippen 
hatte, ein verdüftertes und leeres Herz gehabt hätte. Diefer 
unge trug die Hofe eines Mannes, aber er hatte fie nicht von 
feinem DBater; und das Hemd einer Frau, aber bas hatte er 
nicht von feiner Mutter. Irgendwelche fremden Leute hatten 
ihn aus Mitleid folhermaßen gekleidet. 

Und doch hatte er Vater und Mutter. Aber fein Vater 
dachte nicht an ihn, und feine Mutter Liebte ihn nicht. Er war 
einer jener beflagenswerten Knaben, die Vater und Mutter 
haben und doch Waiſen find. 

Diefer unge fühlte fih nur auf der Straße einigermaßen 
glücklich. Ihr Pflafter war nicht fo hart wie bas Herz feiner 
Mutter. Mit einem Fußtritt hatten feine Eltern ibn ins Leben 
hinausgeſtoßen. 
| Er war ein blaffer, ſchwächlicher Junge, dabei aber wider- 
ftandsfähig, Tebhaft, aufgemedt. Immer auf den Beinen. Er 
fang und fpielte, durchſchnüffelte die Minnfteine, hielt für fein 
Eigentum, was ibm in die Finger fam, aber nad Art der 
Raben und der Spatzen, heiter und unbefangen; er lachte, wenn 
man ibn Sausbub, ärgerte fih, wenn man ihn Miftftü nannte. 


343 


Er hatte fein Obdach, kein Brot, Fein Feuer, wurde von nie- 
mand geliebt; aber er war fröhlich, denn er war frei. 

Wenn arme Gefhöpfe diefer Art zu Männern heranwachſen, 
geraten fie faft immer mit der fozialen Ordnung in Konflikt 


À 


| 

















und werden von ihr 3ermalmt; folange fie Élein find, entwinden 
fie fih dem Zugriff, flüchten in dag Fleinfte Loc. 

Aber fo verlaffen diefer Junge aud war, gefbab es doch, 
wenn auch nur alle zwei oder drei Monate einmal, daß er fi 
fagte: Hallo, jest geh’ ih Mama befuhen! Dann verließ er 


344 





den Boulevard, entfernte fih aus der Vannmeile des Zirkus 
und der Porte Saint-Martin, flieg zu den Quais hinab, über- 
querte die Brüden und fpazierte durch die Dorftädte nad der 
Salpetriere. Und wo landete er? In jenem Haufe No. 50 bis 52, 
bas der Leſer fon Éennt, in dem Haufe Gorbeau. 


Zu jener Zeit war bas Haus Mo. 50 bis 52, bas fonft leer 
ftand und immer eine Tafel „Zimmer zu vermieten‘ aushängen 
hatte, feltfamerweife von mehreren Perfonen bewohnt, die übri- 
gens, wie das in Paris der Brauch ift, untereinander Feine Se- 
ziehungen pflegten. Sie alle gehörten jener Klaffe der Armen 
an, die mit dem herabgefommenen Kleinbürger beginnt und bis 
zu den niedrigften Stufen der fozialen Ordnung berabfteigt, bis 
zu jenen Leuten, die mit den Meften der Zivilifation ihr Weſen 
treiben, dem Straßenfehrer und dem Lumpenfammler. 

Die Bermalterin aus der Zeit Jean Daljeans war geftorben 
und dur ein ganz ähnliches Geſchöpf erfeßt worden. Irgendein 
Ppilofoph bat gefagt: An alten Weibern ift nie Mangel. 

Diefe neue Alte hieß Frau Burgen und hatte in ihrem Leben 
faum etwas DBemerfenswertes zu verzeichnen, von einer 
Dynaſtie von drei Papageien abgefehen, die der Reihe nach ihr 
Herz beberrfcht hatten. 

Die Elendeften unter den Bewohnern des Gorbeaufhen 
Haufes waren vier Leute, Vater, Mutter und zwei fon ziem- 
lib erwachſene Töchter, die alle zufammen einen der dürffigen 
Räume, die der Lefer fon Éennt, bewohnten. 

Außer ihrer überaus drücdenden Armut bot diefe Familie 
nichts DBemerfenswertes. Der Vater hatte, als er bas Zimmer 
mietete, gefagt, er heiße Jondrette. Etwas fpäter aber, als er 
nämlich bereits eingezogen war (wofür die Dermieterin dag 
Mort geprägt hatte: eingezogen ohne nichts), hatte er zu Frau 
Burgon gefagt: 

„Frau Soundſo, wenn zufällig jemand kommt und nad) 
einem Polen oder taliener, oder gar nad einem Spanier 
fragt, fo bin id dag.’ 


345 


Diefe Familie war die des luftigen Barfüßers aus der Klaffe 
der Straßenjungen. Wenn er in ihren Schoß zurückkehrte, fand 
er dort wohl große Mot, aber, flimmer nod, Fein Lächeln; 
Falten Herd und kalte Herzen. Wenn er eintrat, fragte man ibn: 

„Woher Eommft du?’ 

‚Don der Straße”, antwortete er. 

Und wenn er ging, fragte man ihn: „Wohin gebft du?‘ 

„Auf die Straße.” 

Seine Mutter fragte ihn wohl aud: 

„Was willſt du nur hier?‘ 

Der Junge ertrug diefen Mangel an Gefühl, wie Keller- 
pflanzen die Dunkelheit. Er begriff davon nichts, litt nicht bar- 
unter und war nicht böfe darüber. 

Allerdings liebte feine Mutter feine Schweftern. 

Wir vergaßen zu jagen, daß der Bube auf dem Boulevard 
du Temple der Éleine Gavrode genannt wurde. Warum Ga- 
vroche? Dielleicht weil fein Vater Jondrette hieß. 

Ale Bande löſen, ift in gewiflen verelendeten Familien foft 
ein Inſtinkt. Die Stube der Vonbrettes war die lebte am 
Korridor. Den Nahbarraum bewohnte ein fehr armer junger 
Mann, der fih Herr Marius nennen ließ. 

Unfer Lefer wird bald erfahren, wer diefer Herr Marius war. 


2. Dreiundneunzgig Jahre 
und zweiunddreißig Zähne 


In der Rue Boucherard, in der Nue de Normandie und in 
der Rue de Saintonge gibt es noch alte Leute, die ſich eines 
gewiflen Herrn Gillenormand erinnern und gern von ibm er- 
zählen. Diefer Mann war alt, als fie noch jung waren. Seine 
Silhouette ift für jene, die melandolifh in das Reich der 
Schatten (wie wir gerne die Vergangenheit nennen) zurüd- 
blifen, noch nicht ganz verfehwunden aus dem Labyrinth der 


346 


u — 








Gäßchen rings um den Temple, die unter Ludwig XIV. die 
Mamen aller franzöfiihen Provinzen trugen, fo wie man heute 
die Straßen im Quartier Tivoli — ficheres Zeichen des Fort- 
fhritts — nad den europäischen Hauptftädten nennt. 

Herr Gillenormand, der fogar noch 1831 Tebte, zählte zu 
jenen Menfchen, die nur wegen ihres phantaftifchen Alters, und 
weil fie bereits bei Lebzeiten einer vergangenen Epoche anzu— 
gehören fcheinen, merkwürdig find. Er war ein fonderbarer 
Alter, wirklich ein Menfh aus einer anderen Zeit, der voll- 
endete Typus des etwas überbeblihen Großbürgers aus dem 
achtzehnten Jahrhundert, aus jener Zeit, da die gufe alte 
Bourgeoifie auf ihren Stand ebenfo ſtolz war wie die Grafen 
auf den ihren. Er war fon über neunzig jahre alt, ging auf: : 
recht, fprad laut, fab Élar, trank tüchtig, aß, fehlief, ſchnarchte. 
Mob Hatte er feine zweiunddreißig Zähne. Nur zum Lefen fehte 
er Brillen auf. Mob immer war er lüftern, aber er fagte, daß 
er fon feit zehn jahren vollends den Frauen entfagt babe. Er 
fonnte, fagte er, nicht mehr gefallen. Nicht, weil er zu alt war, 
aber weil er nicht die nötigen Mittel beſaß. „Wenn ich nicht 
ruiniert wäre ... oho!“ 

In der Tat war ihm nur eine Rente von fünfzehntauſend 
Franken jährlich verblieben. Sein Traum war, eine Erbſchaft 
von hunderttauſend Franken Jahresertrag zu machen und ſich 
Mätreſſen anzuſchaffen. Kurz, er zählte nicht zu jenen gebrech— 
lien Adhtzigiährigen, die, wie Voltaire, ihr ganzes Leben im 
Sterben gelegen find, er war nicht einer jener angebrochenen 
Zöpfe, die gerade darum alt werden; immer hatte er fich gut 
gefühlt. Er war oberfläblih, raſch von Entſchluß, heftig. Bei 


| jeder Kleinigkeit geriet er in Wut, zumal ohne jede vernünftige 





Begründung. Widerfprah man ibm, fo bob er den Stod. 
Seine Dienftboten prügelte er nach der Sitte des großen Yabr- 
hunderts. Er hatte eine Tochter von über fünfzig Jahren, die 
unverheiratet geblieben war; die verdrofh er, wenn er in Wut 
geriet, und wenn e8 darauf angekommen wäre, hätte er fie am 
liebften mit der Peitſche gezüchtigt. Für ibn war fie höchſtens 


347 


acht Jahre alt. Seine Dienftboten ohrfeigte er und fagte zu 
ihnen: „Schweinehund! Kein Fluch war ihm grob genug. 
Dabei war er von verwunderliher Seelenruhe. Täglich ließ er 
fit von einem Barbier rafieren, der geiftesfranf geweſen war 





und ihn verabfheute, weil er auf Gillenormand wegen feiner 
Grau, einer hübſchen, jungen Sarbiersfrau, eiferfükhtig war. 
Herr Gillenormand bildete fi felbft etwas auf feine Nadläffig- 
feit ein und fagte, er laffe fih nicht einfhüchtern. Oder: 
„Ich bin wirklich febr farffinnig. Wenn mid ein Floh 


348 





beißt, weiß ich, bei welchem Srauenzimmer id ihn erwifcht 
habe.’ 

Seine Lieblingsausdrüde waren „der emypfindfame Mann’ 
und „die Natur”. Zumal diefem lebteren Wort verlieh er nicht 
jenen angenehmen Sinn, den unfere Zeit ihm beilegt. Aber 
wenn er am Kamin foß, äußerte er fich über fie etwa wie folgt: 

„Damit die Zivilifation an allem ihren Teil bat, forgt die 
Natur dafür, daß die barbarifhen Dinge uns in amifanter 
Form dargeboten werden. Europa befißt die Schäße Afiens und 
Afrifos in Éleinerem Format. Die Katze ift der Salontiger, 
die Œibedfe das Iafchenfrofodil. Die Tänzerinnen von der 
Over find füße Eleine Kannibalen. Sie freffen zwar Feine Men- 
ſchen, aber fie faugen fie aus. Die reinften Zauberinnen! Der- 
wandeln unfereinem in eine Aufter und fohlürfen ihn aus zwi— 
fhen zwei Schluden Wein. Die Karaiben laſſen nur die 
Knochen übrig, die Mädchen von der Oper nur den leeren 
Beutel." 

Er wohnte im Marais, Nue des Filles Du Calvaire Mo. 6. 
Das Haus gehörte ibm. Es ift inzwifchen abgeriffen worden, 
und vielleicht bat das Grundſtück heute fogar eine andere Num— 
mer befommen, da ja in den Parifer Straßen nichts beim 
alten bleiben durfte. Er felbft bewohnte ein altes, geräumiges 
Appartement im erften Stock, bis zu den Plafonds mit großen 
Gobelins tapeziert, die Schäferfjenen darftellten; und die 
gleihen Sujets wurden in Éleinerem Format auf Stuhlbezügen 
wiederholt. 

Er hatte Sinn für Malerei. In feinem Zimmer hatte er 
ein herrliches Porträt eines Unbefannten, ein Werf des Vor- 
daeng, in großen, Fühnen Pinfelftrihen gemalt, zugleich aber 
überreih an Föftlichen Details. 

Eine feiner Theorien lautete: Wenn ein Mann fehr hinter 
den Weibern ber ift, ſich aber aus feiner eigenen Frau nichts 
mat, weil fie häßlich ift, fo gibt es für ihn nur ein einziges 
Mittel, feinen Frieden zu behalten: er überläßt feiner Frau die 
Verwaltung feines Vermögens. Diefes Opfer mat ihn frei. 


349 


Vebt ift die Frau befbäftigt, findet bald Gefhmadf an diefen 
Dingen, kümmert fih um die Pächter und Schulöner, berät 
fi mit den Anwälten, unterhandelt mit dem Motar, Feift mit 
den Schreibern, fühlt fih dabei als Herrin, fauft, verkauft, 
gewährt Zeffionen, arrangiert alles, fpart, verfehwendet — Furz, 
fie mat Dummbeiten, genießt aber das volle Glück perfönlichen 
Lebens und findet darin ihren Troſt. Ihr Mann veracdhtet fie, 
aber fie bat wenigftens die Genugtuung, ihn ruinieren zu 
dürfen. 

Gillenormand hatte diefe Theorie felbft in die Praris um- 
gefeßt, und fo war er zu feiner Gefchichte gefommen. Denn 
feine zweite Frau hatte fein Vermögen fo verwaltet, daß Gilfe- 
normand eines Tages, Witwer geworden, gerade noch fünfzehn- 
taufend Sranfen Rente behielt, von denen fogar drei Viertel 
nur Leibrenten waren. Er kränkte fi nicht darüber, denn um 
feine Erben kümmerte er fich nicht. Übrigens lebte er in einer 
Zeit, die wußte, was aus Erbfhaften werden Fann, zum Bei— 
jpiel, daß fie zum Nationalgut erflärt werden. 

Sein Haus gehörte ja ihm. Er hielt fi) zwei DBediente, „ein 
Mannsbild und ein Frauenzimmer‘‘. Sooft er einen Dienft- 
boten wechfelte, gab er ihm einen neuen Namen. Die Männer 
nannte er nad ihrer Herkunft Mimois, Comptois, Poitevin, 
Picard. Sein Iekter Diener war ein plumper, afthmatifcher 
Kerl von fünfundfünfzig Jahren, der Feine zwanzig Schritte 
laufen konnte, aber da er aus Bayonne war, nannte ihn 
Gillenormand Baske. Dagegen bießen alle feine weiblichen 
Dienftboten Micolette. Eines Tages meldete fih bei ihm ein 
Ungetüm von Köchin, ein Monftrum aus der Raſſe der 
Dienftboten. 

„Wieviel verlangen Sie monatlih?” fragte Gillenorman. 

„Dreißig Franken.” 

„Wie heißen Sie?” 

„Olympia.“ 

„Du kriegſt fünfzig Franken, aber du heißt Nicolette.‘ 


350 

















3. 3wet find nodb fein Paar 


Gillenormands zwei Töchter waren in einem Abftand von 
zehn Jahren nacheinander geboren. In ihrer Jugend waren fie 
einander wenig ähnlich gewefen, fhienen fowmohl dem Cbarafter 
als dem Ausfehen nach kaum Schweftern. Die Jüngere war 
ein liebenswürdiges Gefchöpf, allem Lichten zu geneigt, ſchwär— 
meriſch vernarrt in Blumen, Pferd und Mufif; immer 
ſchwebte fie in höheren Regionen, war enthufiaftifch, betete ſchon 
als Kind die Sdealgeftalt irgendeines Helden an. Auch die 
Ältere hatte ihre Schimäre. Das Azur ihres Himmels war ein 
Groffift, irgendein reiher Munitionslieferant, ein blöder, aber 
verfehwenderifher Menſch; oder ein Präfekt. Frau Präfekt zu 
fein, hätte ihr auch gefallen. 

So hatten beide Schweftern fhon in ihrer jugend ihre ver- 
fhiebenen Ideale. Die eine ftrebte ihrem auf Engelsfittichen 
entgegen, die andere auf den Flügeln einer Gans. 

Aber bier auf Erden findet Fein Ehrgeiz reftlofe Befriedi- 
gung. Das Paradies ift nun einmal Feine irbifhe Angelegen- 
heit, und gar in unferen Zeiten. Die jüngere hatte den Mann 
ihrer Träume geheiratet, aber fie ftarb bald. Die Ältere befam 
feinen Mann. 

Zu der Zeit, da fie in unfere Geſchichte eintrat, war fie be- 
reits eine etwas bejabrte Tugend, eine ungenießbare, prüde 
Derfon mit der fpiseften Mafe und dem ftumpfften Verſtand 
von der Welt. Ein charafteriftifches Detail: außerhalb der 
engften Familie wußte niemand ihren Vornamen. Sie ließ ſich 
nur ‚das ältere Fräulein Gillenormand“ nennen. 

Was den cant anging, Fonnte fie es mit jeder Miß auf- 
nehmen. Sie war das Schamgefühl in Perfon. Die entfeglichfte 
Erinnerung ihres Lebens war, daB ein Mann einmal ihr 
Strumpfband gefehen hatte. 

Das Alter hatte diefe erbitterte Schamhaftigfeit noch ge- 
reizt. Ihr Brufttuh war nie dunfel genug und reichte nie hoch 
genug. Stecknadeln brachte fie überall an, wo Fein Menſch 


351 


binfeben wollte. Es ift eigentüumlich für die Prüderie, daß fie 
überall Schildwachen aufftellt, wenn aud die Feftung gänzlich 
unbedroht ift. 

Erfläre wer Fann, daß fie fih ohne Mibfallen von einem 
jungen Offizier der Lanzenreiter, ihrem Großneffen Iheodule, 
küſſen ließ. 

Sie hatte eine Freundin, eine nicht minder eifrige Kirch: 
gängerin und alte Sungfer, des Namens Mademoifelle Dau- 
bois; ein vollfommen ſchwachſinniges Gefhöpf, neben dem 
Fräulein Gillenormand noch als Genie gelten Éonnte. Dom 
Agnus Dei und Ave Maria abgefeben, hatte Fräulein Vaubois 
nur Anfichten über die verfehiedenen Methoden, Früchte einzu- 
werfen. Sie war ein Mufterftücf ihrer Art. 

Wir müffen einräumen, daß Fräulein Gillenormand mit zu- 
nehmendem Alter eher gewann. Eigentlid bösartig war fie ja 
nie gewefen, und das ift ja faft fhon Güte; ihre Krallen waren 
von den Jahren abgeftumpft worden, fie war jeßt auf eine felt- 
fame Weife traurig, ohne felbft recht den Grund angeben zu 
Eönnen. Ihr ganzes Wefen war Staunen über ein Leben, das 
zu Ende ging, bevor es begonnen hatte. 

Sonft gab es im Haufe nur nod ein Kind, einen Éleinen 
ungen, dem es die Rede verfhlug, wenn Gillenormand nur 
in die Nähe Fam. Der fprad nur fireng, ja fogar mit erhobe- 
nem Stock zu dem Kleinen. 

„Hierher, Herr Schlingel, vorwärts, Saufejunge! — 
Bengel! Daß ich dich mal zu ſehen kriege, Strabanzer!“ 

Und er vergötterte den Jungen. Es war ſein Enkel. 


ZweitesBuch 


l. Ein Salon von Anno dazumal 


As Gillenormand nod in der Rue Servandoni wohnte, 
frequentierte er einige fehr gute, höchſt erflufive Salons. Ob- 
wohl er felbft ein Bürgerlicher war, hatte er dort Zutritt. Er 
war Elug, doppelt Elug, denn einmal befaß er feine wirkliche 


392 











Klugheit, dann aber auch jene, die man ihm nur zufraute — 
und darum war er fogar gefucht. Und er ging nur in ein Haus, 
in dem man ihm eine dominierende Rolle bewilligte. Es gibt 
Leute, die um jeden Preis Einfluß haben wollen und verlangen, 
daß man fit mit ihnen beſchäftigt. Wenn fie nicht als Orakel 
den Ton angeben EFönnen, fo wollen fie es wenigftens als 
Doffenreißer. Gillenormand gehörte nicht zu dieſen Leuten. Um 
in den rovaliftifhen Salons, die er befuchte, zu berrfhen, legte 
er feiner Selbftahtung Feine Opfer auf. Überall war er bas 
Orafel. 

Gegen 1817 bradte er mit unumftôBliber Megelmäßigfeit 
wöchentlich zwei Nachmittage im Haufe feiner Nachbarin, der 
Baronin de T. zu, einer refpeftablen Dame, deren Gatte unter 
Ludwig XVI. Botfhafter in Berlin gewefen war. Der Baron 
war während der Revolution als Emigrant geftorben und binter- 
ließ feiner Gattin, als begeifterter Anhänger des Magnetismus, 
nichts weiter als zehn in rotes Maroquinleder gebundene banb- 
ſchriftliche Werke — feine höchſt erftaunlihen Betrachtungen 
über Mesmer. Madame de T. hatte, um ihrer Würde nichts 
zu vergeben, darauf verzichtet, biefes Werk der Öffentlichkeit 
zugänglich zu machen, und lebte von einer Eleinen Mente, die 
ihr von irgendwo, Genaueres wußte man darüber nicht, zufloß. 
Zum Hofe unterhielt fie Feine Beziehungen, weil ihr die Ge- 
fellfhaft dort zu gemifcht war. Einige ihrer Freunde verfammel- 
ten fich zweimal wöchentlich um den Kamin ihres Witwenſitzes 
und bildeten fo einen höchſt ronaliftifhen Salon. Man tranf 
Zee, ftieß, je nachdem, ob die Zeitftimmung gerade elegifd oder 
dithbyrambifh war, Seufzer oder Entrüftungsfchreie aus über 
das Sahrhundert, über die Verfaſſung, über die Vonapartiften, 
» über die Proftitution des Blauen Bandes durch feine Ver— 
leihung an DBürgerliche, über den Safobinismus Ludwigs XVIIL; 
und man unterhielt fi leife über die Hoffnungen, zu denen 
Seine Königlihe Hoheit, der fpätere Karl X., berechtigte, 
hörte mit Entzücken Gaffenbauer, in den Napoleon Nicolas 
genannt wurde. Herzoginnen, die zarteften und reizendften 


23 Hugo, Die Elenden. 3573 


Frauen der Welt, gerieten außer fid vor Dergnügen über 
ordinäre Spottlieder. Dumme Kalauer, die man furdtbar 
zyniſch fand, erregten Senfation. 

Mie mandhe Kirchen Türme, fo hatte der Salon der Ba— 


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ronin I. zwei Löwen. Der eine war Gillenormand, der andere 
der Graf de la Motte-Valois, von dem man einander mit Hoch— 
achtung ins Ohr flüfterte: 
„Sie wiflen doc, der de la Motte von der Halsbandaffäre!‘ 
Die Parteien erlaffen oft recht eigenartige Amneftien. 


354 


Gillenormand erfhien gewöhnlich in Begleiung feiner To: 
ter, diefes Fräuleing, bas bereits die Vierzig liberfritten hatte 
und wie eine Fünfzigerin ausfab, und eines Éleinen Jungen von 
fieben Jahren mit frifher Haut, roten Baden und vergnügten 
Augen, bei deffen Eintritt die Leute zu flüftern pflegten: 

„Wie bübfh er ift! Wie ſchade! Das arme Kind!’ 

Und fo nannte man ibn, weil er „einen Briganten von der 
Loire’! zum Water hatte. 

Diefer Loirebandit war Herrn Gillenormands Schwieger- 
fobn, und Gillenormand nannte ibn den Schandflef auf dem 
Schilde feiner Familie. 


2. Ein „roter Shred” aus jenen Tagen 


- Wer zu jener Zeit über die ſchöne monumentale Brücke des 
Fleinen Städtchens Vernon fohritt, bas nun, wie wir wohl 
hoffen, bald auch burd ein neuzeitliches Scheufal aus Eifen 
erfeßt werden wird, und bei diefer Gelegenheit über die Brü- 
ftung binabfab, fonnte einen etwa fünfzig Jahre alten Mann 
bemerken, der eine Tedermüße, Hofen und ade aus grobem, 
grauem Tuch und Holzpantinen trug; an der Joppe war etwas 
DBraunes, ein Band, bas früher einmal rot gemwefen, zu er- 
fennen. Das Gefiht des Mannes war fonnverbrannt, fein 
Haar weiß. Eine lange Marbe 309 fich quer über die Stirn bis 
zur Bade bin. Er war gebeugt, vorzeitig gealtert und befchäf- 
tigte ſich faſt täglich, einen Spaten und eine Hade in der Hand, 
in einem der Fleinen Gärtchen unterhalb der Pride. 

Er bewohnte um 1817 ein befcheidenes Häuschen im Ufer- 
gelände, lebte einfam und dürftig und hatte nur eine Frau, die 
weder jung no alt, weder ſchön noch häßlich, weder ftädtifch 
noch ländlich war, als Dienerin bei fih. Das Stückchen Land, 
bas er feinen Garten nannte, war weit und breit befannt wegen 
der Schönheit der Blumen, die er 309. Denn diefe Blumen zu 
ziehen, war feine Befchäftigung. 


23* 399 


Bei Morgengrauen ging er fon an die Arbeit, führte einen 
febr befcheidenen Tiſch, trank eher Milch als Wein. Er war 
ſchüchtern, ja fogar faft menfhenfheu, ging felten aus und fab 
faft nur die Armen, die um ein Almofen vorfprachen, oder den 
DPfarrer des Ortes, den Abbe Mabeuf, einen gutmütigen, alten 
Mann. Wenn aber jemand aus dem Dorfe oder aud ein 
Sremder, wer immer e8 fein mochte, an feiner Tür fchellte, um 
fit die fhönen Mofen zu befeben, wurde er freundlih auf- 
genommen. 

Diefer Gärtner war der Brigant von der Loire. 

Menn jemand die Memoirenwerfe, die Biographien, Zeitun- 
gen und Bulletins jener Zeit aufmerffam ftudiert, ftößt er wohl 
des öfteren auf den Namen Georges Pontmercy. 

Georges Pontmercy war ganz jung in das Megiment von 
Saintonge eingetreten. Die Revolution hatte ihn mitgeriffen. 
Das Regiment von Saintonge war ein Teil der Rheinarmee. 
Auch nad dem Sturz der Monarchie behielten die alten Negi- 
menter ihre Namen, erft 1794 wurde die Einteilung in Bri- 
gaden durchgeführt. Pontmercy fchlug fi) bei Speyer, Worms, 
Meuftadt, Türkfheim und Mainz, wo er zu den zweihundert 
Leuten der Nachhut Houchards gehörte. Gegen das Korps des 
Prinzen von Heflen hielt er mit zwölf Mann Andernah und 
309 ſich erft zurüd, als eine feindlihe Kanone eine Breſche in 
die Schanze geriffen hatte. Unter Kleber foht er bei Mar- 
iennes, und bei Mont-Paliffel verlor er feinen Arm. 

Man fandte ibn nach Italien, und dort war er mit Joubert 
einer der Derteidiger des Col di Tenda. Joubert wurde dort 
Generaladjutant, Pontmercy Unterleutnant. Bei Lodi ftürmte 
er mit Berthier mitten ins wildefte Feuer, an jenem Tage, da 
Bonaparte fagte: Berthier war Kanonier, Grenabier und Ka- 
vallerift. Bei Novi fab er feinen alten General Voubert in dem 
Augenblic fallen, in dem diefer den Säbel zog und ſchrie: 

„Vorwärts!“ 

1805 gehörte er zur Diviſion Malher, die den Erzherzog 
Ferdinand aus Günzburg warf, bei Auſterlitz zeichnete er ſich 


356 





in jenem berühmten Staffelaufmarfch, der mitten im ärgften 
Feuer durchgeführt wurde, aus. Als die Faiferlich ruffifche Garde 
ein Bataillon unferes vierten Linienregiments vernichtete, ge- 
hörte Pontmercy zu jenen, die Nahe übten und jene Garde 
zerrieben. Der Kaifer gab ihm dafür bas Kreuz der Ehren- 
legion. Er war dabei, wie Wurmfer in Mantua, Melas in 
Aeflandria, Mad in Ulm gefangen wurde. Später gehörte er 
zu jenem adıten Korps der großen Armee, das unter Mortiers 
Kommando Hamburg eroberte. Er wurde zu den Fünfundfünf- 
jigern, einem flandrifchen Regiment, verfeßt und ftand bei 
Eylau auf jenem Friedhof, auf dem der heldenhafte SHaupt- 
mann Louis Hugo, der Onkel des Verfaſſers, mit dreiundacdhtzig 
Mann zwei Stunden lang eine feindliche Armee aufhielt. Pont- 
mercy war einer der drei Männer, die diefen Friedhof lebenbdig 
verließen. Er fab Friedland, Moskau, die Bereſina, Lützen, 
Bauen, Dresden, Wahau, Leipzig und Gellenhaufen; fpäter 
Montmirail, Château-Thierry, Craon, die Marne und die 
Asne. In Arnay-le-Due war er bereits Kapitän, fäbelte zehn 
Kofafen nieder und rettete zwar nicht feinen General, aber 
feinen Korporal. Dabei wurde er fo jämmerlich zerfekt, daß 
ihm allein aus dem linfen Arm fiebenundzwanzig Knochenfplit- 
ter gefchnitten werden mußten. Acht Tage vor dem Sturz von 
Paris taufhte er mit einem Kameraden und trat in die Ka- 
vallerie ein. Er begleitete Napoleon nah Elba, war bei Wa- 
terloo Esfadrondef der Rüraffiere von der Brigade Dubois. 
Damals erbeutete er die Fahne des Lüneburger Bataillons und 
legte fie dem Kaifer zu Füßen. Er war bereits mit Blut be- 
deeft. Bei der Eroberung der Fahne hatte er einen Säbelhieb 
quer dur bas Gefiht befommen. Als der Kaifer ibm zurief: 
„Du bift Oberft, Baron, Offizier der Ehrenlegion!“ antwortete 
Pontmercy: „Sire, id danke Ihnen im Namen meiner Witwe.’ 

Eine Stunde fpäter fiel er in der Schlucht von Obain. Dort 
war es, wo er, aus einer Obnmadt erwachend, einen Leichen- 
fledderer für feinen Metter hielt: Thenardier. 

Und dies war der Brigant von der Loire. 


357 


Die Meftauration hatte ibn auf Halbfold gefest und hatte 
ihm, wohl um ihn beffer überwachen zu können, Vernon als 
Aufenthaltsort zugewiefen. Ludwig XVIII. wollte alles, was 
während der Hundert Tage gefheben war, nicht anerkennen, 
und darum wurde Pontmercn weder als Offizier der Ehren- 
legion, no als Dberft, nob als Baron angenommen. Do 
unterlief er es nie, feine Briefe zu unterfchreiben: 


Oberft Baron Pontmercy 


Er hatte nur einen alten blauen Nod, aber niemals ging er 
aus, ohne die Mofette des Offisiers der Ehrenlegion anzufteden. 
Der Profurator des Königs ließ ihm mitteilen, daB er wegen 
unberechtigten Iragens diefer Auszeichnung zur Rechenſchaft 
gezogen würde. Pontmerch antwortete dem Überbinger diefer 
Botfhaft mit bitterem Lächeln: 

„Entweder verftehe ich nicht mehr Franzöſiſch, oder Sie fpre- 
hen es nicht richtig; jedenfalls begreife ich nicht.” 

Dann ging er acht Tage lang mit feiner Nofette aus. Man 
wagte nicht, ihn zu behelligen. Zwei- oder dreimal fandte er 
dem Kriegsminifter und dem Departementlommandanten ‘Briefe 
zurüd, auf denen er Major Pontmercy tituliert wurde. Er 
handelte darin nicht anders als Napoleon, der auf Sanft He- 
lena Briefe des Sir Hudfon Lowe an den „General Bona— 
parte’! zurückwies. 

Einmal begegnete er auf der Straße dem Profurator, ging 
auf ihn zu und fagte: 

„Herr Profurator des Königs, ift es mir erlaubt, meine 
Narbe zu tragen?’ 

Er beſaß nichts als ben fehr Fläglihen Halbfold eines 
Esfadrondefs. In Vernon hatte er das Fleinfte Häuschen 
gemietet, bas man dort finden konnte. In der Zeit des Kaifer- 
reich8 hatte er einmal, zwifchen zwei Kriegen, einen Urlaub be- 
nüßt, um Fräulein Gillenormand zu heiraten. Der alte Groß- 
bürger war verärgert, mußte aber flieflih mit einem Seufzer 
darein willigen und fagen: „Sogar die größten Familien 


398 


bringen Opfer.” 1815 war Frau Pontmercy, übrigens eine be- 
wunderungswerte, hochgebildete und ihres Gatten würdige Dame, 
geftorben. Sie ließ ein Kind zurüd. Dies Kind war die Freude 
des Oberften, aber fein Schwiegervater verlangte den Enfel 
energijch zurück und erflärte, daß er ihn, wenn er ihm nicht 
ausgefolgt würde, enterben werde. Im Intereſſe des Kleinen 
hatte ver Vater nachgegeben und hatte verfucht, in den Blumen 
einigen Erfaß zu finden. 

Übrigens hatte er allem entfagt, nahm weder an Verſchwörun— 
gen no an legalen Bewegungen teil. Nur unfhuldige Dinge 
befhäftigten ihn; fonft Iebte er in feiner Dergangenheit. Er 
pflegte eine Roſe oder träumte von Auſterlitz. 

Gillenormand unterhielt feinen Verkehr mit ibm. Für ihn 
war der Oberft nur ein Bandit, während er für den Oberften 
ein Spießbürger war. Gillenormand fyrad nie von dem Ober- 
ften, es fei denn, um fit über feine Baronie luftig zu maden. 
Man hatte verabredet, daß Pontmercy Éeinen Verfud unter- 
nehmen würde, feinen Sohn zu fehen oder mit ihm zu fprechen. 
Die Gillenormands wollten den Jungen nah ihren Anſchau— 
ungen erziehen. Vielleicht hatte der Oberft unrecht getan, ſolche 
Bedingungen anzunehmen, aber er hatte geglaubt, feinem Sohn 
zu nüßen und nur fi felbft ein Opfer aufzuerlegen. 

Das Erbe des alten Gillenormand war nicht beträchtlich, aber 
Fräulein Gillenormand Éonnte ein großes Vermögen binter- 
laflen. Diefe jungfräulich gebliebene Tante war von ihrer Mut- 
ter ber reich, und ihr Neffe war ihr natürliher Erbe. Das 
Kind, bas den Namen Marius trug, wußte wohl, daß es einen 
Dater befaf, aber nicht mehr. Niemand Äußerte etwas bar: 
über. Aber in der Gefellfaft, in die der Großvater es führte, 
gab es ein ewiges Flüftern, Tuſcheln und Augenzwinfern, und 
aus allen diefen Außerungen, die er auffehnappte, Éonnte der 
Knabe fit ein Bild von feinem Dater zufammenfegen. Test 
dachte er nur mehr mit dem Gefühl der Befhämung an ibn. 

Während er fo heranwuchs, Fam der Oberft alle zwei oder 
drei Monste einmal heimlich nah Paris, wie ein Derbrecer, 


359 


der aus feinem Gefängnis entfpringt, und begab fid zur 
Stunde, da die Tante Gillenormand Marius zur Meffe führte, 
nad Saint-Sulpice. Zitternd vor Angft, die Tante Eönnte fit 
ummenden, verborgen hinter einem Pfeiler, lauerte er und be- 
obachtete feinen jungen. Diefer alte Soldat mit der Narbe 
fürchtete fi vor einer alten Jungfer. 

Go entftand aud feine Bekanntſchaft mit dem Pfarrer von 
Vernon, dem Abbe Mabeuf. 

Diefer wadere Priefter war der Bruder des Kirchenälteften 
von Saint-Sulpice, bem der Mann mit der Marbe auf der 
Wange und den Tränen in den Augen mehrmals aufgefallen 
war. Diefer Mann, der fo männlich ausfah und wie eine Frau 
weinte, hatte ben Kirchenälteften in Staunen verfeßt. Er hatte 
fein Gefiht im Gedächtnis behalten, und als er eines Tages in 
Vernon feinen Bruder befuchte, begegnete er dort Pontmercy. 
Er fprad mit bem Pfarrer davon, und die beiden machten dem 
Oberften unter irgendeinem Vorwand einen Beſuch. Weitere 
Beſuche folgten. Der Oberft war zuerft febr verſchloſſen ge- 
wefen, ging aber fpäter aus fit heraus, und fchließlih erfuhr 
der Kirchenältefte, wie Pontmercy fein Glück der Zufunft feines 
Sohnes geopfert hatte. Der Pfarrer faßte eine große Zu- 
neigung zu dem Oberft, die erwidert wurde. Inzwiſchen war der 
Salon der Baronin T. alles, was der junge Marius Pont- 
merch von der Welt fab. Ein düfteres Fenfter, burd bas man 
eher Ausbli auf Kälte denn auf Wärme, eher auf die Nacht, 
denn auf den Tag gewann. Das Kind war feiner Natur nad 
heiter veranlagt, aber es wurde bald trübfinnig und ernfter, als 
es feinem Alter anftanb. 

Wie alle jungen Leute, mußte er irgend etwas ftudieren. Alg 
Zante Gillenormands Weisheit nicht mehr ausreichte, wurde er 
einem würdigen Lehrer anvertraut, einem Manne von bôdfter 
klaſſiſcher Unſchuld. Die junge Seele wechfelte von einer alten 
Jungfer zu einem ledernen Schulmeifter hinüber. Marius fam 
auf bas Gymnafium, endlich ftudierte er Jura. Er war Noyalift 
von ftrengfter Obfervanz. Seinen Großvater, deflen Heiterfeit 


360 


und Zynismus ibm mißfiel, Éonnte er nicht leiben, und an 
feinen Vater dachte er nur ungern. 

Übrigens war er feurig und Ealt, vornehm, großmütig, ftolz, 
eraltiert, rechtfchaffen bis zur Härte gegen fich felbft, rein bis 
zur Abfonderlichkeit. 


3. Der Tod des Danditen 


Ungefähr zur felben Zeit, da Marius feine Studien be- 
endigte, 309 fit Gillenormand endgültig aus der Gefellfchaft 
zurück. Der Greis fagte dem Faubourg-Saint-Germain abieu, 
verabfchiedete fih von Madame de T. und überfiedelte in fein 
Haus in der Mue des Filles-du-Calvaire. Seine Dienerfchaft 
entließ er und beſchränkte fit auf Nicolette und den Basken, 
die wir bereits dem Leſer vorgeftellt haben. 

1827 follte Marius fiebzehn fahre alt werden. 

As er eines Abends nah Haufe Fam, trat ibm fein Grof- 
vater mit einem Briefe entgegen. 

„Marius, fagte er, „du fährft morgen nah Vernon.“ 

„Wozu?“ 

„Du mußt deinen Vater beſuchen.“ 

Marius fuhr zuſammen. Alles, nur dies nicht hatte er er- 
wartet, daß er feinen Dater jemals von Angefiht zu Angeficht 
feben follte. Die Vorſtellung Éam ihm unerwartet und war ihm 
peinlih. Er empfand nicht ein Bedauern, er fühlte fit ge- 
demütigt. 

Marius war, von feinen politifhen Gefühlen abgefehen, über- 
zeugt, daß fein Vater, der Säbelraßler, wie ibn Gillenormand 
nannte, ihn nicht liebe; bas war doch fehließlich Elar, denn wie 
hätte er fonft feinen Sohn verlaffen und anderen anvertrauen 
Eönnen. Marius glaubte fich nicht geliebt und liebte nicht. 

Er war fo verblüfft, daß er Gillenormand fragte. 

„Er ift, fheint es, Eranf. Er verlangt nach dir”, fagte der 
Großvater. „Reife morgen früh. Sch glaube, von der Cour des 


361 


Sontaines geht um fehs Uhr früh ein Wagen ab, der abends 
ankommt. Nimm diefen.” 

Damit zerfnitterte er den Brief und ſteckte ihn in die Tafche. 

Marius hätte aud am Abend reifen und ſchon am nächſten 
Morgen bei feinem Vater fein können. Eine Poftlinie verfoh 
damals den Nachtdienſt nad) Mouen und berührte Vernon. 
Aber weder Gillenormand no Marius dachten daran, fi zu 
erkundigen. 

Am Abend des nücdften Tages Fam der junge Mann nad 
Vernon. Man war gerade dabei, die Kerzen anzuzünden. Er 
fragte den erftbeften, wo bas Haus des Herrn Pontmercy fei. 
Er war ein Parteigänger der Meftauration und wollte feinem 
Vater weder den Oberftenrang no die Baronie bewilligen. 

Man zeigte ihm das Haus. Er fhellte und eine Frau, die 
eine Éleine Lampe in der Hand hielt, öffnete. 

„Wohnt bier Herr Pontmercy?’ 

Die Frau antwortete nicht. 

„Iſt es hier?’ 

Die Frau nickte mit dem Kopf. 

„Kann ich mit ihm ſprechen?“ 

Sie ſchüttelte den Kopf. 

„Ich bin ſein Sohn, er erwartet mich.“ 

„Er erwartet Sie nicht mehr.“ 

Jetzt bemerkte er, daß ſie weinte. 

Sie deutete auf ein niedriges Zimmer; er trat ein. 

In dem von einer Kerze, die am Kamin ſtand, erleuchteten 
Raum befanden ſich drei Männer: einer ftand aufrecht, einer 
Éniete, ein dritter lag, in ein Hemd gehüllt, lang ausgeſtreckt 
auf dem Boden. Das war der Oberft. 

Die beiden anderen waren der Arzt und ein Priefter, der die 
Totenwache hielt. 

Der Oberft war vor drei Tagen von einem heftigen Fieber 
befallen worden. Son fhlimmen Ahnungen geplagt, hatte er 
an Gillenormand gefchrieben und nad feinem Sohne verlangt. 
Bald nabm die Krankheit eine fblimme Wendung. Am Abend 


362 


der Ankunft Marius’ in Dernon hatte der Oberft in einem 
Fieberanfall fih aus dem Bett entfernt und gerufen: „Mein 
Sohn kommt nit! Ich gehe ihm entgegen!” 

Er hatte fein Zimmer verlaffen, war aber im Vorzimmer 
gufammengebrochen und bald geftorben. 

Man rief den Arzt und den Priefter. Sohn, Arzt und Prie- 
fter famen zu ſpät. 

Im ſchwachen Schein des Kerzenlichtes Éonnte man auf der 
narbigen Wange des Oberften eine fhmere Träne fehen, die 
fit aus feinem toten Auge gelöft hatte. Das Auge war er- 
lofhen, die Träne nod nicht vertrodnet. Sie hatte der Der- 
fpâtung feines Sohnes gegolten. 

Marius betrachtete diefen Mann, den er zum erftenmal fab 
und zugleich zum leßtenmal, diefes edle, männliche Gefibt, diefe 
offenen, jest blidiofen Augen, diefe weißen Haare und diefe 
fräftigen Glieder. Braune Narben zeigten überall Spuren von 
Säbelhieben, Flecken die Einfhüffe von Kugeln. Der Junge 
betrachtete die gewaltige Marbe auf dem Seldenantlis, dem 
Gott bot das Mal der Güte eingeprägt hatte. Er bedadıte, daß 
diefer Mann fein Vater fei, und jeßt tot — aber er blieb Fait. 

Die Traurigkeit, die er verfpürte, war biefelbe, die der An— 
blif jedes anderen Toten in ihm ausgelöft hätte. 

Und doch war in diefem Zimmer die Trauer eingezogen. Die 
Magd ſchluchzte in einem Winkel, der Priefter betete und hörte 
ihn feufzen, der Arzt trocdnete fih die Augen; fogar der Leich— 
nam weinte. Der Arzt, der Priefter und die. Magd beobadıteten 
inmitten ihrer Trauer Marius, ohne ein Wort zu äußern; er 
war ein Fremder. Er empfand faft feine Nührung und fhämte 
fib, faft verlegen, feiner Haltung. Er ließ feinen Hut zu Boden 
fallen, um vorzutäufchen, der Kummer lähme ihn, aber im 
nächſten Augenblick fühlte er Gewiffensbiffe und veracdhtete fic, 
weil er fo gehandelt hatte. 

Der Oberft hinterließ nichts. Der Verkauf der Möbel dedte 
die Koften der Beerdigung. Die Magd fand einen Zettel, den 
fie Marius übergab. 


363 


„An meinen Sohn! 

Der Kaifer bat mich auf bem Schladhtfelde von Waterloo 
zum Baron gemadt. Da die Meftauration mir den Titel, 
den ich mit meinem Blute erfauft habe, verweigert, foll mein 
Sohn ihn annehmen und tragen. Er wird gewiß feiner 
würdig fein.‘ 

Auf der Rückſeite ftand: 

„In berfelben Schlacht bei Waterloo bat mir ein Ser- 
geant das Leben gerettet. Diefer Mann beißt IThenardier. 
Er unterhält jeßt, foviel mir befannt ift, in einem Dorf bei 
Paris, in Chelles oder Montfermeil, eine Herberge. Wenn 
mein Sohn ihm begegnet, fol er für ihn alles tun, was in 
feinen Kräften ſteht.“ 


Nicht aus Liebe zu feinem Vater, aber aus jenem ungemiflen 
Reſpekt heraus, den der Tod uns immer einflößt, nahm Marius 
dag Papier und ftecfte es ein. 

Sonft blieb nihts von dem Oberſten übrig. Gillenormand 
ließ feinen Degen und feine Uniform einem Trödler verkaufen. 


4 Nutzen einer Meffe: 
Marius wird Mevolutionär 


Marius hatte die religiöfen Gepflogenheiten feiner jugend 
beibehalten. Eines Sonntags war er nad) Saint-Sulpice ge- 
gangen, um in derfelben Marienfapelle die Meſſe zu hören, in 
die ihn feine Tante früher fo oft geführt hatte. Er war an 
diefem Tage zerftreuter und nachdenkliher als fonft. Darum 
vielleicht war er auf einem mit Utredhter Samt bezogenen Bet- 
ſchemel niedergefniet, auf bem eine Tafel befeftigt war: 


nMabeuf, Kirchenältefter‘. 


Diefe Meſſe hatte kaum begonnen, als ein Greis zu ihm 
frat und fagte: 
„Mein Herr, dies ift mein Platz.“ 


364 


Marius trat baftig beifeite, und der Greis nahm feinen 
Platz ein. 

As die Meffe beendigt war, blieb Marius, in Gedanfen ver- 
funfen, fteben. Wieder trat der Greis zu ihm. 


UM 
—8 





















































„Entſchuldigen Sie, mein Herr, daß ich Sie eben erſt ge— 
ſtört habe und es jetzt wieder tue; Sie mußten mich ungezogen 
finden, darum muß ich mich entſchuldigen.“ 

„Es iſt ganz unnötig, mein Herr.“ 

„Doch,“ ſagte der Greis, „ich will nicht, daß Sie ſchlecht 


365 


von mir denken. Sehen Sie, ih hänge an diefem Plas. Ich 
höre die Meffe hier lieber als anderswo. Warum? Ich will es 
Ahnen offen fagen. Bon diefem Plats aus babe ich jahrelang 
alle zwei oder drei Monate einmal einen armen, braven Vater 
beobachtet, der Feine andere Gelegenheit fand, feinen Sohn zu 
feben, denn Familienzerwürfniſſe hatten die beiden getrennt. So 
fam er hierher zur Stunde, da fein Sohn die Meſſe hörte. Der 
unge ahnte wohl nicht, daß fein Vater hier war. Vielleicht 
wußte er in feiner Unſchuld kaum, daß er überhaupt einen 
Vater hatte. Der Mann ftand hinter dem Pfeiler, damit man 
ihn nicht fehen follte, fab feinen jungen an und meinte. Er 
liebte den Kleinen über alle Maßen, der arme Menſch. Seither 
ift mir biefer Ort heilig, und ich höre immer hier die Meffe. 
Sc ziehe diefen Platz ſogar dem in der Banf vor, auf den ich 
als Kirchenältefter Anſpruch babe. Ich babe übrigens diefen 
unglüdlihen Mann ein wenig Éennengelernt. Er hatte einen 
Schwiegervater, Verwandte, näheres weiß ich nicht, die den 
ungen enterben wollten, wenn bas Kind den Vater aud nur 
fähe. So bat fih der Mann geopfert, damit fein Sohn eines 
ages reich und glücklich ift. Die Familienfeindſchaft hatte po- 
litifhe Gründe. Ich begreife ja, daB man in der Politif feine 
eigene Meinung bat, aber manche Leute willen Feine Grenzen 
zu ziehen. Mein Gott, weil ein Mann bei Waterloo mitgefämpft 
bat, ift er noch Fein Ungeheuer, um einer folhen Sade willen 
trennt man nicht Vater und Sohn. Der Mann war ein Oberft 
Donapartes. Er ift fhon tot, foviel ich weiß. Er lebte in Ver— 
non, wo mein Bruder Pfarrer ift. Er hieß Pontmarie oder 
Montpercy ... einen furchtbaren Säbelhieb hatte er im Geſicht.“ 

„Pontmercy“, fagte Marius erblaflend. 

„Richtig, Pontmerey. Haben Sie ihn gekannt?” 

„Er war mein Vater“, fagte Marius. 

Der Kirchenältefte faltete die Hände und rief aus: 

„Sie find der unge?! Ach ja, jest muß es ja wohl ſchon 
ein Mann fein. Ob, Sie Fünnen wahrhaftig fagen, daß Ihr 
Vater Sie geliebt hat!’ 


366 


Marius bot dem Greis feinen Arm und führte ihn nad 
Haufe. Am nähften Tag fagte er zu Gillenormand: 

„Ich babe mit einigen Freunden eine längere Yagbpartie ver- 
abredet. Wollen Sie mid für drei Tage beurlauben?‘' 

„Sür vier‘, erwiderte der Großvater. „Geh nur und amü— 
fiere dich gut.‘ 

Er blinzelte feiner Tochter zu und fagte: 

„Da fteft ein Srauensimmer dahinter! 


5. Ergebniffe 
des Gefpräbes mit dem Kirhenälteften 


Wohin Marius fuhr, wird der Lefer fpäter erfahren. Er 
blieb drei Tage fort, dann fehrte er nad Paris zurüd, eilte 
fhnurgerade in die Bibliothef der Rechtsſchule und verlangte 
die Sommelbände des „Moniteur“. 

Er las den „Moniteur“, las die Gefchichte der Republik 
und des Kaiferreichs, bas Memorial von St. Helena, Zeitun- 
gen, Bulletins, Proflamationen. Alles verfhlang er. Als er 
dem Mamen feines Daters zum erftenmal begegnete, hatte er 
eine Woche lang Fieber. Dann befuchte er alle alten Generäle, 
unter denen fein Vater gedient hatte. Den Kirchenälteften Ma- 
beuf bat er, ihm von dem Leben in Vernon zu erzählen, von 
dem Altersfiß des Oberften, feiner Einfamfeit und feinen Blu— 
men. Schließlid gelangte Marius fo weit, bas Leben biefes er- 
babenen und fanften Menfhen, diefes Löwen und Lammes zu- 
gleich, ganz zu Fennen. 

Diefe Befhäftigung nahm feine ganze freie Zeit, all feine 
Gedanken in Anſpruch, fo daß er fich bei den Gillenormande 
faum mehr blicken ließ. Bei den Mahlzeiten erfhien er; fuchte 
man ihn fpäter, fo war er fort. Die Iante murrte. Papa 
Gillenormand lächelte. 

„Na, er Éommt jest in die Zeit‘, fagte er. „„Zeufel, der legt 
fi) aber ins Zeug! Mir fcheint, das ift eine wahre Leidenfchaft.” 

Gleichzeitig vollzog fih in Marius eine vollftändige geiftige 


367 


Wandlung. Die Gefhichte, die er ftudierte, wurde ibm eine 
neue Wahrheit. 

Zuerft blendete fie ihn. Republik, Kaiferreih, alles das waren 
für ihn bisher nur Worte gemefen. Die Republik — eine 
Guillotine in der Dämmerung, das Kaiferreih ein Säbel in 
der Naht. Wo er nur Finfternis zu finden glaubte, hatte er 
mit unerhörtem Staunen, in bas fit Furcht und Freude mifchte, 
edle Sterne erftrahlen feben. Er wußte nicht, wohin er geraten 
war. Der Glanz des Nuhmes blendete ihn. Sobald die erfte 
Derwunderung vorüber war, gewöhnte er fi daran, er be- 
gann wieder Flar zu feben und prüfte die Geftalten der Ge- 
fhidte unvoreingenommen. Seht nahmen Nepublif und Kaifer- 
reich neue Geftalten an. Beide ftellten gewaltige Taten dar. 
Die Republik bedeutete die MWiedereroberung der Menfchen- 
rechte durch das Volk, bas Kaiferreich den Siegeszug der fran- 
zöfiffhen bee durh Europa. Er fab in der Revolution die 
gewaltige Erfheinung des Dolfes, im Kaiferreich die Miefen- 
geftalt Frankreichs fi) aufreden. Und er begriff, daß dies alles 
gut gewefen jet. 

löslich war ibm Flar, daß er bis zu biefem Augenblick weder 
fein Sand noch feinen Vater begriffen hatte. Weder fein Land 
no feinen Vater hatte er gekannt, hatte in einer Art frei- 
williger ‘Blindheit gelebt. 

"jest beflagte er, daß er nur mehr vor einem Grabe fagen 
fonnte, was feine Seele bedrüdte. Der Kummer darüber Tieß 
ihm Feine Ruhe, jeder Atemzug war ein Seufzen, und er wurde 
ftrenger, ernfter und feines Glaubens fiherer. Immer neue Er- 
kenntniſſe erfchloffen fih ihm. Es war ein einziges großes, 
inneres Wachſen. 

Als diefer geheimnisvolle Prozeß beendigt war, der aus einem 
„Ultra“ und Bourbonenanhänger einen Noyaliften, einen Re— 
volutionär, Demofraten, ja fogar Republikaner gemacht hatte, 
ging er zu einem Kupferfteher auf dem Quai des Orfèvres 
und beftellte hundert Vifitenfarten auf den Namen: 

Baron Marius Pontmercy. 


368 


Das war nur die logifhe Folgerung des Wandels, der fi 
in ihm vollzogen hatte und der von feinem Vater ausging. Da 
er aber feine Bekannten hatte und feine Karten doch nicht bei 
Pförtnern abgeben Eonnte, behielt er fie in der Taſche. 

Eine weitere natürliche Folge diefer inneren Wandlung war, 
daß er fih im Ausmaße, in dem er feinem Vater näherfam, 
von feinem Großvater entfernte. Wir haben bereits gejagt, daß 
Gillenormands Charakter ibm unangennehm war. Die Heiter- 
feit des Geronten widerftrebt der Melancholie eines Werther. 
Solange gemeinfame politifhe Anfchauungen die beiden ver- 
banden, Eonnte Marius Gillenormand auf einer Brücke ent- 
gegenfommen. Sekt war die Drüde eingeftürzt, eine Kluft 
trennte die beiden. Ynsbefondere aber empörte es Marius, daß 
es ja Gillenormand war, der ibn aus albernen Gründen mit- 
leiblos von feinem Vater getrennt hatte. 

Dod ließ er von allem nichts merfen. Mur wurde er immer 
älter. Bei den Mahlzeiten war er lafonifch, im Haufe fab man 
ihn felten. Wenn feine Tante murrte, war er höflich und ent- 
fbulbigte fih mit Studien, Eramen, Vorträgen und Kurfen. 

Auf einer feiner Fleinen Reiſen war er nah Montfermeil 
gefommen, um dem Wunſch feines Vaters zu folgen, und hatte 
den alten Sergeanten von Waterloo, den Herbergsmwirt Thé: 
nardier, gefucht. Thenardier war in Konkurs gegangen, und 
man wußte nicht, was aus ihm geworden war. 

„Weiß Gott,’ fagte der Großvater, „er baut über die 
Stränge!” 

Man glaubte bemerkt zu haben, daß er auf der Bruft unter 


dem Hemd einen Gegenftand frug, der an einem ru 
Bande hing. 


6. Irgendein Srauenzsimmer 


Mir fprahen fon von einem Lanzenreiter. 
Das war ein Großneffe des Herrn Gillenormand, der fern 
von der Familie und allen häuslichen Herden ein Garnifon- 


24 Hugo, Die Elenden. 369 


leben führte. Leutnant Théodule Gillenormand erfüllte alle Be— 
dingungen, die nötig find, um für einen hübfchen Offizier zu 
gelten. Er hatte eine Taille wie ein Mädchen, eine fabelhafte 
Art, den Säbel zu fchleppen, und einen Mordsfhnurrbart. Er 
kam febr felten nad Paris. So felten, daB Marius ihn noch 
nie gefeben hatte. Theodule war, wie wir wohl fhon angedeutet 
haben, der Günftling der Tante Gillenormand. 

Eines Morgens war Fräulein Gillenormand die Ältere fo 
erregt, wie fie nur fein fonnte. Marius hatte fon wieder von 
feinem Großvater Urlaub zu einer Fleinen Reiſe erlangt. Auch 
fie glaubte jeßt an ein mehr oder weniger lafterbaftes Aben- 
teuer, an eine dunkle Frauengefhichte, und fie befhlof, die 
Sache unter ihre Brille zu nehmen. Einem Geheimnis nad- 
zufpüren — bas ift auch für Heilige ein Vergnügen. Bigotterie 
und Freude am Skandal find oft verbündet. 

Sie war alfo die Beute wilder Meugierde. 

Eben befhäftigt, mit einer mühſamen Handarbeit ihre Ner- 
ven zu beruhigen, hörte fie, wie die Türe geöffnet wurde. Sie 
bob die Mafe, da ftand Leutnant Iheodule vor ihr und grüßte 
firamm. Man mag alt fein, prüd, gottergeben, Tante fogar, 
einen Lanzenreiter fiebt man immer gern in feinem Zimmer. 

„Du bift es, Théodule!“ 

„Auf der Durchreife, Tante.” 

„Umarme mi!” 

Er gebordbte. Sante Gillenormand trat zu ihrem Sekretär 
und ſchloß ihn auf. 

„Du bleibft doch diesmal minbeftens eine Woche?“ 

„Tantchen, ich reife heute abend.‘ 

„Unmöglich!“ 

„Aber mit mathematiſcher Genauigkeit vorgezeichnet.“ 

„Aber wenn ich dich bitte, kleiner Théodule?“ 

„Das Herz ſagt ja, die Marſchroute nein. Die Sache iſt 
einfach. Garniſonwechſel. Früher Melun, jetzt Gaillon. Halben- 
wegs Paris. Da dachte ich: Tante beſuchen.“ 

„Hier haſt du etwas für deine Mühe.“ 


370 


Sie ftecfte ibm zehn Louisdor in die Hand. 

„Sagen Sie dodh für mein Vergnügen, Tantchen.“ 

Théodule umarmte fie nod einmal, und fie genoß das Ber- 
gnügen, fit den Hals von der Verſchnürung feines Uniform- 
kragens rigen zu laflen. 

„Reiteſt du zu Pferd mit dem Regiment?’ 

„Dein, Tante, ich babe eine befondere Route. Mein Diener 
führt das Pferd, ich reife mit der Poft. Übrigens muß ich Sie 
etwas fragen.” 

„Was denn?” 

„Mein Better Marius Pontmercy reift auch?’ 

nBober weißt du das?’ fragte die Tante gefpannt. 

„Ich war gleich nach meiner Ankunft auf der Poft und babe 
einen Platz belegt. Da fab ich auf der Lifte feinen Namen.’ 

„Der ſchlechte Kerl! Ach, dein Vetter ift Fein fo ordentlicher 
Burſche wie du. Jetzt fißt er die ganze Nacht in der Poſtkutſche!“ 

„Wie ich.’ 

„Aber du tuſt es, weil es deine Pflicht ift, er nur aus 
Laſterhaftigkeit.“ 

„Hoho“, ſagte Théodule. 

Jetzt hatte Fräulein Gillenormand eine Idee. Wäre ſie ein 
Mann geweſen, hätte ſie ſich vor die Stirn geſchlagen. 

„Weißt du, daß dein Vetter dich nicht kennt?“ fragte ſie. 

„Ich habe ihn einmal geſehen, aber er hat mich damals nicht 
ſeiner Aufmerkſamkeit gewürdigt.“ 

„Ihr reiſt alſo zuſammen?“ 

„Er auf dem Verdeck, ich im Coupé.“ 

„Und wohin?“ 

„Nach Andelys.“ 

„Alſo dorthin fährt Marius?“ 

„Wenn er nicht halbenwegs ausſteigt. Ich für meinen Teil 
verlaſſe die Poſt in Vernon. Seine Route kenne ich nicht.“ 

„Denke dir nur, Marius! Was für ein ſcheußliche Name! Was 
für eine Idee, ibn fo zu nennen. Da iſt doch Theodule viel ſchöner!“ 

„Ich möchte gerne Alfred heißen.“ 


24° 371 


„Hör' mal, Theodule!‘ 

„Ich bôre ja, Tantchen.“ | 

‚Marius bleibt oft von zu Haufe fort. Macht Reiſen.“ 

„Soſo!“ 

„Er ſchläft außer Haus.“ 

„Oho!“ 

„Und wir möchten gerne wiſſen, was dahinterſteckt.“ 

Mit tiefſter Ruhe erwiderte Theodule: 

„Irgendein Frauenzimmer.“ 

„Offenbar“, rief die Tante, die glaubte, Herr Gillenormand 
zu hören. „Tu uns einen Gefallen. Geh dem Marius ein wenig 
nach. Er kennt dich ja nicht, du haſt es leicht. Suche dieſes 
Frauenzimmer zu ſehen und ſage uns, was es damit auf ſich 
hat. Es wird dem Großvater Spaß machen.“ 

Théodule hatte keine große Neigung zu ſolchen Dienſten, 
aber die zehn Louis hatten auf ihn einen großen Eindruck ge— 
macht, und er dachte, man könne es auf eine Fortſetzung an— 
kommen laſſen. Darum nahm er den Auftrag an und ſagte: 

„Ganz wie Sie wünſchen, Tante.“ 

Ich als Duenna, dachte er beluſtigt. 

Fräulein Gillenormand ſchloß ihn in ihre Arme. 

„Er iſt nicht wie du, Théodule, du würdeſt ſo etwas nicht tun. 
Du folgſt der Diſziplin, hältſt dich ſtreng an die Vorſchriften, 
biſt ein Mann mit Gewiſſen und Pflichtgefühl. Du würdeſt 
nicht deiner Familie entlaufen, um ſolch ein Geſchöpf zu ſehen.“ 

Der Kavalleriſt ſchnitt ein Geſicht wie ein Gauner, der 
wegen ſeiner Ehrlichkeit gelobt wird. 

Am ſelben Abend ſtieg Marius in die Poſtkutſche, ohne zu 
ahnen, daß er einen Wächter bekommen hatte. Dieſer Wächter 
allerdings hatte zunächſt nichts Wichtigeres zu fun als ein- 
zufchlafen. Er gab fi) dem Schlaf der Geredten bin. Argus 
ſchnarchte eine Nacht lang. 

Im Morgengrauen hörte er den Kondufteur rufen: 

„Vernon! Pferdewechfel in Vernon! Die Meifenden für 
Vernon ausſteigen!“ 


12 


Er wurde munter. 

„Richtig, murmelte er, „bier muß id ja heraus!’ 

Allmählich ordneten ſich feine Gedanken, die Tante fiel ihm 
ein, er gedachte der zehn Louis und des Auftrags, über Marius 
Bericht zu erftatten. Er mußte laden. 

Wahrſcheinlich ift er ſchon längſt ausgeftiegen, dachte er, 
während er feinen Uniformro® zufnöpfte. In Boiſſy, Zriel, 
Meulan oder fonftwo. Lauf ihm nad, Tantchen! Was fol ich 
ihr nur fchreiben, der braven Alten? 

In diefem Augenblif wurden vor der Fenfterfcheibe des 
Coupés zwei ſchwarze Hofenbeine fihtbar, die gerade vom Ber- 
def herabfletterten. 

Es war Marius. 

Ein Bauernmädchen fland vor dem Wagen, zwiſchen Pfer- 
den und Poftillions, und bot den Meifenden Blumen zum Kauf. 

Marius trat zu ihr und Faufte die fchönften aus ihrem Korbe. 

Hola, date Iheodule und fprang aus dem Coupe, das ift 
ja intereffant! Was mag bas nur für ein Weib fein, dem er 
jolhe Blumen bringt? Das muß ja ein Pradteremplar fein, 
nad dem Bukett zu fchließen. Das muß man fih anfchauen! 

Jetzt war es nicht mehr fein Auftrag, fondern die perfönliche 
Neugierde, die ihn veranlaßte, Marius zu folgen; er war ge- 
wiffermaßen ein Hund, der auf eigene Rechnung jagt. 

Marius achtete nicht auf Iheodule. Elegante Damen fliegen 
aus der Rutfhe. Er würdigte fie Feines Blickes. Er ſchien nichts 
zu feben. 

Er ift liebestoll, dachte Théodule. 

Marius ging zur Kirche. 

Sabelbaft, dachte Theodule, die Kirche! Ein Rendezvous, ge- 
ſchmackvoll mit einer Mefle verbunden, läuft immer gut ab. 
Man maht den Frauen befonders fbône Augen, wenn der 
liebe Gott zufieht. 

Aber Marius trat nicht ein. Er ging um die Kirche herum 
und verfhwand hinter einem der Strebepfeiler der Apfis. 


313 


Aha, fie treffen fit draußen, meinte Iheodule. Sekt auf- 


gepaßt! 


Auf den Zehenfpisen ſchlich er näher. löslich blieb er ver- 


blüfft fteben. 






































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374 


7. Marmor gegen Granit 


Leutnant Iheodule verlor vollfommen die Faſſung. Ein pein- 
fiches, unanalyfierbares Gefühl bemächtigte fit feiner, eine 
Mihung aus Scheu vor dem Grabe und Reſpekt vor dem 
Oberft. Als er surüdirat, war in feiner Bewegung etwas wie 
Difsiplin. Hier trat ihm der Tod mit großen Epauletten gegen- 
fiber, faft hätte Iheodule falutiert. 

Er wußte nicht, was er der Tante freiben follte und be- 
fchloß, überhaupt nichts zu tun. Vielleicht wäre aus Théodules 
Entdefung gar nichts geworden, wenn nicht dur einen jener 
Zufälle, die das Schidfal fo gern in bas menfchlihe Leben 
fireut, die Szene von Vernon faft unmittelbar in Paris eine 
Art Pendant gehabt hätte. 

Marius fam am dritten Tage frühmorgens von Dernon 
zurüc, ging in bas Haus feines Großvaters und eilte fofort in 
fein Zimmer; zwei Nächte in der Poftkutfche Hatten ihn er- 
müdet, und er empfand bas Bedürfnis, fi) irgendwie, etwa 
durch einen Befuh der Schwimmfhule, zu erfrifchen; darum 
nahm er fid nur Énapp die Zeit, feinen Mod zu wecfeln und 
bas ſchwarze Band abzulegen, dag er immer um den Hals trug; 
dann eilte er in das Bab. 

Gillenormand ftand wie alle rüftigen Greife frühzeitig auf. 
Er hatte feinen Enkel zurückkommen gehört und eilte, fo rafch 
wie ihn feine alten Beine trugen, in das Zimmer Marius” 
hinauf, um ihn zu begrüßen und ein wenig auszuhorden. 

Aber der unge war rafber binabgelaufen, als der Greis 
binauffteigen Éonnte, und als Vater Gillenormand in die Man- 
farde trat, war Marius fehon fort. Das Bett war nod un- 
berührt, der Mod und bas ſchwarze Band lagen darauf. Offen- 
bar hatte ihr Beſitzer fie arglos hier liegenlaffen. 

Das ift mir noch Fieber, dachte Gillenormand. 

Einen Augenblid fpäter trat er triumphierend in den Salon, 
in dem Fräulein Gillenormand faß und an einer Stiderei 
arbeitete, deren Mufter an die Mäder eines Kabrioletts 


375 


erinnerten. In der einen Hand hielt er den Mod, in der anderen 
das Halsband. 

‚Bir haben gefiegt! Gleich werden wir in bas Geheimnis 
eindringen: jest lernen wir die geheimen Wege des Laſters 
fennen! Hier haben wir den Moman, bier haben wir bas 
Porträt!‘ 

In der Tat hing an dem Band ein Fleines Täſchchen aus 
Ihwarzem Leder, einem Medaillon nicht unähnlich. 

Der Greis betradhtete es einige Zeit lang, ohne es zu Öffnen, 
gierig, entzückt und mit der Wut eines armen verhungerten 
Zeufels, vor deffen Augen ein wunderbares Souper angerichtet 
wird — aber nit für ihn. 

„Es ift beftimmt das Porträt. Auf folhe Dinge verftehe ich 
mich. Das trägt man nun zärtlich auf dem Herzen. Sind biefe 
Burfhen blöde! irgendeine alberne Stumpfnafe jedenfalls, vor 
der einem übel wird — die jungen Leute haben heute gar feinen 
Geſchmack mehr!’ 

„Laß feben, Vater”, fagte die alte Jungfer. 

Aber fie fanden nur ein forgfam zufammengefoltetes Stüd 
Papier darin. 

„Sie an ihn,” ladte Gillenormand, „ein Billetdoux!“ 

„Ab, wir wollen es leſen“, fagte die Tante und feßte die 
Brille auf. | 

Sie entfalteten das Papier und fanden folgendes: 

„An meinen Sohn! 

Der Kaifer hat mich auf dem Schlachtfelde von Waterloo 
zum Baron gemadt. Da die Meftauration mir den Titel, 
den ich mit meinem Blut erfauft babe, verweigert, foll mein 


Sohn ibn annehmen und tragen. Er wird gewiß feiner wür- 
dig fein.’ 


Was Vater und Tochter empfanden, läßt fi ſchwer wieder- 
geben. Es war ihnen zumute, als ob ihnen aus einem Toten- 
fopf ein eifiger Hauch entgegenwehte. Sie ſprachen Fein Wort. 
Endlich murmelte Gillenormand: 


376 


„Es ift die Handſchrift des Säbelraßlers.“ 

Die Tante prüfte das Schriftftücd und ſteckte e8 dann wieder 
in dag Etui. 

Sm felben Augenblick fiel ein Éleines, rechtedfiges Paketchen, 
in blaues Papier gewidelt, aus der Nocdtafhe. Fräulein Gil- 
lenormand bob es auf und nahm es aus bem Umfhlag. Es 
waren die Vifitenfarten Marius’. Gillenormand lag: 


Baron Marius Pontmercy. 


Der Greis fhellte. Nicolette trat ein. Gillenormand nahm 
das Band, das Etui und den Mod, warf alles mitten im Salon 
zu Boden und rief: 

„Schaffen Sie das Zeug hinaus!” 

Eine lange Stunde verftrih in tiefftem Schweigen. Vater 
und Tochter ſaßen in ihren Stühlen, Eehrten einander den Rük— 
fen und dachten offenbar basfelbe. Nah einer Stunde fagte 
Sante Gillenormand endlich: 

„Jette Sache, dag!’ 


Kurz nachher erfhien Marius. Schon auf der Schwelle be- 
merfte er, daB fein Großvater eine feiner DVifitenfarten in 
Händen hielt; und im felben Augenbli begann der Alte mit 
dem ganzen überlegenen Hohn des Großbürgers zu fchimpfen. 

„Hoho, du bift jett Baron! Alle Achtung! Und was fol das 
bedeuten?” 

Marius errötete leicht, dann antwortete er: 

„Das bedeutet, daß id der Sohn meines Vaters bin.’ 


Sofort hörte Gillenormand auf zu lachen und antwortete 
hart: 


„Dein Vater bin ich.” 

Mit niedergefchlagenen Augen und finfterer Miene antwor- 
fete Marius: 

„Mein Dater war ein befheidener und Fühner Mann, der 
der Mepublif und Frankreich ruhmvoll gedient hat, Anteil ge- 
nommen bat und groß war in dem herrlichften Teil der Ge- 
fhidte, der je von Menfchen erlebt worden ift, ein Mann, der 


377 


ein Dierteljaprhundert im Selblager sugebradt bat, fich bei 
Tag dem Feuer der Gewehre und Kanonen, des Nachts dem 
Regen, Sturm und Schnee ausgefeht hat, der zwei Fahnen er- 
oberte, zwanzigmal verwundet wurde und elend und verlaffen 
ftarb, und der nur einen einzigen Fehler beging, nämlich den, 
zwei Undankbare allzufehr zu Lieben, fein Land und feinen 
Sohn.” 

Das war mehr als Gillenormand ertragen Éonnte. Bei dem 
Wort NRepublif war er aufgeftanden oder, beffer gefagt, auf- 
gefahren. Tedes Wort Marius’ übte auf bas Gefibt dieſes 
alten Royaliſten diefelbe Wirfung aus wie ein Blafebalg auf 
glübende Kohlen. Er war purpurrot geworden. 

„Darius, brüllte er, „abſcheulicher unge, ich weiß nicht, 
wer bein Dater war, und id will eg nicht wiffen! Michts weiß 
ih, gar nichts, aber eins weiß ich, daß alle diefe Kerle nur 
Schurken waren! Alle zufammen nur Bettler, Mörder, ver- 
fluhte Notmüsen, Diebsgefindel! Alle fage ich, alle! Verftebft 
du? Du bift als Baron nicht mehr als mein Pantoffel! Alle 
waren fie Banditen, diefe Schufte, die bem Mobespierre dienten, 
alle Verräter, Verräter an ihrem rechtmäßigen König. Feig- 
linge, die vor den Preußen und Engländern in Waterloo davon- 
gerannt find! Das weiß ih. Wenn dein Herr Dater einer von 
denen war, fo will ich nichts davon wiffen, und es ift ſchlimm 
genug.‘ 

Test war Marius Feuer und Gillenormand Slafebalg. 

Der unge zitterte an allen Gliedern, feine Stirne brannte. 
Endlich bob er die Augen, fab feinem Großvater ftarr ing Ge- 
ſicht und brüllte: 

„Nieder mit ben Bourbong, nieder mit diefem fetten 
Schwein Ludwig XVIII.!“ 

Ludwig XVIII. war in diefem Augenblic bereits vier Jahre 
tot, aber bas war ja gleichgültig. 

Der Greis wurde jeßt ebenfo weiß wie feine Haare. Zweimal 
ging er langfam und fchweigend vom Kamin bis zum Fenfter, 
fo fhwer, daß die Dielen krachten, wie eine Statue aus Stein. 


318 


Test neigte er fit zu feiner Tochter herab, die verſchüchtert mie 
ein altes Schaf dafaß, und fagte mit einem faft ruhigen 
Lächeln: 

„Ein Baron wie der Herr und ein Bürger wie ich können 
nicht unter dem gleichen Dad) leben.“ 

Gleich darauf fuhr er wieder hoch und jchrie, den Arm aus- 
ſtreckend: 

„'raus!“ 

Marius verließ das Haus. 

Am nächſten Tage ſagte Gillenormand zu ſeiner Tochter: 

„Du ſchickſt dieſem Blutſauger halbjährlich ſechzig Piſtolen 
und ſprichſt niemals von ihm.“ 


Drittes Buch 
Die freunde des A⸗B⸗C 
l. Anwärter auf die Weltgefhidte 


Jene Zeit war nur fheinbar apathifch. Überall regten fit 
revolutionäre nftinfte. Der Geift von neunundahtzig und 
zweiundneunzig war wieder in der Luft. In der Jugend regte 
es fi. Ohne es felbft zu merfen, folgten die Menfchen dem 
Drang der Zeit, eine Wandlung vollzog fih in ihnen. Der 
Uhrzeiger, der unaufbaltfam vorfreitet, bewegte fih aud in 
den Seelen. jeder tat feinen Schritt vorwärts, die Movaliften 
wurden liberal, die Liberalen Demokraten. 

Es gab damals in Frankreich noch nicht jene gewaltigen Ge- 
heimorganifationen wie den Œugendbund in Deutfhland und 
die Carbonari in Italien; aber im Dunfel rührte es fich be- 
reits. Die Cougourd wurde in Air gegründet; in Paris gab es 
unter anderen ähnlichen Briberfhaften biefer Art die Gefell- 
Ihaft der Freunde des A-B-C. 

Mer waren diefe AB-E-Leute? Eine Gefellfehaft, die es fi 
angeblih zum Ziele gefeßt hatte, für die Kindererziehung zu 
wirfen, in Wirklichkeit aber die Ermedung der Erwachſenen 


379 


betrieb. Es waren ihrer nicht viele; eine Geheimgefellfchaft, ge- 
wiffermaßen nod im Embryonalzuftand. In Paris hatte fie zwei 
Verfammlungslofale, bei den Halles, eine Kneipe namens Co- 
rinthe, am Pantheon ein Éleines Café, das Cafe Mufain; 
Corinthe war das Verfammlungslofal der Arbeiter, Café Mu- 
fain bas der Studenten. 

Die regelmäßigen Zufammenfünfte der Freunde des A-B-C 
fanden in einem Hinterzimmer des Café Mufain ftatt. Diefer 
Raum lag ziemlich abjeits und wurde nur burd einen langen 
Gang mit zwei Fenftern und einem GSeitenausgang nad) der 
Mue de Grès mit den Gefhäftsräumen verbunden. Hier raudte, 
trank, fpielte und lachte man. Saut unterhielt man fi über 
allerlei, leife über anderes. An der Wand hing, genügend, um 
den Spürfinn eines Polizeiagenten zu wecken, eine Karte der 
Republik Frankreich. 

Die meiften Freunde des A-B-E waren Studenten, die mit 
den Arbeitern auf gutem Fuß ftanden. Die wichtigſten wollen 
wir nennen, denn fie gehören ja gewiflermaßen der Geſchichte 
an: Enjolras, Combeferre, Jean Prouvaire, Feuilly, Cour- 
feurac, Bahorel, Lesgle, oder Laigle, Joly, Grantaire. Unter- 
einander waren biefe jungen Leute eine große Familie, zufam- 
mengebalten dur die Bande der Freundfhaft. Alle außer 
Laigle ftammten aus dem Süden. 

Einer unter diefen jungen Leuten war ein Kahlfopf. 

Der Marquis d’Avarai, den Ludwig XVIII. zum Herzog 
gemacht hatte, weil er ibm am Tage feiner Flucht in den Wagen 
geholfen, erzählt in feinen Memoiren, daB der König 1814, 
als er in Calais an Land ging, einen Mann mit einer Bitt- 
Ihrift in Audienz empfing. 

Bas wollen Sie?’ fragte der König. 

„Sire, eine Beftallung als Poſtmeiſter.“ 

„Wie heißen Sie?‘ 

Migle. 

Der König runzelte die Stirn und warf einen Blick auf die 
Bittſchrift, auf der der Name Lesgle geſchrieben war. Dieſe 


380 


antibonapartiftifhe DOrthographie gefiel ibm, und er mußte 
lächeln. 

„Sire,“ ſagte der Mann, „einer meiner Ahnen war ein 
Hundewärter, dem gab man den Spitznamen Lesgueuiles, die 
Mäuler. Daraus wurde ein Familienname. Ich heiße eigentlich 
Lesgueiles, zuſammengezogen Lesgle und entſtellt l'Aigle.“ 

Wieder mußte der König lachen. Später bekam jener Mann 
das Poſtamt von Meaux. 

Der Kahle unter den Freunden des A-B-E war ein Sohn 
jenes Lesgle oder Lègle. Seine Freunde nannten ihn Boſſuet. 

Boffuet war ein Iuftiger Burfche, der fehr viel Pech hatte. 
Seine befondere Geſchicklichkeit war es, nichts zuwege zu brin- 
gen. Und immer lachte er über fein Mißgeſchick. Schon als 
Siebenundzmwanzigjähriger war er fabl. Sein Vater hatte es 
bis zum DBefißer eines Haufes und eines Stücks Aderland ge- 
bracht, aber der Sohn brachte es zumege, fall zu fpefulieren 
und Haus und Grund zu verlieren. Nichts war ihm verblieben. 
Er befaß Geift und Kenntniffe, aber er wußte nichts damit an- 
zufangen. Alles trog, alles täufchte ihn. Wenn er Holz fpalten 
wollte, traf er feinen Finger. Glaubte er eine Geliebte zu haben, 
fo mußte er bald bemerken, daß er durch fie auch einen Freund 
hatte. Immer paffierte ihm etwas, immer war er jovial und 
luftig. Er fagte felbft von ſich: 

„Ich wohne unter einem Dach, deflen Ziegel febr oder 
ſitzen.“ 


2. Boſſuet hält eine Leichenrede 
auf Blondeau 


Eines Nachmittags ſtand Laigle aus Meaux gemütlich an 
dem Türpfoſten des Café Muſain gelehnt. Er ſah aus wie eine 
Karyatide auf Urlaub. Er trug nichts als ſeine träumeriſchen 
Gedanken. | 

So blidte er auf den Pas Saint-Michel hinaus. Seine 
Nachdenklichkeit hinderte weder ein Kabriolett vorüberzufahren, 


381 


noch ihn felbft, davon Kenntnis zu nehmen. Laigle fab bin. In 
dem Gefährt faf ein junger Mann, der einen ziemlich umfang- 
reihen Reiſeſack vor ſich liegen hatte, und auf diefem Meifefacf 
ftand fo groß, daß jedermann es lefen Eonnte: 

Marius Pontmercy 


Diefer Dame veranlaßte Laigle, feine Stellung zu verändern. 
Er wandte fi um und rief: 

„Herr Pontmercy!/ 

Das Kabriolett hielt an. 

Der junge Mann, der darin faß, fbien ebenfalls in Ge- 
danfen verfunfen; jest blickte er auf. 

„Run? 

„Sind Sie Herr Marius Pontmercy?// 

„Ohne Zweifel.’ 

„Ich Tuhe Sie . . . 

„Wieſo denn?’ fragte Marius. „Ich Éenne Sie doch gar 
nicht.” 

„Ich Sie aud nicht.” 

Marius glaubte es mit einem Spaßvogel zu tun zu haben, 
der ibn mitten auf der Straße myftifisieren wollte. Er war 
augenblicklich nicht bei Laune und rungelte die Stirn. Aber 
Laigle ließ ſich nicht einfchüchtern. 

„Sie waren vorgeftern nicht im Kolleg?” 

„Wohl möglich.” 

„Es ift niht nur möglich, es ift fogar fiber, Herr.’ 

„Sind Sie Student?” 

„Ja, fo gut wie Sie. Vorgeftern war ich zufällig dort. Sie 
wiffen, man kommt mandmal auf ſolche Einfälle. Da Fam der 
Profeffor auf die dee die Mamen zu verlefen. Sie wiffen 
wohl, die Herren ſcheuen manchmal nicht, fih auf diefe Weiſe 
lächerlich zu machen. Wer zum drittenmal fehlt, wird von ben 
Liften geftriben. Sechzig Franken Gebühren find beim Teufel.’ 

Marius war aufmerffam geworden. 


382 


„Es war Blondeau, der die Namen verlas. Sie Éennen doc 
biefen Blondeau, diefen fpißnafigen DBosnidel, der fih einen 
Spaß daraus mat, die Schwänzer zu erwifchen. Tückiſcher— 
weife begann er mit bem Buchſtaben P. Ich hörte nit zu, 
denn beim D kann ich mich nicht Fompromittieren. Es ging ganz 
gut, alle Welt war da. Dlondeau tief betrübt. Blondeau, dachte 
ich, Geliebtes, heute ermifhft du nichts. Da rief er gerade: 
Marius Pontmercy! Niemand antwortet. Blondeau wiederholt 
hoffnungsvoll: Pontmerey! Schon greift er nad der Feder. 
Herr, id babe ein Herz, ich dachte: da fol einer bereinfpringen, 
Vorſicht! Das ift ein anftändiger Kerl, der nicht auf die Ord— 
nung achtet. Kein Mufterjunge. Kein Burſch mit Blei im Hin- 
tern, nicht fo ein Studer, Streber. Das ift ein ehrenmwerter 
Faulpelz, der fpazierengeht, etwas für die Natur übrighat, der 
Kultur der Grifetten dient, den Schönen den Hof madt, und 
vielleicht eben bei feiner Mätreſſe liegt. Netten wir ihn. Mieder 
mit Blondeau! 


Der hatte jeßt die Feder eingetaucht, Tieß feine Tigeraugen 
durh bas Auditorium fehweifen und rief zum drittenmal: 
Marius Pontmercy! Da antwortete ih: ‚Hier! Und dadurd 
find Sie auf der Lifte geblieben.’ 

„Herr! rief Marius. 

„Dafür bin ich geftrichen worden‘, verfiherte Laigle aus 
Meaur. 

Das verfteh’ ich nicht.‘ 

„Nichts einfacher als bas. Ich ſaß ganz vorn. Der Profeflor 
ftierte mid an. Diefer Dlondeau [heint eine Mafe zu haben. 
Plöslic fpringt er von D auf L über. Lift mein Buchftabe. 
Ich bin aus Meaur und heiße Lesgle.// 

„Laigle,“ unterbrad Marius, „welch fchöner Name!’ 

„Kurz, diefer Blondeau kommt zu meinem fhônen Namen 
und ruft: ‚Laigle!“ ‚Hier!‘ rufe ih. Blondeau betrachtet mich 
mit jener Güte, die den Tigern eigentümlich ift, lächelt und fagt: 
‚Wenn Sie Pontmercy find, find Sie nit Laigle. Das ift eine 


383 


Seftftellung, an der Ihnen nichts Liegen Éann, für mich aber war 
fie unangenehm. Ich wurde geftrien.// 

„ber, mein Herr, ich bin außer mir! 

„Vor allem’, unterbrach Laigle, „‚erbitte id von Ihnen die 
Erlaubnis, über Herrn Blondeau einige Worte des Lobes 
außern zu dürfen. Sch nehme an, daß er tot ift. Bei feiner 
Magerkeit und DBläffe, bei feinem Gerud hat er nicht viel zu 
leiften, um diefen legten Schritt zu tun. Und darum fage id: 
Erudimini qui judicatis terram! Hier ruht Blondeau, Blon- 
deau die Mafe, Blondeau Mafica, der Difsiplinobfe, bos dis- 
ciplinae, die Säule der Ordnung, der Engel der Namens- 
verlefung, der gerecht, rechtfchaffen, pünktlich, ebrenivert und 
abfheulid war. Gott bat ibn von der Lifte geftrichen, wie er 
mich ſtrich.“ 

„aber ich bin verzweifelt... .// 

„Junger Mann,‘ fagte Laigle aus Meaur, ‚möge Ihnen 
dies eine Lehre fein, gehen Sie in Hinfunft pünftlicher ins 
Kolleg.’ 

„Ich bitte taufendmal um Entſchuldigung!“ 

„Seen Sie fi in Zukunft nicht der Gefahr aus, daß hr 
Nächſter geftrihen wird.” 

„Ich bin verzweifelt... .// 

„Und ich bin entzückt‘‘, erwiderte aigle. „Schon war ich im 
Begriff, jenen Abhang hinunterzurollen, an deffen tieffter Stelle 
man Advofat wird. Diefe Streihung rettet mich. Sch entfage 
den Triumphen der Advofatur! Ich werde weder Witwen ver- 
teidigen, nod Waiſen fhädigen. Adieu Toga, adien lange Kon- 
zipientenzeit! Das verdanfe ich ihnen. Selbftverftändlich werde 
ich Ihnen eine feierlihe Danfoifite abftatten. Wo wohnen Sie?’ 

„In diefem Rabriolett.!/ 

„Ein Zeihen von Verſchwendungsſucht“, erwiderte Laigle 
ruhig. „Ich gratuliere. Diefes Zimmer foftet neuntaufend 
Sranfen jährlich.‘ | 

In diefem Augenblid trat Courfeyrac aus dem Cafe. 

Marius lächelte traurig. 


384 


„Ich bin erft vor zwei Stunden hier eingezogen und hoffe 
bald wieder heraus zu Eönnen; es ift die alte Gefchichte, ich weiß 
nicht, wo ich bin fol.” 

„Kommen Sie zu mir’, ſchlug Courfeyrac vor. 

„Ich babe ältere Rechte,“ bemerkte Laigle, „aber id kann 
fie nicht geltend machen, da ich felbft Feine Wohnung habe.’ 

„Schweig doch, Boſſuet!“ erwiderte Courfeyrac. 

„Boſſuet?“ fragte Marius, „ich dachte, Sie hießen Laigle.“ 

„Laigle aus Meaux; nur metaphoriſch Boſſuet.“ 

Courfeyrac ſtieg in den Wagen. 

„Kutſcher,“ rief er, „Hotel de la Porte-St.Jacques!“ 

Und am ſelben Abend bezog Marius in jenem Hotel das 
Zimmer neben Courfeyrac. 


3. Marius wundertfid 


Schon nad) wenigen Tagen war Marius Courfeuracs Freund. 
Die Jugend ift die Zeit rafher Brüche und fchneller Heilungen. 
Bei Eourfeyrac Fonnte Marius frei aufatmen, und bas war 
ihm neu. Man fragte ibn nichts. Er braudte nicht an irgend 
etwas zu denfen. Übrigens fagen ja in diefem Alter die Ge- 
fihter alles. Worte find unnüß. 

Eines Morgens fragte Courfeyrac ihn unvermittelt: 

„propos, haben Sie eigentlich eine politifhe Meinung?‘ 

„Ita willen Sie’, meinte Marius faft beleidigt. 

„Was find Sie denn?’ 

„Bonapartiftiiher Demokrat.” 

„Die Barbe der Mäuschen, die fih nicht mehr vor der Rage 
fürchten‘, meinte Courfeyrac. 

Und am nädften Tag führte er ihn im Café Mufain ein. 
„Ich muß Sie mit der Nevolution in Fühlung bringen”, flü- 
fterte er beim Eintreten. 

Marius wurde den Freunden des A-B-C vorgeftellt: 

„Ein Schüler.” 

Er geriet in ein Wefpenneft der Geifter. Bisher war er ein 


25 Hugo, Die Elenden. 385 


Einfiedler gewefen, der den Monolog pflegte, und darum war 
er zunächſt verfchüchtert, als er fo viele junge Leute um fich fab. 
Das erregte Auf und Ab der Ideen verwirrte ihn. Manchmal 
verftiegen fie fih in Negionen, in die er ihnen kaum folgen 
fonnte. Er hörte von Philofophie, Literatur, Kunft, Gefhichte 
und Religion auf eine Weife fprechen, die ibn überrafchte. Als 
er die Anfichten feines Großvaters mit denen feines Vaters 
vertauſcht hatte, war er der Meinung gewefen, jebt babe er eine 
Grundlage für fein Leben gefhaffen. Beunruhigt, und ohne es 
fih recht einzubefennen, merfte er jeßt, daß er voreilig geweſen 
war. Wieder verfhob fi der Gefihtswinfel, in dem er die 
Dinge fab. Er litt faft darunter. 

Übrigens fébien es, daß es für diefe jungen Leute nichts Hei- 
liges gab. Über alles wurde höchft fonberbar und in einer Weife 
gefproden, die Marius’ ſchüchternen Geift verlehte. Niemand 
fagte bier: der Kaifer. Sean Prouvaire nannte ihn Napoleon, 
die andern fagten Bonaparte, Enjolras fogar Buonaparte. 

Marius wunderte fib. Initium sapientiae. 


4. Resangusta 


Die Wirklichkeit des Lebens ließ fih nicht verdrängen. Mit 
erftaunliher Ellbogenfraft machte fie fidy geltend. 

Eines Morgens trat der Hotelwirt in Marius’ Zimmer 
und fagte: 

„Herr Eourfeyrac bat für Sie gebürgt.‘ 

ALES 

‚Aber ich brauche Geld.” 

„Ditten Sie Courfeyrac zu mir.‘ 

Marius erzählte Courfeyrac, daß er fo ziemlich allein in der 
Welt finde und Feine Verwandten habe; bisher hatte er nicht 
daran gedacht, es ihm zu jagen. 

„Run, was foll werden?” fragte Courfeyrac. 

„Ich weiß nicht.” 

„Bas wollen Sie tun?‘ 


386 


„Ich babe Feine Ahnung.’ 

„Haben Sie Geld?” 

„Sünfzehn Franken.‘ 

„Sol ich ihnen welches leihen?‘ 

„Bott bewahre!“ 

„Haben Sie Kleider?‘ 

„Bas Sie hier fehen.” 

„Schmuck?“ 

„Eine Uhr.“ 

„Iſt ſie von Silber?“ 

„Von Gold, ſehen Sie.“ 

„Ich weiß einen Händler, der Ihnen Ihren Rock und Ihre 
Hoſen abnehmen wird.“ 

„Gut.“ 

„Aber Sie haben dann nur mehr eine Hoſe, eine Weſte, 
einen Hut und einen Rock.“ 

„Und meine Schuhe.“ 

Bas, nicht einmal barfuß müſſen Sie laufen? Welch ein 
Luxus!“ | 

„Es wird reichen.” 

„Und einen Uhrmacher weiß ich, der Ihre Uhr Faufen wird.” 

„But. 

„Nein, bas ift gar nicht gut. Was werden Sie nachher tun?’ 

„Alles was notwendig ift. Zu minbeftens alles was an- 
ftändig iſt.“ 

„Können Sie Engliſch?“ 

„Nein.“ 

„Deutſch?“ 

„Nein.“ 

„Schade.“ 

„Warum?“ 

„Einer meiner Freunde, ein Verleger, gibt eine Art Lexikon 
heraus, für das Sie deutſche und engliſche Artikel überſetzen 
könnten. Überſetzungen werden ſchlecht bezahlt, aber man lebt 
davon.“ 


387 


„Gut, id werde Englifh und Deutfch Ternen.” 

„Und bis dahin?‘ 

„Solange fann id meine Kleider und meine Uhr aufeffen.// 

Man ließ den Händler kommen. Er zahlte für die Kleider 
zwanzig Franken. Der Uhrmacher gab für die Uhr fünfunb- 
vierzig. 

„Iſt nicht einmal übel,’ meinte Marius zu Courfeyrac, „mit 
meinen fünfzehn Sranfen macht das achtzig.“ 

„Und die Hotelrehnung?‘ 

„Hola, die babe ich vergeſſen!“ 

Der Wirt präfentiert feine Rechnung, die fofort begliben 
werden mußte. Sie belief fih auf fiebzig Franken. 

„Jetzt bleiben mir noch zehn.” 

„Hol's der Teufel,” meinte Courfeyras, ‚fünf, um Engliſch 
zu lernen, und fünf für Deutfh. Sie werden die Sprachen ent- 
weder fehr rafd lernen oder mit einem Hundertſousſtück fehr 
lang leben müſſen.“ 

Inzwiſchen hatte Sante Gillenormand Marius’ Wohnung 
ausfindig gemadt. Als Marius eines Morgens von der Uni- 
verfität nah Haufe Fam, fand er einen Brief und die fechzig 
Piftolen, alfo fehshundert Franken in Gold, in einer ver- 
fiegelten Schachtel. 

Marius fhidte bas Geld feiner Tante zurück und richtete 
einen febr höflihen Brief an fie, in dem er behauptete, feine 
Eriftenz fei gefichert, und er könne fit von nun an felbft er- 
halten. Er befaß damals gerade nod drei Franfen. 

Und damals verließ Marius das Hotel, um nicht nod tiefer 
in Schulden zu finfen. 


Viertes Buch 


Dehrmeitter Unglück 


1 Marius in Not 


Das Leben wurde hart für Marius. Seine Kleider und feine 
Uhr aufeflen, ift bas Schlimmfte nicht, aber bald mußte er auch 


388 


biefe Nahrung gegen bas Hungertuch vertaufhen. Wie fred, 
lich find Tage ohne Brot, Nächte ohne Schlaf, Abende ohne 
Kerze, ungeheizte Zimmer, Wochen ohne Arbeit, eine boffnungs- 
Iofe Zufunft, burgefheuerte Ellbogen, alte Hüte, über die 
junge Mädchen laden, eine Türe, die man des Abends ver- 
fhloffen findet, weil man die Miete nicht bezahlt bat, unver- 
Ihämte Bemerfungen des Portiers und des MWirts, Hohn der 
Nachbarn, Demütigungen, peinliche Arbeiten, die man über- 
nommen bat, Efel, Bitterfeit, Kummer. Marius lernte, wie 
man alles dag binunterfhludt — und wie es oft bas einzige 
ift, was man zu fohluden bat. Gerade in jenem Alter, in dem 
der Menfch den Stolz braudt, weil er die Liebe ſucht, fühlt er, 
daß man fi über ihn Iuftig madıt, weil er fehlecht gekleidet ift, 
und ihn verladht, weil er Mot leidet. Es ift eine furdtbare und 
herrliche Probe, aus der die Schwachen vernichtet, die Starfen 
veredelt hervorgehen. 

Es gab in Marius” Leben eine Zeit, da Eehrte er felbft den 
Boden feines Zimmers, Faufte für einen Sou Käfe aus Brie 
bei der Gemüfehändlerin, wartete bis Einbrud der Nacht, um 
zu einem Bäcker zu eilen und ein einziges Brötchen zu Faufen, 
bas er feu forttrug, als ob er es geftoblen hätte. 

Er trug nod Trauer nad feinem Dater, als diefe Zeit an- 
hub. Später hatte er die Gewohnheit beibehalten, ſchwarz zu 
geben. Aber die ſchwarzen Gewänder blieben nicht bei ihm. Es 
fam der Tag, da alles fehlte. Mur die Hofe ging noch. Was 
tun? Eourfeyrac, dem er feinerzeit einige Dienfte geleiftet hatte, 
gab ihm einen alten Mod. Den ließ Marius von einem Portier 
für dreißig Sous wenden, fo hatte er einen neuen. Aber diefer 
Rock war grün. Darum ging Marius jest nur mehr nad 
Einbrud der Dunkelheit aus. Dann war fein Rock aud 
ſchwarz. Er wollte in Trauer gehen, alfo Fleidete er fih in 
die Nacht. 

Zroß allem erlangte er den Advofatenrang. Er hatte vor- 
getäufcht, daß er Courfeyracs Zimmer bewohnte, bas einiger- 
maßen anftändig ausfab und in dem einige Nechtshandbücher 


389 


und Romane berumftanden: bas war die Bibliothef, die bas 
Meglement verlangte. 


Auch feine Poft ließ er dahin richten. 


2. Marius arm 


Mit dem Elend ift e8 wie mit allem. Schließlich wird es 
erträglich. Es nimmt eine beftimmte Form an. Man vegetiert, 
man entwidelt fih auf eine beftimmte jämmerliche Weife, aber 
dem Leben gefchieht Genüge. 

Und fo richtete Marius Pontmercy fi ein. 

Durd Fleiß, Mut und Zähigfeit war es ihm gelungen, fich 
ein Einkommen von etwa fiebenhundert Sranfen jährlich zu 
Ihaffen. Er hatte Deutfh und Englifch gelernt. Dank Cour⸗ 
feprae, der ibn mit feinem Freunde, dem Verleger befannt 
gemacht hatte, Eonnte er Fleinere Arbeiten befommen. Er ver- 
faßte Profpekte, überfeßte Zeitungsartikel, verfab Meuausgaben 
mit Anmerkungen, Eompilierte Biographien — kurz, er ver- 
diente fchleht und recht feine fiebenhundert Sranfen. Davon 
lebte er. Wie? Nicht fo fblebt! Man wird gleich fehen. 

Er bewohnte im Gorbeaufhen Haufe ein Loch ohne Kamin, 
bas fi) Kabinett nennen ließ, und in dem es an Möbeln nur 
dag Unentbehrlihfte gab; dafür zahlte er jährlich dreißig 
Sranfen. Die Möbel gehörten ihm. Drei Franfen monatlich 
gab er der alten Dermieterin, damit fie die Aufwartung be- 
forgte, ihm jeden Morgen ein wenig warmes Wafler, ein 
frifhes Ei und ein Brot für einen Sou bradte. Diefes 
Brot und diefes Ei waren fein Frühſtück. Der Preis ſchwankte 
zwifchen zwei und vier Sous, je nach der Jahreszeit, ob die 
Eier gerade billig oder teuer waren. Um febs Uhr abends 
ging er in die Rue Saint-arques und fpeifte bei Mouffeau, 
gegenüber von Baſſet, dem Kupferftihhändler, an der Ede der 
Mue des Marthurins. Die Suppe ließ er aus. Er nahm ein 
Sleifhgericht zu febs Sous, eine halbe Portion Gemüfe zu drei 
Sous und ein Deffert für drei Sous. ‘Brot nad Belieben für 


390 


drei ous. Start Wein Waſſer. Wenn er am DBüfett, wo 
Frau Moufleau immer noch fett und frifch refidierte, feine Rech— 
nung beglih, gab er nod einen Sous für den Kellner, was 
Srau Moufleau mit einem Lächeln quittierte. Dann ging er. Für 
fechzehn Sous ein Diener und einmal Lächeln. 

Diefes Neftaurant Rouſſeau, in dem fo viele Waſſerkaraffen 
und fo wenig Weinflafchen geleert wurden, eriftiert heute nicht 
mehr. Der Beſitzer hatte einen bübfhen Spisnamen, er hieß 
allgemein der Waſſerrouſſeau. 

FSrühftüc vier Sous, Diner ſechzehn Sous — maht zwanzig 
Sous täglih für Ernährung; alfo dreihundertfünfundfechzig 
Sranfen im Jahr. Dazu dreißig Sranfen Miete und ſechsund— 
dreißig für die Alte und einige Mebenausgaben; für vierhun- 
dertfünfzig Sranfen war Marius ernährt, bequartiert und be- 
dient. Seine Kleidung fÉoftete ibm jährlih Hundert Sranfen, 
die Wäſche fünfzig, die Waſchfrau ebenfoviel. Alles zufammen 
jehshundertfünfzig. lieben fünfzig. Er war reih. Konnte ge- 
legentlih einem Freund mit zehn Franken aushelfen. Cour- 
feyrac hatte einmal von ibm fünfzig Sranfen entliehben. Was 
die Heizung betraf, hatte Marius die Sache fehr einfoh — 
mangels eines Ramins. 


3. Marius erwadfen 


Er zählte damals zwanzig Sabre. Seit drei Jahren hatte er 
bas Haus feines Großvaters verlaffen. Seither war Feine An- 
näberung, Eein DBerfühnungsverfuh erfolgt. Übrigens, wozu 
hätte er ibn feben follen? Marius war ein Gefäß aus Erz, aber 
Gillenormand ein Iopf aus Eifen. 

Und dabei müflen wir offen einbefennen, daß Marius fi 
in feinem Großvater täuſchte. Er bildete fi ein, Gillenormand 
babe ihn niemals geliebt, diefer kurze, harte, fpöttifhe Mann, 
der immer fluchte, fehrie, tobte und mit dem Stock drohte, habe 
für ibn bôdftens eine flüchtige Zuneigung empfunden. Aber er 
irrte. Es gibt Väter, die ihre Söhne nicht mögen, aber es gibt 


391 


feinen Großvater, der feine Enkel nit liebt. Und Gillenor- 
mand vergôtterte Marius. Er tat es auf feine Art, mit Püffen 
und Obrfeigen, aber jest, da der junge fort war, fühlte er eine 
düftere Leere in feinem Herzen. Er verlangte, daß von dem 
Burfhen nit mehr geredet werde, aber insgeheim ärgerte er 
fi, daß man ihm gehordte. Anfangs hoffte er auch wohl, diefer 
DBonapartift, Jakobiner, Zerrorift würde zurücdfommen. Aber 
es vergingen Wochen und Monate, ja fogar Sabre, und zur 
größten Verzweiflung Gillenormands blieb der Blutfauger aus. 
Ich Eonnte bo nichts anderes tun, dachte er, id mußte ibn 
hinauswerfen. Oder er überlegte: wenn id mich noch einmal zu 
entfheiben hätte, täte ich es wieder? Sein Stolz antwortete 
raſch bejahend, aber dann fehüttelte er traurig den alten Kopf 
und geftand leife, daß er es doch nicht getan hätte. Es Famen 
Stunden der Miedergefhlagenheit. Marius fehlte ibm. 

Mas die Tante betraf, fo dachte fie viel zuwenig, um lieben 
zu EFönnen; für fie war Marius nur etwas Vages, Un- 
beftimmtes; ſchließlich befhäftigte fie fih mit ibm weniger als 
mit der Kake oder mit dem Papagei; denn wir nehmen ohne 
weiteres an, daß fie einen befaß. 

Mährend der Alte bebauerte, von feinem Enfel getrennt zu 
fein, freute Marius fi darüber. Ihm ging es wie allen guten 
Herzen, das Unglüd befreite ihn von der Bitterfeit. Er dachte 
ohne Zorn an Gillenormand, aber er beftand darauf, nichts von 
bem Manne anzunehmen, der feinen Vater ſo ſchlecht be- 
handelt hatte. 

Als er aus dem Haufe des Großvaters gejagt worden war, 
hatte er nod feinen Mann abgeben Fönnen. Jetzt aber war er 
erwachſen. Die Armut ift vor allem der Jugend nützlich, denn 
fie firafft den Willen zu SKroftleiftungen und infpiriert Die 
Seele. Sie zeigt dag materielle Leben in feiner fchredlichen 
Nacktheit und lenkt alle Kräfte auf dag Ideal. Ein reicher 
junger Man findet hundert glänzende und grobe Zerftreuungen, 
Pferderennen, die Jagd, Hunde, Tabak, das Spiel, opulente 
Mahlzeiten und anderes mehr; DBefriedigungen der niedrigen 


392 


Inſtinkte auf Koften der hohen. Ein armer junger Mann plagt 
fi um fein Brot, ift fib gerade fatt und überläßt fih dann 
der Träumerei. Er genießt die Schaufpiele, zu denen Gott 
foftenlofen Eintritt gewährt, fieht den Himmel, die Sterne, 
die Kinder, alle die Menfchen, unter denen er leidet. Er träumt, 
denft an feine Größe, überwindet den Egoismus des Leibenden 
und läutert fih zum denfenden Wefen, bas Mitleid empfindet. 
Jetzt wird ein erbabenes Gefühl in ibm wach, er vergibt ſich 
felbft und empfindet für die andern. Bald wird er, der Mil- 
lionär der Empfindungen, die Millionäre des Geldes beflagen. 
Im Ausmaß, in dem es in feiner Seele liht wird, ſchwindet 
der Hab. Das Elend eines jungen Menfchen ift fein Elend. So 
furchtbaren Entbehrungen er auch ausgefeßt fein mag, mit feiner 
Gefundheit, feiner Kraft, feinem lebhaften Gang, feinen glän- 
senden Augen, feinem heißen Blut, feinen weißen Zähnen und 
feinem reinen Atem wird er immer nod einem alten Kaifer 
Meid einflößen. Tag für Tag verdient er fein ‘Brot, wird auf- 
rechter und ftolzer, inbeffen fein Gehirn fih mit Gedanken be- 
reichert. ft fein Tagewerk vollendet, fo gibt er fit feinen 
Sreuden und Betrahtungen hin. Mit den Füßen fteht er auf 
dem Boden der Kümmernis, der Hinderniffe, aber feine Stirn 
ift von Licht überftrablt. 

So gefhah es auch mit Marius. Vielleicht gab er fid ein 
wenig zu febr den Freuden der Iräumerei bin. Seit er ein 
fiheres Ausfommen gefunden hatte, war er befcheiden geworden, 
fand es gut, arm zu fein, und fuchte nicht mehr Arbeit, um ganz 
feinen Gedanfen leben zu Eönnen. Manchmal verbradte er Tage 
damit, nachzufinnen und wie ein Vifionär den Stimmen feines 
inneren zu laufhen. Er bemerfte nicht, daß die Befinnlibfeit 
die Formen der Saulbeit annehmen kann; daß er fit vorzeitig 
begnügt hatte, nur die dringendften Lebensbedürfniſſe zu deden. 

Zweifellog bedeutete diefer Zuftand für eine energifche und 
hochherzige Natur wie die feine nur einen Übergang; auf den 
erften Anhieb würde er erwachen und ſich aufraffen. 

Obwohl er Advokat war, Élagte er niemand, Élagte nicht einmal 


393 


über fein eigenes Leben. Statt des Plädoyers übte er die 
Zräumerei. Gründe austüfteln, zu den Gerichten laufen, das 
war langweilig. Wozu follte er es auch? Er hatte Feinen Grund, 
einen anderen DBroterwerb zu fuhen. Sein Verleger, ein 
Minfelverleger, bot ihm immerhin fichere Arbeit und einen Er- 
trag, der genügte. 

Ein anderer, id glaube, e8 war Magimel, bot ihm freie 
Station und fünfzehnhundert Franken jährlich an, wenn er eine 
regelmäßige Arbeit Teiftete. Eine angenehme Wohnung! Fünf: 
zehnhundert Franken! Das waren ohne Zweifel Vorteile. Aber 
folte er feiner Freiheit entfagen! Ein Gehaltsempfänger 
werden ? 

Nach Marius’ Meinung mußte fi feine Lage, wenn er an- 
nahme, verbeflern und zugleich verfhledtern, denn er gewann 
an materiellen Gütern, verlor aber an Würde; an Stelle 
Ihöner Mot würde etwas Häßliches, Lächerliches treten. Er 
lehnte ab. 

Insgeſamt hatte er nur zwei Freunde, einen jungen, Cour- 
fevrac, und einen alten, Mabeuf. Den alten 309 er vor. Er 
war es, der den Anftoß zu feiner ganzen Entwidlung gegeben 
hatte, durch ibn hatte er feinen Bater Éennen und lieben gelernt. 

Er bat mir den Star geftoben, fagte er. 


FünftesBuch 
Begegnung zweier Sterne 
l. Syignamen werden zu Familiennamen 


Zur Zeit feines tiefften Elends hatte Marius beobachtet, 
daß die Mädchen fih ummandten, wenn er vorüberging; dann 
lief er davon oder verftedte fih, den Tod in der Seele. Er 
glaubte, man fähe ihm wegen feiner alten Kleider nad und ver- 
lache ibn; in Wirklichkeit aber warf man ihm Blicke zu, weil 
er gefiel. 

Diefes ſtumme Mißverftändnis hatte ihn menſchenſcheu 


394 


gemadt. Er wählte fit Feine Geliebten, aus dem zwingenden 
Grunde, weil er alle mied. Er lebte gleichgültig oder, wie Cour- 
feurac fagte, blöde, vor fid bin. 

Wenn Courfeyrac ihm begegnete, begrüßte er ihn oft: 

„Tag, Herr Abbe! 

Und bo gab es auf diefer Welt zwei Frauen, die Marius 
nicht mied und vor denen er fich nicht verftedte. Er wäre au 
höchft verwundert gewefen, wenn man ibn darauf bingewiefen 
hätte, daß es Frauen waren. Die eine war die bärtige Alte, 
die fein Zimmer fegte, die andere ein ganz junges Mädchen, 
das er oft fab und dem er feinen Blick fhenfte. 

Seit mehr als einem Jahr bemerfte Marius in einer ver- 
laffenen Allee des Lurembourg-Öartens, in der Allee, die an 
der Baumfchule entlang läuft, einen Mann und ein fehr junges 
Mädchen; faft immer faben fie auf der Bank am Ende der 
einfamen Allee. Und fo oft der Zufall, der ja die Spaziergänge 
der Träumer lenft, Marius in diefe Allee führte, und bas ge- 
fab faft täglich, begegnete er diefem Paar. Der Mann mochte 
ſechzig Sabre zählen. Er fab traurig und ernft aus. Seine fräf- 
tige und zugleich müde Geftalt ließ darauf ſchließen, daß er ein 
penfionierter Offizier wäre. Um Marius in diefer Überzeugung 
zu flärfen, hätte er nur einen Orden fragen müflen. Er fab 
gütig aber unnabbar aus, und nie ließ er feinen Slif auf je- 
mand ruhen. Er trug blaue Hofen, einen blauen Rock und einen 
breitfrempigen Hut, ein ſchwarzes Halstuh und ein blendend 
weißes aber grobes Quäkerhemd. 

As er das junge Mädchen das erftemal neben dem Greis 
fisen fab, mochte fie dreizehn oder vierzehn Jahre alt fein; fie 
war mager, faft häßlich, linfifé und unbedeutend; vielleicht 
hatte fie Schöne Augen, doch hielt fie fie mit einer Sicherheit, 
die mibfallen Eonnte, immer nad oben gerichtet. Gefleidet war 
fie kindiſch und doch alt, wie Klofterzöglinge; ein ſchlechtgeſchnit— 
tenes Kleid aus grober, ſchwarzer Merinowolle. Die beiden 
mochten wohl Vater und Tochter fein. 

Zwei- oder dreimal fab Marius diefen alten Mann, der noch 


395 


fein Greis, und biefes junge Mädchen, das nod Feine Frau 
war, an, dann achtete er nicht mehr auf die beiden. Sie ihrer: 
feits fbienen ihn gar nidt bemerft zu haben. Sie plauderten 
friedlich und faft gleihgültig miteinander. Das Mädchen play- 
perte heiter und ohne Unterlaß, der Alte fprad wenig, ftreifte 
das Kind aber zuweilen mit einem zärtlich-väterlihen Blick. 

Obwobl diefe beiden niemandes Slide auf fit ziehen wollten, 
oder vielleicht gerade darum, hatten fie die Aufmerffamfeit von 
fünf oder ſechs Studenten erregt, die zumeilen in jener Allee 
fpazierengingen. Courfeyrac hatte fie einige Zeit beobachtet, 
fand das Mädchen aber häßlich und beeilte fih, aus ihrer Nähe 
zu verfchwinden. Wie ein Parther, war er aber nicht geflohen. 
ohne einen Pfeil auf fie abzufchießen: einen Spisnamen. Da 
ihn nur das ſchwarze Kleid der Kleinen und die weißen Haare 
des Alten intereffiert hatten, nannte er bas Mädchen Made- 
moifelle Tanoire und den Mann Monfieur Leblanc; und da nie- 
mand wußte, wie die beiden wirflich hießen, trat der Spitzname 
an die Stelle des echten. Die Studenten fagten wohl: „Ach, 
Herr Leblanc ift auf feiner Bank!“ und aud wir wollen der 
Bequemlichkeit halber diefen Nomen beibehalten. 

Marius begegnete den beiden ein Jahr lang faft täglich, 
fand ben Mann angenehm, das Mädchen aber abftoßend. 


2 Lux est 


Im nächſten Jahre, alfo zu jenem Zeitpunkt, bis zu welchem 
wir den Lefer bereits begleitet haben, gefchah es, daB Marius, 
ohne deflen recht zu achten, nicht mehr nad dem Lurembourg 
ging; ſechs Monate lang mied er feine Allee. Eines Tages Fam 
er bo wieder dahin, an einem heiteren Sommermorgen, und 
er war vergnügt, wie man es nur bei gutem Wetter fein Fann. 

Sofort eilte er nad feiner Allee, und als er anfam, ge- 
wahrte er, immer nod auf derfelben Bank, fein Paar. Doc 
war nur der Mann derfelbe geblieben, das Mädchen fchien aus- 
getaufcht worden zu fein. est fab er ein erwachſenes, hübſches 


396 


Gefhöpf, das bereits die reizenden Formen der Frau zeigte, 
ohne indeflen die naive Anmut der Kindheit verloren zu haben; 
diefer flütige Augenblick war gefommen, den man nur mit zwei 
Morten umfchreiben Éann: fünfzehn Jahre. Wunderfchöneg, 





faftanienbraunes Haar, dag golden fhimmerte, eine Stirn von 
Marmor, Wangen, die Mofenblättern glichen, ein unendlich 
blaffer, zarter Teint, ein köſtlicher Mund, von dem ein Lächeln 
wie ein Licht aufftrahlte, Eurz ein Kopf, den Raffael einer 
Maria und Jean Gojon einer Venus aufgefest hätte. Und damit 


397 


nichts an biefem reizenden Gefihichen fehlte, war die Mafe 
nicht fhôn, fondern hübſch, weder gerade nod gebogen, weder 
ifalienifd nod griehifch, fonbern eine rechte Parifer Naſe, 
etwas Feines, Geiftvolles, Unregelmäßiges, das die Maler zur 
Derzweiflung und die Dichter in Entzüden bringt. 

As Marius an ihr vorüberfam, Éonnte er ihre Augen nicht 
feben, denn fie blickte zu Boden. So bemerfte er nur ihre 
langen Éaftanienbraunen, fhambaften Wimpern. 

Zunächſt baie Marius, es fei eine andere Tochter desfelben 
Mannes, eine Schwefter der erften. Aber als die gewohnte 
Drdnung des Spaziergangs ihn ein zweites Mal an jener Banf 
vorüberführte, erfannte er, daß es biefelbe war. In ſechs Mo- 
naten war bas Éleine Mädchen ein junges Mädchen geworden 
— eine febr häufige Erfcheinung. Denn es gibt einen Augen- 
blif im Leben der Mädchen, wo fie fih plöslih verwandeln 
und entfalten. Geftern waren fie nod Kinder, heute ftören fie 
ung bereits in unferer Ruhe. | 

Diefe war nicht nur größer, fondern aud ſchöner. Wie im 
April drei Tage genügen, um gewiffe Bäume mit Blüten zu 
bededfen, fo hatten ihr fes Monate genügt, um fi in Schön- 
heit zu Eleiden. hr April war gekommen. 


3. Wirfung des Frühlings 


Eines Tages war die Luft lau, der Lurembourg-Öarten lag 
freundlich) in der Sonne, unter einem reinen Himmel, als ob die 
Engel den Morgen fauber gewaschen hätten; zwitfchernd flogen 
die Sperlinge in den Kronen der Kaftanienbäume bin und ber. 

Marius hatte feine ganze Seele der Natur aufgetan, dachte 
an nichts und atmete glüclic bas ftrahlende Leben in fich ein, 
als er an jener Bank vorüberging; da fab bas junge Mädchen 
auf, und die Slide der beiden begegneten einander. 

Mas war nur diesmal in den Augen des jungen Mädchens? 
Marius hätte es nicht angeben können. Da war nibts, und dod) 
alles: ein feltfames Licht. 


398 





Sofort blidte fie wieder nieder, und er feñte feinen 
Meg fort. 

Mas er gejehen hatte, war nicht das ahnungslofe Auge eines 
Kindes gewefen, fondern eine geheimnisvolle Tiefe, die fid vor 
ihm öffnete und fofort wieder fchloß. 

As Marius am felben Abend nad Haufe Fam, warf er einen 
Blick auf feine Kleider und bemerfte zum erftenmal, daß es 
höchſt unzukömmlich, ja fogar unerhört blöde fei, in biefem All— 
tagsaufzug zum Lurembourg zu geben; mit einem zerbeulten 
Hut, plumpen Kutfcherftiefeln, an den Knien blanfgefcheuerten 
Hofen und einem Mod, durch deffen Armel die Ellenbogen 
durchſchauten. 


4. Beginn einer ſchweren Krankheit 


Am nächſten Morgen entnahm Marius zur gewohnten 
Stunde ſeinem Schrank den neuen Rock, die neue Hoſe, den 
neuen Hut und die neuen Stiefel; dann kleidete er ſich in dieſe 
vollendete Tracht, zog, um den Luxus vollkommen zu machen, 
Handſchuhe an und ſpazierte in den Luxembourg-Garten. 

Unterwegs begegnete er Courfeyrac und tat, als ob er ihn 
nicht ſähe. Zu Hauſe erzählte Courfeyrac ſeinen Freunden: 

„Soeben begegnete ich Marius' neuem Rock und Hut; 
Marius war drin. Offenbar ging er zum Examen. Er ſah 
furchtbar dumm aus.“ 

Im Luxembourg angekommen, ging Marius zunächſt um das 
Baſſin herum und beobachtete die Schwäne; lange Zeit blieb 
er betrachtend vor einer Statue ſtehen, deren Kopf vom 
Mooſe geſchwärzt und deren eine Hüfte ausgebrochen war. End- 
Ich, nad einem neuen Rundgang um das Baſſin, wandte er 
fi zu feiner Allee, langſam und faft widerftrebend. Es fab 
aus, als ob er gleichzeitig gezwungen und behindert fei, dahin 
zu gehen. Aber er Iegte ſich nicht darüber Rechenſchaft ab und 
glaubte nichts anderes zu fun, als was er alle Tage tat. 


399 


Als er in feine Allee einbog, gewahrte er fofort am anderen 
Ende ‚auf ihrer Bank“ Herrn Leblanc und das junge Mädchen. 
Er knöpfte feinen Rock bis oben zu, 309 ihn über feinen Körper 
ftraff, damit er Feine Falten bilde, prüfte mit einem gewiffen 
Wohlgefallen den Spiegel feiner Hofen und ging dann auf die 
Bank zu. In der Art, wie er auf fie zufehritt, lag etwas von 
Eroberertum. Er marfchierte, möchte ich jagen, auf diefe Bank 
zu, wie Hannibal auf Nom. 

Sm übrigen vollzog fib alles ganz mechanifch, e8 waren die 
gewöhnlichen Gedanken, die ihn befbäftigten. Er dachte in 
biefem Augenblicf an bas ,, Sandbudb zur Erlangung des Bacca- 
laureats“ und Fam zu dem Schluffe, es fei dumm und offenbar 
von feltenen Idioten redigiert worden, da es zwar drei Tra- 
gödien des Macine, aber nur eine Komödie des Molière aus- 
führlich behandelte. In den Ohren hatte er ein eigentümliches 
Pfeifen. Als er der Bank näher Fam, zupfte er nod einmal 
feinen Mod zurecht, und feine Blicke richteten fih auf das junge 
Mädchen. Er hatte den Eindrud, als ob diefer ganze Teil der 
Allee in ein feltfam bläulihes Licht getaucht fei. 

Se näher er Fam, um fo langfamer wurde fein Gang. Als 
er nur mehr ein wenig von der Bank entfernt war, bei weitem 
no nicht am Ende der Allee, blieb er fteben, und er wußte 
felbft nicht wie, aber plößlih machte er Fehrt. Ihm wurde nicht 
einmal bewußt, daß er nicht bis an das Ende der Allee gelangt 
war. Kaum hatte ibn das junge Mädchen bemerft und feine 
neuen Kleider erkennen Éônnen. Doch ging er febr aufrecht, 
um eine gute Figur zu machen, falls zufällig jemand hinter ihm 
gehe und ihn beobachte. 


5. Ein Blitzſchlag trifft Frau Dougon 


Am nächſten Tage bemerfte die Keif-Alte (Mame Bougon, 
wie der Spötter Courfeyrae Marius’ Wirtin nannte, obwohl 
fie eigentlih Frou Burgen hieß), daB Herr Marius wieder in 
feinen Feiertagsfleidern ausging. 


400 


Sie war verwundert. 

Er ging in den Lurembourg, wagte fit aber nicht weiter als 
bis zur Hälfte feiner Allee. Dort feste er fih auf eine Bank 
und beobachtete aus der Ferne den weißen Hut, bas fchwarze 
Kleid und insbefondere den blauen Tichtfhimmer. Er rührte 
fi) nicht, ging nicht einmal, als die Tore des Lurembourg ver- 
ſchloſſen wurden. Als Herr Leblanc mit feiner Tochter aufbracb, 
bemerfte er nichts. Später Fam er zu der Anſicht, die beiden 
müßten wohl durd das Tor an der Rue de l'Oueſt den Part 
verlaffen haben. Mod Wochen nachher Fonnte er fib nicht er- 
innern, wo er an jenem Abend gegeflen hatte. Und aud am 
nächften, dem dritten Tag, war Mame Bougon wie vom Blik- 
Ihlag getroffen. Wieder ging Marius in feinen Feiertags- 
Fleidern aus. 

„Dreimal nacheinander!” rief fie entfest. Sie wollte ihm 
folgen; aber Marius ging fo fchnell und mit großen Schritten, 
es war, als ob ein Milpferd einer Gemfe nachlaufen wollte. 
Mad zwei Minuten hatte fie ihn aus den Augen verloren und 
Éam, ganz außer Atem und wütend, nad Haufe. 

„Ob das nun einen Sinn hat,” murrte fie, ‚täglich feine 
beften Kleider anzuziehen und die Leute fo in Schweiß zu 
bringen?’ 

Marius war wieder im Lurembourg. 

Das junge Mädchen und Herr Leblanc waren da. Der junge 
Mann ging fo nahe heran, als irgendwie anging, indem er vor- 
täufchte, er fei in fein Buch vertieft; dann bezog er wieder auf 
feiner Bank Poften und beobachtete vier Stunden lang in der 
Allee die Sperlinge, die ſich benahmen, als machten fie ſich über 
ihn Tuftig. 


6. Gefangen 


An einem der Iekten Tage der zweiten Woche ſaß Marius 
wieder wie gewöhnlich auf feiner Bank und hielt bas aufge- 
fblagene Sud in der Hand, obwohl er feit zwei Stunden fein 
Blatt umgemwendet hatte. Plöglich begann er zu zittern. Am 


26 Hugo, Die Elenden. 40] 


Ende der Allee ging etwas vor. Herr Leblanc und feine Tochter 
waren aufgeftanden, bas Mädchen hatte den Arm des Vaters 
genommen, und beide näherten ſich langſam dem Plage Marius. 
Er Elappte fein Buch zu, ſchlug es wieder auf und begann 
krampfhaft zu lefen. Er zitterte. Das Licht Fam geradeswegs 
auf ihn zu. 

Großer Gott, dachte er, ich babe nicht einmal Zeit, mid in 
eine anftändige Haltung zu bringen! 

Inzwiſchen Famen der Mann mit den weißen Haaren und 
bas junge Mädchen näher. Marius fhien es, als ob biefer 
Gang ein Jahrhundert dauerte, und doch war alles nur eine 
Sade von Sefunden. 

Mas wollen fie nur hier? dachte er. Dh, fie werden hier vor- 
überfommen. 

Er war außer fih, wollte recht hübſch ausfehen, hätte gern 
in biefem Augenblick bas Kreuz an der Bruft getragen. Schon 
hörte er ihre Schritte im Sande Énirfhen. Er dadıte, daß Herr 
Seblanc ibn mißmutig anfehe. Will er mit mir fprechen, fragte 
er fih. Er fenfte den Kopf. Als er wieder aufblicfte, waren die 
beiden faft vor ihm. Das junge Mädchen ging vorüber und fab 
ihn feft an, mit einer fanften Nachdenkflichfeit, die Marius von 
Kopf bis zu Fuß erfbauern Tieß. Ihm war, als ob fie ibm 
Vorwürfe made, daB er fo lange ferngeblieben fei, und ibm 
fage: gut, alfo komme ih. Er mar geblendet vom Glanz ihrer 
tiefen Augen. 

Sein Gehirn glühte wie ein Fenerbeden. Sie war zu ibm 
gefommen! Und wie fie ihn angefehen hatte! Sie fhien ihm 
Ihöner als je. Schön auf eine zugleich weibliche und engelhafte 
Art, von jener Schönheit, die ein Petrarca befungen und vor 
der ein Dante niedergefniet wäre. Ihm war zumute, als ob er 
im blauen Himmel fchwebe. Und gleichzeitig wor es ihm höchſt 
unangenehm, daß feine Stiefel ftaubig waren. 

Gewiß hatte fie auch feine Stiefel bemerkt. 

Er bliefte ihr nach, bis fie verfehwunden war. Dann begann 
er im Lurembourg auf und ab zu laufen wie ein Narr. Es ift 


402 


fogar wabribeinlih, daß er laut lachte und fprab. So nach— 
denklich blieb er bei den Kindermädchen ſchließlich fteben, daß 
jede meinte, er wäre in fie verliebt. 

Zulest verließ er den Park, in der Hoffnung, den beiden auf 
der Straße zu begegnen. 

Unter den Arkaden des Obéon ftieß er auf Courfeyrac und 
jagte zu ihm: 

„Kommen Sie mit mir eſſen.“ 

Sie gingen zu Mouffleau und gaben ſechs Franfen aus. 
Marius af wie ein Wolf. Dem Kellner gab er fehs Sous. 
Beim Deffert fragte er Courfeyrac: 

„Haft du die Zeitung gelefen? Diefer Aubry de Puyraveau 
bat eine herrliche Rede gehalten.‘ 

Er war bis über die Ohren verliebt. 

Mad dem Effen fagte er zu Courfeyrac: 

„Ich lade dich ein, gehen wir ins Theater.“ 

Sie gingen nach der Porte Saint-Martin und fahen Fre- 
deric in der Auberge des Adrets“. Marius amüſierte fic 
köſtlich. 

Dabei war er menſchenſcheuer als je. Als ſie aus dem The— 
ater kamen, wollte er nicht das Strumpfband einer Modiſtin 
ſehen, die gerade über den Rinnſtein ſtieg, und als Courfeyrac 
ſagte: „Die Kleine möchte ich gern für meine Kollektion“, 
graute ihn faſt. 


7, Abenteuer um den Subftaben U 


Ein langer Monat verftrih, und täglich ging Marius in den 
Lurembourg. Nichts Eonnte ihn, wenn die Stunde gefommen 
war, zurüdhalten. „Er bat Dienſt“, meinte Courfeurac. 
Marius lebte in einem Meer des Entzüdens. Seht Fonnte er 
nicht mehr daran zweifeln, daB das Mädchen feine Blicke er- 
widerte, 

Er war Fühner geworden und näherte fi) der Bank, doc 
wollte er nicht an ihr vorbeigehen, vielleicht aus Schüchternheit, 


26* 403 


vielleicht aus Borfibt. Er wollte nicht die Aufmerkſamkeit des 
Vaters auf fih lenfen. Mit einem Madinvellismus fonder- 
gleihen hatte er fih von Baum zu Baum, von Statue zu 
Statue einen Weg ausgerechnet, der es ihm ermöglichte, dem 
jungen Mädchen fo nahe zu fommen und bod für den alten 
Herren unfihtbar zu bleiben. Manchmal blieb er eine halbe 
Stunde lang reglos im Schatten irgendeines Leonidas oder 
Spartacus, ein Bud in Händen, über deflen Rand feine 
Augen, fanft gehoben, nad dem ſchönen Mädchen ausfchauten; 
und auch fie gônnte ihm ein ungefähres, reizendes Lächeln. 
Während fie aufs natürlichfte und harmlofefte mit dem Weiß- 
baarigen plauderte, gab ihr zugleich jungfräulicher und doc 
leidenfchaftliher Slif Marius Anlaß zu endlofer Träumerei. 
Das war die uralte und ewig neue Technik, die Eva am erften 
Zage erfann, und die noch heute jeder Frau am Tage ihrer Ge- 
burt vertraut ift. Ihr Mund antwortet dem einen, ihr Blick 
dem anderen. 

Doc hatte es den Anfchein, als ob Herr Leblanc fchließlich 
etwas gemerft hätte, denn oft, wenn Marius Fam, ftand er auf 
und ging fpazieren. Auch hatte er feinen alten Platz aufgegeben 
und am anderen Ende der Allee die Bank neben dem Gladiator 
gewählt, als ob er in Erfahrung bringen wollte, ob Marius 
ihm dahin folgen werde. Marius begriff nicht und beging diefen 
Sebler. et begann der Water unpünftlih zu werden und 
bradıte feine Tochter nicht mehr täglich bin. Manchmal Fam er 
allein. Dann blieb Marius nicht. Auch das war ein Fehler. 

Und Marius beachtete diefe Symptome nit. Einem [hid- 
fjalbaften und naturgemäßen Fortfehritt entfprehend war er 
aus dem Stadium der Schüchternheit in bas der Blindheit 
übergegangen. Seine Liebe wuchs. Nächtelang träumte er vor 
fit bin. Und endlich geſchah ibm ein unerwartetes Glück, OT 
auf fein Feuer, um ihn vollends zu verblenden. Eines Abends 
in der Dunfelheit fand er auf der Bank, von der Herr Leblanc 
und feine Tochter eben aufgeftanden waren, ein Zafchentuch, ein 
ganz gewöhnliches, unbordiertes Zafchentuh, aber weiß und 


404 


zart; ibm iwenigftens fien es, als ob es einen berrliben Duft 
ausftröme. Begeiftert ftecfte er es zu fic. 

Diefes Tafhentud zeigte die Buchſtaben U. F. Marius 
wußte nichts über biefes fhöne Mädchen, weder ihren Nomen 
noch ihre Wohnung; diefe beiden Initialen waren bas erfte, was 
er von ihr erfuhr, wunderbare Sjnitialen, auf die er alljogleid) 
ein ganzes Gerüft der Dermutungen aufsuribten begann. 
U war offenbar der Vorname. Urfule, dachte er, wie köſtlich tft 
diefer Mame! Er küßte das Tafhentub, atmete feinen Duft 
ein und trug es an feinem Herzen, auf bloßer Bruſt, um es 
nachts an feine Lippen zu drücken. 


Ihre ganze Seele duftet mir aus diefem Tuch entgegen, 
dachte er. 


Es gehörte dem alten Herrn, dem e8 ganz einfach aus der 
Zafche gefallen war. 

In den nähftfolgenden Iagen erfhien Marius im Lurem- 
bourg nur mit jenem Taſchentuch, das er immer wieder Füßte 
und ans Herz drückte. Das ſchöne Kind begriff nicht und gab 
es ibm durch faft unmerfliche Zeichen zu verfteben. 

Mie füß ift fie in ihrer Schambhaftigfeit, dachte er. 


8 Mondfinfternis 


Der Lefer bat gefehen, wie Marius entdeckte oder entdeckt zu 
haben glaubte, daß fie Urfule hieß. 

Liebende werden nie fatt. ihren Namen zu wiflen, [bien fehr 
wichtig, aber e8 war doc recht wenig. In drei oder vier Wochen 
hatte er dag Glück aufgezehrt und wollte ein neues. Jetzt wollte 
er auch willen, mo fie wohnte. 

Schon hatte er einen Fehler begangen, als er in den Hinter- 
halt fiel und den beiden zu dem Gladiator folgte. Dann beging 
er einen zweiten: er blieb nicht im Lurembourg, wenn Herr 
Leblanc allein fam. Und jet den dritten, den ungeheuerlichften: 
er ging Urfule nad. 


405 


Sie wohnte in der Rue de l'Oueſt, in einer verfehrsarmen 
Gegend, in einem neuen, dreiftödigen, recht einfachen Haufe. 

Don jest an brauchte fit Marius nicht mehr darauf zu be- 
ihränfen, ihr im Lurembourg zu begegnen, er Eonnte ihr auch 
nachgehen. 

Er wurde immer hungriger. Er wußte wie fie hieß, den Vor— 
namen wenigfteng, er wollte aber au wiffen, wer fie war. 

Eines Abends, nachdem er ihr bis zu ihrem Haufe gefolgt 
war, trat er ein und fragte tapfer den Portier: 

„War bas der Herr aus dem erften Stod, der eben nad) 
Haufe Fam?’ 

„Nein, der Herr aus dem dritten.” 

Wieder ein Schritt vorwärts. Marius wurde Fühner. 

‚Born heraus?“ 

„Das Haus bat Feine Hinterfront.” 

„Was iſt der Herr?‘ 

„Ein Rentner. Ein fehr guter Menfh, denn er N den 
Armen, obwohl er felbft nicht reich iſt.“ 

„Wie heißt der Herr?‘ 

Der Portier blickte auf. 

„Sind Sie ein Spiel?” 

Marius 309 verblüfft ab, war aber doc entzüct. Er hatte 
Fortſchritte gemacbt. 

Gut, dachte er, fie heißt Urfule, ift die Tochter eines Rent— 
ners und wohnt hier, Aue de l'Oueſt, im dritten Stod. 

Am nädhften Tag kamen Herr Leblanc und feine Tochter nur 
für ganz furze Zeit nach dem Lurembourg. Mod bei hellichtem 
Tag gingen fie wieder. Marius folgte ihnen wie gewöhnlich. 
Bevor Herr Leblanc eintrat, hieß er feine Tochter vorausgehen, 
wandte fih um und fab Marius ftarr an. 

Am nähften Tag Famen fie nit in den Lurembourg. 
Marius wartete vergeblich bis zum Abend. 

As es dunkel war, ging er nad) der Nue de l’Oueft und fab 


406 











Lit im dritten Stock. Nun ging er unter den Senftern auf 
und ab, bis bas Licht ausgelöfcht wurde. 

Am nähften Tag — im Lurembourg nichts. Wieder Poften 
unter den Fenftern. Das dauerte bis zehn Uhr. Das Abendeflen 
fiel unter den Tiſch. Den Kranken nährt bas Fieber, den Ver— 
liebten die Liebe. 

So vergingen at Tage. Marius erging fih in den trau- 
rigften Dermutungen. Er wagte nicht, unter Tags das Haus 
zu beobachten. Nur nachts erfühnte er fi, bis in den rötlichen 
Schimmer der Fenfter vorzudringen. Manchmal gemabrte er 
einen Schatten, und fein Herz ſchlug heftig. 

As er am achten Tag unter den Fenftern vorüberfam, be- 
merfte er Fein Licht. 

„Ach, fie haben die Lampe noch nicht angezündet,’ meinte er, 
‚und doch ift es fchon finfter. Sollten fie ausgegangen fein?’ 

Er wartete bis zehn. Bis Mitternaht. Bis ein Uhr mor- 
gens. Kein Licht erfhien in den Fenftern des dritten Stods, 
niemand betrat das Haus. 

Zroftlos ging er heim. 

Als er am nächſten Tag wieder Fein Licht fab, fogar bemerkte, 
daß die Jalouſien berabgelaffen waren, Elopfte er an das Haus— 
for und fragte den Portier: 

„Der Herr aus dem dritten Stof — ?// 

„Iſt ausgezogen.” 

Marius taumelte. 

„Seit wann denn nur?” 

„Seit geſtern.“ 

„Und wo wohnt er jet?’ 

„Ich weiß nicht.” 

„Hat er denn nicht feine neue Adreſſe binterlaffen?// 

„Nein.“ 

Jetzt erkannte der Portier Marius. 

„Ach Sie find es! Sie find alſo bob ein Spitzel!“ 


407 


Sechstes Buch 
Der ſchlechte Arme 


1. Marius fuhrt ein Mädchen mit einem Hut 
und findet einen Mann mit einer Mübe 


Der Sommer verging, der Herbftz es wurde Winter. 

Weder Leblanc no das junge Mädchen hatten ben Fuß wie- 
der in den £urembourg-Garten gefeßt. Marius dachte nur mehr 
darüber nad), wie er biefes fanfte, anbetungswürdige Geficht wie- 
derfeben Fönnte. Immer und überall fuchte er, aber er fand 
nichts. Gest war er nicht mehr Marius der Schwärmer, der 
Enthufiaft, der bas Schickſal kühn in die Schranken forderte, 
der Mann, in deflen Kopf es fehwirrte von Plänen, Ideen und 
Wünſchen; jeht war er wie ein Hund ohne Herrn. Er verfanf 
in düftere Traurigfeit. Es war aus. Die Arbeit widerte ihn an, 
das Spazierengehen ermüdete ihn, die Œinfamfeit war lang- 
weilig; felbft die Natur, früher fo überreih an Formen, Ge- 
ftalten und Stimmen, [bien ihm jetzt Ieer. Alles, dachte er, 
war verfchwunden. 

Wohl machte er fit Vorwürfe. Warum bin id ihr nad- 
gegangen, fragte er. War ih nicht glüdlib, fie auch nur zu 
feben? Sie erwiderte meinen Blick. War dag nicht ein großes 
Glück? Es fhien, fie Tiebte mich. ft das nicht alles? 

Ich war von Sinnen. Alles ift meine Schuld. — 

Er hatte Eourfeyrac nit ins Vertrauen gejogen, das wäre 
nicht feine Art gewefen, aber der Student erriet faft alles — 
und bas war feine Art —, und erft hatte er ibn beglückwünſcht 
zu feiner Derliebtheit, dann aber, als Marius melancholiſch 
wurde, hatte er gejagt: 

„Aha, bu haft die Sache dumm angefangen!’ 

Einmal hatte Marius eine Begegnung, die auf ihn einen 
tiefen Eindruck machte. Er hatte die Straßen rings um den 
Boulevard des Invalides durchquert und war einem Menfchen 
begegnet, der wie ein Arbeiter angezogen war und eine Mise 


408 


mit langem Schirm trug, fo daß man feine ſchneeweißen Haare 
faum feben fonnte. Und bod war Marius betroffen gewefen 
von der Schönheit diefer weißen Haare und betrachtete aufmerf- 
fam ben Mann, der langfam und wie in fraurige Gedanfen 

















verfunfen einberging. Seltfam, er glaubte Herrn Leblanc zu 
erfennen. Es waren feine Haare, es war fein Profil, ja fogar 
die gleihe Haltung, nur frauriger. Was aber bedeuteten biefe 
Arbeiterfleider? War das eine Verkleidung? 

Marius war febr erftaunt. 3 


409 


Als er wieder Faſſung gewann, wollte er zunächſt jenem 
Manne folgen, denn vielleiht war er doch auf der richtigen 
Fährte. Zum mindeften wollte er ben Mann aus der Nähe an- 
feben und das Rätſel löfen. Aber diefer Gedanke Fam ibm zu 
ſpät, der Mann war fon verfhwunden. Er mußte in irgend- 
eine Seitenftraße eingebogen fein. Einige Tage lang ftand 
Marius unter dem Eindrud diefer Begegnung, dann vergaß er 
fie wieder. 


2. Ein Fund 


Mod immer wohnte Marius im Gorbeaufhen Haufe. Er 
achtete auf niemand. 

Zu jener Zeit waren übrigens außer ihm und jener Familie 
Sondrette, mit der er bisher direft no nit in Verbindung 
gefommen war, Feine Mieter in dem Haufe. Alle anderen 
waren forfgezogen, geftorben oder ausgemietet. 

Auch den Vonbrettes hatte 1831 das gleihe Schickſal ge- 
droht; aber Frau Burgen hatte damals Marius davon erzählt, 
und er hatte den Leuten mit fünfundzwanzig Sranfen aus der 
Verlegenheit geholfen, jedoch unter der Bedingung, daß fein 
Name nicht genannt werde. 

An einem Winternahmittage, an dem die Sonne fih ein 
wenig hervorgewagt hatte, verließ Marius fein Heim. Es war 
an der Zeit, zum Effen zu gehen, denn — Gebrechlichkeit der 
idealen Leidenfhaften — auch der Körper fordert fein Med. 

Nachdenklich fpazierte er den Boulevard zum Tore hinunter, 
um nad der Rue Saint-Vacques zu gelangen. Plötzlich ftieß 
ihn jemand an; er wandte fit um und fab zwei zerlumpte junge 
Mädchen, ein langes, mageres und ein anderes Fleineres; atem- 
108 und verängftigt Tiefen fie an ihm vorbei; er hatte den Ein- 
brud, daß fie vor jemand flohen. Offenbar hatten fie ihn nicht 
gefehen. In der bereinbreenden Dammerung Éonnte er ihre 
Gefihter, ihre zerzauften Köpfe, ihre elenden Hüte, jämmer- 
lien Kleider und bloßen Füße immerhin noch ausnehmen. Im 


410 


Saufen fprachen die beiden miteinander. Die Größere fagte zu 
der Kleineren: 

„Und fon war die Polente da. Aber bei mir haben fie vor- 
beigehauen.“ 

„Ich hab' ſie gleich gerochen. Dann bin ich abgeſchaukelt.“ 

Marius erriet aus dieſen Worten, ſo unbekannt ihm auch die 
Sprache war, daß die Gendarmen hinter den beiden Mädchen 
her geweſen waren, aber ohne ſie zu fangen. 

Die beiden verſchwanden unter den Bäumen des Boulevards. 
Einen Augenblick lang ſah Marius ihnen nach. 

Eben wollte er weitergehen, als er zu ſeinen Füßen ein 
graues, kleines Paket liegen ſah. Er bückte ſich und hob es auf. 
Es war eine Art Karton, in dem allerlei Papiere zu ſtecken 
ſchienen. 

Ah, ſagte er, das haben dieſe armen Geſchöpfe verloren! 

Er wandte ſich um und rief, aber vergeblich; offenbar waren 
ſie ſchon weit. Alſo ſteckte er das Paket in die Taſche und 
ging eſſen. 

Bald ſchlugen ſeine Gedanken wieder ihre gewöhnliche Rich— 
tung ein, und er träumte wieder von jenen ſechs Monaten des 
Glücks und der Liebe, die er unter den ſchönen Bäumen des 
Luxembourg verbracht hatte. 


3. Vierköpfig 


Als er ſich abends entkleidete, um zu Bett zu gehen, griff er 
in ſeine Rocktaſche und fand darin das Paket, das er auf dem 
Boulevard aufgeleſen hatte. Längſt hatte er es vergeſſen. Er 
dachte, daß es nützlich ſein werde, es zu öffnen, da er vielleicht 
ſo die Adreſſe der beiden jungen Mädchen erfahre und in die 
Lage verſetzt würde, ihnen ihr verlorenes Eigentum zurückzu— 
erſtatten. 

Alſo öffnete er den Karton. Er war nicht verſiegelt und ent— 
hielt vier ebenfalls noch offene ‘Briefe. Alle vier rochen nad 
fheuflihem Tabak. 


all 


Der erfte war adreffiert an die Frau Marquife de Grucheray, 
vis-à-vis dem Abgeordnetenhaus... . 

Marius date, daß er vielleicht in dem Brief die nötigen 
Anhaltspunfte finden werde, die er fuchte, und daß er bas 
Schreiben, das ja noch unverfhloffen fei, wohl lefen dürfe. Das 
Schreiben hatte folgenden Wortlaut: 


„Frau Marquife, 


die Tugend der Milde und Barmherzigkeit ift es, die die 
menſchliche Gefellfhaft zufammenhält. Betätigen Sie hr 
hriftliches Gefühl und werfen Sie einen Blick des Mitleids 
auf einen unglüdlihen Spanier, der ein Opfer feiner 
Königstreue und Anhänglichfeit an die gebeiligte Sache der 
Gefeslichkeit ift, wofür er mit feinem Blut bezahlt, fein 
Vermögen eingefeht und verloren hat, alles um diefe Sache 
zu verteidigen, und jeßt in unangenehmften Derhältniffen ift. 
Er zweifelt nicht, daß Euer Gnaden ihm eine Unterftüsung 
gewähren werden, eine Eriftenz weiterzuführen, die fon 
genug Unangenehmes für einen wohlerzogenen und ebren- 
haften Offizier, gar mit Wunden bededt, und er zählt [bon 
im voraus auf die MenfchlichFeit, die in Ihnen lebendig if, 
und auf bas Intereſſe, welches die Frau Marquife für eine 
fo unglüflide Nation empfindet. Unfere Bitte wird nicht 
vergeblich fein, und möge Ihnen unfere Dankbarkeit an- 
genebm in Erinnerung bleiben. 


Sehr ergeben babe ich die Ehre zu fein, Frau Marquife, 
Ihr 
Don Alvarez, fpanifher Kavalleriehauptmann, flüchtiger 
Moyalift auf Meifen im Intereſſe feines Vaterlandes, und 
augenblicklich ohne die Mittel, diefe Reiſe fortzufegen.” 
Diefer Unterfhrift war Feine Adrefle beigefügt. Marius 
hoffte, fie immerhin noch in dem zweiten Brief zu finden, der 
an die Frau Gräfin de Montvernet, Rue Eaffette No. 9, ge- 
ridhtet war. Marius las folgendes: 


412 


„Frau Gräfin, 


es handelt fit um eine unglüdlihe Samilienmutter von fes 
Kindern, deren lebtes erft at Monate alt ift. Und dabei id 
felber krank feit meiner letzten Miederfunft, feit fünf Mo- 
naten verlaffen von meinem Mann, ohne Hilfe in fchred- 
licher Mot. 

In der Hoffnung auf die Frau Gräfin babe ich die Ehre, 
zu fein Ihre refpeftvollfte 

Frau Balizard.“ 


Seht las Marius den dritten Brief, der wie die andern eine 
Bittſchrift enthielt: 


„Herrn Pabourgeot, Wähler, Strumpfwaren en gros, 
Nue Saint-Denis, Ede Rue aur Gers. 


Ich erlaube mir diefen Brief an Sie zu richten, um die 
Gunft Ihrer Simpatie und hr Intereſſe zu gewinnen 
für einen Schriftfteller, der eben ein Drama beim Théatre 
Francais eingereicht hat. Der Stoff davon ift biftorifh, und 
die Handlung fpielt im Auvergne in der Kaiferzeit. Der Stil 
ift, glaube ich, natürlich, lakoniſch, ſehr verdienſtvoll. An vier 
Stellen gibt e8 Sachen zum Singen. Komifches, Ernftes 
und Unvorhergefehenes mifchen fih mit der Derfchiedenheit 
der Charaktere und die ganze Intrige, die recht mifteriös vor 
fih geht, ift Teicht romantifh, fo daß durch verblüffende 
Überrafchungen in effeftvollen Szenen der Schluß berbei- 
geführt wird. 

Mein befonderes Ziel ift, dem Bedürfnis der jesigen 
Menfhen nad der Art unferes Jahrhunderts zu dienen, alfo 
der Mode zu folgen, diefer launifhen Wetterfahne, die fic 
immer nad jedem Wind dreht. 

Zroß diefer Vorzüge habe ich Grund zu fürdten, daß die 
Eiferfuht und der Egoismus der privilegierten Schriftfteller 
mir den Weg zum Theater verfchließt, denn ich weiß, wie 
fhiwer man es den neuen Autoren mat. 


413 


Herr Pabourgeot, br verdienter Ruf als Gönner der 
Liberaten mat fit fo Fühn, Ihnen meine Tochter zu fbiden, 
die Ihnen unfere fchwierige Situation erflären wird, denn 
es fehlt an Brot und Feuer, trot Winter. Sie fol Ihnen 
fagen, daß Sie die Ehre annehmen follen, mein Drama von 
mir gewidmet zu befommen, und auch alle andern, die ich noch 
machen werde, und bas wird Ihnen beweiſen, wieviel ich von 
der Ehre halte, unter Ihrer Beihüsung herauszukommen 
und meine Schriften mit Ybrem Namen zu zieren. Wenn 
Sie mid nur mit einer Éleinen Unterftüßung begünftigen 
wollen, werde ih auch ein Stück in Neimen fehreiben, um 
Ihnen zu zeigen, wie dankbar ich bin. Es foll fo ſchön wie 
möglich werden, und ich werde es Ihnen sufchiden, bevor es 
in Szene geht. 

Herrn und Frau Pabourgeot ergebenfter 

Genflot, Schriftfteller. 


P. S. Und wenn es aud nur vierzig Sous find. Entfbul- 
digen Sie, daB ich Ihnen meine Tochter fhide und mid) 
nicht felbft vorftelle, aber ach, meine fchlechten Toilettezuſtände 
erlauben e8 mir nicht.” 


Endlich öffnete Marius nod den vierten Brief. Er war an 
den wohltätigen Herrn aus der Kirche Saint-Vacques du Haut- 
Das gerichtet. 

nBobltätiger Mann, 


wenn Sie meine Iochter begleiten wollen, werden Sie ein 
furdtbares Elend feben, und ich zeige Ihnen auch meine 
Beugniffe. Beim Anblie diefer Zeilen wird Ihre großmütige 
Seele wohlwollend geftimmt werden, denn die wahren Filo- 
fofen find immer mweichherzig. Geben Sie zu, mitleidiger 
Mann, daß man in gräßlicher Mot fein muß und daB es 
peinlich ift, eine Unterftüßung zu erbitten und fih von Amts 
wegen beftätigen zu laflen, daB man nichts bat, als ob es 
nicht jedermanns Recht wäre, zu leiden und zu bungern, bis 


414 


einer ung hilft. Das Schiefal ift für manche febr verſchwen— 
derifh und für die andern recht fatal. 

Sch erwarte Ihren Beſuch oder Ihre milde Gabe, wenn 
Sie mir eine geben wollen, indem id Sie bitte, meiner Hoch— 
achtung verfichert zu fein, hr ergebener Diener 


D. Favanton, 
bramatifher Schaufpieler.” 


Nachdem Marius diefe vier Briefe gelefen hatte, wußte er 
nicht viel mehr als zu Anfang. Keiner diefer Abfender nannte 
feine Adreſſe. Und wenn deren aud viere genannt waren, ein 
Don Alvarez, eine Frau Balizard, ein Dichter Genflot und 
ein Scaufpieler Savantou, war doc allen ein gemeinfamer 
ſchlechter Stil und die gleihe Handfhrift eigen. Mußte man 
nicht baraus Schließen, daß fie von einer einzigen Perſon ber- 
rührten? 

Mod dazu waren alle auf demfelben groben, gelblidhen 
Papier gefchrieben, rochen gleichermweife nad) Tabak, und obwohl 
der Stil offenfichtlich verfchieden fein follte, hatte ſich doc der 
Shhriftfteler Genflot ebenfowenig von Schnißern freibalten 
Fönnen wie der fpanifche Hauptmann. 

Indeſſen war es wohl unnötige Mühe, über diefes Fleine 
Geheimnis nachzudenken. Bielleiht hätte man die Briefe, 
wären fie nicht ein Fund gemefen, für einen ſchlechten Scherz 
halten Fünnen. Marius war in feiner Seele zu fraurig, um fi 
an einem Scherz zu beteiligen, den er von der Straße auf- 
gelefen hatte. Nichts deutete darauf bin, daB diefe vier ‘Briefe 
den jungen Mädchen gehörten, denen Marius auf dem Boule— 
vard begegnet war. Offenbar war es belanglofes Gefchreibfel. 
Marius ftedte es in den Karton, warf es in eine Ecke und legte 
fih zu Bett. 

Gegen fieben Uhr morgens, als er aufftand und fib anſchickte 
zu frühftüden, wurde leife an feine Züre geflopft. 

„Herein! rief Marius. 

Die Tür ging auf. 


415 


„Was gibt es, Frau Bougon?“ fragte Marius, ohne von 
dem Bud aufzublien, das vor ihm aufgefchlagen Ing. 

Eine fremde Stimme antwortete ihm: 

„Verzeihung, mein Herr . . ." 

Es war eine heifere, ſchwache, gepreßte Stimme, die einem 
alten Mann gehören mochte, die Stimme eines DBranntwein- 
trinkers ... 

Marius wandte ſich um und ſah ein junges Mädchen vor ſich. 


4. Eine Roſe im Elend 


Ein blutjunges Mädchen ſtand in der Tür. Es war ein 
Ihwädhliches, abgezehrtes, mageres Geſchöpf; nur ein Hemd 
und ein Unterrocd fhüßte feine Nacktheit gegen die Kälte. Spike 
Schultern ftanden aus dem Hemde hervor, die Haut war blaß 
wie die von Schwindfüchtigen, bas Schlüffelbein zeichnete fic 
deutlih ab; die Hände waren gerötet, der halbgeöffnete Mund 
zeigte Sabnlüden: fo machte diefes junge Mädchen bob aud 
zugleich den Eindruc einer verderbten Frau. 

Marius war aufgeftanden, faft erfhroden über den Anblid 
diefer Erfheinung, die eher einem Schatten als einem lebenden 
Mefen glich. 

Den tiefften Eindrudf vermittelte ihm vielleicht die Empfin- 
dung, daß biefes junge Mädchen nicht häßlich zur Welt gefom- 
men war. In ihrer erften jugend mochte fie hübſch gemwefen 
fein. Die Anmut ihres Alters rang nod mit dem abftoßenden, 
vorzeitigen Alter, das durch Not und Lafter heraufbeſchworen 
wird. Ein Meft der Schönheit einer Sechjehnjährigen war no 
in diefem Geficht. 

Marius fannte es nicht. Doch glaubte er fi zu erinnern, 
daß er es irgend einmal gefehen hatte. 

n Bas wollen Sie?’ fragte er. 

Mit ihrer rauhen Stimme einer Trinkerin antwortete fie: 

„Ein Brief für Sie, Herr Marius.” 

Sie redete ibn mit Namen an; er fonnte nicht daran zweifeln, 


416 


daß fie wirklid ihn meinte, aber wer war fie? Und woher wußte 
fie feinen Namen? 

Sie wartete nicht, bis er fie einlud, näherzutreten, fondern 
drang entfchloffen und mit einer Sicherheit, die Marius unan- 


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‚genehm berührte, in bas Zimmer ein; ihr Bli fiel auf das 
noch ungemachte Bett. Ihre Füße waren unbefleidet, und durch 
die Löcher in dem Unterrocd Eonnte man ihre langen Beine und 
mageren Knie feben. Sie zitterte vor Kälte. 

Test reichte fie Marius ihren Brief. 


27 Hugo, Die Elenden. 417 


As er ihn öffnete, bemerfte er, daß die Oblate nod feucht 
war. Offenbar Fam diefe Botſchaft nicht aus weiter Ferne. 


Er las: 


„Liebenswürdiger Nachbar, junger Mann! 


Ich babe erfahren, daB Sie vor fehs Monaten fo gütig 
waren, meine Miete für mich zu bezahlen. Ich fegne Sie da- 
für, junger Mann. Meine ältere Tochter wird Ihnen fagen, 
daß wir feit zwei Tagen Feinen Biffen Brot im Haufe haben, 
und dabei find wir vier Leute — und meine Frau ift franf. 
Menn mich meine Hoffnung nicht trügt, darf ich von Ihrem 
großherzigen Sinn erwarten, daß diefe Nachricht in Ihnen 
den Wunfd erregt, uns neuerlich einer Eleinen Gabe zu 
würdigen. 

Sch bin mit der ganzen Hochachtung, die man den Wohl- 
tätern der Menfchheit fchuldet 

Jondrette. 


P. S. Meine Tochter erwartet Ihre Befehle, werter Herr 
Marius.” 


Diefer Brief war wie ein Licht in der Finfternis. Plötzlich 
lag dag ganze dunfle Abenteuer, bas Marius feit geftern abend 
befhäftigte, aufgehellt vor ibm. Offenbar Fam biefes Schreiben 
aus derfelben Quelle wie die andern vier. Die gleihe Hand- 
fbrift, dag gleiche Papier, derfelbe Tabaksgeruch. Hier handelte 
es fi um fünf Sendfchreiben, fünf verfhiedene Gefchichten, 
fünf Namen, fünf Unterfohriften, und um einen einzigen Ab- 
fender. Der fpanifhe Hauptmann Don Alvarez, die beflagens- 
werte Mutter Balizard, der dramatifhe Dichter Genflot, der 
alte Schaufpieler Favantou — fie alle waren nur Yonbrette, 
wofern nämlich Jondrette wirflich Jondrette hieß. 

Alles war Élar. Marius begriff, daß fein Nachbar Jondrette 
in feiner Mot ein Gewerbe daraus mate, die Mildtätigfeit 
wohlmwollender Leute auszunüßen. Offenbar verfhaffte er fi 
Adreffen und fchrieb unter allen möglihen Namen an Leute, 


418 


die er für reich und mitleidig hielt; feine Töchter mußten biefe 
Briefe auf eigene Gefahr beftellen, denn der Dater begriff 
wohl, daß er damit feine Töchter aufs Spiel ſetzte; er hatte 
feine Partie mit dem Schickſal und wollte fie offenbar als 
Zrümpfe benüßen. 

Marius begriff auch, wenn er ſich ihrer Flucht von geftern 
erinnerte, daß diefe unglücklichen Gefhöpfe irgendeinen dunklen 
Beruf ausübten und daß er es hier mit zwei Opfern der menfch- 
lichen Gejellfhaftsordnung, zwei armen Gefchöpfen zu tun hatte, 
die weder Kinder, no Mädchen, nod Frauen waren, fondern 
zugleich unreine Kreaturen und unfchuldige Ausgeburten der 
Mot. Namenlofe ohne Alter und Gefchleht, unfähig zum Guten 
und zum DBöfen, und die bereits im Ausgang des Kindesalters 
weder Freiheit, noch Tugend, noch Derantwortlichfeit befißen. 
Geftern entfaltete Seelen, die heute fon welk find, und die 
Blumen gleichen, die man in den Straßenkot geworfen hat und 
die da warten, bis das Wagenrad fie vollends zermalmt. 

Während Marius fie mit einem verwunderten und zugleich 
ſchmerzlichen Blick betrachtete, ging bas junge Mädchen mit 
feltener Unverfrorenheit in dem Zimmer auf und ab. Daß fie 
halb nackt war, fhien fie Faum zu ftören. Zuweilen rutfchte ihr 
bas zerriffene und elende Hemd faft bis zum Gürtel herab. Sie 
ſchob Stühle beifeite, nahm Xoilettegegenftände, die auf der 
Kommode lagen, in die Hand, betaftete Marius’ Kleider und 
durchſuchte die Winkel. 

„Ach, Sie haben einen Spiegel!” rief fie. 

Und fie begann vor fich bin zu fingen. Aber unter ihrer Un- 
verfrorenheit ſchimmerte doch etwas wie Unruhe und Beſchä— 

mung duch. Ihre Frechheit war ihre Art fih zu ſchämen. 
Marius ließ fie gewähren. 

Endlich trat fie an den Tiſch. 

„Ah, Bücher!’ fagte ſie. „Ich Éann auch leſen.“ Und fie 
bücfte fi) über den aufgefchlagenen Band. ,, General Bauduin 
erhielt Befehl, mit den fünf DBataillonen feiner Brigade das 
Schloß Saugomont zu nehmen, das inmitten der Ebene von 


er 419 


Baterloo . . . ad Waterloo,” unterbrach fie fi, „das fenne 
ih. Das war einmal eine Schlacht, dort. Mein Doter war aud 
dabei. Der bat auch als Soldat gedient. Wir find brave Bona— 
partiften, unter ung gejagt. Damals ging’s gegen die Englän- 
der, in Waterloo.” Sie fhlug bas Bud zu und nahm eine 
Feder. „Schreiben fann ih aud. Wollen Sie feben? Ich 
fhreib” hier etwas auf das Blatt, Sie follen gleich ſehen!“ 

Bevor er antworten Eonnte, hatte fie auf bas Blatt ge- 
— „Die Polente iſt da.“ 

Dann legte ſie die Feder wieder hin. 

„Ganz ohne orthographiſche Fehler, das ſehen Sie doch. Wir 
haben unſere Erziehung gehabt, meine Schweſter und ich. Es 
war nicht immer fo wie jetzt. Damals ...“ 

Sie ſtockte, richtete einen erloſchenen Blick auf Marius und 
ſagte ſchließlich auflachend: 

„Ach was! Ja, Sie gehen wohl auch manchmal ins Theater, 
Herr Marius? Ich auch. Ich habe einen kleinen Bruder, der 
ſteht mit den Schauſpielern gut und ſchenkt mir manchmal 
Karten. Aber auf die Galerie geh' ich nicht gern. Da ſitzt es 
ſich nicht gut. Oder man hat ganz dicke Leute neben ſich, oder 
gar ſolche, die ſchlecht riechen. Sie ſind übrigens recht hübſch, 
Herr Marius, wiſſen Sie das auch?“ 

Beide dachten im Augenblick wohl dasſelbe, fie lächelte und 
er errötete. 

„Allerdings, fagte fie und legte ibm die Hand auf die 
Schulter, „Sie feben mich ja nicht an, aber ich Fenne Sie wohl, 
Herr Marius, Manchmal treffe ih Sie auf der Treppe, oder 
manchmal, wenn Sie ausgehen, zum DBeifpiel zu diefem Herrn 
Mabeuf. Da Eomme ich auch vorbei. Die Wuſchelhaare ftehen 
Ihnen recht gut, wahrhaftig.‘ 

Sie bemühte fih offenbar, ihre Stimme fanft Élingen zu 
lafien, aber es gelang ihr nur, leife zu fprehen. Manche Worte 
gingen zwifchen Kehlfopf und Tippen verloren, mie Töne auf 
einem Klavier, dem einige Taften fehlen. 


420 


Marius war zurücgetreten. 

„Fräulein,“ fagte er Éübl, „ich babe hier ein Paket, bas, wie 
id glaube, Ihnen gehört. Geftatten Sie, daB ich es Ihnen 
zurückgebe.“ 


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Und er reichte ihr den Karton mit den vier Briefen. 

Sie Élatfhte in die Hände und rief: 

„Und wir haben es überall gefuht! Und Sie haben es ge- 
funden! Auf bem Boulevard, nicht wahr? Im Laufen haben 
wir es verloren. Meine Schwefter, diefe dumme Derfon, bat 


421 


e8 verloren. Zu Haufe haben wir es dann gefubt. Natürlich 
haben wir gefagt, daß wir die ‘Briefe beftellt haben, denn fonft 
hätte es Prügel geſetzt, und bas ift unnüß, ganz unnüß, voll- 
fommen unnüß. Und wir haben gefagt, daB alle Teute ung ge- 
antwortet haben: Mir! Da find jest die Briefe! Woraus haben 
Sie nur erkannt, daß fie mir gehören? Ach, an der Schrift wohl?” 

Inzwiſchen hatte fie den Brief, der an den wohltätigen Herrn 
in der Kirche Saint-Vacques du Haut-Pag gerichtet war, entfaltet. 

„Ad, das ift der an den alten Kirchgänger. Ma, da komm' 
ich ja noch zurecht. Ich werd’ ihn noch beftellen. Vielleicht fpringt 
Dabei ein Frühſtück heraus.‘ 

Bei diefen Worten erinnerte fih Marius des Umftanbes, 
dem er wohl den Beſuch diefes Mädchens verdanfte. Er griff 
in feine Safe und fand darin fünf Sranfen und fechzehn Sous, 
alles, was er im Augenblick befaß. Nun, ich behalte mir etwas 
für ein Abendbrot, morgen wird man ja weiterfehen, dachte er. 
Und er reichte dem jungen Mädchen die fünf Franken. 

„Holla,“ rief fie, ‚volle fünf Franken! Sin fo einer Bude — 
Sie find ja wirflic ein guter Junge. Bravo! Das ift ja eine 
ganze Menge! Das gibt was zu Trinfen, und Fleifh und alles 
mögliche noch!‘ | 

Sie zog das Hemd über die Schulter, verneigte ſich tief vor 
Marius, winfte ihm dann vertraulich und wandte fih zur Tür. 

„Guten Tag, mein Herr, fagte fie, „meinen Alten werde 
ih ja auch noch erreichen.” 

Dann ging fie. 


5. Die Vorfehung läßt Marius einen Blid 
in ein fremdes Zimmer tun 


Gewiß hatte Marius in den lekten fünf Jahren in Mot und 
Entbehrung gelebt, aber jest begriff er, daß er bas wahre Elend 
noch nicht Fannte. Das wahre Elend hatte er jebt zu feben 
befommen. 

Denn eines Mannes Elend Fann nie vollftändig fein, und 


422 


wer ermeflen will, was Elend ift, muß das furdtbare Elend 
einer Frau feben, oder, nod furchtbarer, das des Kindes. 

Marius mate fit Vorwürfe, daß er fo lange feiner Träu- 
merei nachgehangen hatte, ohne fit um feine Nachbarn zu 
fümmern. Daf er damals ihre Miete bezahlte, war eine me- 
anifhe Regung gewefen, deren fih aud ein anderer nicht er- 
wehrt hätte; er, Marius, hätte mehr tun miiffen. Ach, nur eine 
Wand trennte ibn von diefen Verlaffenen, die taftend in der 
Naht des Elendg lebten, täglich ging er an ihnen vorüber, 
ftreifte fie faft, war vielleicht der einzige Menfch, mit dem fie 
in Berührung famen, der ihren Atem, ihr Röcheln hörte — 
und er hatte ihrer nicht geachtet. Täglich, ftündlid hatte er durd 
diefe Mauer gehört, wie fie auf und ab gingen, fpraen, be- 
rieten — und hatte nicht gelaufcht. Vielleicht waren ihre Worte 
Seufzer gewefen, er hatte fie nicht gehört. Seine Gedanken 
weilten anderswo, in unerreihbaren Sphären, bei Iraum- 
gebilden; und während biefe menfchlichen Gefchöpfe, feine Brü— 
der in Chrifto, feine Brüder aus dem Dolfe, neben ibm im 
Iodesfampf lagen, in einem finnlofen Ringen um dag Leben, 
hatte er geträumt! Er war mitfchuldig an ihrem Elend, er hatte 
es noch fhlimmer gemadht. Hätten fie einen anderen Nachbar 
gehabt, einen, der aufmerffamer war und nit in Phantafien 
fhiwelgte, einen gewôbnlihen Menſchen mit einem gefunden 
Herzen im Leibe, gewiß wäre ihr Sammer bemerkt worden, 
längft hätte man fie aus der Goffe aufgelefen und gerettet! Ge- 
wiß waren fie erniedrigt, verderbt, gemein, feheußlich fogar, aber 
wie felten verfallen Menfhen der Mot, ohne ſich zu befhmuben? 
Es gibt einen Zuftand, in dem Schmadh und Unglücf basfelbe 
find, und diefes eine Wort ‚Die Elenden‘ bedeutet ja fchon 
beides. Wellen Schuld ift bas? Und muß nicht, je tiefer der 
Fall, um fo größer auch das Mitleid fein? 

Während Marius fit dies alles vorhielt und dabei, wie alle 
wahrhaft edlen Herzen, härter mit fih zu Gericht ging als er 
verdiente, betrachtete er die Mauer, die ibn von den Jondrettes 
trennte, als ob fein Blick vol Mitleid burd diefe Wand zu 


423 


ihnen dringen und die Unglüdlihen märmen Eönnte. Es war 
eine dünne Wand aus Brettern und Balken, durd die man 
Geräufh und Stimmen aus dem Nahbarraum fehr wohl ver- 
fteben Fonnte. Man mußte ein Träumer wie Marius fein, um 
es nicht längft bemerft zu haben. Faft unbewußt betractete 
Marius die Mauer. Plöslih bemerkte er oben in der Wand, 
fnapp unter der Dede, ein breiediges Loch, bas zwifchen drei 
‘Brettern freigeblieben war. Die dürftige Mörtelverfleidung 
war abgebrödelt, fo daß Marius, wenn er auf feine Kommode 
ftieg, bequem in dag Zimmer der Yonbrette binabbliden Eonnte. 

Das Mitleid bat zuweilen das Recht, neugierig zu fein. Es 
ift erlaubt, bas Elend zu belaufhen, wenn man ibm zu Hilfe 
fommen will. 

Marius flieg auf die Kommode und blickte durch das Loch in 
den Nachbarraum. 


6. Das Raubtier in feiner Höhle 


Die Höhlen der Naubtiere find zuweilen denen der Menfchen 
vorzuziehen. 

Marius bliefte in ein fbmubiges Loc. 

Er felbft war arm, fein Quartier war dürftig; doch war feine 
Armut edel, fein Unterfehlupf fauber. Das Loc aber, in das er 
jest fab, war verlottert, fhmußig, bunfel, widerwärtig. Das 
Mobiliar beftand aus einem Strohfeflel, einem wadeligen Tiſch, 
einigen alten Iöpfen, zwei elenden Bettgeftellen; dem Senfter 
dienten wohl die Spinnweben als Vorhänge. Durch diefe Lufe 
drang gerade genug Licht ein, um die Menfchen in diefem Raum 
gefpenftifch erfcheinen zu laffen. Die Wände waren unrein mie 
die Haut eines Leprafranfen, bededt mit Narben und Miffen. 
Klebrige Feuchtigkeit haftete an ihnen. Irgend jemand hatte 
mit einem Kohlenftift obfzöne Skizzen darauf gezeichnet. 

Doch gab es in diefem Zimmer einen Kamin — darum 
foftete es au vierzig Franken jäbrlihe Miete. Und in bem 
Ramin war alles mögliche zu bemerfen, ein Fleiner Kochherd, 


424 


ein Topf, zerbrochene Bretter, Fetzen, die an Nägeln hingen, ein 
Vogelkäfig, Aſche, und fogar ein Éleines Feuer. Zwei Seite 
brannten darin. 

Die eine der beiden Pritſchen ftand an der Tür, die andere 







































































am Senfter. Beide berührten den Kamin und ftanden an der 
Mand, die Marius gegenüber lag. In einem Winfel hing an 
der Wand eine farbige Gravure in einem ſchwarzen Hol 
rahmen, unter der mit großen Tettern gefchrieben ftand: 
„Der Traum.’ 
À 


425 


Sie ftellte eine ſchlafende Frau und ein fblafendes Kind bar; 
über ihr in einer Wolfe ſchwebte ein Adler, der eine Krone im 
Schnabel trug; die Schlafende hatte die Krone offenbar, ohne 
aufguvaden, von dem Kopf des Kindes zurücgefchoben. Im 
Hintergrund Napoleon im Glorienfhein, geftüßt auf eine waſch— 
blaue Säule mit einem vergoldeten Kapitel, das folgende In— 


ſchrift zeigte: Marengo 


Aufterliß 
Jena 
Wagram 
Eylau 


Unter dieſem Bild ſtand, an die Wand gelehnt, ein großes 
Holzſchild. Die bemalte Seite war offenbar der Wand zu 
gerichtet. 


An dem Tiſch, auf dem Marius eine Feder, Papier und ein 
Tintenfaß bemerkte, ſaß ein Mann von etwa ſechzig Jahren: 
klein, mager, blaß, mit einem grauſamen, unſteten Geſicht — 
ein widerwärtiger Kerl. 

Er hatte einen langen, grauen Bart. Seine Kleidung beſtand 
aus einem Frauenhemd, bas feine zottige Bruſt und feine be- 
haarten Arme bloß ließ, ferner aus einer mit Kot beſpritzten 
Hoſe und Schuhen, aus denen ſeine Zehen hervorſtanden. 

Er hatte eine Pfeife im Mund und rauchte. 


Wahrſcheinlich ſchrieb er gerade wieder einen jener Bettel— 
briefe, die Marius ſchon kannte. 

Am Kamin hockte eine dicke Frau, die ebenſogut vierzig wie 
hundert Jahre alt ſein konnte; ſie hatte fröſtelnd ihre bloßen 
Füße an den Leib gezogen. 

Auch ſie trug nur ein Hemd und einen Unterrock, der mit 
zahlreichen Flicken beſetzt war. Eine Schürze aus grober Lein— 
wand verdeckte die Hälfte dieſes Unterrocks. Obwohl dieſe Frau 
gebückt ſaß, konnte man ſehen, daß ſie ſehr hochgewachſen war. 
Gegen ihren Gatten konnte ſie eine Rieſin darſtellen. Sie hatte 


426 


rötliche, ergrauende Haare, die fie zuweilen mit ihren plumpen 
Händen zurüdftrid. 

Auf einer der Pritfchen bemerfte Marius ein hochgewach— 
jenes junges Mädchen, das faft nadt war und im Sitzen die 
Beine baumeln ließ; fie fbien weder zuzubören noch zu feben 
oder überhaupt zu leben. 

Offenbar war es die jüngere Schwefter des Mädchens, bas 
zu Marius gefommen war. Sie fébien elf oder zwölf jahre alt, 
aber wenn man näher zuſah, Fonnte man fie auf vierzehn 
ſchätzen. 

Geraume Zeit blickte Marius in dieſen ungemütlichen Raum 
hinab, der ihm abſtoßender erſchien als ein Grab, denn in dieſer 
Gruft atmeten und lebten Menſchen. 

Der Mann ſchwieg, die Frau döſte vor ſich hin, das Mädchen 
war vollkommen regungslos. Man hörte, wie die Feder auf dem 
Papier kratzte. 


7. Strategie und Taktik 


Bedrückt wollte Marius eben von ſeinem Beobachtungspoſten 
herabſteigen, als ein unerwartetes Geräuſch ſeine Aufmerkſam— 
keit neu weckte und ihn bewog zu bleiben. 

Die Tür wurde jäh aufgeriſſen, die ältere der beiden Töchter 
erſchien auf der Schwelle. Jetzt hatte ſie grobe Holzſchuhe an den 
Füßen und war in eine alte zerlumpte Mantille gehüllt, die 
Marius vorher nicht bemerkt hatte; offenbar hatte das Mädchen 
ſie, um erbarmungswürdiger auszuſehen, vorher abgelegt und im 
Weggehen wieder umgenommen. Jetzt trat ſie ein, ſchlug die 
Tür hinter ſich zu, verſchnaufte — denn ſie war ganz außer 
Atem — und rief dann triumphierend: 

„Er kommt!“ 

Vater und Mutter wandten ſich ihr zu, nur die Kleine blieb 
reglos. 

„Der Philanthrop?“ 

„Ja.“ 


427 


„Der von Saint-Jacques?“ 

„Ja.“ 

„Und er kommt beſtimmt?“ 

„Ja, in einer Droſchke.“ 

„In einer Droſchke! Es iſt Rothſchild ſelbſt.“ 

Der Vater ſtand auf. 

„Aber woher weißt du ſo beſtimmt, daß er kommt? Wieſo 
biſt du früher da als er, wenn er eine Droſchke genommen hat? 
Haſt du ihm denn die richtige Adreſſe gegeben? Haſt du ihm 
geſagt: die letzte Türe rechts im Korridor? Hoffentlich verirrt 
er ſich nicht. Haſt du ihn in der Kirche getroffen? Was hat er 
zu meinem Brief geſagt?“ 

„Babababa,“ ſagte die Tochter, „du haſt es aber eilig! Alſo 
ich bin in die Kirche gekommen, er war natürlich da, wie immer, 
und habe gegrüßt. Dann habe ich ihm den Brief gegeben, und 
er hat geſagt: Wo wohnen Sie, mein Kind? Ich wollte ihn 
gleich führen, aber er verlangte nur die Adreſſe, denn ſeine 
Tochter hatte noch Einkäufe zu beſorgen, und er wollte dann 
eine Droſchke nehmen. Er ſagte, er würde gleichzeitig mit mir 
hier ſein. Als ich ihm die Adreſſe angab, war er überraſcht und 
ſchien zu zögern, dann aber ſagte er: ‚Gut, id Eomme‘. ch fab 
ihn nach der Meſſe aus der Kirche weggehen und in den Fiaker 
einſteigen. Das war in der Rue du Petit Banquier. Dann bin 
ich gelaufen.“ 

„Gut, du biſt ein geſcheites Mädchen.“ 

In dem Geſicht des Mannes leuchtete es auf. 

„Frau,“ ſagte er, „der Philanthrop kommt. Feuer löſchen!“ 

Die verblüffte Mutter rührte ſich nicht. 

Gewandt wie ein Seiltänzer langte der Vater einen Topf 
ohne Henkel vom Kamin herab und goß das Waſſer auf die 
brennenden Scheite. Dann ſagte er zu ſeiner älteren Tochter: 

„Schlag den Stuhl entzwei.“ 

Sie begriff nicht. 

Dann nahm er den Stuhl und ſtieß mit dem Fuß ſo heftig 
in das Strohgeflecht, daß das ganze Bein durchkam. 


428 


Mährend er es wieder herauszog, wandte er fih an feine 
Tochter: 

„Iſt es kalt draußen?“ 

„Sehr kalt, es ſchneit.“ 

Der Vater wandte ſich zu der jüngeren Tochter, die noch 
immer auf der Pritſche ſaß, und brüllte ſie an: 

„Raſch, herunter von dem Bett, Nichtstuerin! Du betätigſt 
dich gar nicht im Haushalt! Schlag eine Fenſterſcheibe ein!“ 

Die Kleine ſprang von der Pritſche herunter. 

„Eine Fenſterſcheibe ſollſt du einſchlagen!“ 

Das Kind blieb betroffen ſtehen. 

„Hörſt du nicht?“ 

In ihrem verſchüchterten Gehorſam ſtellte ſich die Kleine auf 
die Zehenſpitzen und ſchlug mit der Fauſt in eine Scheibe. Laut 
klirrend fiel das Glas heraus. 

„Gut“, ſagte der Vater. 

Nun warf er einen prüfenden Blick auf das Zimmer. Man 
hätte ihn für einen General halten können, der vor der Schlacht 
die letzten Vorbereitungen trifft. 

Die Mutter hatte bis jetzt noch nichts geäußert. Langſam und 
dumpf fragte ſie: 

„Liebling, was willſt du tun?“ 

„Leg' dich aufs Bett“, antwortete der Mann. 

Der Ton, in dem dieſer Befehl erteilt wurde, erlaubte keine 
Widerrede. Die Mutter gehorchte und fiel ſchwer auf die 
Pritſche. Aus der Ecke war Schluchzen zu hören. 

„Was iſt denn los?“ fragte der Vater. 

Die Jüngere von den beiden Schweſtern ſtreckte, ohne aus 
ihrer Ecke hervorzukommen, ihre blutige Hand vor. Sie hatte 
ſich an der zerſchlagenen Fenſterſcheibe verletzt. 

Nun begann die Mutter zu ſchreien. 

„Da ſiehſt du, was für Dummheiten du machſt! Jetzt hat 
die Kleine ſich geſchnitten!“ 

„Um ſo beſſer.“ 

„Wieſo um ſo beſſer?“ 


429 


„Ruhe! ch unterdrüde die Freiheit der Meinungsäußerung.‘ 

Dann riß er von feinem Frauenhemd einen Lappen ab und 
verband damit die blutige Hand der Kleinen. 

Sein prüfender Blick fiel auf fein Hemd. 

„Das Hemd geht, fagte er, „es bat Stil. Dann lehnte 
er fih an den Kamin: 

„Sp, jest Fönnen wir den Philanthropen empfangen.’ 


8. Ein Libtftrabl fällt in ein dunfles Tod 


est berrfhte längere Zeit Stillſchweigen in der Höhle. 
Die ältere Tochter fhabte mit forglofer Miene den Kot von 
ihrer Mantille, die junge weinte vor fih bin. Die Mutter hatte 
ihren Kopf in die Hände genommen, Füßte ibn und flüfterte: 

„Stil, Schatz, es ift nicht fhlimm, weine nicht, Papa wird 
fonft böſe.“ 

„Ganz und gar nicht,” fagte der Vater, „weine nur. Das 
ift ganz gut.‘ 

Dann wandte er fi) an die Ältere: 

„Siehft du, er kommt nicht. Sekt hab’ ich bas Feuer aus- 
gelöfht, den Stuhl ruiniert, mein Hemd zerriffen und die 
Scheibe eingefohlagen — alles für nichts.” 

In demfelben Augenblif wurde leife an die Tür geflopft. 

Sofort öffnete der Alte und empfing feinen Gaft mit tiefen 
Verneigungen und liebenswürdigem Lächeln. 

„Treten Sie ein, mein Herr. Geruben Sie einzutreten, mein 
edler Mohltäter, und aud Sie, treten Sie ein, reigendes 
Fräulein!“ 

Ein bejahrter Mann und ein junges Mädchen erſchienen auf 
der Schwelle. 

Marius hatte ſeinen Platz noch nicht verlaſſen. Was er in 
dieſem Augenblick empfand, läßt ſich nicht beſchreiben. 

Es war ſie. 

Sie! Kaum hatte Marius fie erkannt, als ſich ein lichter 
Schleier über ſeine Augen legte. Das war dieſes entzückende 


430 





Gefiht, bas verſchwunden war, um ibn in biüfterer Macht 
zurüdzulaffen. est ging die verfinfterte Sonne wieder auf! 

Und bier in diefer Höhle, an diefem Ort des Schreckens 

follte er fie wiederfinden! 

Er zitterte. Er fühlte, daB er in Tränen ausbrechen werde. 

Ihm war, als ob er feine verlorene Seele wiederfände. 

Sie war unverändert, nur ein wenig blaffer; ihr reizendes 
Gefihthen wirfte unter dem violetten Samthut fchöner als je. 
Sie trug einen Schwarzen Atlaspelz. Ihre Éleinen Füße ftecften 
in Seidenfhühchen. 

Mod immer war fie in Begleitung Herren Leblancs. Sie 
hatte einige Schritte in bas Zimmer hinein gefan und ein 
ziemlich großes Paket auf den Tifch gelegt. 

Die ältere Tochter Vonbrette hatte fih Hinter die Tür zurück— 
gezogen und betrachtete düfter den Samthut, den Seidenmantel 
und bas ftrablenbe, glückliche Antlis. 


9, Jondrette weint faft 


„Mein Herr,” fagte Leblanc zu Vonbrette, „Sie finden in 
diefem Dafet einige Kleidungsftücde, Strümpfe und Woll— 
decken.“ 

„Unſer edler Wohltäter überhäuft uns mit gütigen Ge— 
ſchenken“, antwortete Jondrette und verneigte ſich tief. Dann 
flüſterte er ſeiner älteren Tochter, während die beiden Beſucher 
ſich in dem kläglichen Raum umſahen, zu: 

„Lumpenzeug, aber fein Geld. Immer dasſelbe. Übrigens, 
wie war der Brief an diefen alten Trottel unterſchrieben?“ 

„Favantou.“ 

„Aha, dramatiſcher Schauſpieler!“ 

Jondrette hatte Glück, denn in dieſem Augenblick wandte 
ſich Leblanc zu ibm und ſagte mit der Miene eines Mannes, 
der in ſeinem Gedächtnis nach einem Namen ſucht: 

sh ſehe, es geht Ihnen ſehr ſchlecht, Herr ...“ 


„Favantou“, antwortete Jondrette eifrig. 


431 


‚Richtig, Herr Savantou. Vebt erinnere ich mich.“ 

„Ich bin dramatifher Schaufpieler, mein Herr, id babe 
meine Erfolge gehabt!” 

Offenbar glaubte Jondrette den Augenblick gefommen, um 
dem Philanthropen zu fagen, wer er war. Mit der Mimik eines 
Jahrmarktelowns und der Demut eines Straßenbettlers ſprach 
er weiter: 

„Ich bin ein Schüler Ialmas, mein Herr! Einft bat mir 
dag Glück gelächelt. Ach, und jest bat fib alles zum Böſen 
gewandt. Sie feben, mein Wohltäter — Fein Brot, Fein Feuer 
im Kamin! Meine armen Kinder müffen frieren! Der einzige 
Stuhl ift verdorben, die Senfterfeheibe zerbrochen! Und bas bei 
diefem furchtbaren Wetter! Meine Gattin im Bert — Frank!” 

„Die arme Frau’, fagte Leblanc. 

„Und mein Kind verwundet!” 

Die Kleine beulte noch immer vor fi bin. 

„Sie feben, ſchönes Fräulein,” fuhr Vonbrette fort, „ihre 
Hand blutet! Sie arbeitet an der Maſchine, um täglich fes 
Sous zu verdienen. Dabei ift ihr nun diefes Unglück zu- 
geftoßen. Dielleiht wird man ihr den Arm abnehmen müſſen.“ 

„Im Ernft?’ fragte der Greis erfehroden. 

Das junge Mädchen fchien diefe Prophezeiung ernft zu neb- 
men, denn es begann noch lauter zu jammern. 

„Ab, fo ift e8, mein Wohltäter“, ſchloß Vonbdrette. 

Er hatte inzwifhen den Philanthropen mit eigenartigen 
Blicken verfolgt. Während er ſprach, fbien er aufmerffam nac- 
zudenfen, als ob er eine Erinnerung waczurufen fuchte. est 
benüßte er einen Augenblid, da die Fremden die Hand der 
Tochter betracteten, um an das Bett feiner Frau zu treten 
und zu flüftern: 

„Sieb dir den Mann an!” 

Dann wandte er fich wieder zu Leblanc und fuhr fort zu 
Élagen: 

„Sie feben, mein Herr, id babe nichts anderes anzuziehen 
als ein Hemd meiner Frau, und es ift ganz zerriffen! Und 


432 





mitten im Winter! Ohne Rock kann ich nicht ausgehen. Wenn 
ich auch nur einen einfachen Mod hätte, ginge ich zu Fräulein 
Mars, die mich Éennt und ſchätzt. Sie wohnt bod noch Nue de 
la Zour-de8-Dames? Kennen Sie fie? Wir haben früher in 
der Provinz miteinander gefpielt, und ich habe ihre Torbeeren 
teilen dürfen. Célimène würde mir zu Hilfe Fommen, mein 
Herr. Elmira würde Beliſar ein Almofen geben. Aber nein, 
es ift unmöglich. Keinen Sou habe ih im Haufe! Meine Frau 
ift Frank, und ich babe feinen Sou! Meine Tochter gefährlich 
verwundet — Fein Geld im Haufe! Meine Frau leidet unter 
Erftifungsanfällen. Das liegt wohl an ihrem Alter. Und ihre 
Nerven find vollfommen verdorben. hr und meiner Tochter 
wäre Hilfe nötig. Aber der Arzt?! Und wie foll ich ohne einen 
Pfennig in der Tafhe den Apotheker bezahlen? Ad, fo weit 
bat mich die Kunft gebracht, und wie tief find heutzutage die 
Künfte gefunfen! Und begreifen Sie wohl, mein reizendes 
Fräulein, und auch Sie, mein großmütiger Förderer, der Sie 
Qugend und Güte ausatmen und jene Frömmigkeit der Kirche, 
in der meine Tochter Ihnen täglid begegnet: ich erziehe meine 
Zöchter religiös. Ich babe nicht erlaubt, daß fie zum Theater 
gehen. Daß ich fie nicht auf Abwegen treffe! Da laſſ' ich mit 
mir nicht fpaßen! Ich erziehe fie im Geifte der Ehre, der 
Moral und der Tugend. Fragen Sie die Mädchen nur felbft! 
Der gerade Weg ift der einzig anftändige. Diefe Kinder haben 
einen Vater. Das find nicht Unglüdliche, die feine Familie 
haben und fpäter aller Welt zu Willen find. Wer als Fräu— 
lein Niemand anfängt, wird alsbald jedermanns Freund. So 
etwas darf in der Familie Favantou nicht paffieren. Ich will fie 
in Ehren großziehen, und fie follen fittfam und gottergeben fein, 
heilig fei fein Name! Wiſſen Sie aber auch, was morgen ge- 
Ihieht? Morgen ift der vierte Februar, der Schickſalstag, die 
leßte, Außerfte Frift, die mir der Hauswirt gegeben hat, und 
wenn ich heute abend nicht bezahle, wird morgen meine ältere 
Zochter, meine fiebernde Frau, mein verwundetes Kind — alle 
vier werden wir morgen aus biefem Haufe gejagt, auf die 


28 Hugo, Die Elenden. 433 


Straße geworfen, ohne Schuß, in Regen und Schnee! So 
fteht’s mit uns, mein Herr. ch [bulbe vier Mieten, ein gan- 
zes Fahr, volle fehzig Franken!‘ 

Jondrette log. Denn erftens waren vier Mieten nur vierzig 
Sranfen, und zweitens Fonnte er nicht vier fehuldig fein, denn 
Marius hatte ja vor ſechs Wochen zwei für ihn bezahlt. 

Leblanc 30g ein Sünffranfenftüd aus der Tafhe und legte es 
auf den if. 

Sondrette flüfterte feiner Tochter zu: 

„Der Geizkragen! Was fol ich mit feinen fünf Franken an- 
fangen? Das reicht nicht einmal für den Stuhl und die Scheibe. 
Mit fo etwas macht man fi) noch Speſen!“ 

Inzwiſchen hatte Herr Leblanc feinen braunen Überrod aus- 
gezogen und über die Lebne des Stuhls gelegt. 

„Herr Favantou,“ fagte er, ‚ih babe nur fünf Franfen bei 
mir, aber ich will jest meine Tochter nah Haufe bringen und 
will noch heute abend wiederfommen. Heute abend follen Sie 
doch zahlen, nicht wahr?” 

Ein feltfamer Ausdruck erfchien auf Jondrettes Geficht. 

„Ja,“ erwiderte er lebhaft, ‚mein ehrenwerter Herr. Um 
acht Uhr muß ich bei dem Sauswirt fein.’ 

„But, ih Éomme um fes und bringe Ybnen die fechzig 
Franken.“ 

„Mein Wohltäter!“ 

Leblanc hatte den Arm des jungen Mädchens genommen und 
wandte fid zur Zür. 

„Auf heute abend alfo, meine Freunde!‘ 

Jetzt bemerfte die ältere Tochter ondrette den Mod, der 
auf dem Stuhl hängengeblieben war. 

„Sie vergeffen Ybren Überrod, mein Herr!‘ 

Ein furbtbarer Bli des Vaters traf fie. 

Leblanc wandte fih um und fagte lächelnd: 

„Ich babe ihn nicht vergeflen, ich laſſe ihn gern bier.’ 


434 


10. Drofbhfentarif: zwei Franken 
bie Stunde 


Marius ftürzte aus feinem Zimmer. An der Ede des Poule- 
vard angelangt, fab er die Drofchfe in voller Fahrt in die Rue 
Moufetard einbiegen. Wie follte er fie einholen? Nachlaufen? 
Das war unmöglich. Auch würde man aus dem Wagen feben, 
daß jemand hinterherliefe, fo raf ihn die Deine frugen, und 
der Dater würde ihn erkennen. 

In diefem Augenblick Fam eine Droſchke vorüber, und Ma— 
rius entfchloß fit — erftaunlicher und unerhörter Mut! — 
einzufteigen und dem Fiafer zu folgen. Das war fiber, wirffam 
und gefahrlos. 

Alfo winfte er dem Kutfcher und rief: 

„Auf eine Stunde.” 

Marius war ohne Halstuh und trug feinen alten Arbeits- 
rod, dem die Knöpfe fehlten; das Hemd war vorn an der Fälte- 
lung des Bruſtſtücks zerriffen. 

Der Kutfcher hielt, zwinferte, firedte die Linfe aus und rieb 
mit vielfagender Miene Zeigefinger und Daumen aneinander. 

„Was wollen Sie?” 

„zahlen Sie voraus!” 

Marius erinnerte fih, daB er nur ſechzehn Sous bei fid 
hatte. 

Wieviel macht dag?’ 

„Vierzig Sous.’ 

„Ich bezahle, wenn wir zurück find.’ 

Der Kutfcher antwortete nur, indem er pfiff und mit der 
Peitſche ſchnalzte. 

Erſchrocken ſah Marius der Droſchke nach, die ſich entfernte. 
Für vierundzwanzig Sous, die ihm fehlten, verlor er ſeine 
Freude, ſein Glück, ſeine Liebe! Wieder verſank er in tiefe 
Nacht! Er hatte geſehen und ſollte wieder blind werden. 

Verzweifelt kehrte er in das Haus zurück. 

Als er die Treppe hinaufſteigen wollte, ſah er auf der andern 


* 435 


Seite des Boulevards Vonbdrette ftehen. Der Mann trug den 
Mod des Philanthropen und fprah mit einem Kerl von be- 
unruhigendem Außern; einem Menſchen, der ausfah wie ein 
böfer Gedanke, einem von jenen, die tagsüber flafen, woraus 
man wohl fchließen darf, daß fie des Nachts am Werke find. 
So ſchmerzlichen Gedanken er auch nadbing, wurde er fi 
bo in biefem Augenblick bewußt, daß diefer Partner on- 
dreftes einem gewiflen Pandaud, genannt Bigrenaille, den ihm 
Courfeyrac einmal gezeigt hatte, fehr ähnlich fab. Und biefer 
Panchaud war einer der berüchtigtften Verbrecher von Paris. 


11. Das Elend 
bietetdem Kummer feine Dienfte an 


Marius ftieg langjam die Treppe hinauf. Als er in feine 
Stube eintreten wollte, fab er die ältere Yonbrette neben fich. 
Sie war ihm offenbar gefolgt. 

Ahr Anblif war ihm verhaßt, denn ihr hatte er die fünf 
Sranfen gegeben, die er jeßt nicht mehr zurüdverlangen Éonnte 
und deren Derluft ihm zugleich alle Hoffnung genommen hatte, 
jenem Wagen zu folgen. Jetzt würde fie ibm bas Verlorene 
gewiß nicht mwiederbringen können. Auch fie wußte offenbar die 
Adreſſe nicht, denn fonft hätte fie ja den Brief des vorgeblichen 
Savantou nit an den Wohltäter aus der Kirche Saint-Yacques 
bu Haut⸗Pas gerichtet. 

Er trat in fein Zimmer und ſchlug die Türe hinter fich zu. 

Aber er ftieß auf MWiderftand. Eine Hand hatte fih in den 
Spalt gefhoben. 

„Was gibt's?“ fragte er, „wer ift ba? Ah Sie find es? 
Schon wieder? Was wollen Sie denn?‘ 

Sie fab nachdenklich aus und hielt die Blicke zu Boden ge- 
richtet. Jetzt war fie nicht fo fiher wie am Morgen. Sie trat 
nicht ein, fondern blieb im Schatten des Korridorg ftehen. 

„Antworten Sie bob, was wollen Sie denn?‘ 


436 


Etwas leudtete in ihrem trüben Auge, als fie fagte: 
„Herr Marius, Sie feben fo fraurig aus. Was haben Sie 
denn?” 


„Ich? Nichte.‘ 

„O doch.“ 

„Nein, wirklich nichts. Laſſen Sie mich in Ruhe.“ 

Wieder wollte er die Türe ſchließen, aber ſie hielt ihn zurück. 

„Halt, das iſt nicht recht von Ihnen. Obwohl Sie nicht reich 
ſind, waren Sie heute morgen gut zu mir. Seien Sie es auch 
jetzt. Erſt haben Sie mir zu eſſen gegeben, jetzt ſagen Sie mir, 
was Sie haben. Ich ſehe es ja, ein Kummer bedrückt Sie. Ich 
will nicht, daß Sie traurig ſind. Kann ich etwas für Sie tun? 
Vielleicht kann ich Ihnen einen Dienſt leiſten? Sagen Sie es 
mir nur. Ich will keine Geheimniſſe erforſchen, Sie brauchen 
mir nichts zu ſagen, aber vielleicht kann ich Ihnen nützlich ſein. 
Auch Ihnen kann ich helfen, denn ich helfe ja auch meinem 
Vater. Wenn es nur darauf ankommt, Briefe zu beſtellen oder 
etwas ausfindig zu machen, von Haus zu Haus etwas zu er— 
fragen oder jemand nachzugehen, ſo kann ich das ſehr gut. Oft 
kann man wichtige Dinge erfragen und dann geht alles gut.“ 

Eine Idee kam Marius. Greift man nicht nach jedem Zweig, 
wenn man fällt? 

„Höre“, ſagte er. 

In ihren Augen war etwas wie Freude. 

„Ja, duzen Sie mich, das habe ich lieber.“ 

„Du haſt dieſen Herrn mit ſeiner Tochter hierhergeführt.“ 

„Ja.“ 

„Weißt du ihre Adreſſe?“ 

„Nein.“ 

„Dann ſuche ſie zu erfahren.“ 

Wenn ihr ſtumpfes Auge erſt freudig geworden war, ſo 
wurde es jetzt traurig. 

„Alſo das wollen Sie?“ 

„Ja.“ 


437 


nRennen Sie die Leute?” 

„Nein.“ 

„Alſo Sie kennen das Mädchen — aber Sie wollen es 
kennenlernen?“ 

In der Art wie ſie von „den se zu „dem Mädchen 
fam, war etwas Bitteres. 

„Alſo, Éannft du?‘ 

„Sie follen die Adreffe des ſchönen Fräuleing haben.‘ 

In der Art, wie fie von dem fehönen Fräulein ſprach, war 
etwas für Marius Unangenehmes. 

„Die Udrefle des Vaters oder der Tocbter. Kurz ihre 
Adreſſe.“ 

Sie ſah ihn ſcharf an. 

„Und was bekomme ich dafür?“ 

„Was du willſt.“ 

„Gut, Sie ſollen die Adreſſe haben.“ 

Sie ſenkte den Kopf, machte eine raſche Bewegung, zog die 
Tür zu und ging. 

Marius ließ ſich in den Stuhl fallen und wurde von einer 
Flut von Gedanken, in denen er ſich nicht zurechtzufinden ver— 
mochte, fortgeriſſen. Alles was an dieſem Tage vorgefallen 
war, die Erſcheinung jenes Engels, ſein Verſchwinden, alles 
ſchwebte unklar vor ſeinem Auge. 

Plötzlich wurde er jäh aus ſeiner Nachdenklichkeit geriſſen. 

Er hörte die laute, harte Stimme Jondrettes, und ſeine 
Worte waren für Marius von einem ſeltſamen Intereſſe. 

„Und ich ſage dir, daß ich meiner Sache ſicher bin und ihn 
erkannt habe.“ 

Don wem ſprach Jondrette? Wen hatte er wiedererkannt? 
Herrn Leblanc, den Vater „ſeiner Urſule“? Jondrette kannte 
ihn? 

Marius ſprang mehr auf die Kommode als er ſie erſtieg, 
und im nächſten Augenblick hatte er ſeinen Beobachtungspoſten 
wieder bezogen. 


438 


DD ertonnt,,, 


„Wirklich? Du bift deiner Sache ficher?’ 

Es war die Frau, die fo fragte. 

„Vollkommen fiber. Es find act Vabre her, aber ich babe 
ihn wiedererfannt. Ob, ob ich ibn wiedererfannt habe! Sofort! 
Das dir bas nicht gleich in die Augen gefprungen iſt?!“ 

„Nein.“ 

„Und ich hab' dir doch geſagt: paſſ' auf! Dieſelbe Figur, 
dasſelbe Geſicht, kaum gealtert, denn manche Leute werden ja 
nicht älter, weiß der Teufel wie ſie das anſtellen. Und auch die— 
ſelbe Stimme. Nur iſt er beſſer angezogen. Hinter dieſem alten 
Teufel ſteckt ein Geheimnis.“ 

Jetzt wandte er ſich an ſeine beiden Töchter: 

„'raus mit euch beiden — komiſch, daß es dir nicht gleich 
aufgefallen iſt.“ 

Die Mädchen waren aufgeftanden. 

„Soll ſie mit der kranken Hand hinausgehen?“ fragte ſcheu 
die Mutter. 

„Die Luft wird ihr guttun. Marſch!“ 

Offenbar war das ein Mann, dem man nicht widerſpricht. 
Die beiden Mädchen gingen. Im Augenblick, in dem ſie die 
Türe ſchließen wollten, rief der Vater der Alteren nach: 

„Um fünf Uhr pünktlich ſeid ihr hier. Alle beide. Ich werde 
euch brauchen.“ 

Die Aufmerkſamkeit Marius' verdoppelte ſich. 

Drei- oder viermal ging Jondrette ſchweigend auf und ab. 

Plötzlich wandte er fih nach feiner Frau um, kreuzte die 
Arme und rief: 

‚And fol ich dir noch etwas fagen? Diefes Fräulein... 

„un? 

Marius Fonnte nicht zweifeln, daß von ihr die Rede war. 
Gierig laufhte er. Es war, als ob fein Leben daran hänge. 

Aber Vonbdrette hatte fid zu feiner Frau herabgeneigt und 
flüfterte. 


NL. 


Jetzt war er wieder beffer zu verfteben. 

„Sie ift es. Diefelbe.” 

„Dieſe?“ 

„Dieſelbe.“ 

Kein Wort kann ausdrücken, mit welcher Betonung die 
Mutter „dieſe?“ gefragt hatte. In ihrem Tonfall war Über— 
raſchung, Wut und Haß. 

„Unmöglich“, ſagte ſie jetzt. „Wenn ich bedenke, daß meine 
Töchter barfuß und ohne Kleid herumlaufen! Ein Atlaspelz, 
ein Samthut, Schuhe — Zeug für zweihundert Franken hat 
ſie auf dem Leibe. Man ſollte ſie für eine Dame halten! Nein, 
du irrſt dich. Übrigens war die andere häßlich, und dieſe iſt nicht 
fo übel. Sie fonn es nicht fein.” 

„Und ich fage dir, daß fie es ift. Du wirft ja ſehen.“ 

Die Jondrette fhien Marius in diefem Augenblick fchred- 
licher als ihr Gatte. Sie glich einer MWildfau mit den Augen 
einer Tigerin. 

„Was, diefes Geſchöpf, diefe Bettlerin wagt es, mitleidig 
auf meine Töchter herabzubliden? Ich möchte ihr die Därme 
aus dem Leib treten!“ 

Sie fprang von ihrer Pritfhe auf und blieb einen Augen- 
blick ftehen, zerzauft, mit geblähten Nafenflügeln, balboffenem 
Mund und geballten Fäuſten. Dann Tief fie fid) wieder auf die 
Pritſche zurücfallen. 

Der Mann ging auf und ab, ohne auf feine Frau zu achten. 

Endlich blieb er wieder vor ihr fteben, kreuzte die Arme, 
wie er es eben erft getan hatte und fagte: 

„Und fol ich dir noch etwas jagen?‘ 

„Sun? 

„Diesmal babe ich mein Glück gemacht“, fagte er Teife. 

Aus ihrem Blick ſprach die Befürchtung, er fei verrüdt ge- 
worden. 

„Donnerſchlag!“ rief er, „lang' genug wohne ich in der Pfar- 
rei Stirbhungers im Sprengel Kalterherd! Jetzt babe ich ge- 
nug von dem Sammer. Seht bin ich an der Meihe! Test meine 


440 


td e8 blutigernft, jet febe ich die Dinge gar nicht mehr Eomifch 
an. Genug gefalauert! Keine Späßchen mehr, bimmlifher 
Vater! Test will ih mich fatt effen und frinfen nad meinem 
Durft! Srefflen will ih! Schlafen! Nichtstun! Bevor id Ére- 
piere, will auch id ein bißchen den Millionär fpielen — mie 
die andern.” 

„Was willſt du damit jagen?’ 

Er fhüttelte den Kopf, zwinferte und begann wie ein Kur- 
pfujcher zu predigen: 

Bas ich fagen will? Gut, fo höre mid an!‘ 

„Stil!!! murmelte die Jondrette, ,nidt fo laut, wenn es 
Dinge find, die nicht jedermann hören fol.’ 

„Pah, wer hört uns denn? Der Nachbar? Der ift aus- 
gegangen. Übrigens verfteht er doch nichts, biefer Trottel!“ 

Glüdlihermeife dämpfte der dichtfollende Schnee das Raſ— 
fein der Wagen auf dem Boulevard, fo daB Marius jedes Wort 
verftehen konnte. 

„Paſſ' auf, er ift gefangen, der Kröfus. Alles ift in Ordnung. 
Schon gemadt. ch babe Leute gefehen. Er kommt um fech8. 
Die fechzig Franken bringen. Schweinehund! Haft bu gefehen, 
wie ich fie ibm berausgebolt habe, diefe fehzig Sranfen? Ad, 
war er blöd! Nun, er kommt um feds. Um diefe Zeit geht 
unfer Nachbar effen. Frau Burgon ift in der Stadt mit ihren 
Mafharbeiten befhäftigt. Niemand im Haus. Der Nachbar 
fommt vor elf Uhr nie zurüd. Die Mädchen können Schmiere 
ftehen. Du Fannft uns helfen. Er wird fon Firre werden.” 

„Und wenn er nicht Éirre wird?’ 

„Dann machen wir ihn Firre./ 

Jondrette late unheimlid. 

Marius fab ihn zum erftenmal lachen und fchauderte. 

Sondrette öffnete einen Schranf neben dem Ramin, zog eine 
alte Mütze heraus und feßte fie, nachdem er fie mit dem Armel 
abgerieben hatte, auf. 


„Sp, jeßt gehe ih. Ich muß noch Leute fehen. Derläßliche 
441 


Leute. Du wirft fhon fehen, wie ſich bas alles entwickelt. Paſſe 
inzwifchen auf das Haus auf.’ 

Er verfenkte feine Fäufte in den Sofentafhen und blieb einen 
Augenblick nachdenklich ftehen. 

„Ein Glück ift es nur, daß er mich nicht erfannt bat. Wenn 
er mich wiedererfannt hätte, käme er nicht wieder! Der wäre 
uns dur die Finger gerutfht. Mein Bart, mein romantischer 
Bart bat mich gerettet.‘ 

Mieder lachte er. 

Er war ans Fenfter getreten. 

„Hundewetter!“ 

Er knöpfte ſeinen Rock zu. 

„Die Kluft iſt mir zu breit. Immerhin, es war eine ver— 
dammt gute Idee von ihm, ihn mir hier zu laſſen. Sonſt könnte 
ich jetzt nicht ausgehen, und alles wäre verpatzt. An ſolchen Din— 
gen hängt oft alles.“ 

Er zog die Mütze tief ins Geſicht und ging. 


13. Solus cum Solo, sn Joco remoto, 
noncogitabuntur orare pater noster 


Zroß feines Hanges zur Iräumerei war Marius, wie wir 
ſchon gefagt haben, ein fefter, energifcher Charafter. Seine 
Sonderlingsgewohnheiten hatten ihn wohl empfänglih gemacht 
für Megungen der Sympathie und des Mitleide, vielleicht auch 
feine Empfindlichfeit herabgemindert, doch war er immerhin 
nod imftande, fich zu empören. Er war gütig wie ein Srab- 
mane und zugleich fireng wie ein Michter; mit einer Rrôte 
konnte er Mitleid haben, aber eine Viper zertrat er. Darum 
war er jeßt, ba er in ein DBipernneft geraten war, zu allem 
entfchloffen. 

„Ich werde diefem Elenden den Fuß auf die Stirn feßen‘, 
fagte er. 

Von al den Mätfeln, die plôblih vor ihm ftanden, war 
feines gelöft worden; im Gegenteil, er tappte mehr denn je im 


442 


finftern. Nichts wußte er über das hübfhe Kind aus dem 
Lurembourg, nichts über den Mann, den er Leblanc nannte, 
außer der einzigen Tatſache, daß Yonbrette ihn Fannte. Aus 
dem ganzen Wirrwarr der Worte, die er gehört hatte, begriff 
er nur eines, daß hier ein Hinterhalt gelegt werden follte; daß 
vielleicht alle beide, gewiß aber ihr Dater in großer Gefahr 
ſchwebe. 

Einen Augenblick lang beobachtete er die Jondrette, dann 
ſtieg er von ſeiner Kommode ſo geräuſchlos wie möglich herab. 
Er fühlte jetzt Freude bei dem Gedanken, daß er vielleicht ihr, 
die er liebte, einen ſo bedeutſamen Dienſt erweiſen könne. Aber 
was konnte er tun? Die Bedrohten warnen? Wo ſollte er ſie 
finden? Er wußte ja die Adreſſe nicht. Sie waren einen Augen- 
bli vor feinen Augen aufgetaucht, dann wieder verfehwunden 
in den unendlichen Tiefen von Paris. Sollte er Herrn Leblanc 
am Abend um fes Uhr an der Türe abpaffen? Yonbrette und 
feine Leute würden ihn bemerken, die Gegend war öde, unfchwer 
fonnten fie ihn überwinden und beifeitefchaffen; dann war er, 
den Marius retten wollte, vollends verloren. 

Test war es ein Uhr. Um ſechs Uhr würde alles vorüber 
fein. Marius hatte alfo noch fünf Stunden vor fid. 

Ihm blieb nur ein einziger Ausweg übrig. 

Er 309 feinen Rod an, band ſich bas Halstuch um, feßte den 
Hut auf und fblidb fich fort, leifer, als ob er barfuß über Moos 
gegangen wäre. 

Sobald er bas Haus verlaffen hatte, eilte er nad der Rue 
bu Petit Banquier. 

Er war fhon in der Mitte jener Straße, an einer fehr nied- 
rigen Mauer, die man an gewiflen Stellen leicht überfpringen 
fann; langfam, in Gedanken verfunfen, ging er einher; der 
Schnee dämpfte das Geräufh feiner Schritte. Plötzlich hörte 
er ganz nahe, hinter der Mauer, fpreben. Er wandte den Kopf 
um, fab aber niemand, obwohl es heller Tag war. 

Schon wollte er über die Mauer fhauen. Er warf einen 


443 


Blick über die Brüftung und gewahrte zwei Männer, die an 


die Mauer gelehnt ftanden und leife fprachen. 


Die beiden waren ihm unbefannt. Der eine wor bärtig und 
trug eine Arbeiterblufe, der andere war in Lumpen gehüllt. 
















































































Pb 
— — 
= = = 


der andere war bar- 


trug eine Griechenmütze, 


Der Bärtige 


häuptig und hatte Schnee in den Haaren 


+ 


Der in Lumpen ftieß den anderen mit dem Ellbogen an 


und fagte: 


„Wenn Patron-Minette mittut, kann es nicht fchiefgehen.” 


+47 


„Meinſt du?’ fragte der Bärtige. 

„Jeder befommt fünfhundert ab, und die äußerfte Gefahr 
find fünf Jahre, febs Jahre, höchſtens zehn.‘ 

Zögernd antwortete der mit der Griehenmüße: 

„Das ift eine Stange Geld. So was findet man nit alle 
Tage.“ 

„Und ic) ſage dir, daß es nicht ſchiefgehen kann. Der Wagen 
von Papa Dingsda ift fhon angefpannt.” 

Dann wedfelten fie das Thema. 

Marius feßte feinen Weg fort. Ein Gefühl fagte ihm, daß 
die dunklen Anfpielungen der Männer, die er da Hinter der 
Mauer gehört hatte, vielleicht mit Jondrettes ſcheußlichen Plä— 
nen zufammenhingen. 

Er wandte fi) nah dem Faubourg Saint-Marceau und er- 
kundigte fit in dem erftbeften Laden nad) dem nächſten Polizei- 
fommifflariat. Man wies ihn nad der Rue de Pontoife No. 14. 
Dorthin ging Marius. 


14. Ein Polizgeiagent und ein Advokat 


Der Polizeifommiffar war nicht da. Aber da die Sache eilig 
war, konnte Marius einen Inſpektor treffen. 

Es war ein hochgewachſener Mann, der an einem Ofen 
lehnte. Sein Gefiht war breitknochig, zeigte dünne, energifche 
Lippen, einen ftarfen, ftruppigen, bereits angegrauten Bart und 
einen Blick, der einem die Zafchen umdreht. 

Diefer Menſch fab nicht weniger wild und bedrohlich aus als 
Vonbrette. Man begegnet zuweilen der Dogge ebenfo ungern 

wie dem Wolf. 

Was wollen Sie?’ fragte er Marius, ohne ibn erft „Herr“ 
anzuſprechen. 

„Der Herr Polizeikommiſſar?“ 

„Iſt abweſend. Ich vertrete ihn.“ 

„Es handelt ſich um eine Sache, die ſtreng geheim bleiben 
muß.“ 


445 


‚dann fpredben Sie.‘ 

„Mnd es eilt ſehr.“ 

„Dann fprehen Sie rafch.” 

Die Ruhe und Kürze des Mannes war zugleich beunruhigend 
und doch vertrauenerwedend. Marius erzählte ibm, was er 
wußte, daß nämlich ein Mann, den er nur vom Sehen Éenne, 
heute abend in einen Hinterhalt gelodt werden follte, daß er, 
Marius Pontmercy, Advokat, als Bewohner des Mebenzimmers 
durh die Wand das Komplott mit angehört habe, daß der 
Lump, der alles ausgeheckt, ein gewifler Jondrette fei und viele 
Komplicen babe, wahrſcheinlich berüchtigte Verbrecher; unter 
anderem feine ein gewifler Panchaud, der auch Bigrenaille 
genannt werde, in die Sache verwickelt zu fein. Und Yonbrettes 
Zöhter ftünden Schmiere. Es fei unmöglich, den bedrohten 
Mann zu warnen, ba man ja nicht einmal feinen Namen wiffe; 
und alles bas folle heute abend um fes an einer befonders 
öden Stelle des Boulevard de l'Hôpital Mo. 50 bis 52 ftatt- 
finden. 

est blickte der Ifnfpeftor auf und fragte ruhig: 

„Das Zimmer am Ende des Korridorg?’ 

„Genau dort. Kennen Sie das Haug?’ 

Der Inſpektor fhwieg einen Augenblick lang, dann fagte er: 
„Es ſcheint wohl.‘ 

Dabei wärmte er feine Stiefelabfäße an der Ofentür. Mehr 
als ob er mit fi felbft ſpräche, fuhr er fort: 

„Da ift fiber wieder Patron-Minette ein wenig im Spiel.‘ 

Marius war verblüfft. 

nDPatron-Minette, ja, diefen Namen hörte ich nennen.‘ 

Und er erzählte dem Inſpektor von dem Geſpräch zwifchen 
dem Bärtigen und dem Mann in der Arbeiterblufe hinter der 
Mauer der Rue du Petit-Banquier. 

„Der Bärtige ift wohl Demi-Liard, genannt Deur-Milliards, 
und der andere Wufchelfopf Brujon.“ 

Er dachte wieder nad. 

„Und was den Papa Dingsba betrifft, jo weiß ich ſchon, was 


446 


inen Rock— 


l. Haben fie doch wieder den Ofen geheizt. Mo. 50 bis 52. 


Srüberer Beſitz Gorbeau. Ich Éenne die Parade. Drinnen Eön- 


ir ja me 


es damit auf fit bat. Solla, ich verbrenne m 


LL 


arme 


8 nicht verftecfen, ohne daß diefe Fachleute uns ent- 


nen wir un 





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bevor das Vaudev 


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Szene geht 
immer unangene 


tanzen fehen.” 


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hm. 


Dann wandte er ſich wieder Marius zu. 


447 


„Sind Sie furchtſam?“ 

„Wovor ſoll ih mich fürdten?‘ 

„Vor dieſen Burſchen.“ 

„Ebenſowenig wie vor Ihnen“, antwortete Marius brüsk, 
denn es war ihm unangenehm, daß der Spitzel ihn nicht Herr 
nannte. 

Der Inſpektor ſah ihn ſcharf an und ſagte dann faſt feier— 
lich: 

„Sie ſprechen da wie ein tapferer und ein ehrenwerter 
Mann. Der Mutige fürchtet nicht das Verbrechen, der Ehren— 
hafte nicht die Obrigkeit.“ 

„Gut,“ unterbrach ihn Marius, „aber was wollen Sie tun?“ 

„Die Bewohner dieſes Hauſes haben alle Hausſchlüſſel. Sie 
müſſen auch einen haben.“ 

„Ja.“ | 

„Haben Sie ihn bei fi?’ 

TA LS 

„Dann geben Sie ihn mir.‘ 

Marius z0g den Schlüffel aus feiner Wefte und reichte ibn 
dem Inſpektor. „Wenn Sie auf mich hören wollen,” fuhr er 
fort, ‚So Eommen Sie nit allein.” 

Der Inſpektor [ab Marius an, wie Voltaire wohl einen 
Provinzlehrer angefeben hätte, der ihm etwa einen Reim vor- 
Ihlug; dann vergrub er feine beiden mächtigen Hände in den ge- 
waltigen Æafhen feines Mods und 309 zwei Eleine Diftolen 
hervor, Piftolen von jener Art, die man Fauftfchläger nennt. 
Er reichte fie Marius und fagte lebhaft und Furz: 

nMebmen Sie diefe beiden da. Gehen Sie nah Haufe. Ver— 
bergen Sie fi in Ihrem Zimmer. Man muß glauben, Sie 
wären ausgegangen. Die Piftolen find geladen. jede hat zwei 
Schüſſe. Sie fünnen durd das Lo in der Wand, von dem Sie 
iprachen, alles beobachten. Laflen Sie die Sache erft in Gang 
fommen. Wenn Sie glauben, daß fie ſoweit gediehen ift, geben 
Sie einen Schuß ab. Nicht zu fpät. Das Weitere beforge ich. 
Schießen Sie in die Luft, in die Dede, wohin Sie wollen. 


448 


Sedenfalls nicht zu fpät! Warten Sie bis die Sache in Gang 
ift, Sie find Advofat und müflen es ja verftehn.‘ 

Marius ftete die Piftolen in feine Rocktaſche. 

„Da fieht man fie,” fagte der Inſpektor, „tun Sie fie lieber 
in die Hoſentaſchen.“ 

Marius gehordte. 

„Sp, und jeßt wollen wir feine Minute mehr verlieren. 
Wenn Sie vorher noch etwas Weiteres mitzuteilen haben, 
fommen Sie felbft oder fhiden Sie jemand. Wenden Sie fi 
an den Inſpektor Javert.“ 


15. Marius verftedt fi 


Glücklicherweiſe war das Haus nod nicht verfhloffen, als 
Marius anfam. Auf den Fußfpisen ftieg er die Treppe binan 
und fblid in fein Zimmer. Es war die höchſte Zeit, denn Furz 
nachher hörte er Frau Burgon fortgehen und bas Haustor ab- 
ſchließen. 

Er ſetzte ſich auf ſein Bett. Sein Puls ſchlug ſo laut, daß 
er ihn wie das Ticken einer Uhr hören konnte. Furcht empfand 
er nicht, aber er dachte nicht ohne Zittern an die Dinge, die da 
kommen ſollten. 

Die Zeit verſtrich. Es hatte aufgehört, zu ſchneien. Es dun— 
kelte. Bei Jondrettes war Licht angezündet worden. Marius 
ſah durch das Loch in der Wand einen roten Schimmer, der ihm 
blutig ſchien. Jedenfalls konnte er nicht von einer Kerze her— 
rühren. Übrigens rührte ſich nebenan niemand, Fein Wort 
wurde gemecfelt. 

Vorſichtig 309 Marius feine Schuhe aus und ftellte fie unter 
bas Bett. 

Mieder verftrih einige Zeit. Marius hörte die Tür in den 
Angeln Freifchen. Raſch und fchwer flieg jemand die Treppe ber- 
auf. Es war Tondrette, der nah Haufe Fam. 

Alle begannen zugleich zu fprehen. Offenbar war die ganze 
Familie in der Stube verfammelt. Mur hatte fie bisher 


29 Hugo, Die Elenden. 449 


geichwiegen, wie es im Wolfsbau ftill ift, folange der alte Wolf 
fort ift. 

„Guten Zag, Papachen!“ riefen die Mädchen. 

„Nun?“ fragte die Mutter. 

‚Alles geht wie gefchmiert,” erwiderte jondrette, ‚aber mir 
ift fhandbar falt an den Füßen. Du haft recht gehabt, Frau, 
daß du dich fo angezogen haft. Du wirſt Vertrauen einflößen 
müſſen.“ 

„Ich bin fertig und kann ſofort gehen.“ 

„Und du haſt nichts vergeſſen?“ 

„Sei unbeſorgt.“ 

„Ja,“ ſagte jetzt Jondrette, „die Falle iſt bereit, die Katzen 
warten“, und etwas leiſer: „Legt dies da ins Feuer.“ 

Marius hörte ein Klirren, wie wenn ein Eiſengegenſtand auf 
Kohlen gelegt wird. 

„Sind die Türangeln gut geölt?“ 

„Ja.“ 

„Wie ſpät iſt es?“ 

„Bald ſechs. In Saint-Médard hat es ſchon halb ge— 
ſchlagen.“ 

„Hol's der Teufel, die Kleinen müſſen auf Poſten gehen. 
Hört da, ihr!“ 

Ein Flüſtern folgte. 

Dann fragte Jondrette laut: 

„Alſo die Burgon iſt fort?“ 

„Jawohl.“ 

„Und du biſt ſicher, daß niemand bei dem Nachbar iſt?“ 

„Er war den ganzen Tag außerhalb. Und um dieſe Zeit geht 
er immer eſſen.“ 

‚Ja... immerhin, es wird ſich empfehlen, einmal nachzu— 
Ihauen. Kleine, nimm mal die Kerze und geh herüber.“ 

Marius ließ fih auf Hände und Knie fallen und kroch unter 
bas Bett. 

Er war Faum in feinem Verftef angelangt, als er fchon 
Licht burd den Türfpalt fab. 


450 








‚Papa, er ift fhon fort!” 

Es war die Stimme der älteren Tochter. 
„Biſt du drin?‘ 

„Dein, aber der Schlüffel ſteckt in der Tür.’ 





„Geh doch hinein.‘ 

Die Türe wurde weit geöffnet, und Marius fab die ältere 
Tochter Jondrettes mit einer Kerze in der Hand eintreten. Sie 
ging geradeswegs auf das Bett zu. Marius erlebte einen Augen- 
blick feltfamer Angft. Aber fie blieb vor dem Spiegel fteben, 


* 451 


ftellte fih auf die Zehenfpigen und fab hinein. Dann trat fie 
zum Senfter, fab hinaus und fagte laut und in dem Tonfall 
halben Irrſinns, der ihr eigentümlich war: 

„Pie Paris häßlich ift im weißen Hemd!‘ 

Wieder trat fie vor den Spiegel und betrachtete fih genau. 

„Hola, fchrie der Vater, „was treibft du da drüben?’ 

„Ich ſchau' unter das Dett und unter die Möbel”, erwiderte 
bas Mädchen und fuhr fort, fih die Haare zurechtzuftreichen. 

„Idiotin!“ brüffte der Dater, ‚sofort kommſt du hierher. 
Mir haben Feine Zeit zu verlieren.‘ 

„Ich komm’ ſchon. In diefer Bude bat man zu nichts Zeit.’ 

Dann warf fie einen letzten Blick in den Spiegel und ging. 

Gleich darauf hörte Marius die beiden Barfüßigen den Kor- 
ridor entlang laufen. Yonbrette Tief ihnen nad: 

„Aufgepaßt! Eine gegen das Tor zu, die andere an der Ede 
der Rue du Petit-Banquier. Verliert nicht das Haustor aus 
dem Auge. Sobald ihr etwas merft, lauft ihr hierher. Schlüffel 
habt ihr.” 

Die Ältere murrte: 

„Barfuß im Schnee Schmiere ſtehen!“ 

„Morgen habt ihr Seidenſchuhe.“ 

Test waren nur mehr Marius und die beiden Yonbrettes 
im Haus; oder vielleicht auch die geheimnisvollen Geftalten, die 
Marius hinter der Mauer gefehen hatte. 


16. Man abte auf den Hintergrund! 


Vonbdrette hatte feine Pfeife angebrannt und fih auf den 
durchlöcherten Stuhl gefeñt. 

Menn Marius Courfenrac gemefen wäre, alfo einer von 
jenen Menfhen, die bei jeder Gelegenheit etwas zu lachen fin- 
den, hätte er laut berausplaßen müflen, wenn er durd fein 
Gudlod die Jondrette fab. Sie frug einen fehwarzen Federn- 
but, wie ihn die Herolde Karls X. zu tragen pflegten, einen 


452 


ungebeuerlihen Schal und Männerftiefel. Das war die Toi- 
Lette, die Yonbrette zu dem Ausruf veranlaßt hatte: 

„Du baft recht gehabt, Grau, daß du dich fo angezogen haft. 
Du wirft Vertrauen einflößen müſſen.“ 

Plöglic begann Jondrette wieder zu fprechen. 

„Apropos, er Éommt ja in einer Drofhfe. Ohne Zweifel. 
Zünde deine Laterne an, und geh damit hinunter. Erwarte ihn 
hinter der Türe. Wenn der Wagen vorfährt, machſt du auf und 
leuchteft dem Philanthropen auf der Treppe. Sobald er im 
Korridor ift, gebft du zurüd und bezahlſt den Kutfcher, damit 
er wegfährt.” 

„Und das Geld?’ fragte die Frau. 

Sondrette wühlte in feinen Sofentafhen und holte ein Fünf- 
franfenftücf hervor. 

„Bo ift denn das her?’ fragte die Fran. 

„Don unferem Nachbar, heute früh geſchenkt.“ 

Dann fuhr er fort: 

„Wir brauchten aud noch zwei Stühle.’ 

„Wozu?“ 

„Mein Gott, zum Sitzen.“ 

Marius erſchauerte, als er die Jondrette gemächlich ant— 
worten hörte: 

„Na, dann holen wir eben die von unſerem Nachbar.“ 

Und ſchon öffnete ſie die Tür und trat in den Korridor. 

Marius hatte nicht mehr Zeit von der Kommode herabzu— 
ſpringen und unter das Bett zu fliehen. 

„Nimm die Kerze!“ rief ihr Jondrette nach. 

„Wie kann ich denn, wenn ich zwei Stühle tragen ſoll.“ 

Marius hörte, wie Mutter Jondrette an ſeinem Schlüſſel 
herumtaſtete. Die Tür ging auf. Er blieb wie angewachſen an 
feinem Platz ftehen. 

Die Sondrette trat ein. Sie Éonnte Marius in der Dunfel- 
heit nicht feben, nahm fofort die beiden Stühle, die einzigen, 
die Marius befaß, und ging wieder; die Türe fiel laut 
ins Schloß. 


453 


„So,“ bôrte er von drüben fagen, ,,bier haft bu die Laterne, 
jest geh hinunter.’ 

Sondrette blieb allein zurüd. 

Er ftellte die beiden Stühle an den Tifch, fo daß fie einander 
gegenüberftanden, und frat dann an den Ramin. Marius fab 
am Boden eine Menge Seile und die Holziproflen einer Strid- 
leiter liegen. 

Dffenbar waren diefe Geräte unter Tage erft hierhergebracht 
worden. 

In dem Kaminfeuer lagen ein Meißel und eine große Feile. 

„Schmiedewerkzeug“, dachte Marius. Inzwiſchen hatte Von- 
drette feine Pfeife ausgehen laffen. Das bewies, daß er intenfiv 
nachdachte. Zumeilen 309 er die Augenbrauen bod und machte 
mit der rechten Hand Bewegungen, als ob er mit fich felbft 
ipräche. Einmal, wohl in Erwiderung auf eine Frage in diefem 
Monolog, zog er die Zifehlade heraus, entnahm ihr ein langes 
Küchenmefler und prüfte feine Schärfe an feinem Nagel. Dann 
warf er e8 wieder in die Lade zurücd, die er zuftieß. 

Plötzlich erſchütterten aus der Ferne ſechs ſchwere Glocden- 
ſchläge die Senfterfheiben. Die Turmuhr von Saint-Medard 
zeigte die fechfte Stunde. 

Vonbrette quittierte jeden Schlag mit einem Nicken. Beim 
fechften fchneuzte er die Kerze mit den Fingern. 

Da ging die Türe auf. Mutter Jondrette hatte fie geöffnet 
und ftond auf der Schwelle; fie hatte ein fcheußlihes Geficht 
aufgefeht, bas Tiebenswürdig fein follte. 

„Treten Sie ein, mein Herr.’ 

„Treten Sie ein, mein Wohltäter”, wiederholte jondrette 
und fprang auf. 

Leblanc erfhien. In feinem Gefiht war jener Ausdruck edler 
Heiterkeit, der ihn fo ehrwürdig erfcheinen Tieß. 

Er zählte vier Louis auf den Tifch. 

„Dies bier, Herr Favantou, für Ihre Miete und Ihre 
dringlichften Bedürfniffe. Später werden wir weiterfehen.‘ 

„Bott möge es Ihnen vergelten, mein großmütiger Mohl- 


454 


täter”‘, fagte Yonbrette, der fih gleichzeitig feiner Grau ge- 
nähert hatte. 

„Kutſcher wegſchicken“, flüfterte er ihr zu. 

Sie verfhwand, während ihr Gatte fih in DBegrüßungs- 
förmlichfeiten erging und Herrn Leblane nôtigte, Plos zu 
nehmen. 

Gleich darauf Fam fie wieder und fagte leiſe zu ihrem 
Mann: 

„Abgemacht.“ 

Es hatte den ganzen Tag über geſchneit, und hoher Schnee 
lag auf der Straße; man hatte den Wagen nicht fommen ge- 
hört, und jeßt war er lautlos verſchwunden. 

Kaum hatte Leblanc fich gefest, als er fih auch fhon nad 
den beiden leeren Pritjchen ummwandte. 

„Wie geht es der armen Verwundeten?“ 

„Schlecht, antwortete Sjondrette mit danfbarem und unter- 
tänigem Lächeln, ‚sehr fchlecht, mein edler Herr. Die Ältere bat 
fie na dem Spital gebracht, damit fie verbunden wird. Die 
beiden werden bald zurückkommen.“ 

„And auch Frau Savantou fcheint es beffer zu geben?’ fragte 
Seblane und betrachtete die Fomifh aufgetafelte Perſon, die 
zwifchen ibm und der Tire ftanb, als ob fie den Ausgang zu 
bewachen hätte. 

„Ihr ift ſterbenselend,“ fagte Jondrette, „aber was wollen 
Sie, mein Herr, fie bat Mut, diefe Frau, fie ift Fein Weib, fie 
ift ein Stier.‘ 

„Du bift aber Höflih, Jondrette“, rief feine Frau und 309 
ein ſchnippiſches Mäulcen. 

„Jondrette?“ fragte Leblanc, ‚ich dachte Favantou?“ 

„Favantou, genannt Jondrette“, erwiderte der Gatte lebhaft. 
„Jondrette ift nur der Künftlername.” 

Obne daß Leblanc e8 merfen Eonnte, gab er feiner Frau zu 
verfteben, wie wenig er ihre Ungeſchicklichkeit ſchätzte; gleichzeitig 
aber fuhr er mit zärtliher Stimme und emphatifch fort: 

„Oh, wir haben immer zufommen gelebt wie Täubchen und 


455 


Täuberich, wir beide! Was bliebe ung denn übrig, wenn wir 
nicht den häuslichen Frieden hätten! Ach, wir find ja fo un- 
glücklich, befter Herr. Man bat gefunde Arme — aber Eeine 
Arbeit! Mut zu arbeiten, aber feine Gelegenheit. Ich weiß nicht, 
wie die Megierung ſich das denft, und auf Ehre, mein Herr, 
ich bin fein Jakobiner, aber wenn ih Minifter wäre, und wenn 
mein Wort gälte, wäre es anders. Sehen Sie, zum Beifpiel, 
id wollte meine Tochter Kartonagearbeit lernen laffen. Viel— 
leiht werden Sie fagen: wie, ein gewöhnlihes Handwerk? 
Dog! Einen Brotermerb. Va, e8 ift ein großer Sturz, ein 
tiefer Sturz. Welche Erniedrigung, wenn man bedenkt, was 
wir früher waren. Aber ach, uns bleibt nichts aus vergangenen 
guten Tagen. Mur biefes einzige Bild da, das ich nie habe aus 
den Händen geben wollen und das ich jeßt doc verfaufen werde, 
denn man muß ja fchließlich leben!’ 

Während Jondrette unzufammenhängend bdrauflosfprac, 
ohne indeflen feine gewöhnliche verfhmiste Miene zu verändern, 
hielt Marius Umſchau und bemerkte im Hintergrund eine Per- 
fon, die er bisher noch nicht gefeben hatte. jemand war ein- 
getreten, und zwar fo leife, daß man die Zür nicht gehen gehört 
hatte. Er trug eine Wefte aus violettem MWollftoff, ein altes, 
vielfach gerfnittenes Kleidungsftüd, dann breite Samthofen 
und Stiefel, aber fein Hemd. Der Hals war nadt, und die 
Arme zeigten ihre Tätowierung. Das Gefiht war rußgefchwärst. 
Der Unbekannte faß fehweigend und mit gefreuzten Armen auf 
der Pritfche, und da er fih hinter Jondrette hielt, Eonnte man 
thn faum feben. 

Über vermöge jenes Inſtinkts, der den Blick lenkt, wandte 
fit Leblanc faft gleichzeitig mit Marius nad jener Richtung. 
Er Eonnte fi einer gewiffen Überrrafhung nidt erwehren, die 
auch Jondrette nicht entging. 

„Ach,“ fagte Jondrette und Fnöpfte ſtolz feinen Mod zu, 
„Sie feben wohl Sbren Rod an? Er paßt mir. Meiner Treu, 
er paßt mir ausgezeichnet!‘ 

‚Ber ift denn diefer Mann?’ fragte Leblanc. 


456 


„Der? Ein Nachbar. Achten Sie nit weiter auf ibn.” 

Diefer Nachbar fab recht fonderbar aus. Aber in der Vor- 
ſtadt Saint-Marcenu gibt es viele chemifche Fabriken, und 
ſchwarze Gefihter find in Arbeiterquartieren feine Seltenheit. 
Überdies fchien Leblancs ganze Perfon Furdtlofigfeit und Ver— 
frauen auszjuatmen. 

„Verzeihung,“ fagte er, „aber wovon fpraden Sie gerade, 
Herr Favantou?“ 

„Ich erlaubte mir, zu erwähnen, mein Herr und Gönner,’ 
fuhr Yonbrette fort, indem er fih auf ben Tiſch ftüßte und 
Leblanc zärtlich wie eine Boa constrictor anfah, „daß ich ein 
Bild verfaufen möchte.” 

Von der Türe ber war ein leichtes Geräufd zu vernehmen. 
Ein zweiter Mann trat ein und fete fi) auf dag Bett hinter 
die Jondrette. Auch er hatte nadte Arme und ein ruß- 
geſchwärztes Geſicht. 

So leiſe er auch eingetreten war, hatte er nicht verhindern 
können, daß Leblanc ibn bemerkte. 

„Achten Sie nicht darauf,“ ſagte Jondrette, „das ſind Leute 
aus dem Haus. Ich ſagte alſo, daß ich noch dieſes wertvolle 
Bild... ſehen Sie, bitte!” 

Er ftand auf, trat an die Wand, an der jenes Schild Iehnte, 
von dem wir bereits fprachen, und drehte es um. Marius fonnte 
es nicht deutlich erfennen. 

„Was bedeutet denn das?’ fragte Leblanc. 

„Oh, es ift ein Meiſterwerk,“ verficherte Jondrette, „ich 
hänge daran, wie an meinen eigenen Kindern, es iſt für mich 
ſo reich an Erinnerungen. Aber ich habe es Ihnen ſchon geſagt, 
es geht mir ſo ſchlecht, daß ich mich jetzt dieſes Beſitzes ent— 
ſchlagen muß.“ Sei es aus Zufall, ſei es, daß ein erſtes Miß— 
frauen ſich in ibm regte, Leblane hielt, während er ſcheinbar 
bas Bild betrachtete, im Zimmer Umfchau. Jetzt waren fhon 
vier Männer da. Drei faßen auf einer Pritfche, der vierte 
lehnte am Zürpfoften. Einer von denen, die auf der Pritfche 
faßen, lebnte fit gegen die Wand und hatte die Augen 


431 


geſchloſſen. Es war ein Alter, und man hätte glauben können, er 
ſchlafe. Sein geſchwärztes Gefiht bob fid) unheimlich von feinem 
weißen Haar ab. 

Sondrette fing Leblancs Blick auf. 

„Lauter Freunde von mir. Nachbarn. Es find Dfenarbeiter, die 
Leute haben viel mit Ruß zu tun. Achten Sie nicht weiter auf 
fie, Sie follen ja mein Bild Faufen. Erbarmen Sie fih meines 
Elends, Sie follen nicht zuviel dafür zahlen. Was halten Sie 
davon?” 

‚Aber das ift ein gewöhnliches Wirtshausſchild,“ meinte 
Leblanc und firierte Jondrette, „es ift Enapp drei Franken 
wert.’ 

Sondrette antwortete liebenswürdig: 

„Haben Sie Geld bei fih? Mit taufend Talern würde id 
mich begnügen.” 

Leblanc ftand auf, lehnte fih an die Wand und durdhftreifte 
mit einem rafhen Slif bas Zimmer. Zur Linken, gegen bas 
Fenfter zu, hatte er Jondrette, zur Nechten, gegen die Tür, jene 
vier Männer. Sie rührten fit nicht und taten, als ob fie ihn 
nicht fähen. Jondrette begann wieder in Éläglih winfelndem 
Ton weiterzureden. Leblanc mußte aus feiner Sprechweiſe 
ichhließen, daß er es mit einem Mann zu tun babe, den die Mot 
eben vor feinen Augen verrüdft gemacht hatte. 

„Ad, wenn Sie mein Bild nicht Faufen, befter Herr,’ fagte 
Sondrette, „ſo bleibe ich ohne Hilfsmittel und muß mich ein- 
fab in den Fluß werfen. Mir bleibt nichts übrig, als ins 
Waſſer zu fpringen. Wenn ich bedenke, daß ich doch meine beiden 
Töchter Rartonagearbeiten lernen laffen wollte. est Fann id 
nichts anderes tun, als ins Waſſer fpringen. Neulich bin id 
an der Aufterlißer Pride drei Stufen hinabgeftiegen und habe 
ins Waſſer gefhaut . . .! 

Plötzlich aber glübte fein erlofchenes Auge fhrecdlih auf, bie- 
fer Heine Mann fuhr auf, trat einen Schritt auf Herrn Le- 
blanc zu und fohrie: 

„Aber um all das handelt es fi nit: erfennen Sie mich?“ 


458 


17. Der Hinterhalt 


Piôblih ging die Züre auf und drei Männer in blauen 
Leinenblufen wurden fihtbar. Sie trugen Masfen aus ſchwar— 
zem Papier. Der erfte, ein magerer Burſche, trug einen eifen- 









































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beſchlagenen Stod, der zweite, ein wahrer Miefe, hielt eine 
Hade, wie man fie beim Rinderſchlachten gebraudt, am Schaft, 
der dritte, weniger mager als der erfte und doch nicht fo plump 
wie der zweite, trug einen riefenhaften Zorfehlüffel, der zu einer 
Gefängnistür gehören mochte. 


459 


Offenbar hatte Vonbrette no auf bas Erſcheinen diefer drei 
Leute gewartet. Test entfpann fich zwifchen ibm und dem Mann 
mit dem eifenbefchlagenen Stock ein kurzes Gefpräd: 

„Alles bereit?’ 

„Ja.“ 

„Wo iſt Montparnaffe?// 

„Der Steiger quatſcht draußen mit deiner Tochter.“ 

„Mit welcher?“ 

„Mit der älteren.“ 

„Iſt ein Wagen unten?“ 

„Ja.“ 

„Wartet er am richtigen Platz?“ 

„Ja.“ 

„Gut“, ſagte Jondrette. 

Leblanc war ſehr blaß. Er blickte um ſich, prüfte alle dieſe 
Geſichter wie einer, der ſeine Lage erfaßt, aber er ſchien ſich 
nicht zu fürchten. Schon hatte er ſich hinter den Tiſch zurück— 
gezogen; wenn er eben erſt wie ein alter Biedermann aus— 
geſehen hatte, ſo war jetzt der Athlet zum Vorſchein gekommen, 
der ſeine furchtbare Fauſt vielſagend auf die Stuhllehne legte. 

Marius war in dieſem Augenblick ſtolz auf ihn. 

Die drei, die Jondrette als Ofenſetzer vorgeſtellt hatte, waren 
an den Kamin getreten und hatten ſich mit den vorbereiteten 
Schmiedewerkzeugen bewaffnet. Der Alte ſaß neben der Jon— 
drette auf dem Bett, hatte aber nur die Augen aufgeſchlagen. 

Jetzt war der Augenblick gekommen, da Marius handeln 
mußte. Er richtete eine ſeiner Piſtolen nach der Decke. 

Jondrette hatte ſein Geſpräch mit dem Stockträger beendet 
und wandte ſich jetzt wieder Leblane zu. Lachend fragte er: 

„Sie kennen mich alſo nicht?“ 

Leblane ſah ihn ruhig an und antwortete: 

„Nein.“ 

Jetzt trat Jondrette an den Tiſch. Er beugte ſich vor, kreuzte 
die Arme und rief: 


„Ich heiße nicht Favantou, ich heiße auch nicht Jondrette, 
460 


mein Name ift Ihenardier! Ich bin der Gaftwirt aus Mont- 
fermeil. Verſtehen Sie? TIhenardier! Erfennen Sie mich jetzt?“ 

Eine faum bemerfbare Nöte glitt über Leblancs Stirn, aber 
er antwortete, ohne Zittern der Stimme, ruhig wie immer: 

„Noch immer nicht.‘ 

Marius hörte diefe Antwort nicht mehr. Wer ihn jest be- 
obachtet hätte, dem wäre er als eine Statue des Entſetzens, der 
Starrheit erfienen. Als Sjondrette gefagt hatte „Ich heiße 
Thénardier“, begann Marius zu zittern und lehnte fih an die 
Wand, als ob eine Degenflinge fein Herz durchbohrt hätte. 
Dann fiel die Hand, die die Piftole hielt, herab. Faft wäre ihr 
die Piftole entglitten. 

Sondrette hatte mit feiner Erflärung zwar nicht Leblanc aber 
Marius getroffen. Wenn auch Leblanc diefen Namen Tbénar- 
dier nicht zu erfennen ſchien, Marius Fannte ihn. Und was be- 
deutete ihm diefer Name! Er hatte ihn immer an feinem Her- 
gen getragen, im eftament feines Daters. Ein Ihenardier 
hatte feinem Dater das Leben gerettet, und wenn er, Marius, 
ihn träfe, follte er alles für ihn tun. Diefer Name war feinem 
Herzen heilig. Er trieb mit ibm faft den gleichen Kult wie mit 
der Erinnerung an den Toten. 

Das alfo war diefer Ihenardier, diefer Wirt aus Mont- 
fermeil, den er fo lange vergeblich gefucht hatte! Und fo mußte 
er ihn finden! Der Mann, der feinen Vater gerettet hatte, war 
ein Bandit, der Mann, dem Marius jeden Dienft leiften wollte, 
ein Scheufal! Jetzt war der Netter des Oberften Pontmercy im 
Begriff, ein Verbrechen zu begehen, das Marius nicht ganz 
verftand, bas aber einem Mord fehr ähnlich fab. Und einen 
Mord an wen? Welhe Fügung des Schickſals! Welch bitterer 
Hohn des Schickſals! Sein Vater rief ihm aus dem Sarge zu, 
er folle alles Erdenklihe für Ihenardier tun, feit vier Jahren 
hatte Marius feinen anderen Gedanfen gehabt, als diefe Schuld 
feines Vaters einzulöfen, und jekt, da er einen Verbrecher auf 
friiher Tat der Juſtiz überliefern wollte, rief ibm das Schick— 
fal zu: dies ift Thénardier! Er mußte dag Leben feines Vaters, 


461 


dag jener auf den heroifchen Gefilden von Waterloo gerettet 
hatte, bezahlen — mit dem Schafott bezahlen! Er hatte fit 
vorgefeßt, er wolle diefem Ihenardier zu Füßen fallen, wenn 
er ihn fände, und jeßt follte er ibn bem Henfer ausliefern! Die 
Stimme feines Daters befahl ihm: Eile Ihenardier zu Hilfe! 
und gleichzeitig wollte er, Marius, Ihenardier vernichten. 

Wenn er fhoB, war Leblanc gerettet und Ihenardier ver- 
Ioren. Schoß er nicht, fo war Leblanc geopfert und Ihenardier 
entfam vielleicht. 

Marius’ Knie zitterten; ibn fehwindelte. Einen Augenblid 
lang fürdhtete er, in Ohnmacht zu fallen. 

Inzwiſchen ging Ihenardier triumphierend vor dem Tiſch 
auf und ab. 

Jetzt nahm er den Leuchter, ftellte ihn heftig auf den Ramin, 
wandte fit Leblanc zu und frie: 

‚ reingefollen! Verkohlt! Angeflogen!“ 

Dann begann er wieder auf und ab zu gehen. 

„Alſo ich finde Sie wieder, Herr Philanthrop! Herr Millio- 
när in der Bettlerfluft! Puppenverfhenter! Alter Irottel! Sie 
erfennen mid nicht? Sie waren nit vor act Yabren in 
meiner Herberge in Montfermeil, zu Weihnachten 18237 Sie 
haben nicht das Kind der Fantine verfhleppt? Und Sie haben 
nicht einen gelben Rock angehabt? Und nicht diefes Paket voll 
Lumpenzeug mitgebracht wie heute morgen? Sag’ bo, Frau 
— bas ift wohl fein Schi, daß er überall Pakete mit Woll- 
firümpfen binträgt?! Alter Wohltäter! Sie find wohl Strumpf- 
wirfer, Sie? Verſchenken Ihre Ladenbiter an die Armen, Sie 
beiliger Mann? Sie Schwindler! Sie erfennen mid nidt? 
Ma, ich erfenne Sie! Gleih hab’ ih Sie erfannt, als Sie 
Ihre Mafe bier hereinſteckten. Ma, jebt fieht man wenigftens, 
daß mon nicht überall hineinfriechen darf, als Schnorrer ver- 
Eleidet, die Leute befehwindeln, den Wohltäter fpielen und dann 
im Walde den wilden Mann berausfebren! So einfach ift das 
nicht auf der Welt! Wenn man die Leute ruiniert bat, kann 
man fich nicht mit einem Überrod, der zu weit ift, und zwei 


462 


elenden Spitaldecken Ilosfaufen. Sie Kinderdieb! Damals 
haben Sie wohl gelacht über mich? Sie find ſchuld an meinem 
Unglück! Für dredige fünfzehnhundert Franken haben Sie fid 
bas Mädel erfchwindelt, dag gewiß reicher Leute Kind war! Die 
Kleine hatte mir ſchon Geld eingebracht und ich hätte von ihr 
leben Eönnen! Das Kind hätte mich entfchädigt für alles, was 
ich in biefer verdammten Kaſchemme verloren babe! Aber ba- 
mals, im Wald, hatten Sie den Stock! Damals waren Sie 
der Stärfere! est Éommt die Nahe. Heute Fann id meine 
Irümpfe ausfpielen, heute hängen Sie, mein Befter! Zum 
Lachen ift das! Schön ift er bereingefallen! Sch babe ihm er- 
zählt, daß ich der Schaufpieler Favantou bin und früher mit 
der Mars gefpielt babe, und daß der Hauswirt am vierten Fe- 
bruar feinen Zins haben will. Er bat nicht einmal bemerft, daß 
mon am achten Yanuar zahlt, nicht am vierten Februar! Ein 
unglaublicher Idiot! Dafür bringt er mir biefe vier albernen 
Louis! Schwein! Nicht einmal hundert Franken wollte er ber- 
ausrüden! Wie er auf mein dummes Gequaffel bereinfiel — 
wirklich zum Lachen! Ma, dachte ich mir, du Trottel, dich babe 
ih. Vormittag Katzenpfötchen, am Abend fteig ih dir auf 
den Bauch.“ 

Thenardier fehwieg. Der Atem war ihm ausgegangen. Seine 
ſchmale Bruft Feuchte. 

Leblanc hatte ihn nicht unterbrochen. Erft jeßt fagte er: 

„Ich weiß nicht, was Sie wollen. Sie verfennen mich. Ich 
bin ganz und gar Fein Millionär. Ich Fenne Sie nicht. Sie ver- 
wechfeln mich.” 

„Ah Spaß! fbrie Thenardier, ‚damit fommen Sie nicht 
weit, Alter! Sie erinnern fih nicht? Sie fehen nicht, wer ich 
bin?’ 

„Verzeihung, Herr,” antwortete Leblanc mit einer Höflich- 
feif, die ebenfo überrafchend wie zwingend war, „ich fehe fehr 
wohl, wer Sie find. Sie find ein Bandit.’ 

Es ift eine Zatfache, daß auch die Lumpen ihre Empfindlicy- 
feit haben. Bei dem Mort Bandit fprang die Thenardier vom 


463 


Bett, und ihr Mann griff nach dem Stuhl, als ob er ihn in 
feinen Händen zerbrechen wollte. 

„Rühr' bid nicht!!! fchrie er feiner Frau zu. Dann wandte 
er fich wieder an Leblanc. 

„Bandit? Ob, ich weiß, daß ihr uns fo nennt, ihr reichen 
Leute! Na, es ift ja wahr, ich babe Banferott gemacht, ic) muß 
mich verfteden, babe Fein ‘Brot, Fein Geld, alfo bin ich ein 
Bandit! Habe feit drei Tagen nichts gegeflen: Bandit. Ah, ihr 
wärmt eure Füße, habt Pelzftiefel und wattierte Röcke wie die 
Erzbifchöfe, ihr wohnt im erften Stod, freßt Trüffel und Spar- 
gelbünde zu vierzig Sranfen im Januar, ihr befauft euch, und 
wenn ihr wiffen wollt, ob es Éalt ift, [haut ihr in der Zeitung 
nad, was bas Thermometer fagt. Wir find unfere eigenen 
Zhermometer! Wir müffen nicht auf dem Boulevard, im Wet- 
terbäuschen, nadfeben, wieviel Grade es hat, wir fpüren, daß 
uns bas Blut in den Adern gefriert und daß das Eis bis zum 
Herzen fteigt. Und dann Fommt ihr in unfere Höhlen und 
nennt uns Sanbiten! Herr Millionär, ich war Inhaber eines 
Geſchäfts, ich hatte meinen Gewerbefchein, ich war Wähler, ich 
bin ein Bürger! Sie find vielleicht gar Feiner, Sie! Ich ftamme 
nicht aus der Goffe, Herr Philanthrop, ich bin nicht einer, beffen 
Namen niemand weiß und der Kinder ftiehlt! Ich bin ein alter 
franzöfifher Soldat, id hätte einen Orden verdient! Bei Wa- 
terloo war id mit dabei, babe während der Schlacht einen 
General gerettet, einen Grafen Pontmercy! Das Bild, bas 
Sie hier feben, bat David gemalt! Wiffen Sie, was es vor- 
ftellt? Und wen es barftellt? Mich! David wollte meine Helden- 
tat verewigen. Ich trage den General Pontmercy auf meinem 
Rücken dur bas Feuer. Er bat allerdings nichts für mich ge- 
tan nachher, biefer General, er war wohl aud nicht mehr wert 
als die andern. ch babe ihn mit Gefahr des eigenen Lebens 
gerettet! Und jet, nachdem ich Ihnen das alles gejagt babe, 
wollen wir zu Ende fommen! Ich brauche Geld, viel Geld, un- 
erhört viel Geld, oder mit Ihnen ift es aus, Donnerkreuz!“ 

Marius Hatte wieder ein wenig Saffung gewonnen und 


464 


horchte. est war Eein Zweifel mehr môglib. Das war Thé- 
nardier, von dem im Zeftament feines Daters die Mede war. 
Marius erfchauderte, als diefer Menſch feinen Vater der Un- 
danfbarfeit zieh, — war er bo jetzt im Begriff, diefen Vor— 
wurf zu rechtfertigen! 

Auch Thénardier hatte wieder Atem gefhöpft. Er richtete 
feinen gierigen Blick auf Leblanc und fagte kurz und beifer: 

„Bas haft bu zu fagen, bevor wir dich totfehlagen?’ 

Leblanc ſchwieg. 

Eine verroftete Stimme aus dem Hintergrund fragte: 

„Denn Holz gefpaltet werden fol, warum ruft ihr nicht 
mich?“ Es war der Mann mit der Hade. 

Ale wandten fih um. Diefen Augenblif benübte Seblanc, 
ftieß mit dem Fuß den Stuhl, mit der Fauft den Tifh zurüd 
und erreichte in einem Sprung, bevor Ihenardier fi) ummen- 
den Fonnte, bas Senfter. Es aufreißen, auf die Brüftung fteigen 
war das Werf eines Augenblids. Schon war er zur Hälfte aus 
bem Fenfter, als fes fräftige Fäufte nah ihm griffen und 
ihn zurüdriffen. Es waren die drei Ofenfeher, die fih auf 
ihn geftürzt hatten. Die TIhenardier hatte ibn an den Haaren 
gefaßt. 

Bei dem Getöfe, das jeßt entftand, eilten die anderen Ban— 
diten aus dem Korridor herbei. Der Alte, der bis jebt auf dem 
Bett gefeffen hatte und betrunfen fhien, erhob fi) und torfelte 
herbei. Er hielt einen Hammer in der Hand. 

Einer der Ofenſetzer, deffen geſchwärztes Geficht jeßt von der 
Kerze bell erleuchtet wurde und in bem Marius troß der Mas— 
fierung Panchaud, genannt Brigenaille, erfannte, ſchwang über 
Leblanes Kopf einen Prügel, der aus einer Eifenftange und 
zwei DBleifugeln beftand. 

Fest Fonnte Marius nicht länger ruhig bleiben. 

„Vater,“ dachte er, „verzeih mir.’ 

Sein Finger fuhte den Hahn der Piftole. Er war eben im 
Begriff abzufchießen, als er Thenardier rufen hörte: 


30 Hugo, Die Elenden. 465 


„Tut ihm nichts!“ 

Der verzweifelte Verſuch des Opfers, ſich zu retten, hatte 
Thénardier beruhigt. In ſeiner Bruſt wohnten zwei Charak— 
tere: Wildheit und Liſt. Bis jetzt hatte die Sicherheit, trium— 
phieren zu können, die Wildheit in den Vordergrund treten 
laſſen; als das Opfer ſich aber wehrte, trat die Schlauheit 
wieder in ihre Rechte. 

„Tut ihm nichts“, wiederholte er, ohne wohl zu ahnen, daß 
er dadurch einen Schuß verhinderte, der Schlimmes auf ihn 
herabbeſchwören mußte; Marius fand die Situation nicht mehr 
ſo dringlich. Er konnte noch einen Augenblick warten. Vielleicht 
würde ein Zufall ihn aus dieſer fürchterlichen Alternative be— 
freien, Urſules Vater zu vernichten oder den Retter ſeines 
eigenen Vaters zu verraten. 

Im Nebenzimmer war ein wilder Kampf im Gange. Leblanc 
hatte den alten Rieſen mit einem mächtigen Fauftfchlag 
auf die Bruft getroffen; dann hatte er zwei andere zu Boden 
gefchleudert. Jetzt aber hielten vier andere den athletifchen Greis 
und zwangen ihn nieder. Leblanc Eniete auf den beiden Män- 
nern, die er niedergeftrecdft hatte, die vier andern beugten fi 
über ihn. Er verfchwand in diefem Knäuel wie ein Eber in 
einer Meute. 

Endlich gelang es den vieren, ihr Opfer auf das ‘Bett zu 
ichleppen und dort feftzuhalten. Die Ihenardier hielt ihn noch 
immer an den Haaren. 

„Miſch' du dich nicht ein,’ rief Ihenardier, „du wirft dir 
nur deinen Schal zerreißen.” Rnurrend gebordte fie ihm, wie 
die Wölfin dem Wolf nabgibt. 

„Und ihr andern‘, befahl Thenardier, „durchſucht ihn!‘ 

Leblanc fohien auf jeden Widerftand verzichtet zu haben. 
Man fand bei ihm eine Lederbörfe, die ſechs Franfen enthielt 
und fein Tafchentud. 

„Kein Portefeuille?! fragte Thénardier. 

„Nicht einmal eine Uhr“, erflärte einer der Ofenfeker. 


466 


Thénarbdier holte aus der Ede das Bündel Stricke und warf 
es den Leuten zu. 

„Bindet ibn an den Fuß des Bettes!“ 

Gleichzeitig bemerkte er den Alten, den Leblane mit einem 
Sauftfhlag niedergeftredft hatte und der fih nod immer nicht 
rübrte. 

„Iſt Boulatruelle tot? 

‚Stein, nur befoffen.” 

„Dann fhmeift ihn in die Ecke“, befahl Thénarbdier. „War— 
um haft du nur fo viele Leute hergefchleppt, Babet?“ fragte er 
den Stodträger, „das war doch unnütz.“ 

„Was willſt ou? Alle wollten mit von der Partie fein. Die 
Saifon ift ſchlecht. Kein Geſchäft.“ 

Leblanc wehrte fih nicht mehr. Die Briganten banden ibn 
feft. Ms der letzte Knoten gefnüpft war, nahm Thénardier 
einen Stuhl und feßte fi) Leblanc gegenüber. Er war jest voll- 
ftändig verändert. Marius Fonnte in dem bôflihen Lächeln 
biefes Beamtengeſichts kaum die beftialifbe Grimaffe erfennen, 
die er eben noch gefehen hatte. Der Tiger hatte fih in einen 
Advofaten verwandelt. 

„Herr, fagte Ihenardier, und winfte den Briganten zu, fie 
jollten beifeitetreten, ‚Herr, Sie taten unrecht, als Sie aus 
dem Senfter fpringen wollten. Sie hätten fi ein Dein brechen 
können. est Eönnen wir, wenn es Ybnen recht ift, ruhig fpre- 
en. Ich muß Sie zuerft auf eine Beobahtung aufmerkſam 
machen, auf ein Fleines Detail, bas mir nicht entgangen ift: 
Sie haben während des ganzen Kampfes nicht gefhrien. Mein 
Gott, wenn Sie ein bißchen um Hilfe gefchrien hätten, ich hätte 
weiter gar nichts dabei gefunden. Man plärrt bei folhen Ge- 
legenheiten — ich hätte es ihnen wirklich nicht verübelt. Man 
Ihlägt eben Lärm, wenn man fih mit Leuten allein findet, 
denen man nicht vollftändiges Vertrauen entgegenbringt. Übri- 
gens ift biefes Zimmer fehr dumpf. Es bat fonft Feine Vorteile, 
aber diefen bat es. Es ift eine rechte Höhle. Wenn bier eine 
Bombe plast, glauben die Leute auf dem nächſten Wactpoften, 


30* 467 


ein Befoffener bat gegrunzt. Es ift ein bequemer Aufenthalt. 
Aber Sie haben nit gefbrien, und das ift noch beffer. Sch 
gratuliere Ihnen. Aber ih möchte Sie etwas fragen. Lieber 
Herr, wer kommt, wenn man fhreit? Die Polizei. Und wer 
folgt der Polizei auf dem Fuß? Die Juſtiz. Sie haben nicht 
gefhrien. Alfo wünfhen Sie nicht die Juſtiz und die Polizei 
zu feben. Ich babe kange Zeit ſchon fo etwas geahnt, Sie wün- 
ſchen irgend etwas zu verbergen. Das liegt offenbar in ihrem 
Intereſſe. Wir unfererfeits, wir wünſchen dasfelbe. Unfere 
Intereſſen begegnen fib. Alfo können wir uns verftändigen.” 

Während er fo fprach, fhien Ihenardier mit feinen fharfen 
Blifen im Herzen feines Gefangenen Iefen zu wollen. Er 
ſprach jeßt beherrfcht und faft gewählt, fo daß man biefen Ban— 
diten für einen Zögling eines Priefterfeminars hätte halten 
fonnen. 

Das Schweigen, das der Gefangene felbft in höchfter Lebens- 
gefahr bewahrt hatte, diefer Widerftand, den er der natürlichen 
Regung, aufzufchreien, geleiftet hatte, berührte Marius pein- 
lib. Ihenardierg anfheinend wohlbegründete Bemerfung ver- 
dDichtete noch das Dunkel, bas die feltfame Erfheinung jenes 
Mannes umgab, den Courfenrac Herr Leblanc getauft hatte. 
Aber wer immer er auch fein mochte, in feiner höchft gefährlichen 
Tage, gefeffelt, von Mördern umgeben, bewahrte er feine voll- 
endete Ruhe, Marius Eonnte fih einer Negung ehrfürdtigen 
Staunens nicht ermebren, wenn er diefes felbft jest no er- 
haben melancolifhe Geficht betrachtete. 

Ihenardier ftand jebt auf und trat an den Kamin; er [ob 
einen Paravent beifeite und gab den Ausblid auf die Eifen- 
geräte frei, die in dem euer glühten. 

Dann feßte er fich wieder vor Leblanc bin. 

„Sun, fagte er, ‚wir können uns verftändigen. Einigen wir 
ung freundfchaftlih. %d bin zu weit gegangen. Weiß der Teu- 
fel, wo mein Verftand in diefem Augenbli war. Gewiß habe 
ich verridtes Zeug geredet. Zum Beiſpiel babe ich gefagt, daß 
ich fehr, fehr viel Geld brauche, von Ihnen, da Sie ja Millionär 


468 


find. Das war unvernünftig. Sie find ja reich, weiß Gott, 
aber aud Sie haben Verpflichtungen. Wer hat Feine? Ich will 
Sie nicht ruinieren, id bin fein Salsabfhneider. Zu den Leuten, 
die einen Vorteil ausnüßen bis zur Lächerlichfeit, gehöre ich 
nicht. Auch ich will Opfer bringen. Ich verlange nur zwei- 
bunderttaufend Franken.” 

Leblanc äußerte fein Wort. 

„Sie fehen,” fuhr Ihenardier fort, „daß ich mich mäßige. 
Sch weiß nicht, wieviel Sie haben, aber es Fommt Ihnen gewiß 
nicht darauf an, denn ein MWohltäter wie Sie Éann einem un- 
glücflihen Familienvater fon einmal mit zweihunderttaufend 
Sranfen aushelfen. Gewiß find Sie vernünftig genug und bil- 
den fi nicht ein, daß ich eine fo große Sade arrangiere wie 
heute — es ſteckt Arbeit darin, Herr! —, um von Ihnen ein 
ZIrinfgeld zu erpreffen. Zmweihundertfaufend Sranfen, fo viel 
ift die Sache wert. Sobald Sie diefe Bagatelle herausgerüct 
haben, bürge ich ihnen dafür, daß alles geordnet ift. Sie wer- 
den fagen: ich babe den Betrag nicht bei mir. Gut, bas babe 
ih auch nicht geglaubt. So etwas verlange ich gar nicht. Ich 
will nur etwas: feien Sie fo liebenswürdig und fehreiben Sie, 
was ich Ihnen jetzt diktiere.“ 

Jetzt unterbrach fi) Thénardier, dann fuhr er mit einem 
Lächeln fort: 

„Benn Sie behaupten wollen, daß Sie nicht fchreiben Fön- 
nen, würde ich auf diefen Scherz allerdings nicht eingehen.’ 

Ein Großinquifitor hätte ibn um diefes Lächeln beneiden 
fénnen. Er fhob den Tifd vor Leblanc bin, nahm aus der 
Lade Feder, Papier und Tinte. 

„Schreiben Sie.” 

Endlich antwortete der Gefangene: 

„ie fol id fchreiben, ich bin doch gebunden!” 

„Das ift allerdings wahr, entfehuldigen Sie.” Ihenardier 
wandte fid zu Bigrenaille: „Binde den redhten Arm des 
Herrn los.“ 


469 


Es gefhab. Ihenardier tauchte die Feder in die Tinte und 
reichte fie Leblanc. 

„Beachten Sie wohl, mein Herr, daß Sie vollfommen in 
meiner Gewalt find. Keine menfhlihe Macht fann Sie daraus 
befreien, und es wäre uns recht unlieb, wenn wir gezwungen 
wären, zum Außerften zu greifen. Sch weiß weder Ihren Namen 
nod Ihre Adrefie, aber ih made Sie darauf aufmerkſam, 
daß Sie hier angebunden bleiben, bis der Überbringer des 
Driefes, den Sie jest ſchreiben werden, zurückkommt. Jetzt 
ſchreiben Sie.” 

Leblanc nabm die Feder. 

„Meine Tochter... 

Der Gefangene blickte auf. 

„Schreiben Sie: Meine liebe Tochter‘, befahl IThenardier. 

Leblanc gehorchte. Dann fuhr Ihenardier fort: 

„Komme ſofort ...“ 

Er unterbrach ſich. 

„Sie duzen ſie doch?“ 

„Wen?“ 

„Na, die Kleine.“ 

Leblanc antwortete ſcheinbar ohne die leiſeſte Erregung: 

„Ich weiß nicht, von wen Sie fprechen.” 

„But, fehreiben Sie weiter: Komm fofort. Ich braudhe Di 
dringend. Die Überbringerin biefes Briefes ift beauftragt, Dich) 
zu mir zu führen. Folge ihr ohne Mißtrauen.“ 

Leblanc hatte alles gefchrieben. 

„Halt, vief Ihenardier, „streichen Sie das mit dem Miß— 
trauen; die Kleine wird nur auf Ideen kommen.“ 

Leblanc ftrich die vier Worte. 

„Sp, und jest unterfreiben Sie. Wie heißen Sie 
übrigens?“ 

Der Gefangene legte die Feder weg und fragfe: 

„An wen ift diefer Brief gerichtet?‘ 


470 


„Das wiffen Sie bob, an die Kleine. ch babe es Ihnen 
ſchon gejagt.’ 

Dffenfihtlich wollte Thénardier ben Namen des Mädchens 
nicht nennen. Er war gefchiet und wollte fein Geheimnis felbft 
vor feinen Komplicen wahren. Wenn er ihren Namen nannte, 
gab er das ganze „Geſchäft“ aus der Hand, und fie erfuhren 
mehr als nöfig war. 

„Unterſchreiben Sie. Wie heißen Sie?’ 

„Urbain Fabre.” 

Ihenardier griff in die Tafhe und 309 ein Tuch hervor. Er 
fab bas Monogramm an. 

„U. $. fofo. Urbain Sabre. Unterfchreiben Sie U. F.“ 

Der Gefangene folgte. 

„Ich werde den Brief für Sie falten, denn Sie Fünnen es 
ja mit einer Hand nicht fun. So, und jest fehreiben Sie die 
Adrefie. Fräulein Sabre. Ich weiß, daß Sie nicht allzu weit 
von bier wohnen, irgendwo bei Saint-acques du SHaut-Pas. 
Die Straße allerdings weiß ich nicht. Ich fehe übrigens, daß 
Sie Ihre Tage begriffen haben. Da Sie Ihren Namen ridb- 
fig angaben, werden Sie auch die Adrefle nicht fälfchen.” 

Der Gefangene zögerte einen Augenblid, dann nahm er die 
Feder und fchrieb: 

‚Mademoifelle Sabre, bei Herrn Urbain Sabre, Rue St.- 
Dominique d’Enfer 17. 

Fieberhaft griff Thenardier nad dem Brief. 

„Frau!“ rief er. 

Die Thenardier eilte herbei. 

„Du weißt, was du zu tun haft. Komm bald zurück.‘ 

Dann rief er den Mann mit dem Stock: 

„Du begleiteft die Bürgerin. Weißt bu, wo der Wagen 
wartet?’ | 

„Ja.“ 

Er ftellte feinen Stock in den Winkel und folgte der Thé- 
nardier. | 


471 


Eine Minute verging, dann hörte man Peitfchenfnallen. 

„Na,“ murmelte Ihenardier, „die machen es ja nicht lang- 
fom. In drei Diertelftunden find fie zurück.“ 

Er rüdte feinen Stuhl an den Kamin, Ereuzte die Arme und 
hielt die Füße an das Feuer: 

„Eine Hundekälte“, murrte er. 


Jetzt waren außer Ihenardier und dem Gefangenen nur noch 
fünf DBanditen in der Stube. Die Leute faben unter ihren 
Masken wie Köhler, Meger oder Teufel aus und fhienen ganz 
ftumpf zu fein. Man fühlte, daß fie ein Verbrechen wie ihr 
Handwerk ausübten, ruhig, ohne Zorn und ohne Erbarmen, 
faft gelangweilt. Sie bodten in einem Winfel und fchwiegen. 
Ihenardier wärmte fih die Füße. Der Gefangene war wieder 
in fein tiefes Schweigen verfunfen. Man hörte nur den ruhigen 
Atem des Betrunfenen, der wieder fchlief. 


Marius laufhte mit fteigender Angft. Das Nätfel war für 
ihn unburbringliher als je. Wer war die ‚Kleine‘, die er 
feine Urfule genannt hatte? Der Gefangene hatte ganz arglos 
gefagt: Ich weiß nicht, von wen Sie fprechen. Andererfeits be- 
deuteten die beiden Buchſtaben U. F. Urbain Sabre, Urfule 
war alfo nicht mehr Urfule. Das war bas einzige, mas Marius 
begriff. Wie hypnotiſiert blieb er an feinem Platz. Noch immer 
hoffte er auf irgendeinen Zwifchenfall, der ihn der Verpflich— 
tung überhob, fih zu etwas zu entfcheiden. 

Auf jeden Fall werde ich ja fehen, badte er, ob fie gemeint 
war, denn die TIhenardier wird fie bierberbringen. Dann ift 
alles entfchieden, ich gebe dann gern mein Leben, wenn id fie 
befreien kann. Nichts wird mich aufhalten. 

Eine halbe Stunde verftrih. Thenardier war nod immer in 
Gedanken verfunfen. Der Gefangene rührte fib nit. Doch 
glaubte Marius zumeilen und in Abftänden ein ganz leifes 
Geräufh von ibm ber zu hören. 

Pöslih wandte Thénardier ſich wieder an ihn: 

„Hören Sie, Herr Sabre, wie die ganze Sade vor fid 


203 


geben fol. Meine Frau wird gleih Ffommen. Werden Sie nur 
nicht ungeduldig. Ich denke, daß die Lerche wirflih Ihre Toch— 
ter ift und finde es ganz begreiflih, daß Sie auf fie aufpaflen. 
Niemand wird ihr etwas zuleide tun. Sie foll nur an einen 
ruhigen Ort gebracht werden, wo fie warten wird, bis Sie die 
zweihunderttaufend bezahlt haben. Wenn Sie mid verhaften 
laffen, wird mein Kamerad der Kleinen den Hals abdrehen. 
So fteht die Sache.“ 

Der Gefangene äußerte nichts. 

Das ift doch gar nicht Fompliziert, nicht wahr? Dem Mädel 
geichieht nichts Döfes, wenn Sie felbft nicht wollen. Sobald 
ich weiß, daß die Kleine unterwegs ift, laffen wir Sie frei, und 
Sie können nad) Haufe ſchlafen gehen. Sie feben, wir haben 
nichts Böſes mit Ihnen vor.’ 

Furchtbare Bilder beängftigten Marius. Alfo die Leute woll- 
ten bas Mädchen entführen? Eine diefer Beſtien follte zum 
Wächter diefes Mädchens werden? 

Mas follte er tun? est fehießen? Alle diefe Schurfen der 
Juſtiz übergeben? Diefer furdtbare Kerl mit dem Stock 
war ja bereits fort, hatte fit des jungen Mädchens fhon be- 
mächtigt. Ihenardier hatte es ja felbft gefagt: wenn Sie 
mich verhaften laflen, dreht mein Kamerad der Kleinen den 
Hals um. 

est hörte man die Haustür gehen. 

„Sie kommt zurück“, fagte Xhenardier. 

Schon ftürjte die Frau atemlog und Feuchend herein. 

„Falſche Adreſſe!“ ſchrie fie. 

Der Bandit, der ſie begleitet hatte, trat in den Winkel und 
holte ſeinen Stock. 

„Eine falſche Adreſſe?“ fragte Thénardier. 

„Rue Saint-Dominique No. 17 wohnt kein Urbain Fabre. 
Thénardier, dieſer Alte hat dich an der Naſe herumgeführt! 
Du biſt weiß Gott viel zu gutmütig. Hätteſt du ihm wenigſtens 
gleich auf Vorſchuß das Maul krumm geſchlagen! Ich, wenn 


473 


es auf mid ankäme, ich hätte ihn lebendig geröftet. ch würde 
ibn fhon zum Reden bringen: wo das Mädchen ift, und wo 
das Geld. So hätte id es gemacht! Aber die Männer find ja 
immer blöder als die Frauen.’ 

Marius atmete auf. Urfule — er wußte ja nicht, wie er fie 
jonft nennen follte — war gerettet. 

Ihenardier betrachtete nachdenklich das Kohlenbeden. Dann 
wandte er fih langſam und bod grimmig an den Gefangenen. 

„Eine falfhe Adrefle? Was verfprihft du dir davon?‘ 

nait zu gewinnen’, antwortete der Gefangene. 

Und im felben Augenblick fchüttelte er die Stride ab. Er 
war jeßt nur mehr mit einem ‘Dein an bas ‘Bett gebunden. 

Bevor die fieben Männer Zeit gefunden hatten, fi auf 
ibn zu werfen, hatte er die Sand nah dem Kamin aus- 
geftreckt, und jest faben Thénarbdier und die Vanbiten, die er- 
fhroden zurüdiprangen, wie er den weißglühenden Meißel 
drobend ſchwang. 

Bei der gerichtlihen Unterfuhung, die fpäter im Gorbeau- 
fhen Haufe ftattfand, wurde ein Souſtück gefunden, das mit 
dem Fleiß, den nur Sagnofträflinge aufbringen, der Länge 
nach gefpalten worden war. Diefe fhredlihen und doc erftaun- 
lihen Werfe der Kunftfertigkeit ftellen im ‘Bereich des Kunft- 
gewerbes ungefähr dasfelbe dar wie die oft fo farbenprächtfigen 
Bilder der Verbrecherſprache in der Poefie. Es gibt im Bagno 
Leute von der Art eines Venvenuto Cellini, fowie es in der 
Kunſtſprache einen Villon gibt. Unfelige, die zu entfpringen 
fuchen, finden, zuweilen ohne die geringfte Hilfe und ohne alles 
Werkzeug, Mittel und Wege, einen Sou in zwei dünne Schei- 
ben zu zerfchneiden. Ein altes Mefler muß ihnen genügen, um 
biefes Wunderwerk zu vollbringen. Dann wird in die Spalte 
eine Ubrfeber geftekt und am Rande der Münze eine Fleine 
Schraube angebracht, fo daß fie wieder zufammengelegt werden 
Fünnen. Jetzt dient fie als Medaillon. 

Dffenbar hatte der Gefangene die Uhrfeder, die als Säge 
diente, aus der Münze genommen, die er vielleicht während 


474 


feiner Seffelung in der Hand hielt, und fo feine Stricke zerfägt. 
Das ift wohl die Erklärung für bas leife Geraufh, das Ma- 
rius beobachtet hatte. 

Inzwiſchen hatten die Banditen fi) wieder gefaßt. 

„Sei unbeforgt,/! fagte Bigrenaille zu Ihenardier, „mit dem 
einen Bein hängt er noch und für den Strif bürge id. Den 
babe ich verknotet.“ 

Sekt erhob der Gefangene die Stimme: 

„Ihr feid Elende, aber mein Leben ift nicht wert, daß ich es 
mit folder Mühe verteidige. Wenn ihr euch aber einbildet, ihr 
werdet mid zum Sprechen bringen, oder mich zwingen, efwas 
zu fchreiben, was id nicht fehreiben will...”, er ſchob ben 
linken Ärmel zurüd: „ſeht her!’ 

Er legte den glühenden Meißel, den er in der Rechten hielt, 
auf das Fleifh. Man hörte ein Aufzifchen, und diefer wider- 
wärtige Geruch, der den Zorturfammern eigentümlich ift, ver- 
breitete fich in der Stube. Marius fuhr entfeßt zurück, und fo- 
gar die Banditen fchauderten. Der feltfame Greis aber zuefte 
kaum mit den Wimpern, während bas rote Eifen in die blu- 
tende Wunde eindrang, fondern richtete feinen firengen Blick 
ohne Haß auf Thenardier. 

„Ihr Elenden,” rief er jest, „fürchtet euch nicht mehr vor 
mir als ich euch fürchte.” 

Dann riß er den Meißel aus der Wunde und fchleuderte ihn 
zum Fenfter hinaus. 

„Und jest tut mit mir, was ihr wollt.‘ 

Er war entwaffnet. 

„Vorwärts!“ fbrie Thenardier. 

Zwei der Banditen legten ihm die Hand auf die Schultern 
und ein Masfierter, der mit einer Art Bauchſtimme fprab, 
ftellte fi mit dem fchweren Schlüffel hinter ihn, um ibm im 
Notfall ben Schädel einzufchlagen. 

Im nähften Augenblick hörte Marius folgende Worte raſch 
und Jeife gejprochen: 


449 


„Jetzt bleibt ung nichts mehr übrig.’ 

„Schluß mit ihm!‘ 

Richtig.‘ 

TIhenardier und feine Frau hatten beratfchlagt. 

Er näherte fi) langfam dem Tiſch, 309 die Lade heraus und 
entnahm ihr bas Küchenmeffer. 

Bis jeht hatte Marius gehofft, vergeblich gehofft, er werde 
ein Mittel finden, den einen zu retten, ohne den andern zu 
verderben. Nun war Fein Auffhub mehr möglich. Ihenardier 
ftand mit dem Mefler vor dem Gefangenen und lauerte. 

Der entfegte Blif Marius irrte mechanifch dur fein Zim- 
mer. Plößlich zitterte er. Ein heller Strahl Mondlicht fiel auf 
ein Blatt Papier, das zu feinen Füßen lag. Auf diefes Blatt 
hatte heute morgen die Ältere Tochter Thénarbdier gefchrieben: 

„Die Dolente ift da!” 

Blishaft fuhr ein Gedanke durch Marius’ Gehirn. Das war 
vielleicht die Löfung, die er fuchte. Er büdte fi, ftredfte den 
Arm aus, bob bas Papier auf, Enüllte es zufammen und warf 
es durch fein Gudlod mitten in den Raum. 

“Eg war die höchfte Zeit. Thénarbdier hatte offenbar feine 
legten Bedenken überwunden und trat eben auf den Gefange- 
nen ju. 

„Da fällt etwas herein!’ fehrie die Thénarbdier. 

„Was?“ 

Die Frau hatte das zuſammengeknüllte Papier aufgehoben, 
ſie reichte es ihrem Manne. 

„Wo iſt das hergekommen?“ fragte Thénardier. 

„Woher ſoll das kommen?“ 

„Durchs Fenſter doch.“ 

„Ich habe es fliegen geſehn“, ſagte Bigrenaille. 

Thénardier faltete das Blatt auseinander und näherte es der 
Kerze. 

„Eponines Schrift. Verdammt!“ 

Er winkte ſeiner Frau, zeigte ihr das Blatt und ſagte dann 
leiſe: 


476 


„Raſch, die Stridleiter! Wir laffen fie in den Hof und 
bauen ab.” 

„Ohne den Kerl da abzufillen?‘ 

„Keine Zeit!!! 

„Wo hinaus?’ 

„Durchs Fenfter. Da Ponine das Papier durchs Fenfter 
hereingeworfen hat, muß diefer Ausweg nod frei fein.” 

Schon hatten die Banditen den Gefangenen losgelaſſen. Im 
nächſten Augenblif war die Stridleiter aufgerollt und wurde 
am Fenfterfreuz befeftigt. 

Der Gefangene adtete der Dinge Faum, die rings um ihn 
gefhahen. Er ſchien zu träumen oder zu beten. 

„Komm, Bürgerin!’ rief Ihenardier. 

Sie eilte zum Senfter. 

Im felben Augenblick aber riß Bigrenaille fie zurück. 

„Hola, ihr Schwindler, nah uns!’ 

„Erſt wir!” riefen aud die andern. 

„Ihr Kindsköpfe,“ rief Thenardier, „wir wollen doch Feine 
Zeit verlieren.” 

„Sollen wir etwa Iofen, wer als erfter hinausſteigt?“ 

„Ihr feid ja verrückt!‘ fchrie TIhenardier, „vollkommen auf 
den Kopf gefallen! Wollt ihr vielleicht die Namen auf Zettel 
freiben und die Zettel in einer Mike ſammeln?“ 

„Darf ich Ihnen meinen Hut anbieten?‘ fragte eine Stimme 
von der Tür ber. 

Alle wandten fih um. 

Es war Javert, der ihnen lächelnd feinen Hut binbielt. 


18. Man follimmer zuerftdie Opfer 
verhaften 
Zuerft hatte Javert ſich beftrebt, die Töchter Thénardiers in 


die Hand zu befommen. Aber er hatte nur Azelma erwifcht. 
Eponine hatte ihren Poften verlaffen und war entfommen. 


477 


Dann hatte Javert auf den verabredeten Schuß gewartet. Er 
fab den Wagen abfahren und wiederfommen und begriff, daß 
alles im Gange war. Schließlih war er ungeduldig geworden, 
überzeugt, daß er hier einen guten Sang fun werde, und hatte 
fit entfbloffen, nicht Yänger auf den Schuß zu warten. 

Der Lefer erinnert fih, daß er Marius’ Hausfehlüffel hatte. 

So war er gerade zurechtgefommen. 

Die Banditen ftürzten zu den Waffen. In der nächſten Se- 
Funde ftanben fie, mit allerlei Werkzeugen bewaffnet, abwehr- 
bereit da. Die TIhenardier ergriff einen Pflafterftein, der fonft 
einer ihrer Iöchter als Schemel diente. 

Sovert feste feinen Hut auf, Éreusfe die Arme und fagte 
ruhig: 

„Holt! Ihr gebt nicht dur bas Fenfter, fondern durd die 
Zür. Das ift viel bequemer. Ihr feid fieben, wir find fünfzehn. 
Alſo wollen wir ung nicht herumprügeln wie dumme Bauern. 
Sind wir vernünftig?” 

Bigrenaille holte unter feiner blauen Bluſe eine Piftole 
hervor und ſchob fie Thénardier zu. 

„Das ift Savert. Auf den Fann ich nicht fchießen. Getrauft 
bu dir's?“ 

„Den Teufel auch! 

„But, ſchieß!“ 

Ihenardier zielte auf Javert. 

Der fab ihn ruhig an und fagte: 

„Bemüh' did nicht, bein Schuß geht nicht los.“ 

Thénarbdier drüdte ab — der Schuß verfagte. 

„Hab' ich bir’s nicht geſagt?“ fragte Javert. 

Bigrenaille warf feinen Prügel Vavert zu Füßen. 

„Du bift ja der Erzteufel! Ich ergebe mich.” 

„Und ihr?’ fragte Javert die andern. 

„Wir auch.“ 

„Gut, ich ſagte ja, ihr ſollt vernünftig ſein.“ 

„Ich bitte nur um einen Vorzug,“ ſagte Bigrenaille, 
„Raucherlaubnis im Gefängnis.“ 


478 


„Bewilligt“, entfchied Vavert. Dann wandte er fid um: 

„Vorwärts, ihr!’ 

Ein Schwarm Poliziften drang in die Stube ein. 

„Handſchellen für alle! rief Javert. 

„Kommt doch her!’ fhrie eine Stimme, die nicht einem 
Mann gehörte, aber von der niemand hätte behaupten Fünnen, 
daß es eine Srauenftimme war. 

Die Ihenardier hatte fih in den Fenfterwinfel zurückgezogen. 
Die Poliziften fuhren zurüd. Sie hatte ihren Schal abgewor- 
fen; den Hut hatte fie no auf dem Kopf. Sie hielt den 
Pflafterftein mit beiden Händen erhoben und fab aus wie eine 
Miefin, die einen Felsblock fchleudern will. 

„Zurück!“ brüllte fie. 

Dann warf fie den Banpditen, die fi) hatten fefleln laffen, 
einen verächtlichen Blick zu und murmelte beifer: 

„Feiglinge!“ 

Javert lächelte und trat vor. 

„Komm mir nicht näher,“ ſchrie ſie, „oder ich ſchlage dir 
den Schädel ein!“ 

„Welch ein Grenadier!“ lachte Javert. „Mamachen, du 
haſt einen Bart wie ein Mann, aber ich habe Krallen wie ein 
Weib.“ 

Und er trat näher. Die Tbénarbdier ſpreizte die Beine, bog 
den Körper zurüd und fehleuderte den Pflafterftein mit voller 
Kraft nad Vavert. Der Inſpektor bückt fih. Der Stein ſchlug 
über ihn hinweg gegen die Wand und prallte zurüd. Schon 
hatte Javert die beiden gefaßt. Seine Rechte lag auf der 
Schulter der Frau, die Linfe auf dem Kopf des Mannes. 

„Handfeſſeln!“ 

Einige Sekunden ſpäter war ſein Befehl vollſtreckt. Die 
Thénarbdier ſtarrte wie vernichtet auf ihre und ihres Mannes 
gefeflelte Hände, warf fih zu Boden und jammerte: 

„Meine Töchter!’ 

„Für die babe ich fon geforgt‘‘, beruhigte fie Javert. 


419 


Inzwiſchen hatten die Poliziften den ſchlafenden Befoffenen 
wach befommen. Er erhob fih ſchwerfällig. 

„Iſt alles vorbei, Jondrette?“ 

„Ja“, antwortete Vavert. 

Dann wandte er fi) zu den Banditen; drei hatten gefhwärzte 
Gefichter, drei waren masfiert. 

nDebaltet eure Masken auf’, befahl er. 

Dann fchritt er die Reihe ab, wie Friedrich II. auf einer 
Potsdamer Parade feine Grenabiere. 

„Tag, Bigrenaille“, fagte er. , Tag, Prujon. Tag, Deur- 
Milliarde, Tag auch, Gueulemer, Babet und Claqueſous!“ 

Set bemerkte er den Gefangenen der DBanditen, der feit 
dem Erfcheinen der Poliziften Fein Wort gefprohen und gebüd- 
ten Hauptes dageftanden hatte. 

„Bindet den Herrn los,“ befahl Javert, ‚niemand darf 
hinaus.“ 

Dann ſetzte er ſich an den Tiſch, auf dem Kerze und Schreib— 
zeug noch bereit ſtanden, zog ein Stempelpapier aus der Taſche 
und begann ſein Protokoll aufzuſchreiben. 

Nachdem er einige Zeilen zu Papier gebracht hatte, offenbar 
die einleitenden Formen, blickte er auf. 

„Der Herr, der gebunden war, mag näher treten.“ 

Die Agenten blickten um ſich. 

„Na, vorwärts, wo iſt er denn?“ 

Herr Leblanc oder Urbain Fabre war verſchwunden. 

Man hatte die Türe bewacht, aber nicht das Fenfter. Sobald 
der Gefangene fit von feinen Fefleln befreit gefeben hatte, war 
er, während Javert fchrieb, verfhwunbden. 

Ein Agent lief zum Fenfter und fab hinaus. Nichts war zu 
feben. Die Stridleiter ſchwankte nocb. 

„Verflucht!“ ſchimpfte Javert, ‚und der war fiber der 
Intereſſanteſte!“ 


480 


19. Ein Kleiner, der feinen Vater fudt 


Am nähften Morgen fpazierte ein Eleiner junge, der von 
der Aufterliger Bride zu kommen fchien, den Boulevard de 
l' Hoͤpital hinunter. Er war blaß und mager, und feine Beine 
ftecften troß der Februarfälte in einer dünnen Teinwandhofe. 

An der Ede der Nue du Petit-Banquier wühlte eine ge- 
bücfte Alte in einem Abfollhaufen. Im Vorübergehen rief ihr 
der unge zu: 

„Hola, ich dachte, du wärft ein großer, großer Hund!‘ 

Er fprad das ‚großer‘ aus, daß man meinte, die Ma— 
jusfeln zu hören. 

Wütend drehte fi die Alte um. 

„Verfluchter Lausbub!“ fchimpfte fie, „wenn du in Reich— 
weite wärft — 

„KB! EB! vielleicht Hab’ ich mich nicht getäuſcht!“ 

Wütend wandte fi die Alte wieder ab. Der junge Fab fie 
von der Ferne an. 

„Modame ift nicht mein Typ“, meinte er. 

Er fpazierte weiter bis Mo. 50 bis 52, und als er die Zür 
verfchloffen fand, wartete er. Und ba aud das Warten vergeb- 
lib war, begann er, die Türe mit feinen Füßen zu ftoßen. 

Die Alte von der Ede der Rue du Petit-Banquier Fam 
Ihnaufend näher. 

„Bas gibt’8 denn nur? Großer Gott, fie ftoßen die Türe 
ein!!! 

Piöslih blieb fie ftehen. Sie hatte den Straßenjungen 
erkannt. 

„Ach bu bift es, Eleiner Satan?’ 

„uff, die Alte!” murmelte der unge, „guten Tag, Purgon- 
en. Ich will meine Alten beſuchen.“ 

Die Greifin antwortete mit einer Miene, die leider im Halb- 
dunfel verlorenging. 

„Keiner hier, Frag!" 


31 Hugo, Die Elenden. 481 


„So? Wo ift denn mein Vater?“ 

„Im Kittchen.“ 

„Und Mama?“ 

„Im Loch.“ 

„Und meine Schweſtern?“ 

„Hinter Schloß und Riegel.“ 

Der Junge kratzte ſich hinter dem Ohr, betrachtete Frau 
Burgon aufmerkſam und ſagte endlich: 

Ab?!" 

Dann drehte er fih auf den Serfen um. 


482 





Line Jdplle in der Kue Plumet 
und eine Epopöe in der Kue Saint-Denis 


Erstes Buch 
Zponine 


1. Das Lerchenfeld 


Marius hatte Javert auf die Spur der Verbrecher gebracht; 
und kaum war Javert wieder fort, um ſeine Gefangenen in 
drei Droſchken nach dem Gefängnis zu bringen, da war auch 
Marius fortgelaufen. Es war erſt neun Uhr abends. Er ging 
zu Courfeyrac. 

Der Student war jetzt nicht mehr einer der unbeirrbaren 
Bewohner des Quartier Latin. Er war nach der Rue de la 
Verrerie verzogen, „aus politiſchen Gründen“, wie er ſagte. 
In jener Gegend ließen ſich damals die Revolutionäre gern 
nieder. 

Als Marius Courfeyrac geſagt hatte, daß er bei ihm ſchla— 
fen wolle, zog dieſer eine Matratze aus ſeinem Bett (in dem es 
deren zwei gab), legte ſie auf den Boden und ſagte: 

„Bitte.“ 

Am nächſten Morgen, es war erſt ſieben Uhr früh, begab 
ſich Marius in ſein früheres Quartier, bezahlte die reſtliche 
Miete und alles, was er Frau Burgon ſchuldete, ließ ſeine 
Buücher auf einen Handwagen verladen, fein Bett, ſeinen Tiſch, 
feine Kommode und feine zwei Stühle, und dann entfernte er 
fi, ohne feine neue Adrefle zu binterlaffen; als Javert am 
felben Morgen in das Gorbeaufhe Haus Fam, um Marius nod 
einmal über die Vorgänge von geftern abend zu befragen, be- 
ftellte ibm ,Mame Bougon“: 


ul 483 


„Ausgezogen.“ 

Sie war überzeugt, daß Marius ein wenig der Komplice 
jener Banditen war, die geſtern nacht hier dingfeſt gemacht 
wurden. 

„Wer hätte es für möglich gehalten!“ rief ſie, als ſie wieder 
im Kreiſe ihrer Freundinnen, der Pförtnerinnen jenes Quar- 
tiers war, „ein junger Mann, der zimperlich ausſah wie ein 
Mädel!“ 

Marius hatte zwei Gründe, ſo raſch umzuziehen. Einmal 
fühlte er einen lebhaften Widerwillen gegen dieſes Haus, in 
dem er die Bekanntſchaft einer der häßlichſten Ausgeburten 
unſerer Geſellſchaftsordnung gemacht hatte, des ſchlechten 
Armen, der vielleicht noch widerwärtiger iſt als der ſchlechte 
Reiche. Und dann wollte er auch in dem Prozeß, der jener Ver— 
haftung folgen mußte, nicht als Zeuge gegen Thénarbier auf- 
treten. 

Javert glaubte, der junge Mann, deffen Name er übrigens 
vergeflen hatte, fei furdhtfam geworden und babe fi) aus dem 
Staub gemadht; er risfierte einige Verfuche ihn wiederzufinden, 
erreichte aber nichts. 

So verging ein Monat, dann wieder einer. Marius wohnte 
nod immer bei Eourfeyrac. Don einem Advofaten, der auf dem 
Strafgericht zu tun hatte, hatte er erfahren, daß Thénardier in 
Haft gehalten wurde. Jeden Montag ließ Marius Ihenardier 
durch die Gefängnisfaffe fünf Sranfen übermitteln. 

Und da er anfonften Fein Geld mehr befaß, entlich er biefe 
Fleinen Beträge Eourfeyrac. Das war das erftemal in feinem 
Leben, daß er fih mit Schulden belaftete. Diefe regelmäßigen 
Überweifungen von je fünf Franfen waren ein doppeltes Nät- 
fel — für Courfeyrac, der fie auslegen mußte, und für Thé- 
nardier, der fie empfing. 

Übrigens war Marius wie zerfchmettert. Alles hatte fid 
wieder zum Böſen gewendet. Sein Leben war zurücdgefunfen in 
jenes Dunkel, in dem er taftend weiterfohritt. Er hatte bas 
junge Mädchen, das er liebte, einen Augenblic lang in nächſter 


484 


Nähe gefehen, dann waren die beiden Unbefannten, denen all 
fein Intereſſe gehörte, wieder verfehwunden. Sekt blieben ihm 
nicht einmal mehr Vermutungen offen. Sogar den Damen, 
ben er fon zu Fennen glaubte, wußte er nicht. Gewiß hieß fie 
nicht Urfule. Er hatte fie Lerche nennen hören, aber bas war 
bob offenbar nur ein Spisname. Und was follte er von dem 
Alten denken? Verbarg er fich wirklich vor der Polizei? Test 
fiel ihm der Arbeiter mit den weißen Haaren wieder ein, den 
er damals in der Mähe des Invalidendoms gefehen Hatte. 
Offenbar war er mit Leblanc ibentifh. Alfo verfleidete er ſich? 
Diefer Mann hatte beldifhe und auch befremdende Züge. War- 
um hatte er nicht um Hilfe gerufen? Warum war er geflohen? 
Mar er wirklich der Vater des jungen Mädchens, wirflich der 
Mann, den Thenardier zu erkennen glaubte? Konnte Thénar- 
dier fih täufchen? 

Um Marius’ Unglücf zu vervollftändigen, brad die Mot wie- 
der über ihn herein. Bald fühlte er ihren eifigen Hauch. Im 
Zrubel der Ereigniffe hatte er feine Arbeiten nicht fortgefeßt, 
und doch ift nichts gefährlicher als die Untätigfeit. Man ge- 
wöhnt fich rafd an fie, entwöhnt ſich ſchwer von ihr. 

Im übrigen folgten die Tage einander, ohne daß irgend 
etwas Neues gefhah. Nur fhien es ihm, als ob der Weg, den 
er noch zu gehen hatte, immer Fürzer werde. Schon fab er den 
Abgrund vor fid. 

Ad, dachte er nur, nicht einmal miederfehen darf ich fie 
vorher. 

Wenn man die Rue Saint-Vacques hinauffteigt und dem 
alten inneren Boulevard folgt, erreiht man die Mue de la 
Sante, ftößt bis zur Glacière vor und findet kurz vor dem 
Ufer der Gobelins eine freie Fläche, im Umfreis der Parifer 
Boulevards den einzigen Platz, auf dem ein Ruysdael gerne 
feinen Klappftuhl aufgefchlagen hätte. 

Sch weiß nicht, worauf die Anmut diefes Stüdchen Landes 
beruht; es ift eine grüne Wieſe, auf der MWäfcheleinen aus- 
gefpannt find. Eine alte Meierei aus der Zeit Ludwig XIII. 


485 


mit einem hohen Manſardendach fteht dort; zwiſchen Pappeln 
gibt e8 einen Fleinen ei. Am Horizont bas Pantheon, das 
Zaubftummeninftitut, Val-de-Gräce, und im äußerften NHinter- 
grund die vierecdigen Türme von Motre Dame. 

Da diefer Ort wert ift, daß man ibn anfieht, kommt Fein 
Menſch bin. Kaum daß alle DViertelftunden einmal ein Laft- 
wagen vorüberrollt. 

Eines Tages gelangte Marius auf einem einfamen Spasier- 
gange dahin. Der Meiz diefer faft mweltverlaffenen Gegend be- 
rührte ihn, und fo benüßte er die Gelegenheit, als zufällig ein 
Paffant vorüberfam, und fragte ihn: 

„te heißt diefe Gegend hier?’ 

„zerchenfeld. Hier hat Ulbad die Schäferin von Jory er- 
mordet.“ 

Aber nach dem Wort Lerchenfeld hatte Marius nicht weiter 
zugehört. Der Geiſt eines Träumers iſt gewiſſer Erſtarrungen 
fähig, die oft ein einziges Wort auszulöſen vermag. Alle ſeine 
Gedanken klammerten ſich an eine einzige Idee: Lerche. Dieſes 
Wort batte in der Tiefe ſeiner Melancholie den Namen Ur— 
ſule erſetzt. 

Hier werde ich erfahren, wo ſie ſich aufhält, dachte er. 

Dieſe Idee war verrückt, aber zwingend. 

Und von jetzt an kam er täglich nach dem Lerchenfeld. 


2. Beſchäftigung der Sträflinge 


Der Triumph, den Javert im Gorbeauſchen Hauſe errungen 
hatte, ſchien vollſtändig, aber er war es nicht. 

Zunächſt einmal batte die Polizei den „Gefangenen“ nicht in 
ihre Hände bekommen, und das ärgerte Javert am meiſten. 
Einer, der ermordet werden ſoll und vor der Polizei davonläuft, 
iſt verdächtiger als der Mörder, der bleibt; gewiß wäre dieſer 
Flüchtling ein nicht minder guter Fang geweſen als die ganze 
Zruppe der DBanditen, deren man fi) bemädhtigt hatte. 

Des weiteren war Montparnaffe entffommen. Man mußte 


486 








eine Fünftige Gelegenheit abwarten, ihn zu greifen. Er hatte fic 
damals bei Eponine, die unter den Bäumen des DBoulevards 
Schmiere ftand, aufgehalten und hatte fie [hließlich fortgeführt, 
da er lieber den Don Yuan als den Schinderhannes fpielen 
wollte. So war er entfommen. Yavert hatte zwar Eponine 
fpäter erwifcht, aber bas war ein recht mittelmäßiger Troſt. 
Sie wurde zu Azelma in das Frauengefängnis gebradt. 

Endlich war auf dem Transport einer der wichtigften Häft— 
linge, Claquefous, verfhwunden. Man wußte nicht recht, wie 
es zugegangen war. Die Agenten und Poliziften „begriffen es 
jelbft nicht”. Er Hatte fid in Dampf aufgelöft, ſich durd die 
Senfter des Wagens verflüchtigt; feft fand nur, daß er, als die 
Wagen vor dem Gefängnistor hielten, nicht mehr da war. Das 
Ganze fhmedte nach Zauber oder Polizei. War Claquefous 
buchſtäblich verfhwunden? Oder ftand er in einem geheimen 
 Einverftändnis mit den Agenten? War diefer fonderbare Menſch 
zugleich ein Geheimnis der Ordnung und der Unordnung? Hatte 
diefe Sphinr ihre Hände ſowohl in den Intrigen der Ver— 

brecher, wie in den Machenfhaften der Behörde? Javert lie 
ſich nie auf folbe Dinge ein, ihm war jedes Kompromiß un- 
möglich. Aber unter den Leuten, die er befehligte, befanden fic 
| au einige Ynfpeftoren, die, mochten fie aud feine Untergebenen 
fein, vielleicht tiefer in die Geheimniffe der Präfektur einge- 
drungen waren als er; und biefer Claquefous war ein folder 
Schuft, daß er immerhin einen guten Spitel abgeben Fonnte. 
Mie dem aud fei, der Mann war nicht mehr aufzufinden. 
Javert war darüber weniger empört als verwundert. 
Was Marius betraf, diefen Laffen von Advofat, der wahr- 
: fheintih Angft gekriegt hatte und deflen Name Sjavert nicht 
: mehr erinnerlid war, fo intereffierte er die Polizei wenig. Auch 
fann ein Advofat ja nicht fpurlos verfehwinden — voraus- 
gefeßt, daß jener Menſch wirkflic einer war. 

So begann die Unterfuhung. 

Der Unterfuhungsrichter hatte e8 zweckmäßig befunden, einen 
der Leute der Bande Patron-Minette nicht in die Einzelzelle 


487 


bringen zu laffen, wohl in der Hoffnung, daß er etwas ausplau- 
dern würde. Diefe Wahl fiel auf DBrujon, den MWufchelkopf 
aus der Rue du Petit-DBanquier. Man hatte ihn in den Hof 
Charlemagne gebracht, ließ ibn aber nicht aus den Augen. Er 
war ein junger, febr gefhidter Kerl, der gerne eine jämmerliche 
und alberne Miene auffebte. Diefer Trick hatte auch den Unter- 
ſuchungsrichter getäufcht, der ihn darum vor der Einzelzelle be- 
wabrte. 

Die berufsmäßigen Verbrecher ftellen ihre Tätigkeit au 
nicht ein, wenn fie fih in den Händen der Vuftis befinden. Eine 
ſolche Kleinigkeit ftört fie nicht. Wegen eines Dinge zu fißen, 
hindert feinen, ein anderes zu drehen. Sie gleichen darin den 
Malern, die auch ruhig weitermalen, wenn auch ein Gemälde 
von ihnen in einem „Salon“ ausgeftellt wird. 

Brujon fhien die Haft ſchlecht zu ertragen. Oft ftand er 
ftundenlang im Hofe Charlemagne an der Lufe der Kantine und 
ftarrte idiotifch auf die Preistafel, die mit „Knoblauch . . . 
zweiundſechzig Centimes“ begann und mit „Zigarren. . . fünf 
Centimes“ endete. Oder er verbrachte feine Zeit damit, zu zit- 
tern oder mit den Zähnen zu EFlappern, über Fieber zu Elagen 
und fi zu erkundigen, ob nicht eines der achtundzwanzig Betten 
des Rranfenfaals frei wäre. 

Plötzlich wurde bekannt — bas war in der zweiten Hälfte 
des Monats Februar 1832 — , daß diefer verfehlagene Srujon 
unter dem Damen von drei Kameraden Dienftmänner nad 
verfchiedenen Stadtgemeinden entfandt hatte; er hatte fi 
diefen Lurus fünfzig Sous Eoften laffen, und diefer Umftand 
machte den Oberauffeber neugierig. 

Man erfundigte fih und erfuhr, daß die fünfzig Sous fol- 
gendermaßen verausgabt waren; zehn für einen Gang nad) dem 
Pantheon, fünfzehn für einen nad dem Dal-de-Gräce, fünf- 
undzwanzig fchließlih für einen nad dem Tor von Grenelle. 
Nun befanden fih an diefen drei Orten die MWohnfiße von drei 
berüchtigten Banditen, Rruideniers, genannt Bizarro, Glorieur 
und Barre⸗-Carroſſe. Man Fam auf den Gedanken, diefe Leute 


488 


fônnten mit der Bande Patron-Minette in Verbindung fteben, 
von der man ja zwei Führer, Babet und Gueulemer, hinter 
Schloß und Riegel hatte. Offenbar hatte Brujon ihnen Tipps 
für irgendwelche neue Verbrechen gegeben. Die drei wurden 
verhaftet, und man glaubte irgendeinen Plan Brujons vereitelt 
zu haben. 

Eine Woche fpäter traf es fi, daß ein Wärter, der gerade 
nachts die Munde machte, Brujon in feinem Dette fisend und 
fchreibend fand. Brujon fam auf einen Monat in die Einzel- 
selle, aber dag Gefchriebene war nicht zu finden. Die Polizei 
war fo Flug wie zuvor. 

Seftfteht aber, daß am nächſten Tage ein Kaſſiber aus dem 
Hof Charlemagne in die „Löwengrube“, einen anderen Hof des 
gleihen Gefängniffes flog, über ein fünf Stof hohes Ge- 
bäude hinweg. 

Diefer Kafliber gelangte an feine Adreffe, obwohl der Mann, 
an ben er gerichtet war, fich augenblidlid in Einzelhaft befand. 
Und das war niemand anderer als Babet, einer der vier Führer 
der Bande Patron-Minette. 

Der Kafliber lautete: 

„Babet, in der Rue Plumet ift etwas zu drehen. Ein Garten 
und ein Gitter.‘ 

Das war der Zettel, den Brujon damals in der Naht ge- 
ſchrieben hatte. 

Trotz aller fharfen Beobachtung fand Babet ein Mittel, 
biefes Schreiben nad der Salpetriere gelangen zu laflen, an 
eine gute Freundin, die gerade dort Iogierte. Die übergab es 
einer anderen Bekannten, einer gewiffen Magnon, die fhon 
lange die Aufmerffamfeit der Polizei erregt hatte, aber noch 
nicht verhaftet worden war. Magnon ftand mit den Ihenardiers 
in intimer Berbindung, und wir werden darüber bei paflender 
Gelegenheit noch zu fprechen haben; fie ging zu Eponine, die 
jeßt zwifchen dem Frauengefängnis und der GSalpetriere die 
Verbindung bilden Éonnte, denn man hatte die beiden Töchter 
Thenardiers in Ermangelung von gegen fie zeugenden Iatfachen 


489 


auf freien Fuß gefeßt. Als Eponine das Unterfuhungsgefängnis 
verließ, wartete Magnon ſchon an der Türe und überbradhte ihr 
Brujons Schreiben an Babet mit dem Auftrag, die Sache aus- 
zubaldowern. 

Eponine ging fofort nah der Rue Plumet, erfannte den 
Garten und das Gitter, beobachtete bas Haus einige Tage lang 
und brachte fchließlih Magnon einen Zwiebad, den die Freun- 
din Babets in die Salpetriere einfhmuggelte. Ein Zwiebad 
bedeutet in der fumbolifchen Sprache der Gauner: 

„Nichts zu machen.‘ 

Eine Woche fpäter begegneten Babet und Brujon einander 
auf einem Transport im Korridor des Unterfuhungsgefäng- 
niffes; der eine Fam vom Unterfuchungsrichter, der andere wurde 
gerade bingeführt. 

„Na?“ fragte Brujon, „Rue P.?“ 

„Zwieback“, erwiderte Dabet. 


3. Marius bat eine Begegnung 


Eines Morgens, es war an einem Montag, und Marius 
hatte eben von Courfenrac für Thenardier die wöchentlichen 
fünf Sranfen entliehen, ftedte der junge Mann die Münze in 
feine Zafche und befchloß, bevor er zum Gefängnistor ging, ein 
wenig zu luftwandeln. Er hoffte, er werde dann beffer arbeiten 
fonnen. 

So war es nun fon feit langem. Er ftand früh auf, feßte 
fit an feinen Arbeitstifh und begann mit feiner Überfeßung. 
Damals arbeitete er an einer Übertragung eines berühmten 
Mechtsftreits zwifchen zwei deutfhen Gelehrten, Gans und 
Savigny; er nahm zuerft den Gans vor, las vier Seiten, ver- 
fuchte etwas zu Papier zu bringen, hatte aber zwifchen der 
weißen Schreibflähe und feinen Augen ein ftörendes Flimmern; 
verärgert ftand er auf und fagte: 

„Ich gehe aus. Vielleicht komme ich dann in Zug.” 


490 


Dann fpazierte er nah dem Lerchenfeld. 

Aber noch immer fab er den Stern vor fi), dachte au Feine 
einzige Sefunde lang an Savigny und Gans. 

Wohl ging er wieder nach Haufe, verfuchte fi) auf die Arbeit 
zu ftürzen, aber er Fam nicht weiter. Es war fier unmöglich, 
die zerriflenen Fäden in feinem Gehirn wieder zu verknüpfen. 
Dann dachte er wohl: morgen geh’ ich aber nicht aus, bas bin- 
dert mich nur an der Arbeit. 

Und er ging alle Tage aus. 

Bald wohnte er mehr auf dem Lerchenfeld als in Courfey- 
racs Bude. 

An diefem Tag batte er am Ufer der Gobelins Platz ge- 
nommen. Eine beitere Morgenfonne fhimmerte durd das frifche 
Laub der Bäume. 

Piôblidh hörte er mitten in feiner Miedergefchlagenheit eine 
befannte Stimme, die fagte: 

„Hola, da ift er ja!“ 

Er blickte auf und erfannte bas unglüdlibe Mädchen, bas 
einmal zu ibm gefommen war, die ältere von den beiden Töch— 
fern Thénardiers, Eponine. Jetzt wußte er fogar, wie fie hieß. 
Seltfam, fie fab jeßt noch dürftiger, aber ſchöner aus als einft. 
Sie hatte nach zwei verfhiedenen Richtungen Fortfchritte ge- 
mat. Einerfeits war fie barfuß und in elende Lumpen gehüllt, 
oder ihre Lumpen waren wenigftens um einige Monate älter 
geworden: die Riſſe verbreitert, der Schmuß undurddringlider. 
Die Stimme war no immer heifer, die Stirn gefurdt, der 
Blick unftet und fre. Aber es war irgend etwas Seflagens- 
wertes, Verſchüchtertes dazugekommen. Die Unterfuhungshaft 
hatte ihre Züge verändert. 

Sie hatte einige Strohhalme in den Haaren, nicht wie 
Oypbelia, die von Hamlets Wahnfinn angeftecft worden war, 
fondern weil fie die Nacht in einer Scheune zugebradt hatte. 

Und doc fab fie hübſch aus. O meld ein Stern bift du, 
Jugend! 


491 


est blieb fie vor Marius ftehen und ihr bleibes Gefibt 
zeigte einen Schimmer von Freude, etwas wie ein Lächeln. Erft 
nad) einigen Sekunden Éonnte fie fprechen. 

„Mio babe ich Sie doch gefunden! Ich war bei Vater Ma- 
beuf, um nad Ihnen zu fragen. Er hatte recht, als er fagte, 
ih würde Sie hier finden. Wie ih Sie gefuht babe! Wenn 
Sie wüßten.. . .! Ich war aud im Gefängnis. Vierzehn Tage! 
Dann haben fie mich laufen laffen. Erftens fonnten fie gegen 
mich nichts fagen, und dann bin ich noch zu jung. Erft in zwei 
Monaten erreiche id das nötige Alter. Ob, wie ih Sie gefucht 
habe! Sechs Wochen lang. Wohnen Sie denn nicht mehr dort?” 

„Nein.“ 

„Ach, ich verſtehe. Wegen der Sache damals. Solche Ge— 
ſchichten ſind ekelhaft. Da ſind Sie alſo ausgezogen. Aber 
warum tragen Sie nur einen ſolchen alten Hut? Ein junger 
Menſch wie Sie ſoll hübſche Kleider haben. Wiſſen Sie das, 
Herr Marius? Der Vater Mabeuf nennt Sie ſogar Baron... 
weiter weiß ih nichts. Sind Sie wirflihb Baron? Barone find 
doc immer alte Männer, die in dem Lurembourg-Garten geben, 
dorthin, wo die Sonne am beften hintrifft, und die Quotidienne 
lefen. Sch war einmal mit einem Brief bei einem folden 
Baron. Der war feine hundert Vabre alt. Sagen Sie, wo 
wohnen Sie jeßt?” 

Marius antwortete nicht. 

„Oh, Sie haben ein Loch im Hemd!’ fuhr fie fort. „Ich muß 
es Ihnen wohl flicken.“ 

Jetzt wurde ihr Geſicht traurig. 

„Sie ſcheinen ſich gar nicht zu freuen, daß Sie mich wieder— 
ſehen.“ | 

Marius fhwieg. Auch fie brachte einen Augenblick lang Fein 
Wort über die Lippen. 

„Und doch, wenn ich wollte, könnte ich Sie zwingen fih zu 
freuen.’ 

„Wieſo denn? Was meinen Sie damit?’ 

„Ah, früher fagten Sie du zu mir.” 


492 








„Sun, was meinft du damit?’ 

Sie biß fi) auf die Lippen und fehien zu zögern; vielleicht 
war fie die Beute eines erbitterten Kampfes in ihrem Innern. 
Endlich fhien fie zu einem Entfehluß gefommen zu fein. 

„Schade, aber was fann man tun? Sie feben fo fraurig 
aus, id möchte Sie lieber Iuftig feben. Aber Sie miffen mir 
auch verfpreen, daß Sie lachen werden. ch will beftimmt 
wiflen, daß Sie lachen und fagen: Bravo, das ift gut! Armer 
Herr Marius, erinnern Sie fi no, daß Sie mir verfprodhen 
haben, Sie wollten mir geben, was ich verlange . . .‘ 

„Gut, ſag' fon, was du weißt.‘ 

Sie fah auf das Weiße feiner Augen. 

„Ich weiß die Adreſſe.“ 

Marius erbloßte. AU fein Blut ftrömte zum Herzen. 

„Welche Adreſſe?“ 

„Die Adreſſe, die Sie verlangt haben, die Adreſſe des 
Fräuleins.“ 

Jetzt ſeufzte ſie tief auf. 

Marius ſprang auf und griff nach ihrer Hand. 

„Oh“, rief er, „führ' mich hin! Verlang', was du willſt. 
Wo iſt ſie?“ 

„Kommen Sie mit mir. Ich weiß nicht, wie die Straße 
heißt und weiß die Nummer nicht, es ift recht weit von bier, 
aber das Haug Fenne id und ich werde Sie hinführen.‘ 

Sie 309 ihre Hand zurück und ſagte mit einem Fläglichen 
Ton, der jeden anderen, minder begeifterten Beobachter zu 
Zränen gerührt hätte: 

„Ad, wie Sie fi freuen!” 

Marius’ Stirn bewölfte fih. Lebhaft ergriff er Epo— 
nines Arm. 

„Du mußt mir befchwören, daß ...“ 

„Schwören? Was denn?‘ 

„Schwören, Eponine, daß du biefe Adrefle nicht deinem 
Vater ſagſt.“ 


493 


Vermunbert blidte fie auf. 

„Woher wiflen Sie, daß ih Eponine heiße?” 

„Verſprich mir erft, was ich verlangt habe.’ 

Sie fhien nicht mehr zu hören. 

„Das ift lieb, daß Sie mich Eponine genannt haben.‘ 

Marius nahm fie bei den Armen und fhüttelte fie. 

„Sp antworte bo um Himmels willen! Höre doch, was ich 
fage! Schwöre, daß du diefe Adreſſe nicht deinem Vater ſagſt!“ 

„Meinem Vater? Ach, da feien Sie unbeforgt. Der fist in 
der Dunfelzelle. Übrigens, was kümmere id mid um meinen 
Vater?“ 

„Das ſind alles noch keine Verſprechungen!“ 

„Aber laſſen Sie mich doch aus! Wie Sie mich ſchütteln! 
Doch, ich verſprech' es Ihnen ja! Ich ſchwöre es ſogar, was 
liegt mir daran? Ich werde die Adreſſe meinem Vater nicht 
ſagen. Iſt es jetzt gut?“ 

„Und ſonſt auch niemand?“ 

„Auch ſonſt niemand.“ 

„Gut, dann führe mich!“ rief Marius. 

„Kommen Sie. Oh, wie er glücklich iſt“, murmelte ſie. 

Nach einigen Schritten aber blieb ſie ſtehen. 

„Sie können nicht fo nabe hinter mir herlaufen, Herr 
Marius. Folgen Sie mir, ohne daß man es merkt. Sie dürfen 
nicht mit einer wie ich geſehen werden.“ 

Wieder nach zehn Schritten blieb ſie neuerlich ſtehen. Marius 
holte ſie ein. 

„Wiſſen Sie auch, daß Sie mir etwas verſprochen haben?“ 

Marius griff in die Taſche. Er beſaß auf der Welt nur dieſe 
fünf Franken, die er Vater Ihenardier zugedacht hatte. Jetzt 
nahm er ſie und drückte ſie Eponine in die Hand. 

Sie aber ſpreizte die Finger und ließ die Münze zu Boden 
fallen. Dann ſagte ſie mißmutig: 

„Ich will Ihr Geld nicht.“ 


494 





ZweitesBuch 
Das Haus in der Rue Plumet 


1. Das geheimnisvolle Haus 


Um die Mitte des vorigen Sahrhunderts hatte ein Parifer 
Gerichtspräfident fih insgeheim eine Geliebte gehalten, ins- 
geheim, weil jene Zeit es fo wollte, daß die großen Herren ihre 
Mätreſſen zeigten, die Bürger aber die ihren verftecften. Darum 
hatte er im Saubourg Saint-Germain, in der verlaffenen Rue 
de Blomet, die jetzt Rue Plumet heißt, ein Éleines Haus er- 
bauen laffen. 

Es beftand aus einem einftödigen Pavillon, der im Erd» 
geſchoß zwei Zimmer, im erften Stod zwei Kammern, unten 
eine Küche, oben ein Boudoir enthielt; vor dem Gebäude lag 
ein Garten, der gegen die Straße zu vergittert war und un- 
gefähr einen Morgen maß. Mehr befamen die Paflanten der 
Straße nit zu feben. Hinter dem Pavillon aber lag ein 
ihmaler Hof, und auf der anderen Seite des Hofes ein Fleiner, 
niedriger Bau, der insgefamt zwei Räume enthielt, vielleicht 
urfprünglich dazu beftimmt, im Motfoll ein Kind und eine 
Amme zu beherbergen. Diefer Bau ftand burd eine Hintertür, 
die masfiert war, mit einem langen, fhmalen Gang in Ber- 
bindung, der zwifchen zwei hohen Mauern verlief. Er war mit 
großer Vorſicht verfteckt zwifchen den Gärten und Feldern, bie 
angrenzten, und mündete gleichermweife in einer verftedten Tür, 
die, etwa eine DViertelmeile von dem Hauptgebäude entfernt, in 
einem anderen Stadtteil, an einer ruhigen Stelle der Rue de 
Babylone lag. 

Sm Oftober 1829 hatte ein alter Herr diefes Haus, wie es 
lag und ftand, gemietet, gufammen mit dem Hintergebäude und 
dem Gang nad der Rue de Babylone. Er ließ die Geheimtüren 
an beiden Enden des Ganges erneuern, ließ auch an dem Haufe, 
bas noch von früher her einige Möbel aufwies, allerlei Aus- 


495 


befferungen vornehmen, erneuerte das Pflafter des Hofes und 
die Fenfterfcheiben. Dann zog er mit einem jungen Mädchen und 
einer bejahrten Dienerin in aller Stille ein. Nachbarn Eonnten 
ſich darüber nit unterhalten, weil es Feine gab. 




















Diefer Mieter, der fo wenig Auffehen zu erregen wünfchte, 
war Sean Daljean, das junge Mädchen Eofette. Die alte Die- 
nerin hieß Zoufleint und Sean DBaljean hatte fie vor dem 
Spital und bem Elend bewahrt. Sie war alt, ftammte aus der 
Provinz und ftotterte. Diefe drei Vorzüge hatten Jean Valjean 


496 


veranlaßt, fi) ihre Dienfte zu fihern. Den Mietvertrag hatte 
er Fauchelevent, Mentner, unterzeichnet. 

MWarım hatte Sean Baljean dag Klofter Petit-Piscpus ver- 
lafien? Was war vorgefallen? 

Nichte. 

Der Lefer erinnert fi vielleicht, daB Sean Daljean im 
Klofter glücklich war, fo glücklich, daß er fib ſchließlich Ge- 
wiffensbiffe machte. Er fab Coſette täglich, fühlte, wie feine 
väterliche Liebe zu ihr fi immer mehr entfaltete, fagte fi, daß 
fie ibm ganz gehöre und daß niemand fie ihn mehr entreißen 
fünne. Gewiß würde fie Nonne werden, und da das Klofter 
jet für fie wie für ihn die Melt bedeutete, würde er hier all- 
mählich altern, während fie heranwuchs. Die Hoffnung, fi nie 
mehr von ihr zu Trennen, entzückte ihn. 

Und doch, wenn er darüber nacbacte, verfiel er in Unficher- 
heit. Er prüfte fein Gewiffen, fragte fi), ob diefes Glück ihm 
auch anftehe, ob es fich nicht auf Koften des Glücks eines andern, 
jenes Kindes nämlich, erft vollends entfalte; ob nicht er, der 
Greis, diefes Kind des Glücks beraube. Und war bas nit ein 
Diebſtahl? Diefes Kind, begriff er, Hatte ein Recht darauf, 
die Welt Éennensulernen, bevor es ihr enffagte; man durfte ihm 
nicht alle Freuden rauben unter dem Vorwand, daB man ihm 
alle Prüfungen erfparen wolle, durfte die Unwiflenheit diefes 
Mädchens nicht mißbrauden, um es glauben zu machen, es fei 
zum Klofterleben berufen; bas hieße ein Geſchöpf Gottes ver- 
gewaltigen und Gott betrüben. 

Mer weiß, vielleicht würde Cofette eines Tages eine fehlechte 
Tonne, und dann mußte fie ihn baffen! Diefer letzte Gedanfe 
war faft egoiftifh und weniger beroifh als die andern, für 
Valjean aber war er geradezu unerträglich. 

Er beſchloß, bas Klofter zu verlaffen. 

Mas Cofettes Erziehung betrifft, fo war fie faft abgefchloffen. 

Sobald Jean DBaljean fi alfo zu einem Entfehluß durch— 
gerungen hatte, wartete er nur mehr auf eine Gelegenheit. Sie 
ergab fi, als der alte Fauchelevent ftarb. 


32 Hugo, Die Elenden. 497 


est erbat Sean Baljean eine Audienz bei der Priorin und 
fagte ihr, fein Bruder babe ihm ein Éleines Erbe binterlaffen, 
das ihn immerhin inftand febe, in Sinfunft ohne Arbeit zu 
leben; darum fcheide er aus dem Dienft des Klofters aus und 

















nehme auch Cofette mit. Es fei aber billig, daß Cofette, wenn 
fie Fein Gelübde ablege, auch nicht Éoftenlos erzogen werde, und 
darum bitte er die ehrwürdige Priorin demütig, fie möge im 
Namen der Kloftergemeinfhaft ein Gefchenf von fünftaufend 
Sranfen annehmen, das als Entfhädigung für die fünf Jahre 


498 


gelten mochten, die Coſette hier zugebracht. So verließ Sean 
Valjean das Klofter der Emigen Anbetung. 

Als er fortging, trug er einen Eleinen Koffer, den er feinem 
Dienftmann anvertrauen wollte und deffen Schlüflel er immer 
bei fit trug. Cofette mußte darüber lachen und fagte flieBlid 
fogar, fie fei auf den Koffer eiferfüchtig. 

Sean Daljean entdedte das Haus in der Nue Plumet und 
ließ fih dort nieder. Sekt war er ja im rechtmäßigen Beſitz des 
Mamens Ultime Fauchelevent. 

Gleichzeitig mietete er noch zwei andere Wohnungen in 
Paris, um nicht, wenn er in einem Stadtviertel bliebe, die Auf- 
merffamfeit eines Beobachters zu erregen. Er erreichte dadurd, 
daß er in folen Fällen wie jenen, da Javert ihn beinahe fhon 
gefaßt hatte, unauffällig verfchwinden Fonnte. Eine diefer Woh— 
nungen lag in der Mue de l'Oueft, die andere in der Rue de 
’Homme-Arme. 


2. Sean Valjean als Nationalgardift 


Hauptfählih aber wohnte er in der Rue Plumet, und dort 
hatte er fein Leben folgendermaßen eingerichtet. 

Eofette bewohnte mit der Dienerin den Pavillon. Sie hatte 
das große Schlafzimmer, ein Boudoir und den ehemaligen 
Salon des Gerichtspräfidenten. Auch der Garten ftand zu ihrer 
Verfügung. Sean Valjean hatte für ihr Schlafzimmer ein 
Himmelbert mit Behängen aus altem, dreifarbigem Damaft 
und einen fehönen Perferteppich gekauft, überdies, um den 
firengen Eindrudf zu mildern, den biefe altertümlichen Prunf- 
ftücfe machen Fonnten, allerlei beitere Dinge angefchafft, wie fie 
einem jungen Mädchen Freude machen mögen, eine Etagère, 
eine Bibliothef mit ſchönen Goldſchnittbänden, einen perlmutter- 
eingelegten Tiſch, Schreibzeug, eine Zoilettegarnitur aus japa- 
nifem Porzellan. Die Fenfter in der erften Etage waren mit 
Damaftvorhängen geſchmückt, die auf rotem Grunde in den drei 
Sarben der Bettbehänge befticft waren. Die Vorhänge im Erbd- 


a 499 


geſchoß waren aus bedrudtem Stoff. Das fleine Haus Cofettes 
war den ganzen Winter über von oben bis unten geheizt. 

Er felbft bewohnte den einfachen Bau auf der anderen Seite 
des Hofes, der eher einer Pförtnerloge glich; feine Matratze 
lag auf einem Gurtbett, er hatte einen Tifd aus weißem Holz, 
zwei Strohftühle, einen Waſſerkrug aus Ton, einige Bücher 
auf einem Brett und feinen Koffer, von dem er ſich nie trennte; 
geheizt wurde in diefem Raum niemals. Zu effen pflegte er bei 
Cofette, und er befahl, daß für ihn immer ein Stüf Brot 
bereitlag. Zu Touffaint hatte er, als fie ihren Dienft antrat, 
gejagt: 

„Das Fräulein ift die Herrin des Hauſes.“ 

„Und Sie?" fragte verblüfft Touffaint. 

„Ich bin mehr als der Hausherr, ich bin der Vater.” 

Cofette hatte im Klofter Haushaltungsfunde gelernt und 
leitete die Wirtſchaft, die im übrigen fehr befcheiden geführt 
wurde. Täglich führte Sean Valjean Coſette fpazieren, in den 
Lurembourg-Garten; er bevorzugte die Allee, die am wenigften 
aufgefuht wurde; Sonntags führte er fie zur Mefle, nad 
Gaint-Vacques du Haut-Pag, weil diefe Kirche febr weit von 
ihrer Wohnung entfernt war. Die Gegend, in der Saint- 
Jacques Tiegt, ift fehr ärmlich, und fo hatte er häufig Gelegen- 
heit, Almofen zu verteilen. Wenn er zur Kirche Fam, um- 
drängten ihn die Armen, und fo war er zu dem Titel gefommen, 
den auch IThenardier ihm in feinem Schreiben zubilligte: der 
wohltätige Herr aus der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas. 

Auch befuchte er mit Eofette Motleidende oder Kranfe. Doc 
durfte fein Fremder bas Haus in der Rue Plumet betreten. 
Zouffaint hatte für Lebensmittel zu forgen, und Jean Valjean 
felbft holte das Wafler von einem Brunnen auf dem Boule— 
vard. Hol und Wein wurden in einem SHalbfeller unter- 
gebracht, der an dem Tor zur Rue de Babylone lag und früher 
jenem Präfidenten als Grotte gedient hatte; darum war er aud 
nod mit Mufcheln ausgelegt. Es gab einmal eine Zeit, wo die 
Mode für Verliebte Grotten vorfohrieb. 


>00 











An der Tür zur Rue de Babylone gab es auch einen Brief- 
faften für Briefe und Zeitungen; da aber die drei Bewohner 
des Pavillons in der Rue Plumet nichts dergleichen empfingen, 
diente er, der früher Billetdour und Liebesbotfchaften vermittelt 
hatte, jeßt nur mehr für Steuerzeftel und Mitteilungen der 
Mationalgarde. Denn Herr Fauchelevent, Nentier, gehörte der 
Mationalgarde an. Der Zenfus von 1831 war fo ftreng ge- 
wefen, daß ibm nicht einmal die Bewohner eines Nonnen— 
flofters entgehen Fonnten; überdies war ein Mann, der auf 
dem unzugänglichen und heiligen Terrain von Petit-Picpus ge- 
duldet war, in den Augen des Magiftrats fo achtenswert, daß 
man ibn auch des Dienftes auf der Stadtwache würdigte. 

Drei- oder viermal jährlich 309 jean Valjean feine Uniform 
an und fat Dienft. Übrigens folgte er diefen Stellungsbefehlen 
gern, denn biefe Verkleidung — die einzige gefehmäßige — 
ftellte ibn mit feiner Mitwelt auf gleichen Fuß und geftattete 
ihm doch, der Einzelgänger zu bleiben, der er war. Sean Val- 
jean hatte bereits bas Alter von fechzig Jahren erreicht und war 
nicht mehr dienftpflichtig, aber er fab nicht älter aus als fünfzig 
und hatte Feine Luft, feinem Kompaniechef zu entlaufen und den 
Grafen von Lobau zu ärgern. Er gehörte feinem Stande an, ver- 
leugnete feinen Namen, feine dentität, fein Alter — alles. 
Darum war er gerne Nationalgardift. Dem erftbeften zu gleichen, 
der brav feine Steuern zahlte, war fein höchfter Ehrgeiz. Sein 
moralifches deal war der Engel, fein weltlihes der Bürger. 

Doch müffen wir einen Umftand erwähnen: wenn Sean Val- 
jean mit Cofette ausging, Fleidete er fid wie ein ehemaliger 
Dffizier. Zeigte er fih aber allein auf der Straße, was meiftens 
nur des Abends gefbab, fo trug er Arbeitertraht und eine 
Mütze, deren Schild bas halbe Geficht verdedte. War das Vor— 
fiht oder Befcheidenheit? Beides zugleich. Coſette hatte fi 
längft an die Abfonderlichkeit ihres Schickſals gewöhnt und 
achtete der eigenartigen Gewohnheiten ihres Vaters nicht. Und 
was Zouffaint betraf, fo verehrte fie Jean Daljean und hielt 
alles für gut, was er fat. 


501 


Weder Jean Valjean, noch Eofette, noch Touffaint benüßten 
jemals die Tür nad) der Rue de Babylone. Wer die Bewohner 
des Haufes nicht burd bas Gitter beobachtete, hätte kaum er- 
raten können, daß jemand hier wohne. Das Tor blieb immer 
verfloffen. jean Daljean hatte fogar den Garten ungepflegt 
gelaffen, damit er nicht die Aufmerkſamkeit der Paſſanten 
errege. 


3. Die Nofe merkt, daß fie bewaffnet ift 


Eines Tages fab Coſette zufällig in den Spiegel und 
ſagte fi: 

„Sieb dal‘ 

Ihr fien, fie wäre eigentlich ganz hübſch. Das feste fie in 
merfwürdige Derlegenheit. Bis zu diefem Augenblick hatte fie 
nie über ihr Gefiht nachgedacht. Sie fab wohl in den Spiegel, 
aber fie beobadıtete nicht. Auch hatte man ihr fo oft gefagt, daß 
fie häßlih war. Und wenn Sean Valjean auch fanft eingewandt 
hatte: Aber nein, nicht doch, fo hatte fie kaum darauf geachtet. 
Sie war berangemadfen in dem Gedanfen, daß ſie häßlich fei, 
und hatte fi) darein gefunden mit der rafhen Nefignation des 
Kindes. Gebt hatte der Spiegel ihr basfelbe gejagt wie Sean 
Valjean. Sie fchlief nit in diefer Nacht. 

Menn ich hübſch wäre, dachte fie, wäre das nicht komiſch? 

Und fie erinnerte fih ihrer Schulfameradinnen, deren Schön- 
heit im Klofter beachtet worden war, und dachte: Ob, ich follte 
fein wie diefe? 

Am nädhften Tag fab fie zufällig wieder in den Spiegel und 
begann zu zweifeln. Ich war wohl nicht ganz bei Troft, dadıte 
fie. Sch bin doch häßlich. Aber fie hatte nur fchledht gefhlafen 
und fab darum blaß und müde aus. Der Gedanfe, daß fie ſchön 
fei, hatte fie nicht fo gefreut, daß fie jet, als fie fi eines Beſ— 
feren belehrt glaubte, traurig geworden wäre. Aber fie fab nicht 
mehr in den Spiegel und kämmte fib vierzehn Tage lang, ohne 
hineinzufehen. 


502 











Abends nah dem Effen pflegte fie im Salon zu fihen und 
fih mit einer Handarbeit zu befhäftigen; Sean Baljean hielt 
fi) in ihrer Mähe und las. Einmal blidte fie von der Arbeit 
auf und war beunruhigt, als fie gewahrte, wie forgenvoll ihr 
Vater fie betrachtete. 

Ein andermal glaubte fie auf der Straße jemand hinter ihr 
jagen zu hören: 

„Hübſches Mädchen! Aber Schlecht angezogen.‘ 

Ad, der meint mich nicht, dachte fie. Sch bin häßlich, aber 
gut angezogen. Damals trug fie den Plüfhhut und bas 
Merinokleid. 

Eines Tages endlih war fie im Garten und hörte, wie Die 
arme alte Touflfaint zu Sean Valjean fagte: „Haben Sie denn 
nicht bemerft, Herr, wie bübfh bas Fräulein wird?‘ Cofette 
hörte nicht, was der Vater antwortete, aber Iouffaints Worte 
machten auf fie einen tiefen Eindrud. Sie lief in ihr Zimmer, 
trat vor den Spiegel, den fie feit Monaten mied und ftieß einen 
Schrei aus. 

Sie war fhön, fie war hübſch. Touſſaint hatte recht und ihr 
Spiegel auch. Ihre Geftalt war nun voll entwicelt, ihre Haut 
weiß, ihr Haar glänzend; ihre Augen ftrahlten. Die Erkenntnis 
ihrer Schönheit Fam ihr plößlich, fie Éonnte nicht mehr zweifeln. 
Stolz wie eine Königin Éebrte fie in den Garten zurüd. Sie 
glaubte, die Vögel fingen zu hören und die Sonne fhimmern 
zu feben zwifchen den Bäumen, obwohl es Winter war. 

jean Valjean feinerfeits empfond ein tiefes und kaum er- 
Flärliches Unbehagen. 

Schon feit einiger Zeit beobachtete er diefe täglich ftrahlen- 
dere Schönheit ängftlih. Allen anderen ſchien fie zu lachen, ibm 
war fie ein Gegenftand der Trauer. 

Würde Cofette ihn aud jest noch lieben? Er war glüdlid, 
befriedigt, ruhig, folange fie ihn liebte, verlangte nicht mehr. 
Hätte man ihn gefragt: Was willft du noch? fo hätte er geant- 
wortet: Nichts. Was diefe Lage verändern Éonnte, und au nur 
oberflächlich, Fieß ihn erzittern. Er hatte Faum jemals gewußt, 


503 


was die Schönheit einer Frau bedeutet, aber er begriff in- 
ftinftiv, daß diefe Schönheit ihm fürchterlich werden Fonnte. 

Wie ſchön fie ift! dachte er, was foll aus mir werden? 

Das war der Unterfchied zwifchen feiner Liebe und der einer 
Mutter. Er gewahrte mit Angft, was eine Mutter freudig ge- 
ſehen hätte. 

Und die erften Wirfungen ftellten ſich bald. ein. 

Seit Cofette wußte, daß fie ſchön fei, achtete fie auf ihre 
Kleidung. hr fiel ein, daß jemand im Dorübergehen gefagt 
hatte: hübſch, aber fchleht angezogen, und biefes Orafel hatte 
in ihr Herz den Samen eines Gefühls geftreut, welches bas 
Leben der Frau zu beftimmen pflegt, der Rofetterie. 

Mit dem Glauben an ihre eigene Schönheit entfaltete fid 
aud ihre weiblihe Seele. Das Merinofleid war ihr gräßlich, 
und fie ſchämte fi des Plüſchhuts. Ihr Vater hatte ihr niemals 
etwas abgefchlagen. Bald befaß fie die ganze Wiſſenſchaft des 
Hutes, des Kleides, des Mantels und der Schuhe, wußte, 
welcher Stoff geht, welche Farbe paßt — diefe Wiflenfihaft, 
die die Pariferin fo reizvoll und fo gefährlih mad. 

Und zu jener Zeit begegnete ihr Marius nach ſechs Monaten 
wieder im Lurembourg. 


4. Der Kampf beginnt 


Cofette trug in ihrer Einfomfeit, wie Marius in der feinen, 
alle Bereitfhaft in fih, in Flammen aufzugeben. Das Schidfal 
näherte mit gebeimnisvoller, fchieffalsfhwangerer Geduld die 
beiden mit der Eleftrizität der Leidenfchaft geladenen Gefchöpfe 
einander, bis fie ihre Seelen vereinen Éonnten wie zwei Wolfen, 
deren Berührung den Blitz entzündet. 

Es gab eine Zeit, da Eofette, ohne es zu wiffen, mit ihren 
Blicken Marius beunrubigte, während auh Marius nicht abnte, 
daß fein Blick auf Cofette wirkte. 

Schon lange beobachtete bas Mädchen ibn, wie junge Mäd— 
hen es eben fun: indem fie anderswohin fab. Marius fand 


504 





Eofette noch häßlich, als fie bereits bemerft hatte, daß er guf 
ausfah. Aber da er ihr Feine Aufmerffamfeit fhenfte, blieb fie 
gleichgültig. 

Als dann eines Tages ihre Augen einander begegneten und 
erzählten, was unausſprechlich ift, begriff Eofette zunächſt nichts. 
Sie war nur nachdenklich, als fie in bas Haus in der Rue de 
POueft zurücfehrte, in dem Sean Valjean damals gerade für 
febs Wochen Quartier genommen hatte. Als fie am nächſten 
Morgen erwachte, erinnerte fie fi) des jungen Unbekannten, 
der fo lange gleichgültig geblieben war und fie jeßt beobachtete; 
doch fchien ihr, diefe Aufmerffamfeit fer ihr gar nicht angenehm. 
Eher fühlte fie fich bereit, zu zürnen. Ein Ériegerifher Inſtinkt 
regte fih in ihr. Zu lange hatte er fie überfehen. Sie empfand 
eine noch ganz Findliche Freude, daß fie jetzt Made üben Fonnte. 

Sie wußte, daß fie ſchön war und ahnte, daß diefe Schönheit 
ihr als Waffe dienen Fonnte. Die Frauen fpielen mit ihrer 
Schönheit wie Kinder mit dem Meffer. Sie verwunden 
ſich ſelbſt. 

Man wird ſich erinnern, wie ſchüchtern und verängſtigt Ma— 
rius war. Er blieb auf ſeiner Bank und wagte ſich nicht vor. 
Das verſtimmte Coſette. Eines Tages ſagte ſie zu Jean 
Valjean: 

„Vater, komm, gehen wir einmal da lang.“ 

Da Marius nicht zu ihr kam, ging ſie zu ihm. In ſolche 
Situationen gleicht jede Frau Mohammed. Und ſeltſam genug, 
das erſte Zeichen wahrer Liebe iſt beim Mann die Schüchtern— 
heit, beim Mädchen der Mut. Das mag wunderlich ſcheinen, 
und doch ift es bas Einfachfte der Welt. Die beiden Gefchlechter 
wollen fid) einander nähern, jedes nimmt die Eigentümlichfeiten 
Des andern an. 

An diefem Tag machte Eofettes Blif Marius toll, und zu- 
gleich zitterte Cofette unter dem Blick Marius’. Er ging von 
dannen, neu ermutigt, fie fief beunruhigt. Und von diefem Tage 
an liebten fie einander. 


505 


5. Summer 


Situationen erzeugen im Menfchen die entfpredhenden In— 
ftinfte. Die alte Mutter Natur benahrichtigte rafd Sean Val- 
jean vom Auftreten Marius’. Er zitterte bis in die dunfelften 
Ziefen feines Herzens. Er fab nichts, wußte nichts, fpäbte aber 
mißtrauifch in dem Dunfel, in dem er fich befand, um fib, als 
ob er fühle, daß hier ein alter Bau zufammenftürze und ein 
neuer aufgerichtet werde. Zugleich aber empfing Marius eine 
Warnung feines Inſtinkts und bemühte fih, dem „Vater“ fo 
wenig als möglich in die Quere zu Éommen. Dennoch gefchah 
e8, daß Sean Daljean ihn zuweilen bemerkte. Marius’ Gehaben 
war alles andere als natürlih. Er zeigte eine bedenkliche Vor— 
fiht und eine Iinfifhe Keckheit. Auch Fam er jest nicht mehr fo 
nahe heran wie früher. Weit ab nahm er Plat und blieb wie 
verzückt fißen. Auch bradte er ein Bud mit, und fat als ob er 
Iefe. Warum verftellte er fih? 

Früher hatte er einen alten Anzug getragen, jet erfchien er 
täglich in feftlibem Gewande; es war nicht einmal fiber, daß 
er ſich nicht die Haare Eräufeln Tieß: er machte Eomifche Augen, 
ja, er trug Handfchuhe! 

Sean Valjean verabfheute diefen jungen Mann aus ganzem 
Herzen. Cofette ließ fih nichts anmerfen. Sie wußte felbft 
faum, was fie empfand, aber ihr Inſtinkt fagte ihr, daß fie ihre 
Gefühle verheimlihen mußte. 

Jedenfalls beftand zwifchen der plößlih ermacten Neigung 
Cofettes für gute Kleider und der feiertäglihen Gewandung des 
jungen Mannes ein Parallelismus, der Sean Valjean mißfiel. 
Vielleicht, wabrfheintih fogar, berubte er auf einem Zufall, 
aber diefer Zufall fhien bedrohlid. 

Miemals fprah er zu Cofette von diefem Unbekannten. 
Eines Tages aber konnte er fi) nicht länger halten und fagte 
in einem Anfall unflarer Derzweiflung, die zulekt bas eigene 
Unheil heraufbeſchwört: 

nDiefer junge Mann fieht aber fehr pedantifch aus!“ 


506 


Vor einem Jahr nod hätte Cofette als gleichgültiges junges 
Mädchen geantwortet: „Aber nein, er ift reizend.’ Zehn Jahre 
jpäter hätte fie vielleicht gefagt: ‚‚Pedantifh und unerträglich, 
du haft recht.“ In ihrem augenblidlihen Zuftand aber be- 
Ihränfte fie fi darauf, mit erheuchelter Mube zu fagen: „Ach, 
der da!’ 

Als ob fie ihn zum erftenmal bemerft hätte. 

Mie dumm id war, dachte jean Daljean, fie hatte ibn noch 
gar nicht bemerkt. Ich mache fie no auf den Menfchen auf- 
merkſam. 

O rührende Einfalt der Alten, o ahnungsvoller Berftand 
der Kinder! 

Jean Valjean begann einen geheimen Krieg gegen Marius 
zu führen, den dieſer in der erhabenen Torheit ſeiner Leidenſchaft 
und ſeines Alters nicht bemerkte. Der Greis legte ihm eine 
Menge von Fallen. Er kam zu verſchiedenen Zeiten in den 
Park, wechſelte die Bank, verlor ſein Taſchentuch, kam ſchließ— 
lich ſogar allein; wie mit verbundenen Augen ſtolperte Marius 
in jede Falle. So oft Jean Valjean ein tückiſches Fragezeichen 
in ſeinen Weg ſtellte, antwortete er harmlos „ja“. Coſette ließ 
ſich inzwiſchen nicht aus ihrer ſcheinbaren Sorgloſigkeit und un— 
beirrbaren Ruhe herauslocken, ſo daß Jean Valjean ſchließlich 
zu dem Schluſſe kam: dieſer alberne Burſche iſt bis über die 
Ohren in Coſette verliebt, aber ſie hat ihn noch gar nicht 
bemerkt. 

Ein einziges Mal beging ſie einen Fehler und alarmierte 
ihren Vater. Nach dreiſtündigem Verweilen auf der Bank 
ſtand er auf, um nach Hauſe zu gehen. Da ſagte ſie: 

„Schon?“ 

Das übrige iſt dem Leſer bekannt. Marius fuhr fort, ſich 
möglichſt ungeſchickt zu benehmen. Eines Tages folgte er Coſette 
in die Rue de l'Oueſt. Ein andermal ſprach er gar mit dem 
Pförtner. Dieſer ſeinerſeits verſtändigte Sean Valjean davon. 

„Herr,“ ſagte er, „wer iſt der junge, neugierige Mann, der 
Sie ausforſcht?“ 


507 


Am nädften Tag warf Sean Valjean Marius einen Dlid 
zu, ben biefer endlich begriff. Und acht Tage fpâter war er um- 
gezogen. Er ſchwor, den Lurembourg-Öarten nie mehr zu be- 
treten und die Rue de l'Oueſt zu meiden. Er fehrte in die Rue 
Plumet zurück. 


| 


DyıttesBuch 
Dellen Anfang nicht dem Ende gleicht 


l. Ein Spdyllder Einfamfeit 
und eine Raferne benabbart 


Seit vier oder fünf Monaten hatte Eofette Marius nicht 
gefehen. Ohne es felbft zu bemerken, hatte fie fi beruhigt. Die 
Matur, der Frühling, die Jugend, Liebe zu ihrem Vater, end- 
lich der fröhliche Gefang der Vögel und die heitere Frifche der 
Blumen ließen allmählich, Tropfen für Tropfen, einen Balſam 
in die Seele diefer Jungfrau träufeln, der dem Dergeffenen 
nicht unähnlih war. Erlofh ihr Feuer? Glomm es unter der 
Aſche? 

Tatſache iſt, daß ſie wenigſtens den heftigen Schmerz nicht 
mehr fühlte. 

Eines Tages erinnerte ſie ſich plötzlich Marius’. 

Ach, dachte ſie, ich denke ja kaum mehr an ihn. 

In derſelben Woche bemerkte fie, daß ein ſehr ſmarter Offi- 
zier der Lanzenreiter mit Weſpentaille, entzückender Uniform, 
Schleppſäbel, aufgedrehtem Schnurrbart und lackierter Tſchapka 
an dem Gitter ihres Gartens vorbeiſpazierte. Überdies hatte er 
blonde Haare, blaue Augen, ein rundes, bübfhes und unver- 
ſchämtes Gefiht; in nichts glih er Marius. 

Schon am nädften Tag Éam er wieder vorbei. Sie merfte 
fih, um welche Stunde dies geſchah. 

Und von diefem ag an fpasierte er (war es Zufall?) faft 
täglich) an dem Gitter vorüber. 


308 





Die Kameraden des Offisiers bemerften, daB es in biefem 
„verwahrloften” Garten hinter dem alten Rokokogitter ein recht 
hübfhes Mädchen gab, bas faft immer zu feben war, wenn der 
fefhe Leutnant vorüberfom — biefer Leutnant, ben unfere 
Lefer bereits fennen und der TIheodule Gillenormand hieß. 

„Haft du denn die Kleine nicht bemerkt, fragten fie, „Die 
dir immer Augen macht?‘ 

„Hab' ic denn Zeit dazu, alle Mädel zu bemerken, die mir 
Augen machen?’ erwiderte der Langenreiter. 

Dies gefehah gerade um die Zeit, da Marius dem Tode nahe 
war und date: Wenn ich fie nur vorher noch feben Fönnte! 

Wenn diefer Traum in Erfüllung gegangen wäre, wenn er 
Eofette gefehen hätte, wie fie einem Lanzenreiter „Augen 
machte”, wäre er wohl unter dem Übermaß des Schmerzes zu- 
jammengebrocden. 


2. Eofjette in Angft 


In der erften Hälfte des Monats April unternahm Sean 
Baljean eine Reiſe. Das gefhab, wie unfere Lefer bereits 
wiffen, von Zeit zu Zeit, in fehr langen Zwifchenräumen. Er 
blieb dann ein oder bôcftens zwei Tage außerhalb. Wohin er 
sing? Das wußte niemand, auch Eofette nicht. 

Sean Valjean war alfo abmwefend. 

Am Abend befand fi) Eofette allein im Salon. Um fi zu 
gerftreuen, feßte fie fi) an bas Harmonium und begleitete fit 
zu dem Chor der „Euryanthe“: Jäger, hinaus in den Wald! 
Diefer Chor ift vielleicht eine der berrlibften Schöpfungen 
der Muſik. 

Als fie damit fertig war, blieb fie nachdenklich fisen. Plötz— 
lih war ihr, als ob fie im Garten Schritte höre. hr Vater 
fonnte es nicht fein, denn er war ja verreift. Und Zouffaint lag 
bereits im Bett. Es war zehn Uhr abends. 

Sie trat an den verfhloffenen Fenfterloden des Salons und 


>09 


legte bas Obr daran. Test glaubte fie den Schritt eines 
Mannes zu erkennen, der dur den Garten fchlid. 

Raſch eilte fie in den erften Stodf und öffnete ein kleines 
Senfteren, um in den Garten hinabzufchauen. Der Vollmond 
warf fein Licht ftrahlend auf den Garten. Es war taghell. 

Miemand zu feben. 

Sie öffnete das Fenfter. Der Garten lag in tiefftem Grie- 
den, und fo weit man die Straße von hier aus überfchauen 
fonnte, war fie leer wie immer. 

Eofette date, fie babe fit getäufcht. Wohl hatte fie ge- 
glaubt, ein Geräuſch zu hören, aber dag war wohl eine Sal- 
Iuzination, die der berrlibe Chor Webers in ihr bervor- 
gezaubert hatte. 

Sie dachte nicht weiter daran. 

Am nädften Tag ging fie bei Einbrud der Dunkelheit im 
Garten fpazieren. Während fie unbeftimmten Gedanken nad- 
hing, glaubte fie plößlich dasfelbe Geräufd wie geftern zu hören. 
Es war, als ob jemand in der Dunkelheit unter den Bäumen 
binfchliche. Doc achtete fie weiter nicht darauf, zumal fie nichts 
feben Eonnte. 

As fie auf die Eleine Mafenfläche vor dem Hauseingang trat, 
ging eben hinter ihr der Mond auf und warf ihren Schatten 
auf den Kiesweg. 

Erſchrocken blieb fie fteben. 

eben ihrem Schatten zeichnete der Mond auf dem Raſen 
einen anderen fchredlichen und unheimlichen, den Schatten eines 
Mannes mit einem runden Hut. 

Der Fremde Fonnte nur einige Schritte hinter ihr ftehen. 

Eine Minute lang ftand fie da, ohne ein Wort über die Lip- 
pen zu bringen, fi aud nur zu rühren. 

Jetzt raffte fie al ihren Mut zufammen und wandte fi ent- 
fhloffen um. 

Niemand war da. 

Sie fab auf den Raſen: der Schatten war verſchwunden. 


310 


Sept eilte fie Fühn in dag Geftrüpp, durchſuchte alle Winkel 
bis zum Gitter; aber fie fand nichts. 

Sest erit fühlte fie den eifigen Haudh des Schredens. War 
bas aud eine Hallızination? Einmal Fonnte fie fih täufchen, 











Kia 
SS 





aber zweimal? Und diefer Schatten hatte gar nicht einem Ge- 
fpenft geglihen. Gefpenfter tragen nicht runde Hüte. 

Am nähften Tage Fam Sean Valjean zurück. Cofette erzählte 
ihm, was fie beobachtet hatte, und erwartete, er werde die 
Achſeln zucken und fagen: Du bift ein Éleines Närrchen. 


511 


Aber er ſchien beforgt. 

„Es wird nichts Sefonderes fein‘, jagte er immerhin. 

Dann fbübte er eine Beforgung vor und eilte in den Garten; 
fie bemerfte, daß er das Gitter aufmerffam betrachtete. 

In der Naht wachte fie plößlich auf. Diesmal war fie fiber, 
Schritte auf der Freitreppe unter ihrem Fenfter zu vernehmen. 
Sie lief zu ihrem Ausguck und fab im Garten einen Mann mit 
einem großen Stock in der Sand. Eben als fie auffchreien 
wollte, fiel das Mondlicht auf fein Geficht. Es war ihr Vater. 

Sie legte ſich wieder zu Bett und dachte: er ift doch unruhig. 

Nicht nur diefe Nacht, aud die nächften beiden Nächte ver- 
bradte Sean Daljean im Garten. Eofette bemerkte es wohl. In 
der dritten Nacht, es war zur Zeit des abnehmenden Mondes, 
hörte fie gegen ein Uhr ein lautes Lachen und die Stimme 
ihres Vaters, der rief: 

„Sofette!” 

Sie fprang aus dem Bett, hüllte fih in ihren Morgenrod 
und öffnete das Fenfter. 

Ihr Vater ftand unten auf der Mafenfläche. 

„Ich wollte did nur beruhigen,’ fagte er, „ſieh bier! Da ift 
dein Schatten mit dem runden Hut.” 

Und er zeigte ihr auf dem Raſen einen Schatten, der wirf- 
lic) dem eines Mannes mit einem runden Hut recht ähnlich war. 
Es war die Silhouette des Schornfteins auf dem Nachbarhaufe, 
der mit einem breiten Kapitäl geſchmückt war. 

Auch Eofette lachte. 

Am nädhften Tag beim Frühftück fpottete fie über den un- 
heimlichen Garten, in dem die Schornfteine fpuften. 

Einige Tage fpäter aber ereignete ſich ein neuer Zwifchenfall. 


3. Nachricht 


Meben dem Gartengitter ftand eine Bank aus Stein, die 
gegen die Blicke Meugieriger burd eine Hagebuttenhecke 


712 


gefhüst war. Dot Fonnte ein Vorübergehender fogar mit 
freier Hand bis zu jener Bank reichen. 

Eines Abends gegen Ende April war Sean Valjean aus- 
gegangen. Cofette hatte fih nah Sonnenuntergang auf die 
Gartenbant gefest. Ein Fühler Wind raufehte in den Bäumen, 
und Cofette hing ihrer Träumerei nad. Eine unbeftimmte 
Zraurigfeit hatte fih ihrer bemädhtigt, die Zraurigfeit des Abends 
und jener Stunde, die einem halbgeöffneten Grabe gleicht. 

Cofette ftand auf, ging langfam im Garten auf und ab und 
betrachtete, fo fehr ihr Geift aud anderswo weilte, die mit 
abendlihem Tau benesten Gewächſe. 

Man müßte eigentlich, dachte fie, Holzſchuhe anziehen, wenn 
man um diefe Zeit in den Garten geht. Man erfältet fih fonft. 

Dann febrte fie zu ihrer Bank zurüd. 

Als fie fit feßen. wollte, bemerfte fie auf dem Plas, den fie 
eben verlaffen hatte, einen ziemlich großen Stein, der vorher 
beftimmt noch nicht hier gewefen war. 

Sie fab ihn an und fragte fi), was er zu bedeuten babe. 
Plötzlich kam ihr der Gedanke, diefer Stein könne ſchließlich 
nicht allein bierbergefommen fein, eg müffe ihn ein Arm durd 
dag Gitter gefchoben haben. Diefer Gedanfe beunrubigte fie. 
Diesmal empfand fie wirflih Furt. Der Stein war da, jekt 
fonnte fie nicht mehr an eine Halluzination glauben. 

Doch diefe Angft währte nicht lange. Bald trat die Neugierde 
an ihre Stelle. 

Ad, wir wollen erft fehen, fagte fie fic. 

Sie hob den Stein auf, der ziemlich ſchwer war, und fand 
darunter einen Brief. 

Der Umſchlag war aus weißem Papier. Eofette griff da- 
nad. Keine Adreffe, Fein Siegel. Aber wenn der Umſchlag au 
offen war, fo enthielt er doch ein Blatt Papier. 

Cofette nahm es heraus. Was fie jeßt empfand, war nicht 
mehr Meugierde, fondern wirflibe Angft. 

Die Schrift gefiel Eofette. 

Sie fuhte nad einer Unterfohrift, fand aber Feine. Auch die 


33 Hugo, Die Elenden. 513 


Anrede fehlte. An wen richtete fit diefes Schreiben? An fie | 
doch offenbar, da es auf ihre Sant gelegt wurde. Und von wen | 
fam e8? Ein unwiderftehliher Drang überfom fie, den Brief 
zu Iefen. Sie ſuchte wohl ihren Blick wegzumenden, fab den 
Himmel an, bliefte auf die Straße hinaus, beobachtete einen 
Augenbli lang die Tauben auf dem Dad) des Nachbarhaufes; 
Ihließlih aber fiel ihr Blick doch auf das Blatt, und fie dachte, 
fie müffe doch willen, was darauf ftehe. Und fie las folgendes: 


„Bott fann dem Glück derer, die lieben, nur nod) eines 
hinzufügen — Ewigkeit. Nach einem Leben der Liebe, eine 
Emigfeit der Liebe, bas bedeutet in der Tat noch eine Steige- 
rung. Aber es ift unmöglich, das Glück felbft zu fteigern, das 
die Liebe uns auf diefer Welt vermittelt — felbft Gott kann 
bas nicht. Er ift die Fülle des Himmels, aber die Liebe ift die 
Fülle des Menſchlichen.“ 


4. Nach dem der Brief gelesen 


Süße Gedanken bemächtigten ſich Coſettes. Als fie auf— 
blickte, ſpazierte gerade der ſchöne Offizier mit triumphierender 
Miene an dem Gitter vorüber. Coſette fand ihn abſcheulich. 

Wieder las ſie das Blatt. 

Es war ein Brief ohne Anſchrift, ohne Namenszeichnung, 
Datum, zugleich dringlich und doch unintereſſiert, eine rätſel— 
hafte Miſchung aus Liebesbotſchaft und Betrachtung, ein Ren— 
dez⸗vous, gegeben in einer anderen Welt. 

Mer mochte diefe Zeilen gefehrieben haben? 

Eofette zögerte nicht einen Augenblid. 

Mur er! 

Sekt tagte es in ihrem Geifte. Alles tauchte wieder aus der 
Vergefienheit auf. Sie empfand eine unerhörte Freude und 
bod eine tiefe Angſt. Er war es, er fbrieb ihr! Sein Arm 
hatte burd das Gitter gelangt! Sie hatte ibn vergeflen, er 
hatte fie wiedergefunden. Aber hatte fie ibn denn wirflid ver- 
geffen? Mein, niemals! Sie war einen Augenblif lang fo fol 


514 


gewefen, es felbft zu glauben, weiter nichts. Als fie dag britte- 
mal das Blatt durchftudiert hatte, erfhien wieder Leutnant 
Théodule und Élirrte mit den Sporen. Cofette mußte aufbliden. 
Sie fand ihn jeßt langweilig, nichtsfagend, febr häßlich und un- 
verfhämt. Der Offizier glaubte, ihr zulächeln zu müffen. AÄrger- 
lib wandte fie fih ab. Am liebften hätte fie ihm etwas an den 
Kopf geworfen. 

Dann lief fie in das Haus, fchloß fih in ihr Zimmer ein, 
las das Blatt wieder und wieder, bis fie e8 auswendig Fonnte. 
Dann Füßte fie es und ſteckte es in ihr Korfett. 

Es war geſchehen. Wieder war Eofette ihrer Liebe verfallen. 
Mob einmal tat fit ihr der Garten Eden auf. 


5. Die Alten find dazu ba, redhtzgeitig 
fortzugeben 


Als es Abend wurde, ging Sean Valjean aus. Cofette aber 
Fleidete fih an. Sie ordnete ihre Haare zu ihrer beften Srifur, 
309 ein Kleid an, bei deflen Bruftausfohnitt die Schere ein 
wenig ausgeglitten war, fo daß man ben Salsanfas ſehen 
fonnte — mas ja die jungen Mädchen „ein wenig indezent‘ 
finden. 

Sie legte diefe Toilette an, ohne recht zu wiflen warum. 

Mollte fie ausgehen? Erwartete fie Befuh? Mein. 

As es dunfelte, ging fie in den Garten. Iouffaint war no 
in der Küche befchäftigt, die auf den Hinterhof hinausging. 

Sie Fam zu ihrer Bank. Der Stein lag noch immer da. Sie 
fette fi) und legte ihre weiße Hand auf den Stein, als ob fie 
ihn ftreiheln und ibm danfen wollte. 

Plötzlich fühlte fie, daB jemand hinter ihr ftanb. 

Sie wandte fi) um und ftand auf. 

Er war es. 

Er trug feinen Hut. hr bien, daB er blaß und mager war. 
In der Dunkelheit Fonnte man feinen ſchwarzen Anzug Faum 
erkennen. Die Dämmerung ließ feine fhöne Stirn fahl, feine 


A | 515 


Augen befhattet erfheinen. Etwas an ibm erinnerte, faum 
burch fein fanftes Wefen gemildert, an Tod und Nat. : 

Cofette brachte Fein Wort über die Tippen. Langfam trat fie 
zurücd, denn fie fühlte fih zu ibm hingezogen. Auch er rührte 
fit nicht. Sie fühlte feinen Blick, ohne felbft die Augen zu ihm 
aufzufchlagen. 

Jetzt lebnte fie fit an einen Daum. Wäre diefer Baum 
nicht dagewefen, gewiß wäre fie umgefunfen. 

Und jest hörte fie feine Stimme, diefe nie gehörte Stimme, 
die bas leife Naufchen des Laubes Faum übertönte. 

„Verzeihen Sie, daß ich gefommen bin. Ich mußte, denn ich 
fonnte nicht jo weiterleben. Haben Sie den Brief gelefen, den 
ich hier auf diefe Bank legte? Erfennen Sie mih noch? Fürch— 
ten Sie fid nicht vor mir. Es ift lange ber feit damals... 
erinnern Sie fi nod an den Tag im Lurembourg, neben der 
Statue des Gladiators? Es muß ein Vabr fein feit damals. 
Ich babe die Frau, die dort die Stühle vermietet, gefragt, aber 
fie fagte, fie hätte Sie nicht mehr gefehen. Sie wohnten damals 
Rue de l'Oueſt, in einem neuen Haus, im dritten Stock. Sehen 
Sie, daß ich es weiß? Sch bin Ihnen nachgegangen, damals. 
Vas follte ich auch fonft tun? Aber dann find Sie verfehwun- 
den. Einmal faß ich unter den Arkaden des Odéon und las 
Zeitungen, da glaubte ich, Sie zu feben. ch Tief Ihnen nad 
— aber ich Hatte mich getäufcht. Es war nur derfelbe Hut. 
Seht komme id nachts immer hierher. Fürchten Sie fib nicht, 
niemand fieht mich. Sch will nur Ihre Tenfter aus der Nähe 
feben. Ich gehe ganz leife, damit Sie mich nicht hören und 
Feine Angft befommen. Unlängft ftand ich hinter Ihnen, da 
haben Sie fi umgewandt. Sofort bin ich davongelaufen. Ein- 
mal hörte ih Sie fingen und war glüdlib. Macht es Ihnen 
etwas, wenn ich Sie fingen höre? Es fann Ihnen doch nichts 
daran liegen, nicht wahr? Laflen Sie mid) doch herfommen, ich 
glaube, ich fterbe fonft. Wenn Sie wüßten, wie ih Sie liebe! 
Verzeihen Sie mir, daß ich fo fpreche, aber ich weiß felbft nicht, 
was ich fage. Vielleicht Fränfe ich Sie.’ 


516 


Die Beine verfagten ihr den Dienft. 

Er fing fie in feinen Armen auf und brüdte fie an feine 
Bruft, obne zu wiffen was er tat. Er felbft taumelte, während 
er fie hielt. Ihm war, als ob fit ein Mebel vor feine Augen 
‚breite. Blige zuckten zwifchen feinen Brauen. Ihm war, als ob 
bier eine religiöfe Handlung vollgogen werde und als ob er 
etwas Heiliges verlege. Sie nahm feine Hand und legte fie auf 
ihr Herz. Er fühlte das Blatt Papier und ftammelte: 

„Lieben Sie mid denn?’ 

Saft unhörbar antwortete fie: 

„Schweig doh! Du weißt eg.” 

Sie festen fid auf die Banf. Worte fanden fie nit. Wie 

kam es, daß ihre Lippen fih fanden? Wie fommt es, daß ein 
Vogel fingt, daß Schnee fhmilzt, daß die Roſe fi entfaltet? 
Sie dachte nit daran, ibn zu fragen, wie er bierbergefom- 
men war. Alles erfchien ihr fo einfach, es war fo felbfiverftänb- 
‚li, daß er bei ihr war! 
Allmählich begannen fie zu ſprechen. Der Bann der Stumm— 
heit war gebrochen. Sie vertrauten ſich ihre Geheimniſſe an, 
‚erzählten einander von ihrer Liebe, alles, was die Jugend und 
| der Meft ihrer Kindlichfeit ihnen zuflüfterte. 

Als fie alles gefagt hatten, legte das Mädchen ihren Kopf 
auf Marius Schulter und fragte; 

„Wie heißen Sie?’ 

„Marius.“ 

„Ich heiße Coſette.“ 













Viertes Buch 
Der kleine Gabroche 


1. Der Wind fpielt einen böfen Streid 


Mad 1823, während die Herberge in Montfermeil langfam 
zugrunde ging, nicht dem Danferott, aber dem Drängen tau- 
ſend Éleiner Gläubiger verfiel, hatten die Thénardiers not 


517 











zwei Kinder befommen: zwei Knaben. Alfo hatten fie insgefamt 
deren fünf, zwei Mädchen und drei Jungen. 

ES war genug. 

Die Ihenardier entledigte fit der beiden Süngften bald. Ein 
eigentümliches Glück begünftigte fie dabei. 

Bei der Ihenardier war die Natur gewiffermaßen nur ein 
Bruchſtück. Wie die Marfchallin de la Motte-Saudancourt, war 
die Ihenardier nur die Mutter ihrer Töchter. In ihnen er- 
ſchöpfte fid ihr Gefühl. Ihr Menfchenhaß traf auch ihre Söhne. 
Den Ülteften verabfheute fie. Die beiden Jüngſten waren ihr 
unerträglich. 

Marum? 

Darum. 

Diefes Darum ift das furhtbarfte, indisfutabelfte Argument. 


Ich braude nicht eine ganze Herde Kinder, fagte diefe ! 


Mutter. 

Jetzt wollen wir berichten, wie die Ihenardiers fi ihrer 
beiden jüngften Kinder entledigten und daraus noch Nutzen zogen. 

Jene Magnon, von der wir bereits berichteten, daß fie mit 
der Bande Patron-Minette in Verbindung fand, war früher 
einmal Magd im Haufe des alten Gillenormand. Von ihm hatte 
fie zwei Kinder befommen. Sie wohnte am Quai des Céleftins, 
an der Ecke jener Rue du Petit-Muse, deren befonderer Nuhm 
es ift, ihren ſchlechten Ruf in guten Geruch umzufeßen. Der 
Lefer erinnert fich vielleicht der großen Kruppepidemie, die da- 
mals, vor fünfunddreißig jahren, die Quartiere an der Seine 
heimfuchte, und die Anlaß zu bedeutfomen Errungenschaften der 
ärztlihen Wiffenfchoft war. Durch diefe Epidemie verlor Ma— 
gnon am gleichen Tage ihre beiden Kinder. Das war ein fehwerer 
Schlag, denn die Kleinen waren der Mutter fehr wertvoll, 
ftellten fie do eine monatliche Rente von achtzig Franken bar. 
Diefer Betrag wurde im Auftrage des Herrn Gillenormand 
von Herrn Darge, Nentenempfänger, Rue du Roy-de-Sieile, 
außerordentlich pünktlich ausgezahlt. Mit den Kindern war au 
die Rente begraben. 


513 





Magnon fubte Erfas. In diefer Verbrehergefellfhaft, der 
fie angehörte, weiß jeder von jedem alles, hält jeder reinen 
Mund, Hilft einer dem andern. Magnon brauchte zwei Kinder, 
die Ihenardier hatte zwei zu vergeben. Alter und Geſchlecht 
ftimmten. Beide Teile Eonnten zufrieden fein. Die Eleinen Thé- 
nardiers wurden Fleine Magnons. Zur Sicherheit 309 Magnon 
nad der Rue Eloche-Perse. In Paris wird man vergeffen, 
wenn man in ein anderes Quartier zieht. 

Die Derwaltungsbehbörde hatte nichts von der Sache er- 
fahren, fo daß die Unterfhiebung höchſt einfach vonftatten ging. 
Mur verlangten die Thénardiers für die beiden Kinder eine 
monatliche Seibgebübr von zehn Franken, zu deren Zahlung 
Magnon fih auch bereit erklärte. Selbftverftändlic dachte Gil- 
lenormand nicht daran, feine Zahlungen einzuftellen. 

Magnon, muß gefagt werden, gehörte zur Oberflaffe der Der- 
brecherinnen. Sie Éleidete fih gut. Ihre Wohnung teilte fie mit 
einer franzöfifierten Engländerin, einer febr fhlauen Diebin. 
Diefe hatte gute Beziehungen zu reichen Leuten und ftand in 
irgendeinem dunflen Zufammenhang mit den Diamanten der 
Mademoifele Mars. Später wurde fie durch einige Prozeſſe 
berühmt. Man nannte die Mamfell Mit. 

Die beiden Kinder, die folhermaben von der Magnon über- 
nommen wurden, waren übrigens nicht zu beflagen. Durch einen 
Betrag von achtzig Franken der Mutter ans Herz gelegt, er- 
fuhren fie eine recht gute Behandlung; fie waren nicht fchlecht 
geFleidet, nicht fchleht genährt, faft wie Bürgerfinder gehalten; 
gewiß ging e8 ihnen bei der falfchen Mutter beffer als bei der 
richtigen. Da Magnon für eine Dame gelten wollte, ſprach fie 
nie vor den Kindern Argot. 

So vergingen Jahre. Schon begann die Ihenardier beffere 
Geſchäfte zu wittern. Als ihr die Magnon eines Tages die zehn 
Sranfen brachte, fagte fie: ‚Sekt wird es bald Zeit, daß der 
Vater etwas für die Erziehung feiner Kinder tut.‘ 

Pröslich, unvermittelt, wurden diefe beiden armen Gefchöpfe, 
denen das Schieffal bisher noch nicht übel mitgefpielt hatte (ja, 


519 


deren Unglüd zum Glück ausgefhlagen war), jäh ins Leben bin- 
ausgejchleudert. 

Eine Maffenverbaftung wie jene in Yonbrettes Zimmer, die 
notwendigerweife zu allerlei Berbaftungen und Hausdurchſuchun— 


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gen führt, ift für die Verbrechergeſellſchaft notwendigerweiſe 
eine Kataftrophe. Thénardiers Sturz rif auch Magnon in den 
Abgrund. 

Eines Tages, kurz nahdem Magnon Eponine die Meldung 
aus der Rue Plumet überbraht hatte, gab es in der Rue Cloche— 


320 





| 
| 
| 


Perce Hausfuhung. Magnon und Mamfell Miß wurden ver- 


haftet, das ganze Haus entvölferte fi plöslih. Während diefer 
Szene hatten die beiden Kleinen im Hinterhof gefpielt und 
nichts von der Razzia bemerkt. Als fie nach Haufe fommen woll- 
ten, fanden fie die Tür verfhloffen, bas Haus verödet. Ein 
Slitfhufter, der gegenüber wohnte, rief fie herbei und übergab 
ihnen einen Zettel, den „die Mutter‘ ihnen binterlaffen hatte. 
Darauf ftand: 

nMonfieur Barge, Nentenempfänger, Nue du Roy-de-Si- 
cile Mo. 8. 

„Ihr wohnt nicht mehr hier,” fagte der Mann, „geht dahin. 
Es ift nicht weit. Die erfte Straße links. Fragt eud mit dem 
Zettel da durch.“ 

Die Knaben machten fih auf den Weg. Es war Falt, die 
Éleinen Singeren des Älteren, der den Zettel hielt, waren 
flamm. An der Ede der Rue Cloche-Perce rif ibm ein Wind- 
ftoß das Blatt aus der Hand, und da es bereits Abend war, 
fonnte das Kind ihn nicht wiederfinden. 

So begannen die beiden Kleinen dur die Straßen zu irren. 


2. Der Fleine Gavroche zieht Vorteile 
aus bem großen Napoleon 


Der Parifer Frühling Éennt raube Stürme, deren Falter 
Hauch uns nicht frieren aber doch erfhauern macht. Es fcheint 
dann, daß die Tür des Winters nur halb gefchloffen ift und daß 
durch den Spalt no ein leßter winterliher Wind durchſtreicht. 

Im Frühjahr 1832, in diefem felben Frühjahr, bas ja auch 
die erfte große Epidemie des Jahrhunderts bradte, waren biefe 
Stürme böfer als je. Nicht nur die Türe des Winters, noch 
eine andere, unheimlichere ftand offen — die des Grabes. Man 
fühlte in diefem Wind den Hauch der Cholera. 

An einem Abend, an dem es befonders ftürmte, fo daß man 
fi in den Januar zurücverfest glauben Fonnte und die Bürger 
ihre Wintermäntel wieder hervorgeholt hatten, ftand der Fleine 


521 


Gavroche vor einem Srifeurlaben nahe der Orme-Saint-Ger- 
vais. Obwohl er vor Kälte zitterte, war er vergnügt. Er tat, 
als ob er eine tiefdefolletierte und mit einem Drangenblüten- 
franz gefhmücte Wahspuppe bewundere, die fih im Schau- 
fenfter drehte und, von zwei Lampen beftrahlt, den Zufchauern 
zulächelte; in Wirflichfeit aber fpähte er in den Laden hinein, 
um zu feben, ob er hier nicht ein Stück Seife maufen Fönnte, 
um es fpäter für einen Sou einem Vorſtadtbarbier weiter- 
zuverfaufen. 

Mährend er alfo diefe Puppe betrachtete, gleichzeitig aber ein 
Stück Seife nicht aus den Augen Tieß, murmelte er: 

„Dienstag. Es war gar nicht Dienstag. Oder doch Dienstag? 
Vielleicht. Sicher ſogar.“ 

Eine Deutung dieſes ſeltſamen Monologs iſt nie gelungen. 

Bezog er ſich auf das letztemal, daß der Junge gegeſſen hatte? 
Wenn ja, dann war es vor drei Tagen geweſen, denn dies ge— 
ſchah an einem Freitag. 

Der Barbier ſtand in ſeinem wohldurchwärmten Laden und 
raſierte einen Kunden. Von Zeit zu Zeit warf er einen Seiten- 
blief auf den Feind da draußen, der zwar die beiden Hände in 
die Taſchen geftecft hatte, aber nicht feinen Wis. 

Mährend Gavroche die Puppe, das Scaufenfter und die 
Mindfor-foap betrachtete, Famen zwei Kinder, nicht ganz gleich) 
groß, recht anftandig gefleidet und um einiges jünger als er — 
fie mochten der eine fieben, der andere fünf Sabre alt fein — 
des Meges, Elinften fhüchtern die Tür auf und fraten in den 
Laden. Sie fragten irgend etwas, baten vielleicht um eine Gabe. 
Don draußen Éonnte man ihre Worte um fo weniger verftehen, 
als fie fichtlic von den Tränen der Kleinen erftickt wurden. Der 
Barbier wandte ſich zornig nad ihnen um, ohne das Raſier— 
meffer wegzulegen, fhob den Älteren mit der linfen Hand, den 
Süngeren mit dem Knie hinaus und fhlug hinter ihnen die 
Zür zu. 

„Um nichts und wieder nichts bringen fie die Kälte da ber- 
ein!“ fchrie er. 


522 








Die beiden Kinder marfchierten weiter. Der Himmel hatte 
fi) bewölkt, es begann zu regnen. 

Der Fleine Gavroche war den beiden nachgegangen. 

Bas habt ihr denn, ihr?’ 

„Wir wiffen nicht, wo wir Schlafen ſollen.“ 
te bas? Ma, Feine große Sade! Darum weint man 
noch lange nicht. Seid ihr blöd!“ | 
| Mabdem er folhermaßen feine Überlegenheit zum Ausdrud 
gebracht hatte, nahm er einen fanften Gönnerton an. 

„Kommt mit, ihr Rangen.“ 

Die beiden folgten ibm, wie fie einem Erzbifchof gefolgt 
wären. Schon hatten fie aufgehört zu weinen. 

Gavrode flieg die Rue Saint-Antoine binan und wandte 
ſich nach der Baſtille. 

Ein Sranenzimmer, bas die drei, einen immer Éleiner als den 
anderen, im Gänſemarſch baberfommen fab, lachte laut auf. Es 
läßt fich nicht ableugnen, daß biefes Lachen refpeftlos war. 

„Tag, Sräulein Omnibus!‘ 

Dffenbar hatte der Frifeur ihn fo Eriegerifch geftimmt. Eine 
Portierin mit einem Bart, die eben mit dem Beſen in der 
Hand vor dem Haustor ftand, begrüßte er: 

Wollen gnädige Frau ausreiten?’ 

Dann trat er in eine Lace, daß die Lackſchuhe eines Paffan- 
ten über und über befprigt wurden. 

„Lausbub!“ ſchrie diefer wütend. 

nDaben der Herr eine Befchwerde? Das Büro ift fon ge- 
ſchloſſen. Morgen bitte.‘ 

Sie famen an einem Bäckerladen vorbei. 

„Jungens, habt ihr fon gegeflen?‘ 

„Seit heute morgen nicht.” 

„Habt ihr Feine Eltern?‘ 

„Doch, wir haben Papa und Mama, aber wir wiffen nicht, 
wo fie find.’ 

„In manchen Fällen ift das befler als wenn man es weiß”, 
verfiherte Gavroche nachdenklich. „Ihr habt alfo eure Erzeuger 


923 


verloren. hr wißt nicht genau, wo ihr fie Tiegengelaffen habt. 
Das fol man nit. Man fol beffer auf die Erwachſenen auf- | 
paflen. Aber jest wird die Sade mit dem Effen dringlich.“ | 

Er ſuchte in feinen Hofentafhen und fand fohließlich einen ! 
Sou. Ohne den Kleinen Zeit zu laffen, fi über diefen gran- 
diofen Fund zu entzüden, bugfierte er die beiden in den Bäcker— 
laden, legte feinen Sou auf den Tiſch und rief: 

‚Junger Mann, für fünf Centimes Brot!’ 

Der Bäder — es war der Inhaber des Ladens — nahm 
ein Brot und ein Meffer. 

„In drei Stüden, junger Mann,” fuhr Gavroche würdevoll 
fort, ‚mir find nämlich drei.‘ 

Der Bäder ftreifte die drei mit einem Blick, nahm ein Stüd 
Schwarzbrot und feste das Meffer an. est legte Gavrode den 
Singer an die Mafe, als ob ihm ein bedeutfamer Gedanfe käme. 
So bat Friedrih der Große eine Prife Iabaf genommen! 
Dann fragte er den Bäder: 

‚Bas ift denn dag?’ 

„Sehr gutes Brot, Brot zweiter Klaffe.” 

„Schwarzer Hundekuchen“, fagte Gavroche verädhtlih. „Ich 
verlange Weißbrot, junger Mann. Ich babe die Herren dazu 
eingeladen.‘ 

Der Bäder mußte lächeln und betrachtete, während er bas 
Weißbrot anfchnitt, Die drei Jungen auf eine Art, die Gavroche 
irritierte. 

„Eb, Sie Semmelfonditor, paßt Ihnen vielleiht etwas 
nicht?“ 

Als das Brot abgeſchnitten war, kaſſierte der Bäcker den 
Sou, und Gavroche ſagte zu den beiden Kindern: 

„Pampft euch voll!“ 

Dann, als er ſah, daß die Jungen ihn erſchrocken anblickten: 

„Ach richtig, ſie ſind ja noch klein, ſie verſtehen das noch 
nicht“, voll Würde: „eßt, Kinderchen.“ 

Und da der Altere ihm der Anrede würdiger ſchien, über— 


+24 


reichte er ihm das größte Stüd und fagte: „Stopf' dir das in 
den Verſchluß.“ 

Sie waren hungrig, und wer lange Zähne hat, verfteht zu- 
zubeißen. 


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Dann ſetzten die Kleinen den Weg nach der Baſtille fort. 

Als ſie die Rue des Ballets erreichten, aus derem Hinter— 
grund das Gefängnis feindlich herüberdrohte, rief plötzlich eine 
Stimme: 

„Holla, biſt du es, Gavroche?“ 


„Ab, Montparnaſſe!“ 

Der andere hatte blaue Brillen aufgefest, aber Gavroche er- 
fannte ihn gleich. 

„Holla!“ rief Gavroce, ‚du haft ja blaue Brillen wie ein 
Doktor? Sehr ftilvoll, weiß Gott.” 

„Still!“ flüfterte Montparnaffe, ‚nicht fo laut.’ 

Raſch 309 er Gavrode aus dem Lichtkegel eines Schau- 
fenfters. Mechaniſch folgten die beiden Kleinen: 

„Weißt du, wo ich hingehe?“ fragte Montparnaffe. 

„Dir die Sanffrawatte anmeffen laſſen.“ 

„Quatſchkopf! Sch gebe zu Babet.“ 

„Ich dachte, der fist?! 

„Abkutſchiert!“ 

Raſch erzählte er dem Straßenjungen, daß Babet am ſelben 
Morgen bei ſeiner Überführung in die Conciergerie entſprun— 
gen war. 

Gavroche hörte alles aufmerkſam an und ſparte auch nicht 
mit ſachkundigem Lob. 

„So ein Zahnreißer!“ applaudierte er. 

Inzwiſchen hatte er den Stock, den Montparnaſſe in der 
Hand trug, ergriffen und zog den Griff heraus; eine Dolch— 
klinge wurde ſichtbar. 

„Ach du haft deinen Gendarmen in einen Frack geſteckt?“ 

Montyparnaſſe blinzelte ibm zu. 

„Willſt du denn die Polente kiefeln?“ 

„Wer weiß“, meinte Montparnaſſe kaltblütig. „Es iſt immer 
gut, wenn die Roſe ihre Dornen nicht zu Hauſe läßt. Und du, 
wohin gehſt du jetzt?“ 

Gavroche deutete auf ſeine beiden Schützlinge. 

„Bringe die Kleinen da zu Bett.“ 

„Wo denn?“ 

„Bei mir zu Hauſe.“ 

„Alſo du haſt eine Wohnung? Wo denn?“ 

„Im Elefanten.“ 


526 





„Im Elefanten?’ fragte Montparnaſſe verwundert, obwohl 
er nicht gerade zu den Naturen gehörte, die leiht in Staunen 
geraten. 

„Natürlich im Elefanten. Was ift da weiter dabei?’ 

Fest fhien Montparnaffe zu begreifen. 

„Sp, im Elefanten! Wohnt fich’s dort bequem?’ 
| ARomfortabel. Nicht diefer dumme Wind wie unter ben 
Brücken.“ 

Mn wie kommſt bu hinein? Gibt's ein Loch?“ 
„Natürlich. Aber du darfſt nicht davon ſprechen. Zwiſchen 
| ben Vorderbeinen. Die Polente bat es noch nicht bemerkt.“ 
„Ah, und da kletterſt du 'rauf?“ 

„Im Handumdrehen. Schwubbs bin ich drin! So, und jetzt 
gute Nacht! Sollteſt bu mich brauchen, kannſt bu mich ja dort 
ſuchen. ch wohne Hochparterre. Kein Portier. Du fragft nad 
Herrn Gavroche.“ 

„Gut“, erwiderte Montparnaffe. 

Dann trennten fie fit, Montparnaffe ſchlug die Richtung 
nad) dem Grèveplas, Gavrode nad der Baftille ein. 

Vor zwanzig jahren Fonnte man noch in der Südweſtecke 
des Baftilleplages ein fonderbares Denfmal feben, das inzwi- 
fhen der Dergeflenheit verfallen ift, aber doch verdient, in Er- 
innerung gebracht zu werden, denn es verdanfte feine Entftehung 
einem Antrag des „Mitglieds des Inſtituts und Fommanbieren- 
den Generals der Armee in Ägypten”. 

Mir fagten Denkmal, obwohl diefer Ausdruck nicht ganz be- 
rechtigt ift; es handelte fi) gewiflermaßen nur um den gewal- 
tigen Leichnam einer napoleonifchen dee. Die Figur des Ele- 
fanten war vierzig Fuß hoch, aus Mauerwerk aufgeführt, und 
trug auf dem Rücken einen Qurm, der einem Haus gli. Früher 
war diefer Turm grün angeftrichen gewefen, aber die Zeit und 
der Regen hatten ibn geſchwärzt. Was bas Ganze bedeuten 
follte, wußte niemand. Urfprünglich war es wohl als ein Sym- 
bol der Volkskraft gedacht. Es fab düfter, rätfelhaft und un- 
geheuerlih aus. 


527 


Mur wenige Fremde befibtigten diefes Bauwerk, und die Pa- 
rifer gönnten ihm Éeinen Blick. So verfiel e8. Jeder Winter 
Ihlug furdtbare Wunden in feine Flanfen. Die Baupolizei 
hatte fich feit 1814 nicht mehr um bas Ungetüm gefümmert. : 
Es ftand in feinem Winkel, krank und vergeflen, von einem 
morjchen Zaun umgeben, den betrunfene Kutfcher gern miß- 
braudten. Zwifchen feinen Beinen wuchs hohes Gras, 

Hierher führte Gavrode die beiden Kleinen. Er abnte wohl, 
daB bas Ungeheuer fie in Furcht jeßen mußte und fagte: 

„Keine Bange, Kleine.” 

Dann kroch er durd eine Lücke im Zaun und 309 die beiden 
hinter fit her. Sie waren wohl etwas verfchüchtert, folgten ihm 
aber wortlos und überließen fi biefer Vorfebung in Lumpen, 
die ihnen Brot gegeben und einen Unterfchlupf verfprocen hatte. 

An den Zaun war eine Leiter gelehnt, die wohl des Tags 
den Arbeitern auf dem Plage nebenan diente. Gavrode richtete 
fie mit erftaunlicher Kraft auf und lehnte fie an eines der Vor— 
derbeine des Elefanten. Gleich über dem oberen Ende der Leiter 
fonnte man ein ſchwarzes Loc erfennen, bas in den Vaud des 
Ungeheuerg führte. 

Gavrode zeigte feinen Gäften diefes Loch und fagte: 

„Bitte gütigft einzutreten!’ 

Kurz vor Morgengrauen näherte fi von der Rue Saint- 
Antoine im Lauffhritt ein Mann, überquerte den Platz der 
Baftille, Érod durch das Loc des Zauns und blieb unter dem 
Elefanten fteben. Wenn es nicht ſtockfinſter gewefen wäre, 
hätte felbft ein flüchtiger Beobachter erfennen müffen, daß biefer 
Mann eine Nacht lang im Regen geftanden hatte. est ftieß er 
einen Schrei aus, der Feiner menfchlihen Sprade angehört und 
wohl nur von einem Papagei wiederholt werden Fann. Zweimal 
rief er: 

„Kirikikiuuuuu!“ 

Auf den zweiten Schrei antwortete aus dem Bauch des Ele— 
fanten eine Knabenſtimme: 


528 





„Ja.“ 

Gleich darauf wurde ein Brett von dem Loch im Bauch des 
Elefanten weggezogen, und ein Knabe glitt an einem Bein des 
Ungeheuers herab. 

Kirikikiu galt offenbar dem Elefanten und bedeutete: Melden 
Sie mic) Herrn Gavroche. 

„Wir brauchen dich,” fagte Montparnaffe Furz, „komm!“ 

Der unge verlangte Feine weitere Aufklärung. 

„Gut, gehen wir’, fagte er. 


3. Shwierigfeiten beider Fludt 


Und folgendes gefchah in diefer Nacht im Gefängnis la Force. 

Babet, Brujon, Gueulemer und Ihenardier hatten, obwohl 
Thenardier in Einzelhaft faß, verabredet, auszubrechen. Babet 
hatte allerdings das Gefhäft am Vormittag fon auf eigene 
Rechnung gemacht, wie der Lefer aus dem Geſpräch zwiſchen 
Montyarnaffe und Gavroche entnommen hat. Montparnaffe 
follte den anderen von außen helfen. 

Brujon, der einen Monat in verfchärfter Haft gefellen hatte, 
war inzwifchen tätig gewefen; er hatte einen Strick geflochten 
und einen Plan ausgebedt. Früher wurden Sträflinge, die fi 
gegen die Difziplin vergangen hatten, in verließartigen Einzel- 
zellen untergebracht, die aus vier Steinmauern, einer Dede aus 
Stein und einem Pflafter aus Sliefen beftanden, vergitterte 
Lufen und doppelte Eifentüren hatten und nur mit einem Feld- 
bett möbliert waren; aber diefe Einzelzellen wurden fchließlich 
allzu graufam gefunden. jest beftehen fie aus einer doppelten 
Eifentür, einer vergitterten Lufe, vier Steinmauern, einer 
Dee aus Stein und einem Boden aus Steinfliefen; möbliert 
find fie item mit einem Feldbett. Unterfchied gegen früher: jeßt 
heißen fie nicht Einzelzellen, fondern Strafzellen. 

Gegen Mittag fallt fogar in diefe Räume ein wenig Licht. 
Der Nachteil, den diefe Einfperrung bietet, befteht darin, daß 


34 Hugo, Die Elenden. 529 


die Strofzellen, die — wie gefagt — Gott bewahre Feine 
Einzelzellen find, den Häftling zwar nicht zur Arbeit anhalten, 
ihn aber zum Sinnieren bringen. 

Nun, Brujon hatte finniert. Die Folge war, daß er die 
Strafzelle im Beſitz eines Stricfes verlieh. Und da er für fo 
gefährlich galt, daß ihn der Leiter des Hofes Charlemagne nicht 
haben wollte, brachte man ihn in den Meubautraft, der Vati- 
ment-Meuf genannt wurde. Hier fand er zunächft Gueulemer, 
dann einen Nagel vor: Gueulemer, bas bedeutete ein neues Ver— 
brechen, der Nagel — der verfprad die Freiheit. 

Brujon hatte feinerzeit feine Karriere als Dachdecker be- 
gonnen. Diefe Borfenntniffe kamen ibm jest um fo mehr zu- 
nuße, als zur Zeit bas Scieferdacd des Gefängniffes ausgebef- 
fert wurde. So war der Hof Saint-Bernard nicht mehr vom 
Hofe Charlemagne und Saint-Louis getrennt. Auf den Dächern 
gab es Leitern und allerlei Gerüft — oder, von einem anderen 
Gefihtspunft aus gefehen, Brücken und Treppen. 

Das Bätiment-Meuf ftrafte feinen Namen Lügen, denn es 
war bas baufälligfte, morfhefte Gebäude, dag man fi vor- 
ftellen Eonnte, geradezu die Achillesferfe diefes Gefängniffes. 
Seine Mauern waren dermaßen vom Salpeter zerfreflen, daß 
man fich gezwungen gefeben hatte, die Deden der Schlaffäle 
mit Holz zu verfleiden, weil fonft die Ziegel auf die Köpfe der 
Schläfer berabfielen. Iroß diefes elenden Zuftandes wurde dag 
Bätiment-Neuf gerade zur Unterbringung von befonders ge- 
fährlihen Verbrechern, „ſchweren Fällen‘, wie man bas in der 
Gefängnisfprache nennt, verwendet. 

Es enthielt in vier Stockwerken vier übereinanderliegende 
Schlafräume und fchließlich einen Giebel, der Bel-Air genannt 
wurde. Ein Rauchabzug führte aus dem Erdgefhoß, vielleicht 
aus einer früheren Küche, durch alle vier Stocfwerfe zum Dad, 
wo er in einem abgeplatteten Pfeiler auslief. 

Gueulemer und Brujon fchliefen im felben Saal. Vorſichts— 
halber hatte man fie im Erdgefhoß untergebraht. Es war Zu- 
fall, daß die Kopfenden ihrer Betten an den Kamin ftießen. 


530 





Thénardier faß, gerade über ihnen, in dem Giebelraum 
| Bel-Air. 

Wenn der Spaziergänger in der Rue Culture-Sainte-Ca- 
| therine, hinter der Kaferne der Feuerwehr, vor dem Tor des 
Badehauſes, ſtehenbleibt, fieht er fi) einem Hofe gegenüber, in 
| bem in allerlei Kübeln Pflanzen gezogen werden und in deffen 
Hintergrunde ein Éleiner, weißer Nundbau mit grünen Fenfter- 
läden fihtbar wird. Diefes Haus gleiht einem bufolifchen 
Traum Mouffeaus. Und doch ftieg vor Faum zehn Jahren hinter 
dieſem Rundbau eine gewaltige Fable, ſchwarze Mauer auf, an 
die er gelehnt war. 

Es war die Mauer des Nondenweges um die Force. 

So hoch diefe Mauer auch war, wurde fie doch von einem 
noch fehwärzeren Dach überragt — dem Giebel des Bätiment- 
Meuf. Man Fonnte fogar mit freiem Auge die vergitterten 
Lufen des Gichels und den Schornftein ausnehmen. 

Bel-Air, der Giebel des „Neubaues“, war ein großer, in 
Manfarden geteilter Naum, der durch dreifache Gitter und dop- 
pelte, eifenbefchlagene Türen verfichert war. 

In einem der Käfige diefes Giebelraums war feit der Nacht 
des dritten Sebruars Ihenerdier untergebracht. Niemals ift 
berausgebradt worden, wie und mit weflen Hilfe er fid eine 
Slafhe jenes angeblih von Desrues erfundenen Weines ver- 
Ihaffen Fonnte, bem ein Schlafmittel beigemengt ift und der 
fpäter durch die berühmte Bande der ‚„Einfchläferer‘‘ Elaffifch 
geworden ift. 

In vielen Gefängniffen gibt es verräterifhe Deamte, die 
halb Kerfermeifter, halb Verbündete der Häftlinge find und 
den Gefangenen bei ihren Ausbruchsverfuchen behilflich find. 

In eben jener Nacht, in der Gavrode die beiden umber- 
irrenden Kinder auflas, erwarteten Brujon und Gueulemer, 
die von Babets Flucht bereits wußten, die Mitternachtsftunde, 
erhoben fid dann leife aus ihren Betten und begannen mit Bru- 
jons Magel das Seislod des Kamins zu erweitern. Wohl er- 
wachten einige Gefangene von dem Lärm, ftellten fi) aber 


— 531 


flafend und ließen Gueulemer und Brujon gewähren. Brujon 
war gefchieft, Gueulemer ftarf. Bevor der Auffeher in feiner 
vergitterten Zelle etwas hören und burd das Genfter in ben 
Schlafſaal fehen Éonnte, waren die beiden Burfchen bereits auf 
dem Dad. Megen und Sturm hatten zugenommen. 

„Eine ſchöne Naht, um auszurücken“, meinte Brujon. 

Ein Libthof von fehs Fuß Breite und achtzig Fuß Tiefe 
trennte die beiden von der Mauer des Mondenwegs. In der 
Tiefe faben fie das Gewehr eines Poftens funfeln. Sie befeftig- 
ten das eine Ende des Stricks, ben Vrujon in der Strafzelle 
geflochten hatte, am Gitter des Schornfteing, warfen das an- 
dere über die Rondenmauer, überquerten den Abgrund, Elam- 
merten fit an einen Mauervorfprung und gelangten fchließlic 
auf ein Fleines Dad, das an bas Badhaus ſtieß. Vebt zogen 
fie ihren Strid nad, fprangen in den Hof des DBadhaufes, 
ftießen die Zür auf und waren auf der Straße. 

In fnapp drei Vicrtelftunden hatten fie bies alles bewerf- 
ftelligt. 

Einige Augenblide fpäter waren fie auf Babet und Mont- 
parnafle geftoßen. 

Als fie den Strick nachzogen, war er zerriffen und ein Stüd 
blieb am Schornftein hängen. Übrigens hatten die beiden Aus— 
brecher fi, von einigen Hautabfhürfungen an den Händen ab- 
gefeben, Feine Verwundung zugezogen. 

Thénardier war, ohne daß man fpäter erfahren Fonnte, von 
wen, über diefen Fluchtplan unterrichtet und fchlief nicht. Gegen 
ein Uhr nachts, es war ftocfinfter, fab er auf dem Dad) gegen- 
über feiner Lufe zwei Schatten. Einer blieb eine Sefunde lang 
fteben. Es war Brujon. Ihenardier erfannte ibn und begriff 
alles. Er hatte genug gefehen. 

Da Tbénardier unter Anklage ftand, planmäßig einen be- 
waffneten Überfall unternommen zu haben, wurde er ftreng 
bewacht. Ein Poften, der alle zwei Stunden abgelöft wurde, 
ging mit geladenem Gewehr vor feinem Käfig auf und ab. Im 
Bel-Air brannte die ganze Macht über eine Lampe. Der 


932 





Gefangene fchleppte an feinen Füßen ein paar fünfzig Pfund 
ihwere Eifengewichte. Täglich um vier Uhr nadhmittags befudte 
ihn ein Wärter mit zwei Doggen (das war damals nod üblich), 
trat in feine Zelle, legte ein zweipfündiges Schwarzbrot auf den 



























































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Boden, prüfte die Gewichte, und beflopfte die Gitterftäbe. Und 
zweimal des Nachts Fam diefer Mann mit feinen beiden Dog- 
gen zur Kontrolle an Tbénardiers Tür. 

Dod hatte Ihenardier die Erlaubnis erhalten, eine Art 
Magel zu behalten, mit dem er das Brot an die Wand nagelte, 


533 


um es, wie er fagfe, vor den Matten zu ſchützen. Da Thénar- 
dier beftändig unter den Augen des Wachtpoſtens war, hatte 
man feinen Anftoß daran genommen, ihm diefe Gunft zu ge- 
währen. Später allerdings erinnerte man fi), daß einer der 
Wächter Einwände gemacht hatte: 

‚Mon Fönnte ibm ja ebenfogut einen Holzpflod geben...” 

Um zwei Uhr morgens wurde der alte Soldat, der feit Mit- 
ternacht Poften geftanden hatte, durch einen Mefruten erfest. 
Kurz naher machte der Mann mit feinen Doggen den zweiten 
Rundgang, bemerkte aber nur, daß der Wachtpoften fehr jung 
und recht bäuriſch ausfah. Zwei Stunden fpäter, um vier Uhr, 
wurde diefer Rekrut abgelöft. Man fand ibn auf dem Boden 
liegend und fchlafend. Und Thénarbdier war nicht mehr da. Seine 
Zußgemwichte, deren Klammern durchbrochen waren, lagen auf 
dem Boden. In der Dede fand man ein Lob. Ein Brett aus 
feiner Pritfhe war herausgeriffen und offenbar mitgenommen 
worden, denn es war nicht mehr zu finden. Schließlic entdeckte 
man in der Zelle eine halbvolle Slafhe von jenem Wein, mit 
dem der Poften betäubt worden war. Auch das Bajonett des 
Soldaten fehlte. 

As diefe Feftftellungen gemacht wurden, glaubte man, Tbé- 
nardier fei inzwifchen über alle Berge. Er befand ſich in der 
Tat nicht mehr im Vâtiment-Meuf, fchwebte aber noch immer 
in großer Gefahr. 

Wohl hatte er auf dem Dach des Haufes den Reſt jenes 
Stricks gefunden, an dem Drujon binabgeflettert war, aber bie- 
fer Strick war viel zu kurz und reichte nicht bis zur Nonden- 
mauer. 

Menn man aus der Mue des Ballets in die Rue du Noy-de- 
Sicile einbiegt, fo bat man zur Rechten eine dunfle Mulde. 
Auf diefer Stelle ftand im vorigen Jahrhundert ein Gebäude, 
von dem auch damals nur mehr die drei Stoff hohe Sinter- 
wand übriggeblieben war. Diefe Ruine zeigte nod zwei Fenfter. 

Die Abbruchftelle war von einem morfchen Bretterzaun um- 
friedet; an der Straßenfeite ftand eine Éleine Barade. Die Tür 


934 


im Zaun war noch vor einigen fahren mit einer Klinfe ver- 
feben. 

Auf bem Firft diefer verfallenen Mauer landete Ihenardier 
gegen drei Uhr morgens. 

Mie war er da hingelangt? Hatte er fich der Leitern bedient, 
welche die Dachdecker zurücgelaffen hatten, und war mit ihrer 
Hilfe über den Hof Charlemagne, den Hof Saint-Louis und die 
Mondenmauer hierher gelangt? Diefe Strede zeigte Klüfte, die 
unüberbrücbar fchienen. 

Es ift oft fhier unmöglich, die erftaunlichen Leiſtungen ent- 
fpringender Sträflinge zu begreifen. Der Mann, der aus Ker- 
Éerbaft flieht, ift infpiriert. Er bat feinen befonderen Stern, 
der über diefer geheimnisvollen Flucht leuchtet. 

Mie dem auch fei, jest ſaß Ihenardier fchweißtriefend, vom 
Regen durchnäßt, mit zerfeßten Kleidern, zerfchundenen Händen, 
Knien und Ellbogen, auf dem Giebel jener Mauer. Er legte fi) 
der Länge nad bin, denn er war zu Tode erfchöpft. 

Iotenblaß, verzweifelt, wartete er, von dem Gedanken ge- 
peinigt, daß es nun bald tagen würde; binnen kurzem würde es 
von der benachbarten Kirche Saint-Paul vier Uhr fehlagen, 
dann würde der Wachtpoſten bei der Ablöfung fehlafend gefun- 
den. Er bliefte in die Tiefe, ftarrte auf bas naſſe, ſchwarze 
Straßenpflafter hinab, bas ihm den Tod androhte und doch die 
Freiheit verfprad. 

Hatten feine drei Komplicen, denen die Flucht geglüdt war, 
ihn bemerkt, würden fie ibm zu Hilfe fommen? Er laufte. 
Aber außer einer Polizeiftreife war feit einer Stunde niemand 
durch die Straße gefommen. 

Es fhlug vier Uhr. Ihenardier zitterte. Kurz hernac hörte 
er aus dem Gebäude des Gefängniffes jenen verworrenen Lärm, 
der immer einem entdecften Fluchtverfuch folgt. Türen wurden 
zugefchlagen, Gitter Énarrten in den Angeln, Poften eilten bin 
und ber, Gewehrfolben wurden auf den Boden geftoßen. Durch 
die Fenfter fab man Lichter freppauf, treppab huſchen; die 
Feuerwehr war aus der benachbarten Kaferne geholt worden, 


535 


und die Helme glißerten im Widerfchein der Fadeln auf dem 
Dad. Gleichzeitig bemerkte Ihenardier von der Baſtille ber- 
über einen fablen Lichtfchein, der am Horizont den Tag an- 
kündigte. 


In feiner Angſt gewahrte er plötzlich in der Straße, die no 
im Dunkeln lag, einen Mann, der an den Mauern entlang 
ſchlich, von der Rue Pavée herüberkam und den Bauplatz betrat, 
der an Thénardiers Mauer ſtieß. Dieſem Mann folgte ein 
zweiter, der eben ſo vorſichtig näher kam, dieſem ein dritter und 
vierter. Als ſich die Leute wieder vereinigt hatten, klinkten ſie 
die Tür in dem Zaun auf und traten in den Schatten der 
Parade. est ftanden fie direft unter Ihenardier. Offenbar 
hatten fie diefen Platz gewählt, um unbeactet beraten zu Fön- 
nen. Ihenardier Eonnte ihre Gefihter nicht ausnehmen, borcte 
aber mit den ſcharfen Ohren des Derzmweifelten, der Feine Ret— 
fung mehr erhofft. 

Test fhimmerte ihm ein Hoffnungsftrahl entgegen. Diefe 
Leute fpraden Argot. 

„Abſchrammen“, fagte der erfte. „Hier ift nichts zu drehen.” 

„Es regnet, daB das Feuer des Teufels ausgehen Fönnte. 
Die Polente wird gleich vorbeifommen. Da drüben fteht aud 
einer. Beſſer wir hauen ab.’ 

„arten wir doc ein bißchen,’ meinte der dritte, „es brennt 
nicht. Wer weiß, ob er uns nicht noch braucht.“ 

Sept erkannte Ihenardier Montparnaffe, der eine gewähltere 
Sprache bevorzugte. Es waren feine Freunde. 

Brujon antwortete ungeduldig, aber immer nod Teife: 

„Bas du dir wieder ausgedacht haft! Der Sbubiaf ftellt 
ſich dämlich an. Der hat's noch nicht heraußen.“ 

„Aber man läßt feine Freunde nicht fo einfach ſitzen“, er- 
widerte Montparnaffe mürrifd. 

„Wir Éônnen ger nichts für ihn tun,” meinte Srujon, „fort 
mit Schaden! Jeden Augenblid Éann die Hand auf unferer 
Schulter Tiegen.” 


536 


Montparnaffe leiftete nur fhwahen Widerftand. In der Tat 
hatten die vier Männer mit jener Treue, die gerade Verbrecher 
auszeichnet, eine ganze Nacht im Bereich der Force zugebradt, 
was für fie immerhin gefahrvoll war; bis jest hatten fie ge- 
hofft, Thenardier irgendwo auf einer Mauer auftauchen zu 
feben. Nun aber verloren fie die Hoffnung, und fogar Mont- 
parnaffe, der ein bißchen Ihenardiers Schwiegerfohn war, gab 
nad). Einen Augenblick nod, und fie würden gehen. Tbénar- 
dier Feuchte auf feiner Mauer vor Angft wie ein Schiffbrüdi- 
ger auf feinem Floß, der die Segel eines Schiffs am Horizont 
vorübergleiten fieht. 

Zu rufen wagte er nicht, denn ein einziger Schrei Eonnte 
alles verderben. et Fam ihm ein Gedanke. Er 309 Vrujons 
Strick aus der Safe und warf ihn in die Tiefe. 

Der Sirid fiel den vier Männern zu Füßen. 

„Hola, eine Witwe”, fagte Babet. 

„Ein Onfel”, fagte Brujon. 

„Das ift der Wirt”, fagte Montparnaffe. 

Sie fahen hinauf. Thenardier ſchob feinen Kopf vor. 

„Raſch,“ flüfterte Montparnaffe, „haſt du das Stridfende, 
Brujon?‘ 

„Ja.“ 

„Knüpf' die beiden Stricke zuſammen, dann werfen wir das 
Ganze hinauf, er kann es feſtmachen und daran berunter- 
rutſchen.“ 

Thénarbier wagte jetzt, lauter zu ſprechen. 

„Ich bin ganz klamm.“ 

„Wir werden dir ſchon einheizen.“ 

„Kann mich nicht rühren.“ 

„Laß dich abrutſchen, wir fangen dich auf.“ 

„Hab' die Hände ſteif.“ 

„So binde wenigſtens den Strick an die Mauer.“ 

„Ich kann nicht.“ 

„Einer von uns muß hinauf“, meinte Montparnaffe. 

„Drei Stockwerke!“ wandte Brujon ein. 


537 


Ein altes Ofenrohr ftieg von der Parade an der Mauer bin- 
auf, faft bis zu bem Plas Ihenardiers. Es war brüdig und 
ſehr ſchmal. 

„Vielleicht kommt man da hinauf?‘ fragte Montparnaffe. 

„An der Röhre?“ fragte Babet. „Ein Kerl nicht. Höchftens 
ein Bub.’ 

‚Aber wo nehmen wir einen Buben her?’ 

„Wartet,“ fagte Montparnaffe, ‚ich febe einen Ausweg.’ 

Vorſichtig Flinfte er die Tür auf, fpähte in die Straße bin- 
aus und lief dann in der Richtung auf die Baftille. 

Sieben oder acht Minuten, die Ihenardier wie Sahrtaufende 
erfhienen, verftrichen. Babet, Brujon und Gueulemer fanden 
verbiffen da. Endlich ging die Tür auf und Montparnaffe er- 
ihien atemlos. Er bradte Gavrode. Da es noch immer heftig 
regnete, war die Straße menfchenleer. 

Der Fleine Gavroche trat unbefangen näher. Das Waſſer 
troff ibm aus den Haaren. Gueulemer redete ihn an: 

„Dub, bift du ein Mann?’ 

Gavroche zudte die Achfeln. 

„Ein Bub wie ich ift ein Mann, und Männer wie ihr find 
Buben.’ | 

„Der unge bat feine Furze Zunge”, meinte Babet. 

„In Paris find die Kinder nicht auf den Mund gefallen‘, 
verfiherte Brujon. 

Bas wollt ihr?’ fragte Gavroche. 

‚Du folft da an dem Mohr 'rauf“, erklärte Montparnaffe. 

Mit 'm Stüf Witwe.” 

„Und oben das Seil vertäuen.‘ 

„Und dann?’ fragte Gavroche. 

„Das iſt alles.’ 

„Willſt du?“ fragte Brujon. 

Dem Jungen ſchien die Frage albern. Er zog ſtumm die 
Schuhe aus. 

Gueulemer packte Gavroche, hob ihn auf das Dach der 
Baracke, deren morſche, wurmſtichige Bretter ſich unter dem 


538 


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Gewicht des Knaben bogen, und warf ibm den Strid zu, deffen 
Enden Brujon inzwifchen verfnotet hatte. In diefem Augen- 
blick beugte fi Ihenardier vor und man fab fein fables Gefibt. 

Gavroche erfannte ihn. 

Hola, bas ift ja Papa, dachte er, na, wenn fchon! 

Dann nahm er den Strick zwifchen die Zähne und Életterte 
hinauf. | 

Bald fa er rittlings auf der Mauer und befeftigte den Strid 
am Querbalfen des einen Fenfters. 

Einen Augenblick fpäter ftand Ihenardier auf der Straße. 

Sobald feine Füße den Boden berührt hatten, fühlte er 
weder Müdigkeit noch Angft. Alle Schrecken wichen wie Nebel 
von ihm, fein graufamer Serftand erwachte, und feine erfte 
Trage war: 

„Habt ihr noch für heute was vor?’ 

Gavroche faß in der Ede und 309 fich feine Schuhe an. Als 
er fab, daß die Männer fich nicht mehr um ibn Fümmerten, ging 
er. Er verfhwand um die Ede der Rue des Ballets. Jetzt 
nahm Babet Thenardier beifeite. 

„Haft du dir den Buben angefehen?‘ 

„Welchen Buben?‘ 

„Der dir den Strick gebracht bat? 

„Sicht näher.” 

„Ich weiß nicht, aber ich glaube, e8 war dein Sohn.’ 

„Wirklich?“ 


Fünftes Buch 
freude und Leid 


l. Im Glanz ... 


Wie der Leſer geſehen hat, war Eponine, als ſie das Haus 
in der Rue Plumet entdeckte, zunächſt nicht darauf verfallen, 
die Banditen dahin zu führen; ſie bemühte ſich ſogar, ihr 


539 


Gebeimnis zu bewahren. Dann hatte fie Marius dahin gebracbt. 
Der hatte tagelang das Gitter bewacht und war fehließlich, wie 
Momeo in Julias Garten, eingedrungen. Mur hatte er es 
leichter gehabt als Romeo, denn diefer mußte eine Mauer über- 
fteigen, Marius aber braudte nur eine morſch gewordene 
Stange aus dem Gitter zu löfen und fit durchzuzwängen. Er 
war fhlanf. Da die Straße, wie wir bereits fagten, wenig be- 
gangen war, lief Marius faum Gefahr, bei feinen nächtlichen 
Befuhen bemerkt zu werden. 

Seit jener feligen Stunde, da ein Kuß das Derlöbnis der 
beiden jungen Leute befiegelt hatte, Éam Marius jeden Abend. 
Wenn Eofette damals einem gewiflenlofen Lüftling verfallen 
wäre, wäre fie verloren gewefen. E8 gibt unter den Frauen 
großmütige Herzen, die fih verfchwenden, und Coſette zählte 
zu ihnen. 

Aber Gott wollte, daß diefe Liebe Coſette nicht verderben, 
fondern retten follte. 

Solange der Mai diefes Jahres 1832 dauerte, faßen die 
beiden allnädhtlich in dem wilden Garten, in ihrer feufchen Un- 
Ihuld, trunfen von allen Freuden des Himmels, eher Erzengeln 
gleich als Menfchen, rein und ftrahlend. Sie fahen einander an, 
hielten einander an der Hand, drücten fi) aneinander — aber 
fie mieden die Gefahr, die fie felbft nicht fannten. Für Marius 
war Cofettes Reinheit eine Schranfe, Eofette fühlte fi fiber 
unter Marius’ Schuß. Der erfte Kuß war auch der lehte ge- 
wefen. Kaum daß Marius jest ihre Hand, ihren Schal oder 
eine ihrer oden an feinen Mund zu drücen wagte. Cofette war 
für ihn ein Duft und nidt eine Frau. Er atmete fie ein. Sie 
verfagte ihm nichts, und er verlangte nichte. 

Mas fie miteinander fprahen? Jene arglofen Nichtigkeiten, 
die nur ein fohlechter und törichter Menfh nie gehört und nie 
gefagt hat. 

„Weißt bu auch, ich heiße Euphrafie”, fagte Cofette. 

„Eupbrafie? Aber nein, du heißt doch Coſette.“ 

„Gar nicht, Cofette ift ein ganz gewöhnliher Name, den 


>40 


man mir als Kind gegeben bat. In Wirflichfeit heiße id 
Euphrafie. Gefällt dir bas nicht?” 

„Doch, aber Eofette ift gar nicht fo gewöhnlich.” 

„Alſo gefält dir Eofette beffer als Euphraſie?“ 

„Doch.“ 

„Dann will ich auch lieber ſo heißen. Wirklich, Coſette iſt 
recht hübſch. Nenne mich Coſette.“ 

Und das Lächeln, das dieſer Aufforderung folgte, machte die— 
ſes Geſpräch zu einer Idylle im Himmel. 

Ein andermal ſagte Marius: 

„Stell' dir vor, ich glaubte lange Zeit, daß du Urſule heißt.“ 

Darüber lachten ſie einen Abend lang. 


2. Schatten 


Jean Valjean ahnte nichts. 

Coſette war nicht ganz ſo träumeriſch veranlagt wie Marius. 
Oft war ſie heiter, und das genügte, um Jean Valjean glück— 
lich zu machen. Ihre Gedanken, ihre zärtlichen Regungen, das 
Bild Marius', das ihre Seele erfüllte, alles dies konnte der 
unvergleichlichen Reinheit ihrer ſchönen, keuſchen, lächelnden 
Stirn keinen Abbruch tun. Und Jean Valjean war ruhig. 

Wenn zwei Liebende gut miteinander ausfommen, fo geht 
alles glatt. Auch der dritte, der ihr Glück ſtören könnte, wird 
leicht mit Hilfe dieſer Vorſichtsmaßregeln, die alle Verliebten 
kennen, in Ruhe gehalten. Niemals widerſetzte ſich Coſette einem 
Wunſch Jean Valjeans. 

Er wollte ſpazierengehen. 

„Gewiß doch, Väterchen.“ 

Nein, er wollte doch lieber zu Hauſe bleiben. 

„Sehr gern.“ 

Er wollte einen Abend bei Coſette verbringen. 

Sie war entzückt. 

Da er ja doch um zehn Uhr abends ging, kam Marius an 


541 


folen agen erft fpäter, fobald er hörte, daß die Tür zu der 
Sreitreppe geöffnet wurde. 

Am Tag lieh fit Marius nie fehen. Jean Valjean dachte 
nie mehr daran, daß es einen Marius gab. Und die alte Touf- 
faint, die früh zu Bett ging, hatte einen feften Schlaf. 

Um Mitternacht Éebrte dann Marius nad Haufe surüd. 
Courfeyrac fagte zu Bahorel: 

„Wirſt du es mir glauben, Marius fommt jeßt immer gegen 
ein Uhr morgens nach Haufe.” 

„Was willft du denn?’ antwortete Bahorel, „in jedem 
Seminariften ſteckt ein Fuchs.“ 

Einmal fab Courfeyrac Marius ftreng an und fagte: 

„Site führen einen unordentlihen Wandel, junger Mann!’ 

Denn Eourfeyrac war ein praftifcher Menfh und hatte für 
bas unfihtbare Paradies Marius’ Fein Verftändnis. 

‚Mein Lieber,‘ fagte er eines Morgens, „es kommt mir ganz 
fo vor, als ob du jest am Monde wobnteft im Königreich 
Zraumland, Provinz Illuſionien, Hauptftadt Seifenblafe. Sag’ 
mal, mein unge, wie heißt fie denn?’ 

Aber er Fonnte Marius nicht zum Sprechen bringen. 

MWährend diefes füßen Maimonats genoffen Marius und Co- 
fette allerlei Glück. Sie sanften miteinander und fagten Sie, 
nur um fich fpäter auf Du zu verftändigen. 

Sie führten lange Gefpräde über Leute, die ihnen vollfom- 
men gleichgültig waren. Und das mag ein neuerlicher Beweis 
dafür fein, daß au bei der entzücfenden Oper, die fit Liebe 
nennt, dag Libretto Feine Rolle fpielt. 

Marius hörte zu, wenn Cofette von Kleiderftoffen ſprach. 

Eofette lauſchte Marius, wenn er politifhe Anfichten ent- 
wicfelte. 

Ober fie fehwiegen, und das war am füßeften. 

Und doch drohten Wirrungen. 

Eines Abends fpazierte Marius über den ‘Boulevard des 
Snvalides, um fi zu feinem Stelldihein zu begeben. Wie 


542 


gewöhnlich, ging er gebückt. Als er an die Ede der Rue Plumet 
fam, hörte er fagen: 

„Guten Abend, Herr Marius!‘ 

Er blifte auf und erfannte Eponine. 

Die Begegnung wirfte fonderbar auf ihn. Er hatte feit dem 
Tage, da fie ihn nach der Aue Plumet geführt, nicht mehr an fie 
gedacht. Gewiß hatte er nur Anlaß, ihr dankbar zu fein, aber 
troßdem war e8 ihm unangenehm, ihr zu begegnen. 

„Ach Sie find es, Eponine!“ 

‚Barum fagen Sie ‚Sie‘ zu mir. Habe ih Ihnen etwas 
Böſes getan?” 

„Nein.“ 

Gewiß, er hatte nichts gegen ſie. Ganz und gar nicht. Nur 
wollte er ſie nicht mehr duzen, ſeit er zu Coſette „du“ ſagte. 

Da er ſchwieg, rief ſie: 

„Sagen Sie bob ...“ 

Dann ſtockte ſie. Es war, als ob dieſem ſonſt ſo tapferen, ja 
ſogar frechen Geſchöpf Worte fehlten. Eponine wollte lächeln, 
aber ſie konnte nicht. 

„Nun?“ 

Wieder blickte ſie zu Boden. 

„Guten Abend, Herr Marius“, ſagte ſie endlich und ging. 


3. Der Hund bewacht den Garten 


Wir müſſen jetzt, da ernſte Ereigniſſe bevorſtehen, und ſchwere 
Wolken ſich über dem Horizont von Paris zuſammenziehen, ge— 
nauere Daten angeben. 

Am nächſten Tag, dem 3. Juni 1832, ging Marius bei ein— 
brechender Nacht ſeinen gewohnten Weg. Wieder begegnete er 
auf dem Boulevard Eponine. 

An zwei aufeinanderfolgenden Tagen? Das war zuviel. 

Er wandte ſich ab und erreichte durch die Rue Monſieur die 
Rue Plumet. 


543 


Die Folge war, daß Eponine ibm nachging, was fie bisher 
nod nie getan hatte. Smmer hatte fie ſich begnügt, ihn zu fehen, 
hatte fogar darauf verzichtet, ihn anzureden. Mur geftern hatte 
fie das Wort an ihn gerichtet. | 

Sie fab, wie er die Gitterftange herausnahm und in ben 
Garten flic. 

Hola, date fie, er geht in bas Haus. 

Aud fie eilte zu dem Gitter, betaftete die Stangen und fand 
leicht jene, die Marius gelocert hatte. 

nStebengeblieben, Liſette!“ murmelte fie traurig. 

Sie feste ſich auf den Gitterfodel, als ob fie das Haus be- 
wahe. Der Winfel war dunfel, Eponine verfchwand voll- 
fommen. 

So faß fie etwa eine Stunde, ohne fih zu rühren, ja faft 
ohne zu atmen und fann. 

Gegen zehn Uhr abends Fam einer der zwei oder drei Leute, 
die genötigt find, die Rue Plumer zu durchqueren, ein alter 
Bürger, baftig an biefer übelbeleumundeten Stelle vorbei. 
Plöslich hörte er eine dumpfe Stimme murmeln: 

„Jetzt ſtaune ich micht mehr, daß er alle Abend diefen 
Meg geht." 

Der Paſſant blickte um fib, fab aber niemand und wurde 
furchtſam. Raſch ging er weiter. 

Es war Elug von ibm, fi zu beeilen, denn gleih nachher 
famen fehs Männer, einzelmeife des Wegs. Vor dem Haufe 
Sean Valjeans blieb der erfte ftehen und wartefe auf die 
andern. 

„Hier ift es“, flüfterte einer. 

„Iſt ein Hund im Garten?‘ 

„Ich weiß nicht. jedenfalls babe ich eine Boulette mit- 
gebracht, die wir ibm anbieten können.“ 

„Haft du Kitt, damit wir bas Fenfter eindrücen können?“ 

„Ja.“ 

„Das Gitter iſt alt”, ſagte einer mit einer Bauchredner— 
ſtimme. 


544 


„Um fo beffer. Es wird nicht fehreien, wem man es 
durchſägt.“ 

Der ſechſte hatte bis jetzt den Mund noch nicht aufgetan. Er 
prüfte das Gitter, rüttelte an allen Stäben und gelangte 
ſchließlich zu jener Stange, die Marius gelockert hatte. In 
dieſem Augenblick griff eine Hand aus dem Dunkel nach ſeinem 
Arm, und eine Stimme ſagte heiſer: 

„Vorſicht, Hund!“ 

Der Mann ſah ein blaſſes Mädchen vor ſich ſtehen. 

Er fuhr zurück. 

„Wer iſt denn das?“ ſtotterte er. 

„Deine Tochter.“ 

Es war Eponine, die mit Thénardier ſprach. 

Sest Éamen auch Claquefous, Gueulemer, Babet, Mont- 
parnaffe und Brujon leife näher. Jeder hatte irgendein Gerät 
in der Hand. 

„Bas fol denn das bedeuten? Was haft du denn hier zu 
fuchen? Bift du verrüct?‘ fuhr Ihenardier feine Tochter fo 
laut an als man flüftern fonnte. „Warum ftörft du uns bei 
der Arbeit?’ 

Eponine lachte und legte ibm den Arm um den Hals. 

„Ich bin da, weil id da bin, Papaden. Darf ich vielleicht 
nicht auf einem Stein fißen? Ihr ſolltet nicht hier fein, denn 
ich babe euch doch gefagt, das ift Zwiebaf! Magnon bat es euch 
beftellt. Aber Fü” mich bob, Papachen, wir haben uns ja fo 
lange nicht gefehen! Du bift alfo heraußen?“ 

Thénarbdier ſuchte fit aus ihren Armen zu befreien und 
. murmelte: 

„But, gefüßt haft bu mich ja fon. Ja, ich bin heraußen. 
Jetzt pad” did fort.‘ 

Aber Eponine wurde zärtlicher. 

„Wie bift du denn nur losgekommen?“ fragte fie, „du mußt 
ja ordentlich fhlau fein, daß bu da ausgerüdt bift. Und die 
Mutter? Wo ift denn Mama? Erzähl’ mir, wie es Mama geht. 

„But. Ich weiß nicht. Laß mich in Ruhe und fher” dich fort.“ 


35 Hugo, Die Elenden. 545 


„Ich will aber jeßt nicht geben‘, fhmollte Eponine wie ein 
verzogenes Kind. „Du ſchickſt mich fort, jeßt, wo ich dich nad) 
vier Monaten wiederfehe und nad Herzensluft Eüffen kann!’ 

Mieder fiel fie ihm um den Hals. 

„Das ift mir denn doch zu blöd!“ Ichimpfte Babet. 

„Macht raſch!“ verlangte Gueulemer, „die Polente kann 
gleich vorüberfommen!” 

Eponine wandte fih um. 

„Ad, Herr Brujon! Und auch Sie Herr Babet! Guten Tag, 
Herr Claquefous! Erkennen Sie mi denn nit mehr, Herr 
Gueulemer? Wie geht's, Montparnaffe?” 

n Do, fie erkennen dich,” fagte Ihenardier, „aber jeßt guten 
Abend, fort mit dir! Laß uns in Ruhe.” 

„Das ift eine Stunde für die Füchfe, nicht für die Hühner”, 
fagte Montparnaffe. 

„Du fiehft doc, daß wir hier ein Ding drehen wollen!’ 

Eponine griff nah Montparnaffes Hand. 

„Vorſicht, du wirft dich ſchneiden,“ fagte er, „ich halte ein 
offenes Meſſer.“ 

„Mein lieber, Eleiner Montparnaffe, fagte Eponine fanft, 
„iwgendeinem muß man fohließlid auch trauen. Ich bin doch die 
Tochter meines Vaters. Sie haben mich beauftragt, dieſe Sade 
auszuforfhen, Herr Gueulemer.“ 

Eponine fheute den Argotausdrud. Seit fie Marius Fannte, 
mied fie die Sprache der Verbrecherwelt. 

Sie drüdte Gueulemers Hand. | 

„Sie wiflfen, daß id nicht dumm bin. Sonft hat man mir 
immer geglaubt. Sch babe Ihnen manchen Dienft erwiefen. Hier 
im Haufe weiß ih Beſcheid, Sie bringen fi nur unnüß in Ge- 
fahr. Nichts zu holen.‘ 

„Es find nur Weiber drin! 

‚Stein, die Leute find ausgezogen.‘ 

„Aber die Kerzen haben fie brennen laſſen“, antwortete 
Babet und deutete auf ein Licht in der Manfarde. Touffaint 
war noch nicht zu Dett gegangen. 


546 


„Das find die neuen, ganz arme Leute. Keinen Sous 
im Haug.‘ 

Geh zum Teufel!” fagte Ihenardier. „Wenn wir das Haus 
durchgefucht haben, vom Keller bis zum Boden, werden wir dir 
jagen, ob e8 was darin gegeben bat oder nicht.‘ 

Er ftieß fie zur Seite. 

„Herr Montparnaſſe!“ rief Eponine, „ich bitte Sie, feien 
Sie nett, gehen Sie nicht dahinein.“ 

„Jetzt her” dich zum Teufel, Bieſt!“ ſchrie Thenardier, „wir 
Männer haben hier zu tun.’ 

Eponine gab Montyarnaffes Hand frei und fagte: 

„Ihr wollt alfo unbedingt in biefes Haus?‘ 

„Ein wenig‘, antwortete der Bauchredner höhniſch. 

Test lehnte fie fih an das Gitter, fab den fes bis an die 
Zähne bewaffneten Banditen, die in der Finfternis wie Teufel 
ausfahen, ruhig ins Gefiht und fagte leife aber feft: 

„Gut, und ich will, daß ihr nicht hineingeht.“ 

Alle blieben erftaunt fteben. Nur der Bauchredner lachte noch. 

„Freunde,“ fagte fie wieder, „ich Tpreche jeßt. Wenn ihr aber 
an dieſes Gitter Fommt und in den Garten geht, dann werde id) 
fhreien, an alle Türen fehlagen, die ganze Stadt aufwecken und 
euch alle fes den Doliziften ausliefern.“ 

„Das trau’ ich ihr zu‘, Flüfterte Thenardier Brujon zu. 

„And meinen Vater zuallererſt!“ Tbénardier ging auf 
fie los. 

„Sicht fo nahe, guter Mann!’ 

„Bas bat fie denn nur, diefe verfluchte Hündin’, fagte er, 
trat aber zurück. 

Sie late höhniſch. 

„Die du fiehft, Eommft du doch nicht dahinein. Ich bin Feine 
Hündin, denn ich bin die Tochter eines Wolfes. hr feid feche, 
aber daran liegt mir nichts. hr feid Männer, ich bin eine 
Frau. Vor euch fürchte ich mich noch lange nicht. Ich fage eucb, 
daß ihr hier nicht hereinfommt, weil ich es nicht will. Geht ihr 
näher heran, fo belle ih. Der Hund, fage ich euch, bin ih. Um 


4 547 


euch kümmere ih mich nicht. Geht wohin ihr wollt, aber nicht 
bierber. hr ſtoßt mit dem Mefler zu, ih mit dem Fuß! 
Kommt doch!’ 

Jetzt verlegte fih Ihenardier aufs Verhandeln. 

„Sprich doch nicht fo laut”, fagte er. „Du willft mi doch 
nicht wirflid an der Arbeit hindern. Don etwas müfflen wir 
doch eben. Fühlft du denn gar nichts für deinen Vater?“ 

„Du baltft mid) wohl für blöd!‘ 

„Wir müffen doch was zu effen haben.’ 

„Verreckt!“ 

Die ſechs Männer zogen ſich in den Schatten zurück und be— 
rieten. Das Mädchen beobachtete ſie ruhig. 

„Es iſt etwas mit ihr los,“ ſagte Babet, „ſie hat etwas. Iſt 
ſie verliebt? Es wäre ſchade, wenn uns dieſe Sache zu Eſſig 
würde. Zwei Weiber und ein alter Mann im Hinterhof, und 
fabelhafte Gardinen! Der Alte ſcheint ein Jud' zu ſein. Sicher 
ein gutes Geſchäft.“ 

„Gut, dann geht ihr hinein, ich bleib bei dem Mädel, und 
wenn fie ſich rührt ...“ 

Das Meſſer blinkte in Montparnaſſes Hand. 

Thénardier ſagte fein Wort, ſchien aber einverſtanden. 

Brujon galt ein wenig für das Orakel der Bande. Er hatte 
ſich noch nicht geäußert. Man wußte, daß er vor nichts zurück— 
ſchreckte, und einmal hatte er aus purer Ruhmſucht einen 
Polizeipoſten ausgenommen. Übrigens dichtete er und erfreute 
ſich darum großen Anſehens. 

„Was hältſt du davon?“ fragte Babet. 

Brujon ſchüttelte den Kopf und ſagte endlich: 

„Heute morgen fab id zwei Spatzen, die rauften. Abends 
begegnete ich einem Écifenden Frauenzimmer. Schlehte Zeichen! 
Sabren wir ab.’ 

Und fie gingen. 

‚Wenn ihr wolltet, ich hätte dem Mädel den Hals um- 
gedreht”, murrte Montparnaffe. 

„Ich rühre Feine Dame an’, fagte Babet. 


548 


4. Marius beginnt praftifh zu werden, 
indem er Cofette feine Adreffe gibt 


Während „der Hund‘! das Gitter bewachte, war Marius 
bei Eofette. 

Mie war der Stern am Himmel glängender, nie haften die 
Blumen füßer geduftet. Marius war zärtlid und tief beglüdt. 
Aber Eofette fhien ihm traurig. Sie hatte geweint. Ihre 
Augen waren gerötet. 

Das war der erfte Schatten, der auf fein Glüd fiel. 

„Bas haft du denn?” 

„Ich werde es dir gleich jagen.” Dann feßte fie fid auf die 
Bank, wartete, bis er neben ihr Plak genommen hatte, und 
fuhr fort: 

„Mein Bater bat mir heute morgen gefagt, ich folle mid für 
eine Meife bereit halten. Er bat Gefhäfte zu erledigen, wir 
müffen vielleicht verreifen.”’ 

Marius zitterte von Kopf bis zu den Füßen. 

Wenn einer am Ende feines Lebens ift, heißt Sterben für ihn 
Sortgeben. Steht er aber am Anfang, fo bedeutet Fortgehen 
Sterben. 

Marius erwachte aus einem Traum. Seit febs Wochen hatte 
er gewiffermaßen außerhalb des Lebens gelebt. Das Wort „Ab— 
reifen‘ brachte ihn zur Sefinnung. 

Er fand fein Wort. Eofette fühlte nur, daß feine Hand 
falt wurde. \ 

„Bas haft du?’ fragte fie. 

„Ich verftebe nicht, was du gefagt haft.‘ 

„Heute morgen bat mein Dater mir gefagf, ich folle meine 
Saden paden, und er bat mir auch feine Wäſche gegeben, da- 
mit ich fie in den Koffer lege. Er muß eine Reiſe maden, und 
es foll ein großer Koffer für mich, ein Eleiner für ihn beforgt 
werden. Wir gehen vielleicht nah England.’ 

„Aber bas ift ja unmöglich!” rief Marius. 
In diefem Augenblid jhien Marius Fein Mibbraud der 


549 


Gewalt, Feine Graufambeit, feine Deftialität eines ITyrannen, 
keine Miffetat eines Bufiris, Tiberius oder Heinrib VIII. 
diefer gleih: Herr Fauchelevent bradte feine Tochter nad) Eng- 
land, weil er dort zu fun hatte. 

„Und wann wirft du reifen?’ fragte er mit fhivacher 
Stimme. 

„Er bat mir nicht genau gejagt, wann.” 

„Mnd wann Éommft du zurück?‘ 

„Auch bas weiß ich nicht.‘ 

Marius ftand auf. 

„Sofette, Sie reifen alfo auch?“ 

„Barum fagft du nicht du zu mir?’ 

„Ich frage, ob Sie aud reifen?‘ 

„Ja, aber was foll id denn tun?’ 

Cofette nahm Marius’ Hand und drückte fie heftig. 

„Gut, fagte Marius, ‚dann gehe ich anderswohin.“ 

Eofette fühlte ben Sinn diefer Worte mehr als fie ihn ver- 
ftand. Sie wurde fo blaß, daß fie felbft in der Dunkelheit weiß 
erſchien. 

„Was meinſt du damit?“ fragte ſie. 

Marius ſah ſie an, blickte zum Himmel auf und antwortete: 

„Nichts.“ 

Als er den Blick wieder ſenkte, ſah er, daß Coſette lächelte. 

„Ach, wie dumm wir ſind! Ich habe eine Idee, Marius.“ 

„Was?“ 

„Reiſe du auch dahin! Ich werde dir ſchon ſagen, wo 
wir ſind.“ 

Marius war erwacht, die Wirklichkeit ſtand wieder klar 
vor ihm. 

„Ich ſoll auch reiſen? Biſt du verrückt? Dazu braucht man 
Geld, und ich habe keines. Ich ſoll nach England reiſen? Ich 
ſchulde Courfeyrac jetzt ſchon zehn Louis. Ich trage einen alten 
Hut, der keine drei Franken wert iſt, mein Rock hat keine 
Knöpfe, das Hemd iſt zerriſſen, die Ärmel find durchgeſcheuert; 
meine Schuhe laſſen Waſſer durch. Seit ſechs Wochen denke ich 


550 


nicht daran, und ich babe auch dir nichts davon gefagt. Es geht 
mir febr fchlecht, Eofette, und du liebft mich, weil du mich nur 
bei Nacht fiebft. Wenn du mir bei Tag begegnen würdeft, ich 
glaube, bu würdeft mir einen Sou fhenfen. Sch fol nach Eng- 
fanb reifen? Nicht einmal den Paß kann ich bezahlen.” 

So fafen fie lange. Erft als er Cofette ſchluchzen hörte, 
wandte er fih um. 

„Liebſt du mich?’ fragte er. 

„Ich bete did an.” 

„Beine nicht”, fuhr er fort. „Willſt du um meinetwillen 
aufhören zu weinen?” 

„Liebſt du mich denn?” 

„Sofette, ich babe niemals einem Menfhen mein Ebrenwort 
gegeben, denn ich ſcheue mich davor. Sch fühle, daß mein Water 
neben mir fteht. est aber gebe ich dir mein heiligftes Ehren- 
wort, daß ich fterbe, wenn du fortgehſt.“ 

Eofette hörte auf zu weinen. Sie erfchauerte vor der Kälte 
einer Wahrheit, die fie begriff. 

„Höre alfo: warte morgen nicht auf mid.” 

Barum?’ 

„Erft übermorgen.’ 

‚Aber warum denn?’ 

‚Du wirft feben. Wir müffen einen Tag opfern, um vielleicht 
alles zu gewinnen.” Leife fuhr er fort: „Er weicht nie von feinen 
Gewohnheiten ab. Er empfängt nur abends.’ 

‚Bon wen fpribft du?’ fragte Eofette. 

„Ich? Ich babe nichts gejagt.‘ 

„Hoffſt du?‘ 

arte bis übermorgen.‘ 

Sie nahm feinen Kopf in ihre Hände, erhob fih auf die Fuß— 
fpißen und wollte in feinen Augen die Hoffnung lefen. 

„Übrigens, fuhr Marius fort, „du mußt meine Adreſſe 
wiflen, es fann ja allerlei eintreten. Ich wohne bei meinem 
Freunde Courfeyrac, Nue de In Verrerie No. 19.” 


951 


Er griff in feine Taſche, 309 ein Taſchenmeſſer beraus und 
fhrieb mit der Klinge auf die Mauer: 

„16, Rue de la Verrerie. 

Als er ging, war die Straße menfchenleer. Eponine war den 
Banditen bis zum Boulevard nachgegangen. 


5. Einaltes und ein junges Herz 


Vater Gillenormand zählte Damals gefchlagene einundneungig 
Vabre. Mob immer wohnte er mit Fräulein Gillenormand in 
der Mue des Silles-bu-Calvaire Mo. 6, in feinem Haufe. Er 
war, wie unfer Leſer fih erinnert, einer von jenen Greifen, die 
den Tod aufrecht erwarten und die das Alter nicht zu beugen 
vermag. 

Eines Abends, eg war am 4. uni, was nicht verhinderte, 
daß Vater Gillenormand tüchtig im Kamin hatte einlegen laffen, 
fhicte er feine Tochter in bas Mebenzimmer, in dem fie fib mit 
ihrer Näharbeit befhäftigte. Er ſaß allein in dem Salon mit 
den Hirtenfzenen, hatte die Füße auf den Raminvorfas geftüßt 
und hielt, ohne zu lefen, ein Sud in Händen. 

Er war nad alter Mode als Incroyable gekleidet und fab 
aus wie ein altes Bild von Garat. Hätte er fih fo auf der 
Straße gezeigt, wären ihm die Kinder nachgelaufen. Seine 
Tochter veranlaßte ibn aber, einen Überrodf zu tragen, der län- 
ger war als ein Bifhofsgewand und feine Kleider verbarg. Zu 
Haufe jebod weigerte er fih, einen Schlafrock anzuziehen. 

„Man fieht fo alt darin aus, fagte er. 

Während er nadhfann, trat fein alter Diener, Baske genannt, 
ein und meldete: 

„Wünſchen der Herr Herrn Marius zu empfangen?‘ 

Der Greis fuhr auf und erblaßte. AU fein Blut firömte zum 
Herzen. 

„Was für ein Herr Marius?‘ ftotterte er. 

„Ich weiß es nicht,” erwiderte der Vasfe verfhüchtert, „ich 


F72 


babe ihn nicht gefeben. Nicolette bat mir gefagt, es fei ein 
junger Mann, und ich follte ibn als Herren Marius melden.” 

„Laß ihn eintreten.” 

Er blieb in der gleichen Haltung fisen, ftarrte nur nad) der 
Zür. Sie ging auf, und ein junger Mann trat ein. Es war 
Marius. 

Er blieb an der Tür, als ob er eine Aufforderung, näher zu 
treten, erwarte. 

Seine faft elende Kleidung Fonnte man in der Dunkelheit — 
er ftand im Schatten des Lampenlihts — nicht erfennen. Nur 
fein Fluges, ernftes, feltfam trauriges Gefiht war fihtbar. 

Er war es! Endlih, nad vier fahren, Fam er. Mit einem 
einzigen Blick fuchte Gillenormand ihn zu überfhauen. Er fand 
ihn fchön, vornebm, von edler Haltung. Er hatte Luft, die Arme 
zu öffnen, ihn zu rufen, Worte der Liebe fliegen auf aus feiner 
Bruft und traten auf die Lippen. Aber nah dem Gefes, das 
diefe feltfame Natur beftimmte, verwandelten fie fih in raube 
Mede. 

„Bas wollen Sie hier?’ fragte er. 

Verlegen antwortete Marius: 

PR 3 

Gillenormand hatte gehofft, daß Marius fih in feine Arme 
ftürzen werde. Jetzt war er mit Marius und fich felbft unzufrie- 
den. Er fühlte, daß er grob und Marius Éalt war. Qualvoll 
empfand er den Widerftreit zwifchen feinem mweichgeftimmten 
Innern und feiner äußerlihen Maubeit. Wieder wurde er bitter. 

Bas wollen Sie alfo?” 

Diefes alfo bedeutete: wenn du mich fhon nit umarmen 
willft. Aber Marius fab nur feinen Großvater, deffen Geficht 
marmorweiß war. 

Herr 

„Sie kommen wohl, um mich um Verzeihung zu bitten? 
Haben Sie begriffen, wie unrecht Sie hatten?“ 

Er hoffte, der Junge würde darauf eingehen. Aber Marius 


533 














erfhauerte. Er glaubte, man verlange von ibm einen Verrat an 
feinem Dater. 

„Nein, mein Herr.” 

„Ja was wollen Sie denn dann?“ rief der Alte wütend. 

Marius trat einen Schritt näher und fagte jekt mit ſchwa— 
cher, zitternder Stimme: 

„Mein Herr, haben Sie Mitleid mit mir!’ 

Diefes Wort rührte Gillenormand. Aber es Fam zu fpüt. 
Der Alte ftand auf, ftügte fi) mit beiden Händen auf feinen 
Stock und fab Marius an, der gebeugt vor ihm ftand. 

„Mitleid mit Ihnen, Herr? Ein junger Burſche bittet einen 
einundneunzigjährigen Greis um Mitleid? Sie ftehen am An— 
fang des Lebens, ih am Ende! Sie gehen ins Theater, auf den 
Ball, ins Café, zum Billard, Sie haben Wis, gefallen den 
Srauen, find bübfh; ich fige mitten im Sommer am Ramin. 
Sie find rei, denn Sie befisen alles, was man braucht, um 
glücklich zu fein, id aber bin arm wie bas Alter, gebredblid und 
einfom. Sie haben zweiunddreißig Zähne, einen gefunden 
Magen, lebhafte Augen, Kraft, Hunger, einen Wald von 
Ihwarzen Haaren, ich aber babe nicht einmal mehr weiße Haare, 
feine Zähne, meine Deine werden immer fhivächer, und mein 
Gedächtnis laßt nah. Es gibt hier in der Nähe drei Straßen, 
die ih ununterbrochen verwechfle, die Mue Charlot, die Rue du 
Chaume und die Rue Saint-Claude. So fteht’s mit mir. Sie 
aber haben eine fonnige Zukunft vor fi, während ich in bie 
Macht bineinfhreite. Sie find verliebt, felbfiverftänblih, wäh- 
rend mich Fein Menſch mehr feben mag, und Sie verlangen 
von mir Mitleid?! Weiß Gott, bas ift eine Situation, die 
Molière verfäumt bat. Wenn ihr Advokaten fo vor Gericht 
auftretet . .. na, alle Achtung! Zum Laden ift das.” 

„Mein Herr," fagte Marius, „ich weiß, daB Ihnen mein 
Beſuch unlieb ift, aber ih bin nur gefommen, Sie um etwas 
zu bitten, und dann gehe ich fofort wieder.’ 

„Sie find ein Schafskopf!“ fehrie der Greis, „wer fagt denn, 
daß Sie geben follen?” 


774 








Gillenormand begriff, daß der raube Empfang Marius ver. 
fbübtert hatte. Da e8 aber feine Art war, Kummer immer f0- 
fort in Zorn umzufeßen, flieg feine Härte nur. Marius begriff 
ihn nicht, und dag madıte ihn wütend. 

„Sie haben mi, Ihren Großvater, gering geihäßt, haben 
mein Haus verlaffen, um, weiß der Teufel, wohin zu laufen, 
Sie wollten, das begreift man ja, bequemer außer Haus leben, 
fi) amüfieren! Kein Lebenszeichen haben Sie ung gegeben! 
Schulden haben Sie gemadt, ohne mir zu fagen, daß ich fie 
bezahlen foll, haben fit wie ein Wildling benommen, und jekt, 
nach vier jahren, kommen Sie hierher und haben nichts weiter 
zu ſagen?“ 

Diefer energifhe Verſuch, feinen Enfel zärtlicher zu ftimmen, 
bradte Morius nur zum Schweigen. Gillenormand kreuzte Die 
Arme. Diefe Gebärde bedeutete bei ihm einen Entiblus. 

„Kommen wir zum Schluß,” fagte er bitter, „Sie wollen 
etwas von mir. Was ift eg?’ 

Mein Herr, fagte Marius mit dem Gefühl eines Mannes, 
der in einen Abgrund ftürzt, „ih will Sie um die Erlaubnis 
bitten, zu heiraten!‘ 

Gillenormand fhellte. Baske erfhien in der Tür. 

‚Rufen Sie meine Tochter.‘ 

Gleich darauf ging die Tür auf, und Fräulein Gillenormand 
erfhien. Marius ftanb da, ftumm und mit herabhängenden 
Armen, wie ein Verbrecher, der überführt worden ift. Gille- 
normand ging in dem Zimmer auf und ab. Endlich wandte er 
fih zu feiner Tochter: 

„Es ift weiter nichts, nur Herr Marius. Du Fannft ihm 
guten Tag fagen. Der Herr wünfcht zu heiraten. So, bas ift 
alles. Sekt Fannft du wieder gehen.” 

Diefe raube Sprechweiſe bewies, daß der Greis fehr erregt 
war. Die Tante fab Marius beftürzt an, fbien ihn Faum zu er- 
fennen, fagte Fein Wort und verfhwand auf den ‘Befehl ihres 
Daters wie ein Strohhalm vor einem Orfan. Gillenormand 
hatte fi) an den Kamin gelebnt. 


555 


„Alſo heiraten wollen Sie? Mit einundzwanzig Sahren! Sie 
haben alles arrangiert, braucen nur noch meine Erlaubnis ein- 
gubolen. Eine Fleine Formalität... Setzen Sie fih, Herr. 
Alfo, Sie wollen heiraten? Und wen, wenn man vorher fragen 
darf? Haben Sie einen Beruf? Vermögen? Wieviel verdienen 
Sie als Advokat?“ 

„Nichts“, fagte Marius mit faft wilder Entfchloffenheit. 

„Nichts? Dann haben Sie alfo nur die smôlfbundert Fran— 
fen jährlich, die ich Ihnen gebe.’ 

Marius antwortete nicht. 

„Ah, demnach ift wohl das Mädchen reich?‘ 

„So reich wie ich.” 

„Keine Mitgift? 

„Nein.“ 

„Ausſichten?“ 

„Ich glaube kaum.“ 

„Ohne nichts! Und was iſt der Vater?“ 

„Das weiß ich nicht.“ 

„Und wie heißt ſie?“ 

„Fräulein Fauchelevent.“ 

„Fauche — was?“ 

„Fauchelevent.“ 

„uff!“ 

„Herr“, ſchrie Marius. 

„Soſo,“ fuhr Gillenormand fort, „einundzwanzig Jahre alt, 
ohne Beruf, zwölfhundert Franken Einkommen! Die Frau Ba— 
ronin Pontmercy wird ſelbſt zur Grünzeughändlerin geben, um 
für zwei Sous Peterſilie zu holen.“ 

„Mein Herr,“ flehte Marius, der ſich an ſeine letzte Hoff— 
nung klammerte, „ich bitte und beſchwöre Sie, erlauben Sie 
mir, das Mädchen zu heiraten.“ 

Der Alte begann zu lachen. 

„Soſo, Sie haben ſich wohl gedacht: zu blöd, jetzt muß ich zu 
dieſem alten Trottel, zu dieſer lächerlichen Schabracke da laufen! 
Schade, daß ich nicht fünfundzwanzig Jahre alt bin! Na, ich 


556 


werde ibm jagen: Alter Idiot, du bift ja todfroh, mich zu feben, 
id babe Luft zu heiraten, ich möchte ein Fräulein Soundfo hei- 
raten, die Tochter des Herrn Weißnichtwie, Schuhe habe id 
nicht, ein Hemd aud nicht, aber was ſchadet es, ich ſchmeiße 
meine Karriere, meine Zufunft, mein Leben ins Waſſer, lade 
mir eine Frau auf den Hals: das will ich, und du haft ja und 
amen zu fagen! Ma, und das alte Foffil wird eben ja jagen, 
haben Sie fi) gedacht. Va, mein unge, von mir aus ja, fue 
was du willft, wird er fagen, der alte Trottel, heirate deine 
Pouffelevent, deine Coupelevent ... nein, mein Herr, niemals! 
Nie!“ 

„Vater 

„Niemals!“ 

An dem Ton, in dem dieſes Niemals ausgeſprochen wurde, 
erkannte Marius, daß er nichts mehr zu hoffen hatte. Langſam 
ging er, gebeugt, taumelnd faſt zur Tür. Gillenormand ſah ihm 
nach. Als Marius die Tür öffnete, ſprang Gillenormand mit 
einem Satz herzu, faßte ihn am Kragen und riß ihn zurück. 
Dann drückte er ihn in einen Stuhl und rief: 

„Erzähl' mir die Geſchichte!“ 

Das bloße Wort „Vater“, das Marius entſchlüpft war, 
hatte dieſe Wirkung gehabt. 

Marius war verblüfft. 

„Vorwärts, erzähl' mir die Liebesgeſchichte! Sapriſti, ſind 
die jungen Leute heute dumm!“ 

„Vater ...“, begann Marius wieder. 

Der Alte begann zu ſtrahlen. 

„Ja, ſag' ‚Water‘ zu mir, dann ift alles beſſer. Du haft alſo 
wirklich feinen Sou? Angezogen bift du wie ein Strolch.“ 

Er 309 eine Lade auf, entnahm ihr eine Börſe und legte fie 
auf den Tiſch. 

„Da haft du hundert Louis, fauf dir wenigftens einen Hut.’ 

„Vater,“ fuhr Marius fort, „lieber Vater, wenn Sie wüß- 
ten, wie ich fie Tiebel Sie Fünnen fi bas nicht vorftellen! Das 
erftemal fab ich fie im Lurembourg. Ich achtete damals kaum auf 


557 


fie. Dann, id weiß felbft nicht, wie das gefommen ift, verliebte | 
ich mib. Ach, id bin fo unglücklich geworden! est ſeh' ich fie 
täglih in ihrem Haufe, aber ihr Vater weiß nichts davon. 
Stel dir vor, fie wollen verreifen! Ich Éomme immer abends 
in den Garten. hr Dater will fie nach England mitnehmen, 
ba babe ich gedacht: ich gehe zu meinem Großvater und erzähle | 
ihm die Sache. Ich werde fonft verrückt oder fpringe ins Waſſer. 
Bevor ich verrüdt werde, muß id fie unbedingt heiraten. Das 
ift die reine Wahrheit. Sie wohnt in einem Éleinen Garten- 
baus hinter einem Gitter, Rue Plumet. Es ift auf der Seite 
des Invalidendoms.“ 

Vater Gillenormand ſaß vergnügt vor Marius. Er genoß 
den Bericht feines Enfels und ergößte fi) dabei an einer Prife 
Zabaf. Als er von der Rue Plumet fprechen hörte, ließ er den 
Tabak fallen. 

‚Rue Plumet! Warte mal, da ift bob auch eine Koferne? 
Va, ich erinnere mich fon. Dein Better Iheodule bat mir da- 
von erzählt. Der Langenreiter. Ein Mädchen? Jaja, Rue Plu- 
met. Sie hieß früher Rue Blomet. Vebt weiß ich alles. Von 
der Kleinen hinter dem Gitter babe ich auch gehört. Die reinfte 
Pamela! Du haft alfo doc feinen ſchlechten Gefhmad. Sie fol 
febr propre fein. Unter uns gefagt, ic) glaube, diefer Aff' von 
den Lanzenreitern bat ihr ein wenig die Kur gefchnitten. Aber 
ic) weiß nicht, wie weit er dabei gefommen ift. Übrigens egal. 
Man braudt ibm ja auch nichts zu glauben. Der quatfht! Ma- 
rius, ich finde das durchaus richtig, daß ein Mann in deinem 
Alter fi) verliebt. Sch ziehe die Derliebten den Jakobinern 
vor. Lieber follft du hinter zwanzig Weibern berlaufen als hinter 
einem Mobespierre. Was mich betrifft, fo kann ich aufrichtig 
lagen, daB die Weiber die einzigen Sansculotten find, die mir 
jemals gefallen haben. Die Hübſchen, verfteht fit. Dagegen ift 
nichts einzuwenden. Deine Kleine empfängt dich alfo ohne 
Wiſſen des Herrn Papa. Aud bas ift eine bewährte Sache. 
Derlei bab’ id auch erlebt. Nicht nur einmal. Weißt du, mas 
man da fuf? Man ftelt fihb niht blöd. Man wird nibt 


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tragifh. Man läuft nicht gleich zum Herrn Bürgermeifter mit 
der Schärpe. Amüfiert euch, Sterbliche, aber heiratet nicht! 
Man geht zu Großpapa, der im Grunde genommen ref guf- 
mütig ift und immer nod ein paar Rollen Louisdor in einer 
alten Lade bat, man fagt: Großpapa, fo fteht die Sade. Und 
Großpapa antwortet: Höchft einfoh! Die Jugend muß voran, 
bas Alter weicht aus. Sch war einmal jung, du wirft einmal alt 
werden. Du zahlft es dann deinen Enfeln zurüd. Da haft du 
zweihundert Piftolen. Amifier” dich, mein Lieber! So muß man 
es machen. Man heiratet deswegen nicht gleich, aber daran liegt 
es ja nicht. Verftebft du?‘ 

Marius fhüttelte den Kopf. Er war ſprachlos. 

Der Alte lachte, blinzelte und ſagte ſchließlich: 

„Dummkopf, nimm fie dir als Mätreffe!” 

Marius erblaßte. 

Alles das, Rue Blomet, Pamela, Kaferne, Lanzenreiter, war 
ihm wie eine Phantasmagorie erfchienen. Das konnte fi nicht 
auf Eofette beziehen, die rein war wie eine Tilie. Der Alte 
ſchwätzte. Aber als er gefagt hatte, nimm fie dir als Mätreffe, 
hatte Marius dag Gefühl, ein Degen durchbohre fein Herz. Er 
ftand auf, nahm feinen Hut vom Boden, trat zur Tür und fagte: 

„Bor fünf Jahren haben Sie meinen Dater befhimpft. 
Heute beſchimpfen Sie meine Frau. fest verlange ich nichts 
mehr von Ihnen, mein Herr. Adieu.“ 

Vater Gillenormand tat den Mund auf, breitete die Arme 
aus, verfuchte aufzuftehen. Aber bevor er ein Wort bervor- 
brachte, hatte die Türe fich wieder geſchloſſen, Marius war ver- 
ſchwunden. 


Sechstes Buch 
Wobin? 
1. Sean Baljean 


An demfelben Tage, um vier Uhr nachmittags, ſaß Jean 
Valjean einſam auf einer Böſchung des Marsfeldes. Er trug 


559 


feinen Arbeiteranzug, eine graue Leinwandhoſe und feine Mütze 
mit dem Schirm, der das halbe Geficht verdedte. 

Mit Cofette war er jeßt glücflich, aber wenn jener Schredfen 
von ihm gewichen war, fo hatte ein neuer vor ein oder zwei 
Wochen fi) feiner Gedanken bemädtigt. Auf dem Boulevard 
hatte er Ihenardier gefehen. Dank feiner Verkleidung war er 
von Thénarbier nicht erfannt worden, aber Sean Daljean war 
dem Verbrecher inzwifchen mehrmals begegnet und hatte fich die 
Gewißheit verfchafft, daß Ihenardier in diefem Stadtviertel 
lebte. Das war Grund genug, einen entfcheidenden Entfehluß zu 
faffen. Ihenardier: das war die Gefahr fhlehthin. Überdies 
war ganz Paris in Unruhe. Die politifhen Wirren waren für 
einen Mann, der fich zu verbergen wünfchte, recht unbequem, 
denn nur zu leicht Eonnten die Spißel, wenn fie nad einem 
Pépin oder Morey Jagd machten, einen Sean Valjean fangen. 
Darum hatte er ſich entfhloffen, Paris und Franfreich zu ver- 
laffen und nad England zu überfiedeln. Er hatte Cojette davon 
gefagt. Binnen adt Tagen wollte er reifen. Jetzt ſaß er auf der 
Böſchung des Marsfeldbes und erwog alle Schwierigkeiten, diefe 
Reife zu bewerfftelligen und fih einen Paß zu verfchaffen. 

Er war von Sorgen bedrüdt. 

Ein unerflärliher Vorfall hatte ihn aufgefchrecft. Alg er heute 
morgen, noch bevor Cofette ihre Fenfterläden geöffnet hatte, im 
Garten fpazierenging, hatte er an der Mauer eine Schrift gefehen: 

„16, Rue de la Verrerie.“ 

Sie war noch ganz frifh. Eine Brenneffel, die an der Wand 
wuchs, hatte er weiß beftaubt gefunden. Alfo war diefe Inſchrift 
heute nacht an die Mauer gefommen. Eine Adrefle? Eine War- 
nung? Auf alle Fälle waren Fremde in den Garten eingedrun- 
gen. Er erinnerte fi der feltfamen Vorkommniſſe, die ſchon ein- 
mal das Haus beunruhigt hatten. Jedenfalls wollte er nicht mit 
Eofette darüber fprechen, denn er befürchtete, fie zu erfchreden. 

Während er fo fann, warf die Sonne einen Schatten neben 
ihn, jemand ftand auf der Böſchung. Sean Valjean wollte fi 
ummenden, als ihm ein vierfad gefaltetes Blatt auf die Knie 


560 





fiel. Er nahm es, faltete es auseinander und fand mit großen 
Buchftaben folgendes Wort aufgefehrieben: 

„Umziehen!“ | 

Sean Valjean fprang auf. Schon war niemand mehr auf der 











Böfhung. Als er fih umſah, bemerkte er einen Burſchen, grö- 

Ber als ein Kind, Eleiner als ein Mann, der in einer grauen 

Bluſe ſteckte und eine ftaubfarbene Samthofe anbatte. Der unge 

ſchwang fich gerade über den Grensgraben des Marsfeldes. 
Sehr nachdenklich ging Sean Valjean nad) Haufe. 


36 Hugo, Die Elenden. 56] 


2. Marius 


Verzweifelt hatte Marius Gillenormand verlaffen. Er war 
mit wenig Hoffnung dorthin gegangen, aber in voller Yer- 
zweiflung kehrte er zurück. 


Wie alle, die einen Kummer unterdrüden wollen, begann er 
durch die Straßen zu laufen. Später Éonnte er fid nicht mehr 
daran erinnern, was er gedacht hatte. Um zwei Uhr morgens 
fam er in Courfeuracs Zimmer und warf fi) in Kleidern auf 
feine Matrañe. Erft bei Morgengrauen flief er ein. Als er 
aufwachte, ftanden Eourfeyrac, Enjolras, Feuilly und Combe— 
ferre, eben im Begriff wegzugehen, mit dem Hut auf dem Kopf, 
im Zimmer. 

„Kommft du mit zum Begräbnis des Generals Lamarque?// 
fragte Courfeyrac. 

Marius war es, als ob Courfeyrac chineſiſch fprecbe. 

Gleich nad den jungen Männern ging aud er meg. Die 
beiden Piftolen, die ihm Vavert am dritten Februar gegeben 
hatte, ftedte er ein. Sie waren nod immer geladen. Was er 
dachte, als er fie einftecfte, läßt fi fchwer fagen. 

Den ganzen Tag über irrte er umher. Es regnete manchmal, 
aber er merfte nichts. Dei einem Bäder Faufte er ein Stüd 
Brot, ftedte es in die Tafıhe und vergaß es. Mur einen einzigen 
flaren Gedanken hatte er: daß er um neun zu Coſette gehen 
müfle. In diefem lebten Glück beftand feine Zukunft. Dann 
fom die Finfternis. Zumeilen hörte er, während er in den ent- 
legenen Außenboulevards fpazierenging, von der Stadt herüber 
ein feltfames Getöfe. 

„Ich glaube, man kämpft“, dachte er. 

Um neun Ubr erfohien er in der Rue Plumet. Als er ſich dem 
Gitter näherte, vergaß er alles. Er hatte fie feit achtundvierzig 
Stunden nicht gejehen, der Gedanke, ihr jet wieder zu begeg- 
nen, verdrängte jede andere Empfindung und löfte eine tiefe, 
unerbôrte Freude aus. 


562 


Wie gewöhnlich, Ioderte Marius die Stange im Gitter und 
fblid in den Garten. Cofette war nicht an dem Plak, an dem 
fie ibn fonft erwartete. Er drang durd das Didiht vor und 
gelangte auf die Freitreppe. 

„Sie wartet hier‘, fagte er. 

Aber fie war nicht da. 

Jetzt bliefte er auf und bemerfte, daß die Fenfterläden ver- 
ſchloſſen waren. Er ſuchte den ganzen Garten ab, fand ihn aber 
leer. Saft von Sinnen, lief er auf das Haus zu und Flopfte auf 
die Fenfterfcheiben. est [heute er die Gefahr nicht mehr, daß 
ihr Vater berausfäme und ihn fragte, was er hier wolle. Diefe 
Gefahr bedeutete nichts gegen jene, die er abnte. Und dann be- 
gann er zu rufen: 

„Sofette!” fchrie er, „Coſette!“ 

Niemand antwortete. 

Miemand war im arten, niemand im Haus. 

Verzweifelt betrachtete er das Gebäude, bas büfter und Ieer 
war wie ein Grab. Sein Bli fiel auf die Steinbanf, auf 
der er fooft mit Cofette gefeflen hatte. Traurig Fauerte er auf 
einer Stufe der Freitreppe nieder. Jetzt blieb ibm nur der Tod. 

Pöslich hörte er eine Stimme, die von der Straße zu Éom- 
men fien und dur die Bäume berüberdrang: 

„Herr Marius!’ 

Er fprang auf. 

„Was gibt's?“ 

„Herr Marius, ſind Sie da?“ 

Jo. 


„Herr Marius, Ihre Freunde erwarten Sie an der Barri— 
Fade der Aue de la Chanvrerie.“ 

Diefe Stimme war ibm nicht ganz unbefannt. Sie war 
heifer und raub wie die Eponines. Marius eilte an dag Gitter, 
riß die Iodere Stange heraus und fab jemand, einen jungen 
Burfhen, in der Dunkelheit verfehwinden. 


a 563 


SiebentesBuch 
Der 5. Juni 1832 


1. Das Begräbnis: Anlaß zur Wiedergeburt 


Im Frühjahr 1832 war Paris, obwohl die Cholera feit drei 
Monaten alle Zatfraft lähmte, längſt bereit zur Mevolution. 
Die Großftadt gleicht einer Kanone: wenn fie geladen ift, genügt 
ein Funke, und der Schuß geht los. Im uni 1832 gab der 
Tod des Generals Lamarque den Funken. 

Lamarque war ein Mann der Tat, und er war populär ge- 
wefen. Der Reihe nach hatte er unter dem Kaiferreich und un- 
ter der Reſtauration die beiden Arten von Tapferkeit bewiefen, 
die biefen Epochen entfprachen, die Tapferfeit auf dem Schlacht— 
felde und die auf der Mednertribüne. Er war ein ebenfo zünden— 
der Redner wie Fühner Soldat. Man fühlte in feinem Wort 
bas erprobte Schwert. Hatte er fih als Kommandant bewährt, 
jo wer er auch ein Fühner Freiheitsfämpfer. Er faß zwifchen der 
Linfen und der äußerften Linken, war beim Wolfe beliebt, weil 
er für die Zukunft eintrat, und der Abgott der Menge, weil er 
dem Kaifer gedient hatte. Wie die Grafen Gerard und Drouet, 
war er einer der Tieblingsmarfhälle Napoleons geweſen. Den 
Vertrag von 1815 empfand er als eine ibm perfünlich angetane 
Schmach. Wellington haßte er, und bas machte ihn der Menge 
noch lieber. Siebzehn Jahre lang hatte er um Waterloo ge- 
trauert. Als er mit dem Iode rang, brüdte er den Degen an 
die Druft, den ihm die Offiziere der Hundert Tage gefchenft 
hatten. Napoleon war geftorben mit dem Wort „Armee“ auf 
den Tippen, Lamarque mit dem Worte „Vaterland“. 

Sein Tod, mit dem man bereits gerechnet hatte, wurde vom 
Volk als Verluſt befürchtet, von der Regierung als Eritifcher 
Augenblid. Die Trauer würde allgemein fein. Wie alle Bitter- 
feit, Eonnte fie fich leicht in eine Mevolte verwandeln. Und dies 
geſchah. 

Am Abend des 4. und am Morgen des 5. Juni, welcher für 


564 


bas Begräbnis Lamarques beftimmt war, machte die Vorftadt 
Saint-Antoine, durch die der Konduft geführt werden follte, 
einen beunrubigenden Eindruck. In diefem wirren Straßennek 
bereitete fi die Unruhe vor. Man bewaffnete fi, fo gut man 
fonnte. Tiſchler fchleppten Schraubftöcfe herbei, um „Türen zu 
rammen”. Einer hatte fi aus einem Hafen, deflen Ende er 
abbrad und den er gufpibte, einen Dolch gemacht. Ein anderer 
fieberte fo barnad, am Angriff teilzunehmen, daß er feit drei 
Zagen in den Kleidern fchlief. Ein gewiffer Jacqueline, ein reg- 
famer Mann, ftellte fih auf belebten Plätzen auf und redefe die 
Arbeiter an, die vorbeifamen. 

„Halo, du!“ 

Er gab ihnen zehn Sous für Wein, pro Mann. 

„Haſt du Arbeit?‘ 

„Nein.“ 

„Geh zu Filspierre zwiſchen dem Tor von Montreuil und 
dem von Charonne, dort bekommſt du Arbeit.“ 

Bei Filspierre wurden Kugeln und Waffen verteilt. 

Bekannte Führer waren immer auf den Beinen, rannten von 
einem zum andern, um ihre Getreuen zu ſammeln. Bei Vaté- 
lemy und Capel unterhielten fih die Krieger ganz ernfthaft fol- 
gendermaßen: 

„Wo haſt denn du deine Piſtole?“ 

„Inter der Blufe. Und du?‘ 

„Unter dem Hemd.’ 


Am 5. uni alfo, an einem Tage, der bald Megen, bald 
Sonnenfhein bradte, bewegte fi) der Leichenzug des Generals 
Lamarque mit offiziellem militärifhem Pomp, der wohl aus 
Dorfiht etwas vergrößert worden war, durd Paris. Zwei Ba— 
taillone mit verhüllten Trommeln und gefenften Gewehren, 
zehntaufend Mationalgarbiften und die Artilleriebatterie der 
Nationalgarde folgten dem Sarg. Der Leihenwagen wurde von 
jungen Leuten gezogen. Deteranenoffiziere gingen binterher 
und trugen Lorbeerzweige. Dann Fam eine unzählige, feltfam 


565 


wilderregte Menge: Seftionäre der „Freunde des Volkes’, die 
Studenten der juriftifhen und medizinifchen Fakultät, politifche 
Flüchtlinge aus allen möglichen Ländern, die ihre Mationalfabne 
zeigten, Spanier, taliener, Deutfhe, Polen, ſchließlich Kinder 
mit grünen Palmzweigen, die Steinmehen und Zimmerleute, die 
gerade im Streit waren, die Buchdrucker, erfennbar an ihren 
Papiermüsen. Sie alle marfhierten fohreiend und aufgeregt bin- 
ter dem Sarge her, ſchwangen Stöde und fogar Säbel, hielten 
feinerlei Ordnung. Die Kolonnen begannen Führer zu wählen. 
Einer, der ein Paar Piftolen ganz offen trug, fehien eine Heer- 
fau feiner Truppe abzuhalten. In den Nebenalleen der Boule- 
vards, auf den Balfons, Bäumen, Fenftern und Dächern wim— 
melte es von Frauen und Kindern. Alle blidten angfivoll auf 
den Zug herab. Eine bewaffnete Menge 309 vorüber, eine ver- 
ängftigte fab zu. 

Die Regierung bewahrte vorläufig ihre abwartende Haltung, 
hielt aber die Hand am Degen. Marfchbereit Éonnte man auf 
dem Plat Ludwigs XV. vier Schwadronen Karabiniere feben; 
im Quartier Latin und am Jardin des Plantes ftand die Muni- 
zipalgarde, an der Salle-aur-Vins eine Schwadron Dragoner, 
auf dem Greveplag die Hälfte des zwölften Megiments Leichter 
Meiter, die andere Hälfte an der Baftille. Bei den Eöleftinern 
ftanden die fehften Dragoner, im Hof des Louvre war die Ar- 
tillerie gefammelt. Die übrigen Truppen ftanden in den Kafernen 
in Bereitfchaft, die Negimenter nicht zu zählen, die rings um 
Paris zufammengezogen waren. Die beunrubigte Staatsgewalt 
hielt vierundzwanzigtaufend Soldaten in der Stadt und dreißig- 
taufend in der Umgebung bereit. 

In dem Leichenzug Freiften die wildeften Gerüchte. Man 
fprad von den Intrigen der Legitimiften, von dem Herzog von 
Meichftadt, der in diefem Augenblick bereits vom Tode gezeichnet 
war und den die Menge für die Kaiferwürde in Betracht 309. 
Ein Mann, der unbekannt blieb, verbreitete bas Gerücht, zwei 
Merfmeifter, die man gewonnen habe, würden dem Wolf die 
Tore einer Waffenfabrik öffnen. Die meiften Leute waren gleich- 


566 


zeitig begeiftert und niebergeflagen. Man fab in der Menge 
aud wahre Verbrechertypen, Leute, die es auf eine Plünderung 
abgefehen hatten. Wenn Sümpfe aufgewühlt werden, fteigt der 
Kot an die Oberfläche. Eine gefhidte Polizei weiß fich biefes 
Phänomen zunuge zu maden. 

Der Zug bewegte ſich mit fiebernder Langfamfeit vom Haufe 
des Toten über die Boulevards zur DBaftille. Zumeilen regnete 
es, aber die Menge achtete nicht darauf. Einige Zwifchenfälle 
wurden bemerft. Der Sarg wurde um die Bendöme-Säule im 
Kreife berumgeführt. Der Herzog von Fitz-James, der auf 
feinem Balkon ftand, wurde, weil er den Hut nicht abnahm, mit 
Steinen beworfen. An der Porte Saint-Martin wurde ein 
Schutzmann durd einen Degenftich verwundet. Ein Offizier der 
Zwölfer fagte ganz laut: „Ich bin Republifaner! Die Stu- 
benten des Polytechnikums bracen das Verbot ihrer Lehrer und 
fbloffen fit dem Zug an. Man begrüßte fie mit dem Mufe: 
„Es lebe bas Polytechnifum, es Iebe die Republik!“ Bei der 
Baftille fhloffen fi Meugierige, die aus der Vorſtadt Saint— 
Antoine herbeiftrömten, dem Zuge an, und die allgemeine Er- 
regung flieg auf den Siedepunkt. 

An der Aufterliger Brücke hielt der Zug. Es bildete fi ein 
Kreis um den Leihenwagen. Die Menge fhiwieg. est hielt 
Lafayette eine Rede und grüßte Lamarque. Es war ein erhabe- 
ner und rührender Augenblid. Alle Köpfe wurden entblößt, alle 
Herzen fhlugen höher. Plötzlich erfhien ein fchwarzgeFleideter 
Mann zu Pferde, der eine rote Fahne trug. Andere behaupteten, 
es fei eine Pike geweſen, auf der eine phrygifhe Mütze hing. 
Tafayette wandte fid ab, Ercelmans verließ den Leichenzug. 

Die rote Fahne lôfte ftürmifche Vegeifterung aus und ver- 
Ihwand in der Menge. Unter allgemeinem Jubel wurde der 
Leichenwagen über die Aufterlißer Brüde und Lafayettes Equi- 
page auf den Quai Morland gezogen. 

Unter der Menge, die Lafayette begrüßte, wurde ein Deut- 
fer namens Ludwig Snyder (Schneider) allgemein bemerkt 
und begrüßt, der fpäter, bunbertjäbrig, ftarb, und der 1776 


567 


unter Wafhington bei Irenton und unter Lafavette bei Brandy- 
wine gekämpft hatte. 

Test feste fih auf dem linken Ufer die Munizipalgarde in 
Bewegung und fperrte die Bride, während auf der rechten 
Seite die Dragoner den Quai Morland forsierten. Die Menge, 
die Lafayettes Wagen 309, brach in wildes Gefchrei aus: 

„Die Dragoner kommen!“ 

Im Schritt rücten die Dragoner fehweigend, Piftolen und 
Säbel bereit, mit düfterer Miene heran. 

Zweihundert Schritt vor der Fleinen Brüde machten fie halt. 
Tafayettes Wagen fuhr ihnen entgegen, fie öffneten ihre Reihen, 
ließen ihn durch und fchloffen fib wieder. In diefem Augenblick 
ftieß die Menge auf die Dragoner. Frauen zogen fih zurüd. 

Mas gefhah in diefem verhängnisvollen Augenbli? Nie— 
mand vermag es zu fagen. Es war, als ob zwei Wolfen auf: 
einanderftießen. Manche erzählen, daß vom Arfenal herüber zum 
Angriff geblafen wurde, andere behaupteten, ein junger Burfche 
babe einen Dragoner mit bem Dolch verlegt. Tatſache ift, daß 
plößlih drei Schüffe fielen. Der erfte tötete den Schwadronschef 
Cholet, der zweite eine taube Alte, die in der Rue Contrescarpe 
gerade das Fenfter fehloß, der dritte verbrannte einem Offizier 
die Epauletten. Eine Frau fhrie: „Sie fangen zu früh an!’ 
Pröslich fab man drüben auf dem Quai Morland eine Schwa- 
dron Dragoner, die in der Kaferne geblieben war, mit gezückten 
Säbeln über den Boulevard Bourdon heranftürmen und die 
Menge vor fi) bertreiben. 

est war die Entfcheidung gefallen. Der Sturm brad aus, 
Steine flogen, die Gewehre Fnatterten, viele Menfchen ftürzten 
fi in die Seine, um fi [hwimmend zu retten. Man ris Pfähle 
aus der Erde, Piftolen Fnallten, fhon wuchſen die Barrifaden 
aus dem Boden, Karabiniere eilten herbei, die Menge ftrömte 
nad) allen Seiten auseinander. Überall wird gefchrien: „Zu den 
Maffen! Zu den Waffen!” Dort flüchtet die Menge, bier 
feiftet fie Widerftand. Die Wut trägt die Nebellion nach allen 
Midbtungen, wie der Wind dag Feuer. 


568 


2 wer 


Mo war Feine DViertelftunde vergangen, als ſich bereits an 
etwa zwanzig Stellen von Paris ungefähr folgendes vollzogen 


hatte. 





treffen ſich etwa 


te 


Croix de la Bretonner 


In der Rue Ste.- 


” 


die lange Bärte und langes Haar tra- 


r, 


änner, 


M 


’ 


zwanzig junge 


>69 


fommen gleich darauf mit einer 


in, 
ſchwarzbeflorten Trikolore heraus. An ihrer Spike marfhieren 


inen Laden ei 


ingen in e 


gen, dr 


drei, von denen einer ein Gewehr, der andere einen Säbel, der 
dritte eine Pike trägt. 

In der Mue des Monainbières bot ein dickbäuchiger, Eahler, 
gemütlicher Bürger den Paflanten ganz offen Patronen an. 


















































In der Rue Saint-Pierre Montmartre trugen Männer, die 
ihre Arme entblößt hatten, eine fehwarze Fahne, auf der mit 
weißen Buchſtaben gefchrieben ftand: ‚Die Republik oder den 
Tod! Überall tauchten Fahnen auf, die in goldenen Buchftaben 
das Wort Seftion und eine Nummer zeigten. Eine diefer 


>10 


Fahnen war rot und blau mit einem fhmalen weißen Streifen 
dazwiſchen. 

Man ſtürmte am Boulevard Saint-Martin eine Waffen— 
fabrif, ferner drei Läden von Waffenſchmieden. In wenigen 
Minuten griffen taufend Hände nad zweihundertdreißig Ge- 
wehren (faft lauter Doppelläufern), vierundfehzig Säbeln und 
dreiundachtzig Piftolen. Damit möglihft viel Leute bewaffnet 
wären, nahm der eine ein Gewehr, der andere das Bajonett. 

Am Quai de la Greve drangen bewaffnete junge Leute in 
Mohnungen ein, um von hier aus zu fchießen. In improvifierten 
Merfftätten wurden Patronen fabriziert. 

Auf beiden Flußufern, auf den Quais und den Boulevards, 
im Quartier Latin und bei den Markthallen ſtrömten Feuchend 
Arbeiter, Studenten und Mitglieder der Sektionen sufammen, 
verlofen Proflamationen und fhrien Alarm. Man ris Laternen- 
pfähle um, fpannte Wagen aus, riß Pflafterfteine aus der Erde, 
fblug Haustüren ein, entwurzelte Bäume, baute aus Fäffern, 
Steinen, Möbeln und Brettern Parrifaden. 

Man zwang die Bürger, zu helfen. Man drang in Wohnun- 
gen ein, nötigte die Frauen, Gewehre und Säbel ihrer abiwefen- 
den Männer auszuliefern und fchrieb mit Bleiweiß auf die Türen: 

„Hier wurden alle Waffen requiriert.// 

Manche unterzeichneten „mit ihrem Namen” Quittungen 
über ausgelieferte Gewehre und Säbel und fagten: 

„Holt euch die Waffen morgen vom Magiftrat wieder ab.’ 

Schildwachen und Nationalgardiften, die man auf der Straße 
fab, wurden entwaffnet. Offizieren riß man die Epauletten ab. 

Mir beribten alle diefe Dinge langſam und der Reihe nad, 
doc gefchahen fie gleichzeitig in allen Stadtteilen und unter un- 
geheurem Tumult. 

Kaum war eine Stunde vergangen, als allein im Quartier 
der Marfthallen ſiebenundzwanzig Barrifaden bereitftanden. 

Überall und gleichzeitig wurde gearbeitet, überall wurden die 
Poſten der Garnifon aufgehoben. Um fünf Uhr abends waren 
die Revolutionäre Herren des Baftilleplakes, der Lingerie und 


571 


der Blancs-Manteaur. Ihre Patrouillen rückten bis zum Place 
des Victoires vor, bedrohten die Staatsbank und die Haupt- 
poft. Ein Drittel von Paris war in Händen der Mevolutionäre. 

Gegen fes Uhr abends war die Paflage bu Saumon ein 
Schlachtfeld. Auf der einen Seite ftand die Menge, auf der 
anderen Militär. Durch die Gitter fhoß man aufeinander. Ein 
Beobachter, ein junger Iräumer, der Verfaſſer diefes Buches, 
der ausgegangen war, um fit den Vulkan aus der Mähe an- 
zufehen, geriet zwifchen die beiden Feuer. Um den Kugeln zu 
entgehen, mußte er zwifchen zwei Säulen flüchten und dort in 
einer recht gefährlichen Tage eine halbe Stunde warten. 

Bei manchen Megimentern waren die Soldaten fehwanfend. 
Diefer Umftand fteigerte die allgemeine Unruhe. Die Soldaten 
erinnerten fit der Ovation, die ihnen im Juli 1830 wegen der 
Meutralität des dreiundfünfzigften Linienregiments dargebracht 
worden war. Zwei furchtloſe und erfahrene Offiziere führten bas 
Kommando, der Marfhall von Lobau und General Bugeau. 
Gewaltige Patrouillen, Bataillone von Linienregimentern, denen 
fi) ganze Rompanien Mationalgarbdiften anfhloffen, refognofzier- 
ten in den revolutionären Stadtvierteln. Aber auch die Auf- 
ftändifchen ftellten Poften aus und fandten Fühn ihre Patrouillen 
aus den Barrifaben auf die Straße. So beobadıteten ſich die 
feindlihen Parteien. Die Megierung zögerte, obwohl fie eine 
Armee bereit hielt. Die Nacht mußte jeden Augenblif herein- 
breden, und Saint-Merry läutete Sturm. Der Kriegsminifter, 
der alte Marfhall Sould, der bei Aufterliß gefämpft hatte, fab 
düfter in die Zufunft. Die Tuilerien lagen einfam und verlaffen 
da. Louis Philippe war unbeirrbar ruhig. 


AchtesBuch 
Lin Atom verbrüdert fi mit dem Orkan 
1. Gavroche giebt in den Krieg 


In dem Augenblid, als die Menge mit ben Soldaten vor ' 
dem Arfenal zufammenftieß, fi teilte und in hundert Straßen 


572 





auseinanderftrömte, Eam ein junger Burfche, der in Lumpen ge- 
Eleidet war, die Nue Ménilmontant herabipaziert. In der Hand 
hielt er einen Baumaſt, den er bei DBelleville erbeutet hatte. 
Bor einem Trödlerladen blieb er ftehen und bemerkte eine alte 
Piftole im Schaufenfter. Er warf den Aft weg und fhrie der 
Trödlerin zu: 

„Frau Dingsba, ich entleihe mir von Ihnen biefe Kanone!” 

Dann verfhwand er mit der Piftole. 

Zwei Minuten fpäter begegnete ein Trupp verfchlihterter 
Bürger, der durch die Rue Baſſe flüchtete, einem Burfchen, der 
mutig feine Piftole ſchwang. 

Das war Gavroche, der in den Krieg 309. 

Übrigens hatte er Feine Ahnung, daß er in jener verregneten 
Nacht feine eigenen Brüder in Schuß genommen hatte. Bei 
Tagesanbrud war er nad dem Elefanten zurücgefehrt, hatte 
die beiden Kinder aus ihrem Verſteck herausgeholt, ihnen ein 
rai improvifiertes Frühftücf dargeboten und fie dann der Mut- 
ter anvertraut, die aud ihn aufgezogen und ernährt hatte: der 
Straße. 

Auf dem Markt Saint-Yean, deflen Poften bereits entwaff- 
net war, vollzog Gavroce feine Vereinigung mit der von Enjol- 
ras, Courfeyrac, Eombeferre und Feuilly geführten Truppe Auf- 
ftändifcher. Sie waren fo ziemlich bewaffnet. Auch Bahorel und 
Sean Prouvaire waren zu ihnen geftoßen. Enjolras hatte eine 
doppelläufige Sagdflinte, Combeferre das Gewehr eines Matio- 
nalgarbiften und zwei Piftolen im Gürtel, die fein Fnopflofer 
Mod immer feben ließ, Sean Prouvaire einen alten Kavallerie- 
farabiner. Bahorel und Eourfeyrae mußten fit mit Säbeln 
bebelfen. 

Mit dem Nufe: „Es lebe das freie Polen!’ marfhierte die 
Truppe durch die Straßen. Sie Fam vom Quai Morland. Man 
fab weder Halstüher noch Hüte, alle waren vom Regen durd- 
näßt und hatten leuchtende Augen. Gavrode fragte fie ruhig: 

„Wohin gehen wir?’ 

„Komm nur mit‘, fagte Courfeyrac. 


573 


Hinter Feuilly marfhierte Bahorel, der eine Farmefinrote 
Mefte trug. 

„Die Roten kommen!“ ſchrie ein erfchrodener Bürger. 

„Die Noten! Die Roten!!! äffte Bahorel. „„Sonderbare 
Furcht, Bürger! Ich fürdte mich weder vor Klatfehrofen no 
vor Rotkäppchen. Überlaffen Sie, Herr Bürger, die Abneigung 
gegen das Note dem Hornvieh!“ 

Jetzt fiel fein Bli auf ein Blatt Papier, einen Faftenerlaf 
des Erzbifhofs von Paris, der den „gläubigen Schafen‘ er- 
laubte, auch in der Faftenzeit Eier zu effen. 

„Schafe! Das ift der richtige Ausdruck!” fehrie Bahorel und 
riß den Zettel ab. Gavroche fand bas fehr richtig. Er beſchloß, 
fib mit Bahorel zu verftändigen. 

„Du haft unrecht, Bahorel“, fagte Enjolras. „Du hätteft 
den Faftenerlaß in Ruhe laffen follen, wir haben nichts mit dem 
Bifhof zu fun, du verfehwendeft damit deine Zeit. Spare mit 
der Munition.” 

„Jeder wie er kann“, fagte Bahorel. „Dieſe bifhöfliche Proſa 
geht mir auf die Nerven. Ich will Eier effen ohne Erlaubnis. 
Du bift einer von den Kalten, ih muß meinen Spaß haben. 
Übrigens verfchwende id nicht, fondern made mir nur Be— 
wegung. Wenn ich diefen Erlaß zerreiße, fo tue ich es, beim 
Herkules, um meinen Appetit zu reizen.’ 

Das Wort Herkules imponierte Gavroche. Da er lernbegierig 
war, fragte er: 

„Bas heißt Herkules?’ 

„Das ift der lateinifhe Name für Schockſchwerenot“, er- 
widerte Bahorel. 

est bemerfte Bahorel an einem Senfter einen jungen blaffen 
Menfhen mit ſchwarzem Bart, wohl einen der Freunde des 
A⸗B⸗C. 

„Raſch, mach Kugeln!“ ſchrie er, „para bellum!“ 

„Bel homme, feſcher Kerl“, beſtätigte Gavroche, der ſeine 
Lateinſtudien ernſthaft fortſetzte. 


574 





Eine lärmende Menge folgte ihnen: Studenten, Künftler, 
junge Leute, Arbeiter. Mande trugen Stöde, mande Bajo— 
nette, einige hatten Piftolen im Gürtel. Ein Alter war bar- 




















unter, der fehr bejabrt fehien und Feine Waffe trug. Er fab fehr 
nachdenflih aus. Gavroche bemerfte ibn. 

„Wer ift denn dag?’ fragte er Courfenrac. 

„Irgendein Alter.‘ 

Es war Mabeuf. 


515 


2. Ders Alte 


Und das Fam fo. Enjolras und feine Freunde befanden fi, 
als die Dragoner auf das Volk fhoffen, auf dem Boulevard 
Bourdon. Enjolrag, Eourfeyrae und Combeferre hatten die 
Lofung ausgegeben: ,, Saut Barrikaden!“ In der Nue Lesdigu- 
jeres begegneten fie dem Alten. Er ging im Zickzack, als ob er 
betrunfen wäre. Den Hut hielt er in der Hand, obwohl es feit 
Morgen heftig regnete. Courfeyrac hatte Vater Mabeuf er- 
fannt. Oft hatte er Marius zu ihm begleitet. Er Fannte die 
fheue und ängftliche Art des alten Bücherwurms und war nicht 
wenig erftaunt, ihn inmitten diefes Tumults zu begegnen. 

„Geben Sie nad) Haufe, Herr Mabeuf!“ 

„Warum?“ 

„Es gibt Krach.“ 

„Gut ſo.“ 

„Säbelhiebe, Gewehrſchüſſe, Herr Mabeuf!“ 

„Gut.“ 

„Kanonenſchüſſe.“ 

„Um ſo beſſer. Wo geht ihr hin?“ 

„Wir gehen die Regierung herausſchmeißen.“ 

„Gut!“ 

Und dann ſchloß er ſich ihnen an. 

Bald verbreitete ſich das Gerücht, er ſei ein altes Konvents— 
mitglied, einer der „Königsmörder“. 


3. Rekruten 


Die Truppe wuchs von Augenblick zu Augenblick. In der 
Rue des Billets ſchloß ſich ihnen ein hochgewaächſener, bereits 
ergrauter Mann an, deſſen ſtrenge Mienen Courfeyrae, Enjol- 
ras und Combeferre auffielen. Sie kannten ihn nicht. Gavroche, 
der ſingend vorauszog, ließ ſich nicht die Gelegenheit entgehen, 
mit dem Kolben ſeiner Piſtole, die leider keinen Hahn hatte, 
die Schaufenſter mißliebiger Läden einzuſchlagen. 


5 76 





In der Mue de la Verrerie famen fie am Haufe Courfeyraes 
vorüber. 

„Das trifft fit gut,’ fagte Courfeyrac, „ich babe meine 
| Börfe vergeflen und meinen Hut verloren.’ 

Er eilte die Treppe hinauf, nahm einen alten Hut und feine 
Börfe. Auch einen großen Koffer, den er zwifchen fhmubiger 
Wäſche verborgen hatte, fchleppte er mit. Als er die Treppe 
| binabeilte, hielt ibn die Pförtnerin auf. 

„Herr von Courfeyrae!“ 

‚ie heißen Sie eigentlih?‘ fragte Courfeurac. 
Diie Pförtnerin war verblüfft. „Aber Sie willen doch, ic) 
| bin die Pförtnerin. Sch heiße Mutter Veuvain.“ 
„Hören Sie, wenn Sie mir nod einmal Herr von Eour- 
| feprac fagen, nenne ih Sie Madame de Veuvain. Nun, was 
gibt es?“ 

„Es ift jemand da, der Sie Sprechen will.’ 

„Wer?“ 

„Weiß nicht.“ 

„Wo?“ 

„In meiner Loge.“ 

„Zum Teufel mit ihm!“ 

„Er wartet ſchon eine Stunde auf Sie.“ 

Im ſelben Augenblick kam ein kleiner, magerer, blaſſer, 
junger Burſche mit einem ſommerſproſſigen Geſicht heraus, der 
einen zerriſſenen Kittel und eine geflickte Samthoſe trug. Der 
Stimme nach hätte man ihn eher für ein Mädchen halten 
können. 

„Wo iſt Herr Marius?“ 

„Er iſt nicht zu Hauſe.“ 

„Kommt er heute abend nach Hauſe?“ 

„Das weiß ich nicht. Ich beſtimmt nicht.“ 

Der junge Mann ſah ihn ſcharf an. 

„Warum nicht?“ 

„Darum.“ 

„Wohin gehen Sie denn?“ 


37 Hugo, Die Elenden. 577 






















Bas geht bas did an?’ 

„Sol id Ihnen Ihren Koffer tragen?’ 

„Ich gehe auf die Barrikade.“ 

„Darf ih mit Ihnen kommen?“ 

nBenn du wilft! Die Straße ift frei, das Pflafter gehört 
der Welt.’ 

Und er rannte feinen Freunden nad. 


NeuntesBuch 
Eorinthe 
l. Bergnügte Vorbereitungen 


Laigle aus Meaur wohnte mehr bei Joly als anderswo. Er 
hatte ein Heim, wie ein Vogel einen Aft. Die beiden Freunde 
lebten zufammen, aßen zufammen, fehliefen in demfelben Zimmer. 
Alles hatten fie gemeinfam, fogar ihre Mufibetta. 

Am Morgen des 5. Juni gingen fie zum Frühftüd in ihre 
Budife „Corinthe“. Voly, der an Schnupfen litt, hatte Laigle 
bereits ein wenig angeftecft. Laigles Anzug war abgetragen, aber 
Joly Eleidete fich gut. 

Es war gegen neun Uhr morgens, als fie an die Tür von 
„Corinthe“ Elopften. 

Im erften Store fanden fie die Kellnerinnen Matelotte und 
Gibelotte. 

„Auftern, Käſ' und Schinken!” befahl Saigle. 

Und fie feßten fic. 

Sonft waren noch Feine Gäfte da. 

Gibelotte Fannte Joly und Laigle und ftellte eine Flaſche auf 
den Tiſch. 

Als fie bei den erften Auftern waren, tauchte ein Kopf auf 
der Treppe auf und eine Stimme rief: 

„Schon von der Straße her babe ich euren Käfe aus Brie 
gerochen. Hier habt ihr mich!” 

Es war Grantaire. 


518 





Auch er feste fid. 

Gibelotte Fannte auch ibn und ftellte fogleich zwei Flafchen 
Mein auf. 

„Trinkſt du immer zwei zugleich?’ fragte Laigle. 

„Alle find gefheit, nur du bift dumm’, erwiderte Grantaire. 
„Ich babe nod nie einen Mann gefehen, der vor zwei Flaſchen 
erfchrocfen wäre.’ Die andern hatten begonnen zu eflen. Gran- 
faire begann zu trinken. Bald war eine halbe Slafhe erledigt. 

„Haft bu ein Loh im Magen?” fragte Laigle. 

„Sieber als deines im Ellbogen‘’, erwiderte Grantaire. 

„Kommft du vom Boulevard?‘ 

„Nein.“ 

„Wir haben die Spitze des Leichenzugs geſehen, Joly 
und ich.“ 

„Wie dieſe Straße ruhig iſt,“ ſagte Laigle, „wer hätte ge— 
dacht, daß in Paris alles auf den Beinen iſt? Hier merkt man, 
daß es eine Kloſtergegend iſt.“ 

„Aber weil wir gerade bei den Revolutionen ſind,“ meinte 
Joly, „wißt ihr etwa, was mit Marius geworden iſt?“ 

„Niemand weiß, in wen er verliebt iſt.“ 

„Ach die Liebſchaften von Marius!“ ſchimpfte Grantaire, 
‚Die kenne ich auswendig. Er iſt ein nebulöfer Menſch und wird 
irgend fo etwas Dunftiges gefunden haben. Poetenraffe. Pet 
und Narr ift basfelbe. Das find Efftafen, über denen man bas 
Küffen vergißt. Keufhheit auf Erden, MWolluft im Jenſeits.“ 

Grantaire war eben im Begriff, feine zweite Flafche zu 
leeren, als wieder jemand auf der Treppe erfhien. Es war ein 
faum zehnjähriger, zerlumpter unge mit einem Wufchelkopf, 
der vom Regen froff. Er fab vergnügt aus. 

Obwohl der unge fihtlich Feinen von den breien Fannte, 
wandte er fi ohne Zögern an Taigle aus Meaur. 

„Sie find doch Herr Boſſuet?“ 

„Das ift mein Spisname”, ermiderte aigle. „Was 
willft du?‘ 


37% 579 


„Ein großer Blonder bat mir auf dem Boulevard gefagt: 
Geh ins ‚Corinthe‘, dort findeft du Herrn Boffuet. Sag’ ibm 
von mir: A⸗B⸗C. Wahrſcheinlich ift es ein fchlechter Wis. Aber 
er bat mir zehn Sous gegeben.’ 























— 


= 


— 























„Joly, leih mir zehn Sous,“ ſagte Laigle, „und du, Gran— 
faire, rück' auch zehn Sous heraus!” 

So bekam der Junge einen Franken. 

„Wie heißt du, Kleiner?“ fragte Laigle. 

„Navet, ich bin ein Freund von Gavroche.“ 


580 








„Bleib bei uns, mein junge.‘ 

nStübfiüde mit uns“, Iud ibn Grantaire ein. 

„Ich Éann leider nicht, ermiberte der Knabe, „ich gehöre 
zum Trauerzug, id muß ‚Mieder mit Polignac!“ fchreien.‘ 

Damit zog er ab. 

aigle fann nad. 

„A⸗B⸗C bedeutet: Beerdigung Lamarques.“ 

„Der große Blonde ift Enjolras“, meinte Grantaire. 

„Beben wir hin?’ fragte Boffuet. 

„eEs regnet“, erwiderte Soly. „Ich babe gefchworen, mid 
dem Feuer auszufeßen, aber vom Regen war nie die Rede. Ich 

| will feinen Schnupfen haben.‘ 

Ich bleibe auch, fagte Grantaire, „mir ift ein Frühftüd 

lieber als ein Leihenwagen. 

„Abftimmung ergibt, wir bleiben. Wenn es losgeht, fommen 
wir immer no zurecht.‘ 

„Ja, dann Éomm id auch!” rief Soly. 

Laigle rieb fit die Hände. 

„Die Revolution von 1830 fol retufhiert werden,” fagte er, 
‚Die Verfaſſung ift dem Volk zu eng.” 

„Mir vollkommen ſchnuppe,“ erwiderte Grantaire, „ich habe 
nichts gegen die Regierung. Eine Krone, über die eine Schlaf— 
mütze gezogen iſt, ſoll mir recht ſein. Sie gleicht einem Geſpenſt 
mit einem Regenſchirm.“ 

Auf der Treppe wurden raſche Schritte hörbar. Von der 
Straße rief man: 

„Zu den Waffen!“ 

Laigle wandte ſich um und fab in der Rue Saint-Denis 
Enjolras mit feinen Freunden. Gavroche folgte ihm mit feiner 
Piftole, Feuilly mit dem Säbel, Courfeurac mit dem Degen, 
Prouvaire mit der Musfete. 

Die Rue de [a Chanorerie, in der „Corinthe“ Yag, war 
kürzer als die Tragweite eines Karabiners. Boſſuet legte die 
Hände an den Mund und fbrie: 

„Sourfeyrac! Courfeyrac!“ 


581 


Der blieb fteben, erfannte Laigle und rief: 
„Bas willft du?‘ 

„Wohin?“ 

„Wir wollen eine Barrikade bauen!“ 





„Gut, bleibt hier, der Platz iſt günſtig.“ 

„Das iſt wahr, Laigle“, antwortete Courfeyrac. Und die 
Menge beſetzte die Rue de la Chanvrerie. 

Wirklich eignete ſich der Platz ausgezeichnet. „Corinthe“ be— 
herrſchte das Winkelwerk der Sackgaſſe, die Rue Mondetour 


582 





Éonnte nach beiden Seiten abgefperrt werden, fo daß nur An- 
griffe von der Rue Saint-Denis her möglich waren. Der be- 
foffene Boffuet hatte nicht weniger Wit bewiefen als ein nüch— 
terner Hannibal. 

As die Menge die Straße befehte, verbreitete fie überall 
Entfegen. Bald war die Straße vollfommen von Spazier- 
gängern gefäubert. Blitzſchnell wurden allenthalben Fenfter ge- 
ihloffen, Türen verfperrt, Läden zugefchlagen. Eine Alte, die 
Angft befam, befeftigte eine Motrage am Fenfter, um die 
Kugeln aufzuhalten. Nur die Kafchemme blieb offen, und das 
aus dem einfachen Grunde, weil die Truppe fie befeßt Hatte. 

Frau Huceloup, die Wirtin, jammerte. 

Boſſuet war binuntergegangen und hatte fih Courfeyrac an- 
gefhloffen. Joly ftand am Fenfter und fohrie: 

„Sourfeyras, du haft deinen Schirm zu Haufe vergeffen! Das 
gibt einen tüdifchen Schnupfen!” 

In wenigen Minuten wurden zwanzig Eifenftangen, mit 
denen die Senfter der Gaftwirtfhaft verfihert waren, heraus» 
gebrochen; zehn Klafter weit wurde das Pflafter der Straße 
aufgeriffen. Gavrode und Bahorel bemädtigten ſich des 
Magens eines Ralfbrenners, ftürzten ihn um und rollten die 
Fäſſer herbei. Aus Pflafterfteinen und leeren Fäſſern, die man 
im Keller des Wirtshaufes fand, wurde die Barrikade erbaut. 
Matelotte und Gibelotte nahmen an den Arbeiten teil. Sie 
liefen bin und ber, als ob fie Gäfte bedienten. 

Ein Omnibus, der mit zwei weißen Pferden befpannt war, 
bog in die Straße ein. 

Boſſuet fprang über die Barrikade, eilte dem Wagen ent: 
gegen und hielt ibn an. Er zwang die Paflagiere, auszufteigen, 
half den Damen dabei, höflich, wie er war, entließ den Kutjcher 
und brachte Pferd und Wagen ein. 

Sm nädhften Augenblif waren die Pferde ausgefpannt und 
wurden die Mue Mondetour binuntergejagt. Der Omnibus war 
eine willfommene Dervollftändigung der Barrifade. 


583 


Jetzt hatte es aufgehört, zu regnen. Neue Nekruten waren): 
gefommen. Arbeiter fchleppten ein Pulverfaß herbei, einen Korb 
mit Bitriolflafhen und einige Karnevalfadeln, die von der 
legten Feier des Föniglihen Geburtstags übriggeblieben waren. 





Die einzige Laterne, die zur Erleuchtung der Rue de Ia Chan- 
vrerie diente, wurde umgeriflen. 

Enjolras, Combeferre und Courfeyrac leiteten das Ganze. 
Es wurden gleichzeitig zwei Barrikaden gebaut, die vor dem 
„Sorinthe‘ nach beiden Seiten bin eine Sperre bildeten. Die 


584 


N 
| 
! 


| 


höhere Schloß die Rue de Ia Chanvrerie ab, die niedrigere die 
Rue Mondetour. Die letztere beftand nur aus Pflafterfteinen 
und Fäffern. Insgeſamt arbeiteten etwa fünfzig Leute. Dreißig 
hatten Gewehre, denn balbenwegs war man in den Laden eines 
Maffenfhmiedg eingedrungen und hatte gegen Quittung 
gekauft. 

Es war eine fonderbare Truppe. Einer trug einen Furzen 
Halbrock, einen Kavalleriefäbel und zwei alte Piftolen; ein an- 
derer war in Hemdsärmeln, trug einen runden Hut und ein 
Pulverborn an der Seite; ein dritter hatte fih aus grauem 
Papier ein Plaſtron gemacht und trug als Waffe eine Sattler- 
able. Da war einer der fehrie: 





„Bir wollen bis zum lebten Mann Fampfen und an ber 
Spiße unferer eigenen Bajonette ſterben!“ 

Und diefer Mann hatte gar Fein Dajonett. 

Ein anderer hatte feinen bürgerlichen Mod mit der Patronen- 
tafche und dem Ledergurt eines Mationalgarbiften geſchmückt und 
zeigte ſtolz die Auffchrift: 

„Dienſt der öffentlihen Drdnung.‘ 

Viele Gewehre zeigten Legionsnummern. Man fab faum 
Hüte, Feine Halstüher, viele bloße Arme. jedes Alter und 
jeder Typ war vertreten. Man fab blaffe junge Leute, fonnen- 
verbrannte Arbeiter. Alle waren haftig am Werk. Zwifchen- 
dur) wurden allerlei Gerüchte verbreitet. Es hieß, gegen drei 
Uhr morgens würde man DVerftärfung erhalten, ein Negiment 
fei gewonnen, ganz Paris werde fih erheben. Alle diefe un- 
heimlihen Dinge wurden in beralihem, ja fogar gemütlichem 
Ton befprodhen. Alle diefe Leute, die einander beim Namen 
fannten, fhienen Brüder geworden zu fein. Die großen Ge- 
fahren haben oft diefe Schöne Wirkung, auch die Brüderlichkeit 
derer, die einander nicht Éennen, ans Licht zu bringen. 

In der Kühe war ein Feuer angemacht worden; dag Zinn- 
gefhirr des MWirtshaufes, Kannen, Löffel und Gabeln, wurde 
eingefhmolzen. Man tranf inmitten des ganzen Wirrwars. Im 
Billardfaal ſaßen Mutter Hucheloup, Matelotte und Gibelotte, 


585 





groben Fingern nur ſchwer diefe zarte Arbeit verrichten Eonnten,||! 
halfen dabei. | 

Der hochgewachſene Mann, der fih der Truppe an der Ede 
der Rue des Billets angefhloffen hatte und den Courfeyrar, 
Sombeferre und Enjolrag bemerft hatten, madte fi an der 
Fleineren Barrikade nützlich. Gavrode arbeitete an der größeren 
mit. Was den jungen Mann betrifft, der Courfeyrac in feinem 
Haufe erwartet und nad) Marius befragt hatte, fo war er un- 
gefähr in dem Augenblid, als der Omnibus umgeriffen wurde, 
verfhwunden. 

Gavroche war begeiftert. Fieberhaft arbeitete er mit. Er lief 
bin und her, fprang bald von der Barrikade herunter, ftieg wie- 
der hinauf, tobte und ladte. Seine Hauptaufgabe fhien darin 
zu befteben, die anderen zu ermuntern. Weldher Sporn trieb ihn 
an? Gewiß war es bas Elend. War er beflügelt? Seine Flügel 
waren die Freude. 

Er feuerte die Trägen an, ließ den Nichtstuern Feine Mube, 
fiel ben Nachdenklichen auf die Merven, beluftigte die einen, 
machte die andern wütend, ärgerte einen Studenten, bradte 
einen Arbeiter in Rage. 

„Vorwärts,“ fehrie er, „Pflaſterſteine her! Fäffer! Alles was 
es gibt! Einen Bottih Schutt, um biefes Loch da zu verftopfen. 
uff, eure DBarrifade ift zu Elein! Sie muß höher werden! 
Schmeißt alles drauf, was ihr findet! Reißt diefe alte Parade 
ba ein! Für eine Barrifade Fann man alles brauchen. Seht 
bob, die Glastür!“ 

Einige der Arbeiter erhoben Einſpruch. 

„Eine Glastür? Was foll man denn mit einer Glastür an- 
fangen, du Dreikäſehoch?“ 

„Eine Glastür paßt fehr gut zu einer Barrikade“, antwortete 
Gavroche. „Sie hindert nicht, daB man angegriffen wird, aber 


586 


ſie ftört den, der fie ftürmen will. Ihr habt wohl nie in einem 
‚Garten Äpfel geklaut, deffen Mauern mit Glasfherben beftect 
waren? Eine Glastür, die wird den Mationalgardiften, wenn 
‚fie die Barrifade binauffteigen wollen, gehörig die Hühneraugen 
operieren! Aber euch läßt natürlih wieder die Phantafie 
im Stich!‘ | 

Sm übrigen war er untröftlih, daß feine Piftole Feinen 
Hahn hatte. 

„Ein Gewehr! Sch will ein Gewehr! Warum gibt man mir 
keines?“ 

„Dir ein Gewehr?“ fragte Combeferre. 

„Warum nicht?“ meinte Gavroche, ,,1830 babe id auch eines 
gehabt, als wir mit Karl X. ein Hühnchen zu rupfen hatten.“ 

Enjolras zuckte die Achſeln. 

„Wenn alle Männer eines haben, bekommen auch die Kinder 
welche ab.“ 

Gavroche wandte ſich ſtolz ab und antwortete: 

‚enn du vor mir fällt, nehm’ ich deines.“ 





2. Der Rekrut aus der Nue des Billets 


Schon war es tiefe Nacht. Aber es ereignete fi nichts. 
Wohl hörte man verworrenen Lärm und zumeilen bas Rnattern 
der Gewehre, aber aus der Ferne. Diefer Aufſchub bewies, daß 
die Megierung ihre Kräfte fammelte. Die fünfzig mußten fib 
auf fechzigtaufend Feinde gefaßt machen. 

Enjolras empfand biefe Ungeduld vor dem Ereignis, die den 
ftarfen Seelen befannt ift. Er fuchte Gavroche auf, der in bas 
Gaftzimmer gegangen war, um im fpärlichen Licht zweier 
Kerzen am Kugelgießen teilzunehmen. Viel Licht durfte nicht 
gebrannt werden, um in den oberen Stocdwerfen dem Gegner 
fein Ziel zu geben. 

Do war die Aufmerffamfeit Gavroches nicht gerade den 
Kugeln gewidmet. 

Der Mann aus der Mue des Billets war eingetreten und 


587 


batte fi an ben Tiſch gefeht. Er hielt fein Gewehr zwifchen | 
den Beinen. Gavrobe, von taufend anderen amüfanten Dingen . 
abgelenkt, hatte ihn bisher wenig beachtet. 

Wer indeffen den Mann ftudiert hätte, dem wäre ohne ! 
Zweifel aufgefallen, daß er nicht nur die Erbauung der Barri- | 
fade, fondern au die einzelnen Ynfurgenten mit feltfamer Auf- 
merffamfeit betrachtete; jeßt allerdings, im Gaftzimmer, [bien ! 
er fi zu erholen und der Vorgänge ringsum wenig zu achten. ! 
Der Straßenjunge näherte fih dem Unbefannten und flic 
auf den Sebenfpisen, als ob er ihn nicht aufwecken wollte, ber- 
bei. Plößlich zeigte fein Geficht zwei Falten, die Staunen und 
Verwunderung ausdrüdten. 

Er hatte etwas gefeben. 

In diefem Augenblif trat Enjolras ein. 

„Du bift Flein‘‘, fagte er, „dich bemerft man nicht. Schleich 
einmal die Straße hinunter und ſchau ein bißchen nad, was 
draußen vorgeht.” 

„Soſo,“ fagte Gavroche, „alſo die Kleinen find bod zu etwas 
zu brauden? Ein Glück! Ma, ihr folltet lieber den Kleinen mehr 
und den Großen weniger trauen!’ er deutete auf den Mann aus 
der Rue des Billets. „Sehen Sie den Großen da?" fragte 
er leiſe. 

„Sun? 

„Das iſt ein Spißel.” 

„Weißt du das gewiß?” 

„Es ift noch Feine vierzehn Tage her, da bat er mich auf bem 
Dont-Royal von der Brüſtung, auf der ich fpazierenging, an 
den Ohren heruntergezogen.“ 

Enjolras trat zur Seite und fprad) einige Worte mit einem 
Safenarbeiter, der in der Ede ftand. Der ging hinaus und Fam 
gleich darauf mit drei anderen zurück. Die vier Laftträger, breit- 
fbultrige Kerle, ftellten fi hinter dem Tiſch auf. Sie faben 
aus, als ob fie fih fofort auf den Monn aus der Rue des Bil- 
lets ftürzen wollten. 

Enjolras trat auf ibn zu. 


588 

















„Ber find Sie?’ 

Der Mann fuhr auf. Er bohrte feinen Blick in Enjolras 
Elare Augen und fchien feinen Gedanfen erraten zu haben. Dann 
| lächelte er verächtlich und entſchloſſen zugleich. 

Ich ſehe fon, was Los iſt“, fagte er. „Nun gut, ja.‘ 

„Sind Sie ein Spißel?” 

„Ich bin Polizeiagent.‘ 

„Sie beißen?” 

„Javert.“ 

Enjolras gab den vier Männern ein Zeichen. Im nächſten 
Augenblick war Javert gepackt, niedergeworfen, gebunden und 
viſitiert. 

In ſeiner Taſche fand man eine zwiſchen zwei Glasſcheiben 
gepreßte Karte, die das franzöſiſche Wappen und folgenden 


Wortlaut zeigte: — 


Auf der Kehrſeite ſtand: „Javert, Polizeiinſpektor, zweiund— 
fünfzig Jahre alt.“ Und darunter die Unterſchrift des Polizei— 
präfekten Gisquet. 

Überdies fand man eine Uhr und eine Börſe, die einige Gold— 
ftücfe enthielt. Man überließ ibm beides. Endlich entdeckte man 
no ein Blatt, bas Enjolras entfaltete und auf dem man von 
der Hand des Dolizeipräfeften folgendes fand: 

„Sofort nad Erledigung feines politifchen Auftrags bat fid) 
der Inſpektor Javert zu überzeugen, ob die Verbrecher wirklich 
am rechten Ufer der Seine, in der Nähe des Dont d'Jéna, 
Stellungen vorbereitet haben.” 

Man band Vavert die Arme auf den Rücken und feffelte ihn 
an den Pfeiler der Gaftftube. 

Gavrode hatte die Szene jhiweigfam und mit dem Kopfe 
nicfend verfolgt. Sekt trat er zu Javert und fagfe: 

„Die Maus bat die Kate gefangen.” 

Javert bewahrte die unerfohrodene Ruhe eines Mannes, der 
nie gelogen hat. 

„Er ift ein Spißel,‘ erklärte Enjolras Courfeyrac, Boſſuet 


589 


er fort: 


„Sie werden zehn Minuten vor der Erftürmung der Barri- 
Fade erfchoflen.” 


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3 





„Warum nicht gleich?’ fragte Javert ftolz. 

„Wir fparen Munition.‘ 

„Dann erledigen Sie die Sache mit dem Meffer.” 

„Spitzel,“ fagte Œnjolras, ‚wir find Richter und nicht 
Mörder! 


590 














Zebntes Buch 
Die Öroßtaten der Derzweillung 


l. Bon der Rue Plumet ins Quartier 
Saint-Denis 


\ Die Stimme, die Marius in der Dunfelbeit nad) der Barri— 
kade gerufen hatte, war ihm wie ein Befehl des Schickſals er- 
ſchienen. Er wollte ſterben — fon bot fi) die Gelegenheit. Er 
| Élopfte an das Tor des Grabes, eine Hand aus dem Schatten- 
reich warf ibm den Schlüffel zu. 

Raſch lief er weg. Zufällig war er bewaffnet, denn er hatte 
Javerts Piſtolen bei fi. 

Der junge Burſch, den er bemerft hatte, war aus feinen 
Augen verfhwunden. 

Marius bog aus der Rue Plumet in den Boulevard ein, 
überquerte die Efplanade und die Ynvalidenbrüde, die Champs 
Elyſées und den Platz Ludwigs XV. So erreichte er die Nue 
de Rivoli. Die Läden waren geöffnet, in den Arkaden brannte 
Licht. Frauen erledigten ihre Einkäufe, Gäfte lüffelten Eis im 
Café Laiter und afen Éleine Kuchen in der Pätifferie Anglaife. 
Dom Hôtel Meurice fuhren Poftkutfchen in vollem Galopp ab. 

Marius ging burd die Paflage Delorme in die Aue Saint: 
Honore. Hier waren die Läden gefhloffen, die Krämer ftanden 
vor den balboffenen Türen und debattierten; doch brannten die 
Straßenlaternen, und in den Fenftern war, wie gewöhnlich, 
Licht. Auf dem Plat des Palais-Royal ftand Kavallerie. 

Ve weiter fih Marius vom Palais-Royal entfernte, um fo 
weniger beleuchtete Senfter fand er. Hier waren alle Läden ge- 
fhloffen, doch zeigten fih viele Menfchen auf der Straße. Man 
fah niemand fprechen, aber ein bumypfes Stimmengewirr war zu 
vernehmen. 

Am Eingang der Nue des Prouvaires ftaute fi die Menge. 
Man fab Gemwehrpyramiden, Bajonette, bimafierende Soldaten. 
Hier hörte aller Verfebr auf. Hier herrſchte die Armee. 


>91 


Marius zwängte fih mit der Entjchloffenheit eines Verzwei— 
felten dur die Menge und drang vor. Man rief ihn an, aber 
er ging weiter. Quer burd dag Biwak der Soldaten, auf einem 
Ummeg, erreichte er endlich die Rue de Béthiſy und näherte fi 
den Hallen. Hier gab es längft Feine Laternen mehr. Er durd)- 
ſchritt jeßt gewiflermaßen den Bannkreis der Truppen. Hier be- 
gegnete er weder Soldaten not Ziviliften. Alles lag in tieffter 
Einſamkeit. Ihn fhaucrte vor Kälte. In eine Straße ein- 
dringen, hieß in einen Keller hinabfteigen. 

Set famen Laufende an ihm vorbei. Waren es Männer, 
Srauen? Bevor er etwas gefehen hatte, war alles vorüber. 

Endlich gelangte er zu einem Gäßchen, das er für die Rue de 
fa Poterie hielt. In der Mitte fief er auf ein Hindernis. Er 
fireefte die Arme aus. 

Es war ein umgeftürjter Karren. Eine von den Erbauern 
wieder verlaffene Barrifade. Marius überftieg fie: Jetzt be- 
merfte er etwas Weißes. Als er näher trat, nahm es Geftalt 
an. Es waren die beiden Pferde, die Boffuet heute morgen von 
dem Omnibus abgefpannt hatte. Sie waren den ganzen Tag 
dur die Straßen geirrt und ftanden jet geduldig und müde, 
Ziere, die das Gebaben der Menfhen nicht begreifen, hinter 
dem Karren. 

As Morius in die Mue du Contrat focial gelangte, pfiff 
eine Gemwehrfugel an feinem Kopf vorüber und blieb in einem 
Eupfernen Barbierbeden fteden. 

Diefer Schuß war das einzige Lebenszeichen, das er empfing. 
Von da an fab und hörte er nichts mehr. 

Und doch ging Marius weiter in die Finfternis hinein. 


2. Knapp vor dem Ziel 


Marius erreichte die Marfthallen. 

Hier herrſchte Totenftile und vollfommene Finfternis. Eifige 
Ruhe des Grabes fhien aus der Erde aufgeftiegen zu fein. 

Ein roter Schimmer bob die Silhouette der Dächer vom 


>92 





Hintergrunde ab. Das war der Widerfchein der Fackeln, die auf 
der Barrifade des „Corinthe“ brannte. Dahin lenkte Marius 
feine Schritte. Die Schildwache der VYnfurgenten in der Rue 
bes Précheurs bemerkte ibn nicht. Er fühlte, daß er dem Ziele 
nahe war, und ſchlich auf den Fußfpisen weiter. Er erreichte die 
Rue Monbétour, die einzige Verbindung mit der Außenwelt, 
die Enjolras offen gelaffen hatte. 

est Eonnte er hinter einer formlofen Wand fhimmernde 
Windlichter und Männer fehen, die, das Gewehr auf den Knien, 
dafaßen. Das war die Ynnenfeite der Varrifade. Nun hatte 
Marius nur mehr einen Schritt zu fun. 

Aber der unglüdlihe junge Mann feste fi) auf einen Stein, 
freuzte feine Arme und begann nachzudenken. Er dadte an 
feinen Vater, der ein fo ftolger Soldat gemefen war und die 
Grenzen der Mepublif verteidigt, fpäter unter dem Raifer 
Genua, Aleſſandria, Mailand, Turin, Madrid, Wien, Dresden, 
Berlin und Moskau gefehen hatte. Auf all den Schlachtfeldern 
Europas hatte er Tropfen jenes Blutes verfprißt, bas aud er, 
Marius, in feinen Adern fühlte. 

Nun war aud für ihn der Tag herangefommen, da er uner- 
ſchrocken, kühn und tapfer fein follte, den Kugeln Widerftand 
leiften, feine Bruft den Vajonetten darbieten, fein Blut ver- 
gießen, den Tod ſuchen mußte. Aber fein Schlachtfeld war die 
- Straße, und der Krieg, den er führen würde, war ber 
Bürgerkrieg. 

Ihm war, als ob diefer DBürgerfrieg ein Schlund wäre, der 
fih vor ihm auftat und in den er hineinftürgen mußte. 

Er fhauerte. 

Schmerzlic gedachte er des Schwerts feines Vaters, dag fein 
Großvater fo ſchmählich einem Trödler verfauft hatte. Vielleicht 
hatte biefes Schwert, biefes Fühle und reine Schwert, gutgetan, 
in der Dunkelheit unterzutsuchen und vor ibm zu fliehen; es 
hätte die Nebellion, ben Krieg im Ninnftein gefcheut, den Krieg 
der fallenden Hinterhälte. Es war in Marengo und Friedland 
geführt worden und wollte nicht in der Mue de la Chanprerie 


38 Hugo, Die Elenden. 593 


dienen; e8 wollte dag Schwert feines Daters fein und nicht 
diefem Sohn gehören. 

Es war furdtbar, aber was follte er tun? Ohne Cofette 
fonnte er nicht leben. Sie war fort, alfo mußte er fterben. 
Patte er nicht fein Ehrenwort gegeben, daß er fterben werde? 
Sie war abgereift, obwohl fie es wußte. Alfo wollte fie, daß er 
ftarb. Gewiß liebte fie ibn nicht mehr, denn wie hätte fie fonft 
fortgehen Eönnen, ohne ihm ein Wort, eine Zeile zukommen zu 
faffen, da fie doch feine Adreffe wußte? 

Wozu ſollte er jet noch leben? Und da er nun einmal bis 
hierher vorgedrungen war, follte er zurückweichen, die Gefahr 
meiden, in die er fich begeben hatte? Seine Freunde, die ihn er- 
warteten, verlaffen? Sie braudten ibn. Wie wertvoll war eine 
einzige Fauft, da fie doc gegen eine Armee ftanden? An allem, 
an feiner Liebe, an feiner Freundespfliht, an feinem Ehren- 
wort follte er Verrat üben? Schuft werden unter dem Vor— 
wand, einem patriotifchen Gefühl nachzugeben? 

Unmöglich! 

Wenn der Geiſt ſeines Vaters ihn geſehen hätte, würde er 
ihm zugerufen haben: 

„Vorwärts, Feigling!“ 

Jetzt fühlte er ſich geſtärkt. Er ſah klarer. Vielleicht war es 
die Nähe des Grabes, die ihn erleuchtete. Jetzt ſchien ihm die 
Tat, die er begehen wollte, nicht mehr kläglich, ſondern erhaben. 
Der Krieg auf der Straße verwandelte ſich plötzlich vor ſeinem 
geiſtigen Auge in ein Werk der Seele. Nun wußte er auf alle 
Fragen, die ihn eben noch bedrängt hatten, eine Antwort. 

Warum hätte fein Vater zürnen ſollen? Iſt nicht auch die 
Revolution unter gewiſſen Umſtänden Pflicht? Entwürdigte ſich 
der Sohn des Oberſten Pontmerey in dieſem Kampf? Hier ging 
es zwar nicht um den heiligen Boden, aber um eine heilige 
Idee. Mochte das Vaterland klagen, die Menſchheit würde auf— 
atmen. Und durfte wirklich Frankreich, wenn die Freiheit 
lächelte, betrübt ſein? Im Angeſicht der Freiheit hat Frankreich 
ſtets ſeine Wunden vergeſſen. 


594 


Und dann, was bedeutete diefes Mort Bürgerfrieg? Gibt es 
einen Krieg gegen Fremde? Iſt nicht jeder Krieg swifhen Men- 
chen ein Bruderfrieg? Nur der Zwed rechtfertigt den Kampf, 
und darum gibt es diefe Unterfheidung nit: Krieg gegen den 
Feind, Krieg gegen den Mitbürger. Es gibt nur ungerechten Krieg 
und gerechten. Big zu dem Tag, da der große Bund aller Men- 
ſchen gefchloffen ift, wird jeder Kampf für die Zukunft und 
gegen die Vergangenheit, die nicht weichen will, notwendig fein. 
Mer darf einen folhen Kampf tadeln? Schändlid ift nur der 
Krieg, in dem der Degen wider dag Recht, den Fortſchritt, die 
Wahrheit, die Zivilifation ftreitet. Ob Krieg nad innen oder 
außen, ein folder Krieg ift immer verächtlic, immer ein Ver— 
breen. Dürfte Wafhington Camille Desmoulins verleugnen? 
Seonidas bat gegen den Feind gefämpft, Timoleon gegen den 
Iprannen. Welcher ift größer? 

Diefer ift der Verteidiger, jener der ‘Befreier. 


3. Die Fahne: Erfter Akt 


Don Saint-Merry herüber fhlug e8 zehn Uhr. 

Enjolras und Combeferre faßen, den Karabiner in der Hand, 
bei der Side der großen DBarrifade. Sie fpradhen nit, fie 
laufchten nur, ob nicht ein bumpfes Geräufd aus der Ferne den 
Anmarſch des Gegners verfünde. 

Plöslich hörten fie laute Schritte. Jemand Fletterte wie ein 
Clown über den umgeftürzten Omnibus — und atemlos fprang 
Gavroche herunter. 

„Mein Gewehr,’ fchrie er, „ſie kommen!“ 

Gleichzeitig tauchten auch die Schildwachen auf, die in der 
Rue de la Petite-Truanderie ausgeftellt waren. 

Allfogleih war jeder auf feinem Poften. 

Dreiundvierzig fnfurgenten, unter denen ſich Œnjolras, 
Sombeferre, Courfeyrac, Boſſuet, Vols, Bahorel und Gavrode 
befanden, Enieten auf der großen DBarrifade und hielten ihre 
Gewehre fchußbereit. Sehs andere hatten fib unter bem 


s 595 


Kommando Feuillys an den Senftern des „Corinthe“ poftiert 
und bielten bas Gewehr an der Mange. 

Sp vergingen einige Augenblide. Endlih verkündete das 
Geräuſch vieler ſchwerer Schritte von Saint-Leu herüber, daf | 
der Feind anmarfdierte. 

Es ſchwoll an, Fam langfam und ohne Paufe näher, gleich- 
mäßig und furdtbar. Nichts anderes war zu hören. Es war, als 
ob eine Statue aus Stein näher ftampfe. Plöslich wurde es 
fil. Es war, als ob man den Atem der Iaufende hörte. Doch 
fab man immer nod nichts, Fonnte nur in der Dunkelheit ganz 
ſchwach bas metallifhe Schimmern der Vajonette und Gewehr- 
läufe im Widerfchein der Fackeln erfennen. 

Eine kurze Zeit verftrih. Deide Parteien fhienen zu warten. 
est gellte aus der Finfternis, doppelt unheimlich, da man ben 
Rufer nicht fab, eine Stimme auf: 

„er da?’ 

Und zugleich hörte man, wie die Gewehre fchußbereit gemacht 
wurden. 

„Die franzöſiſche Revolution!“ rief Enjolras mit einer 
Stimme, die vor Stolz zitterte. 

„Feuer!“ 

Ein Blitz erhellte die Faſſaden der Straße für einen Mo— 
ment. Gleich darauf ein furchtbarer Krach. Die rote Fahne fiel. 
Die Salve war ſo dicht geweſen, daß die Deichſel des Omni— 
buſſes, die als Fahnenſtange diente, zerſplitterte. Geller, die von 
der Hauswand zurückprallten, verwundeten einige Männer. 

Der Eindruck, den dieſe Feuertaufe auslöſte, war furchtbar. 
Der Angriff war ſo heftig, daß ſelbſt die Kühnſten unſicher 
wurden. Offenbar hatte man es mit einem ganzen Regiment 
zu tun. 

„Kameraden!“ ſchrie Courfeyrac, „verſchwendet nicht die 
Munition! Schießt erſt, wenn ſie vordringen!“ 

„Zuerſt müſſen wir die Fahne wieder aufrichten!“ rief 
Enjolras. 

Man hörte das Geräuſch des Ladens vieler Gewehre. 


596 


„Wer bat bier Mut?’ fragte Enjolras, „wer will die Fahne 
wieder aufpflanzen?“ 

Keiner antwortete. In diefem Augenblid, eben vor der zweiten 
Salve, auf die Barrifade hinaufzufteigen, bedeutete den un- 
zweifelhaften Tod. Selbft der Tapferfte zögert, fi dem fiherften 
Tod auszuliefern. Auch Enjolras zitterte. 

„Meldet fit Feiner?’ fragte er no einmal. 


4. Die Fahne: Zweiter Aft 


Seit die Ynfurgenten „Corinthe“ befeßt hatten und die Bar— 
rifade aufrichteten, Hatte Feiner mehr auf Vater Mabeuf ge- 
achtet. Der Greis war aber bei der Truppe verblieben. Er hatte 
fi) im Gäftezimmer des erften Stockwerks neben den Ladentiſch 
geſetzt. Wie vernichtet blieb er Hier fißen. Er fhien weder auf 
die andern zu achten noch zu denfen. Courfeyrac und die andern 
hatten ibn zwei- oder dreimal angeredet, hatten ihm die Ge- 
fahren auseinandergefeßt und geraten, ſich zurückzuziehen, aber 
er ſchien nicht darauf zu hören. Achtete man nicht auf ibn, fo 
bewegte er die Tippen, als ob er fprece, richtete man aber bas 
Wort an ihn, jo fhwieg er, und feine Augen waren wie die 
eines Toten. Einige Stunden vor dem Angriff hatte er biefe 
Stellung eingenommen, in der er noch immer dafaß, beide 
Fäufte auf die Knie geftüßt, den Kopf vorgeneigt, als ob er in 
einen Abgrund fhaue. Nichts Fonnte ihn aus diefer Haltung 
auffeheuchen. Als alle an ihren Plas eilten, um zu fampfen, war 
er mit Javert und einem MWacdtpoften allein zurücfgeblieben. 
Erft der gewaltige Krach der erften Salve fchien ibn zu wedfen. 
Er ftand jäh auf, eilte hinaus, und als Enjolras feine Frage 
wiederholte: ‚Meldet fit keiner?“, erfchien er auf der Schwelle. 
Sein Auftauhen madte großen Eindrud. 

„Das Konventsmitglied! Der Abgeordnete!”, wurde gerufen. 

Wahrſcheinlich hörte er biefe Nufe nicht. Mit einer faft reli- 
giöfen Scheu traten die andern beifeite, während er auf Enjol- 
ras zufrat, die Sahne ergriff und mit zitterndem Kopfe, aber 


597 


feftem Schritt die Barrifade erftieg. So düfter granbios war 
diefer Anblick, daß alle riefen: 

„Hut ab!!! 

Jet war er auf der Höhe der Barrifade angelangt. Es war, 
als ob der Geift von 1793 aus dem Grabe auferftanden wäre 
und die Fahne der Mevolution wieder entfalte. Er rief: 

„Es lebe die Revolution! Es lebe die Republik! Brüderlich- 
Feit! Gleichheit! Freiheit und Tod!“ 

Dom Feinde herüber hörte man jest ein leiſes Murmeln. 
Es Flang, als ob ein Priefter haftig ein Gebet berfage. Offenbar 
war es der Polizeifommiflar, der nah der Vorſchrift des Ge- 
jeßes die formale Aufforderung zur Übergabe an die Revolu— 
tionäre richtete. 

Mieder wurde gerufen: 

„Zurück!“ 

Vater Mabeuf ſchwang ſeine Fahne und wiederholte: 

„Es lebe die Republik!“ 

„Feuer!“ 

Die zweite Salve klang wie das Feuer einer Kugelſpritze. 

Der Greis fiel auf die Knie, richtete ſich noch einmal auf, die 
Fahne fiel aus ſeiner Hand, dann ſtürzte er rücklings, ſteif wie 
ein Brett, zu Boden. 

Eine jener Regungen, die ſogar den Selbſterhaltungstrieb 
ausſchalten, bemächtigte ſich der Inſurgenten, ſie traten in ehr— 
fürchtiger Rührung zu dem Toten. 

„Was waren das doch für Menſchen, dieſe Königsmörder 
von damals!“ rief Enjolras. 

Courfeyrac beugte ſich zu ihm herab. 

„Unter uns geſagt, ich möchte die Begeiſterung nicht trüben, 
aber der Alte war alles andere als ein Königsmörder. Ich 
kannte ihn. Er hieß Vater Mabeuf. Was heute mit ihm los 
war, weiß ich nicht, ſonſt war er ein braver Philiſter. Sieh doch 
den Kopf an.“ 

„Das Geſicht eines Philiſters, aber das Herz eines Brutus“, 
antwortete Enjolras. 


598 





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Er beugte fi über den Toten und Füßte feine Stirn. Dann 
zog er ihm vorfihtig, als ob er ibm web zu fun fürdte, den 
Mo aus, zeigte den Leuten die blutigen Riſſe und fagte: 

„Das iſt jeßt unfere Sahne!‘ 


5. Gavrobe hätte lieber Enjolras 
Karabiner annehmen follen 


Man breitete einen Schwarzen Schal der Witwe Hucheloup 
über Mabeuf. Sechs Mann madten aus ihren Gemebren eine 
Bahre und trugen ihn barhäuptig und in feierlicher Langſamkeit 
in die Gaftftube. 

Keiner gedachte der gefährlichen Lage, in der man fib befand. 

Als fie den Toten an Javert vorübertrugen, der noch immer 
feine Ruhe bewahrte, fagte Enjolras: 

„Du Éommft jest gleich dran!’ 

Der Eleine Gavroche war allein auf der Barrifade geblieben, 
um den Feind zu beobadhten. Ihm fehien, die Gegner fhliben 
leife näher. 

„Vorſicht!“ fchrie er plötzlich. 

Alle ftürzten hinaus: Courfeyrac, Enjolras, Sean Prouvaire, 
Combeferre, Vols, Bahorel, Boffuet. Es war aud die höchſte 
Zeit. Knapp vor der Barrifade fab man die Vajonette des 
Feindes. Hochgewachſene Munizipalgardiften Fletterten auf den 
Omnibus, andere drängten den Straßenjungen, der fid zurück— 
309, aber nicht floh, aus feiner Lücke. 

Es war ein Eritifher Augenblid. 

In der nähften Sefunde Éonnte die Barrikade verloren fein. 

Bahorel ftürzte fih auf den erften Munizipalgardiften und 
ſchoß ihn nieder. Ein zweiter ſtach DBahorel mit dem DBajonett 
in die Bruft. Ein anderer hatte Courfeyrac, der um Hilfe frie, 
zu Boden geworfen. Ein Ungeheuer von Garbift trieb Gavroche 
mit dem DBajonett vor fih her. Der unge bob mit feinen 
Ihwahen Armen Sjaverts gewaltiges Gewehr, zielt kühn auf den 


599 


Rieſen und drüdte ab. Aber — Vavert hatte nicht geladen. Der 
Gardift lachte laut auf und holte sum Stoß aus. 


Bevor das Bajonett Gavroche berührte, fiel dem Soldaten 
bas Gewehr aus der Hand. Ein Schuß hatte ibn in die Stirne 
getroffen, er fiel auf den Rücken. Eine zweite Kugel ftredfte 
den andern Garbiften nieder, der Courfenrac zu Sal gebracht 
hatte. Es mar Marius, der auf der Barrifade erfien. 


6. Das Pulverfaß 


Test war Marius unbewaffnet: nachdem er die beiden 
Piftolen verfhoffen hatte, warf er fie von fih. Aber im felben 
Augenblic bemerkte er in der Tür der Gaftftube ein Pulverfaß. 


Er wandte fi eben halb um, als ein Soldat auf ibn an- 
legte. Im jelben Augenblick griff eine Hand nad) der Mündung 
des Gewehrlaufs. Der junge Arbeiter in Samthoſen war wieder 
aufgetaucht. Die Kugel ging los, durchbohrte die Hand, erreichte 
aber Marius nicht. Inmitten des Pulverdampfs Fonnte man 
alles nur flüchtig überfehen. Schon war Marius in die Tür ge- 
treten. Die verblüfften Inſurgenten fammelten fib. Enjolras 
ſchrie: 

„Halt, nicht blind ſchießen!“ 

In der Tat wäre es bei der allgemeinen Verwirrung möglich 
geweſen, daß die Leute aufeinander ſchoſſen. Die meiſten hatten 
ſich bereits an die Fenſter des erſten Stockwerks zurückgezogen 
und bedrohten von dort die Angreifer. Die Tapferſten, Enjol- 
ras, Courfeyrae, Sean Prouvaire und Combeferre, hatten ſich 
bis auf die Hausmauer zurückgezogen und boten den Soldaten 
wacker die Stirn. 

Alles geſchah ohne Überſtürzung, mit ſeltſamer Ruhe. Jetzt 
waren beide Parteien ſchußbereit. Man ſtand einander auf Ruf— 
weite gegenüber. In dem Augenblick, als geſchoſſen werden 
ſollte, erhob ein Offizier mit großen Epauletten den Degen 
und rief: 


600 








„Ergebt euch!“ 

„Feuer!“ rief Enjolras. 

Beide Parteien ſchoſſen gleichzeitig. Alles tauchte in dem 
Pulverdampf unter. Stöhnen und Schreien von Verwundeten 
und Sterbenden wurde laut. 

As der Maud fib verzog, fab man auf beiden Seiten die 
Kämpfer dabei, ihre Waffen neu zu Inden. 

Sm felben Augenblick fhrie eine Stimme: 

„Zurück, oder die Barrifade fliegt in die Luft!“ 

Marius hatte bas Pulverfaß bervorgebolt und im Schuß 
des Rauches bis zu der Stelle gefchleppt, wo die Fadeln 
brannten. Dann hatte er die Fadel ergriffen, bas Faß einge- 
ſchlagen und drohte jeßt alles in die Luft zu fprengen. 

„zurüd, oder die Barrikade fliegt in die Luft!’ 

Mad dem Greis war Marius die zweite Heldengeftalt der 
jungen Revolution. 

„Du fliegft felber auch in die Luft!‘ fchrie ein Sergeant. 

„Ich auch”, antwortete Marius. 

Und er näherte die Fadel dem Saf. 

Schon war niemand mehr auf der DBarrifade. Sn wilder 
Flucht zogen ſich die Angreifer zurüd, ohne ihre Toten und Ver— 
wundeten mitzunehmen. Schon waren fie im Dunfel der Nacht 
verfhmwunden. Es hieß: „Rette fih, wer kann!“ 

Die Barrifade war vom Feinde gefäubert. 


1.208 des Dihters Sean Prouvaire 


Ale umringten Marius. Courfenrac fiel ibm um den Hals. 

„da bift bu ja!‘ 

„Das ift wirflih ein Glück, daß du gekommen biſt!“ rief 
Courfeyrac. 

„Und im rechten Augenblick!“ rief Boſſuet. 

„Ohne dich wäre ich ſchon tot”, erklärte Courfeyrac. 

„Und ich hätte auch einen kalten Hintern“, erklärte Gavroche. 

„Wo iſt euer Führer?“ fragte Marius. 


601 


„Du bift es“, erwiderte Enjolras. | 

Die Angreifer verbielten fi jet ruhig. Vielleicht warteten 
ſie auf neue Befehle oder Verſtärkung. Die Revolutionäre 
ſtellten wieder Schildwachen aus, und einige, Studenten der 
Medizin, machten ſich daran, die Verwundeten zu verbinden. 

Plötzlich aber verdüſterte eine beſtürzende Entdeckung die all: 
gemeine Freude über die befreite Barrikade. 

Es wurde zum Appell gerufen. Einer der Revolutionäre 
fehlte. Es war einer der wertvollſten, einer der Kühnſten: Jean 
Prouvaire. Man ſuchte ihn unter den Verwundeten, unter den 
Toten, aber er war nicht da. Offenbar war er gefangen worden. 

Combeferre ſagte zu Enjolras: 

„Sie haben unſeren Freund, wir haben ihren Agenten. Liegt 
dir was daran, daß der Spitzel umgebracht wird?“ 

„Ja, aber Jean Prouvaires Leben iſt mir lieber.“ 

„Gut, dann binde ich mein Taſchentuch an mein Gewehr, 
gehe als Parlamentär hinüber und ſchlage ihnen einen 
Tauſch vor.“ 

„Horch!“ rief Enjolras und legte ſeine Hand auf Combe— 
ferres Arm. 

Von drüben klang ein Waffenklirren herüber. Dann hörte 
man eine Männerſtimme rufen: 

„Es lebe Frankreich! Es lebe die Zukunft!“ 

Ein Aufblitzen, ein Krach, Schweigen. 

„Sie haben ihn erſchoſſen!“ rief Combeferre. 

Enjolras wandte ſich zu Javert: 

„Deine Freunde haben dein Urteil geſprochen.“ 


8. Der Todeskampf 


Eine Beſonderheit dieſer Art vom Krieg beſteht darin, daß 
die Barrikaden faſt immer von vorne angegriffen werden. Die 
Angreifer vermeiden es zumeiſt, die gegneriſchen Stellungen zu 
umgehen, da ſie einen Hinterhalt fürchten. Nur ungern dringen 
fie in winkelige Seitengaſſen ein. Darum war auch alle Auf- 


602 


merffamfeit der Revolutionäre auf die Hauptbarrifade gerichtet, 
die ja am meiften bedroht war und auf der der Endfampf ftatt- 
finden mußte. Nur Marius dachte an die Éleine Barrifade und 
ging dahin. Sie lag vollfommen verlaflen da und war nur von 
einem Sampion bewacht, der fein zitterndes Licht auf bas Pflafter 
warf. Die Nue Mondetour lag in tiefer Stille da. 

Nachdem Marius fib davon überzeugt hatte, wollte er auf die 
Barrifade zurücffehren. Plötzlich hörte er in der Dunkelheit leiſe 
feinen Namen rufen. 

„Herr Marius! 

Es war diefelbe Stimme, die er vor kaum zwei Stunden in 
der Rue Plumet gehört hatte. Doch Flang fie jest nur mehr 
wie ein Haud. Er blidte um fich, fab aber nichts. Schon glaubte 
er fi getäufcht zu haben, als biefelbe Stimme wieder rief. 
Diesmal konnte er nit irren. 

„zu Ihren Füßen!‘ flüfterte die Stimme. 

Er blickte zu Boden und fab eine Geftalt, die fih mühſam auf 
der Erde näher bewegte. Der ſchwache Schein des Lampions 
ließ ihn eine Arbeiterblufe, zerriffene Samthofen, bloße Füße 
und eine Blutlache erfennen. Jetzt tauchte ein blaffes Gefiht auf. 

„Erkennen Sie mid nicht?‘ 

„Nein.“ 

„Eponine.“ 

Marius beugte ſich lebhaft vor. Es war in der Tat das un— 
glückliche Mädchen. Sie hatte ſich als Mann verkleidet. 

„Wie kommen Sie hierher? Was tun Sie hier?“ 

„Ich ſterbe.“ 

Es gibt Worte und Ereigniſſe, die uns ſelbſt in tiefſter 
Niedergeſchlagenheit wachrufen. Marius fuhr auf. 

„Sie ſind verwundet! Warten Sie, ich trage Sie in das 
Gaſtzimmer! Man wird Sie verbinden. Iſt es eine ſchwere 
Verwundung? Wie muß ich Sie anfaſſen, um Ihnen nicht weh 
zu tun? Mein Gott, warum ſind Sie hierher gekommen?“ 

Er wollte ſie in ſeine Arme nehmen, um ſie aufzuheben. 


Sie ſchrie leiſe auf. 
603 


„Habe ich Ihnen weh getan?” fragte er. 

„Etwas.“ 

Jetzt fab er ihre Hand und gewahrte in der Mitte ein 
ſchwarzes, blutiges Loc. 

„Was haben Sie da?’ 

„Durchſchoſſen.“ 

„Aber wieſo?“ 

„Haben Sie geſehen, wie ein Soldat auf Sie anlegte?“ 

„Ja, ich ſah auch die Hand vor der Mündung.“ 

„Es war meine.“ 

Marius fuhr zuſammen. 

„Armes närriſches Kind! Aber dieſe Wunde iſt nicht ge— 
fährlich, wir können von Glück ſagen! Ich werde Sie auf das 
Bett tragen. Man wird Sie verbinden. An einer durchſchoſſenen 
Hand ſtirbt man nicht.“ 

„Die Kugel iſt durch die Hand gegangen, hat den Körper 
durchbohrt und iſt im Rücken wieder herausgekommen, es hat 
keinen Sinn, daß Sie mich forttragen. Aber ich will Ihnen 
ſagen, wie Sie mich beſſer verbinden können als der Wundarzt. 
Setzen Sie ſich hier auf dieſen Stein.“ 

Er gehorchte. Sie legte ihren Kopf auf ſeine Knie und ſagte: 

„Jetzt iſt mir gut, ich habe keine Schmerzen mehr.“ 

Einen Augenblick lang ſchwieg ſie, dann ſah ſie Marius an. 

„Wiſſen Sie auch, Herr Marius, es tat mir weh, daß Sie 
in dieſen Garten gingen. Es war dumm. Ich ſelbſt hatte Ihnen 
doch dieſes Haus gezeigt, und ſchließlich mußte ich mir doch ſagen, 
daß ein junger Mann wie Sie...‘ 

Sie zögerte, dann fuhr fie mit herzzerreißendem Lächeln fort: 

„Sie fanden mich häßlich, nicht wahr? Ab, auch Sie find 
verloren. Hier kommt niemand mit dem Leben davon. Und ic) 
babe Sie hierher geführt! Auch Sie fterben hier, bas weiß ich 
wohl. Und bo babe ich, als einer auf Sie anlegte, meine Hand 
vor die Mündung des Gewehrs gehalten. Dann bin ich hierher 
gekrochen. Sch erwartete Sie. Immer date ih: Fommt er denn 
nicht? Wenn Sie wüßten, wie weh es tat! ch biß in meine 


604 


Blue vor Schmerz. est aber ift mir wohl. Erinnern Sie fid 
no an den Tag, als ich in hr Zimmer Fam und mid in 
Ihrem Spiegel befah? Und dann an den Tag, an bem id Sie 
auf dem Boulevard traf, mie die Vögel damals fangen! Sie 
gaben mir fünf Franken, aber ich wollte hr Geld nicht. Haben 
Sie die Münze wenigftens aufgehoben? Sie find nit reid. 
Ich babe vergeflen, es Ihnen zu jagen, Sie follten fie aufheben. 
Es war febr fines Wetter damals, und man fror nibt. Er- 
innern Sie fib? Oh, ich bin glücklich, denn jest fterben wir alle.‘ 

Schmerzlich bewegt betrachtete Marius das unglüdliche Ge- 
ſchöpf. 

„Ach,“ ſtöhnte ſie jetzt, „es fängt wieder an. Ich erſticke!“ 

Sie biß in ihre Bluſe und ihre Beine ſtreckten ſich aus. 

Sie hielt ihr Geſicht nahe an Marius' Kopf. 

„Hören Sie,“ ſagte ſie, „ich will Sie nicht betrügen. Ich 
habe einen Brief für Sie in der Taſche, ſeit geſtern ſchon. 
Jemand hat mich gebeten, ihn zur Poſt zu bringen. Ich habe 
ihn aber behalten. Ich wollte nicht, daß dieſer Brief ſie erreicht.“ 

Krampfhaft griff ſie nach Marius' Hand. Er fühlte in ihrer 
Taſche den Brief. 

„Nehmen Sie ihn“, ſagte ſie. 

Jetzt ſchien ſie befriedigt. 

„Und verſprechen Sie mir... 

„Was?“ 

„Verſprechen Sie es mir!“ 

„Ich verſpreche es Ihnen.“ 

„Sie ſollen mich auf die Stirn küſſen, wenn ich tot bin. Ich 
werde es fühlen.“ 

Sie ließ den Kopf auf ſeine Knie zurückfallen, und ihre 
Augenlider ſchloſſen ſich. Nach einiger Zeit blickte ſie wieder auf 
und ſagte in einem Ton, deſſen ſanfter Klang aus einer anderen 
Welt zu kommen ſchien: 

„Wiſſen Sie, Herr Marius, ich glaube faſt, ich war ein 
wenig verliebt in Sie.“ 

Noch einmal verſuchte ſie zu lächeln, dann ſtarb ſie. 


605 


9. Gavrodbeals BerebnervonEntfernungen 


Später erft, in der Gaftftube, las Marius den Brief. Er 
war gerichtet „an Herrn Marius Pontmercy, bei Herrn Cour: 
feprac, Rue de la Verrerie Mo. 16 und lautete folgender- 
maßen: "3 

„Mein Geliebter, ab, Water will, daß wir fofort ab- 
reifen. Heute abend werden wir nad der Rue de L'Homme 

Arme No. 7 überfiedeln. In acht Tagen find wir in London. 


4. uni Coſette.“ 


Eponine hatte alles bewerkſtelligt. Nach dem Abend des drit— 
ten Juni war es ihre doppelte Aufgabe geweſen, weitere An— 
ſchläge ihres Vaters und der Banditen auf das Haus in der 
Rue Plumet zu vereiteln und gleichzeitig Marius und Coſette 
zu trennen. Von irgendeinem jungen Burſchen, der es amüſant 
fand, ſich als Mädchen zu verkleiden, erhielt ſie ein Gewand. 
Sie war es geweſen, die Jean Valjean auf dem Champ de Mars 
ausfindig machte und ihm dieſe Warnung zuſteckte: „Umziehen!“ 
In der Tat war Jean Valjean ſofort nach Hauſe gegangen und 
hatte zu Coſette geſagt: „Wir ziehen heute aus und gehen mit 
Touſſaint nad) der Rue de l'Homme Arme. Wir müſſen binnen 
einer Woche in London ſein.“ 

In ihrem Kummer hatte Coſette ſofort zwei Zeilen an Ma— 
rius geſchrieben. Aber wie ſollte ſie den Brief zur Poſt bringen? 
Sie ging nie allein aus, und Touſſaint hätte, über einen der— 
artigen Auftrag erſtaunt, das Schreiben Herrn Fauchelevent 
gezeigt. Noch ſchwankte ſie, da bemerkte ſie am Gitter die als 
Mann verkleidete Eponine, die unaufhörlich den Garten um— 
ſchlich. Coſette hatte „dieſen jungen Arbeiter“ herbeigerufen, 
hatte ihm fünf Franken gegeben und gebeten, er ſolle den Brief 
beſtellen. Sofort hatte Eponine den Brief in die Taſche geſteckt. 
Am Morgen des 5. Juni war ſie zu Courfeyrac gegangen, um 
Marius zu ſuchen. Das tat ſie nicht, um ihm etwa den Brief 
zu bringen, ſondern — was jeder Eiferſüchtige begreifen wird — 
um ibn zu ſehen. Sie hatte Marius oder wenigſtens Courfeyrac 


606 





abgepaßt. Als er ihr fagte, daß er zu den Barrikaden eile, war 
ihr ein Gedanke gefommen. Sie Eonnte fi) dort in den Tod 
ftürzen und auch Marius hineinziehen. Darum war fie Cour- 
feyrac gefolgt und hatte ſich zunächft überzeugt, wo diefe Barri- 
fade errichtet wurde. Sie war gewiß, daß Marius in feiner 
Verzweiflung dem Ruf feiner Freunde gern folgen würde und 
befhloß, ihn zu der Barrifade zu lofen. Ihre Rechnung erwies 
fi) als richtig. So war aud fie nach der Rue de [a Chanvrerie 
zurücfgefehrt und mit der tragifchen Freude im Herzen geftorben, 
daß nun auch Feine andere Marius gewinnen würde. 

Er bedeckte jegt Cofettes Brief mit Küffen. Sie liebte ibn 
alfo bob! Einen Augenblick dachte er, nun fei es finnlog, zu 
fterben. Gleich darauf aber fiel ihm ein, daß fie ja verreife. Ihr 
Vater nahm fie nach England mit, und fein Großvater weigerte 
fi, in diefe Ehe einzumilligen. Das Schickſal war unabänder- 
lib. Träumer wie Marius find der höchften Verzweiflung fähig. 
Ihnen ift Lebensmüdigfeit unerträglich. Sie fterben leicht. 

Jetzt, dachte er, blieben ibm nur noch zwei Pflichten zu er- 
füllen. Er mußte Eofette von feinem Tode benachrichtigen und 
Ihenardiers Sohn, den Bruder Eponines, retten. 

Er hatte fein Portefeuille bei fih. Raſch riß er ein Blatt 
heraus und fehrieb mit dem DBleiftift folgende Zeilen: 


„Wir können nicht heiraten. Ich babe meinen Großvater 
darum gebeten, aber er hat meine Bitte abgewiefen. Ich be- 
fige nichts, und auch du bift arm. Sofort bin ich zu dir geeilt, 
babe bib aber nicht mehr gefunden. Du weißt, daß ich dir 
mein Ehrenwort gegeben babe, und ich halte es. Ich Liebe dich 
und will fterben. Wenn du diefe Zeilen lieft, wird meine 
Seele bei dir fein und dir zulächeln.” 


Er faltete das Blatt zufammen, griff nach dem Portefeuille 
und ſchrieb auf bas erfte Blatt: 


„Ich heiße Marius Pontmercy. Man bringe meinen Leich- 
nam zu meinem Großvater, Herrn Gillenormand, Rue des 
Silles-bu-Calvaire No. 6. 


607 


Dann ſteckte er bas Portefeuille in die Tafche und rief Ga- | 
vroche. 

„Willſt du mir einen Dienft tun?‘ 

„Jeden beliebigen.‘ 

nMimm diefen Brief, verlaffe fofort die Barrifade und bring’ 
ihn morgen früh an feine Adreſſe.“ 

„Aber inzwifchen kann die Barrifade verlorengehen!’ 

‚Allem Anſchein nad wird die Barrikade heute nicht mehr 
angegriffen. Vor morgen mittag wird fie auch nicht fallen.‘ 

In der Tat fchienen die Belagerer denen in der Barrifade 
eine längere Srift zu geben. Solche Unterbreungen find im 
Stroßenfampf bei Nat üblich. 

„Wenn ich aber Ihren Brief morgen früh beforge?‘ 

„Das wird zu fpät fein. Wir werden gewiß umftellt, morgen 
früh Fann Feiner mehr heraus und herein. Geh gleich.‘ 

Gavroche fand Feine Antwort und Eraste ſich unfchlüffig bin- 
term Ohr. Plötzlich ſchien er mit ſich einig zu werden. 

„Gut“, fagte er. 

Und er lief nad der Nue Mondétour. 

Ein Gedanke, den er nicht geäußert hatte, um niht Marius 
Widerfprucd zu erregen, hatte feinen Entfhluß reifen laſſen. 
Es war no nicht Mitternacht. Die Nue de l'Homme Arme 
war nicht weit. Er konnte den Brief beftellen und nod im 
Schuß der Dunkelheit zurückkehren. 


ElftesBuch 
Die Kue de l’homme Arme 


l. Das verräterifhe Löſchblatt 


Am Abend desfelben 5. Juni war Sean Valjean mit Eofette 
und Touffaint nad der Rue de l'Homme Arme verzogen. 

Cofette hatte das Haus in der Rue Plumet nicht widerftands- 
108 verlaffen. Zum erftenmal hatte fie ihren Willen dem Sean 
Valjeans entgegengefest, hatte fih nicht gewehrt, aber wider- 


608 





fproen. Dod war der Greis unbeugfam geblieben. Der Mat 
eines Unbekannten, er folle umziehen, hatte tief auf ihn gewirkt. 
Coſette mußte fih feinem Willen unterwerfen. 

Beide waren fehweigend in der Rue de l'Homme Arme ein- 
gezogen, jeder von befonderen Gedanken in Anfprud genommen. 
Sean Valjean war fo unruhig, daß er die Traurigkeit Cofettes 
nicht bemerfte, Cofette fo traurig, daß fie Sean Valjeans Un- 
ruhe nicht gewahrte. 

Die neue Wohnung in der Aue de l'Homme Arme lag in 
einem Hinterhof, im zweiten Stod, und beftand aus zwei 
Schlafzimmern, einem Speifezimmer, einer Küche und einer 
Kammer mit einem Gurtbett für Touſſaint. Das Speifezimmer 
diente zugleich als Vorraum und trennte die beiden Schlaf- 
zimmer. Die nötigen Cinrichtungsgegenftände waren vor- 

handen. 

Die Furcht entzündet fi oft an den belanglofeften Dingen 
und laßt fit von Gleichgültigfeiten verfheuden. Sp ift die 
Menfhennatur. Kaum war Sean Valjean in der Mue de 
l'Homme Arme eingezogen, als feine Angft wich. Übrigens 
haben ftille Aufenthaltsorte die Eigentümlichkeit, den Geift 
mechaniſch zu beruhigen. Die Einwohner diefer entlegenen Stra- 
Ben find friedliche Leute. 

Sean Valjean atmete auf. Wer würde ihn hier wiederfinden? 

Er fchlief ruhig. Die Nacht ift eine gute Matgeberin und 
zumal eine Bringerin des Friedens. Am nächſten Morgen er- 
wachte er faft heiter. Er fand bas ſcheußlich eingerichtete Speife- 
zimmer entzückend, rühmte den runden Tiſch, das Büfett mit 
dem Spiegel und den wurmftichigen Lebnftubl, auf den Touſ— 
foint einige Gepädftücfe gelegt hatte. Sin einem der Koffer lag 
Sean Valjeans Nationalgardiftenuniform. 

Cofette hatte fi) von Zouffaint eine Taffe Bouillon bringen 
lafien und war am Abend nicht mehr erfchienen. Gegen fünf 
Uhr des nächſten Tages erhielt Touffaint den Auftrag, ein Huhn 
anzurichten, bas Cofette aus Teilnahme für ihren Vater fogar 
prüfte. Dann fhüsßte fie Migräne vor, fagte Sean Valjean 


39 Hugo, Die Elenden, 609 


gute Nacht und 309 fid zurück. Jean Baljean aß mit Appetit” 
und gewann fihtlich feine Ruhe und Heiterkeit wieder. 

Während diefer Mahlzeit hörte er die Berichte Touſſaints 
über die Kämpfe in Paris. Aber er war ſo ſehr mit ſeinen | 
eigenen Angelegenheiten befhüftiat, daß er nicht binbôrte. | 

Im Ausmaß, in dem er fi) berubigte, begann fein Geift fit 
mit Cofette zu befhäftigen. Es war nicht die Migräne, biefe | 
kurze Mervenkrife, die bei jungen Mädchen fo leicht eintritt, 
um die er fi Sorgen mate. Aber er ging mit fit zu Mate, 
wie er die Zukunft geftalten follte. Strenggenommen lag Fein 
Grund vor, das Leben, das bisher fo glücklich verlaufen war, 
gewaltfam in eine neue Bahn zu lenfen. Man hatte die Rue 
Plumet ohne Zwiſchenfall verlaffen, und bas war ein guter 
Anfang. Vielleicht war es doch angezeigt, außer Landes zu gehen 
und fi einige Zeit in London aufzuhalten. Diefer Entfehluß 
fiel Jean Valjean nicht fchwer, denn folange er Eofette bei ſich 
hatte, bedeutete es ihm wenig, ob er in Frankreich oder England 
lebte. Eofette war fein Land, fein Volk — fie genügte, um ibn 
glücklich zu machen. Daß er nicht genüge, um Coſette zu be- 
glüden, diefer Gedanke, der ibm früher den Schlaf geraubt 
hatte, lag jet fern. Er hatte die Schwierigfeit des Augenblicks 
überwunden und war optimiftifch geftimmt. Cofette war bei ihm, 
ihm fchien, fie gehörte noch ihm. Ohne Schwierigkeiten entwarf 
er den Plan einer Reife nah England und erging fih in an- 
genehmen Iräumereien. 

Während er fo im Zimmer auf und ab ging, fiel fein Blick 
auf etwas Sonderbares. In dem fchrägen Spiegel über dem 
Büfett las er folgende Worte: 

‚Mein Geliebter, ah, Vater will, daß wir fofort ab- 
reifen. Heute abend werden wir nad der Mue de l'Homme 
Arme No. 7 überfiedeln. In acht Tagen find wir in London. 

4. juni Coſette.“ 





Entſetzt blieb Jean Valjean ſtehen. 
Coſette hatte, als ſie in die neue Wohnung kam, ihre 


610 





Schreibmappe mit dem Löfchblatt auf bas Büfett gelegt und in 
ihrem Kummer bier liegenlaffen, ohne zu bemerfen, daß das 
Löſchpapier unter dem Spiegel zu liegen Fam. Auf dem Blatt 
war ihr Brief an Marius abgedrüdt. 
| So entftand, was man in der Geometrie ein ſymmetriſches 
Bild nennt. Die Schrift, fhon auf dem Löſchblatt verkehrt, 
wurde in dem Spiegel gewiffermaßen in ihre urfprüngliche 
Form zurücfrefleftiert. 
Drer Tatbeſtand war einfad und doch niederfchmetternd. 
Jean Valjean las nod einmal die wenigen Zeilen durd, 
| fonnte es nicht faffen. Das war unmöglih — er war offenbar 
| bas Opfer einer Sinnestäufhung. Etwas Derartiges gab es 
| nidt. 

Almählih wurde er Elar. Er fab das Löfchpapier an und ge- 
wann wieder den Sinn für die WirflichFeit. Fieberhaft betrady- 
fete er bas unverftändliche und bizarre Gefrißel, diefe finnlofen 
Zeichen. Das bedeutet nichts, dachte er, bas ift Feine Schrift. 
Und er atmete erleichtert auf. Wer Fennt nicht diefe unfinnigen 
Verſuche, fih an einen Troft zu Flammern, folange nicht alle 
Illuſionen erfhöpft find! 

Jetzt hielt er das Löſchblatt in der Hand und betrachtete es, 
finnlos-glüdlich, ja, nahe daran, über die Täuſchung, der er zum 
Dpfer gefallen war, zu lachen. Plötzlich fiel fein Blick wieder in 
den Spiegel, er hatte diefelbe ſchreckliche Viſion wie erft. Mit 
furdhtbarer Klarheit fprangen ihm die Lettern ins Auge. Das 
war feine Sata Morgana mehr, eine Bifion, die ſich wiederholt, 
ift wirklich. 

Er begriff. 

Zaumelnd ließ Sean Valjean das Blatt fallen und warf fi 
in den alten Lehnftuhl, der neben dem Büfett ftand. Es war 
unmwiderruflih wahr, Cofette hatte an jemand gefchrieben. Plötz— 
lih war feine Seele wieder fürchterlich wie einft, er glaubte, fie 
in der Dunkelheit dumpf aufbrüllen zu hören wie den Löwen, 
dem man einen Hund, den Gefährten feiner Gefangenichaft, 
rauben will. 


ur 611 








Unter allen Qualen, die ihm fein Schickſal jemals auferlegt 
hatte, war biefe die furchtbarſte — er fühlte, wie alle längft 
vernarbten Wunden in ihm aufbrachen. Ach, die hödhfte, die ein- 
gige Prüfung, die wir zu beftehen haben, ift der Verluſt des 
Gegenftandes unferer Liebe. 

Jetzt warf er einen tiefen Blick in fein Inneres, und das 
Gefpenft des Haſſes tauchte vor feinem Auge auf. 

Zouflaint trat ein. Sean Valjean ftand auf und fragte: 

„Wo iſt es denn?” 

Touſſaint war verblüfft nud fand keine Antwort. 

„Was denn?“ fragte ſie nur. 

„Haben Sie mir nicht eben erſt geſagt, daß in den Straßen 
gekämpft wird?“ 

„Ach ja, gnädiger Herr, bei Saint-Merry.“ 

Es gibt mechaniſche Regungen, die aus tiefen und ſogar un— 
bewußten Gedanken hervorgehen, ohne daß wir ſie zu regiſtrieren 
vermögen. Offenbar einer ſolchen Regung gehorchend, fand ſich 
Jean Valjean fünf Minuten ſpäter auf der Straße. 

Er war barhäuptig und ſaß auf dem Prellſtein vor ſeinem 
Hauſe. Er ſchien zu horchen. Schon war es Nacht. 


2. Ein StraßenjungekämpftgegenLaternen 


Wie lange blieb er ſo? Was ging in ihm vor? War er ge— 
beugt bis zur Erde oder konnte er ſich ſelbſt wieder aufrichten? 

Die Straße lag verlaſſen da. Einige Bürgersleute, die nach 
Hauſe ſtrebten, gewahrten ihn kaum. In Zeiten der Gefahr iſt 
die allgemeine Loſung: Jeder für ſich! Der Laternenanzünder 
kam zur üblichen Zeit und ſteckte die Laterne vor Haus Mo. 7 
an. Dann ging er wieder. Wenn er Jean Valjean im Schatten 
bemerft hätte, gewiß hätte er ihn nicht für ein lebendes Wefen 
gehalten. Mod immer hörte man die Sturmglode und aus der 
Ferne Getöfe. Zwifchendurd Elang von Saint-Paul die Glode 
berüber, die friedlich, behäbig und ohne Haft elf Uhr anzeigte. 

Sean Valjean rührte fi) noch immer nicht. 


612 








Dod hörte er um diefe Zeit von den Hallen herüber eine 
Gewehrſalve, der kurz nachher eine lautere folgte. Das war der 
Sturm auf die Barrifade in der Rue de la Ebanvrerie. Der 
Krach war in der ftumpfen, nächtlichen Stille doppelt unheimlich. 
Sean Valjean zitterte. Er ftand auf, fab nad der Richtung, 
aus der das Geräuſch herübergefommen war, fette fi) wieder, 
freuste die Arme und ließ den Kopf auf die Bruft berabfinfen. 

Brütend ließ er feinen Gedanken freien Lauf. 

Sept blickte er auf. Schritte famen näher. Im Licht der La- 


| terne fab er ein junges, blaffes, fröhliches Gefiht. Gavrode war 
in der Mue de L'Homme Arme erfhienen. 


Er ſchien zu fuhen. Jean Daljean hatte er bemerkt, doc 


| fente er ibm Feine Beachtung. 


Erft hatte er in die Höhe gefehen, fih auf die Zehenfpißen 


geftellt, Tore und Fenfter betaftet. Alle waren verfperrt und 


verriegelt. Nachdem er folhermaßen fünf oder ſechs verrammelte 
Hauseingänge geprüft hatte, sudte er die Achſeln und äußerte 
zur Sache: 

„Hol 8 der Teufel!’ 

Wieder ftarrte er in die Höhe. 

Sean Valjean wäre einen Augenblick vorher in feiner feeli- 
Ihen Verfaſſung außerftande gewefen, mit einem Menfhen zu 
fprehen, ja auch nur zu antworten; doch fühlte er fi unwider— 
fteblid zu diefem Jungen bingezogen. 

„Was haft du denn, Kleiner?” 

„Nichts als Hunger”, erwiderte Gavroche eindeutig. 

Dann aber fügte er hinzu: „Selber Zwerg!’ 

Sean Valjean griff in die Tafhe und zog ein Fünffranfen- 


| ftücf heraus. 


Gavroche, der wie eine Bachſtelze niemals ruhig bleiben 
Fonnte, hatte ingwifchen einen Stein aufgehoben. Die Laterne 
tat feinem Auge weh. 

„Ihr habt ja noch Laternen hier‘, fagte er. „Ihr müßt mit 
der Mode mitgehen, Freunde. Das verftößt ja gegen die öffent- 
lihe Ordnung. Wir wollen fie gleich einkitſchen.“ 


613 


Und er warf den Stein in die Laterne, die Elirrend 3erbrach. 
Erfchrodfene Bürger erfhienen an den Fenftern und riefen ein- 
ander zu: 

„Dreiundneungig ift wieder da!’ 

Das Licht ſchwankte und erlofh. Sekt lag die Straße voll- 
ftändig im Dunfel. 

„So ift’8 recht, alte Straße, fagte Gavroche, „ſetz dir nur 
die Nachtmütze auf!‘ 

Sean Valjean trat zu Gavrode. 

„Armer Kerl, fagte er leife, als ob er mit fich felbft ſpräche. 
„Er bat nichts zu effen”, und er drüdte ihm bas Fünffranfen- 
ſtück in die Hand. 

Gavroche bob erftaunt die Nafe. Er fab, daß die Münze von 
Silber war. Fünffranfenftüde Eannte er nur vom Hörenfagen, 
aber ihr Muf war auch in feinen Kreifen gut, und er fand es an- 
genehm, eines zu befißen. 

Dann wandte er fih zu Sean Daljean, hielt ihm die Münze 
wieder hin und fagte großartig: 

n Bourgeois, ich will lieber Laternen einfitfchen. Nehmen Sie 
wieder Ihren Basen zurück. Mich beftiht man nicht. Der 
Adler da bat fünf Klauen, aber mid foll er nicht Fragen.‘ 

„Haft du eine Mutter?’ fragte Sean Daljean. 

‚DBielleiht mehr Mama wie Sie.’ 

„Gut, dann bring’ das Geld deiner Mutter.‘ 

Gavroche war gerührt. Auch bemerkte er, daß der Mann, 
mit dem er da fprach, Feinen Hut aufhatte, und das flößte ihm 
Vertrauen ein. 

„Alſo Sie geben mir bas nidf, um mid vom Yaternen- 
einfehmeißen abzuhalten?’ 

„Wirk fo viele ein, wie du willſt.“ 

„Sie find ein Ehrenmann‘‘, antwortete Gavroche und ftecte 
bas Fünffranfenftüd in die Taſche. 

Er war zutraulicher geworden. 

„Sind Sie aus der Straße hier?” 


614 





„Ja. Warum?’ 

„Können Sie mir Mo. 7 zeigen?’ 

„Was willſt du in Mo. 77 

Der unge fürcdtete, er babe fhon zuviel gefagt, und ant- 


Ä wortete nur: 


„Allerhand.“ 
Jetzt hatte Jean Valjean einen Gedanken. Die Angſt läßt 


manchmal ein ſeltſames Licht in uns aufflammen. 


„Bringſt du mir den Brief, auf den ich warte?“ 

„Nein, Sie ſind doch keine Frau.“ 

„Der Brief iſt an Fräulein Coſette gerichtet, nicht wahr?“ 

„Coſette? Ja, ich glaube, ſie hatte ſo einen albernen Namen.“ 

„Nun, dann bin ich es, dem du den Brief geben ſollſt.“ 

„Dann wiſſen Sie wohl auch, daß ich von der Barrikade 
komme?“ 

„Gewiß doch.“ 

Gavroche griff in die Taſche und zog das gefaltete Papier 
heraus. Dann grüßte er militäriſch. 

„Reſpekt vor dieſer Depeſche, ſie kommt von der proviſori— 
ſchen Regierung!“ 

„Gut.“ 

Gavroche hielt das Papier feft. 

‚Bilden Sie fid nur ja nicht ein, daB dag ein Liebesbrief ift. 
Er ift an eine Frau gerichtet, aber er gilt dem Volke. Wir 
prügeln uns untereinander, aber das weibliche Geſchlecht achten 
wir.’ 

„So gib ſchon!“ 

Gavroche reichte den “Brief jean Valjean. 

‚And beeilen Sie fih, Herr Dingsda, denn Fräulein Cofette 
wartet fhon! Antwort ift unnötig. Wenn Sie zu ung gelangen 
wollen, werden Sie in einen recht unverdaulihen Kuchen beißen. 
Diefer Brief kommt von der Barrifade in der Rue de Ian Chan- 
vrerie, zu der ich jet zurücffehre. Guten Abend, Bürger!’ 

Einige Augenblicke nachher hörte man bereits aus der Ferne 
lautes Klirren. Gavroche fpazierte burd die Rue du Chaume. 


615 


3. Während Cofette und Zouffaint fhlafen 


Sean Baljean trat mit dem Brief Marius’ in das Haus. 

Er taftete fi die Treppe hinauf, öffnete leife feine Tür, 
laufchte, ftellte feft, daB Cofette und Touffaint offenbar fchliefen 
und braudte — fo fehr zitterten feine Hände — drei oder vier 
Streihhölzer, um Licht anzuzünden. 

In Augenbliden folder Erregungen lieſt man nicht, fondern 
verfhlingt gewiflermaßen das Papier, verfhludt es wie ein 
Dpfer, überfpringt den Anfang und haftet dem Ende zu. 

In Marius’ Brief an Cofette fab Jean Valjean nur die 
Worte: 

„. . . wenn du dies lieft, wird meine Seele bei dir fein...” 

Eine furdtbare Freude ergriff ihn. Einen Augenblid ftand 
er wie betäubt unter dem jähen Wechſel der Empfindungen. 
Saft trunfen vor Entzücden, ftarrte er den Brief an. Das Herr- 
lichfte, den Tod des Gehaßten, hatte er vor fi. 

Es war alfo zu Ende. Raſcher war diefe Sache zum Abſchluß 
gekommen, als er gehofft hatte. Der Fremde, der in fein Schick— 
fal eingegriffen, verfhmand wieder. Verſchwand freiwillig, aus 
eigener Kraft. Ohne daß er, Sean Valjean, etwas dazu tat. 
Vielleicht war jener Feind in diefem Augenblick fhon tot. 

Das Fieber hat feine eigene Art, Dinge zu berechnen. 

Mein, tot Éonnte er noch nicht fein. Der Brief war offenbar 
in der Abficht gefbrieben, am nüdften Tag in Cofettes Hände 
zu gelangen. Seit den zwei Salven, die Sean Valjean zwijchen 
elf Uhr und Mitternacht gehört hatte, war nichts mehr vor- 
gefallen. Vor Tagesanbrud würde die Barrifade nicht mehr 
ernfthaft angegriffen werden, aber immerhin, ein Menfch, der 
fid) in diefen Kampf eingelaflen bat, ift fchon verloren. 

Sean Valjean fühlte fih befreit. Er würde alfo mit Cofette 
allein bleiben. Der Mebenbuhler wich. Wieder war dag Tor der 
Zukunft geöffnet. Er braudte ja diefen Brief nur bei fid zu 
behalten. Cofette würde nie erfahren, was aus „dieſem Men— 
ſchen“ geworden war. jean Valjean braudte die Dinge nur 


616 





ihren Lauf nehmen zu laffen. Schon war der Knoten jenes 
Schickſals geknüpft. Wenn er noch nicht fot war, würde er bin- 
nen Stunden fterben. 

Er ftieg hinab und wedte den Portier. 

Eine Stunde fpäter ging jean Daljean in feiner National: 
gardiftenuniform, und vollfommen bewaffnet, aus. Der Portier 
hatte in der Nachbarſchaft alles aufgetrieben, was zur Aus— 
rüftung noch gefehlt hatte. 

Sean Valjean marfhierte in der Richtung auf die Hallen zu. 


4. Gavrodheiftübereifrig 


Singend und grölend, als ob eine ganze Horde mörderifcher, 
blutgieriger Mevolutionäre dur die Straßen ziehe, wanderte 
Gavroche weiter. 

Plötzlich blieb er fteben. 

„Genug der Nomanzen”, fagte er. 

Seine Kabenaugen hatten im Dunfel eines Tormegs ein 
Enfemble, wie es die Maler nennen, erfannt, nämlich ein Ieben- 
des Weſen und eine tote Sache. Die tote Sache war ein Hand- 
wagen, das lebende Wefen ein Auvergnat, der darin lag und 
Ichlief. ph i 

Gavrode befaß Erfahrung in den Dingen der Welt, und 
darum wußte er fofort, daß der Auvergnat befoffen war. 

Offenbar war es irgendein Dienftmann, der zu tief in die 
Flaſche gefhaut Hatte. 

Da fieht man wieder, dachte Gavrodhe, mas in einer Som- 
mernacht alles paffieren fann. Wie nüslich find doch die Som- 
mernächte! Auvergnaten zum Veifpiel Schlafen in ihren Karren. 
Mas tut man? Man requiriert den Karren für die Republik 
und überläßt den Auvergnaten der Monarchie. Denn ein foldyer 
Karren ift prächtig für eine Barrikade! 

Der Auvergnat fbnarchte. 

DVorfibtig 309 Gavroche den Wagen zurüd, den DBetrunfenen 


617 


aber an ben Füßen nad) vorne, fo daß diefer nach einer Minute, 
ohne aufzumachen, auf dem ‘Boden lag. 

Der Karren war befreit. 

Gavroche, der ftets mit dem Unvorhergefehenen rechnen mußte, 
war au immer für alles ausgerüftet. Er 309 alfo ein Blatt 
Papier und ein Stück Rotſtift aus der Iafche, das er irgendwo 
geflaut hatte. Dann fchrieb er: 


„Franzöſiſche Republik. 
Quittung über 
einen Karren 


gezeichnet: Gavroche.“ 


Dieſes Blatt ſchob er dem immer noch ſchnarchenden Auver- 
gnaten in die Weſtentaſche, dann ergriff er die beiden Trag- 
ftangen des Rarrens und entfernte fi in der Richtung nad) den 
Hallen. Er Tief rafch und ftieß ein wildes Triumphgeheul aus. 

Das war gefährlich. Im Gebäude der Königlihen Druderei 
lag ein Poften. Daran hatte aber Gavrode nicht gedacht. Der 
Poften beftand aus Mationalgardiften. Gavrohes Gebrüll ließ 
die Biedermänner von ihren Feldbetten auffabren. Das Klirren 
von zerfchlagenen Laternen und bas môrberifhe Geſchrei — alles 
bas bewies, daß in biefen fo ruhigen Straßen, die gern lange 
Ichlafen, Furchtbares vorging. Seit einer Stunde beunrubigte 
biefer Junge ein friedliches Stadtviertel. Der dienfttuende Ser- 
geant horchte. Aber er wartete noch, denn er war ein Mann der 
Vorſicht. 

Als er den Karren raſſelnd über das Pflaſter ſpringen hörte, 
entſchloß er ſich, einen Rekognoſzierungsgang zu riskieren. 

„Das iſt gewiß eine ganze Bande,“ dachte er, „ſeien wir auf 
der Hut!“ 

Die Hydra der Anarchie war aus ihrer Höhle hervorgekrochen 
und wälzte ſich dräuend durch dieſes friedliche Quartier. 

Vorſichtig ſchlich der Sergeant näher. 

Als Gavroche mit ſeinem Karren an das Ende der Rue des 


618 





| 
































Vieilles-Haudriettes gelangte, ftand er plößlic einer Uniform, 
einem Tſchako und einem Gewehr gegenüber. 

Wieder blieb er verblüfft ftehen. 

„Holla“, fagte er. „Guten Abend, öffentlihe Ordnung!‘ 

Gavroche war nie lange verdußt. 

„Wohin gebft bu, Lauſekerl?“ fhimpfte der Soldat. 

„Mann, ich babe Sie noch nicht Bourgeois tituliert“, ant- 
wortete Gavroche. „Warum beleidigen Sie mich?’ 

„Wohin willft du, du Range?‘ 

„Herr, erwiderte Gavroche, „Sie waren vielleicht geftern 
ein Mann von Geift, aber heute morgen haben Sie einen tiefen 
Sal getan.” 

„Ich frage, wo du bingebft, Bengel?“ 

„Ihre Redeweiſe ift ja recht niedlih! Man möchte Sie gar 
nicht für fo alt halten. Sie Fünnten Ihre Haare zu hundert 
Franken das Stück verfaufen, fo würden Sie fünfhundert Sran- 
fen verdienen.‘ 

„Wo du hingehſt, Bandit!!!” 

„Häßliche Worte, häßliche Worte! Man wird Sie nötigen 
müſſen, ſich einer feineren Sprache zu bedienen.“ 

Der Sergeant fällte das Bajonett. 

„Jetzt wirſt du ſagen, wo du hingehſt, elender Schuft!“ 

„Herr General, ich hole den Arzt, denn meine Frau liegt in 
den Wehen.“ 

„Ins Gewehr!“ brüllte der Sergeant. 

Zur Rettung das benützen, was uns ins Verderben geſtürzt 
hat, iſt eine bewährte Methode ſtarker Menſchen. Gavroche 
überſchaute ſofort die Situation. Dieſer Karren hatte ihn kom— 
promittiert, er würde ihn jetzt ſchützen. In demſelben Augenblick, 
in dem der Sergeant zum Angriff vorging, ſtieß Gavroche ihm 
den Wagen mit aller Kraft gegen den Bauch, ſo daß der Feind 
auf das Pflaſter fiel, wobei ſein Gewehr ſich in die Luft 
entlud. 

Die Wachtpoſten waren auf den Alarm des Sergeanten Hals 
über Kopf herbeigeeilt. Als ſie dieſen Schuß hörten, begannen 


619 


fie wütend zu feuern. Diefes Gefecht gegen Unbefannt dauerte 
eine gute DViertelftunde und brachte einige Fenfterfcheiben zur 
Strede. 

Inzwiſchen rannte Gavrode, was feine Beine bergaben, da- 
von und erreichte Éeucdend den Prellftein an der Ede der 
Enfonts-Rouges. 

Hier lauſchte er. 

Dann feste er fich wieder in Trab. 

Der Poften aber hatte niht ohne Ergebnis gekämpft. Ein 
Karren wurde erbeutet, ein DBetrunfener gefangengenommen. 
Den Karren bradhte man in den Pfandftall, ben Betrunfenen 
übergab man der Juſtiz. Er wurde als Komplice der Revo— 
Iutionäre vor das Kriegsgericht geftellt. Bei diefer Gelegenheit 
gab bas Minifterium neuerliche Beweiſe von feinem unermiid- 
lihen Eifer für die Verteidigung der menfhlihen Gefellichaft. 

Das Abenteuer Gavrodes ift im Stadtviertel des Temple 
nicht vergeflen worden. Es gehört zu ben fohredlihften Erinne- 
rungen der alten Bürger des Marais und heißt in ihrem An- 
denfen nod heute: 

„Der nächtliche Überfall auf den Poften in der Königlichen 
Druckerei.‘ 


620 














Jean Daljean 


Erstes Buch 
Line Schlacht zwiſchen vier Wänden 


1. Doffnungen flafern auf und verlöſchen 


Die Nevolutionäre bemühten fih unter Auffiht Enjolras’ — 
denn Marius Fümmerte fi) um nichts mehr — , die Nacht aus- 
zunüßen fo gut es ging. Die Darrifade wurde nicht nur aus- 
gebeffert, fondern auch verftärft. Man erhöhte fie um zwei Fuß 
und pflanzte Eifenftangen in fie, die wie Tanzen aus den Pfla- 
fterfteinen bervorragten. Allerlei Schutt und Abfall wurde dar- 
übergeftreut, um die Erfteigung unmöglih zu machen. Gegen 
innen wurde die Wehr wie eine Mauer gefeftigt, gegen außen 
mit Strauchwerf verkleidet. Auch wurde die fteinerne Treppe, 
die von innen auf die Böſchung hinaufführte wie auf die Mauer 
einer Zitadelle, erneuert. 

Nachdem die Barrifade folhermaßen wieder inftand gefeßt 
war, brachte man die Gaftftube in Ordnung, richtete in der 
Küche eine Ambulanz ein und forgte dafür, daß alle Verwun— 
deten verbunden wurden. Das Pulver, dag auf der Erde und 
auf den Tifehen verftreut worden war, wurde gefammelt, man 
goß Kugeln, fabrizierte Patronen, zupfte Scharpie, verteilte die 
Maffen der Gefallenen, fhaffte die Leihen fort. 

Die Toten wurden in der Rue Mondetour, die man ja immer 
noch beherrfchte, zu einem Haufen aufgefhichtet. Das Pflafter 
biefer Éleinen Gaffe ift noch lange nachher rot gewefen. Unter 
den Zoten fand man vier Notionalgardiften. Enjolras ließ ihnen 
die Uniformen ausziehen. 

Er hatte zwei Stunden Schlaf anbefohlen. Doch Éonnten die 
meiften Feine Ruhe finden. Die drei Frauen benüßten die Nacht, 


621 


um endgültig zu verfhwinden. Sie fanden ein Mittel, in ein 
Nachbarhaus zu gelangen, und überließen „Corinthe“ den Re— 
volutionären, die fich jeßt weniger behindert fanden. Die Deichfel 
des Omnibuffes war zwar von den Kugeln befchädigt, aber nod) 
immer ftarf genug, um eine Sahne zu tragen. Enjolras, der die 
Führereigenfchaft befaß, zu tun, was er vorher fagte, befeftigte 
an ihr den zerlöcherten und blutbededten Mod des toten Ma— 
beuf. Die meiften der Verwundeten wollten weiterfämpfen. Auf 
einer Matrabe und einigen Strohfäden lagen in der Küche fünf 
Schwerverlekte, darunter zwei Munizipalgardiften. 

An eine Mahlzeit war nicht zu denken. Weder Fleifch noch 
Brot war aufzutreiben. Die fünfzig Männer hatten in den 
ſechzehn Stunden, die fie bereits auf der Barrifade zubrachten, 
alle Vorräte des Wirtshaufes aufgebraudt. 

Da man nichts zu eflen hatte, wollte Enjolras aud nicht er- 
fauben, daß getrunfen werde. Er verbot den Genuß von Wein 
und rafionierte den Branntwein. 

Im Keller hatte man fünfzehn hermetiſch verichloffene Fla— 
Shen gefunden. Enjolras Eonfiszierte fie troß des lebhaften all- 
gemeinen Einſpruchs und ließ fie auf den Tiſch ftellen, auf dem 
Mabeuf lag. Gegen zwei Uhr morgens wurde eine Zählung der 
fompffähigen Männer vorgenommen. Man fand ihrer noi 
fiebenunddreißig. 

Bald darauf graute der Morgen. Die Fadel wurde verlöſcht. 
Das Vnnere der Parrifade, eine Art Éleiner Hof inmitten der 
Straße, lag nod immer im Dunfel und gli in der erften 
Dämmerung dem Ded eines Schiffes, das Maft und Iafelwerf 
verloren bat. Die Kämpfer gingen wie fhwarze Schatten bin 
und her. Über diefem finfteren Platz tauchten im erften Licht— 
fhimmer die fablen Faſſaden der Häufer auf, und etwas heller, 
in der Höhe, die Schornfteine. 

„Ich bin frob, daß diefe Tadel gelöſcht ift‘‘, fagte Courfevrac 
zu Feuilly. „Sie fladerte, als ob fie Angft hätte.‘ 

Die Morgenröte medte die Geifter wie die Vögel. Man 
unterhielt fich lebhaft. 


622 








Joly bemerfte eine Kae auf einer Dachrinne und fagte: 

„Bas ift eigentlich die Kate? Eine Korreftur der Schöp- 
fung. Als der liebe Gott die Maus gefchaffen hatte, fagte er: 
Hola, da babe ich mich vergaloppiert. Die Katze ift gewiſſer— 
maßen die Berichtigung des Irrtums Maus. Kake plus Maus 
ftellt einen Beweis dafür dar, daß wir die Schöpfung heufe in 
revidierter und Forrigierter Auflage vor ung haben.’ 


2. Doffnungen flammen auf und verlöſchen 


Inzwiſchen unternahm Enjolras einen Nefognofzierungsgang. 
Er drang an den Häufern der Nue Mondetour entlang gegen 
die Hallen zu vor. 

Die Nevolutionäre waren, wir müflen es offen jagen, befter 
Hoffnung. Die Art, wie der nächtliche Angriff zurücgefchlagen 
worden war, veranlaßte fie, den Angriff des Fommenden Tages 
im voraus zu unterfohäßen. Sie erwarteten ihn mit Lächeln. 
Set zweifelte Feiner mehr am endgültigen Erfolg ihrer Sache. 
Überdies ftand bei ihnen feft, daß Hilfe fommen würde. Darauf 
rechneten fie in voller Sicherheit. Mit diefer Leichtigkeit, eine 
firahlende Zukunft vorauszufehen, die den franzöfifhen Kämpfer 
auszeichnet, teilten fie bereits den nächſten Tag in drei beftimmte 
Dhafen ein: um fechs Uhr morgens würde ein Regiment, das 
‚man bearbeitet hatte”, zu den Nebellen übergehen. Um Mittag 
Fame dann die Erhebung von ganz Paris, gegen Sonnenunter- 
gang würde die Sache der Revolution durchgefochten fein. 

Auch Tieß fi noch immer die Sturmglode von Saint-Merry 
hören, was bewies, daß die andere, große Barrifade — die 
Jeannes — ſich noch immer hielt. 

Mit vergniigtem Flüftern taufchte man diefe Hoffnungen und 
Beobachtungen aus. 

est Eehrte Enjolras zurück. Einen Augenblicf lang hörte er 
mit gefreuzten Armen den fröhlihen Schwäßern zu, dann 
jagte er: 

„Die ganze Armee in Paris folgt dem König. Ein Drittel 


623 


der Armee wird gegen unfere Barrikade aufgeboten. Dazu 
kommt no die Nationalgarde. Sch fab die Tſchakos des fünften 
Linienregiments und die Feldzeichen der fechften Legion. Binnen 
einer Stunde werdet ihr angegriffen. Was das Volk betrifft, 
fo bat es geftern Lärm gefchlagen, heute aber rührt es fich nicht. 
Weder ein Negiment nod eine Vorſtadt hält eg mit uns. hr 
feid von den Brüdern verlaffen!// 

Diefe Worte fielen auf die plaudernden Gruppen wie die 
erften Tropfen eines Gemitterregens. Alle verftummten. Es gab 
einen Augenblick unbefhreiblihen Schweigens, in dem man 
glauben Eonnte, die Flügel des Todes raufchen zu hören. 

Aber diefer Augenblick währte nur Furz. 

Aus dem dunflen Hintergrund rief jemand: ‚Sei es darum! 
Mir bauen die Barrifade zwanzig Fuß hoch, und dann bleiben 
wir eben alle bier. Bürger, unfere Leichen werden ein Proteft 
fein; wenn das Volk die Nepublifaner verläßt, jo verlaffen die 
Mepublifaner nicht das Volk: das müffen wir ibm beweiſen.“ 

Diefe unbeugfame Entfchloffenheit Tag an jenem 6. Juni 1832 
fo febr in der Luft, daß zur felben Stunde auf der Barrikade 
von Saint-Merry jener hiftorifch gewordene Schwur geleiftet 
werden konnte: 

„Ob man uns zu Hilfe Fommt oder nicht — wir wollen hier 
fterben, vom Erften bis zum Letzten!“ 

Der Lefer fieht, daß die beiden Barrifaden, wenn aud räum- 
lich voneinander getrennt, doch in Verbindung ftanden. 


3. Fünf Mann weniger, einer mehr 


Nachdem diefer Unbekannte, der vom Droteft der Leichname 
gefprochen, den Ausdruck gefunden hatte für bas, was in biefem 
Augenblick alle empfanden, fielen alle in einen zugleich trium- 
phierenden und düfteren Ruf ein: 

„Es lebe der Tod! Wir bleiben alle!‘ 

„Barum alle?! fragte Enjolras. 

„Alle, alle!” 


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„Die Stellung ift gut, fagte Enjolras, ‚die Barrifade ftarf. 

Dreifig Mann genügen zu ihrer Verteidigung. Warum wollt 
ihr vierzig opfern?‘ 
Weil Feiner unter uns ift, der geben will.” 

‚Bürger, rief Enjolras mit zitternder Stimme, in der faft 
etwas wie Zorn mitklang, ‚die Nepublif ift nicht fo reih an 
Menfhen, daß fie fi) unnüse Verſchwendung leiften darf. Der 
Ruhm als folher ift ein Popanz. Wenn einige unter ung die 
Pflicht haben, zu gehen, fo muß diefer Pflicht wie jeder andern 
gefolgt werden.” 

Enjolrag, diefer Prinzipienmann, hatte unter feinen Ge- 
finnungsfreunden ein fo hohes Anfehen, wie eg nur aus dem 
abfoluten Willen hervorgehen kann. Doch murrten alle. 

Aber Enjolras war Führer burd und durd. Als er fab, daß 
einige wider ibn murrten, bebarrte er bei feinem Willen. 

„Die unter euch, die fich fürchten, nur dreißig zu fein, mögen 
fi melden.’ 

Der Einfprud wurde lauter. 

‚Übrigens ift es ja leicht,’ bemerkte einer, ‚von Weggehen 
zu ſprechen. Wir find blockiert.“ 

„Sicht in der Richtung gegen die Hallen”, erklärte Enjolras. 
„Die Mue de Mondetour ift noch offen, und man Éann durd 
die Mue des Preheurs zum Markt des Innocents gelangen.” 

„And dort wird man gefaßt. Gewiß fällt man irgendeiner 
Mache in die Hände. Wenn die Kerle einen Mann in Arbeiter- 
blufe und Mütze fehen, werden fie fragen: Von wo fommft bu? 
Etwa von der Barrifade? Dann fieht man dir auf die Hände, 
riecht bas Pulver — du wirft erfchoffen.” 

Enjolras berührte, ohne zu antworten, Combeferres Schul- 
ter, und die beiden traten in bas Gaftzimmer. 

Gleich darauf Famen fie zurück. Œnjolras trug in feinen beiden 
Händen die vier Uniformen, die er den Gefallenen abgenommen 
hatte, Combeferres brachte das Gurtzeug und die Tſchakos. 

„Mit diefen Uniformen‘, erklärte Œnjolras, ,,fpasiert man 


40 Hugo, Die Elenden. 625 


quer dur die Feinde binburd und entfblüpft. So Fünnen zu- 
nächft vier gerettet werden.‘ 

Und er warf die vier Uniformen auf den Boden. 

„Hört, rief jeßt Combeferre, ‚ihr müßt ein Einfehen haben. 
Begreift ihr denn, worum es fib handelt? Sind unter eu 
welche, die Frauen haben, ja oder nein? Und Kinder? Und Müt— 
ter, die mit dem Fuß die Wiege treten und einen Haufen 
Kleiner um fi haben? Wer unter eud niemals den Buſen 
einer nährenden Frau gefehen bat, der möge die Hand heben! 
Ihr wollt euh töten laffen? Gut, bas will ich auch, aber ich will 
dabei nicht die Gefpenfter von Frauen dabei haben, die ver- 
zweifelt die Arme ringen. Um eud geht es nicht! Wir willen, 
wer ihr feid. hr feid alle tapfer, gewiß, jeder von euch ift be- 
reit, fein Leben für die Sache herzugeben! Wir wiffen auch, daß 
feiner unter euch ift, der ſich nicht auserwählt fühlt, nußbrin- 
gend und berrli zu fterben, und dadurch feinen Teil am 
Zriumph haben will. Aber wartet: ihr feid nicht allein auf der 
Melt. Es gibt noch andere, an die ihr denfen müßt. Ihr dürft 
nicht egoiftifch Handeln.” 

Alle neigten mit düfterer Miene den Kopf. 

In folhen Augenblicken ift das Menfchenherz feltfamer Wider— 
ſprüche voll. Combeferre, der fo ſprach, war felbft Feine Waife. 
Er, der fih der Mütter der andern erinnerte, vergaß darüber 
die feine. Er wollte fterben, er war alfo „ein Egoiſt“. 

Inzwiſchen war Marius, den der Hunger und bas Fieber 
quälte, in einen Zuftand vollfommener Soffnungslofigfeit ver- 
follen. Der Schmerz und die Erwartung des bevorftehenden 
Untergangs hatten ibn in jenen Zuftand traumhafter Starrheit 
verfeßt, der dem freiwilligen Untergang voranzugehen pflegt. 

Er hörte die Stimmen wie aus weiter Ferne, fab das Kom- 
men und Geben der Leute wie im Flimmer allzu grellen Lichte. 

est aber war er gerührt. In diefer Szene des Wettſtreits 
derer, die fterben wollten, war ein Stachel, der bis zu feinem 
Herzen drang und ihn weckte. Er hatte nur mehr einen Gedanken, 
zu fterben; aber er bedachte in feinem fomnambulen Zuftand, 


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daB es aud einem Sterbenden nicht verfagt fein Éann, einen 
andern zu retten. 

„Enjolras und Kombeferre haben recht”, fagte er. „Unnütze 
Dpfer wollen wir vermeiden. Und wir müffen uns beeilen. Was 
Combeferre gefagt bat, erlaubt Feine Widerrede. Unter euch find 
Männer, die Mütter, Schweftern, Frauen und Kinder haben. 
Sie mögen vortreten.” 

Keiner rübrte fi. 

‚Die verheirateten Männer und Familienernährer follen vor- 
treten!’ wiederholte Marius. 

„Ich befeble es euch!” fhrie Enjolras. 

„Ich bitte euch darum’, fagte Marius. 

Endlich begannen diefe Helden zu einem Entfehluß zu Éom- 
men. Sie denungierten einer ben andern. 

„Es ift ganz richtig, fagte ein junger Mann zu einem älte- 
ren, „du bift Familienvater, geb.” 

„Und du mußt viel eher geben als ich,” erwiderte der andere, 
„du ernährft zwei Schweftern.” 

Vebt begann ein neuer Kampf. 

„Beeilt euch, fagte Courfeprac, „in einer DViertelftunde ift 
es zu ſpät.“ 

„Bürger, erflärte Enjolras, ,,bei uns ift Republik, bier 
entfcheidet die Abftimmung. hr felbft follt jene beftimmen, die 
gehen.” 

Man geborchte. Nach wenigen Sekunden hatte man die Wahl 
getroffen. 

„Es find ihrer fünf”, zählte Marius. 

Aber man befaß nur vier Uniformen. 

„But, riefen die fünf wie aus einer Kehle, „da muß einer 
von ung bleiben.” 

Menerlic begann der edle Wettftreit. 

„Macht raſch!“ wiederholte dringender Eourfeyrac. 

Marius trat auf die fünf zu, die ihm zulächelten und alle die 
große Flamme der Kämpfer von den Thermopylen in den Augen 
hatten, als fie ihm entgegenriefen: 


40* 627 


„Mich! Nimm mid!‘ 

In diefem Augenbli wurde, als ob fie vom Himmel fiele, 
eine fünfte Uniform zu den vier anderen geworfen. 

Marius blidte auf und erfannte Fauchelevent. Sean Valjean 
war auf der Barrifade erfhienen. nftinft und Glück hatte ibn 
in die Nue Mondetour gelenkt, und dank feiner Mational- 
gardiftenuniform hatte man ihn überall burbgelaffen. 

In der Mue Mondetour war er bem Poften der Ynfurgenten 
begegnet, der aber wegen eines einzigen Motionalgardiften nicht 
Lärm fchlagen wollte. Überdies war die Situation zu fehwierig, 
um wegen eines Mannes den Poften zu verlaffen. 

As Jean Valjean fib unter die Kämpfer mengte, hatte 
feiner auf ihn geachtet, da alle mit der Wahl derer befhäftigt 
waren, die fi retten follten. jean Valjean hatte ſchweigend zu- 
gehört, dann feine Uniform abgelegt und zu den anderen ge 
worfen. 

Ber ift dag?’ fragte Boffuet. 

„Einer, der für einen anderen einfpringt‘‘, erwiderte Combe- 
ferre. 

Marius fügte ernft hinzu: 

„Ich Éenne ihn.’ 

Diefe Bürgfhaft genügte allen. 

Enjolras trat zu Sean Valjean: 

„Seien Sie willfommen, Bürger. Daß wir bier alle fterben 
müffen, wiflen Sie doch?“ 

Sean DBaljean antwortete nicht, fondern half dem In— 
furgenten, der die Uniform anlegte, in den Mod. 


4. Die Tage verfhlimmertfid 


Marius dachte nur fehmerzlich bewegt an Cofette. 

Mie war Fauchelevent hierher gefommen? Und warum? Was 
wollte er? 

Marius ermog diefe Frage faum. Wenn ein Menfh ver- 
zweifelt ift, verfpinnt er fid fo in feinen eigenen Seelenzuftand, 


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daß es ihm höchſt logiſch erfheint, wenn alle andern aud fterben 
wollen. 

Übrigens richtete Fauchelevent nicht das Wort an ibn, fab 
ihn nicht einmal an. Als Marius gefagt hatte, daß er ihn Éenne, 
ſchien es, daß Fauchelevent ihn nicht einmal gehört hatte. 

Diefe Haltung war Marius angenehm. Es [bien ihm nod 
immer vollfommen unmöglid, biefen rätfelhaften Mann, vor 
dem er zugleih Ehrfurdt und Schreden empfand, anzureden. 
Überdies hatte er ibn fehr lange nicht gefeben. Und ſeine ſchüch— 
terne, zurücfgezogene Art verftärfte diefen Widerwillen. 

Die fünf Ausgeloften verließen die Barrifade. An nichts war 
zu erfennen, daB man es nidt mit Mationalgardiften zu fun 
hatte. Einer meinte, 

est date Enjolras aud an den zum Iode Verurteilten. Er 
trat in bas Gaftzimmer. Javert war nod immer an feinen Pfei— 
ler gebunden und brütete vor fid bin. 

nBerlangft du irgend etwas?’ fragte ihn Enjolras. 

„Bann werdet ihr mic umbringen?’ 

„Warte no ein wenig. Borderband find unfere Patronen zu 
koſtbar.“ 

„Gut, dann gebt mir etwas zu trinken.“ 

Enjolras hielt ſelbſt das Glas, während der Gefeſſelte trank. 

„Iſt das alles?“ fragte Enjolras. 

„Ich fühle mich hier recht übel“, erwiderte Javert. „Es iſt 
nicht beſonders nett von euch, daß ihr mich eine Nacht an die— 
ſem Pfeiler ſtehenlaßt. Ihr könnt mich ja anbinden, wenn ihr 
wollt, aber ihr ſolltet mich liegenlaſſen wie den andern.“ 

Und er deutete auf Mabeuf. 

Auf Enjolras' Befehl banden vier Inſurgenten Javert von 
ſeinem Pfeiler los. Man ließ ſeine Hände auf dem Rücken ge— 
feſſelt, band jetzt auch die Beine mit einem dünnen, aber ſcharfen 
Strick, ſo daß er nur kurze Schritte machen konnte wie ein 
Delinquent, der zum Schafott hinaufſteigt. Dann ließ man ihn 
zum Tiſch gehen, legte ihn darauf und ſchnallte ihn feſt. 

Während man Javert band, erſchien ein Mann auf der 


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Schwelle und fab aufmerffam zu. Javert wandte fit nad ibm 
um. Er 309 die Brauen bod und erfannte Valjean. Stolz ließ 
er die Liber wieder berabfallen und fagte: 

„Natürlich!“ 

Jetzt wurde es raſch Tag. Aber kein Fenſter, keine Türe ging 
auf. Heute brachte die Morgenröte nicht das Erwachen der 
Straße. Die Truppen hatten ſich aus der Rue de Ina Chanvrerie 
zurücgezogen, die jeßt in unheimlicher Ruhe dalag. 

Man fab und hörte niemand. Doch ging in einiger Entfer- 
nung etwas Geheimnisvolles vor fih. Der Eritifhe Augenblick 
nabte fihtlich. Poften wurden abgelöft — diesmal alle. 

Die Barrifade war jest viel ftärfer als beim erften Angriff. 
Mad dem Abgang der fünf hatte man fie neuerlich erhöht. 

Auf Anraten des Poftens, der die Gegend der Markthalle 
beobachtet hatte, faßte Enjolras, der jeßt doch einen Angriff im 
Rücken fürdhtete, einen fchweren Entfehluß. Er lief in der Rue 
Monbétour, die big jeßt frei gewefen war, eine Éleine dritte 
Barrifade errichten. So war man jeßt nad) drei Seiten hin ver- 
barrifodiert. 

„Eine Seftung — und zugleich eine Mauſefalle“, erklärte 
Courfeyrac lächeln. 

Schließlich lief Enjolras neben der Tür des Wirtshaufes 
etwa dreißig Pflafterfteine, die überzählig waren, bereitlegen. 

Mad der Richtung bin, von der der Angriff Fommen mußte, 
herrfchte tiefftes Schweigen. 

Jeder Kämpfer erhielt eine Nation Branntwein. 

Nichts ift feltfamer als eine Barrifade, die zur Abwehr eines 
Angriffs rüftet. jeder wählt feinen las wie im Ihenter. Man 
lehnt fit an, ftüßt den Ellbogen auf eine Unterlage. Diele 
richten es fo ein, daß fie fisenb Fampfen Fönnen. Man will be- 
quem töten und mit Komfort fterben. 

Sobald bas Zeichen zur höchſten Kampfbereitfchaft gegeben 
ift, rührt fi Feiner mehr. Jetzt find alle Nerven angefpannt. 
Pat früher das Chaos geherrfcht, fo fest fih jest Difziplin 
durch. Die Gefahr fhafft Ordnung. 


630 





Im übrigen waren die Verteidiger diefer Barrikade ftolzer 
und zuverfihtlicher als je. Die höchſte Opferbereitſchaft ift auch 
eine innere Stärkung. Wenn man Feine Hoffnung mehr bat, fo 
weiß man fih wenigftens im Beſitz eines letzten Gutes — der 
Verzweiflung. Sie ift eine Waffe, die manchmal zum Siege 
führt. Schon Virgil bat es gefagt. Außerſte Entſchlüſſe er- 
Schließen erftaunlidfte Silfsquellen. Sih in den Rachen des 
Todes zu flürzen, ift oft ein Mittel, bem Schiffbruch zu ent- 
gehen; der Dedfel des Sarges Fann bas ‘Brett werden, an das 
wir uns Élammern und bas ung die Rettung bringt. 

Nicht lange warteten die Derteidiger der Barrikade. Zuerft 
war von Saint-Leu herüber eine Bewegung zu bemerfen, aber 
fie war jener unähnlid, die den vorigen Angriff eingeleitet 
hatte. Es war wie ein Klirren von Ketten. Irgendein unheim- 
lihes Mordgerät wurde berangefchleppt. Diefe friedlichen 
Straßen, die einem ruhigen Derfehr geweiht waren, zitferten 
unter dem Rollen der Mäder des Krieges. 

Alle Augen waren auf den Ausgang der Straße gerichtet. 

Eine Kanone tauchte auf. 

Die Artilleriften zogen fie heran. Sie war fchußbereit, die 
Prose abgenommen. Zwei Leute hielten die Lafette, vier waren 
on den Nädern. Andere folgten mit dem Munitionsfaften. Die 
Lunte brannte bereits. 

„Feuer!“ rief Enjolras. 

Die ganze Barrifade fpie Feuer aus, und dag Getöfe war 
furchtbar; eine Rauchwolke ftieg auf. Als fie fid) verzog, tauchte 
die Kanone wieder auf. Die Soldaten, die fie bedienten, fuhren 
fort, fit an ihr zu betätigen, ruhig und ohne Haft. Keiner war 
getroffen. Der Kommandant drückte, ernft wie ein Aftronom, 
der bas Fernrohr einftellt, auf den Nücfhalter, um den Schuß 
höher zu richten. 

„Bravo, Kanoniere!“ fehrie Boſſuet. 

Alle Leute auf der Barrikade klatſchten in die Hände. 

Und ſchon ſtand das Geſchütz ſchußbereit inmitten der Straße 
der Barrikade gegenüber. hr furdtbarer Schlund drohte. 


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„Vorwärts, luſtig!“ rief Courfevrac, „nach dem Hundegefläff 
das Bärengebrumm! Die Armee ftredft ihre große Take nad 
uns aus. Unfere Barrifade wird ordentlich durchgerüttelt wer- 
den. Das Gewehrfeuer bat ung abgetaftet, die Kanone greift zu.‘ 

„Es ift ein Adhtpfünder, ein neues Bronzemodell“, erflärte 
Combeferre. „Dieſe Geſchütze plagen leicht, wenn man bas Le- 
gierungsverhältnis — zehn Prozent Zinn auf hundert Kupfer 
— verändert. Zuviel Zinn macht das Metall weich.” 

„Ladet eure Gewehre!” rief Enjolras. 

Mie würde die Barrifade dem Gefhüs widerftehen? Mußten 
die Kugeln nicht eine Breſche fchlagen? Das war die Frage. 

Mährend die nfurgenten wieder ihre Slinten luden, machten 
die Artilleriften ihre Kanone fchußbereit. 

Der Schuß fiel — eine furdtbare Detonation folgte ihm. 

„Schon da!” rief eine vergnügte Stimme. 

Es war Gavroche, der die Kugel herbeifchleppte. 

Sein Erfheinen wirfte auf alle — die Verteidiger der Par- 
rifade begannen zu lachen. 

„Fortſetzung!“ brüllte Boffuet den Artilleriften zu. 


5. Die Artilleriften wollen ernft 
genommen werden 


Alle umringten Gavroche. 

Aber ihm blieb Faum Zeit, zu erzählen. Marius 309 ihn 
beifeite. 

„Bas fubft du hier?‘ 

„Na, und Sie?” 

Streng fragte Marius: 

„Wer bat dir gefagt, daß du wiederfommen folft? Haft du 
wenigftens meinen Brief beſorgt?“ 

Was diefen Brief anging, war Gavroches Gewiſſen nicht 
ganz rein. In feiner Haft, wieder zur Barrikade zurücdzufom- 
men, hatte er fi den Brief eher vom Halfe gefchafft als ihn 


632 





beſtellt. Insgeheim mußte er fi fagen, daB er ibn etwas leicht- 
fertig jenem Unbefannten anvertraut hatte, beffen Gefiht er 
nicht einmal gefeben. Wohl hatte jener Mann feinen Hut ge- 
tragen, aber das war ja no Fein Beweis. Er fheute Vorwürfe 
Marius’. Um fih aus der Klemme zu befreien, tat er, was am 
nächſten lag: er log war dag Zeug hielt. 

„Bürger, fagte er, „ich babe den Brief dem Dortier ge- 
geben. Die Dame fohlief fhon. Wenn fie aufwacht, wird fie den 
Brief haben.’ 

As Marius diefes Schreiben abfandte, hatten ihm zwei Ziele 
vorgefhiwebt: fih von Eofette zu verabfhieden und Gavrode zu 
retten. Er mußte zufrieden fein, daB er wenigitens das eine er- 
reicht hatte. 

Immerhin brachte ihn die Anwefenheit Fauchelevents auf eine 
feltfame Gedanfenverbindung. Er zeigte Gavrode den Meuan- 
kömmling und fragte: 

nRennft du diefen Mann?” 

„Nein.“ 

Gavroche hatte ja Jean Valjean wirklich in der Dunkelheit 
nicht deutlich geſehen. 

Die peinlichen und überängſtlichen Befürchtungen Marius’ 
wichen. Kannte er Fauchelevents politiſche Anſichten? Vielleicht 
war dieſer Mann wirklich ein Republikaner. Dann war ja 
weiter nichts Verwunderliches daran, daß er hier erſchienen war. 

Schon war Gavroche auf der Barrikade erſchienen und ver— 
langte energiſch nach ſeinem Gewehr. 

Courfeyrac ließ es ibm geben. Nun erzählte Gavroche feinen 
„Kameraden“, wie er fie nannte, daB die Barrifade vollfommen 
eingefreift fei. Nur mit größter Mühe hatte er fi noch durd- 
geihmuggelt. Ein Bataillon Linieninfanterie, deffen Gewehr— 
pyramiden in der Rue de Ia Petite-Truanderie ftanden, beob- 
adıtete den Zugang von der Rue du Cygne. Auf der anderen 
Seite hielten Munizipalgardiften die Nue des Precheurs befest. 
Vor fi) hatte man die Kerntruppe der Armee. 

Enjolras ftand horchend auf feinem Beobadtungspoften. 


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Die Pelagerer fhienen mit der Wirkung ihres Schuffes nibt | 
fonderlid zufrieden, denn fie wiederholten ibn nicht. | 

Eine Kompanie Linieninfanterie erfhien jest am Ende der | 
Straße hinter der Kanone. Die Soldaten riffen das Pflafter | 
auf und errichteten daraus eine Éleine Schukmauer von etwa | 
achtzehn Zoll Höhe. | 

Enjolras glaubte jenes eigentümliche Geräuſch zu erfennen, 
das entfteht, wenn Kartätfhenmunition aus den Käften geholt | 
wird. Auch fab er, daB der Kommandant die Kanone gegen linfs 
richtete. Dann wurde fie wieder geladen. Der Kommandant hielt | 
jelbft die Lunte und näherte fie der Zündſchnur. 

„Köpfe herunter!’ rief Enjolras, ‚‚Eniet alle nieder!’ 

Die Snfurgenten, die vor dem Wirtshaus an der Wand ftan- | 
den, eilten alle auf die Barrikade zu. Aber bevor Enjolrae’ Be- | 
fehl ausgeführt war, fpie die Kanone mit furchtbarem Getöfe | 
eine Ladung Kartätfchen aus. 

Sie war gegen die freigelafiene Lüde der Sauptihange ge- | 
richtet. Knapp über ihr prallte fie von der Wand ab, tötete zwei | 
Männer und verwundete drei. 

Die Barrifade war nicht mehr zu halten. 

Beftürzung bemächtigte fi) der Verteidiger. 

„Wir müſſen um jeden Preis den nädhften Schuß verhin- 
dern”, fagte Enjolras. 

Er Iegte an, zielte auf den Kommandanten des Gefchüßes, 
der fi eben über den Rückhalter der Kanone beugte und vifierte. 

Es war ein gufgewachfener Artilleriefergeant, ein ganz junger, 
blonder Menſch mit klugem Geficht, wie man es bei diefer furdt- 
barften aller Waffen oft findet, die das Gemesel fo fürdter- 
lich macht, bis es bereinft erftict. 

Combeferre ftand neben Enjolras und betrachtete den jungen 
Mann. 

„Schade, fagte er, ‚wie fheuflih ift doch diefes Blutver— 
gießen! Nun, wenn es aus fein wird mit biefen Königen, wird 
es auch Feine Kriege mehr geben. Du zielft da auf diefen 
Sergeanten, ftatt ibn anzufehen, Enjolras. Stell’ dir vor, daß 


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er ein liebenswürdiger junger Mann ift, ein tapferer Kerl. Man 
fiebt ibm an, daß er Verſtand bat. Die Artilleriften find immer 
gebildet. Gewiß bat er einen Vater, eine Mutter, Familie. 
Wahrſcheinlich ift er verliebt. Und dabei ift er höchſtens fünf- 
undzwanzig Jahre alt. Er könnte dein Bruder fein.‘ 

„Er ift es“, fagte Enjolras. 

„But, dann wollen wir ihn nicht töten.” 

„Laß mich. Was gefchehen muß, fol geſchehen.“ 

Langfam glitt eine Träne über Enjolras Marmormwange. 

Und im felben Augenblick ſchoß er. 

Der Artillerift drehte fih zweimal um fich felbft, ſtreckte die 
Arme aus, bob den Kopf, als ob er atmen wolle und Follerte 
dann über dag Geſchütz. 

Die Kugel hatte ihn in die Bruft gefchoflen. 


6. Einer, der feinen verfehlt und niemand 
tötet 


Das Feuer der Velagerer hielt an. Gewehre und Kugel- 
ſpritzen wechſelten ab. Doch richteten fie Eeinen ernften Schaden 
an. Mur die Faflade des „Corinthe“ Titt. 

Es ift übrigens eine altbewährte Taktik im Barrifadenfampf, 
daß man die Schießvorbereitung lange ausdehnt, um die Ynfur- 
genten zum Verbrauch ihrer Munition zu verführen. Es ift ein 
großer Fehler, wenn die Männer auf der Varrifade bas Feuer 
erwidern. Dann wartet der Angreifer, bis er fieht, daB die 
Gegenwehr ſchwächer wird, und unternimmt den Sturm gegen 
einen Feind, dem es bereits an Pulver und an Kugeln fehlt. 

Enjolras beging diefen Fehler nicht. Die Leute auf der Bar— 
rifade beantworteten bas Feuer kaum. 

Möglicherweiſe beunruhigte diefes Schweigen die Belagerer. 
Sie fürchteten vielleicht einen unvorbergefebenen Gegenzug des 
Feindes. Vebenfalls wollten fie in Erfahrung bringen, was 
hinter der Schußwehr vorging. 

Plötzlich ſahen die Inſurgenten auf einem Nahbardach den 
Helm eines Feuerwehrmannes in der Sonne blinfen, 


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„Das ift ein Wächter, den wir ganz und gar nicht brauchen 
fönnen’’, fagte Enjolras. 

Sean Daljean nahm fein Gewehr und legte auf den Feuer- 
wehrmann an. Eine Sekunde fpäter Éollerte der Helm auf die 
Straße. Der erfhrodene Beobachter verfhwand in voller Haft. 

Ein zweiter Beobachter erfchien. Diesmal war e8 ein Offi- 
zier. Aber fon hatte Sean Daljean wieder geladen. Er ſchoß 
und ließ dem Tſchako den Helm folgen. Der Offizier zeigte fic 
nicht bebarrlih. Eiligft zog er fich zurüd. Diesmal war die un- 
mißverftändlide Warnung begriffen worden. Niemand erfchien 
mehr auf dem Da. 

„Warum haben Sie den Menfchen nicht abgefchoflen?”’ fragte 
Boſſuet Jean Valjean. 

Aber Jean Valjean antwortete nicht. 


7. Die Unordnung als Parteigängerin 
der Ordnung 

Wer fi no diefer bereits fern zurücfliegenden Zeit erinnert, 
weiß, daß die Nationalgardiften fich erbittert mit den Mevolutio- 
nären fhlugen. Und gerade in den Junitagen des Jahres 1832 
kämpften fie zäh und furtios. Mancher brave Kneipwirt, der 
befürchtete, daß fein Lokal in fchlimmen Zeiten einen ſchlechten 
Geſchäftsgang aufweifen würde, wurde zum Löwen, wenn er bas 
Gaftzimmer leer fab; und er beeilte fi, für die öffentliche Ord— 
nung fein Leben einzufeßen. In biefen zugleich bürgerlichen und 
heroifchen Iagen hatten die Ybeen ihre Mitter, aber aud die 
Sntereffenten ihre Paladine. Mochten die Motive nod fo pro- 
faifch fein, fo foht man doc tapfer. ab einer, daß fein Säckel 
ein unbeilbares Loc hatte, fo ftimmte er, wenn er aud früher 
Bankier gemefen, die Marfeillaife an. Ein anderer vergoß höchſt 
poetifh fein Blut, weil er für den Veftand feines Gemwürz- 
ladeng fürchtete. Mit dem Mut eines Spartanergs verteidigte 
man feine Rafhemme, diefen Deminutiv des Vaterlandes. 

Ein anderes Phänomen diefer Zeit: die Anardie bemädhtigte 
fit fogar der Verteidiger der Ordnung. Man Fämpfte ohne 


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jegliche Difziplin für ‚das Syſtem“. Der Tambour wartete den 
Befehl feines Oberften nicht ab, um zum Sturm zu fommen. 
Ein Unterführer befahl den Angriff aus perfönlicher Laune; es 
geſchah, daß ein einzelner Nationalgardift fih auf eigene Gefahr 
und Rechnung in den Kampf ftürzte. An bewegten Tagen hörte 
man weniger auf feine Führer, als man feinem Inſtinkt folgte. 
Unter den Freunden der Ordnung gab es wahre Guerillerog, 
folhe des Degens wie Fannicot, folhe der Feder wie Henry 
de Grèbe. 

Am 6. uni 1832 unternahm eine Kompanie Mationalgar- 
diften, die unter dem Kommando des Sauptmanns Fannicot 
ftand, einen wahnfinnigen Angriff auf die Barrifade in der Rue 
de la Cbanvrerie, der fie dezimierte. Diefe feltfame Tatfache ift 
ipäter bei dem Gerichtsverfahren, das die Mebellion von 1832 
behandelte, ausdrücklich feftgeftellt worden. Fannicot, ein unge- 
bulbiger und Fühner Menſch, ein Bürger mit den Vnftinften 
eines Kondottiere, Eonnte der Verſuchung nicht widerftehen, die 
Barrikade felbft zu erobern — oder wenigfteng mit feiner Kom- 
panie. Die rote Fahne und der alte Mod, den er für eine 
Ihwarze Flagge hielt, bracten ihn fo außer Nand und Band, 
daß er ganz laut die Generäle und Truppenführer, die noch 
immer berieten, Seiglinge nannte. Denn die leitenden Köpfe der 
Armee hielten den Augenbli für einen entfcheidenden Sturm 
noch nicht günftig und wollten, wie fie es nannten, „die Nebellen 
in ihrem eigenen Fett fhmoren laſſen“. Er aber, Fannicot, fand 
die Barrifade reif, und da alles Reife fallen muß, wollte er fie 
ftürgen. 

Er verfügte über eine Schar zum Außerften entfchloffener 
Leute, richtiger Diefföpfe, wie ein Zeuge fpäter fagte. Seine 
Kompanie war es auch gewefen, die Sean Prouvaire füfilierte. 

Nun, in einem Augenblick, da man e8 am wenigften erwar- 
tete, rannte der Hauptmann plößlich mit feinen Leuten auf die 
Barrifade los. Diejes Wagnis, das wohl der gute Wille, aber 
nicht ftrategifcher Verſtand leitete, Eoftete die Kompanie Fanni- 
cof viel Blut. Bevor fie noch zwei Drittel der Straße durd- 


637 


meflen bafte, wurde fie von einer Salve empfangen. Dier der 
Zapferften, die an der Spiße liefen, brachen zufommen, und die 
andern, fo Fühn fie aud waren, befaßen nicht jene Zähigkeit, die 
den wirfliden Soldaten auszeichnet. Nach kurzem Zögern 
wandten fie fih zur Flucht und ließen fünfzehn Tote auf dem 
Pas. Selbft die Eure Verzögerung gab den Inſurgenten Zeit, 
ihre Waffen neu zu laden, und eine zweite mörderifche Salve 
traf die Kompanie, bevor fie die Straßenede erreicht hatte. Im 
felben Augenblick fchoflen die Angreifer mit Feuerfprigen. Die 
Batterie hatte nicht aufgehört zu feuern. So gerieten die Matio- 
nalgardiften zwifchen zwei Feuer. Der unerfchrodene, tollfühne 
Fannicot fiel durch eine Kartätfche, die von feinen Parteifreun- 
den abgefchoflen worden war. Die Kanone der Verteidiger der 
Drdnung bradte ihn zu Fall. 

Enjolras ärgerte fich iiber diefen wüfenden und doc unernften 
Angriff. 

„Dieſe Trottel“, fagte er, ‚tragen ihr Fell zu Markte und 
verbrauchen unfere Munition!” 


8. Gavrobedraußen 


Plötzlich bemerkte Eourfeyras, daB jemand draußen auf der 
Straße, im Kugelregen, bin und her Tief. 

Gavrode hatte einen Korb ergriffen, war dur die Lücke 
binausgeflettert, und begann jest in aller Ruhe die Patronen- 
tafhen der gefallenen Notionalgardiften zu plündern. 

„Was tuſt bu da draußen?” rief Courfeyrac. 

„Ich Fülle meinen Korb, Bürger.‘ 

„Siehft du die Rugelfprise nicht?“ 

„Ach ja, 88 regnet ein wenig.” 

„Komm zurück!” fchrie Courfeprac. 

„Gleich!“ 

Etwa zwanzig Tote lagen auf dem Straßenpflaſter. Das be— 
deutete für Gavroche zwanzig Patronentaſchen. Reichlich Muni— 
tion für die Leute auf der Barrikade. 


638 


| 











Mod immer lag der Pulverdampf wie Mebelfhwaden über 
der Straße. Nur allmählich verzog er fih. Noch Eonnten die 
feindlihen Parteien einander Faum erkennen. 

Diefe ſchlechte Sicht lag vielleicht in der Abficht der Führer, 
die den Angriff auf die Barrifade vorbereiteten. jedenfalls Fam 


fie Gavrode zugute. 


Dank feiner geringen Größe konnte er, ohne gefehen zu wer- 
den, ziemlich weit in die Straße vordringen. Die fieben oder 
acht erften Patronentafchen leerte er ohne befondere Gefahr. 

Bald lag er auf bem Bauch, bald kroch er, den Korb zwifchen 
den Zähnen, hüpfte auf, fchlängelte fi zwifchen den Toten bin, 
leerte eine Patronentafche, wie ein Affe eine Nuß Enadt. 

Don der Barrifade, die nicht allzu weit entfernt war, rief 
man ihm nicht mehr zu, er folle zurückkommen, denn man wollte 
nicht die Aufmerffamfeit der Angreifer auf ibn lenfen. 

Bei der Leiche eines Korporals fand er ein Pulverborn. 

„Etwas für den Durft”, fagte er. 

Jetzt gelangte er in eine Zone, die weniger vom Pulverdampf 
abgedichtet war. Plöslich tauchte vor den Schüßen am Ende der 
Straße eine undeutlihe Geftalt auf, die ſich im Mebel bewegte. 

Gavroche war eben dabei, einen Sergeanten, der neben einem 
Prellftein Tag, feines Munitionsvorrats zu berauben. Es fblug 
eine Kugel in den Leichnam. 

„Verdammt,“ fbrie Gavroche, „bringt mir doch nicht meine 
Leihen um!’ 

Eine zweite fchlug neben ihn auf das Pflafter, daß die 
Sunfen fprübten. Eine dritte traf feinen Korb. Gavrobe blickte 
auf und fab, daß fie von den Mationalgarbiften auf den Dör- 
fern rings um Paris herrührte. Da begann er, fred und in 
aller Seelenruhe zu fingen: 


„Mon ift häßlich in Nanterre, 
Schuld dran ift nur Herr Voltaire, 
Blöd ift man in Palaifeau, 
Schuld daran ift nur Rouſſeau.“ 


639 


Jetzt nahm er feinen Korb wieder vor und fammelte die 
Kugeln, die herausgefallen waren. Ein vierter Schuß verfehlte 
ihn. Da fang Gavrode: 


„An Voltaire liegt's allein, 
Daß ic) Bauer muß fein, 
Rouſſeau bats gewollt, 
DaB Fein Mädel mir Hold.” 


Und fo ging es einige Zeit weiter. 

Die Szene war fhredlic und reizvoll zugleich. Gavroche, der 
befhoffen wurde, bien die Kugeln zu verfpotten. Es war, als 
ob ein Sperling die Jäger picfen wollte. Auf jeden Schuß ant- 
wortete er mit einem Couplet. Alle faben ihn, aber jeder ver- 
fehlte ihn. Während die Mationalgarbiften und Soldaten auf 
ihn zielten, mußten fie lachen. Bald warf er fi) zu Boden, dann 
wieder fprang er auf, verfhwand in einem Torbogen, fprang 
wieder hervor — und immer wieder fammelte er Patronen, 
leerte Taſchen und füllte feinen Korb. Atemlos vor Angft, 
folgten ihm die Revolutionäre mit ihren DBliden. 

Eine Kugel indeflen, beffer gezielt, traf endlich den ungen. 
Man fab Gavrode taumeln und fallen. Alle auf der Barrifade 
ſchrien auf. Aber fobald der Straßenjunge auf dem Pflafter lag, 
Ihien er neue Kraft zu gewinnen. Sofort richtete er fich wieder 
auf. Ein langer Faden Blut lief über fein Gefiht. Dann erhob 
er beide Arme, fab nad den Feinden, die auf ihn fhoffen, und 
fang ein lettes Mal: 


nBoltaire hat’s fo gewollt, 
Daß ich einft fallen follt, 
Rouſſeau wollt’ es fo wenden, 
Daß ih im Dred folt . . .” 


Er Éam nicht zu Ende. Eine zweite Kugel brachte ihn zum 
Verftummen. Diesmal fiel er mit dem Gefiht aufs Pflafter 
und rübrte fit nicht mehr. Die Éleine große Seele war erlofchen. 


640 


9. Mortuus pater fildumimorıeurum 


expeekät 


Marius war aus der Barrifade herausgeftürzt. Combeferre 
eilte ibm nach. Aber e8 war fhon zu fpät. Gavrodbe war tot. 
Combeferre bradte den Korb mit den Patronen ein, Marius 
den toten Knaben. 

„Ach, was der Bater meinem Dater getan bat, gebe ich dem 
Sohn zurück; nur bat Ihenardier meinen Vater lebend heraus- 
geholt, ich aber bringe nur einen Zoten ein.‘ 

Als er mit Gavroche über die Barrifade flieg, war fein Ge- 
fibt biutüberftrömt. Als er fi) über den toten Knaben gebeugt 
hatte, war eine Kugel fharf an feiner Stirn vorbeigeflogen. Er 
hatte kaum darauf geachtet. 

Courfeyrae nahm fein Halstuch ab und verband Marius” 
Stirn. 

Der tote Éleine Gavroche wurde auf denfelben Tifch gelegt, 
auf dem Mabeuf lag, und man breitete auch über ihn bas 
ſchwarze Tuch. Es reichte für den Greis und für bas Kind. 

Combeferre verteilte die erbeuteten Patronen. Jetzt Hatte 
jeder fünfzehn Schuß. 

Sean Valjean ſaß nod immer auf feinem Prellftein. Als 
Combeferre ihm die fünfzehn Kugeln bot, fchüttelte er den Kopf. 

„Ein feltener Narr!’ meinte Combeferre zu Enjolras, „ſetzt 
fi auf die Barrifade und legt die Hände in den Schoß.” 

„Das hindert ihn nicht, etwas für die Verteidigung zu tun’, 
meinte Œnjolras. 

„Auch der Heroismus hat feine Originale.’ 

„Dieſer bier ift eine Abart von Vater Mabeuf.“ 

Wir müffen an diefer Stelle bemerfen, daß das Feuer der 
Gegner die Barrifade Faum ftörte. In folhen Kämpfen gefhieht 
es wohl, daß wenigftens vorübergehend hinter der Sarrifade 
tieffter Friede zu berrfhen fcheint. Man geht auf und ab, plau- 
dert und fcherzt. 


41 Hugo, Die Elenden. 641 


10. Der Geier als Beute 


Plötzlich, zwifchen zwei Salven, hörte man aus der Ferne eine | 
Surmubr fohlagen. | 

„Mittag! rief Combeferre. 

Mod war der zwölfte Schlag nicht verhallt, als Enjolras 
auffuhr und mit Donnerftimme rief: 

‚ragt Pflafterfteine in das Haus! Befeftigt die Fenfter und 
Manfarden! Nur die Hälfte bleibt bei den Gewehren. Verliert 
feine Minute!‘ 

Ein Trupp Sappeure war, mit den Arten auf der Schulter, 
in Schlachtordnung angerüdt. 

Dffenbar bildeten fie die Spike einer Kolonne. Welder? 
Derer doch gewiß, die den Hauptangriff führen follte. Und ge- 
wiß war es ihre Aufgabe, die Darrifade für den Sturm reif 
zu maden. 

Der entfheidende Augenblick nabte. 

Enjolras’ Befehl wurde fo eilig ausgeführt, wie es nur auf 
Schiffen und Barrifaden, Kampfplägen alfo, von denen es fein 
Entrinnen gibt, möglich ift. In Faum einer Minute waren zwei 
Drittel von den Pflafterfteinen, die Enjolras an der Tür des 
„Corinthe“ hatte aufhäufen laffen, in den erften Stock hinauf- 
getragen worden. Geſchickt poftiert, bildeten fie bereits nad einer 
zweiten Minute Schuswälle, die zur halben Höhe die Fenfter 
und Lufen der Manfarde fiberten. 

Vest lies Enjolras aud die Flafhen, die unter Mabeufs 
Tiſch ftanden, in den erften Stock bringen. 

„Wer ſoll das trinken?’ fragte Boffuet. 

„Die dort”, erwiderte Enjolras und deutete auf die Feinde. 

Dann verbarrifabierte man die Senfter des Erdgefhoffes und 
hielt die Eifenftangen in Bereitfchaft, mit denen während des 
Nachts die Tür des Wirtshaufes verfichert wurde. 

est war die Feftung vollftändig. Die Barrikade ftellte den 
Mal, das Wirtshaus den Burgfried dar. 


642 





Mit den übriggebliebenen Pflafterfteinen wurde die Lüde in 
der Barrikade verfperrt. 

Die Langfamfeit, mit der der Angriff geführt wurde, hatte 
Enjolras inftand gefest, alle möglichen Vorkehrungen zu treffen. 
Er begriff, daß der Tod folcher Helden meifterhaft ins Werk 
gefeht werden mußte. 

„Wir find die Führer‘, fagte er zu Marius. „Ich gebe in das 
Haus und ordne alles brin, du bleibft heraußen und paßt auf.” 

Marius ftellte ſich alfo auf die Barrifade und beobachtete den 
Feind. Enjolras ließ die Küchentür vernageln. 

„Die Verwundeten follen nicht unter dem Kampf zu leiden 
haben“, fagte er. Dann gab er Furz und ruhig feine letzten Be— 
fehle. Seuilly antwortete im Namen der andern. 

„Haltet im erften Stock Axte bereit, um die Treppe einzu- 
fblagen. Sind welche da?’ 

„Ja“, erwiderte Feuilly. 

„Bie viele?’ 

„zwei Axte und eine Hacke.“ 

„Gut, wir find jest fehsundzwanzig Fampffähige Leute. Wie- 
viel Gewehre haben wir noch?’ 

„Vierunddreißig.“ 

„Alſo acht zuviel. Ladet auch ſie und haltet ſie in Reichweite. 
Steckt Säbel und Piſtolen in die Gürtel. Zwanzig Mann blei— 
ben auf der Barrikade, ſechs ſollen die Manſarden und Fenſter 
des erſten Stocks beſetzt halten. Keiner darf hier bleiben, der 
nichts zu fun bat. Auf den erſten Trommelſchlag eilen die 
zwanzig zur Barrikade. Wer zuerſt ankommt, hat den beſten 
Platz.“ 

Dann wandte er ſich zu Javert. 

„Ich vergeſſe dich nicht.“ 

Er legte ſeine Piſtole auf den Tiſch. 

„Wer als letter hier hinausgeht, ſchießt dem Spitzel eine 
Kugel in den Kopf.“ 

„Hier?“ fragte einer. 


41° | 643 


‚Dein, feine Leiche gehört nicht zu ben unferen. Man fol ıhn 
über die Eleine Sarrifade in die Mue Monbétour führen. Er ift 
febr gut gebunden. Dort fann man dann das Urteil vollſtrecken.“ 











Mur einer im Raum war ebenfo gleihmütig wie Enjolras: 
Javert ſelbſt. 

In dieſem Augenblick erſchien Jean Valjean. 

„Sie haben mir erſt Ihr Lob ausgeſprochen, Kommandant: 
denken Sie, daß ich einen Dank verdiene?“ 

„Gewiß. Verlangen Sie einen?“ 


644 











„Ich möchte diefen Menfhen niederfchießen.‘ 

Jetzt bob Javert den Kopf, ſah Sean Valjean an und fagte: 

„Natürlich! 

Enjolras lud inzwifchen wieder feinen Karabiner. 

„Hat keiner etwag einzuwenden?’ 

Und da niemand ein Wort fprab, fagte er zu jean Valjean: 

„Der Spibel gehört Ihnen.“ 

Sean Daljean nahm fein Opfer fofort in Befiß, indem er fi 
jelbft auf den Tiſch feßte. Er zog feine Piftole heraus. Ein 
Knacken verriet, daß er bereits den Hahn fpannte. 

Im felben Augenblif Elang von draußen Trompetenſchall 
herein. 

„Hierher!“ ſchrie Marius von der Parrifade herüber. 

Savert lachte fein lautlofes Lachen und rief den Inſur— 
genten nad: 

„Euch geht's auch nicht beffer als mir.‘ 

„Alle hinaus!’ ſchrie Enjolras. 

In wilder Haft ftürzten die Nevolutionäre auf die Barrikade. 

„Auf Wiederfehen!‘ rief ihnen Javert nad. 


11. Sean Valjean rächt [id 


Als Sean Daljean mit Vavert alleingeblieben war, band er 
den Gefangenen vom Tiſch los und bedeutete ihm, er folle 
aufftehen. 

Javert gehorchte mit jenem unbeftimmten Lächeln, in dem die 
gefeflelte Macht ihre Gefühle zum Ausdruck bringt. 

Sean Daljean führte ihn an feinem Halstuch, als ob er ein 
Tier am Zaum 3ôge, aus dem Zimmer hinaus. Javert, deffen 
Beine noch immer gebunden waren, Eonnte nur febr Eleine 
Schritte machen. 

Sie durchquerten den breiedigen Platz hinter der Barrikade. 
Die nfurgenten waren ganz mit dem drohenden Angriff be- 
Ihäftigt und blickten nicht zurück. 

Mur Marius fab die beiden vorübergeben. 


645 


Sean DBaljean lotfte den gefeflelten Vavert nicht ohne Mühe 
in die Rue Mondétour. Nachdem die beiden die Éleine Ver— 
Ihanzung überftiegen hatten, fanden fie fib allein. Jetzt Éonnte 
niemand fie feben. Einige Schritte abjeits lagen die hierher 
gebrachten Toten zuhauf. Ein bleihes Gefiht, ein Kopf mit 
aufgelüftem Haar und eine durchfchoffene Hand wurden fichtbar: 
eine halbnadfte, tote Frau. Eponine. 

Javert fab fie von der Seite an und fagfe ruhig: 

„Die Éenne ich, foviel mir ſcheint.“ 

Dann wandte er fih zu Sean Valjean. 

Diefer ftecfte feine Piftole unter den Arm und fab Javert 
Iharf an. 

„Javert, ich bin's.“ 

„Gut, nimm deine Rache.“ 

Valjean zog ſein Meſſer aus der Taſche und klappte es auf. 

„Du haſt recht, das ſteht dir beſſer an“, meinte Javert. 

Jetzt ſchnitt Valjean die Feſſeln durch, die Javerts Hände 
und Füße umſchloſſen, richtete ſich wieder auf und ſagte: 

„Sie ſind frei.“ 

Gewiß war Javert ein Mann, der ſich nicht leicht wunderte. 
Aber ſoſehr er auch ſeiner Herr war, er konnte eine Bewegung 
nicht unterdrücken. 

„Ich halte es für ſehr unwahrſcheinlich, daß ich von hier 
lebend wegkomme“, fuhr Jean Valjean fort. „Sollte es aber 
doch geſchehen, ſo mögen Sie wiſſen, daß ich unter dem Namen 
Fauchelevent in der Rue de l'Homme Arme Mo. 7 wohne. 

Vavert verzog, wütend wie ein Tiger, fein Gefiht und 
brummte zwifchen den Zähnen: 

„Hüte dich!“ 

„Geben Sie’, befahl Jean Valjean. 

nSaudelevent, fagft du? Mue de l'Homme Arme?’ 

to AR, 

„So. 7, wiederholte Javert leife. 

Dann Enöpfte er den Mod zu, zog die Schultern bob und 
entfernte fit in der Richtung nad) den Hallen. Jean Valjean 


646 





fab ibm na. Mad einigen Schritten wandte fi Javert um 
und rief: 

„Ich mag das nicht. Bringen Sie mid) lieber um.’ 

Er merkte felbft nicht, daß er Sean Valjean nicht mehr 
duzte. 

„Gehen Sie!“ rief Jean Valjean. 

Langſam entfernte ſich Javert. Etwas ſpäter war er um die 
Ecke der Rue des Precheurs gebogen. Als er verſchwunden war, 
ſchoß Valjean ſeine Piſtole in die Luft ab, kehrte zu der Barri— 
kade zurück und ſagte: 

„Erledigt.“ 


12. Die Helden 


Der Iodesfampf der Leute auf der Barrifade follte beginnen. 

Alles wirkte zufammen, um die tragifche Erhabenheit biefes 
Augenblicks zu fteigern. Der Schritt der herannahenden Sol- 
batenfharen in den Straßen, die man no nicht fab, das 
Zraben der Kavallerie, bas dumpfe Getöfe der anfahrenden 
Artillerie, Pulverdampf, der fi über die im Sonnenglanz 
Ihimmernden Dächer erhob. Aus weiter Ferne Gefchrei, die 
Sturmglode von Saint-Merry, die jeßt zu flöhnen und zu 
röcheln fhien — und dazu die Pradht und Lieblichfeit der 
Sahreszeit, bas ftrahlende Sonnenlicht und zugleich die unbeim- 
lihe Stille des Quartiers ringsum. 

Pöslich fblugen die Trommeln zum Angriff. 

Er war wie ein Orfan. Geftern abend waren die Feinde im 
Dunkel, wie eine Schlange, an die Barrikade herangefchlichen. 
Heute, im hellen Tageslicht, war eine Überrafhung unmöglich: 
alſo Éamen fie im wilden Anfturm. Eine mädtige Kolonne 
| Linieninfanterie, der Mationalgardiften und Munizipalgarpdiften 
zu Fuß folgten, geftüst auf eine nachflutende Menge, die man 
noch nicht feben Éonnte, brad im Sturmfhritt in die Straße 
ein, während die Irommeln wirbelten und die Ærompeten 
holten. An der Spitze liefen Sappeure. 


647 


Aber die Barrifade hielt ben Sturm aus. 

Die Verteidiger feuerten lebhaft. Eine Feuergarbe ſchoß von 
der Böſchung herab. Doch war der Andrang fo ftarf, daß die 
Barrikade im nächften Augenblick überrannt war. Indeſſen ſchüt— 


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telte fie die Soldaten ab wie ein Löwe die Hunde, fie wurde nur 
überflutet wie ein Felfen, über den die Gicht der MWogen bin- 
wegfpült, und der im nächften Augenblick wieder ſchwarz und 


ſchrecklich dafteht. 
Die Soldaten mußten fich zurückziehen. Aber die Straße war 


648 





verftopft. So blieben fie ungebedt und beantworteten die Schüffe 
der Verteidiger mit wütendem Gemebrfeuer. 

Auf beiden Seiten berrfhte diefelbe Entfchloffenheit. Die 
Zapferfeit nahm einen faft barbarifchen Charakter an und ver- 
band fid) mit jener beroifhen Wildheit, die vor dem Opfer des 
eigenen Lebens nicht zurücicheut. Die Nationalgardiften fchlugen 
fi) damals wie Zuaven. Die Soldaten wollten mit der Sache zu 
Ende kommen, die Revolutionäre waren Fampfbegieriger als je. 
Menſchen, die fih in ihrer Jugend bewußt dem Tode ausliefern, 
find in ihrer Unerfhrodenheit faft rafend. Alle fühlten die 
Größe ihrer Iodesftunde. Schon war die Straße mit Leichen 
bedeckt. 

An einer der Seiten der Barrikade ſtand Enjolras, an der 
anderen Marius. Enjolras, noch immer Führer mit jedem Nerv 
und jeder Fiber, wollte ſich für den letzten Augenblick aufſparen. 
Drei Soldaten fielen von ſeiner Hand, ohne ihn zu Geſicht zu 
bekommen. Aber Marius kämpfte offen. Er wollte ſich nicht ver— 
bergen. Mit dem ganzen Oberkörper überragte er die Böſchung 
der Barrikade. Es gibt keinen wilderen Verſchwender als den 
Geizhals, der die Faſſung verloren hat. Niemand iſt toller im 
Kampf als der Träumer. Marius ſchlug ſich mit höchſter Leiden— 
ſchaft. Jetzt lebte er in der Schlacht wie in einem Traum. 

Wohl waren die Angreifer in der Überzahl, aber die Revo— 
Iutionäre fonnten ihre beffere Stellung ausnüßen. Sie ftanden 
auf ihrer Verſchanzung und feuerten aus der Nähe auf die Sol- 
daten, die zwifchen Toten und Verwundeten umberirrten und bei 
jedem Schritt behindert waren. Die Barrikade war vorzüglich 
und nad allen Regeln der Kunft eingerichtet. Jetzt ftellte fie 
einen Schußwall dar, von dem aus wirflid eine Handvoll Leute 
eine Legion in Sad halten Fünnen. Doc drängten die An- 
greifer, die immer neuen Nachſchub erhielten, im Kugelregen 
unaufhaltfom näher. Allmählih, aber mit unabänderlicher 
Sicherheit übten fie auf die Barrifade einen Drud aus wie der 
Kelter auf die Traube. 

Sturm folgte auf Sturm. 


649 


Jetzt entfpann fid auf biefem Haufen Pflafterfteine, in diefer 
Rue de la Cbanvrerie ein Kampf, der jenes Kampfes auf den 
Mauern von Iroja würdig gemefen wäre. Diefe Männer, 
Kämpfer in Lumpen, erfhöpft, Leute, die feit vierundzwanzig 
Stunden bungerten, nidt gefchlafen hatten, Faum mehr über 
Munition verfügten, faft alle verwundet, wurden zu Titanen. 
Zehnmal wurde die Barrifade von den Wogen der Feinde über- 
flutet, niemals blieb fie in ihren Händen. 

Es war ein Kampf von Mann zu Mann, ein Kampf mit 
Säbeln, Fäuften, aus Fenftern und von Dächern herab. Einer 
ftand gegen fechzig. Die verwüftete Faflade des „Corinthe“ bot 
einen fhauerlihen Anblif. Die Fenfter, von Rugeliprisen be- 
fhoffen, hatten längft ihre Scheiben und Nahmen verloren und 
faben wie Löcher aus, die man mit Pflafterfteinen verftopft 
hatte. Boffuet fiel, Feuilly, Courfeurac und Joly. Combeferre 
wurde von drei Bajonetten gleichzeitig durchbohrt, als er einen 
Verwundeten aufheben wollte; er hatte nod Zeit zum Himmel 
aufzublicken, dann war er fof. 

Marius Éamypfte noh immer. Er war mit Wunden bededt, 
und fein Gefiht war fo blutüberftrömt, daß man hätte meinen 
fônnen, es fei ein rotes Tuch darüber gebreitet. 

Mur Enjolras blieb unverlest. Wenn er feine Waffe mehr 
hatte, focht er mit dem Stumpf eines Degens in der Hand 
weiter. Dier Degen hatte er zerfchlagen — einen mehr als 
Sranz I. in Marignan. 


13. Shrittfür Shritt 


Als von den Führern nur mehr Enjolras und Marius lebten, 
die an beiden Enden der Barrifade ftanden, brad das Zentrum 
gufammen. Den Kanonen war es nicht gelungen, eine Breſche 
zu fehlagen, aber fie hatten den oberen Nand zerftört und die 
Trümmer, die bald nad außen, bald nat innen fielen, bildeten 
zwei Böſchungen. Sekt war es den Angreifern leichter, Die 
Schanze zu überfteigen. 


650 





Ein lebter Sturm wurde verfucht und gelang. Wieder dran- 
gen die Angreifer mit gefälltem Vajonett im Lauffchritt vor, 
und bald tauchte im Pulverdampf die erfte Neihe auf der Höhe 
der Schanze auf. Die nfurgenten, die das Zentrum befeñt 
hielten, zogen fich ſchrittweiſe zurück. 

Jetzt erwachte in einigen der Lebenswille. Als fie ſich diefem 
Mald von Bajonetten gegenüberfahen, vergaßen mande ihren 
Entfehluß, zu fterben. Das war jener Eritifche Augenblick, in 
dem der Selbfterhaltungstrieb aufheult und die Beftie im Men- 
fhen erwacht. Die Kämpfer wurden an die Wand des fechs 
Stock hohen Wohnhaufes im Hintergrunde gedrängt — und 
biefes Haus Fonnte ihnen die Rettung bringen. Es war voll- 
fommen vermauert und verbarrifadiert. Aber bevor die Sol- 
daten das innere des gefhüsten Platzes überqueren Eonnten, 
blieb vielleicht Zeit, eine Tür aufzubrehen und wieder zu ver- 
fhliefen. Das allein Fonnte für die Derzweifelten dag Leben 
bedeuten. Hinter jenem Haufe lagen Straßen — freier Raum, 
die Nettung. Wie rafend begannen fie gegen die Tir zu Schlagen, 
zu freien, zu jammern und die Hände zu ringen. Aber niemand 
öffnete. 

Sept eilten Enjolras und Marius herbei, um ihre Freunde 
zu ſchützen. 

Enjolras hatte den Soldaten „Zurück!“ zugerufen und einen 
Offisier, der nicht auf ihn gehört hatte, niedergefhoffen. est 
ftand er vor der Tür zu dem „Corinthe“ und verteidigte, in 
einer Hand einen Degen, in der andern den Karabiner, die Zu- 
rüdeilenden gegen die Angreifer. Den Derzweifelten rief er zu: 

„Es gibt nur eine Türe, die euch offen ift, diefe hier!’ 

Ein furzer, wilder Kampf folgte. Die Soldaten wollten 
nadhdrängen, während die Snfurgenten fi bemühten, das Tor 
zu verrammeln. Endlih wurde die Zür fo lebhaft zugefchlagen, 
daß ein Soldat, defien Hand eingeflemmt wurde, fünf Finger 
verlor. 

Marius war draußen geblieben. Eine Kugel hatte fein 
Schlüffelbein zerfehmettert. Er fühlte nod, wie ihm die 


651 


Befinnung ſchwand — dann fiel er. Er hatte die Augen fon 
geſchloſſen, als er fpürte, wie eine Fräftige Hand ihn wieder hoch— 
riß. Doc blieb ihm nur noch die Zeit, an Eofette zu denfen und 
zu begreifen, daß er nun gefangen und füfiliert werden würde. 









































































































































































































































Als Enjolras fab, daB Marius nicht unter den Leuten war, 
die fi in bas Wirtshaus gerettet hatten, glaubte auch er feinen 
Freund gefangen und verloren. Aber in folhen Augenbliden 
bleibt jedem nur die Zeit, an feinen eigenen Tod zu denfen. Er 
verriegelte die Tür und fhob die Querftange vor, während 


652 


Soldaten und Sappeure von draußen mit Arten und Gewehr- 
Eolben an fie fehlugen. Jetzt waren alle Angreifer um diefe Tür 
verfammelt. Die Belagerung des Wirtshaufes begann. 

Mir müflen feftftellen, daß die Soldaten wütend waren. Der 
Tod des Artilleriefergeanten hatte fie erbittert. Überdies war, 
traurig genug, unter ihnen vor Beginn des Sturmes dag Ge- 
rücht verbreitet worden, die Inſurgenten hätten Gefangene ver- 
ftümmelt. Es hieß fogar, in dem Wirtshaus liege die Leiche 
eines Soldaten ohne Kopf. Sole gefährlihe Ausftreuungen 
find üblich) im Bürgerkrieg. 

Nachdem die Türe verbarrifadiert war, fagte Enjolras zu den 
andern: 

„Jetzt wollen wir unfer Leben fo teuer wie möglich ver- 
kaufen.“ 

Wir wollen nur einen kurzen Bericht geben. Die Barrikade 
war verteidigt worden wie einft die Zore von Theben. Nun 
fampfte man um das Wirtshaus wie einft um die Häufer von 
Saragoſſa. Der Widerftand war erbittert. Jetzt Eonnte nicht 
mehr parlamentiert werden. Man wollte fterben, aber aud 
töten. Es hieß: nach dem Kampf der Kanonen der aufs Mefler. 
Auch in diefem Kampf fehlte e8 nicht an Pflafterfteinen, die aus 
den Senftern gefchleudert wurden und den Soldaten furdtbare 
Wunden zufügten, nicht an tüdifhen Schüffen aus Manfarden 
und Gucklöchern, niht an fürbterliher Mebelei, als endlich dag 
Zor erbroden war. Die Delagerer drangen in dem Wirtshaus 
vor, fanden aber zunächft Écinen Verteidiger. Die Treppe war 
von den nfurgenten mit Arten abgebrochen worden. Einige 
Verwundete lagen umber und rangen mit dem Tode. Die 
übrigen hatten fich in den erften Stock zurückgezogen und fhoffen 
durch Löcher, die fie in die Dede gebrochen hatten, auf die An- 
greifer herab. Das waren die Iekten Kugeln. 

As fie verfhoffen waren, als es an Pulver und Patronen 
fehlte, nahm jeder zwei von den Flafchen, die Œnjolras zurüd- 
geftellt hatte, und bedrohte die Angreifer mit diefen fürchterlichen 
Reulen. Denn diefe Flaſchen enthielten Scheidewafler. Es war 


653 


ein furchtbares Getöfe. Obwohl die Angreifer, die aus dem Erd- | 
geihoß in den erften Stock hinauffhießen mußten, febr be- | 
hindert waren, wirkte ihr Feuer mörderifh. Bald waren am | 
Rande des Zugangs über der Treppe Köpfe von Toten zu fehen, | 
aus denen rauchendes Dlut herabftrömte. Die Sprache befist | 
feine Worte, um das Entfeßen zu fhildern, das in diefem Raum | 
berrfchte. Hier Fämpften nicht mehr Menfhen gegen Menfchen, | 
hier Eämpften Teufel gegen Gefpenfter. Das Heldentum ent: | 
artete zum Greuel. 


14. Einnüdhterner Dreftes 
und ein betrunfener Pylades 


Endlich drangen etwa zwanzig von den Angreifern, Soldaten, 
Mationalgardiften und Munizipalgardiften, bunt durdeinander- 
gemischt, alle bluttriefend und rafend vor Wut, in den erften 
Stof ein; an den Trümmern der Wendeltreppe waren fie bin- 
aufgeElettert. 

Sie fanden nur noch einen einzigen Mann vor, der aufrecht 
ftand: Enjolras. Er befaß Feine Kugeln mehr und feinen Degen. 
Mur den Lauf einer Flinte, deren Kolben er an dem Schädel 
eines Angreifers zerfehmettert hatte, hielt er in Händen. Er 
hatte den Billardtifch zwifchen fih und die Angreifer gebradt. 
Jetzt ftand er in der Ede des Saales, ftolz, mit erhobenem 
Haupte, den Stumpf der Waffe in Händen, nod immer jo 
drobend, daß die Angreifer den Abftand von ihm wahrten. 

„Das ift der Führer!’ wurde gerufen. „Er ift e8, der den 
Artilleriften erfchoffen bat. Er ftebt da ganz gut, wir können 
ihn gleich hier füſilieren.“ 

„Los!“ befahl Enjolras. 

Der Mut im Angeficht des Iodes läßt feinen Menfhen Falt. 
Auch jest, als Enjolras mit gefreuzten Armen vor feinen Fein 
den ftand, verbreitete fi) tödliche Stille. Es war ein feierlicher 
Augenblif. Enjolras fhien mit majeftätifcher Gefte feine Feinde 
zu zwingen, ihn zu töten — aber ehrfürdtig. 


654 





Zwölf Mann traten in der entgegengefeßten Ecke des Saales 
zufammen und legten fehweigend an. 

Ein Offizier trat vor. 

„Wartet!“ befahl er. Und zu Enjolrag gewendet: 

„Sollen wir Ihnen die Augen verbinden?’ 

„Nein.“ 

Und jetzt war Grantaire erwacht. 

Wie der Leſer ſich erinnert, ſchlief er ſeit geſtern abend im 
Oberſtock des Wirtshauſes auf ſeinem Stuhl, die ſcheußliche 
Miſchung aus Abſinth, Stout und Branntwein hatte ihn in 
Betäubung gehalten. Er war buchſtäblich betrunken bis zur 
Fühlloſigkeit. Man hatte ihm den Tiſch, auf den er ſich ſtützte, 
gelaſſen, da er zu klein war, um auf der Barrikade nützlich zu 
ſein. So war der Schläfer in derſelben Stellung verblieben, 
die Bruſt auf den Tiſch gelehnt, den Kopf auf die Arme ge— 
ſtützt, umringt von Gläſern und Flaſchen. Nichts hatte ihn 
wecken können, weder das Gewehrfeuer, noch die Kugeln, die in 
den Oberſtock eingedrungen waren, noch das Getöſe des Sturms. 
Wenn ein Kanonenſchuß fiel, hatte er zuweilen laut aufge— 
ſchnarcht. Es war, als ob er darauf warte, daß eine Kugel ihm 
den Kummer des Erwachens erſpare. Rings um ihn lagen Tote. 
Als er erwachte, fiel ſein erſter Blick auf dieſe Schläfer, die 
kaum lebloſer waren als er ſelbſt. 

Getöſe weckt einen Betrunkenen nicht, aber plötzliche Stille 
vermag dieſe Wirkung zu erzielen. Der Lärm hatte ihn ein— 
gewiegt, aber das plötzliche Schweigen ſcheuchte ihn auf. Gran— 
taire erhob ſich, ſtreckte die Arme aus, rieb ſich die Augen, 
gähnte — und begriff. 

Das Ende eines Rauſches iſt wie ein zerreißender Vorhang. 
Mit einem einzigen Blick überſchaut man alles, was er bisher 
verwahrt hat. Plötzlich iſt das Gedächtnis wach. Der Betrunkene 
weiß nicht, was in den letzten vierundzwanzig Stunden ge— 
ſchehen iſt, aber er begreift ſofort. Jäh erwacht ſein Denken. 
Die Wirklichkeit bemächtigt ſich ſeiner. 

Die Soldaten, ganz von Enjolras in Anſpruch genommen, 


655 


hatten Grantaire nicht beachtet. Als aber der Sergeant jeßt 


„Legt an!‘ befahl, hörten alle eine ftarfe Stimme rufen: 
„Es lebe die Republik!“ 
Grantaire war vorgetreten. 











Jetzt Flammte in feinen Augen die Begeifterung des Kampfes, 
den er verfäumt hatte. 

Noch einmal rief er: 

„Es lebe die Republik!” 

Dann trat er mit fiherem Schritt neben Enjolras. 


656 


„Erledigt uns beide mit einem Schuß. Du erlaubft es doch, 
Enjolras?“ 

Lächelnd reichte dieſer ihm die Hand. 

Noch hatte Grantaire die Hand nicht zurückgezogen, noch war 
das Lächeln von Enjolras' Zügen nicht gewichen, als der 
Schuß fiel. 


15. Der Gefangene 


Marius war in der Tat gefangen. Er war Jean Valjeans 
Gefangener. 

Der Greis hatte an dem Kampf nur teilgenommen, indem er 
ſich allen Gefahren ausſetzte. Er war es, der auch noch im 
letzten Stadium des Kampfes für die Verwundeten ſorgte. 
Nur ihm war es zu danken, daß die Verwundeten aufgehoben, 
verbunden und in das Gaſtzimmer getragen wurden. Wenn ihm 
ein Augenblick Zeit blieb, arbeitete er an der Barrikade. Er 
ſchoß nie, auch nicht in Selbſtverteidigung. Übrigens war er 
faum verwundet worden. Die Kugeln fchienen ibn zu feheuen. 
Wenn er in diefem Kampf den Tod gefuht hatte, fo war er 
nicht zum Ziel gefommen. Aber wir glauben nicht, daß er wirf- 
lih den Selbftmord beabfichtigte, den feine Religion verbot. 

Sm Gemwirr des Kampfes fchien es zumeilen, als ob er nicht 
weiter auf Marius achte. Doc ließ er ihn nie aus den Augen. 
Und als Marius endlich fiel, ftürzte Valjean mit der Gewandt- 
heit eines Tigers herbei und fchleppte ihn fort. 

Die Wut des Angriffs richtete fih in diefem Augenblick auf 
Enjolras und den Zugang zu dem Wirtshaus. Niemand achtete 
auf Sean Baljean, der Marius in feinen Armen bielt, den 
Ohnmächtigen über die Brüftung der Barrikade fehleppte und 
mit ibm um die Ecke bog. 

est blieb Sean Valjean fteben. Er legte Marius nieder und 
blidte um fic. 

Die Situation war fürdterlich. 


42 Hugo, Die Elenden. | 657 


Für den Augenblid, für einige Minuten vielleicht, wurde er 
von niemandem beachtet; wie aber follte er dann dem Gemeel 
entgehen? 

Mur ein Vogel Fonnte ſich aus folher Gefahr retten. 








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Er mußte unverzüglich einen Ausweg finden, einen Entfhluß 
faffen. Einige Schritte von ihm entfernt, tobte der wildefte 
Kampf. Glücklicherweiſe Fonzentrierte fih die Erbitterung des 
Kampfes auf einen einzigen Punft — die Tür des Wirts— 
baufes. Kam aber aud nur ein einziger Soldat auf ben 


658 








Gedanken, ein paar Schritte weiter zu laufen und um die Ede 
des Haufes zu biegen, fo war alles vorbei. 

Sean Valjean betrachtete bas Haus, das vor ihm ftand, die 
Barrifade und den Boden. Es war, als ob er mit feinen Augen 
ein Soc in die Erde bohren wollte. 

Plötzlich bemerkte er, einige Schritte entfernt, unter einer 
Anhäufung von Pflafterfteinen ein Eifengitter, dag auf gleicher 
Höhe mit dem Erdboden lag und aus ftarfen Stangen beftand. 
Die Einfaffung war beim Aufreißen des Pflafters zerftört wor- 
den, fo daß es Iofe dalag. Durd bas Gitter Fonnte man durd 
ein dunkles Loch binabfeben wie in eine Zifterne. 

Jean Daljean trat näher. Seine alte Erfahrung im Ent- 
fpringen aus Gefängniffen bewirkte, daß blishaft ein Gedanfe 
in ihm erwachte. Die behinderlichen Pflafterfteine beifeiteftoßen, 
bas Gitter emporheben, den ohnmädtigen Marius auf feine 
Schultern laden, in den tiefen Schacht binabfpringen — alles 
dag war die Sache weniger Sekunden. Im nächſten Augenblic 
hatte er das Eifengitter wieder über feinen Kopf berabfallen 
faffen. 

Sean Valjean ftand mit Marius in einem langen, unter- 
irdifhen Korridor. Hier war Friede, Schweigen und Mat. 

Wieder hatte er jene Empfindung, die er ausgefoftet hatte, 
als er damals von der Straße in das Klofter fprang. Mur trug 
er heute nicht Cofette, fondern Marius. 

Mie aus unendliher Ferne, einem leifen Murmeln gleich, 
hörte er aus dem Wirtshaus, dag eben erftürmt wurde, den 
Lärm des Kampfes herüber. 


ZweitesBuch 
Im Keich des Kotes 


1. Die Kloake 


Jean Valjean befand fi in den Kloaken von Paris. 
Der Übergang war unerbôrt. Eben no inmitten der Stadt, 
war er plößlid, in einem Augenblid, in der Zeit, die man 


= 659 


benötigt, ein Gitter zu heben und wieder zufallen zu laffen, aus 
hellſtem Tageslicht in tieffte Sinfternis hinabgetaucht, aus furdht- 
barem Getöfe in lautlofe Stille, aus entfesliher Gefahr in voll- 
fommene Sicherheit. 

Der Verwundete bewegte fi immer noch nicht. Sean Val 
jean wußte nicht, ob er einen Lebenden oder einen Toten in die 
Grube getragen hatte. 

Das erfte Gefühl, das ſich feiner bemädhtigte, war bas der 
vollftändigen Blindheit. Plöslih fab er nichts mehr. Und zu- 
gleich Ichien es ihm, er fei taub geworden. Nichts fühlte er, als 
daß er feften Boden unter den Füßen hatte — das war alles, 
aber für den Augenblic genügte es. 

Er firedte erft den linken, dann den rechten Arm aus, be- 
faftete zu beiden Seiten dag Gemäuer und erfannte, daß er fic 
in einem engen Gang befand. Da er leicht ausglitt, erriet er, 
daß der Boden feucht war. Borfibtig feßte er einen Fuß vor, 
denn er befürchtete ein Loch, eine Senfgrube. Aber die Pflafte- 
rung jeßte nicht aus. Ein widerlicher Kotgeruch ließ ihn erraten, 
wo er fi befand. 

Einige Augenblicke fpäter war er fhon nicht mehr blind. 
Schwaches Licht fiel dur die Öffnung, die auch ihn eingelaffen 
hatte, herab; fein Auge hatte fih an die Finfternis gewöhnt. 
Er begann Einzelheiten zu unterfheiden. Der Gang, in den er 
geraten war, war hinter ibm vermauert. Eine Art Sackgaſſe. 
Vor fit fab er eine andere Mauer — die Mauer der Dunfel- 
heit. Das fpärliche Licht reichte nur zehn oder zwölf Schritte 
weit. Dann Fam dichtefte Finfternis. Hier vorzudringen, fchien 
furchtbar. Es war, als ob man in einen Abgrund hinabfpringt. 
Und bod mußte Sean Valjean weitergehen, mußte ſich fogar 
beeilen. Das Gitter, das er bemerkt hatte, Fonnte aud von den 
Soldaten beachtet werden. Vielleicht fliegen einige burd den 
Schacht herab und durchſuchten ibn. Keine Minute war zu ver- 
lieren. Er hatte Marius auf den Boden gelegt. fett bob er ibn 
auf, lud ibn auf feine Schultern und begann zu gehen. Ent- 
ſchloſſen marfchierte er in die Dunkelheit hinein. 


660 





In Wirklichkeit ftand es um Sean Valjeans Mettung nicht 
fo gut wie er glaubte. Andere, nicht geringere Gefahren erwarte- 
ten ibn. Mad der Wut des Kampfes war er jest in eine Höhle 
vol Miasmen geraten. Nach dem Chaos die Kloafe. Sean Val- 
jean war aus einem Höllenfreis in den anderen gefommen. 


Schon nad fünfzig Schritten mußte er haltmachen. Eine 
Frage drängte fih ihm auf; der Gang mündete hier in einen an- 
deren, der ihn ſenkrecht fchnitt. Mad welcher Seite, nach linke 
oder nad) rechts, follte er weitergeben? Wie fich in diefem Laby- 
rinth der Sinfternis orientieren? 

Aber diefes Labyrinth bat feinen Ariadnefaden: das Gefälle. 
Folgte er dem Gefälle, fo mußte er an bas Ufer der Seine ge- 
langen. 

Sean Valjean begriff fofort. 

Dffenbar befand er fi) gerade in den Kanälen unter der 
Markthalle. Er bog alfo nad) linfs ab und dachte, er müffe bin- 
nen einer DBiertelftunde zu einer der Mindungen zwifchen dem 
Pont-au-Change und dem Pont-Meuf gelangen. Plößlich würde 
er in einer der belebieften Gegenden von Paris aus dem Erd- 
boden auffteigen. Die Paflanten würden nicht wenig erftaunt 
fein, zu ihren Füßen zwei blutbefledte Menfhen auftauchen zu 
feben. Es fonnte nur einige Sefunden dauern, dann würden die 
Poliziften und Wachleute herbeieilen. Man war verloren, bevor 
man ganz aus der Grube aufgeftiegen war. 

Da war es noch beffer, tiefer in dag Labyrinth einzudringen 
und e8 der Vorfebung zu überlaffen, wo man wieder einen Aus— 
gang fände. 

Jetzt ging er gegen bas Gefälle. 

Schon nahdem er die nächſte Ecke umgangen hatte, befand 
er fi in vollfommener Sinfternis. Trotzdem ging er weiter und 
beeilte fi, fo gut es ging. Die beiden Arme Marius’ hatte er 
um feinen Hals gelegt. Die blutig-Flebrige Wange des Ver- 
wundeten berührte die feine. Er fühlte, wie ein lauer Strom 
an ibm binabriefelte und feine Kleider durchdrang. Doc bewies 


661 


die feuchte Wärme, die von dem Munde des Derwundeten aus- | 


ftrömte, daß er no lebte. 


Der Gang, in den Jean Valjean eingedrungen war, fhien | 


breiter als der vorige. Mur mit großer Mühe konnte Sean Dal- 


jean vorwärts fommen. Das Negenwafler von geftern war no | 
nicht abgefloffen und bildete in der Mitte einen Bach, fo daB 
Valjean fih an die Wand preffen mußte, wenn er nicht im | 


Waſſer waten wollte. 
Es war nicht leicht, fich hier zu orientieren. 


Sean Daljean begann mit einem Irrtum. Er glaubte, fit | 


unter der Rue Saint-Denis zu befinden. Dort liegt eine alte 
Steinfloafe, die Ludwig XIII. erbauen ließ und die gerades- 


wege zu dem Sammelkanal führt. Sie bat nur auf der Höhe 


des alten Wunderhofg, von rechts her, einen Zugang, die Kloafe 
Saint-Martin. Die Galerie der Petite-Truanderie, deren Ein- 
gang gleich neben dem „Corinthe“ Iag, hatte Feine Verbindung 
mit der Kloafe von Saint-Denis, fondern führte nad dem 
Montmartre. In diefer Richtung ging jetzt Sean Daljean. 

Er marfhierte ängftlich beforgt, aber zugleidy ruhig, vollends 
dem Zufall oder der Vorfebung anheimgegeben, weiter. 

Und doch bemädhtigte fich feiner allmählich bas Grauen. Die 
Dunfelbeit, die ihn rings umgab, drang in feine Seele ein. Er 
durchquerte einen Bezirk der Rätſel. Schauerlich ift es, mitten 
in Paris am hellihten Tag durd die Finfternis zu irren. jean 
Valjean mußte feinen Weg finden, ohne ihn zu feben. In diefem 
unbekannten Gebiet fonnte jeder Schritt der lebte fein. Würde 
er einen Ausgang finden? Und wenn ja, würde es beizeiten ge- 
fheben? Drang er nicht immer tiefer in ein Labyrinth ein, aus 
dem er fi nie herausfinden Éonnte? Sollte Marius dem Blut— 
verluft, er aber dem Hunger erliegen? Würden an diefer Stätte 
des Abſcheus nur zwei Skelette, in einem Winkel gefauert, 
übrigbleiben? 

Plötzlich geſchah etwas Seltſames. Obwohl er ſich immer in 
der gleichen Richtung weiterbewegt hatte, mußte er bemerken, 
daß er jetzt nicht mehr ſtieg. Jetzt kam das Waſſer von hinten, 


662 








niht mehr von vorn. Er ging abwärts. Was bedeutete bas? 
Näherte er fi wieder der Seine? Das bedeutete Gefahr, aber 
zurücdzugehen, fbien noch unmöglicher. 

Er marfhierte weiter. 

Aber es war nicht die Seine, der er fich näherte. Der Erd- 
boden des Teils von Paris, der am rechten Ufer liegt, ergießt 
feine Gewäffer nur zur Hälfte in die Seine, zur anderen aber in 
eine große Kloafe. Der Kamm diefer Waſſerſcheide bildet eine 
recht unregelmäßige Linie. Auf feiner Höhe, in der Klonfe des 
Louvre, befand ſich jeßt Sean Valjean. Er wandte fi) nad) der 
Gürtelfloafe und befand fi, ohne es felbft zu wiffen, auf dem 
rechten Weg. 

Bald bemerfte er auch, daß er nicht mehr in dem von der Re— 
bellion betroffenen Stadtviertel war: dort hatten die Barri- 
Faden den Derfehr gebroffelt. est befand er fi) unter dem 
lebendigen, alltäglichen Paris. Über feinem Kopf hörte er, wie 
aus weiter Ferne, das Rollen der Wagen. 

So wanderte er wohl ſchon feit einer halben Stunde, foweit 
er felbft die Zeit beftimmen Eonnte, ohne an Ruhe zu denfen. 
Mur hatte er Marius auf die andere Schulter gelegt. Die Fin- 
fternis war tiefer als je, aber gerade fie berubigte ihn jet. 

Mad einer kurzen Strede ftieß er auf einen Mebenfanal, der 
offenbar von der Madeleine herüberfam. Hier machte er halt, 
denn er war todmüde. Ein ziemlich geräumiges Luftloch läßt hier 
von der Aue d'Anjou Licht herein. Sean Valjean legte fanft, 
wie ein Bruder, Marius auf eine Steinbanf. Das blutige Ge- 
fiht des Jünglings glich im weißen Licht dem eines Toten. Er 
hatte die Augen gefchloflen, die Haare Flebten an den Schläfen 
und glichen denen eines vertrodneten, in rote Farbe getauchten 
Pinfels; die Hände hingen ſchwer und fehlaff herab. In den 
Mundwinfeln hatte er geronnenes Blut. Aud der Knoten des 
Halstuchs war blutverflebt. Das Hemd fheuerte die Wunden, 
der rauhe Stoff des Modes rieb das bloße Fleifh. Vorſichtig 
löfte Sean Valjean die Kleidung von der Haut ab und legte 
feine Hand auf Marius’ Bruft. Das Herz fhlug noch. Sean 


663 


Baljean zerriß fein Hemd, verband die Wunden fo gut er 
fonnte und ftillte das Blut. Dann neigte er fih im Halbdunfel 
über den no immer bewußtlofen Marius und betrachtete ibn 
mit unausfprehlihem Haß. 





Während er die Kleider Marius” durchſucht hatte, waren ihm 
zwei wichtige Dinge in die Hände gefommen: bas Brot, bas 
bier feit geftern vergeflen worden war, und Marius’ Porte- 
feuille. Er af bas Brot und warf einen Bli in dag Porte- 
feuille. Auf der erften Seite fand er Marius’ Motiz, deren fich 


664 


der Lefer wohl erinnert, und aus der hervorging, daß er Marius 
Pontmerey hieß und wünſche, fein Leichnam möge zu feinem 
Großvater, Herren Gillenormand, in die Rue des Filles-du-Eal- 
vaire gebracht werden. 

Sean Valjean las das Blatt, blieb einen Augenbli lang 
nachdenklich ftehen, und wiederholte leife: Gillenormand, Rue 
des Filles-du-Calvaire Mo. 6. Dann ſchob er bas Portefeuille 
in Marius’ Taſche. Er Hatte gegeffen und fühlte ſich geftärft. 
Alſo Ind er Marius wieder auf feinen Rücken, ftüßte den Kopf 
des Ohnmächtigen auf feine rechte Schulter und begann in der 
Kloafe weiter vorzudringen. 

Diefe Sammelkloake, die vom Talweg von Ménilmontant 
folgt, ift faft zwei Meilen lang. Beinahe in feiner ganzen Länge 
ift er gepflaftert. 

Pöslic aber geriet Sean Valjean in fürchterliche Gefahr. 


2. Beim Sande mie beiden Frauen: 
je feiner um fo perfider 


Er fühlte, daB er in Wafler trat. Jetzt hatte er nicht mehr 
Pflafter, fondern Schlamm unter den Füßen. 

In gewiffen Küftenftrichen der Bretagne und Schottlands ge- 
fhiebt es zumeilen, daß ein Mann, etwa ein Weifender oder 
Fiſcher, zur Zeit der Ebbe im falfhen Uferfand dahingeht. 
Möglich bemerkt er, daß er fon feit einigen Minuten nur mit 
einiger Mühe vorwärts fommt. Der Boden unter feinen Füßen 
ift wie Pech. Die Sohlen Éleben. Er geht jest nicht mehr auf 
Sand, fondern auf fumpfgetränftem Erdreich. 

Dabei ift der Sand vollfommen troden. Drebt fi der Wan— 
derer aber um, fo fieht er, daß feine Fußftapfen fih mit Waſſer 
füllen. Anfonften ift nichts zu bemerfen. Das Uferland Tiegt 
weiter in tiefer Stille da. Fröhlibe Meerflöhe tummeln fic 
ringsum. Der Mann folgt feinem Wege, fehreitet dem Lande 
zu, ſucht die Küfte zu erreichen. Er ift nicht beunruhigt. Was 
follte ibn auch erſchrecken? Wohl fühlt er, daB feine Füße 


665 


gewiffermaßen fchwerer werden. Plötzlich finft er ein: zwei, drei 
Boû tief. Er ift offenbar doch nicht auf dem rechten Wege. Alfo 
bleibt er fteben, um fit zu orientieren. Plötzlich blieft er zu 
Boden und fut feine Füße. Sie find verfhwunden. Der Sand 
bedeckt fie. Er befreit fie, will einige Schritte zurücfgehen, ver- 
finft nur noch tiefer. est geht ihm der Sand bis zu den Knö— 
eln, fteigt an den Waden bob. Der Unglüdliche reißt ſich nad) 
rechts, nach links — jekt erreicht der Sand die Rnicfeblen. Mit 
Grauen erfennt der Wanderer, daß er fih auf einer wandernden 
Düne befindet, daß er feftgelaufen ift auf einem Terrain, wo 
der Menſch nicht geben, der Fifch nicht fbmimmen Éann. Wenn 
er eine Laft bei fich trägt, wirft er fie von fih wie ein Schiff, 
das in Seenot ift. Aber ach, es ift zu fpät, fon hat der Sand 
die Knie erreicht. 

Sept ruft er, ſchwenkt feinen Hut oder fein Taſchentuch. 
Immer höher fteigt der Sand. Sind feine Helfer in der Nähe, 
ift die Küfte weit entfernt, die Sandbanf bei den Ortsfundigen 
verrufen, fo ift der Unglücfliche verurteilt, zu erftiden, langfam, 
unendlich langſam begraben zu werden. Er fann feinen Tod 
weder befchleunigen noch verzögern. Oft dauert es ftundenlang. 
Sm Vollbeſitz feiner Gefundheit, im ftrogenden Leben, padt 
es ihn, zieht ihn an den Füßen hinab, immer tiefer, Fräftiger 
nur, wenn der Derzweifelte fi zu wehren ſucht. Jeder Wider- 
ftand wird beftraft. Langfam verfinft der Verlorene, darf noch 
einmal den Horizont fehen, die Bäume, die grünen Felder, viel- 
leicht den Maud aus den Scornfteinen eines Ortes in der 
Nähe, die Segel der Schiffe auf dem Meere, die fingenden 
Vögel. Ihm wird der Sand zu einem Grab, das aus der Erde 
dem Lebenden entgegenfteigt. Jede Minute wirft weiter an die- 
fem fürdterlichen Begräbnis. est will der Unfelige fid jeken, 
fi legen, Eriechen, aber jede Bewegung gräbt ihn tiefer ein. Er 
beult, jammert, fchreit den Wolfen zu, ringt die Hände. Immer 
höher fteigt der Sand, erreiht Schulter und Hals. Nun ift nur 
mehr bas Gefibt zu feben. Mob fehreit der Mund, aber bald 
dringt der Sand ein, das Opfer ſchweigt. Die Augen find noch 


666 





geöffnet — der Sand verfblieft fie. Stirn und Haare ver- 
fhwinden. Eine Hand taudt noch einmal auf, zuckt und ver- 
ſchwindet. 

Zuweilen verſinkt der Reiter mit dem Pferd, der Fuhrmann 
mit dem Wagen. Es iſt wie ein Schiffbruch auf trockenem 
Land. Es iſt, als ob ein verräteriſcher Schlund ſich unter uns 
öffne. 

Unfälle dieſer Art, die an den Meeresküſten immer noch mög— 
lich ſind, mochten vor dreißig Jahren auch in den Pariſer Kloa— 
ken geſchehen. Vor der Ausführung der neuen Kanaliſierung 
von 1833 war das unterirdiſche Paris plötzlichen Senkungen des 
Bodens unterworfen. An Stellen, wo das Erdreich undicht war, 
drang Waſſer ein und veranlaßte, daß das Bett, damals noch 
nicht aus Beton gebaut, ſich ſenkte. Der aufgeweichte Boden 
war wie flüſſiges Metall. Alle Moleküle ſchienen zu ſchweben. 
Bald iſt in der Miſchung von Erde und Waſſer das flüſſige 
Element im Übergewicht. Wer den Sand betritt, verſinkt und 
muß erſticken. 


3. Das Loch 


Jean Valjean war in ein Schlammloch geraten. 

Es verdankte ſeine Entſtehung dem Wolkenbruch von geſtern 
abend. Das von dem darunterliegenden Sande ſchwach geſtützte 
Pflaſter hatte nachgegeben, die Waſſermengen waren eingedrun— 
gen und hatten ben Boden zum Schwellen gebracht. Das Ranal- 
bett barſt und verſank in Schlamm. 

Wie weit dieſe gefährliche Strecke war, ließ ſich nicht er— 
meſſen. Die Dunkelheit war undurchdringlich. Es war ein Kot— 
loch in einer finſteren Höhle. 

Jean Valjean fühlte, wie der Boden unter ihm wich. Den— 
noch drang er weiter in das Bereich des Kotes vor. Er watete 
in tiefem Waſſer, auf deſſen Grunde Schlamm war. Zurüd- 
gehen war ja unmöglih. Marius lag im Sterben und Jean 
Valjean war erfchöpft. Auch fhien es bei den erften Schritten, 


667 


daß bas Loch nicht allzu tief war. Aber bald fanf er bis zum 
halben Bein ein, und das Waſſer ftieg über die Knie. Sekt 
hielt er Marius auf beiden Armen, fo hoch er Fonnte. Der Waf- 
ferfpiegel bob fidy bis zum Gürtel. Es gab Fein Zurüd, immer 
weiter drang Sean DBaljean vor. Vielleicht hätte der bide 
Schlamm das Gewicht eines Mannes getragen, aber zwei Leute 
waren zu ſchwer. Marius und Jean Valjean, jeder für fic, 
hätten der Gefahr entrinnen Éônnen. 

Und Sean Valjean fehritt weiter, den Sterbenden — oder 
war e8 fon eine Leiche? — hoch über ſich tragend. 

Jetzt ftieg ihm das Waſſer bis zu den Achfelhöhlen. Er ftand 
Schlecht und mußte befürchten, umgeriffen zu werden. Auch Die 
Dichtigfeit des Sandes behinderte ibn. Mit auberfter Kraft bob 
er Marius hoch. Seht hatte er nur mehr nod den Kopf über 
dem Waflerfpiegel. Auf alten Bildern fieht man wohl eine 
Mutter, die ihr Kind jo trägt. 

Mit einer verzweifelten Anftrengung ftieß er den Fuß vor — 
und faßte Boden. Ihm war, als ob er die erfte Stufe einer 
Treppe, die zum Leben führte, erreicht hätte. 

Die Stüße, die er im kritiſchen Augenblicke gefunden hatte, 
war ein Stüd des Kanalbettes, bas zwar gefunfen, aber nicht 
zerbrochen war. Es ftellte jeßt eine Art Rampe dar, auf der 
Sean Valjean auf die andere Seite des Loches gelangen Fonnte. 

Us er aus dem Waffer flieg, taumelte er und fiel auf die 
Knie. Er fand, diefe Haltung fei im Augenblick die richtigfte, und 
blieb einen Moment im Gebet verfunfen. 

Dann ftand er wieder auf, fbauernd unter der Eifesfälte, von 
der Laft des Sterbenden gebeugt, triefend von Kot — aber die 
Seele von bimmlifhem Licht erleuchtet. 


4. Das Endeder Klonafe 


Wieder machte er fih auf den Weg. 
Es war, als ob er feine Kraft in dem Schlammlod gelaffen 
hätte. Er war erfhöpft von der furchtbaren Anftrengung. So 


668 


müde war er, daß er alle drei oder vier Schritte gezwungen war, 
Atem zu ſchöpfen und fi) an die Wand zu lehnen. 

Verzweifelt, faft rafch, drang er wieder hundert Schritte vor, 
ohne fih umzubliden. So war er an eine Biegung der Kloake 
gelangt und ftanb plöslih am Ende des Ganges. Vor fi fab 
er, noch weit entfernt, Licht. 

Das Licht des Tages. Den Ausgang. 

est fpürte Sean Daljean Feine Müdigkeit mehr. Das Ge- 
wicht Marius” [aftete nicht mehr auf ibm. Wieder waren feine 
Beine von Stahl. Er Tief beinahe. Ve näher er Fam, um fo 
deutlicher erfannte er die Öffnung. 

Im nähften Augenblick Hatte er den Ausgang erreicht. 

Hier blieb er ftehen. 

Es war wohl ein Ausgang, aber er war unbenüßber. 

Ein ftarfes Gitter fperrte die Bogentür, ein Gitter, das allem 
Anſchein nach fi nur felten in feinen ftarf orydierten Angeln 
drehte. An der Steineinfaffung hing eines jener dicken, verrofte- 
ten Schlöffer, die man im alten Paris fo gern benützte. 

Senfeits des Gitters frifhe Luft, der Fluß, bellibter Tag, 
ein fchmaler Weg, der immerhin genügte, um fih auf ibm fort- 
zubewegen, in der Serne Paris — die Freiheit. 

Er befand fih an einer der einfamften Gegenden der Stadt, 
an dem Ufer gegenüber dem Gros-Eaillou. Fliegen ſchwirrten 
burd das Gitter. 

Es modte neun Uhr abends fein. Der Tag ging zu Ende, 

Sean Daljean legte Marius länge der Wand auf eine frof- 
fene Stelle des Bodens, trat an dag Gitter und rüttelte mit 
den Fäuften daran. Es rührte fih nicht. Sean Valjean nahm 
eine der Stangen nad) der anderen vor, hoffte eine zu lodern 
oder dag Schloß abzureißen. Aber die Stangen faßen feft wie 
die Zähne eines Tigers. Es war unmöglich, die Tür zu öffnen. 

Alles war zu Ende. Sean Valjean hatte fih unnüß geplagt. 
Gott wollte nicht, daß er gerettet wurde. 


669 


5. Ein abgeriffener Fetzen Tu 


Während er in tieffter Miedergefchlagenheit dafaß, griff eine 
Hand nad feiner Schulter und eine leife Stimme fagte: 





























„Halbpart!“ 

Jean Valjean glaubte zu träumen. 

Er blickte auf, ein Mann ſtand vor ihm. 

Dieſer Menſch trug eine Arbeiterbluſe und ging barfuß; ſeine 


670 




















Schuhe trug er in der linfen Hand. Offenbar hatte er fie aus- 
gezogen, um unbemerft näher fommen zu Fünnen. 

Sean Valjean zögerte Éeinen Augenblit. Diefe Begegnung 
fam ibm unerwartet, aber den Mann fannte er. Es war Thé- 
nardier. 

Auf der Stelle gewann er feine Geiftesgegenwart wieder. 
Auch konnte fi die Tage, in der er fih befand, kaum no ver- 
fblimmern, denn es gibt einen Grad des Entfeglihen, der Fein 
Crefcendo Eennt. Auch ein Ihenardier Éonnte die Dunkelheit 
der Nacht nicht mehr verfinftern. 

Sean Baljean merkte fofort, daB der Bandit ihn nicht er- 
fannte. 

Thenardier brad bas Schweigen. 

„Die willft du bier "rauskommen? 

Sean Baljean antwortete nicht. 

„Du wirft diefe Zür nicht aufbringen. Aber du willft bob 
'raus?“ 

„Natürlich.“ 

„Gut, Halbpart.“ 

„Was ſoll das?“ 

„Du haſt den Mann da umgebracht. Gut. Ich habe den 
Schlüſſel. Ich kenne dich nicht, aber ich werde dir helfen. Du 
ſcheinſt einer von den Freunden zu fein.” 

Jean Valjean begann zu begreifen. Thenardier hielt ihn für 
einen Mörder. 

„Hör', Kamerad,“ fuhr diefer fort, „du haft diefen Kerl doc 
nicht umgebracht, ohne dir vorher feine Taſchen anzufehen. Gib 
mir die Hälfte, dann öffne ich dir die Tür.’ 

Er 309 einen großen Schlüffel aus feiner zerfeßten Bluſe. 

Sean Daljean war vollfommen verblüfft. Die Vorfebung 
hatte hier eine ſcheußliche Geftalt angenommen, der Nettungs- 

engel hatte fi als Thénardier verkleidet. 

Thénarbdier fuhr jeßt mit der Hand in feine Tafche und 309 
‚ einen langen Strid hervor. 
„Da, den Strict geb’ ih auch nod drauf.” 


671 


Bas fol mir der Strick?“ | 
„Dann brauchſt du aud noch einen Stein, aber den findeft! 
du draußen. Daran ift hier Fein Mangel.’ | 
„aber was fol ich mit dem Strick und dem Stein?” 
„Trottel, du willft bob den Kerl ins Waffer werfen! Dazu M 
braucht du einen Stri und einen Stein, fonft ſchwimmt er.’ 
Jean Valjean nahm den Strick. Seine Gebärde war faft! 
mechaniſch. | 
est fhnippte Thénardier mit den Fingern, als ob ibm ein M 
plößliher Gedanfe käme. | 
„Übrigens, wie bift bu über das Schlammlod gefommen, | 
Kamerad? Ich hab’ mich nicht darüber getraut. Pub, du riechft 
aber nicht fein!’ 
Und da er Feine Antwort befam, fuhr er fort: | 
„Ad, ich Frage immer und du antworteft nit. Sehr gefcheit. 
Du bereiteft dic) auf das Wiertelftünddhen vor dem Unter: | 
fuhungsrichter vor. Wer nichts fagt, plaudert auch nichts aus. 
Aber fei unbeforgt, ich Fann in diefer Finfternis dein Gefidht M 
nicht erfennen und weiß aud nicht, wie du heißt. Darum ift es | 
doch unrecht von dir, zu glauben, daß ich nicht weiß, wer du bift 
und was du willft. Wir Fennen uns. Du haft diefen Herrn da 
Faltgemacht, und jest möchteft du ihn irgendwo verfehwinden | 
laflen. Du fuhft ben Fluß, in dem ja jede Dummheit unter-| 
taucht. Ich werde dich aus der Derlegenheit retten. Einem bra- 
ven Kerl in der Mot beiftehen, das ift ganz nach meinem Ge- 
ſchmack.“ | 
Obwohl er Sean Valjean ermuntert hatte zu ſchweigen, 
wollte er ibn doc offenfichtlic zum Sprechen bringen. 
nÜbrigens, weil wir von dem Schlammloch ſprechen, du biſt 
Doch ein rechtes Vieh, warum haft du den Kerl nicht ba hinein- 
geſchmiſſen?“ 
Noch immer ſchwieg Jean Valjean. 
Thénardier rückte den Fetzen, der ihm als Halstuch diente, 
bis an den Adamsapfel vor, wodurch ſein gewichtiges Ausſehen 
noch gewann, und fuhr fort: 


672 








„Übrigens warft du ganz gefcheit. Vielleicht. Morgen kommen 
die Arbeiter, fäubern bas Loch und finden unweigerlich den 
Burſchen da. Schritt für Schritt kommt man dir auf die Spur, 
und ſchwupps bift du gefangen. jemand ift durch die Klonfen ge- 
gangen. Wer? Wo ift er herausgefommen? Hat ihn jemand be- 
obachtet? Die Polizeileute haben viel Wis. Zum Schluß wird 
die Kloafe zum Verräter. Ein folder Fund ift eine Seltenheit, 
der Auffehen erregt, denn es ift unter uns nicht Mode, die Ge- 
Ihäfte hier abzumahen. Der Fluß wird allgemein vorgezogen. 
Er ift das richtige Mafflengrab. Mach einem Monat fifchen fie 
einen wohl bei Saint-Cloud heraus, aber wer kümmert fi bar- 
um? Wer bat diefes Nas da getötet? Nun, Paris. Das ift Feine 
‚Spur, der die Vuftis nachläuft. Weiß Gott, du haft es ganz gut 
angefangen. Aber jeßt wollen wir zur Sache fommen. Teilen 
wir. Du haft den Schlüffel gefehen, zeige mir nun aud bas 
Geld.“ 

Thénardier fab tückiſch und bösartig aus, faſt drohend, ſprach 
aber noch immer freundſchaftlich. 

„Na, wieviel hatte der Kerl in den Taſchen?“ 

As Jean Valjean geſtern abend die Nationalgardiſten— 
uniform angelegt hatte, war es ihm nicht in den Sinn 
gekommen, Geld einzuſtecken. So fand er nur in feiner 
Weſtentaſche einige Eleine Münzen. Er entleerte fie jeßt vor 
Ihenardiers Augen auf der Steinbanf, es waren ein Louisdor, 
zwei Sünffranfen und fünf oder fehs Sousftüde. 

Ihenardier ſchob die Unterlippe verächtlich vor. 

„Wenig für einen Mord‘, meinte er. 

Dann begann er ganz gemütlich Sean Valjeans und Marius’ 
Taſchen durchzuſuchen. Valjean ließ es gefheben. Während er 
den Nof Marius’ durchwühlte, riß er unauffällig einen Fetzen 
‚Stoff ab, den er aufbewahrte, um vielleicht fpäter einmal an 
dieſem Zeichen den Mörder oder Ermordeten wiederzufinden. 
‚Geld fand er allerdings nicht. 

„Wahrhaftig,“ fagte er, „mehr ift nicht da.’ 

43 Hugo, Die Elenden. 673 


| 



















Er vergaß, daß er balbpart vorgefhlagen hatte, und nahm! 
bas Ganze. | 

Erſt als er die Sous in die Finger befam, zögerte er. End 
lih nahm er auch fie, wenn er aud murrte: | 

„Ma, dem haft du den Tod zu billig geliefert. Schluß, Freund, 
du willft "raus. Hier ift es wie auf dem Markt. Du haft bezahlt, 
du Éannft gehen.” 

Und er begann zu lachen. 

Die Zür öffnete fi lautlos. Offenbar war fie gut geölt und) 
wurde öfter bemüßt als es den Anſchein hatte. 

Unheimliches Zeichen! 

Sean Valjean begriff, daß diefe Tür dunklen Eriftenzen derl| 
Nacht vertraut war. Diefe Kloake war offenbar die Romplicin 
einer geheimnisvollen Bande. Diefe Gittertür eine Seblerin. N 

Thénardier öffnete die Tür halb, ließ Sean Valjean dur} 
ihloß fie dann wieder und drehte den Schlüffel zweimal herum.l| 
Im nähften Augenblick war er lautlos verfhwunben. 

Jean Baljean ftand im Freien. 





6. Marius wird von einem, der fid Darauf 
versteht, für fot gehalten 


Sefundenlang war jean Valjean bezaubert von der er: 
babenen, Eöftlihen Freiheit rings um ihn. Es gibt Minuten derf 
Selbfivergeffenheit. Selbft das Leiden fest aus, der Gedanftel: 
ruht, Friede zieht ein in die Seele des Sinnenden. So konnte 
aud Jean Valjean nicht umbin, in die Klarheit des Nacht— 
himmels binaufzubliden, der fich fchweigend über ihm aug 
breitete. | 

Plötzlich erwachte lebhaft in ibm dag Gefühl einer Pflicht,‘ 
die er auf fich genommen hatte. Er beugte fi über Marius, go 1 
aus feiner hohlen Hand Waſſer über fein Gefibt; aber biel 
Lider des Derwundeten hoben fih nicht. Nur fein halbgeöffneterf 
Mund atmete immer nod. | 

Eben wollte Jean Valjean zum zweitenmal die Hand in den 


674 


Fluß tauchen, als er plößlich ein Unbehagen empfand, wie man 
es wohl verfpürt, wenn man — aud ohne es zu feben — fühlt, 
‚daß jemand hinter uns fteht. 

Er wandte fih um. 

Wirklich ftand jemand da, ein hochgewachſener Mann in 
einem langen Überrod, der die Arme verfchränft hatte und in 
der Rechten einen Totſchläger hielt, deffen Bleikopf man deutlich 
ausnahm. Er ftand nur wenige Schritte hinter Jean Daljean, 
der fi) über Marius beugte. 

Sean Valjean erkannte avert. 

Der Polizeiinfpeftor hatte fih, nachdem er wider Erwarten 
von der DBarrifade entlaflen worden war, nad der Präfektur 
begeben, um perfünlih dem Präfeften in einer kurzen Audienz 
Bericht zu erftatten. Dann hatte er fofort wieder feinen Dienft 
angetreten und fi darangemacht, bas Gebiet des rechten Fluß- 
ufers auf der Höhe der Champs-Elyſées, dag feit einiger Zeit 
die Aufmerkſamkeit der Polizei erregte, zu durchforſchen. Er 
war Ihenardier begegnet und nachgegangen. 

Jean DBaljean war aus dem Negen in die Traufe gefommen. 
Zwei folhe Begegnungen auf einmal, erft Thénarbier, dann 
Javert — es war hart. 

Javert erfannte Sean Valjean nicht, denn er war durd die 
furhtbaren .Anftrengungen des lebten Tages vollfommen ent- 
ftelt. So begnügte ſich der Polizift, mit einer faum bemerf- 
baren Bewegung, den Totfhläger fefter zu umfaffen und kurz, 
‚aber ruhig zu fragen: 

„Wer find Sie?" 

3." 

„Ber ift dag, ich?’ 

„Jean Valjean.“ 

Javert nahm den Totſchläger zwiſchen die Zähne, beugte ſich 
vor, legte ſeine gewaltigen Hände auf Jean Valjeans Schultern, 
hielt ihn feſt wie in einem Schraubſtock und ſtarrte ihm ins Ge— 
ſicht. Die beiden Köpfe berührten einander faſt. Javerts Blick 
war fürchterlich. 


43* 67 5 


Sean Baljean blieb regungslos unter Javerts Griff, wie ein | 


Löwe, der fi) von einem Luchs paden lie. 


„Inſpektor Javert,“ fagte er endlich, „ich bin in Ybrer Hand. | 
Übrigens betrachte id mic) ja feit heute morgen als Ybren Ge- | 
fangenen. Ich habe ihnen meine Adreffe nicht gegeben, um aus- | 


zureißen. Ich bitte Sie nur um eine Vergünftigung.” 


Javert fhien nicht zu hören. Sein ftarrer Blick war auf Val | 
jean gerichtet. Das hochgezogene Kinn drängte die Lippen auf- | 


wärts — Zeichen intenfivften Nachdenfens. Endlich ließ er Sean 
Valjean Los, richtete fih auf und fragte leife: 

Bas fun Sie hier? Wer ift diefer Mann und was haben 
Sie mit ibm zu fhaffen?// 

Auch jeßt duzte er Sean Valjean nicht. Diefer antwortete: 


„Don ihm wollte ich gerade fprechen. Mit mir Eönnen Sie 
tun, was Sie wollen, aber helfen Sie mir erft, ibn nad Haufe 


zu bringen. Sonft verlange id nichts von Ihnen.“ 
Javerts Gefiht verzog fi) Frampfhaft wie immer, wenn 


jemand ihn einer Nachgiebigkeit für fähig hielt. Aber er lehnte 
nicht ab. Wieder beugte er fich vor, 309 ein Tuch aus der Taſche, 
tauchte es in das Waſſer und mwifchte das Blut von Marius” ! 


Stirn. 


„Diefer Mann war auf der Barrikade,“ fagte er Ieife, als | 
ob er mit fi felbft ſpräche, „es ift der, den fie Marius | 


nannten.” 


Diefer Mann, der feinem ganzen Wefen nah Spikel war, | 
hatte fogar in einer Stunde, die er für feine letzte hielt, alles | 


beobachtet, alles gehört und im Geifte vorbemerft. Er hatte im 


Todeskampf, gewiflermaßen auf der erften Stufe jener Treppe, | 


die sum Grabe hinabführt, no Beobachtungen gefammelt. 
Sept nahm er Marius’ Hand und fühlte den Puls. 
„Er ift ſchwer verwundet‘, fagte Sean Valjean. 
„Sr ift tot”, erwiderte Tavert. 
„Dein. Noch nicht.‘ 
„Sie baben ibn alfo von der Barrikade hierher gebracht?“ 


676 








Seine Gedanfen mußten ibn febr in Anfprud nehmen, daß 
er über diefe merfwürdige Flucht quer burd die Kloafen von 
Paris nicht näheren Beſcheid verlangte. So bemerkte er nicht 
einmal, daß Sean Daljean ſchwieg. Diefer fhien feinerfeits nur 
einen einzigen Gedanken zu haben. 

„Er wohnt im Marais“, fagte er. „Rue des Filles-du-Eal- 
vaire, bei feinem Großvater. Den Namen babe ich vergeflen.” 

Sean Baljean fuchte in Marius’ Mod, 309 das Portefeuille 
heraus, ſchlug es auf und reichte es Yavert. 

Es war gerade bell genug, daß Javert, deffen Augen übrigens 
an die Nacht gewöhnt waren wie die gewiffer Vögel, mit einiger 
‚Mühe lefen Eonnte. 

„Gillenormand, Rue des Filles-su-ECalvaire No. 6.” 

„Kutſcher!“ 

Er hatte in der Nähe eine Droſchke warten laſſen. 

Das Portefeuille Marius' behielt er bei ſich. 

Einen Augenblick ſpäter kam ein Wagen an der Rampe, die 
zur Tränke führt, herab, Marius wurde auf den Rückſitz gelegt, 
Javert ſetzte ſich neben Jean Valjean auf den Vorderplatz. 

Bald fuhr die Droſchke im Trab davon, immer an den Quais 
entlang, in der Richtung nach der Baſtille. 

Endlich verließ ſie das Ufer und bog in die Straßen ein. Der 
Kutſcher, eine ſchwarze Silhouette auf ſeinem Bock, trieb ſeine 
mageren Gäule mit der Peitſche an. Eiſiges Schweigen herrſchte 
im Wagen. Marius lag unbeweglich, den Rumpf in die Ecke 
des Rückſitzes gepreßt, den Kopf auf die Bruſt herabgeneigt, 
mit herabfallenden Armen und ſteifen Beinen; er ſchien nur 
mehr auf den Sarg zu warten. Valjean ſchien ein Schatten, 
Javert ein Stein zu fein. Sooft das Gefährt an einer Laterne 
vorüberkam, fiel ein Lichtſchein flübtig in dag Innere der 
Droſchke und beleuchtete düfter diefe unheimliche Gefellfchaft un- 
beweglicher Geftalten: einen Leichnam, ein Gefpenft und eine 
‚Statue. 


677 


7. Rückkehr des verlorenen Sohnes 


Es war fon ftofbunfel, als die Drofchfe vor dem Haufe 
Mo. 6 der Rue des Filles-du-Ealvaire hielt. 


















































Javert ftieg als erfter aus, überzeugte fid mit einem rafchen | 
Blit, daß die Nummer über dem Haustor ftimmte, hob dann | 
den fhweren Eifenflöppel, der nad alter Mode mit zwei mytho- 
Iogifchen Geftalten, einem Bock und einem Satyr, verziert war, | 
und pochte. Als die Tür fachte geöffnet wurde, ftieß Javert fie | 


678 





vollfommen auf. Der gähnende, verfhlafene Pförtner ftand mit 
einer Kerze in der Hand auf der Schwelle. 

Schon hatten Sean Daljean und der Kutfcher Marius aus 
der Drofhfe gehoben. Im Iragen fühlte Sean Valjean nad 
der Bruſt des jungen Mannes und vergewifferte fich, daB bas 
Herz noch ſchlug. Ihm fhien fogar, daß es jetzt Iebhafter ſchlug, 
vielleicht infolge der Fahrt in dem rüttelnden Wagen. 

Javert redete den Portier an, wie die Behörde den Bedien— 
fteten eines Aufwieglers anfpricht. 

„Einer im Haus, der Gillenormand heißt?‘ 

„Ja. Was wollen Sie von ihm?” 

„Wir bringen ihm feinen Sohn.” 

„Seinen Sohn?” fragte der Portier verblüfft. 

„Ja. Er ift tot. Er war auf der Barrifade. Hier ift er.” 

„Auf der Barrikade!“ fchrie der Pförtner auf. 

„Da bat er fi totfchießen laffen. Werden Sie den Vater.“ 

Der Pförtner rübrte fih noch immer nicht. 

‚208, gehen Sie doch!” ſchrie jeßt Vavert, „morgen gibt es 
bier ein Leichenbegängnis.“ 

In Saverts Denkungsweife hatten fi die Dinge, die auf 
öffentlihen Pläßen paffieren fônnen, in gewiſſe Kategorien ein- 
geordnet, die es ihm erlaubten, alles in feinem Gedächtnis über- 
fibtlih anzuordnen. Jede Möglichkeit hatte gewiflermaßen ihr 
Schubfach, aus dem fie, nur der Menge nad) abänderlid, ent- 
nommen werden fonnte. Auf der Straße Éonnten fi feiner 
Anfiht nah nur Krawall, Rebellion, Karneval und Leichen- 
begängnis ereignen. 

Der Pförtner begnügte fib, Baske zu weden. Basfe weckte 
Micolette, Nicolette Tante Gillenormand. Den Großvater ließ 
man jchlafen, denn man meinte, er werde die Sache immer noch 
rechtzeitig erfahren. 

Marius wurde in aller Stille in den erften Stock getragen 
und auf ein altes Kanapee gelegt, das im Vorzimmer des Herrn 
Gillenormand ftand. Während Vaste um einen Arzt und Mico- 
lette nach dem Wäſcheſchrank Tief, fühlte Dean Valjean, daß 


679 


Javert feine Schulter berührte. Er begriff und folgte dem 
Dolisiften. | 
Der Pförtner fab fie gehen, wie er fie kommen gefehen hatte, | 
noch immer ganz benommen. Sie fliegen wieder in die Drofchfe. | 
„Inſpektor Javert,“ fagte Jean Valjean jeßt, „gewähren | 
Sie mir nod eine Bitte.” | 
„Was?“ fragte Sjavert fehroff. | 
„Laſſen Sie mic einen Augenblif nah Haufe gehen, dann | 
fomme ich mit Ihnen.“ | 
Javert blieb einige Augenblicke in Gedanken verfunfen, das | 
Kinn in den Kragen feines Mods gebohrt; dann rief er: | 
„Kutſcher, Rue de l'Homme Arme Mo. 71 


8. Erfhütterungdes Abfoluten 


Während der ganzen Fahrt fprachen die beiden nicht. 
As die Drofhfe an der Ede der Nue de l'Homme Arme | 
hielt, weil die Einfahrt für einen Wagen zu fhmal war, ftiegen | 
Sean Baljean und Savert aus. Der Polizift entließ die | 
Droſchke. Jean Valjean dachte, daß er ihn wohl zu Fuß nad | 
dem Kommiflariat der Vlancs-Manteaur führen wolle. | 
Sie gingen in die Straße hinein, die wie gewöhnlich voll- ! 
fommen menfchenleer war. Vor Mo. 7 blieben fie fteben. Sean | 
Valjean Elopfte. Es wurde geöffnet. | 
„Gut, fagte Javert, „gehen Sie hinein.’ | 
Und mit einer feltfamen Setonung, als ob er nur mübfam | 
etwag Derartiges über die Tippen brächte, fügte er hinzu: 

„Ich erwarte Sie hier.” 

Sean Valjean ftreifte ihn mit einem Bit. Diefes DBetragen | 
entfprad fo wenig Javerts Gewohnheit! Dod durfte man fit | 
nicht fo fehr darüber wundern, Éonnte darin eher ein hochmütiges 
Vertrauen erbliden, etwa das Vertrauen der Kabe, die eine | 
Maus für einen Augenblif aus dem Bereich ihrer Taken ent: | 
läßt. Jean Valjean trat ein, rief dem Pförtner zu, daB er es | 
fei, und ftieg die Treppe hinauf. | 


680 








As er den Abſatz des erften Stodwerfs erreichte, blieb er 
ftehen. Jeder Schmerzensweg hat feine Station. 

Sei es, um frifhe Luft zu fehöpfen, fei es aus unbewußter 
Megung trat Jean Daljean an das Fenfter und beugte fid 
hinaus. Im nächſten Augenblif war er maßlos erftaunt. 

Da unten war niemand. 

Javert war fortgegangen. 


9, Der Großvater 


Baske und der Pförtner hatten Marius, der fid immer noch 
nicht regte, in den Salon getragen. Inzwiſchen war der Arzt 
gefommen und Iante Gillenormand aufgeftanden. 

Sie lief erfhroden auf und ab, rang die Hände und war 
außerftande, etwas anderes zu fagen als: „Großer Gott, ift fo 
etwas denn möglich?!“ Ober fie jammerte: ‚Alles wird DBlut- 
fleden abbefommen — die ganzen Bezüge!’ 

As fie den erften Schreden überwunden hatte, fhien fich ihr 
Geift einigermaßen zum Verſtändnis der Situation durchzurin— 
gen, und fie rief: 

„Sp mußte es kommen!“ Es fehlte nur noch, daß fie, wie es 
bei folhen Gelegenheiten ja üblich ift, darauf hinwies, fie habe 
e8 ja vorausgewußt. 

Der Arzt unterfuhte Marius, ftellte feft, daß der Puls no 
Ihlug und daß der Verwundete an der Bruft Feine tiefere 
Wunde hatte. Das Blut in ben Mundwinfeln fam aus den 
Naſenlöchern. Seht Tieß er den Verwundeten auf das Bett 


. zurüclegen, das Kiffen wegnehmen und den Kopf tiefer betten 


als den Körper, um die Atmung zu erleichtern. Fräulein Gille- : 
normand 309 fi, als fie fab, daB Marius entfleidet wurde, zu- 
rück, eilte in ihr Zimmer und nahm den Mofenfranz vor. 

Der Rumpf zeigte Feine innere Verlegung. Eine Kugel war 
burd das Portefeuille aufgehalten worden und hatte, indem fie 
an den Rippen entlang vordrang, das Fleifh furdtbar auf- 
geriffen, aber Feine tiefe, gefährlihe Wunde verurfacht. Der 


681 


lange Transport durd bas unterirdifhe Paris hatte allerdings 
zur Folge gehabt, daß bas zerfchmetterte Schlüffelbein vollfom- 
men entjweigegangen war. Das gab Deranlaffung zu ernften 
Beforgniffen. Der Arm zeigte zahlreihe Wunden, die von Säbel- 
bieben berrübrten. Im Gefiht war fonft feine Verlegung, doch 
war der Kopf ganz zerhadt. Ob diefe Wunden tiefer gingen, 
ließ fih im Augenblick nicht feftftellen. Bedenklih war nur, daß 
fie offenbar die Ohnmacht des Patienten verurfacht hatten. Aus 
folder Ohnmacht erwacht man zumeilen nicht mehr. Überdies 
hatte der Blutverluft den Verwundeten fehr erfchöpft. Der un- 
tere Teil des Körpers war vollflommen unverleßt, da er durch die 
Barrikade geſchützt geweſen war. 

Baske und Nicolette zerriſſen alte Wäſcheſtücke und bereite— 
ten Verbände vor. Da man keine Scharpie zur Verfügung 
hatte, benützte der Arzt zur Stillung des Blutes Watte. Neben 
dem Bett brannten drei Kerzen auf einem Tiſch, auf dem der 
Arzt ſein chirurgiſches Beſteck vorbereitet hatte. 

Der Arzt ſchien wenig Hoffnung zu haben. Zuweilen ſchüt— 
telte er den Kopf, als ob er eine Frage verneine, die er ſich 
ſelbſt geſtellt hatte. 

In dem Augenblick, als der Arzt das Geſicht des Patienten 
abtrocknete und leicht mit den Fingerſpitzen die noch immer ge— 
ſchloſſenen Lider berührte, ging die Tur des Salons auf, und 
eine lange, weiße Geſtalt erſchien. 

Es war der Großvater. 

Er ſah das Bett und den blutüberſtrömten jungen Mann auf 
der Matratze, die geſchloſſenen Augen, den offenen Mund, die 
fahlen Lippen — ſah den entblößten Körper und die roten 
Wundmale im grellen Licht der Kerze. 

Vom Kopf bis zu Fuß durchlief ihn ein furchtbarer Schauder; 
ſeine Augen, deren Hornhaut bereits vom Alter gelb geworden 
war, bekamen einen gläſernen Glanz. Im nächſten Augenblick 
glich der Schädel einem unheimlichen Totenkopf. Die Arme 
fielen ſchlaff herab, die zitternden Finger ſpreizten ſich, die Knie 
knickten ein. 


682 





„Marius! ftammelte er. 

„Gnädiger Herr,” fagte Vaste, ,man bat ung Herrn Ma— 
rius eben gebracht. Er war auf der Barrifade und...” 

„Ach, er ift tot‘, fchrie der Greis mit furdtbarer Stimme. 
„Oh, diefer Bandit!’ 

Eine feltfame DBerwandlung ging in ihm vor; der Sunbert- 
jährige wurde zum jungen Mann. 

„Herr, vief er, „Sie find doch der Arzt? Sagen Sie mir 
— er ift doch tot, nicht wahr?” 

Betreten fchwieg der Arzt. 

Gillenormand begann furhtbar zu lachen. Er lachte und rang 
zugleich die Hände. 

„Tot ift er, auf den Barrikaden hat er fi totfchießen laſſen! 
Und nur aus Haß gegen mich! Gegen mich hat er das getan! 
Oh, dieſer Bluthund — ſo kommt er zurück! Er iſt tot!“ 

Er trat ans Fenſter, riß es weit auf, als ob er zu erſticken 
fürchte, beugte ſich hinaus und begann in die finſtere Nacht hin— 
auszurufen. 

„Zerſtochen, niedergeſchlagen, erwürgt, in Stücke geriſſen! 
So muß er enden, der Bandit! Und dabei wußte er ganz gut, 
daß ich ihn erwartete, daß ich ſein Zimmer immer für ihn bereit 
halten ließ, daß ich ſein Kinderbild auf meinem Nachtſchrank 
aufgeftellt habe! Er wußte ganz gut, daß er nur wiederzukommen 
brauchte, daß ich mich feit Jahren nah ihm fehnte und jeden 
Abend mit den Händen auf meinen Knien am Kamin faß und 
nicht wußte, was ich tun follte! Daß ich vor Sehnſucht zuletzt 
ganz dumm war! Du wußtelt es, du braudteft nur bierber- 
zufommen und zu fagen, da bin ich, und du warft der Herr diefes 


Hauſes, hätteft mir auf der Mafe herumtanzen dürfen, hätteft 


mit diefem Trottel von Großvater tun können, was du wollteft. 
Dh, du haft es gewußt, aber du haft gefagt, nein, er ift einer von 
den Moyaliften, zu ibm gebe ich nicht! Dafür bift bu auf die 
Barrifade gegangen, haft dich töten laffen — aus purer Mieder- 
trat! Mur um dich zu rächen, weil ich dir meine Meinung ge- 
fagt hatte! ft bas nicht gemein? So, legt eud nur ing ‘Bett 


683 


und fchlaft rubig — dann weckt man euch auf und fagf: er ift | 
tot, weiter nichts.“ I 
Der Arzt begann nun aud für den Greis zu fürdten und | 
trat zu Gillenormand. Aber der Alte fab ihn ruhig, mit großen, | 
blutunterlaufenen Augen an und fagte: | 
„Ich danke Ihnen, Herr, ich bin ruhig, ich bin ein Mann, 
ich babe Ludwig XVI. fterben gefeben und verftehe mich darauf, 
bas Unvermeidlihe zu ertragen. Das Schlimmfte ift, daß id 
immer denken muß: eure verfluchten Zeitungen richten bas alles | 
an. Seit wir biefe Tintenfledfer, Zungendrefcher, Advofaten, 
Schwätzer, diefe Debattierer, all das verlogene Zeug, Sort- 
Schritt, Aufklärung, Menſchenrechte, Preßfreiheit und dergleichen 
haben, bringt man unfere Kinder fo nah Haufe! Ach, es ift 
fürdterlih! Marius vor mir tot! O diefer Bandit! Doktor, 
Sie wohnen bier in der Gegend, glaube ih? Ob, ich Fenne Sie 
wohl, oft febe id Ybren Wagen vorbeifahren. Ich will Ihnen 
etwas fagen: Sie dürfen nicht glauben, daß ich wütend bin. 
Man zürnt einem Ioten nicht. Es wäre ja blöde. ch babe die- 


jen ungen erzogen. Ich war fchon reichlich alt, und er nod || 


ganz Élein. In den Quilerien fpielte er mit feinem Eleinen Spa- 
ten, und id babe immer, damit der Inſpektor nicht fehelten | 
jollte, mit meinem Stock die Löcher zugefcharrt, die er in die | 
Erde grub. Eines Tages ftellt er fi vor mich bin und fchreit: 
Nieder mit Ludwig XVIIL! — und dann ift er gegangen. Es 
war nicht meine Schuld. Er war ganz rofig und blond. Seine | 
Mutter ift tot. Haben Sie bemerft, daß alle Eleinen Kinder 
blond find? Woher das nur fommt? Und dabei ift er der Sohn 
eines Loireräubers, aber die Kinder find ja unfhuldig an den 
Verbrechen der Väter. Ich erinnere mich noch, wie er ganz Flein 
war. Damals Éonnte er nie das ,D° ausfprechen. Einmal, vor 
der Statue des Ercole Farnefe gab es einen Fleinen Auflauf — |) 
alle Leute blieben ftehen und faben das hübfhe Kind an. Es | 
war ein Kopf, wie man ihn nur auf Bildern fiebt. Sch fuhr den | 
Sungen manchmal grob an, drohte ihm fogar mit dem Stod, 
aber er wußte fehon, daß ich es nicht ernft meinte. Wenn er nur 


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morgens zu mir ins Zimmer Fam, war e8 fon lift — wenn 
ich auch Leicht Iospolterte! Man ift ja ganz wehrlos gegen biefe 
Fleinen jungen. Das padt einen, laßt einen gar nicht mehr los. 
Und jest haben fie ihn mir in den Tod getrieben, eure Lafayette, 
Benjamin Conftant und Tirecuir de Corcelles. Das darf fo ge- 
ſchehen!“ 

Er trat wieder zu dem regloſen Marius, betrachtete ihn und 
begann von neuem die Hände zu ringen. Faſt mechaniſch beweg— 
ten ſich ſeine Lippen, er keuchte und ſtöhnte. 

„Ach, du herzloſer Schuft, du Septemberbandit!“ 

Mur mühſam konnte er ſich faſſen und wieder zufammenhän- 
gend ſprechen. Aber ſeine Stimme war dumpf und erloſchen, als 
ob ſie aus einem Abgrund herausſchalle. 

„Nun, es iſt ja gleichgültig, ich ſterbe ja auch. Wenn man nur 
denkt, daß es in ganz Paris kein Mädel gab, das ſich nicht ein 
Vergnügen daraus gemacht hätte, dieſen Kerl zu beglücken! Und 
ſtatt ſich zu amüſieren, geht dieſer Schuft hin und läßt ſich tot— 
ſchießen wie ein Idiot! Und wofür? Für die Republik! Statt 
in die Chaumière tanzen zu gehen, wie es den jungen Leuten 
anfteht! Dabei ift er Faum zwanzig jahre alt. Eine ſchöne Trot— 
telei, biefe Mepublif! Da plagen fi die armen Weiber und 
bringen bübfhe Kinder zur Welt! Nun, wir werden zwei Be— 
erdigungen gleichzeitig haben. Das mußt du dir antun faffen 
für die fchönen Augen fo eines Lamarque! Was hat er denn 
Großes für dich getan, diefer General? Diefer Säbelraßler! 
Diefer Quatſchkopf! Welcher vernünftige Menfch läßt fih für 
einen Toten umbringen? Da fol man nit verrüdt werden! 
Begreife einer fo was! Mit zwanzig Jahren! Drebt fih natür- 
lich nicht um, denkt nicht darüber nad, wen er zurüdläßt! 
Mögen die alten Schafsföpfe allein fterben! Kuſch, Erepier’ in 
deinem Winfel, alter Ubu! Gut, um fo beffer, das bringt mic 
wenigftens auch um. Ich bin fomiefo fon zu alt! Hundert 
Sahre, hunderttaufend jahre bin ich alt! Hätte längft fon tot 
fein follen. Das wird mir in die Grube helfen. Wenn man 
es fo nimmt, ift es ein Glück! Wozu laffen Sie denn den 


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armen Jungen Ammoniaf riehen! Sie plagen fih umfonft, Sie | 


Schwachkopf! Sehen Sie nicht, daB er tot ift? Ich muß es doch [li 


wiffen, denn ich bin ja auch fhon tot. Der tut Feine halben | 


Sachen! Va, eine gemeine, fhmubige, niedrige Zeit ift bas, fo Ml 


denfe ich von euch, von euren Ideen, Syftemen und euren Dof: | 
toren, von eurem Titeratenflüngel, von euren abgeriffenen Phi- | 
Iofophen, von euren ftupiden Nevolutionen, die feit fechzig Jahren 
die Naben in den Tuilerien auffheuhen! Du warft fo gütig 
und haft dich fo umbringen laffen? Gut, mir liegt nichts daran. | 
Hörft du eg | 
In diefem Augenblick fhlug Marius langfam die Augen auf, 
und fein unfteter Blick richtete fih auf Herren Gillenormand. 
Marius!” ſchrie der Greis, „mein Eleiner Marius! Lieber 
Junge! Sieh mid doch an! Du lebft! Sch danfe dir!” und er | 
brad ohnmächtig zufammen. | 


10. Javert aus der Bahn geworfen 


Savert war langfam die Mue de l'Homme Arme hinunter- | 
gefhritten. Er ging mit gefenftem Haupt zum erftenmal in 
feinem Leben, und zum erftenmal in feinem Leben bielt er die 
Hände auf dem Rücken. 

Bisher hatte Javert von den beiden bevorzugten Gebärden 
Mapoleons jene für fi gewählt, die Entfhloffenheit ausdrüdt: 
über der Bruſt verfhränfte Arme; jene der Unficherheit, die 
Hände auf dem Rücken, war ibm unbekannt. Eine Wandlung 
hatte fid in ihm vollzogen. 

Er bog in eine Gegend ftiller Straßen ein. Doc hielt er fic 
an eine beftimmte Richtung. | 

Auf Fürzeftem Wege eilte er zur Seine, erreichte den Quai | 
bes Ormes, überfbritt den Greveplaß und blieb unweit des 
Rommiffariats am Chäteletplas, an der Edfe des Pont-Motre- 
Dame fteben. Die Seine bildet hier, zwifchen dem Pont-Wotre- 
Dame und dem Pont-au-Change ein viereckiges Baffin mit einer 
Stromfhnelle. 


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Favert legte feine beiden Hände auf die Brüftung, beugte das 
Kinn herab und dachte nad). 

Etwas Meues, eine Nevolution, eine Kataftrophe war in 
feinem Inneren vorgefollen. Nun mußte er fich prüfen. 

Er litt furchtbar. In feinem Gewiſſen empfand er eine dop- 
pelte Pflicht, eine zwiefpältige Pflicht. Als er Sean Valjean un- 
erwartet am Ufer der Seine gefunden hatte, war in ihm zugleich 
‚der Inſtinkt des Wolfes, der feine Beute wittert, wach geworden 
und der des Hundes, der feinen Herrn wiederfindet. Bor fi fab 
er zwei fhnurgerade Wege; aber es waren ihrer zwei, und er 
hatte, folange er Iebte, immer nur einen vor fit gefeben. 
Schlimmer no, die beiden waren einander entgegengefeßt. Sie 
| ſchloſſen einander aus. Welchen mußte er gehen? 

Er ſchuldete ſein Leben einem Verbrecher, hatte dieſe Schuld 
angenommen und wiedererftattet. Seiner eigenſten Natur zu— 
wider hatte er fi mit einem Sträfling auf gleichen Fuß geftellt, 
ihm einen Dienft mit einem anderen bezahlt. Bon einem Ver- 
breder hatte er fich fagen laffen: Geh! Und er hatte ibm darauf 
gefagt: Gut, bu bift frei. Perfönlihen Motiven hatte er feine 
Pflicht geopfert, ja, er fand in diefen Motiven fogar ein höheres 
Prinzip; man Fonnte Verrat an der menfhlichen Geſellſchaft 
üben und doch feinem Gewiffen treu bleiben. Diefer Widerfinn 
war Wirklichkeit, dies Eonnte gefchehen! 

Erftaunlih war, daß Jean Valjean ihm Gnade eriviefen 

hatte, noch viel erftaunlicher aber, daß er, Javert, Sean Valjean 
gefchont hatte. 

Und was follte er jest tun? jean Daljean der Gerechtigkeit 
ausliefern, wäre niederträchtig geweſen. Ihn freilaffen, war ein 
Berbrehen. Im erfteren Fol fanf er, der Beamte, unter den 
niedrigften Bagnofträfling; im zweiten Fall geftand er, daß ihm 
ein Sträfling mehr galt als bas Gefes. So oder fo, Javert 
war entehrt. Welche Entfheidung er auch treffen mochte, fein 
Fall war unvermeidlich. 

Auch mußte er fih Vorwürfe machen, weil er jenen Inſur— 
genten nach der Rue des Filles-du-Calvaire gebracht hatte; aber 


687 





daran dachte er Faum. Die geringere Verfeblung fhien aufge- 
hoben durch die große. Überdies war jener Revolutionär fihtlid | 
dem Tode verfallen, und mit dem Tode feßt aud die Der: | 
folgung aus. | 

Mur Sean Baljean laftete ſchwer auf feiner Seele. | 

Diefer Mann bradte alles zum Wanfen, was ihm bisher feft | 
und fiber erfchienen war, alle Grundfäße, auf die Javert fein | 
Leben aufgebaut hatte. jean Valjeans Großmut erdridte ibn. 


Test Schienen ihm andere Iatfachen, die er ſich ins Gedächtnis | 


zurücrief und die er früher für Lügen und tolles Geſchwätz ge- 


halten hatte, durchaus glaubhaft. Madeleine tauchte hinter Sean 'R 


Valjean auf — und die beiden Geftalten vereinigten fich zu einer | 


ehrwürdigen Perfon. Mit Entfeßen gewahrte Vavert, daB fih J. 


in feiner Bruſt ein unbefanntes Gefühl regte, die Bewunderung 
für einen Sträfling. Einen Galeerenfträfling achten — war das | 
möglih? Er fehauderte davor zurüd, Konnte fi) aber diefer | 
Megung nicht erwehren. | 

Ein mildtätiger Übeltäter! Ein fanfter, hilfsbereiter, gütiger | 
Sträfling! Ein Sträfling, der Böfes mit Gutem vergalt, Haß | 
mit Derzeihung, der fih nicht rächte, fondern Mitleid fühlte, | 
lieber felbft zugrunde ging, bevor er feinen Feind tötete, der | 
jenen rettete, der ihn gefchlagen — biefes Ungeheuer, Javert 
mußte es befennen, eriftierte. Diefer Zuftand war nicht zu | 
erfragen. | 

Gewiß hatte er Widerftand geleiftet, wohl zwanzigmal war es | 
ihm in jenem Wagen gewefen, als ob er endlich nad) Sean Val | 
jean greifen müßte. Zwanzigmal hatte er fi auf ihn ftürzen, ihn 
verfohlingen und verhaften wollen. Und was war einfacher als 
das? Er brauchte nur dem erftbeften Gendarmen zuzurufen: Holle, 
hierher, das ift ein entfprungener Sträfling! Diefer Mann ge- 
hört eud! Er brauchte nur zu gehen, fih um das Weitere nicht | 
mehr zu Fümmern. Der Mann war für immer dem Gefeß ver- | 
fallen, bas Gefeß würde mit ihm verfahren, wie e8 wollte. Gab 
es etwas Gerechteres? 

Alles bas hatte Vavert ſich gefagt, hatte verfucht, fich über feine 


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Bedenken hinwegzufeßen — aber es war ihm fo gegangen mie 
jeßt, er hatte es nicht gekonnt. Sooft er feine Hand Frampfhaft 
ausftreefte nad jean Daljeans Kragen, war es ibm gewefen, 
als ob ein fhweres Gewicht fie herabziehe, und eine unbefannte 
Stimme hatte ibm zugerufen: Gut, liefere deinen Wetter aus, 
und dann laß dir bas Waſſer bringen, deine Tigerflauen in Un- 
ſchuld zu waschen wie Pontius Pilatus. 

Jetzt mußte er an fich felbft denken, und er fand, daß er eben- 
fo Elein war wie Sean Daljean groß. 

Vie hatte er nur zulaffen fünnen, daß diefer Mann ibm das 
Leben ſchenkte? Dort, auf der Barrifade, war es fein Recht ge- 
wefen, getötet zu werden, und er hätte es in Anfprud nehmen 
müflen! Die anderen Ynfurgenten zu Hilfe rufen gegen Sean 
Maljean, fi) mit Gewalt erfhießen laffen! 

Seine fhlimmfte Qual war, daß nun alle Gewißheit ver- 
ſchwunden war. Er-Fam fich vollfommen entwurzelt vor. Das Ge- 
feßbuch war in feiner Hand zu einer blinden Waffe geworden. 

Er mußte zugeben, daß Güte Fein leerer Wahn war. Diefer 
Sträfling war gütig gewefen. Sa, fo unerhört es ihm fhien, er 
jelbft war einer Megung von Güte gefolgt. Er war entartet. 

Er war alfo ein Feigling. Ihm graute vor feinem eigenen 
Mefen. 

Javert frönte nicht dem Ideal der Menſchlichkeit — er wollte 
nur untadelig fein. Und er war es nicht mehr. 

Mie war das gefommen? Wie war das möglich geworden? 
Er felbft hätte es nicht angeben können. Er ftüßte feinen Kopf 
in beide Hände, aber fofehr er aud fein Gehirn zerquälte, er 
fand Feine Erflärung. 

Gewiß war es bob immer feine Abficht gemweien, Sean 
Valjean dem Geſetz auszuliefern, dem er verfallen war und als 
defien Sklave er, Tjavert, fih empfand. Und folange er ihn in 
Händen hielt, nie war ihm der Gedanfe gefommen, ihn laufen 
zu laffen. Gegen feinen Willen hatte feine Hand fich geöffnet und 
den andern freigegeben. 

Es war unerträglich. 


44 Hugo, Die Elenden. 689 


Er befand fid in einer graufamen Lage. Nur zwei Auswege 
boten fi ihm. Der eine: Eurz entfchloffen zu Sean Valjean zu 
gehen, den Mann wieder dem Bagno zuzuführen. Der zweite... 

Javert ftand auf und ging rafch und feften Schrittes zu dem 
Wachtpoſten an der Place du Châtelet, der fhon von weitem an 
der brennenden Laterne zu erfennen war. 

Durch die Fenſterſcheibe fab er, daB nur ein Stadtfergeant in 
dem Raum war. Allein fhon an der Art, wie fie die Tür eines 
Amtslofal öffnen, erfennen die Poliziften einander. SSavert 
nannte feinen Namen, zeigte dem Sergeanten feine Karte und 
jeßte fi an den Zifh, auf bem eine Kerze brannte. Eine Feder, 
ein Zintenfaß aus Blei und Papier für Protokolle und Ein- 
fragungen von nächtlichen Runden lagen bereit. 

Diefer Tifch, zu dem feit jeher ein ftrohgeflodhtener Stuhl 
gehört, ift eine ftaatliche Ynftitution. Man findet ihn in allen 
Polizeiftuben. Zu ihm gehört unabänderlih eine Holzſchale mit 
Sägefpänen und eine Schadhtel mit Oblaten. Das ift der nied- 
rigfte Stil des amtlihen Mobiliars. Auf diefer Stufe beginnt 
bas amtlihe Schrifttum. 

Javert nahm die Feder und begann zu fhreiben. Wir geben 
den Wortlaut feines Schriftſtücks: 


Einige dienftlihe Semerfungen: 


Erftens: Sch empfehle dem Herrn Präfeften, die gewohn- 
heitsmäßigen Denunsianten mit größter Vorſicht zu behandeln. 

Zweitens: Die Unterfuhungsgefangenen ziehen, wenn fie 
vom Verhör fommen, ihre Schuhe aus und müflen während 
der Vifitation barfuß auf dem Pflafter ftehen. Diele erfälten 
fi bei diefer Gelegenheit. Dadurch entftehen überflüflige 
Lazarettunfoften. 

Drittens: Das Spyftem, Beohaihter auf dem Wege auszu- 
ftellen, den der zu Beobachtende mutmaßlicherweife gehen 
wird, fo daß fi feine Verfolger gelegentlich ablöfen können, 
bat fi bewährt, bod würde es fit in ernften Fällen emp- 
fehlen, auf jedem Poften zwei Agenten aufzuftellen, damit in 


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gewiffen Fällen, wenn der eine aus irgendwelchen Gründen 
feinen Dienft vernadhläfligt, der andere für ihn eintreten Fann. 

DViertens: Mad dem Spezialreglement des Gefängnifles 
Mabelonnettes ift es den Gefangenen, felbft wenn fie dafür 
zahlen, nicht geftattet, einen Stuhl zu halten. Diefe Beftim- 
mung ift unerflärlich. 

Fünftens: Das Fenfter der Kantine in Mabelonnettes ift 
nur durd zwei Eifenftäbe gefichert. Die Kantinenwirtin ift da- 
burd inftand gefeßt, ihre Hand von den Häftlingen berühren 
zu laſſen. 

Sechſtens: Die Häftlinge, die dazu verwendet werden, an- 
dere Häftlinge in dag Sprechzimmer zu holen, verlangen zwei 
Sous Trinfgeld, wenn fie den Namen des verlangten Ge- 
fangenen deutlich aussprechen follen. Das ift eine Näuberei. 

Siebentens: Für einen loderen Faden werden den Gefan- 
genen, die in der Weberwerkſtatt arbeiten, zehn Sous ab- 
gezogen. Das ift ein Mißbrauch der Unternehmer, da die 
Leinwand ja nicht weniger wertvoll wird. 

Achtens: Es ift ärgernigerregend, daß die Beſucher des 
Gefängniffes La Forse durd den Hof der jugendlichen Arre- 
ftanten gehen müffen, um fi) in bas Sprechzimmer der Ab- 
teilung Sainte-Marie-l’'Egvptienne zu begeben. 

Meuntes: Es ift befannt, daß die Gendarmen täglih im 
Hofe der Präfektur in aller Gemütlichkeit erzählen, was fie 
beim Verhör der Angeflagten gehört haben. Diefer Mibftand 
müßte abgeftellt werden. 

Zehntens: Madame Henry ift eine ebrenmerte Frau, und 
ihre Kantine ift in fauberem Zuſtande, aber e8 geht nicht an, 
daß eine Frau diefen Poften befleidet. 

Savert, Inſpektor I. Klaffe. 

Wachtpoſten der Place du Chätelet, 

7. Suni 1832, 1 Uhr nachts. 


Vavert trofnete die Tinte, faltete dag Blatt wie einen Brief, 
verfiegelte es mit einer Oblate und fhrieb darauf: 


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„Notiz für die Adminiftration.” 

Dann ließ er ihn auf dem Tiſch liegen und ging. Die Glastür 
fiel hinter ihm ins Schloß. 

Mit einer faft automatifchen Sicherheit kehrte er an den 
Platz zurück, auf dem er vor einer Viertelſtunde geftanden hatte. 
Wieder lehnte er fi) an die Brüftung. Es war, als ob er fi 
inzwifchen nicht gerührt hätte. 

Zieffte Finfternis herrſchte. Grabesftille, die immer der 
Mitternahtsftunde folgt, lag über die Stadt gebreitet. Wolfen 
verbedfen den Sternenhimmel. Die Häufer der Altftadt lagen 
in vollftändiger Dunkelheit, nirgends brannte Licht. Motre- 
Dame und die Türme des Vuftispalaftes waren nur undeutlid 
als Silhouetten zu erkennen. Die Negengüffe der lebten Tage 
hatten den Waflerfpiegel der Seine fteigen laffen. 

Javert beugte fi vor und fab hinab. Alles war fchwarz, 
nichts zu unterfcheiden. Man hörte das Rauſchen des Fluffes, 
fonnte aber das Waſſer nicht feben. Augenblife lang glitt in 
Ihwindelnder Tiefe ein Lichtfehimmer fich jchlängelnd über das 
Waſſer bin, das ja fogar in tieffter Finfternis von irgendwo 
Lit empfängt. Dann verlofeh er wieder. Was Vavert da vor 
fi) fab, war nicht der Fluß, es war ein unendliher Abgrund. 

Menn man aud nichts fab, fo fühlte man doc die feindliche 
Kälte des Waſſers und den faden Geruch der naflen Steine. 
Ein atemraubender Hauch ftieg aus der Tiefe auf. Das Hoch— 
waffer, bas man eher ahnte als fab, bas dumpfe Brauſen der 
Mafler, das Gefühl, man könne hier in eine düftere Leere bin- 
abftürzen, machte einen fhauerlihen Eindrud. 

Savert blieb hier einige Minuten ruhig ftehen, blidte in die 
Dunfelbeit hinab. Starr betrachtete er das Unfichtbare. 

Plöslic nahm er den Hut ab und legte ihn auf die Brüftung 
des Quais. Im nächſten Augenblid ftand eine hohe, ſchwarze 
Geftalt auf der Brüftung, bücfte fid vor, richtete fid wieder auf 
und fiel fenfrecht in die Sinfternis hinab. Dann hörfe man ein 
dumpfes Aufflatfhen. Mur die Finfternis fab die Zuckungen 
beffen, der im Waſſer untertauchte. 


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Drittes Buch 
Enkel und Großbater 


1. Der Lefer Hört wieder von dem Daum 
mitder Zinfplatte 


Einige Zeit nad den oben erzählten Ereigniffen erlebte Herr 
Boulatruelle etwas febr Merfwürdiges. 

Mie der Lefer fich vielleicht erinnert, war Boulatruelle ein 
Mann, der fid) nicht darauf verfteifte, ein einziges Gewerbe aus- 
zuüben. Er Elopfte bauptamtlih Steine, nahm aber aud die 
Gelegenheit wahr, einen vereinzelten Wanderer etwas zu er- 
leichtern. Aus diefer Mifhung von Straßenarbeiterfchaft und 
Diebsgewerbe war ein Ideal entftanden: er glaubte an die 
Schätze, die in dem Walde von Montfermeil vergraben fein 
follten. Mod immer Élammerte er fid an die Hoffnung, eines 
Zages am Fuße eines Baumes Geld zu finden. Zwifchendurd 
holte er fi) aus den Iafchen Borüberfommender einen Éleinen 
Vorſchuß. 

Zur Zeit war er ſehr vorſichtig. Eben war er mit knapper 
Not aus einer peinlichen Situation entronnen. Wie der Leſer 
ſich erinnert, hatte man ihn mit den anderen Banditen in Jon— 
drettes Stube aufgegriffen. Aber auch Laſter können zum Guten 
ausſchlagen — daß er ſinnlos betrunken geweſen, hatte ihn ge— 
rettet. Niemand wußte, ob er als Dieb oder als zu Beſtehlender 
in Jondrettes Wohnung gekommen war. Seine Trunkenheit 
war gerichtsnotoriſch, alſo ſetzte man ihn mangels jeglichen 
Schuldbeweiſes in Freiheit. So war er wieder in ſeinen Wald 
zurückgekehrt. Wie einſt beſorgte er die Straße von Gagny 
nach Lagny, etwas abgekühlt, nicht beſonders aufgelegt zu Diebs— 
unternehmungen, dafür aber um ſo feſter entſchloſſen, auch in 
Zukunft ſeinem Retter, dem Wein, getreu zu bleiben. 

Mas nun das ſeltſame Erlebnis betrifft, das der Straßen- 
arbeiter kurz nach feiner Rückkehr unter das Raſendach feiner 
Straßenorbeiterhütte hatte, fo beftand es in folgendem: 


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Eines Morgens begab fit Boulatruelle wie gewöhnlich zur 
Arbeit. Plößlih bemerfte er burd die Zweige hindurch einen 
Mann, von dem er nur den Mücken feben Eonnte, deffen Geftalt 
ihm aber trotz der Entfernung befannt erfhien. Obwohl Bou- 
lotruelle ein Trinker war, hatte er ein belles und fcharfes Ge- 
dächtnis, dag ja für einen Mann, der den Kampf mit der öffent- 
lihen Ordnung aufnimmt, eine unentbehrlihe Waffe ift. 

„Wo zum Teufel babe ich diefen Menfhen fchon geſehen?“ 

Er wußte Feine genaue Antwort, war aber überzeugt, daß 
biefer zum mindeften einem andern febr ähnlich war, deffen Bild 
fid) in feiner Erinnerung eingegraben hatte. 

Da er die Identität des Unbekannten nicht feftftellen Éonnte, 
begann er zu überlegen. Gewiß war diefer Mann nicht aus der 
Gegend. Er Fam von irgendwo, und zwar zu Fuß, denn um biefe 
Zeit Eommen feine Poftwagen durch Montfermeil. Er war die 
ganze Nacht lang gegangen. Von wo fam er? Nicht von febr 
weit, denn er trug Fein Bündel und Feinerlei Gepäd. Alfo wohl 
aus Paris. Was hatte er in diefem Walde zu fhaffen, und 
noch dazu um diefe Stunde? 

Boulatruelle dachte fofort an den Sas. Wenn er fein Ge- 
dächtnis wachrief, Éonnte er fich leicht erinnern, daß er fchon vor 
einigen Jahren hier in der Mähe einem ähnlichen Manne be- 
gegnet war, der ganz guf mit dem, den er jeßt vor Augen hatte, 
identisch fein konnte. 

Im Nachſinnen hatte er zu Boden geblict. Als er jekt auf- 
faute, war der Mann verfchwunden. 

„zum Teufel!” murrte Soulatruelle, „den muß ich wieder- 
finden! Mo der Kerl her ift, bas werden wir fon beraus- 
bringen. Diefer Spaziergänger gebt nicht ohne Grund hier auf 
und ab, und diefen Grund werde ich erfahren. In meinem Wald 
gibt e8 Feine Geheimniffe, in die ih mich nicht einmiſche.“ 

Er nahm feine Hade, deren Spitze Scharf gefhliffen war. 

Mit der Éann ich einen Mann ebenfogut wie das Straßen- | 
pflafter entzweifchlagen, dachte er. 

Er bemühte fih, dem Unbekannten nachzugehen. Mod war er 


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feine hundert Schritte gegangen, als e8 vollfommen bell wurde. 
Diefer Umftand war ihm günftig. Fußfpuren im Sande, nieder- 
getretenes Gras, gefnidte Zweige bezeichneten die Fährte des 
Unbefannten. Ihr zu folgen, war zeitraubend. Endlich tauchte 
er im Walde unter und gelangte auf einen Eleinen Hügel. ‘Pfei- 
fend marfchierte nicht unmeit von ibm ein Jäger vorbei. Diefe 
Beobachtung veranlaßte ibn, auf einen Baum zu fteigen. Er 
war alt, aber gelenfig. Boulatruelle Eletterte auf eine Buche, 
die ihm befonderg geeignet ſchien. 

Auch diefer Einfall bewährte fih. Als Boulatruelle in die 
Wildnis binabblidte, gemabrte er zum zweitenmal den Fremden. 
Er ging oder, beffer gefagt, er ſchlich auf eine ziemlic entfernte, 
von hohen Bäumen gut gegen Sicht gededte Lichtung zu, Die 
Boulatruelle nur zu gut Fannte. Er hatte an diefer Stelle neben 
einem Haufen von Mühlenfteinen einen Eranfen Kaftanienbaum 
gefehen, der eine Zinfplatte auf der Ninde trug. Jene Lichtung 
war in der Gegend unter dem Mamen „Lichtung Blaru“ 
befannt. 

In freudiger Haft ftieg DBoulatruelle von feinem DBaume 
herab, fo rafd, daß wir beffer fagen Eönnen, er ließ ſich berab- 
fallen. Er hatte den Bau aufgefpürt, nun mußte er aud no 
bas Wild finden. Aller MWahrfcheinlichfeit nah war der be- 
rühmte Schaß dort vergraben. 

Bis zur Lichtung Blaru war es reichlich weit. Auf dem aus- 
getretenen Pfad, der viele Ummege mat, brauchte man eine 
gute Viertelftunde. Ging man geradeswegs burd bas Geftrüpp, 
bag in diefer Gegend fehr dicht ift, fo Éonnte man nicht vor einer 
halben Stunde am Ziel fein. Es war unflug von Boulatruelle, 
diefen Umftand nicht in Nechnung zu ftellen. Er glaubte an die 
gerade Linie, verfiel alfo einer optifchen Täuſchung, die fo vielen 
Menihen teuer zu ftehen gefommen ift. 

Mollen wir einmal die Straße der Wölfe gehen, dachte er. 

Mit aller Entfchloffenheit ftürzte er fih in das Dickicht. Er- 
bittert Éämpfte er gegen Dornen, Stehpalmen, Brenneffein 
und Kardien. Bald war er vollfommen zerfchunden und zerfraßt. 


695 


In der Senfung ftieß er gar auf einen Wafferlauf, den er 
durchwaten mußte. 

Erft nad) vierzig Minuten erreichte er fehmweißtriefend, außer 
Atem, zerfhunden und wütend die Lichtung Blaru. 


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ANNE 
HN 


Miemand war da. 

Er eilte auf den Steinhaufen zu. Der war da. Niemand 
hatte ihn weggetragen. 

Der Fremde war im Walde verfhmwunden. Wohin? Na 
welcher Nichtung? Unmöglich, es zu erraten! 


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Am fhlimmften war, daß Voulatruelle hinter dem Stein- 
haufen, vor dem Baum mit der Zinfplatte, einen frifh auf- 
geworfenen Erdhügel fand, eine vergeflene oder weggemworfene 
Schaufel und ein Soc. 

Das Loc war Ieer. 

„Dieb! fbrie Boulatruelle und fehüttelte die Fäufte gegen 
den Horizont. 


2. Mad bem Bürgerfriegder Kriegim Haus 


Marius fchwebte lange Zeit zwifchen Tod und Leben. Wochen» 
lang füttelte ihn bas Wundfieber, und gewiſſe ernfte Symp- 
tome beufeten auf eine Derlekung des Gehirns, die nicht nur 
durch die außerlihen Wunden entftanden fein mochten. 

Nächtelang wiederholte er mit der Geſchwätzigkeit der Fie- 
bernden den Namen Cofettes. Und täglich ein- oder zweimal 
meldete fih in dem Haufe ein Herr mit weißen Haaren, der, wie 
der Pförtner meldete, fehr gut angezogen war, erfundigte fi) 
nad dem Befinden des Derwundeten und hinterließ ein großes 
Paket Scharpie. 

Endlih, nad vier Monaten, erflärte der Arzt, er Fônne jeht 
für die Rettung des Patienten bürgen. Die Genefung made 
fibtlihe Sortfohritte. Doch follte Marius noch zwei Monate auf 
der Cbaifelongue bleiben, um die vollftändige Ausheilung des 
Schlüffelbeinbruhs nicht zu ftören. In ſolchen Fällen gibt es 
immer eine Lette Wunde, die fih nicht fchließen will. Übrigens 
bewahrten ihn diefe lange Krankheit und Rekonvaleſzenz vor 
Verfolgungen. Der Franzofe ift nicht fähig, febs Monate lang 
zu zürnen. Überdies find, wie die Dinge nun einmal liegen, an 
allen Revolutionen fo weite Kreife beteiligt, daß man nach ihrer 
Überwindung gern, fo gut es geht, die Augen fchließt. Entfcei- 
dend war fchließlich die ungebeuerlihe Verordnung des Präfeften 
Gisquet, der den Ärzten die Pflicht auferlegte, Verwundete zu 
denungieren. Diefe Beftimmung erbitterte die Öffentlichkeit, und 
fogar der König erhob Einfpruh. Den Verwundeten Fam diefe 


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öffentlihe Stimmung zunutze. Wer nicht auf frifber Tat er- | 
fappt worden war, Éonnte fiber fein, von den Kriegsgerichten | 
unbebelligt zu bleiben. Man ließ aub Marius in Mube. {| 

Gillenormand hatte inzwifchen alle Angfte und alle Freuden I 


durchgemacht. Nur mit Mühe hatte man ibn hindern Eönnen, || 


die Nächte bei dem Verwundeten zuzubringen. Er ließ feinen | 


großen Lehnftuhl neben das Bett Marius’ tragen und verlangte, I 


daß feine Tochter die befte Wäfche, die man im Haufe hatte, zer | 
riß, um daraus Komprefien und Derbände zu machen. Als 
Fräulein Gillenormand einwandte, Batift eigne ſich weniger für | 


Scharpie als grobe Leinwand, und neue Leinwand weniger als M. 


gebrauchte, wollte er davon nichts hören. Sooft Marius ver: 
bunden wurde, fab er zu, und wenn der Arzt totes Fleifch weg- | 
ſchnitt, fhrie er felbft vor Schmerz auf. Es war rührend, zu | 
feben, wie biefer zitternde Greis dem Derwundeten die Arznei | 
reichte. Er beftürmte den Arzt mit Fragen und bemerfte felber | 
faum, daß es immer die gleichen waren. | 

Was Marius betrifft, fo ließ er fi) in aller Mube verbinden | 
und pflegen, ohne an etwas anderes als an Eofette zu denken. | 
Seit das Fieber gewichen war, hatte er ihren Namen nicht mehr | 
ausgefprochen. Er ſchwieg, aber er tat e8 nur, weil feine Seele | 
bei ihr weilte. | 

Was aus Cofette geworden war, wußte er nicht. Der Dor- M 
fall in der Rue de la Cbanvrerie lag wie eine Wolfe über 
feinem Gedächtnis. Ungewiffe Schatten tauchten auf und nieder, | 
Eponine, Gavroche, Mabeuf, Ihenardier — feine Freunde, | 
mitten im Pulverdampf auf der Barrifade das feltfame Auf- 
tauchen des Herrn Faucelevent; er begriff nicht, wie er mit ! 
feinem Leben davongefommen war, wie und von wen er gerettet ! 
worden, und niemand Eonnte e8 ihm fagen. Alles, was im Haufe | 
befannt war, beftand in der Mitteilung, eine Drofchfe fei eines | 
Nachts vorgefabren und babe ihn mitgebradt. Vergangenheit, 
Gegenwart und Zukunft mifchten fi in feinem Kopf zu einem | 
dunklen Wirrwarr. Doc gab es einen fiberen Punft, eine Ent- 
fhloffenbeit, einen Willen: Cofette, die er wiederfinden wollte. | 


698 





Daß er dabei Schwierigfeiten überwinden mußte, begriff er. 

Mir dürfen nicht verfehweigen, daß Marius fi) durd die 
Zärtlihfeiten feines Großvaters nur wenig rühren ließ. Zu- 
nächſt wußte er ja gar nicht, was für ihn geſchah; feinem fiebern- 
den Gehirn erfhien die Güte des Greifeg feltfam und bebenflid. 
Er blieb falt. Umfonft vergeudete der Greis fein armes Lächeln. 
Marius fagte fib, alles werde gut fein, folange er nicht ſpreche 
und alles mit fi geſchehen laffe; brädte er aber die Rede auf 
Eofette, fo würde die Miene des Alten fi beträchtlich ändern, 
der alte Iyrann fi bemasfieren. Es würde einen harten 
Kampf feten. Wieder würde der Familienftreit aufflammen, er, 
Marius, werde alle diefe Sarkasmen und bôbnifhen Einwände 
zu hören befommen, bas Gerede von Fauchelevent, Coupelevent, 
Geld, Armut, Elend, Stein um den Hals und Zukunft. Er 
durfte mit dem beftigften MWiderftand rechnen. Und Marius 
machte ſich darauf gefaßt. 

Sm Ausmaße, in dem er gefundete, empfand er wieder Bitter- 
feit gegen feinen Großvater. Der reis erduldete fie mit 
Sanftmut. 

Obne fih darüber zu äußern, hatte Gillenormand längſt be- 
merkt, daß Marius ihn niemals Water angeredet hatte. Er 
fagte ja nicht gerade Herr zu ibm, aber er fand immer einen 
Ausweg, beide Anreden zu vermeiden. 

Eine Krife ftand bevor. 

Schon begann Marius, wie bas in folhen Fällen üblid ift, 
Heine Vorpoftengefechte zu infjenieren. Er wollte dag Terrain 
fondieren. Eines Morgens gefhah es, daß Herr Gillenormand, 


der eben die Zeitung gelefen hatte, verächtlic über den Konvent 





fprad und Danton, Saint-Juſt und Mobespierre mit einem 
ropaliftifhen Schimpfwort apoftrophierte. 

‚Die Leute von 1793 waren Rieſen“, fagte Marius ftreng. 

Der Greis ſchwieg und war den ganzen Tag über nicht wie- 
der zum Reden zu bringen. 

Marius erinnerte fih der Hartnädigkeit feines Großvaters 
und glaubte in diefem Schweigen einen verhaltenen, um fo 


699 


fongentrierferen Zorn zu erfennen. Er abnte, daß der Kampf 
fürdterlich fein werde, und fammelte Waffen. 

Er beſchloß, falls der Alte ibn zurückweife, fein Schlüffelbein 
wieder zu zerfchmettern, die Verbände von feinen Wunden zu 
reißen und die Nahrung zu verweigern. Seine Wunden waren 
feine Waffen. 

Und mit der tüdifhen Geduld der Kranken erwartete er den 
günftigen Augenblick für den Kampf. 


3. Marius greifton 


Eines Tages ftand Gillenormand, während feine Tochter 
Phiolen und Zaffen auf der Marmorplatte der Kommode ord- 
nete, neben Marius und fagte freundlich: 

„Siehft du, lieber Éleiner Marius, ich würde an deiner Stelle 
lieber Sleifh ſtatt Fiſch eſſen. Für den Anfang der Mefon- 
valeſzenz mag ja eine gebratene Seezunge recht geeignet fein, aber 
wenn ein Mann wieder zu Kräften Fommen will, foll er lieber 
Kotelette eſſen.“ 

Marius, deffen Kräfte fon faft ganz zurückgekehrt waren, 
richtete fih auf, ftüßte feine beiden geballten Fäufte auf bas 
Bett, fab feinen Großvater todernft an und fagte: 

„Da fallt mir ein, daß ich dir bob etwas fagen muß.‘ 

„Was?“ 

„Ich will heiraten.“ 

„Das hatte ich erwartet“, fagte der Alte und lachte. 

„Wieſo erwartet?’ 

‚Sta, eben erwartet. Du follft fie haben, deine Kleine.’ 

Marius war vollfommen verblüfft und begann zu zittern. 

„Jaja,“ fuhr Gillenormand fort, ‚du folft deine hübſche 
Kleine haben. Sie kommt täglich hierher in Geftalt eines alten 
Herrn, der fih na deinem Befinden erfundigt. Seit du ver- 
wundet bift, befhäftigt fie fit nur mehr mit Weinen und 
Scharpiezupfen. Du fiehft, ih bin informiert. Sie wohnt Rue 
de l'Homme Arme Mo. 7. Alſo heiraten willft du? Gut, von 


700 








mir aus. Aber eins will id dir fagen, hier bift bu ordentlich 
hereingefprungen. Du haft dir gedacht: jeßt werde ich dem Alten, 
| biefer Mumie aus der Regentſchaftszeit, diefem alten Steiger, 
| meine Meinung fagen. Er hat fein Lotterleben Hinter fi, feine 
Liebfhaften, feine Grifetten und Cofetten; der bat das Frou- 
frou ausprobiert, hat den Frühling warm fein laffen, folange 
es ging; jest fol er fih daran erinnern! Kampf bis aufs 
Meffer! Nimm den Stier bei den Hörnern. So geht es unfer- 
einem, ich biete dir ein Kotelett an, und du verlangft eine Frau. 

Eine ſchöne Verwechſlung! Alfo du willft sanfen! Du weißt 
wohl nicht, daß ich ein alter Feigling bin! Jetzt ärgerft du dic. 
Den Alten dümmer zu finden als dich felbft, darauf warft du 
nicht gefaßt. Deine ganze Rede fällt ins Waffer, Herr Advofat 
| — es ift jammerfchade. est bleibft bu auf deiner Wut allein 
ſitzen. Ich tue, mas bu willft — ärgere dich! Ich babe mich er- 
Fundigt, denn id bin aud nicht auf den Kopf gefallen. Sie ift 
ein nettes, anftändiges Mädchen. Der Lanzenreiter bat natürlich 
gequaticht. Eine Menge Scharpie bat fie gezupft. Sie ift nett 
— und ganz in dich vernarrt. Ich hatte die Idee, fie eines Mor- 
gens hierher zu beftellen, wenn es dir erft beffer geht, aber bas 
fommt ja nur in Nomanen vor, daß plôslih junge Mädchen an 
den Betten von Derwundeten erfcheinen. Was follte die Tante 
davon denken? Mod dazu warft du die ganze Zeit faft nadt, 
mein Beſter. Trage nur Nicolette, die Éeinen Augenbli von 
deiner Seite gewichen ift, ob bas ein Anblick für eine anftändige 
Frau war. Und der Arzt? Mit jungen Mädchen heilt man das 
| Fieber nicht. Ma, ſprechen wir nicht weiter darüber, es ift ja 
erledigt. Da fiehft bu, was für ein Dieffchädel ich bin. Ich babe 
wohl gemerkt, daß du mich nicht leiden Eonnteft. Was fol ich 
nur fun, dachte ich, daß biefes dumme Geſchöpf anfängt, mich zu 
lieben? Ma, da fiel mir deine Eofette ein. Die werde ich ibm 
geben, dachte ich mir, dann wird er fon zu Verſtand Fommen. 
Du dachteft natürlich, der Alte würde zu fhreien und zu 
Ihimpfen anfangen — beileibe nein! Cofette: bravo! Verliebt? 
Mit Vergnügen! Nichts, mas mir lieber wäre! Belieben der 


701 


Herr, ſich nur möglichſt rafd zu verheiraten. Sei glücklich fo gut 
du kannſt!“ 

Der Greis begann zu fhluchzen. Er nahm Marius’ Kopf in 
die Hände, drückte ihn an fit — und jeßt weinten beide. 

„Vater!“ rief Marius. 

„Alſo du magft mich doch leiden?“ rief der Alte. 

Beide fonnten nicht ſprechen. Schließlich ftammelte der Greis: 

„Jetzt ift alles gut, er hat Vater zu mir gejagt.” 

Marius fagte fanft: 

nBater, ich fühle mich jet wohl, mir fcheint, ich könnte fie 
wiederſehen.“ 

„Das iſt ſchon geplant. Morgen.“ 

„Warum nicht heute?“ 

„Gut, heute. Du haſt Vater zu mir geſagt, das verdient eine 
Belohnung, ich werde es ſchon ſo richten. Mag man ſie holen. 
Dieſe Geſchichte iſt nicht neu, ſogar in Verſen iſt ſie ſchon ein— 
mal geſchrieben worden. In der Elegie vom ‚jungen Kranken‘ 
von Andre Chénier — von diefem André Chenier, der von den 
Schur..., wollte fagen von dem Rieſen von 1793... alfo, 
der ermordet...” 

Gillenormand glaubte zu bemerken, daß Marius leicht die 
Stirn runzelte. Das war ein Irrtum, denn der junge Mann 
dachte in diefem Augenblick überhaupt nicht an 1793. Der Groß- 
vater aber, der jeßt volllommen die Saffung verloren hatte, fuhr 
fort: 

nDas heißt, ermordet ift ja nicht bas richtige Wort. Tatſache 
ift nur, daß die genialen Führer der Mevolutionäre, die ja Gott 
bewahre Feine fchlechten Leute waren, fondern natürlich Helden, 
daß die e8 alfo unangenehm empfanden, André Chenier in ihrer 
Mitte zu feben, und darum Tießen fie ibn ein bißchen guill.. ., 
wollte fagen, im Yntereffle des öffentlihen Wohle haben biefe 
großen Männer am 7. Ihermidor André Chenier erfucht, ein 
flein wenig zu...” 

Gillenormand erftidte an feiner eigenen Rede. Er Fonnte fie 
weder binunterfhluden noch herausbringen. Mit einer Gefhwin- 


702, 








digkeit, die burdaus nicht feinem Alter angemeflen war, ftürzfe 
er aus dem Zimmer, warf die Tür hinter fich zu, eilte, puterrot 
vor Wut, mit bervorquellenden Augen die Treppe hinunter und 
ftand plößlich dem braven DBasfe gegenüber, der im Vorzimmer 
die Stiefel pußte. Er padte ibn am Kragen und fchrie außer 
ſich: 

„Hunderttauſendkreuzteufel, dieſe Schufte haben ihn um— 
bringen laſſen!“ 

„Wen?“ fragte Baske tief erſchrocken. 

„Andre Cheénier.“ 

„Allerdings, gnädiger Herr“, beſtätigte Baske faſſungslos. 


4. Mademoiſelle Gillenormand trôftet fic 
Darüber, daß Herr Fauchelevent bei ſeinem 
Beſuch etwas unter dem Arm trägt 


So ſahen ſich Coſette und Marius wieder. 

Wir müſſen darauf verzichten, dieſe Begegnung zu beſchreiben. 
Es gibt Dinge, die ſich der Schilderung entziehen. 

Mit Coſette war ein Mann gekommen, ein Greis mit weißen 
Haaren und ernſten Zügen. Das war Herr Fauchelevent: Jean 
Valjean. | 

Er war febr gut angezogen, wie der Pförtner fon bemertt 
hatte, trug einen neuen, fchwarzen Anzug und ein weißes 
Halstuch. 

In Marius' Zimmer blieb er beſcheiden an der Tür ſtehen. 
Unter dem Arm trug er einen Gegenſtand, der wie ein in Papier 
eingeſchlagenes Buch in Oktavformat ausſah. 

„Hat der Herr immer ſolche Bücher unter dem Arm?“ fragte 
Fräulein Gillenormand leiſe Micolette, denn fie konnte Bücher 
nicht leiden. 

„Mein Gott,“ meinte ebenſo leiſe Gillenormand, der fie ge- 
hört hatte, „er iſt eben irgendein Privatgelehrter. Iſt das ein 
Fehler? Boulard, den ich noch gekannt habe, ging nie ohne ein 
Buch aus, immer drückte er ſo eine Schwarte an das Herz.“ 


703 


Dann begrüßte er mit Rete Stimme den Gaft. 

„Herr Tranchelevent .. 

Gillenormand änderte SA Namen nit abſichtlich, aber die 
Unaufmerkjamfeit gegen Eigennamen war eine feiner ariftofra- 
tifhen Neigungen. 

„Herr Tranchelevent,“ fagte er, ‚ih babe die Ehre, Sie für 
meinen Enkel, den Baron Marius Pontmercy, um die Hand | 
von Mademoifelle zu bitten.” | 

Herr Tranchelevent verneigte fic. 

„Abgemacht“, erflärte der Großvater. Dann wandte er fi 
zu Marius und Cofette: 

„Ihr dürft euch anbeten.“ 

Sie ließen fid das nicht nod einmal fagen. Sofort begannen 
fie zu plaudern. Marius hatte fi auf feinen Ellbogen geftüßt. 
Cofette ftand. 

„Mein Gott, murmelte fie, „alſo fehe ich Sie wieder! Bift 
du es wirklich? Va, Sie find es. Sich auf eine folhe Sache ein- 
lafien! Warum nur? Vier Monate lang war ich wie tot. Wie 
Ihleht von Ihnen, an diefem Kampf teilzunehmen! Was babe 
ih Ihnen nur getan? ch bin nicht böfe, aber Sie dürfen bas 
nicht mehr fun. Als man nad uns fhidte, war ich fo fraurig! 
Und dann, in meiner Freude, hatte ich gar nicht Zeit, mid) an- 
zuziehen. Was follen Ihre Verwandten nur von mir denfen, 
daß ich mit einer ganz zerfnitterten Salsfraufe hierhergelaufen 
fomme! Aber fprehen Sie doh! Sie laffen mich ja ganz allein 
reden. Wir wohnen nod immer in der Mue de l'Homme Arme. 
Das mit Shrer Schulter war ja fhretlib! Man bat mir er- 
zählt, daß die Wunde groß genug war, um eine Fauft binein- 
zuftefen. Mit der Schere hat man das Fleiſch herausgefchnitten. 
Die Augen babe id mir ausgeweint. Ihr Großvater fheint febr 
gut zu fein. Aber ftüsen Sie ſich doc nicht fo auf den Ellbogen, 
Sie werden fit anftrengen. Ich bin ganz dumm vor Freude. 
Sch wollte Ihnen eine Menge Dinge fagen, aber jest babe ich 
alles vergeffen. Wir wohnen nod in der Rue de P Homme Arme. 
Aber wir haben Feinen Garten dort. Die ganze Zeit über habe 


194 








id Scharpie gezupft. Sehen Sie nur, meine Finger find ganz 
zerfhunden. Das ift Ihre Schuld.” 

Die beiden fühlten fih durch die Anweſenheit der andern ge- 
ftört. Sie fhwiegen jeßt und begnügten fi), einander an der 
Hand zu halten. Gillenormand wandte fih um und rief laut: 

„Sprecht bob laut, Leute, quatft! Macht Lärm, zum 
Teufel!“ 

Tante Gillenormand betrachtete dieſes Licht, das plötzlich in 


ihrem Haufe aufgegangen war, betroffen. Sie war nicht kriege— 


rich geftimmt, ihre Blicke waren weder empört noch neidiſch; 


| die arme, fiebenundfünfzigjährige Unfchuld, biefes verfäumte 
| Leben, betrachtete erftaunt den Triumph der Liebe. 


„Wie hübſch fie ift”‘, fagte Gillenormand. „Du haft Glüd, 


| Sunge, daß id nicht fünfzehn Jahre jünger bin, fonft Fönnteft 


du ein Duell mit mir risfieren. Ich bin ganz und gar verliebt 


in Sie, Fräulein. Das ift nur recht fo, bas gebührt Ihnen. 
Werden wir aber eine hübfche Hochzeit befommen! Wir gehören 
zur Pfarrei Saint-Denis du Saint-Sacrement, aber ich werde 


eine Dispens verlangen, damit ihr in Saint-Paul heiraten 


könnt. Saint-Paul ift hübſcher. Wahrfcheinlich, weil die Vefuiten 
Les gebaut haben. Das Glanzftück jefuitifcher Architektur ift aller- 
dings in Namur, es heißt Saint-Loup. Wenn ihr verheiratet 
ſeid, müßt ihr hinfahren. Es lohnt die Reiſe. Ich bin durchaus 
auf Ihrer Seite, Fräulein, meiner Meinung nad follen die 
ı Mädchen heiraten. Die heilige Katherine mag von mir aus 
zum Zeufel gehen. Jungfrau bleiben mag fchön fein, aber es ift 
| ein Ealteg Vergnügen. Yn der Liebe heißt es auch: mehret euch. 


Seanne d'Arc kann das Dolf retten, aber damit es erft ein 


Volk gibt, muß anders verfahren werden. Ich weiß wirklich 
nicht, wozu man Jungfrau bleiben ſollte? Man bekommt zwar 
einen Ehrenſitz in der Kirche, aber weiß Gott, ein hübſcher 


junger Kerl und nad Yabresfrift ein blonder unge — das ift 
mir lieber als eine Kerze halten und Turris Eburnea fingen.” 
est wandte er fih auf den Ferfen um. 
nÜbrigens . . 


45 Hugo, Die Elenden. 705 


„Was denn, Vater?’ 

„Hatteſt du nicht irgendeinen intimen Freund?‘ 

„Ja, Courfeyrac.“ 

„Was iſt denn aus ihm geworden?“ 

„Er iſt tot.“ 

„Auch gut.“ 

Er ſetzte ſich zwiſchen die beiden, hieß Coſette Platz nehmen 
und nahm ihre vier Hände in die ſeinen. 

„Entzückend iſt ſie, die Kleine! Ein ſehr kleines Mädchen und 
eine ſehr große Dame. Schade, daß ſie nur Baronin wird, es 
hätte für eine Marquiſe gereicht. Was fie für hübſche Wimpern 
bat! Die Liebe, Kinder, ift die Dummheit der Menfchen und 
der Witz Gottes. Leider” — feine Miene verdüfterte fi — 
„ah, wenn ich nur daran denke! Die Hälfte meines Vermögens 
beftebt aus Leibrenten. Solang’ ich lebe... gut, aber wenn id 
einmal tot bin, in zwanzig fahren oder fo, arme Kinder, dann 
habt ihr feinen Sou! Sie werden es nicht leicht haben, Frau 
Baronin.“ 

Jetzt ſagt eine ernſte, ruhige Stimme: 

„Mademoiſelle Euphraſie Fauchelevent beſitzt ſechshundert— 
tauſend Franken.“ 

Sean Valjean hatte bisher Fein Wort geſprochen. Man hatte 
faft vergeflen, daß er da war. 

‚Ber ift denn diefes Fräulein Euphrafie?” fragte der Groß- 
vater erftaunt. 

„Ich“, antwortete Cofette. 

„Sehshunderttaufend Franken!’ 

„Es gehen nur vierzehn- oder fünfzehntaufend Franfen ab“, 
fügte Sean DBaljean Hinzu. Dann Iegte er das Paket, das 
Sante Gillenormand für ein Buch gehalten hatte, auf den Tiſch. 
Er madte es felbft auf. Es enthielt ein Bündel Scheine. Man 
zählte fie und fand fünfhundert Moten zu taufend Sranfen und 
hundertachtundfechzig zu fünfhundert. 

Das nenne ich ein gefcheites Buch“, erflärte Gillenormand 


706 



















„Immerhin fünfhundertvierundachtzigtaufend Franken“, ftam- 
melte die Iante. 

„Das heißt die Dinge auf die Beine bringen, nicht wahr, 
Fräulein Gillenormand“, rief der Großvater. „Hat diefer Teu- 
felsferl, der immer den Baum der Träume fchüttelt, eine Éleine 
Millionärin gefangen! Da fol einer fih noch auf die jungen 
Leute verlaffen! So ein Student findet eine Studentin mit 
fehshunderttaufend Franken! Der Schußengel macht es beffer 
als Rothſchild.“ 

„Sünfhundertvierundachtzigtaufend Franken,‘ wiederholte 
Fräulein Gillenormand, ‚da kann man ja gleich fagen: jeche- 
hunderttaufend Franken!‘ 

Marius und Coſette hatten einander inzwifchen fehweigend 
angefeben; fon achteten fie nicht mehr auf die andern. 


5. Beffer man verbirgt fein Geld im Walde 
als beim Motar 


Der Lefer bat ohne Zweifel begriffen, daß Sean Valjean 
nah dem Prozeß Champmathieu nur entfprungen war, um 
nad Paris zu eilen und die Summe bei Lafitte abzuheben, die 
er unter dem Nomen Madeleine in Montreuil fur Mer erwor- 
ben hatte. Da er fürchtete, wieder gefangen zu werden — was 
ihm ja in der Tat kurz nachher widerfuhr — , hatte er dag Geld 
im Walde von Montfermeil, auf der Lichtung Dlaru, vergraben. 

So war der Mann, den Boulatruelle eines Abends beobad)- 
tete, in der Tat Sean Daljean. Später pflegte er immer nad) 
Montfermeil zu Éommen, wenn er Geld braudte. Sp waren 
die Meifen zu erflären, von denen wir bereits berichtet hatten. 
As er fab, daß Marius genas, glaubte er den Augenblick nahe, 
da diefes Geld von Mugen fein Eonnte; wieder war er von 
Boulatruelle bemerft worden. Der Straßenarbeiter erbeutete 
die Schaufel. 

Der Schatz belief fi in der Tat auf fünfhundertvierund- 
achtzigtaufend und fünfhundert Franken. Bei Lafitte hatte Jean 


FE 707 


Valjean jehshundertdreißigtaufend abgehoben. Die Differenz 
war in den Sjahren 1823 bis 1833 verbraucht worden. Die 
Klofterjahre hatten nur fünftaufend Franken gefoftet. 

Übrigens wußte Sean Valjean, daß er Vavert nicht mehr zu 
fürdten hatte. Der Moniteur hatte berichtet, daß der Polizei- 
infpeftor Javert zwifchen dem Pont-au-Change und dem Pont- 
Meuf ertrunfen aus dem Waffer gezogen worden fei. Ein 
Shriftftüd, bas der Beamte, der übrigens untadelig und bei 
jeinen Vorgeſetzten hochangefehen gewefen, binterlaffen hatte, 
Tieß darauf fchließen, daß man e8 mit einem Selbfimord in einer 
plößlichen Anwandlung von Wahnſinn zu tun hatte. 

Allerdings, dachte Sean Valjean, als er mich freiließ, war er 
offenbar fon Éranf. 


6. Die beiden Alten tun alles, um Cofette 
glüdiid zu madhen 


Alles wurde für die Hochzeit vorbereitet. Der Arzt wurde be- | 
fragt und erflärte, fie Fönne im Februar ftattfinden. Man fans | 
im Dezember. | 

Der Glücklichſte von allen war der Großvater. Dft verbradte | 
er eine ganze DViertelftunde damit, Coſette anzufchanen. 

Sean Valjean feinerfeits tat alles, um gewifle Hinderniffe | 
hinwegzuräumen, und Erleichterungen zu faffen. | 

Da er Bürgermeifter gewefen war, wußte er die heikle Auf- | 
gabe zu Iöfen, für Coſette einen Zivilftend zu befchaffen. Sollte | 
er ihre Herfunft preisgeben? Das konnte diefe Heirat vereiteln. | 
Alfo erfand er eine ausgeftorbene Familie — bas fiherfte Mit- | 
tel, um allen Schwierigfeiten vorzubeugen. Eofette, die einzig | 
Überlebende, war nicht feine Tochter, fondern die eines andern | 
Sauchelevent. Sehr einfach: zwei Brüder Faucelevent waren | 
im Klofter Petit-Piepus Gärtner gemefen. Man mochte dort | 
Erfundigungen einziehen. Selbftverftändlich erhielt man die | 
denfbar befte Auskunft. Die waderen Nonnen, die übrigens für | 
Probleme der Baterfhaft Fein befonderes Derftändnis hatten, | 


708 












hatten fi niemals darum gekümmert, welcher von den beiden 
Fauchelevent der Vater Cofettes war. Dereitwillig fagten fie 
aus, was man wollte. So wurde ein Üdentitätsprotofoll auf- 
geſetzt, Coſette wurde vor dem Gefes Fräulein Euphrafie Fauche- 
event, Doppelwaife. Jean Baljean richtete es fo ein, daß er 
unter dem Namen Sauchelevent zugleich als ihr Vormund an- 
erfannt wurde. 

Mas die fünfhundertvierundadhtzigtaufend Franken betrifft, 
| fo entdedfte er, daß fie ein Legat eines Mannes waren, der un- 
befannt bleiben wollte. Ursprünglich follte es aus fünfhundert- 
vierundneunzigtaufend Sranfen beftanden haben, von denen aber 
zehntaufend für Fräulein Euphrafies Erziehung verausgabt 
| worden waren. Die ganze Sache ermangelte nicht des Abfonder- 
lichen, aber die eine Partei hatte Amors Binde um die Augen 
und die andere war geblendet von den fehshunderttaufend 
Sranfen. 

Cofette erfuhr fblieflih, daß fie nicht die Tochter des Man- 
nes war, ben fie fo lange Vater genannt hatte. Zu einer anderen 
Zeit wäre fie untröftlich gewefen, jest aber war fie fo glücklich, 
daß der Kummer fie nur leicht berübrte. Die Jugend trat in ihr 
Recht, der Alte mußte abtreten. So ift dag Leben. 
|| Überdies war Eofette feit langem daran gewöhnt, fit von 
Rätſeln umgeben zu feben. Menfchen, deren Kindheit geheimnis- 
voll ift, gewöhnen fi) daran, raſch mit veränderten Situationen 

zu rechnen. 

Doch behielt fie ihre Gewohnheit bei, Sean DBaljean Water 
zu nennen. 

Es wurde verabredet, daB das Paar beim Großvater wohnen 
follte. Gillenormand beftand darauf, fein eigenes Schlafzimmer, 
den fhônften Raum im Haufe, abzutreten. 

„Ich werde dadurch jünger’, fagte er. „Es ift ein alter Plan 
von mir. Immer wollte ich, daB in meinem Zimmer Hochzeit 
gefeiert wird.’ 














109 


7. Glück und Erinnerung 


Dft date Marius insgebeim über diefen Herrn Faucelevent | 
nach, der fih immer wohlwollend und Falt zeigte. Manchmal | 


zweifelte er an feinen eigenen Erinnerungen. Es gab da eine 
Lücke, eine dunfle Stelle: vier Monate des Todesfampfes. Viel 
war verlorengegangen. Sekt fragte er fich oft, ob diefer Fauche— 


levent, diefer ernfte und ruhige Menfch, wirklich auf der Darriz | 


fade geftanden hatte, 
Abgefehen von diefem Problem, gab e8 noch andere, die ibn 
nicht ruhen ließen. Geftalten tauchten auf und verfanfen wieder, 


ohne daß er recht begriff. Bald fab er Mabeuf fallen, hörte) 


Gavrode im Kugelregen fingen, fühlte Eponines Falte Stirn 
auf feinen Tippen; dann fab er Œnjolras, Courfeyrac, Combe- 
ferre, Sean Prouvaire, Boſſuet, Grantaire, alle feine Freunde; 
fie tauchten vor feiner Erinnerung auf und verfehwanden wieder. 
Maren alle diefe teuren, fapferen Seelen nur Ausgeburten 


feines Traumes? Hatten fie jemals gelebt? Der ganze Kampf | 
auf der Barrifade verfanf in feinem Bergeffen wie im Pulver-) 
dampf. Waren wirklich alle diefe Männer geftorben? Ein ein-) 
ziger Sturz hatte fie fortgeriffen und nur ihn verfchont. Es war, | 
als ob eine ganze Welt hinter einem Tbeatervorbang verſchwun⸗ 


den wäre. 


Und war aud Sauchelevent einer von ihnen? Marius zögerte, | 
wenn er den reis fo ernft und ruhig neben Cofette fisen ſah, 


ihn für einen der Barrifadenfämpfer zu halten. Vielleicht hatte 
bas Delirium ibm diefes Bild nur vorgegaufelt. Übrigens waren 


beide Männer von Matur aus zurückhaltend. Marius brachte‘ 


Feine Frage über die Lippen. 


Daß zwei Menfchen ein gemeinfames Geheimnis haben und 


vermöge einer ftillfehweigenden Übereinkunft Fein Wort darüber 
verlieren, ift vielleicht weniger felten als man glauben mödte. 


Einmal nur verfuhte Marius, einen Anhaltspunkt zu finden.! 


Zufällig Fam bas Gefpräh auf die Rue de la Chanvrerie. Er 
wandte fih nach Sauchelevent um und fagte: 


710 


| 
| 








„Kennen Sie diefe Straße?’ 

„Welche?“ 

„Die Rue de la Chanvorerie.“ 

„seine Ahnung‘, antwortete Fauchelevent vollfommen un- 
befangen. 

Diefe Antwort fhien Marius entfheidender als fie war. 

„Ich babe geträumt”, badte er. „Es war eine Halluzination. 
DBielleiht einer, der ibm ähnlich war. Fauchelevent ift nicht 
dabeigeweſen.“ 


8. Zwei Unauffindbare 


Aber fo glücklich Marius auch war, einige Gedanken ließen 
ſich nicht aus ſeinem Geiſt verdrängen. Während die Vorberei— 
tungen zur Hochzeit getroffen wurden, ſtellte er mit größter 
Sorgfalt Nachforſchungen an. Denn er hatte Dank abzuſtatten 
— Dank für ſeinen Vater und für ſich. 

Da war Theénardier, und da war jener Unbekannte, der ibn 
zu Gillenormand gebracht hatte. 

Marius wollte unbedingt beide wieder ausfindig macen, 
denn der Gedanfe war ibm ſchmerzlich, daß er felbft beirate und 
glücklich fei, feine Schulden aber unbezablt laffe. Es war ihm 
unmöglich, eine Vergangenheit der Leiden hinter fih zu laffen 
und ohne Löfegeld in eine glückliche Zukunft einzutreten. 

Das Thénardier ein Schuft war, befagte nichts dagegen, daß 
er den Oberft Pontmerey gerettet hatte. Für alle Welt war er 
ein Bandit, für Marius nicht. 

Aber es gelang keinem der Leute, die Marius beauftragt 

hatte, Thénardiers Spur wieder aufzufinden. Er war wie vom 
Erdboden verfhwunden. Die Thenardier war, während der Pro- 
zeß vorbereitet wurde, im Gefängnis geftorben. So blieben nur 
Thénardier und feine Tochter Azelma übrig, und beide waren 
im Schatten untergetaucht. An der Oberfläche Éonnte man nicht 
einmal jene Éongentrifen Kreife bemerken, die fonft verraten, 
wo etwas in den Tümpel der Ungewißheit gefallen ift. 


711 


Die Ihenardier war tot, Boulatruelle hatte man entlaffen, | 
Elaquefous war verfhwunden. Die Sauptangeflagten waren | 
entfprungen; fo war der Prozeß wegen des Überfalls im Gor- | 
beaufhen Haufe recht unergiebig geworden. Das Dunfel blieb | 
ungelüftet. Die Affifen mußten fih begnügen, zwei Selfers- | 
belfer, Panchaud, der Digrenaille genannt wurde, und Demi- | 
Liard, der ſich Deur-Milliards nennen ließ, zu je zehn Sahren ! 
zu verurteilen. Gegen die Entfprungenen wurde in contumaciam | 
auf lebenslängliche Haft befunden. Ihenardier als Anführer war, | 
ebenfalls in contumaciam, zum Tode verurteilt worden. Das | 
war bas einzige, was über Thenardier zu melden war, nachdem | 
er felbft fid) dem Zugriff feiner Verfolger entzogen hatte. 

Was die Nahforfhungen nad dem Unbekannten betrifft, der | 
Marius gerettet hatte, fo fbienen fie zuerft ergiebiger, gerieten | 
aber bald auf einen toten Punkt. Der Drofıhfenfutfcher wurde | 
ausfindig gemadt, der Marius am Abend des 6. Vuni in die 
Nue des Filles-du-Calvaire gefahren hatte. Er erflärte, daß er 
am 6. uni von einem Polizeiagenten in Dienft genommen 
worden fei, und von drei Uhr nachmittags bis ein Uhr nabts | 
am Quai des Champs-Elyfees gewartet habe, unweit des Aus- | 
gangs der Sammelflonfe; gegen neun Uhr abends fei bas Gitter 
der Rloafe geöffnet worden, und ein Mann fei herausgefommen, 
der auf feinen Schultern einen andern, der wie tot ausfah, frug; | 
dann babe der Polizeiagent den Lebenden verhaftet und ben 
Zoten in Sefblag genommen. Der Kutfcher babe fie alle in 
feiner Drofhfe nah der Rue des Filles-du-Calvaire gebradt. | 
Hier fei der Iote berausgefhafft worden — eben derfelbe Ma- 
rius, den der Kutfcher fofort wiedererfannte, obwohl er „dies— 
mal’ lebend war; dann feien die beiden anderen wieder in den | 
Wagen geftiegen und in aller Haft zur Porte des Archives ge- | 
fahren. Da babe man ihn halten laffen, babe ihn bezahlt, und | 
der Polizift fei mit dem andern verfhwunden. Mehr wiffe er, | 
der Kutſcher, nicht, zumal jene Nacht fehr finfter war. | 

So mußte Marius fih auf vage Vermutungen befbränfen. | 

An feiner eigenen Identität Fonnte er wohl nicht zweifeln. | 


712 























| Mie aber war e8 möglich, daß er in der Rue de [a Chanvrerie 
| gefallen und am Seineufer von einem Poliziften aufgefunden 
worden war? Alfo hatte ihn jemand von der Markthalle bis zu 
den Champs-Elyſées gefchleppt. Und wie? Durch die Klonfen. 

Mer hatte dag getan? 

Nicht die leifefte Spur feines Metters war aufsufinden. 

Marius ging fogar fo weit, die nötige Vorſicht außer acht zu 
laffen und die Präfektur an feinen Nachforſchungen zu inter- 
| effieren. Aber aud von diefer Seite Fam Feine Aufflärung. Die 
Polizei wußte weniger als jener Kutfcher. Über eine Verhaftung, 
die am 6. uni vor dem Ausgang der Sammelfloafe ftatt- 
gefunden haben follte, war nichts befannt. Es Iag darüber Fein 
Bericht eines Agenten vor, und daher wurde der Vorfall in bas 
Bereich der Fabeln verwiefen. Ein Kutfcher, der es auf ein 
Irinfgeld abgefehen hatte, war, meinten die Poliziften, fogar der 
Pphantaſie fähig. 
Alles an diefem feltfamen Nätfel war unerflärlich. 


Viertes Buch 
Die Nacht des 16. Februar 1833 


1. Borber 


Die Naht vom 16. zum 17. Februar 1833 war eine ge- 
fegnete. Über ihrem Dunkel ftand der Himmel offen. Denn 
diefe Nacht war die Hochzeitsnaht Marius’ und Cofettes. 

Die Mode von 1833 wollte die Heiraten nod anders als 
heute. Sranfreid hatte damals noch nicht von den Engländern 
die feine Sitte entliehen, gleich nad dem Serausfommen aus 
der Kirche mit feiner Frau davonzulaufen, fein Glück ſchamhaft 
zu verbergen und dag Entzücen des Hohen Liedes mit den Al- 
lüren eines Banfrotteurg zu verquiden. In der zweiten Hälfte des 
19. Sahrhunderts, alfo in unferer Zeit, begnügt man fih nicht 
mehr mit dem Bürgermeifter und feiner Schärpe, mit dem 

Driefter in feinem Meßgewand, mit dem Gefek und Gott; jeßt 


719 


ift der Poftillion von Lonjumeau zur Hauptfigur geworden, die 
blaue ade mit den roten Auffchlägen, die grüne Lederhofe; 
jest gehören Flüche über normannifhe Pferde, Peitfehe und 
Stulpenftiefel zum Mequifit des Hochzeitsglücks. Mob treibt 
Sranfreic die Eleganz nicht fo weit wie die britifhe Mobility, 
die den Wagen der Meuvermählten mit alten Pantoffeln und 
fhiefgetretenen Schuhen bombardiert, zur Erinnerung an jenen 
Cburbill, der fpäter Marlborough wurde und der an feinem 
Hochzeitstag von feiner wütenden Tante fo begrüßt wurde. Diefe 
Schuhe und Pantoffel follen ibm Glück gebraht haben, und feit- 
her gehören fie unweigerlich zu einem vornehmen Hochzeitsfeft 
bei den Engländern; aber Geduld, der gute Gefchmad kommt von 
den Inſeln zu uns herüber, bald werden auch wir fo weit fein. 

1833 feierte man die Hochzeiten noch nicht im Galopp. Man 
fand es nicht fhamlos, das Feft im eigenen Haufe zu begeben. 

Und fo wurde aud die Hochzeit Marius’ und Cofettes im 
Haufe Gillenormands gefeiert. 

Am Abend zuvor übergab Sean Daljean Marius in Gegen- 
wart Herrn Gillenormandg die fünfhundertvierundachtzigtaufend 
Sranfen. Du Gütergemeinfchaft verabredet morden war, ergaben 
fi) Feine fchwierigen Formalitäten. Sean Daljean bedurfte in 
Hinkunft der Dienfte Touffaints nicht mehr. Cofette hatte fie 
geerbt und zur Kammerfrau ernannt. 

Auch für Sean Valjean wurde im Haufe Gillenormands ein 
ſchönes Zimmer bereitgeftellt, und Cofette hatte ihn gebeten: 
„Vater, ich bitte dich darum’, fo daß er endlich barein gewilligt 
hatte, bei ihr zu wohnen. 

Einige Tage vor der Hochzeit hatte Sean Daljean einen Un- 
fall; dabei verleßte er fi am Daumen der rechten Hand. Die 
Sache war nicht bedenflich, er hatte nicht erlaubt, daß irgend 
jemand fi damit befchäftige, nicht einmal Coſette. Doc hatte er 
die Hand mit Leinwand ummiceln müffen und trug den Arm in 
der Binde, was ihn verhinderte zu fehreiben. So war Gille- 
normand gezwungen, an Valjeans Stelle als Vormund Cofettes 
aufzutreten. 


714 





Cofette fab auf dem Standesamt und in der Kirche ftrahlend 
und rührend zugleich aus. Touffaint hatte fie mit Hilfe Nico— 
lettes angezogen. 

Sie trug ein weißes Taftunterfleid, darüber eine Robe aus 
Cbiffon, ein Perlenkollier und einen Brautkranz aus Orangen- 
blüten. Die weiße Farbe ließ fie wie eine Lichtgeftalt erfcheinen. 

Der Großvater, der ftols und bocherbobenen Hauptes einher- 
fhritt und in feiner Kleidung und feinem Gehaben die ganze 
Eleganz vergangener Zeiten repräfentierte, war DBrautführer. 
Er vertrat Jean Baljean, der wegen feines verbundenen Armes 
Cofette nicht den Arm bieten Eonnte. 

Sean Valjean, ganz in Schwarz gekleidet, folgte den beiden 
lächelnd. 

Die beiden jungen Leute ſtrahlten. Jetzt erlebten ſie dieſen 
einmaligen, niemals wiederkehrenden Augenblick, den Kreu— 
zungspunkt der Jugend und der Freude. Sie waren zuſammen 
kaum vierzig Jahre alt. In ihrer Heirat war etwas Erhabenes: 
dieſe beiden jungen Menſchen waren Lilien. Sie ſahen einander 
nicht, ſie ſtaunten einander an. Coſette ſah Marius in einem 
Glorienſchein, und für Marius ſtand Coſette auf einem Altar. 
Und auf dem Grund dieſer beiden Apotheoſen wartete, dunkel 
und ungewiß in Coſette, glühend in Marius, die Sehnſucht nach 
dem Brautgemach. 

Solche Tage ſind eine unbeſchreibliche Miſchung aus Gewiß— 
heit und Träumerei. Man beſitzt bereits und iſt doch noch in 
Erwartung. Noch hat man Zeit vor ſich, um das letzte zu er— 
raten. Man genießt den Mittag und träumt zugleich von der 
Mitternacht. Das Entzücken dieſer beiden Herzen ſtrömte über 
auf die Menge und ſtimmte die Vorüberkommenden glücklicher. 

In der Rue Saint-Antoine blieben die Leute vor Saint- 
Paul ftehen, um durch die Glastüre des Wagens die Drangen- 
blüten auf Eofettes Kopf zittern zu fehen. 

Dann Éebrte die Gefellfhaft nad der Rue des Filles-nu-Eal- 
vaire zurüd. Strahlend und beglüdt ftieg Marius an der Seite 
Cofettes die Treppe binan, die man ibn einit als Sterbender 


715 


binaufgetragen hatte. Die Armen, die fi vor dem Tore bräng- | 
ten und Almofen empfingen, fegneten das Paar. Überall waren | 
Dlumen. Das Haus duftete nicht weniger als die Kirche; nad) | 
dem Weihraud traten die Mofen in ihr Med. | 

Plötzlich fhlug die Uhr. Marius blidte auf Eofettes reizen- | 
den, entblößten Arm, und fein Blick ftreifte die DBrüfte, die | 
dur die Spiken des Mieders rofig fhimmerten; Cofette ge- | 
wahrte Marius’ Blick und errötete bis zum Weiß der Augen. | 

Eine Menge alter Freunde der Familie Gillenormand war | 
eingeladen worden. Man umbrängte Cofette, beeilte fi, fie als | 
Baronin zu begrüßen. | 

Théodule Gillenormand, der inzwifhen zum Hauptmann | 
avanciert war, Fam aus Chartres, wo er in Garnifon ftand, um 
der Hochzeit feines Vetters Pontmercy beizuwohnen. Cofette er- | 
fannte ihn nicht. Und er, von jeher gewöhnt, daß alle Frauen 
ihn febr hübſch fänden, erinnerte fi) Cofettes nicht mehr als 
einer anderen. 

„Wie vecht ich doch hatte, nicht auf bas Geſchwätz biefes Ra- | 
valleriften zu hören”, date Vater Gillenormand. | 

Eofette war nie zärtliher zu jean Valjean gewefen als an 
biefem Tage. Das Glüc will, daß alle Welt glüdlich fei. Wenn 
fie mit ihm [prad, fand fie den Zonfall wieder, in dem fie als 
fleines Kind geredet hatte. Sie ftreichelte ihn mit einem Lächeln. | 

Sean Daljean hatte fih im Salon auf einen Stuhl hinter 
der Türe gefeht, fo daß er für die im Speifefaal verfammelte 
Gefellfhaft faum zu feben war. Kurz bevor man fih zu Tiſch 
fette, Fam Cofette in einer plößlihen Megung zu ibm, um ibn 
mit einer tiefen Derneigung zu begrüßen. 

„Biſt bu zufrieden, Vater?‘ 

„Ja, id bin zufrieden.‘ 

„But, dann folft du aber lachen!“ 

Und Jean Daljean lachte. 

Einen Augenblid fpäter kündete Baske an, daß ferviert fei. | 
Die Gäfte nahmen nach der Tifchordnung an der Tafel Platz. 
Zur Rechten und Linfen der Braut ftanden zwei große Lebn- | 


716 








ftühle, einer für Gillenormand, der andere für Sean Valjean. 
Gillenormand feßte fi; aber der andere Stuhl blieb leer. 

Alle faben fih nad Herrn Fauchelevent um. 

Er war nicht da. 

Gillenormand rief Vaste. 

„Weißt bu, wo Herr Fauchelevent iſt?“ 

„Ad, gnübiger Herr, eben bat mir Herr Fauchelevent auf- 
getragen ihnen zu beftellen, daß feine Hand ihn fehmerzt, und 
daß er nicht mit dem Herrn Baron und der Frau Baronin 
fpeifen Fann. Er bittet, ibn zu entfehuldigen, er wird morgen 
früh vorfprechen.‘ 

Der leere Lehnftuhl wirkte einen Augenblick [ang drückend. 
Aber wenn auch Fauchelevent fehlte, Gillenormand war ja da, 
und er ftrablte für zwei. Herr Fauchelevent babe nur recht ge- 
tan, verficherte er, fi fofort zu Bett zu begeben, wenn feine 
Hand ſchmerze; übrigens liege Fein Anlaß vor, fih zu beunrubi- 
gen, bas Ganze fei nur ein harmloſes Wehweh. 

Cofette und Marius befanden fih in einem fo egoiftifchen 
Glückszuſtand, daß fie Mißbehagen gar nicht empfinden Fonnten. 
Übrigens hatte Herr Gillenormand einen erlöfenden Gedanken. 

„Großer Gott!‘ rief er, ‚der Lehnſtuhl ift leer. Komm ber, 
Marius, deine Iante wird es, obgleich fie ein Recht auf dich 
bat, fon erlauben. Diefer Stuhl gehört dir. Fortunatus neben 
der Fortunata!“ 

Alle fpendeten Beifall, und Marius nahm neben Cofette 
Pins. So fam es, daß Eofette, die zuerft Sean Valjeans Ab- 
wefenbeit beflagt hatte, fchließlich mit ihr recht zufrieden war. 
Sanft feste fie ihren zarten, weißbeichuhten Fuß auf ben 
Marius’. 


2. Der Koffer, von dem Jean Baljean 


[id nie trennte 


Mas war aus Sean Valjean geworden? 
Sofort nachdem er auf Cofettes zärtlich geäußerten Wunſch 
gelacht hatte, war er aufgeftanden und unbemerkt ins Vorzimmer 


217 


hinausgeſchlichen. Er traf dort Baske, erteilte ibm den Auftrag, | 
feinen Weggang zu entfehuldigen, und ging. | 

Die Fenfter des Speifefaals gingen nad) der Straße hinaus. | 
Jean Valjean blieb einige Minuten reglos ftehen und Laufchte. | 
Gedämpft Fam das Geräufd des Feftes bis zu ibm. Er hörte 
die laute, berrifhe Stimme des Großvaters, Geigenfpiel, Klir- | 
ren von Zellern und Gläfern, frôblihes Gelächter und deutlich | 
unter all den anderen Stimmen die Cofettes. | 

Da verließ er die Rue des Silles-dbu-Calvaire und ging in die | 
Nue de l'Homme Arme. | 

Er Fam nad) Haufe, zündete feine Kerze an und flieg hinauf. 
Die Wohnung lag verlaffen da, denn aud Touffaint war fort. 
Jean Valjeans Schritte ballten lauter wider als fonft. Die | 
Türen aller Schränfe ftanden offen. Er ging in Cofettes Zimmer. | 
Die Lafen waren von dem Bett genommen. Das Kiffen, feines 
Bezugs und feiner Spitzen beraubt, lag auf den zufammen- 
gelegten Schlafdecken am Fußende der Matratzen. Alle diefe | 
Fleinen Gegenftände, an die Frauen ihr Herz hängen, hatte Eo- | 
fette mitgenommen; fo blieben nur die fhweren Möbel und die 
vier Wände zurüf. Auch Coſettes Bett war verlaflen. Nur 
eines fhien auf einen Schläfer zu warten — bas feine. 

Sean DBaljean betrachtete die Wände, ſchloß die Türen der | 
Schränfe und ging von Zimmer zu Zimmer. Schließlich Fehrte | 
er in das feine zurück und ftellte die Kerze auf den Tiſch. Er 
nahm die Binde ab und bediente fich jeßt feiner rechten Hand, 
als ob fie unverleßt wäre. 

Er trat an fein Bett, und feine Augen blieben, zufällig oder 
beabfihtigt, an dem Koffer hängen, von dem er fi nie hatte | 
trennen wollen, und von dem Cofette fagte, fie fei eiferfüchtig 
auf ihn. Sean Valjean hatte ibn am 4. Juli auf ein Tiſchchen 
neben fein Bett geftellt. est trat er näher, zog einen Schlüffel 
aus der Taſche und fperrte den Koffer auf. 


Langſam nahm er daraus die Kleider, in denen Cofette vor 
zehn Jahren Montfermeil verlaffen hatte: das ſchwarze Kleid, | 


718 








ein Umſchlagtuch, plumpe, Heine Kinderſchühchen, die Cofette 
| vielleicht jeßt noch gepaßt hätten, ein warmes Jäckchen, einen 
| Trifotunterrod, eine Schürze mit Tafhen und Wollftriimpfe. 
| Alle diefe Dinge waren ſchwarz. Er hatte fie nach Montfermeil 











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gebracht. In der Meibenfolge wie er fie aus dem Koffer nahm, 
legte er fie auf das Bett. Er fann. 

Es war Winter, ein Falter Dezember, da hatte er fie ge- 
troffen, balbnadt, in Lumpen gehüllt, rotgefrorene Füßchen in 
groben Holzfchuhen. Er, Jean Valjean, hatte fie von diefen 


719 


Lumpen befreit und fie in Trauerkleider geſteckt. Er dachte an | 
den Wald von Montfermeil. Sie hatten ihn zufommen dur: | 
fritten, Cofette und er; die Bäume waren kahl gewefen, Fein | 
Bogel hatte den Himmel, den Fein Sonnenftrahl erhellte, be- | 
lebt: und bob war es ſchön gemefen. Er ordnete die Kleinig- | 
feifen, die ihm lieb geworden waren, auf dem Bett, legte bas | 
Tuch zu dem Unterrod, die Strümpfe neben die Schuhe, das | 
Kleidchen neben den Mod. Sie war damals nod fehr Hlein ge- | 
weſen, hatte mit Mühe die große Puppe getragen; in der Taſche 
hatte fie ihren Louisdor gehabt, hatte geladht; fo waren fie Hand | 
in Hand weitergegangen. Niemand hatte fie befeffen als ihn. | 

Und jet beugte fid diefer weiße, ehrwürdige Kopf auf das | 
Bett herab, dies alte, ftoifche Herz drohte zu zerbrechen, fein Ge- M 
fiht vergrub fit in Cofettes Kleidern, und wenn in biefem | 
Augenblick jemand die Treppe heraufgefommen wäre, hätte er | 
ben Greis furchtbar ſchluchzen gehört. | 


3. Der legte Tropfen des Keldhes 


Der Tag nad einer Hochzeit ift ruhig. Man läßt die Glück— 
lihen allein. Man font ihren langen Schlaf. Der Irubel der | 
Glückwünſche und Befuhe fett erft fpäter ein. | | 

Am 17. Zebruar war es fon über Mittag, als Vaste, | 
Staubtuh und Staubwedel unter dem Arm, das Vorsimmer | 
aufräumte. Plöglih hörte er, wie an die Türe geflopft wurde. | 
Der Fremde hatte nicht geläutet, wie es fih an einem ſolchen 
Tage geziemte. Baske öffnete und fab Fauchelevent. Er führte | 
ihn in den Salon, in dem no alles drunter und drüber war | 
und der nod einem Schladhtfelde glich. | 

„Ab, Herr, fagte er, „wir find ſpät aufgeftanden.‘ 

„Iſt Ihr Herr Schon auf?” fragte Sean Valjean. 

‚Welcher? Der alte oder der neue?’ 

„Herr Pontmercy.“ 

„Ab, der Herr Baron?” | 

Baron ift man hauptfählic für die Dienftboten. Auf fie fällt | 


720 


























immer etwas von dem Glanz ab. Marius, der ja ein Friegerifcher 
Mepublifaner war, der noch dazu feine Gefinnung erprobt hatte, 
wor Baron wider Willen. Sein Titel hatte in der Familie eine 
fleine evolution veranlaßt. est war es Gillenormand, der 
ihn in den Vordergrund fhob, während Marius ihn zurüd- 
ftellte. Aber der Oberft Pontmerey hatte gefehrieben: 

„Mein Sohn wird meinen Titel tragen.’ 

Marius gebordte, und Coſette, in der fih die Srauenart 
füblbar machte, war entzüct, Frau Baronin zu fein. 

„Der Herr Baron?‘ wiederholte Baske, „ich werde nad- 
feben. Ich will ihm fagen, daß Herr Fauchelevent hier iſt.“ 

„Dein. Sagen Sie ihm das nicht. Beftellen Sie ihm nur, 
daß jemand ba ift, der ihn allein zu fprechen wünfcht. Nennen 
Sie feinen Namen.‘ 

Sean Valjean blieb allein. 

Der Salon war, wie wir bereits berichteten, in vollfommener 
Unordnung. Auf dem Parkett Tagen allerlei Blumen, die aus 
Girlanden und Frifuren herabgefallen waren. Die Kerzen, bis 
auf den Stumpf niedergebrannt, bildeten auf den Leuchtern aus 
Kriftall Stalaftiten aus Wachs. Kein Möbel ftand an feinem 
Plat. In den Eden waren Lehnftühle zufommengerüdt und 
fhienen ein Geſpräch fortzufeßen. 

So vergingen einige Minuten. Sean Valjean fland noch 
immer unbeweglich an dem Platze, an dem Baske ihn verlaffen 
hatte. Er war febr blaß. Seine Augen glühten und lagen in- 
folge der Schlaflofigfeit in tiefen Höhlen. Der ſchwarze Mod 
war fo zerdrüct, daß man auf den erften ‘Blick erkannte, er fei 
in diefer Nacht nicht abgelegt worden. 

Jeetzt Fam von der Türe das Geräufh von Schritten näher, 
Sean Valjean blickte auf. 

Lachend und erhobenen Hauptes trat Marius ein. Auch er 
hatte nicht gefchlafen. 

„Ach Sie find es, Vater!‘ rief er, als er Valjean erkannte. 
„Dieſer Schafsfopf, Basfe, tat geheimnisvoll. Aber Sie Fom- 
men zu früh. Es ift erft halb eins, Cofette ſchläft noch.‘ 


46 Hugo, Die Elenden. 721 


Daß Marius zu Saudelevent Vater gefagt hatte, bewies, 
wie glücflid er war. Bis jet hatte zwifchen den beiden immer 
Kälte und Scheu geftanden, das Eis zwifchen ihnen war nicht 
zu brecen nod zu ſchmelzen gewefen. In feinem Glückszuſtand 
hatte Marius alles vergeflen, Fauchelevent war für ihn, was er 
für Eofette war, der Vater. 

In einem Parorismus der Freude fprad er weiter: 

„Ich freue mich fehr, Sie zu fehen! Sie haben uns geftern 
gefehlt. Wie geht es Ihrer Hand? Beſſer doch?‘ 

Zufrieden mit der beftätigenden Antwort, begann er meiter- 
suplaudern: 

„Wir haben viel von ihnen gefprochen, wir beide. Cofette 
liebt fie fo febr. Sie dürfen nie vergeffen, daß Ihr Heim bier 
ift. Von der Nue de l'Homme Arme wollen wir nichts mehr 
wiffen. Um feinen Preis der Welt! Wie können Sie nur in 
einer Straße wohnen, die mürrifch, verärgert und Falt ift, und 
in die nicht einmal ein Wagen einfahren Fann? Kommen Sie 
nur bierber, gleich heute! Mir find feft entfchloffen, ein glück— 
lihes Leben miteinander zu führen. Mein Großvater hat Ge- 
fallen an Ihnen gefunden. Spielen Sie Whift? Wenn Sie 
Whiſt fpielen, werden Sie ihm ganz unentbehrlich fein. Wenn 
ich bei Gericht zu tun babe, werden Sie Eojette fpazierenführen, 
wie damals im Lurembourg. Erinnern Sie fih noh? Sie früh- 
ftüefen doc mit ung?’ 

„Mein Herr, fagte Sean Valjean, ‚ih muß Ihnen etwas 
fagen. Ich bin ein Galeerenfträfling.” 

Es gibt Töne, die fo hoch find, daß unfer Obr fie nicht mehr 
erfaffen kann. Und ähnlich geht eg mit gewiflen Gedanken — fie 
berühren zunächft dag Gehirn deflen, dem fie mitgeteilt werden, 
nicht. Die Worte „ich bin ein Gnleerenfträfling‘ erreichten wohl 
bas Ohr Marius’, aber er verftand nicht. Er begriff, daß man 
ihm da etwas gefagt babe, aber wußte nicht, was e8 war. 

Jetzt erft merkte er, daß der Mann, der ihm gegenüberftand, | 
in furchtbarer Verfaſſung war. Sein eigenes Glück hatte Ma- 
rius gehindert, die Bläffe des andern zu bemerfen. 


122 





Jean Baljean nahm das fhwarze Tuch ab, in dag fein Arm 
gehüllt war, widelte die Hand aus der Leinwand und zeigte ben 
entblößten Daumen Marius. 


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„Ich babe nichts an der Hand”, fagte er. 
Marius fab den Daumen an. 


„Ich babe aud nichts daran gehabt”, fuhr Sean DBaljean 
fort. „Aber id mußte bei Ihrer Hochzeit fernbleiben. So gut 
id es Fonnte, babe id es auch getan. Ich babe diefe Verlegung 


er 123 





vorgefhüst, um nicht eine Fälſchung zu begehen, denn fonft 
Fönnte Ihr Heiratsfontraft ungültig erflärt werden.” | 

Marius ftammelte: 

„Was ſoll bas bedeuten?” 

„Das ſoll bedeuten, daß ich auf den Galeeren war.’ 

„ber mir ift, als ob ich verrückt werden ſollte!“ 

„Herr Pontmercy, ich war neunzehn Vabre auf den Galeeren. 
Wegen Diebftahls. Dann wurde ich zu Iebenslänglicher Kerfer- | 
haft verurteilt. Wieder wegen Diebftahlse. Als Rückfälliger. 
Augenblieli bin ic ein Bannbrüchiger.“ | 

Marius mochte not fofebr vor der Wirklichfeit zurückſchrek— 
fen, jchließlih mußte er fit ergeben. Er begann zu begreifen, | 
und wie es in folhen Situationen zu gefheben pflegt, er begriff | 
zuviel. Ein ſchreckliches Licht ging ibm auf, er glaubte jeßt, daß | 
auch ibm Furchtbares bevorftehe. | 

„Sagen Sie alles!’ rief er. „Sie find Eofettes Vater!’ 

Und mit einer Bewegung höchften Abfcheus trat er einige | 
Schritte zurüd. | 

Sean Baljeon richtete fih fo majeftätifh auf, daß er über | 
fein eigenes Maß hinauszuwachſen ſchien. | 

„Sie müffen mir wohl glauben, mein Herr; obwohl unfer | 
Eid vor dem Gericht nicht gilt . . .// | 

Er ſchwieg einen Augenblick, dann fuhr er mit höchſter Feftig- | 
Feit fort, indem er jede Silbe bervorbob: | 

„Sie glauben mir. ch, der Vater Eofettes? Nein, vor Gott | 
nicht. Sch bin ein Dauer aus Faverolles. Als Baumſcherer ver- | 
diente ich mein Brot. Ich heiße nicht Fauchelevent, fondern Sean | 
Valjean. Mit Eofette bin ich nicht verwandt. Serubigen Sie | 
fih. Und was bedeutet Eofette? Sch bin einer, der vorübergeht. 
Vor zehn Jahren wußte id noch gar nicht, daß es Cofette gab. | 
Ich Liebe fie, das ift wahr. Wenn man ein Kind aufwachſen ge- 
feben bat, liebt man es, zumal, wenn man felbft fon alt ift. | 
Ein Greis ift für alle Éleinen Kinder ein wenig Großvater. Sie 
fönnen, glaube ich, vorausfesen, daß ich etwas wie ein Herz | 


724 





befiße. Sie war eine Waiſe. Weder Vater nob Mutter. Sie 
brauchte mich. Darum begann ich fie zu lieben. Kinder find ja 
fo ſchwach, daß der erftbefte, fogar einer wie ich, ihr Beſchützer 
werden kann. Diefe Pflicht babe ich gegen Cofette erfüllt. Ich 
bilde mir nicht ein, daß man eine foldhe Kleinigkeit eine edle Tat 
nennen Fann, aber wenn es eine ift, fo bedenfen Sie, daß ich fie 
vollbradht habe. Stellen Sie diefen mildernden Umftand in 
Rechnung. Heute fheidet Cofette aus meinem Leben aus, unfere 
Wege trennen fih. In Zukunft bin ich niemand für fie. Cofette 
ft die Baronin Pontmerey. Eine andere Vorſehung wacht über 
ihr. Sie bat gewonnen bei diefem Tauſch. Alles ift gut. Was 
die jechshunderttaufend Sranfen betrifft, fo fprehen Sie mir 
nicht davon; man bat fie mir zur Aufbewahrung gegeben. Wie 
fonnte man es mir anvertrauen? Nun, ich erftatte es ja zurüd. 
Niemand darf mehr von mir verlangen. Sa, ich fage Ihnen 
fogar meinen wahren Namen. Ich lege darauf Wert, daß Sie 
wiflen, wer ich bin.” 

Sean Valjean fab Marius in die Augen. 

Mod waren die Gedanken des jungen Mannes wirr und un- 
zufommenhängend. Er war fo faflungsios, daß er, faft als ob 
dDiefe Mitteilung ibm ärgerlich fei, fragte: 

ber warum fagen Sie mir das nur? Wer zwingt Sie 
dazu? Sie fonnten hr Geheimnis doc für fit behalten. Mie- 
mand bat Sie denunziert, niemand verfolgt Sie. Sie haben 
einen Grund, mir freimillig folhe Mitteilung zu machen. 
Sprechen Sie weiter. Noch haben Sie nicht alles gefagt. Was 
bezweden Sie mit Ihrem Geftändnig?” 

„Was ich bezwede? Nun, was Fann ein Menſch damit be- 

zwecken, daß er fagt: ich bin ein Galeerenfträfling? Ja, meine 
Veranlaſſung ift vielleicht feltfam. Ich tue es aus Gewiſſen— 
haftigfeit. Segreifen Sie, es gibt unglücfliherweife ein Band, 
das mein Herz feffelt. Zumal wenn man alt ift, find folbe Fei- 
jeln zäh. Alles ringsum löſt fih auf — fie bleiben beftehen. 
Hätte ich diefes Band zerreißen Fünnen, fortgeben, weit von hier, 
ich hätte es gewiß getan. Yn der Mue du Bouloy warten die 


125 


Poſtkutſchen! Sie find glücklich — id gehe. Sch babe es ver: | 
fucht, biefes Band zu zerreißen, id habe daran gezerrt, aber eg | 
hielt gut, id babe mir felbft das Herz herausgeriffen. So habe | 
ich begriffen, daß ich nicht anderswo als hier leben kann. Ich | 
muß bleiben. Natürlich haben Sie recht, es war dumm von mir, | 
ich Éonnte ja ganz einfach bleiben. Sie bieten mir ein Zimmer | 
in Ihrem Haufe, die Baronin Pontmersy liebt mich, hält einen | 
bequemen Lehnftuhl für mich bereit; Ihr Großvater wünſcht 
nichts anderes als mic hier zu haben. Ich gefalle ibm. Wir | 
leben alle zufammen, effen an einem Tiſch, ich reihe Eofette.... . | 
Verzeihung, der Baronin Pontmercy den Arm. Es ift die| 
Sreude, bas Glück, alles. Wir leben als eine Familie!‘ | 

Bei diefem Wort regte fih in Sean Valjean Zorn. Er ver- 
Ihränfte die Arme, fiarrte den Fußboden an, als ob er ein Loc 
in die Erde bohren wollte, und fprad laut: | 

„Eine Familie? Dein. Ich gehöre zu Feiner Familie, nicht zu | 
der Ihren und nicht zu der der Menſchen ſchlechthin. Ich bin in 
ollen Häufern, wo Menfhen untereinander find, überzählig. Sch 
bin ein Unglücklicher, der außen fteht. Habe ih Water und 
Mutter gehabt? Faft bezweifle id es. An dem Tag, da ich Diefes | 
Kind verheiratete, war alles vorbei; ich fab fie glücklich, fie hatte 
den Mann gewonnen, den fie liebt, alle Freuden einer Familie 
— da fagte ich mir: dringe nicht ein! Ich Eonnte Fügen, gewiß, | 
Sie alle täufchen, Fauchelevent bleiben. Solange es für bas 
Kind war, Eonnte ich es. Aber jebf, da es um meinetwillen ge- 
ſchehen fol, Fann ich es nicht mehr tun. Ich braucte ja nur zu 
Ichweigen, gewiß, und alles wäre weitergegangen. Sie fragen, 
was mich zu fprechen zwingt: ein Eomifches Ding, mein Gewiffen. 
Es wäre ja leicht gewefen, zu fchweigen. Eine Naht lang habe 
ich verfucht, mich zu diefem Entſchluß durchzuringen. Ich babe | 
alle Gründe, febr gute Gründe, die fih dafür anführen laſſen, 
erwogen und bob — ich habe getan, was id Éonnte. Mur zwei | 
Dinge gelangen mir nicht: ich Eonnte weder jenes Band zer- | 
reißen, bas mein Herz umfchlungen hält, noch Fonnte id jenen 
Berater zum Schweigen bringen, der da zu mir fpridt, wenn 


726 





ich allein bin. Darum bin ich hierher gefommen, um hnen 
heute morgen alles zu fagen — alles oder faft alles. Dinge, die 
nur mich betreffen, behalte ich für mich. Das MWichtigfte wiflen 
‚Sie jest. Ich babe mein Geheimnis hierher getragen und vor 
Ihnen entblößt. Oh, e8 wäre wohl äußerlich alles gut gewefen, 
‚wenn ic) Fauchelevent geblieben wäre. Aber diefes fcheinbare 
Glück genügt nicht. Der Menfh muß mit fich felbft zufrieden 
fein. Sollte ich, ohne Sie zu warnen, Sie in Beziehungen zum 
Bagno bringen? Sollte ih mich an Ihren Tifh feßen, mit dem 
Gedanken, daß Sie mich fortiagen würden, wenn Sie wüßten, 
wer ich bin? Sol ih mid von Ihren Bedienten betreuen laffen, 
‚die mir verächtli den Mücken Fehren würden, wenn fie mein 
Geheimnis erführen? Sollte id mir einen Druck Ihrer Hand 
| fteblen? Sooft in diefem Haufe vier Leute einig und glücklich 
beifammengefeflen wären, Ihr Großvater, Sie beide und ic, 
immer wäre einer unter ung ein Unbefannter gemefen. Ob, es 
‚gibt Fälle, in denen Schweigen Lügen bedeutet. Und diefe Lüge, 
dieſen Diebftabl, diefen elenden Verrat hätte ih Iropfen für 
| Tropfen täglich ausfpeien und wieder auffaugen follen. Damit 
hätte ich Schlafen follen. Coſette zulächeln, mein Brot eflen? 
Solcher Betrug, um glidlih zu fein?’ 
In einem Ion, der fi) nicht befehreiben laßt, fuhr er fort: 
„Herr Dontmercy, id bin ein Ehrenmann, wenn aud nicht 
im gewöhnlichen Sinne. Im Ausmaß, in dem id mich vor 
Ihnen erniedrige, fteige ich in meiner eigenen Achtung. ch wäre 
fein Ehrenmann, wenn Sie mich achten würden, weil id den 
Betrug fortfeße; jeßt aber, da Sie mit verachten, bin ich es. 
‚Mein Geihie will, daß ih nur erfhlihene Wertſchätzung ge- 
‚nießen Éann, die mich demütigt und kränkt; damit id mic achten 
Kann, müffen die andern [let von mir denfen. Dann bin id 
ſtolz. Sch bin ein Galeerenfträfling, der feinem Gewiſſen folgt. 
Ich weiß wohl, daß das unglaublich Flingt. Aber was joll ich 
tun? Es ift doch fo. Sch babe gewiffe Verpflichtungen mir felbft 
| gegenüber auf mic genommen, und die halte ih. Es gibt im 
| Leben Begegnungen, die uns Verpflichtungen auferlegen, 


127 











Zufälle, die ung binden. Mir ift viel gefchehen in meinem Leben, | 
Herr Pontmerey!’ | 
Wieder machte jean Daljean eine Paufe. Er würgte, als ob | 
feine Worte einen bitteren Nachgeſchmack hätten. | 
„Früher babe id, um zu leben, Brot geftohlen; heute will id | 
nicht zu bemfelben Zwed einen Namen fteblen.// | 
Wieder trat eine Paufe ein. Beide fchwiegen, jeder von feinen | 
Gedanken in Anfprud genommen. Marius ſaß am Tifh und | 
ftügte den Kopf in die Hände. Jean Valjean ging auf und ab. | 
„Stellen Sie fi) doc vor, was gefchehen wäre, mein Herr. | 
Gut, ich fage alfo nihts und bleibe Herr Gauchelevent. Vo | 
nehme meinen Plas in Ihrem Haufe ein, bin einer der Ybren, | 
fomme morgens in Pantoffeln zum Frühſtück, abends gehen wir | 
zu dritt ins Theater, ich begleite Madame Pontmercy in die | 
Æuilerien, oder nad der Place Royal; immer find wir bei- | 
fammen. Eines Tages fisen wir da, Sie, id, wir plaudern, 
lachen, plößlic hören Sie den Namen Jean Valjean rufen, 
feben, wie eine Hand, die Hand der Polizei, mir die Maske 
vom Gefiht reißt.” | 

Marius war entfeßt aufgefprungen. 

„Jun, was fagen Sie dazu?‘ 

Das Schweigen Marius’ war eine Antwort. 

„Sie feben,” fuhr Sean Valjean fort, ‚daß ich recht hatte, | 
nicht zu Schweigen. Seien Sie glücflich, feien Sie der Engel 
eines Engels, machen Sie fi Feine Sorge darum, wie ein 
ormer Derdammter fein Herz zerfleifht und bob feine 
Pflicht tut.“ 

Marius trat zu Jean Valjean und reichte ihm die Hand. 
Sean Valjean reichte fie ibm nicht, Marius mußte fie ſelbſt er- | 
greifen. Sie war kalt wie Marmor. 

„Mein Großvater hat Freunde,“ ſagte Marius, „wir werden 
Ihre Begnadigung erwirken.“ | 

„Das ift unnötig. Man glaubt mich tot, und bas genügt. Die | 
Toten werden nicht verfolgt. Der Tod ift ebenfogut wie eine Be— 
gnabigung. Und überdies ift die Pflicht der einzige Freund, deflen 


128 





Hilfe id in Anfpruch nehme; ich brauche Feine andere Gnade als 
die meines Gewiffens.// 

In diefem Augenblif wurde fanft die Türe geöffnet, und 
Cofettes Kopf tauchte in dem Spalt auf. Man fab nur ihr lie- 


























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benswürdiges Geſicht und das Haar, das noch ungeordnet, aber 
um ſo reizender war; fie fab erſt Jean Valjean, dann Marius 
an und rief lächelnd: 

Betten, daß ihr von Politik fprecht! Wie dumm von euch! 
Statt zu mir zu Éommen . . .” 


129 


jean Daljean fuhr zufammen. | 

„Coſette“, ftammelte Marius, Eonnte aber nicht weiter. | 
fprehen. Die beiden Männer faben wie ertappte Verbrecher aus. | 

„Jetzt babe id euch in flagranti erwiſcht“, fagte Cofette. | 
„Gerade babe id noch gehört, wie Papa fagte: Gemwiffen . . . | 
Pflicht . .. das ift alles nur Politik! Sch will das nicht. Schon | 
am erften Iag nad) der Hochzeit von Politik fprechen, das geht | 
wirklich nicht. Das ift nicht recht.‘ 

„Du ierft, Coſette,“ erwiderte Marius, „wir fprachen von | 
Geſchäften. Es handelt fi um die Frage, wie wir die ſechs— 
bunderttaufend Franken anlegen follen.” 

„Das ift alles Unfinn. Sch bin da. Werde id hier gebraucht?“ 

Fest öffnete fie kurz entfhloffen die Tür und trat in den | 
Salon. Sie trug ein langes, weißes Peignoir mit weiten | 
Ärmeln, die faft bis zu den Füßen berabfielen. Auf alten | 
gotifhen Bildern fieht man biefe entzüdenden Gewänder, von 
Engeln getragen. | 

Sie betradhtete fih von Kopf bis zu Fuß in einem großen 
Spiegel, dann rief fie fröhlid: 

„Sp, nun bleibe ich bei euch. In einer halben Stunde wird | 
gefrühftückt, da könnt ihr euch nach Luft unterhalten. Ich werde 
eud ganz vernünftig zuhören.’ 

Marius ergriff ihren Arm und fagte zärtlich: 





langweilen.‘ 

„Du haft heute ein bübfhes Salstud umgenommen, Marius. ! 
Sie find recht Évfett, edler Herr. Mein, id werde mich nicht! 
langweilen.‘ 

„Doch, gewiß!‘ 

„Nein, denn es handelt fih ja um euch. Wenn id es aud 
nicht verftehe, ich werde doc zuhören. Wenn man die Stimmen) 
hört, die man liebt, braucht man ja nicht zu wiflen, was ge⸗ 
iprodhen wird. Darum bleibe ich bei euch.‘ 

„Es ift unmöglich, liebe Coſette.“ 

„Unmöglich?“ 


730 


A0] 
„Schön, fagte Cofette, „und ich wollte euch fo viele Meuig- 


feiten erzählen. ch hätte euch gefagt, daß Großvater nod) 
hläft, daß die Tante zur Meſſe gegangen ift, daB der Ramin in 
Vaters Zimmer raudt, daß Nicolette den Schornfteinfeger ge- 
holt bat, daß Touffaint und Micolette fih fehon gezanft haben 
und daß Micolette fih über Touffaint Iuftig macht, weil fie 
ftottert. Sp, jeßt erzähle id euch gar nichts. Ad, unmöglich? 
Nun, jeßt werde ich einmal fagen: unmöglich! ch bitte, mein 
Éleiner Marius, laß mich doch bei euch!” 

„Ich ſchwöre dir, wir müſſen allein fein.’ 

„Sp, jeßt reden Sie mit der Männerftimme, Herr. Gut, ic) 
fann ja gehen. Und Sie, Vater, haben mir aud nicht geholfen. 
hr feid beide Iyrannen. Ich werde es dem Großvater jagen. 
MWenn ihr glaubt, ich Fomme wieder und erzähle euch Gefchichten, 
fo irrt ihr euch. Ich bin ſtolz.“ | 

Und fie ging. 

Die Türe fiel ins Schloß, und es war, als ob es in dem 
Zimmer wieder dunfel würde. 

Marius überzeugte fib, daß die Tür wirklich gefchloffen war. 

„Arme Coſette,“ murmelte er, „wenn fie erfahren wird ...“ 

Sebt begann Sean Valjean an allen Gliedern zu zittern. Ein 
entfester Blick fiel auf Marius. 

„Oh, Sie wollen es Eofette jagen! Ad), daran hatte ich nicht 
gedacht. Man ift flarf genug, bas eine zu erfragen, aber dann 
verjagt die Kraft. Herr, ich bitte und beſchwöre Sie, geben Sie 
mir hr heiligftes Ehrenwort, daß Sie nichts fagen werden. 
Genügt es denn nicht, daß Sie es willen? ch Fonnte es von 
felbft jagen, ohne gezwungen zu werden, der ganzen Welt hätte 
ich es fagen können, nur ihr nicht. Wie foll man ihr begreiflich 
machen, was ein Galeerenfträfling ift? Großer Gott!’ 

Er ſank in den Stuhl und verbarg fein Gefiht in ben Hän- 
den. Man hörte nichts, aber an dem Zuden feiner Schultern 
fonnte man erfennen, daß er mweinte. Stille Tränen — furdt- 
bare Tränen. 


731 


„Seien Sie ruhig,” fagte Marius, ‚ich werde Ihr Ge- 
beimnis für mich behalten.” 

Er war vielleicht nicht fo mitleidvoll, wie er hätte fein follen; 
aber feit allzu kurzer Zeit mußte er fih mit einer fbredlihen 
und unerwarteten Wirflichkeit auseinanderfeßen, mußte be- 
greifen, daß er nicht Fauchelevent, fondern einen Galeerenfträf- 
ling vor fit hatte. 

„Ich muß hnen aud einige Worte wegen des Geldes fagen, 
dag Ihnen zur Aufbewahrung gegeben wurde und bas Sie fo 
treu verwahrt haben. Das ift ein Beweis von hoher Ehrlichkeit. 
Sie müffen belohnt werden. Beftimmen Sie felbft den Betrag 
— ſcheuen Sie ſich nicht, ibn bob zu bemeſſen.“ 

„sh danke Ahnen, mein Herr”, antwortete Sean DBal- 
jean fanft. 

Einen Augenbli Tang blieb er in Machdenfen verfunfen, 
dann meinte er: 

„Jetzt ift alles fo ziemlich erledigt. So hätte ich nur noch ..“ 

„Was?“ 

Sean WValjean zögerte, dann ſtammelte er mit erſtickter 
Stimme: 

„Glauben Sie jetzt, da Sie alles wiſſen und allein zu be— 
ſtimmen haben, daß ich Coſette nicht wiederſehen ſoll?“ 

„Ich denke, es wäre wohl das beſte“, antwortete Marius kalt. 

„Ich werde ſie nicht mehr ſehen“, murmelte Jean Valjean. 
Er ging zur Tür, legte die Hand auf die Klinke, ſchon ging die 
Tür auf. Aber noch immer ſtand er ſtill. Jetzt wandte er ſich 
nach Marius um. Er war totenblaß. Jetzt hatte er keine Tränen 
mehr in den Augen, aber ein ſeltſam unſeliges Feuer leuchtete 
aus ihnen. Seine Stimme war eigentümlich ruhig. 

„Wiſſen Sie, mein Herr,“ ſagte er, „wenn es Ihnen recht iſt, 
werde ich doch kommen, Coſette beſuchen. Ich ſehne mich ſehr da— 
nach, das können Sie mir glauben. Wenn ich nicht an ihr hinge, 
wäre ich abgereiſt, ohne mit Ihnen zu ſprechen, wie ich es getan 
habe. Aber da ich bleiben wollte, wo Coſette iſt und ſie auch 


732 





micberfeben, mußte id Ihnen alles fagen. Sie verftehen mich 
doch, nicht wahr? Das ift ja leicht zu verftehen. Wiffen Sie, ich 
habe das Kind neun Jahre lang bei mir gehabt. Erft wohnten 
wir in biefem Haus auf dem Boulevard, dann im Klofter, zu- 
legt in der Nähe des Turembourg. Dort haben Sie uns das 
erftemal gefehen. Sie erinnern fi) wohl not an den blauen 
Plüſchhut. Dann find wir in bas Quartier des Invalides ge- 
zogen, dort hatten wir bas Haus mit dem arten. Rue Plumet. 
Ich wohnte in dem Éleinen Hinterhof, Eonnte fie immer fingen 
und Klavier fpielen hören. Das war mein Leben. Niemals 
trennten wir ung, neun Jahre und einige Monate. Ich war wie 
ihr Vater — fie war mein Kind. Ich weiß nicht, ob Sie mid 
ganz verftehen, Herr Pontmerey, aber jeßt wegzugehen, fie nicht 
mehr zu feben, nie mehr mit ihr zu fprechen, gar nichts von 
allem zu behalten, das ift ſchwer. Wenn Sie e8 erträglich fin- 
den, Fomme ich von Zeit zu Zeit zu Cofette. Sch muß ja nicht oft 
fommen, und ich werde nicht lange bleiben. Sagen Sie ihr, fie 
ſoll mich in dem Fleinen Zimmer unten empfangen, in dem Erd- 
gefhoß. ch würde ja auch durch die andere Tür bereingeben, 
die für die Dienftboten ift, aber es würde auffallen. Ich glaube, 
es ift befler, wenn ich durch das Haupttor gehe. Wirklich, ich 
möchte Cofette zuweilen feben. Selten, nur fooft es ihnen be- 
liebt. Verſetzen Sie ſich in mein Lage. Ich babe ja fonft nichte. 
Mir müffen auch aufpaffen. Wenn ich gar nicht mehr Fomme, 
wird es einen fehlechten Eindruf machen, und man wird bas 
feltfom finden. Do Fann ih, wenn Sie e8 wiünfchen, nur 
abends Fommen, bei Einbrudy der Dunkelheit.” 

„Kommen Sie jeden Abend, fagte Marius, „Coſette wird 
Sie erwarten.” 

Marius verneigte fih, bas Glück geleitete die Verzweiflung 
zur Tür, und die beiden Männer trennten fid. 


133 


Fünftes Buch 
Dämmerung 


l. Das Zimmer im Erdgeſchoß 

















| 


Am nähften Tage, gegen Cinbrud der Dämmerung, Flopfte 
Sean Valjean an die Tür des Haufes Gillenormand. Baske 
öffnete. Ohne zu warten, daß Sean Valjean ihn anredete,) 
fagte er: | 

„Der Herr Baron hat mid beauftragt, Sie zu fragen, ob} 
Sie in den erften Stock hinauffommen oder unten bleiben! 
wollen?’ | 

„Ich bleibe unten’, antwortete Sean DBaljean. | 

Baske, der es übrigens nicht an Mefpeft ermangeln Tieß,] 
öffnete die Tür des Zimmers im Erdgefhoß und fagte: 

„Ich werde die gnädige Frau verftändigen.‘ | 

Diefes Zimmer war ein feuchter Raum mit gewölbter Dede; 
er diente gelegentlih als Speicher, ging nad der Straße hin- 
aus, war mit roten liefen bepflaftert und empfing fein ſpär— 
lihes Licht durch ein vergittertes Fenfter. 

Hier blieb der Staub ungeftört Liegen. Mod war die Der 
folgung der Spinnen nicht organifiert. Ein fhônes, breites, mit 
toten Fliegen geſchmücktes Gewebe fpannte fi über die Fenfter- 
ſcheibe. In einer Ede waren Ieere Flafchen aufgeftapelt. Die 
Wände waren einft odergelb getüncht gewefen, doch hatten fehl 
große Stücfe der Bemalung abgelöft. Im Kamin brannte ein 
euer. Offenbar hatte man alfo erwartet, daB Sean Valjea 
jagen würde: 

„Ich bleibe unten.” | 

Zu beiden Seiten des Ramins ftanden Lebnftüble. An Stelle 
eines Teppichs hatte man einen alten Dettvorleger ausgebreitet, 
deſſen Wolle ſchon ganz abgefchabt war. 

Sean Valjean war fehr müde. Seit Tagen hatte er nicht 
mehr gegeflen, nicht gefchlafen. Er ſank in einen der Stühle. 

Baske Fam wieder, ftellte eine brennende Kerze auf den 


1347 


| 
| 





Kamin und 309 fi zurück. Sean Valjean fab, das Kinn auf die 
Bruft geftübi, in feinem Stuhl und bemerkte nichts. 

Plöglih fuhr er auf. Cofette ftand binter ihm. Er hatte fie 
nicht eintreten gejehen, fühlte aber, daß fie da war. 

„Ad, rief Cofette, ‚id wußte, Vater, daß Sie eigentümliche 
Launen haben, aber das hätte ih nicht von Ihnen erwartet. 
Welch eine dee! Marius fagte, Sie verlangen, daß ih Sie 
bier empfange.“ 

„Ja, id möchte es. 

„Auf diefe Antwort war ich gefaßt. Gut, dann mögen Sie 
wiflen, daB id Ihnen jest gleich eine Szene maden werde. 
Zangen wir von vorne an. Küffen Sie mid, Papa.” 

Sie bot ihm die Wange. Aber Sean Valjean rührte 
fih nicht. 

„Sie rühren fit nicht. Yo ftelle das feft. Das ift die Haltung 
des Schuldbewußtfein. Immerhin, id verzeihe Ihnen. Jeſus 
Cbriftus bat gefagt: Haltet die andere Wange bin. Hier ift fie.‘ 

Wieder rührte fih Jean Valjean nidt. 

„Nun, jetzt wird die Sade ernft! Was habe ich Ihnen denn 
getan? Ich bin wirklich beleidigt. Sie follten mich lieber ver- 
fübnen. Sie fpeifen heute mit ung.” 

„Ich babe ſchon gegeſſen.“ 

„Das iſt nicht wahr. Ich werde Herrn Gillenormand ſagen, 
daß er Sie ausſchelten ſoll. Die Großväter ſind wie geſchaffen 
dazu, den Vätern die Leviten zu leſen. Gut, jetzt kommen Sie 
mit mir in den Salon, fofort.” 

„Unmöglich.“ 

Coſette verlor ein wenig die Faſſung. Jetzt gab ſie es auf, 
Befehle zu erteilen und begann zu fragen. 

„Aber warum denn? Sie ſuchen das häßlichſte Zimmer des 
Hauſes aus... denn es iſt ſcheußlich hier ...“ 

„Du weißt... Sie wiſſen, Baronin, daß id meine Eigen- 
heiten babe. Es find Schrullen . . .! 

Cofette fhlug die Hände sujammen. 


135 


„Baronin! Sie willen... . Das find ja lauter Neuigkeiten. 
Mas bedeutet denn dag?’ 

Sean Valjean fuchte feine Zuflucht bei einem fchmerzlichen 
Lächeln. 

„Nun, Sie wollten ja Frau Baronin ſein, jetzt ſind Sie es.“ 

„Aber doch nicht für Sie, Vater!“ 

„Nennen Sie mich nicht mehr Vater. Nennen Sie mich 
Herr Jean, oder Jean, wenn Sie wollen.“ 

„Nicht mehr Vater? Bin ich nicht mehr Coſette? Herr Jean? 
Was iſt denn das? Die reinſte Revolution! Was iſt denn ge— 
ſchehen? Sehen Sie mir doch in die Augen! Und Sie wollen 
nicht bei uns bleiben? Was ſoll denn das?“ 

„Nichts.“ 

A0?" 

„Alles ift wie immer.” 

„Aber warum wechſeln Sie dann den Namen?‘ 

„Sie haben ihn ja aud geändert, Sie find jest Frau Ba— 
ronin Pontmercy, ich bin Herr Sean.’ 

„Ich verftehe Fein Wort davon. Das iſt alles barer tin 
Sch werde meinen Mann bitten, daß er erlaubt, Sie Herr jean 
zu nennen. Ich hoffe, er wird nicht darauf eingehen. Sie be- 
reiten mir großen Kummer. Schrullen Fann man ja haben, aber 
darum muß man Cofette niht Kummer machen. Sie haben fein 
Recht, böfe zu fein, denn Sie find ja gut.’ 

Er antwortete nicht. 

Lebbaft ergriff fie feine Hände, bob fie mit einer unwiderfteh- 
lihen Gebärde zu ihrem Geficht und preßte fie zwifchen ihren 
Hals und ihr Kinn. Diefe Gefte war von unbefchreibliher Zärt- 
lichkeit. 

„Seien Sie wieder gut“, ſagte ſie. „Ich meine damit, Sie 
ſollen freundlich ſein und zu uns kommen. Es gibt hier Vögel, 
wie in der Rue Plumet. Sie ſollen hier wohnen und dieſes Loch 
in der Rue de l'Homme Arme verlaffen, uns nicht Rätſel auf- 
geben, fit benehmen wie alle Leute, Éurz, wieder mein 
Vater fein.‘ 


136 





Er löfte feine Hände aus den ihren. 

„Ste brauden feinen Bater mehr, Sie haben einen Gatten.” 

Eofette wurde jornig. 

„Aber das bat wirflic feinen Sinn mehr!‘ 

„Wenn Touſſaint hier wäre,’ begann Sean Daljean wieder, 
der ſich auf andere zu berufen fuchte, wie mon in der Not nad 
dem ſchwächſten Aft greift, „ſo würde fie beftätigen, daB id 
immer meine eigenen Ideen hatte. Das ift nichts Neues. Mir 
war mein Winkel im Dunfel immer lieb.’ 

„Aber hier ift es kalt und gar nicht bell. Und es ift aud un- 
erträglich, daß Sie fih Herr Sean nennen laffen wollen. Ich 
will aud nicht, daB Sie zu mir ‚Sie‘ fagen. Sd bin wütend! 
Seit geftern haben es alle darauf abgefehen, mich zornig zu 
machen. Ich begreife überhaupt nichts mehr. Ich richte ein Zim- 
mer aufs nettefte ein — wenn ich den lieben Gott felber binein- 
jeßen hätte Eönnen — id hätte es getan. Jetzt läßt man mir 
mein Zimmer fteben. Mein Mieter bleibt den Zins fhuldig. ch 
beftelle ein gutes Eleines Abendeflen — bolla, fon will man 
nicht bei mir effen. Vater Fauchelevent will plößlich Herr Sean 
heißen und nur in einem häßlichen, verfchimmelten Keller emp- 
fangen werden, wo die Mauern einen Dart haben, und wo es 
nichts gibt, als Ieere Slajhen und Spinnweben! Sie find fon- 
derbar, bas weiß ich, gut, es ift Ihre Art, aber Leuten, die 
jung vermählt find, gewährt man Waffenftillftand. Sie hätten 
etwas fpäter mit biefen eigentümlichen Neigungen bervortreten 
. follen. Und Sie find vollfommen glüdlid in biefer widerwär-. 
tigen Nue de l'Homme Arme? Sch war troftlos dort! Was 
haben Sie nur gegen mih? Pfui!“ 

Dann wurde fie fharf, fab Sean Valjean ernft an und fagte: 

„Sind Sie etwa böfe, weil ich glücklich bin?‘ 

Die Naivität dringt oft, ohne es felbft zu wiflen, tief in bas 
Weſen der Dinge ein. Diefe Trage fhien Eofette einfach, Jean 
Valjean aber furchtbar. Eofette zerfleifchte fein Herz. 

Er erblaßte und fchwieg eine Zeitlang, dann murmelte er, als 
ob er mit fich felbft ſpräche: 


47 Hugo, Die Elenden. 731 


„Ihr Glüd war bas Ziel meines Lebens. Vebt kann Gott 
mid) abberufen, Eofette, du bift glücklich; meine Zeit ift um.‘ 

„Jetzt haben Sie wenigftens du gejagt!’ rief Cofette. 

Und fie fiel ibm um den Hals. 


2. Abwärte 


Am nächſten Tage Fam Sean Valjean zur felben Stunde. 
Cofette fragte jeßt nicht mehr, wunderte fit Faum nod; au 
Iud fie ihn nicht mehr ein, in den Salon zu treten. Sie vermied 
es, ihn Dater oder Herr Sean anzureden. Auch wehrte fie fi 
nicht dagegen, daß er fie Baronin anfprab. Doch war fie nicht 
mehr fo froh wie früher. Wenn fie jebt fähig gemefen wäre 
traurig zu fein, gewiß wäre fie traurig gewefen. 
Dffenbar hatte fie mit Marius eine jener Auseinander- 
jeßungen gehabt, bei welchen der geliebte Mann fagt, was er 
will, und nichts erklärt. Die Neugierde der Derliebten geht nicht 
über ihre Liebe hinaus. 
Das Zimmer im Erdgefhoß war ein wenig Eomfortabler ge- 
macht worden. Baske hatte die Flaſchen fortgefhafft, Nicolette 
die Spinnweben entfernt. 
Und an allen weiteren Tagen fam Jean Daljean zur felben 
Stunde. Täglich Fam er, denn er wagte nicht, Marius’ Erlaub- 
nis anders als wörtlich zu nehmen. Der junge Mann richtete es 
jo, ein, daß er nie zu Haufe war, wenn Sean Valjean Fam. 
Allmählich gewöhnte fih das Haus an Herrn Fauchelevents neue 
Schrulle. Zouffaint erklärte fogar: 
„Er ift immer fo geweſen.“ 
Und der Großvater fagte: „Ein Original.” Damit war 
alles gejagt. 
So verftrihen mehrere Wochen. Ein neues Leben bemädhtigte 
fit) allmählich Cofettes. Beziehungen, die aus der Heirat ent- 
ftanden waren, Beſucher, Sorgen des Haushalts, Vergnü— 
gungen, alle diefe ernften Dinge. Cofettes Luxus war nicht teuer. 
Er beftand nur im Zufammenfein mit Marius. Mit ihm aussu- 


138 





gehen, wenn er ausging, zu Haufe bleiben, wenn er blieb, bas 
war ihre größte Sorge. Immer wieder genoß fie die neue 
Sreude, Arm in Arm mit ihm ausgehen zu dürfen am bellidten 
Tage, fi) mit ihm ohne Begleiter in der Öffentlichkeit zu zeigen. 
Aud gab es allerlei Widerwärtigfeiten. Touffaint Eonnte fic 
mit Micolefte nicht vertragen und ging. Marius hatte viel zu 
tun, das Geriht nahm ihn oft in Anfprud. 

Die Unterdrückung des vertraulichen ‚„Du’, die Anrede als 
Baronin — alles bas bewirkte, daß „Herr Jean“ für Cofette 
ein anderer wurde. Er hatte fit ja bemüht, fie von fid zu ent- 
- fernen, nun gelang e8 ihm. Sie wurde wieder heiter, war aber 
weniger zärtlich. Doc liebte fie ihn immer noch, dag fühlte er 
wohl. Einmal fagte fie zu ihm: „Sie waren mein Vater, jet 
find Sie es nicht mehr, dann waren Sie mein Onfel, jest find 
Sie auch das nicht mehr. Erft Fauchelevent, jest Sean. Wer 
find Sie eigentlih? Alles bas ift mir recht unlieb. Wenn ic) 
nicht wüßte, daß Sie fo gut find, würde ich mich vor ihnen 
fürchten.“ 

Aber er wohnte noch immer in der Rue de l'Homme Arme, 
wollte bas Stadtviertel nicht verlaffen, in dem aud Co— 
fette lebte. 

Seit einiger Zeit beobachtete Jean DBaljean, daß bas junge 
Paar recht zurückgezogen lebte. Die Sparfamfeit Marius’ hatte 

für Sean Valjean eine eigentümliche Bedeutung. 
Warum halten Sie fih nicht einen eigenen Wagen?’ fragte 
er einmal Cofette. „Ein hübfches Coupé Eoftet nicht mehr als 
- fünfhundert Franken monatlih. Sie find reich.‘ 

„Ich weiß nicht”, erwiderte Cofette. 

‚And Touffaint ift weggegangen, ohne daß Sie Erfaß geſucht 
haben, warum?” 

Nicolette genügt mir.’ 

„Aber Sie brauchen dod eine Zofe.“ 

13% babe Marius.“ 

„Sie follten ein eigenes Haus führen, Bebiente haben, einen 
“ Magen und eine Loge in der Oper. Es gibt nichts, was für Sie 


47° 739 


zu ſchön ift. Warum wollen Sie nicht daraus Nutzen ziehen, daß | 
Sie reich find? Der Reichtum ift gut, wenn er fi) mit dem 
Glück verbindet.’ 

Eofette antwortete nicht. 

Jean Baljeans Beſuche wurden nicht Fürzer. Im Gegenteil, 
wenn bas Herz ausgleitet, gerät e8 auf eine fhiefe Ebene. Oft 
ftimmte er, wenn er feinen Beſuch in die Länge ziehen wollte, | 
ein Loblied auf Marius an, fand ihn ſchön, edel, tapfer, geift- 
voll, beredt, gütig. Cofette zu feben, in ihrer Gegenwart alles zu 
vergeflen, war fein Glück. Mur fo Éonnte er feine Wunde 
Ichließen. 

Es gefbab, daß Baske Fam und beftellte: 

„Herr Gillenormand läßt die Frau Baronin daran erinnern, 
daß bereits ferviert iſt.“ 

Sehr nahdenflih ging Daljean we. 

Einmal blieb er länger als gewöhnlich. Am nächſten Tag be- 
merfte er, daß der Kamin nicht geheizt worden war. Salt, dachte 
er, Fein Feuer! Aber fofort fand er eine Erflärung. Es bat 
weiter nichts zu befagen, meinte er, wir find im April, es ift 
nicht mehr alt. 

„Mein Gott, wie falt es bier ift!” rief Eofette, als fie eintrat. 

„Sicht doch!‘ 

„Haben Sie Basfe gefagt, er folle nicht heizen?’ 

„Ja. Wir find bald im Mai.’ 

„Aber bier im Haufe wird bis juni geheizt. Diefer Keller 
da braucht bas ganze Jahr Feuer.‘ 

„Ich dachte, es wäre unnütz.“ 

„Das ift wieder eine von Ihren Ideen“, ermiderte Eofette. 

Am nädften Tag war geheizt, aber die beiden Sebnftüble 
ftanden in der anderen Ede des Zimmers, gleich neben der Tür. | 

Mas bedeutet das? fragte fit Sean Daljean. 

Er ftellte die Lehnftühle wieder an ihren alten Platz. Doch 
fand er einigen Troft darin, daß wieder geheist war. Diesmal 
blieb er nod Yänger als fonft. Als er aufftand, um zu gehen, 
fagte Cofette: 


740 





nGeftern bat Marius etwas Sonderbares geſagt.“ 

„Was denn?’ 

„Er fagte: wir haben dreißigtaufend Livres Rente. Sieben- 
undzwanzigtauſend von dir, dreitaufend von meinem Großvater. 
Würdeſt bu den Mut haben, mit dreitaufend auszukommen?“ 

„Gewiß doch, fagte ich, mit dir natürlich. Aber warum fragft 
du? Ich wollte e8 nur wiffen, fagte er.’ 

Sean Daljean Hatte nichts dazu zu fagen. Cofette erwartete 
wohl von ihm eine Erflärung, aber er fchwieg. Als er in die 
Rue de l'Homme Arme zurückehrte, war er fo verfonnen, daß 
er das Haustor vermedfelte und in ein Nachbarhaus eintrat. 
Erft im zweiten Stock bemerkte er, daß er ſich geirrt hatte. 

Allerlei Vermutungen befhäftigten ihn. Offenbar machte fic 
Marius Gedanken über den Urfprung der fehshunderttaufend 
Sranfen und befürchtete, fie ftammten aus einer unreinen Quelle. 
Vielleicht hatte er entdeckt, daß fie von ihm, jean Valjean, ber- 
famen, und fcheute fi) vor diefem verdächtigen Neichtum. Er 
309 es fogar vor, mit Cofette in Armut zu leben, ftatt einen 

zweifelhaften Neichtum zu genießen. 
Auch ahnte Jean Valjean, daß man ihn los fein wollte, 

Am nächſten Tag erfchraf er, als er in das Zimmer eintrat. 
“Die Lehnftühle waren verfhmwunden. Nicht einmal ein Seffel 
war da. 

„Ab, wo find denn die Lehnſtühle?“ fragte Eofette, als 

fie eintrat. 

„Sort, erwiderte jean Valjean. 

„Aber das ift ſtark!“ 

„Ich babe Baske gejagt, er folle fie nehmen‘, ftammelte Jean 

ë … tits 

„Und warum?” 

„Ich bleibe nur einige Minuten.‘ 

‚Aber daß Sie kurz bleiben, ift doch Fein Grund zu ſtehen!“ 

Cofette zudte die Achfeln. 

„Heute laſſen Sie die Lehnftühle hinausfchaffen, neulich 
ließen Sie bas Feuer löfhen. Sie find wirklich ſeltſam.“ 


171 


„Adieu“, murmelte Sean Daljean. 

Er fagte nicht: adieu Cofette, aber er brachte e8 auch nicht 
übers Herz zu fagen: adieu, Frau Paronin. 

Diesmal hatte er begriffen. 

Am nädften Tag Fam er nicht. Cofette bemerfte es erft am 
Abend. Es tat ihr weh, aber ein Kuß Marius’ tröftete fie. 

Und am zweitnächſten Tag Fam er wieder nicht. 

Cofette wurde nicht weiter aufmerffam, aber fie fandte 
Micolette zu Herren Sean, um zu fragen, warum er nidt ge- 
kommen fei. Nicolette brachte den Beſcheid, Herr Sean babe 
viel zu fun, er werde bald Éommen, fobald als möglih. Auch 
wolle er verreifen. Die gnädige Frau werde fi ja erinnern, daß 
er von Zeit zu Zeit verreifen müßte. Kein Grund, fi zu be- 
unruhigen. Man möge fi nicht darüber Gedanfen maden. 


Sechästes Buch 
Dunkelheit und legtes Licht 


1. Letztes Auffladern 
der verlöfhenden lampe 


Eines Tages ging Sean Valjean die Treppe hinunter, ging 
einige Schritte auf der Straße und feste fi) auf jenen Prell- 
ftein, auf dem ihn in der Nacht vom 5. zum 6. juni Gavrode 
gefeben hatte. Er blieb einige Minuten fißen, dann ftieg er 
wieder hinauf. Das war die lebte Schwingung des Penbels. 
Am nächſten Tag ging er nicht mehr aus. Und am übernädften 
verließ er bas Bett nicht mehr. 

Die Pförtnerin, die feine befcheidene Mahlzeit bereitete, 
etwas Kohl, einige Kartoffeln und Sped, blickte in den irdenen 
Zopf und fagte: 

„Aber Sie haben ja geftern nichts gegeflen, lieber Mann!” 

„Doch.“ 

„Aber der Topf iſt ja noch ganz voll!“ 

„Sehen Sie den Waſſerkrug. Er iſt ganz leer.“ 


742 





„Das beweift nur, daß Sie getrunfen haben, und wenn 
einer trinkt, aber nicht ißt, fo ift das Fieber.’ 

„Ich werde morgen eſſen.“ 

„Dder am Dreifaltigfeitstag! Warum denn nicht heute? Wer 
jagt denn, id effe morgen? Mein ganzes Effen unberührt laffen. 
Die Bohnen haben Sie nicht einmal angerührt, und fie waren 
doch fo gut.” 

Sean Valjean ergriff die Hand der alten Frau. 

„Ich verfprebe Ihnen, alles aufzueflen‘‘, fagte er freundlich. 

„Ich bin gar nidbt zufrieden mit Ihnen“, entgegnete die 
Pförtnerin. 

Sean Daljean fab feinen anderen Menfchen als diefe Frau. 
Es gibt in Paris Straßen, die Fein Menſch benüßt, Häufer, die 
niemand betritt. In einer folhen Straße und in einem foldhen 
Haufe wohnte Sean Daljean. 

Eine Woche verftrih, ohne daß Sean Valjean ausging. Er 
blieb im Bett. Die Pförtnerin fagte zu ihrem Mann: 

„Der gute Alte da oben fteht nicht mehr auf und ift nicht 
mehr. Das fann nicht lange dauern. Er hat wohl Kummer. Ich 
bin überzeugt, daß feine Tochter ſchlecht verheiratet iſt.“ 

nBenn er reich ift, antwortete der Pförtner im Ton ebe- 
"männlicher Überlegenheit, „ſo kann er einen Arzt holen laffen, ift 

er arm, fo Fann er es nicht. Wenn er feinen Arzt holt, ftirbt er.’ 

„Und wenn er doc einen holt?” 

„Dann ftirbt er auch“, erklärte der Pförtner. 

Am felben Tage fab die Pförtnerin auf der Straße einen 
Arzt, der in jener Gegend wohnte. Sie bat ihn auf eigene Ver— 
‚antwortung, zu dem Alten hinaufzugehen. 

… Mg der Arzt wieder herunterfam, fragte ihn die Pförtnerin: 

„Stun, Herr Doktor?‘ 

„Ihr Kranker ift wirklich krank.“ 

„Bas bat er denn?” 

‚les und nichts. Soviel mir fcheint, hat er jemand verloren, 
on dem er febr hängt. Manche Leute fterben an folhen Sachen.“ 

„Und was bat er Ihnen geſagt?“ 


743 


„Daß es ibm gut geht.‘ 
„Kommen Sie wieder?’ 
„Ja, aber beffer wäre, es Fäme ein anderer an meiner Statt.” 


2. Erlöſchen 


Eines Abends hatte Sean Valjean Mühe, ſich auf dem EN 
bogen aufzurichten; er fühlte feinen Puls und fand ihn Faum. 
Sein Atem war Eur und feßte zuweilen ganz aus. 

Don Todesahnungen aufgefchredt, raffte er fi zufammen, ftand 
auf und Eleidete fi) an. Dabei mußte er mehrere Male einhalten; 
als er in den Mod fchlüpfte, trat ibm Schweiß auf die Stirne. 
Seit er allein war, hatte er fein Bett in das Vorzimmer ge- 
ftellt, um die verödeten Räume möglichft wenig zu benüben. 

Feder Schritt, den er von einem Möbelftücd zum andern fat, 
ermüdete ihn fo fehr, daß er fit feßen mußte. Das war nicht 
die gemôbnlihe Müdigkeit, die Erfehöpfung ift und zugleich 
Sammlung neuer Kraft; es war der ſchwache Meft der Lebeng: 
fraft, die verftrömt und fich nicht mehr erneuert. 

Einer der Stühle, auf den er fich fallen ließ, ftand vor dem 
Spiegel, der ihm einft fo verhängnisvoll geworden war, als er 
darin Cofettes Schrift las. Er blidte hinein und erfannte fid 
foum. Er war adhtzig Sabre alt! Bevor Cofette geheiratet hatte, 
hätte man ihm Faum fünfzig gegeben; diefes einzige Jahr zählte 
für dreißig. Auf feiner Stirn waren nicht die Runzeln des 
Greifenalters, fondern bas geheimnisvolle Mal des Todes. Man 
fühlte die unerbittlihe Klaue des Schickſals. Seine Wangen 
waren fchlaff, die Haut hatte eine Farbe, die an Erde erinnerte; 
die beiden Mundwinfel waren berabgezogen wie bei den Masken, 
die man auf antifen Gräbern fiebt. Vorwurfsvoll blidte er 
ing Leere. 

Sept befand er fi im letzten Stadium der Verzweiflung, in 
jenem Zuftend, wo der Schmerz fozufagen nicht mehr beweglih 
ift, fondern erftorrt; eine Schicht der Verzweiflung lag auf 
feiner Seele. | 


747 


Es war dunfel geworden. Er fhleppte fih mübfam an einen 
Tiſch, auf dem Feder, Tinte und Papier bereitlag. Seine Hand 
gitterte, als er ſchrieb: 


„Ich fegne dich, Cofette. Du follft alles wiflen. Dein Patte 
bat recht, daß er mir zu verftehen gab, ich follte mich fort- 
packen; doc ift mandyes nicht wahr, was er glaubt; und doch 
bat er ref. Er ift ein vorzügliher Menſch. Du folft ihn 
immer lieben, wenn ich tot fein werde. Cofette, ich will dir 
fagen, daß das Geld dir gehört. So verhält es fih damit: 
der weiße Jett kommt aus Norwegen, der fhwarze aus Eng- 
land, das ſchwarze Glas aus Deutfchland. Vett ift leichter, 
Eoftbarer, teurer. Man fann in Franfreich Imitationen ber- 
ftellen fo gut wie in Deutfchland. Dazu braudht man einen 
Eleinen, zwei Qundratzoll großen Amboß und eine Spiritug- 
lampe, um die Wachsmaſſe zu fchmelzen. Früher verwendete 
man Harz, bas mit Ruß verfeßt wurde und vier Franken pro 
Pfund Foftete. Sch babe entdeckt, daB man auch Gummilack 
und Zerpentin verwenden Fann. Dann Eoftet bas Pfund nur 
dreißig Sous, und der Stoff ift fogar beffer. Die runden 
Budel werden aus violettem Glas gemadt und auf einem 
fleinen Eifenrahmen in die Harzmaffe eingefest. Für fchwar- 
jen Schmudf muß das Glas violett fein, für Goldſchmuck 
ſchwarz. Befonders die Spanier Faufen bas gern. Spanien ift 
das Land des Jetts ...“ 


Hier unterbrach er fih. Die Feder fiel ihm aus der Hand, 
er begann verzweifelt zu fchluchzen. 
In diefem Augenblif wurde an die Tür geflopft. 


3. Ein Verleumder, der zum Ehrenretter wird 


An demfelben Tage oder, genauer gejagt, am felben Abend, 
als Marius fih in fein Arbeitsfabinett zurücfgezogen hatte, um 
einen Akt zu ftudieren, bradte ihm Baske einen Brief und 
meldete, der Schreiber warte im Vorzimmer. 


145 


Ein Brief fann, ebenfo wie ein Menſch, ordinär ausfeben. 
Grobes Papier, ſchlechte Faltung mißfallen auf den erften Blick. 
Der Brief, den Baske brachte, war von diefer Art. Er roch nad) 
Zabaf. Nichts weckt leichter Erinnerungen wie ein Gerud. 
Marius erfannte ihn. Er las die Anfchrift, die lautete: „An 
den Herrn Baron Pommerci, im eigenen Haufe.” Der Tabak: 
geruch half ihm, die Schrift wiederzuerfennen. 

Das war das Papier, das diefelbe Tinte; die gleiche Schrift, 
der gleiche Tabaf: die Stube Jondrettes tauchte in feiner Er- 
innerung auf. 

Seltfam, jeßt wurde er auf eine der beiden Spuren ver- 
wiefen, die er fo lange gefuht und bereits verloren ge- 
glaubt hatte. 


Haftig entfiegelte er bas Schreiben und las folgendes: 


„Herr Baron, 


wenn bas Höchſte Wefen mic mit den nötigen Talenten aus- 
geftattet hätte, wäre ich der Baron Tbénard, Mitglied der 
Akademie der Wiffenfhaften, aber fo bin ich es nicht. Ich 
babe nur denfelben Namen mie er und bin glüdlid, wenn 
diefer Name mich Ihrer Güte empfiehlt. Die Wohltat, die 
Sie mir erweifen, wird gegenfeitig fein. Ich befise ein Ge- 
beimnis, bag eine Perfon betrifft, die Sie betrifft. Diefes 
Geheimnis ftelle ich Ihnen zur Verfügung, damit ich Ihnen 
nüßen kann. Sie follen ein einfades Mittel finden, aus 
Ihrer ebrenmerten Familie dag Individuum zu verjagen, das 
fein Recht darauf bat, denn die Frau Baronin ift von guter 
Herkunft. Die Tugend fol nicht länger mit dem Verbrechen 
gufammentwobnen. 


Sch erwarte im Vorzimmer die Befehle des Herrn Barons.“ 


Der Brief war unterzeichnet: Thenard. Diefe Unterfchrift 
war nicht gefälfcht. Der Schreiber hatte ſich begnügt, fie etwas 
zu verfürzen. 

Der fhwülftige Stil und die ſchlechte Orthographie hätten 


746 





genügt, um Marius auf die rechte Spur zu lenfen. Yet be- 
ftand Fein Zweifel mehr. 

Marius war fief erregt. Mad einer erften Wallung des 
+ Staunens empfand er ein intenfives Glücksgefühl. Jest brauchte 
er nur noch den andern zu finden, den Mann, der ihn gerettet 
hatte, dann war er wunſchlos. 

Er 309 eine Lade aus feinem Schreibtifch, entnahm ihr einige 
Noten, ftedte fie in die Tafhe und gab Vaste Beſcheid: 

„Laſſen Sie den Mann eintreten.’ 

„Herr Thénard!“ meldete Vaste. 

Und nod einmal war Marius überrafht. Der Mann, der 
eintrat, war ihm vollfommen unbefannt. Es war ein Greis mit 
einer plumpen Naſe, der das Kinn im Halstuch verbarg und 
grüne ‘Brillen aufhatte; die glatten Haare hingen in die Stirn 
wie bei den Perücden der Kutfcher vornehmer englifher Herren. 
Er hatte graue Haare und war vom Kopf bis zu Fuß in ein 
Ihwarzes, fhäbiges, aber fauberes Gewand gekleidet. Eine Un- 
menge Serloden baumelten über der Weſtentaſche und ließen 
eine Uhr ahnen. Er hatte einen alten Hut in der Hand. Übri- 
gens ging er gebüct, und die Krümmung feines Rückens be- 
fonte die Tiefe feiner Derneigung. 

Marius war fo enttäufcht,daß er den Unbefannten ziemlich übel- 
launig empfing. Er mufterte ihn vom Kopf bis zu Fuß, während 
der Sremde fi maflos tief verneigte, dann fragte er barf: 

„Bas wollen Sie?’ 

Der Mann antwortete mit einem liebenswürdigen Lächeln. 

„Es Scheint mir unmöglich, daß ich nicht fon die Ehre ge- 
habt haben follte, dem Herrn Baron in irgendeinem Salon zu 
- begegnen. Wenn ich nicht irre, babe ich Sie vor einigen jahren 
bei der Fürftin Bagration und im Salon des Grafen Dambrai, 
Pairs von Frankreich, geſehen.“ 

Marius beobadtete die Sprechweiſe des Unbekannten fharf. 
Seine Enttäufhung wuchs. Der Mann fprad in einem näfeln- 
den Zonfall, der ganz und gar nicht der fharfen, trocdenen Rede— 
weife Thenardiers entſprach. 


747 


„Ich kenne weder die Fürftin Bagration nod den Grafen 
Dambrai.“ 

Dieſe Antwort war kurz. Aber der Unbekannte verneigte ſich 
um ſo tiefer. 


fa 


— EU N \ lp 
9 N | 
| 














III 


SEK N 











„Wollen der Herr Baron mic anhören. Es gibt in Amerika, 
nicht weit von Panama, einen Ort namens La Joya. Diefer 
Ort beftebt aus einem einzigen Haus. Es ift ein vierecfiger, drei- 
ftöcfiger Dau aus Ziegeln, die in der Sonne gebrannt find. 


148 





Jede Seite des Haufes ift fünfhundert Fuß lang, und jedes 
Stockwerk fpringt gegen bas untere zwölf Fuß zurück, laßt alfo 
eine Terrafle frei, die wie ein Nundgang um bas ganze Haus 
läuft. In der Mitte ift ein Hof, in dem Vorräte und Munition 
aufbewahrt werden. Das Haus bat weder Fenfter noch Türen. 
Man begnügt fih mit Schießfcharten und Stridleitern, auf 
welden man vom Fußboden zum erften Stock, von diefem zum 
zweiten und dritten binauffteigen und von da wieder in den Hof 
binabgelangen kann. Auch die Zimmer find nicht durch Türen 
verbunden, denn im Haufe gibt es nur Leitern. Abends werden 
fie eingezogen, man legt die Karabiner in den Schießfcharten 
bereit. Niemand Éann eindringen. So ift diefer Ort, der acht— 
hundert Einwohner bat, des Nachts eine Zitadelle. Warum fo 
viel Vorfiht? Nun, das Land ift gefährlib. Es wimmelt von 
Menfhenfrefiern. Warum geht man alfo dahin? Ad, es ift ein 
wunderbares Land. Man finder dort Gold.’ 

„Bas fol sas alles?!’ unterbrad ibn Marius, deflen Ent- 
täuſchung jest in Ungeduld umfchlug. 

„Ich bin ein alter Diplomat, Herr Baron, aber ich bin 
europamüde. Unfere alte Zivilifation geht mir auf die Merven. 
Jetzt will ich e8 mit den Wilden verſuchen.“ 

„Und?“ 

„Herr Baron, der Egoismus iſt das höchſte Geſetz auf Erden. 
Die elende Bäuerin wendet ſich um, wenn die Kutſche vorüber— 
fährt; die Bäuerin, die eigenes Land beſitzt, wendet ſich nicht um. 
Der Hund des Armen bellt den Reichen an, der Hund des 
Reichen den Armen. Jeder für ſich! Das Intereſſe beſtimmt 
alle menſchlichen Handlungen. Das Gold iſt der Magnet, der 
uns alle anzieht.“ 

„Kommen Sie zum Schluß!“ 

„Ich möchte nach La Joya gehen. Wir ſind unſerer drei. Ich 
habe eine Frau und eine Tochter; das Mädchen iſt ſehr ſchön. 
Die Reiſe iſt lang und teuer. Ich brauche dazu etwas Geld.“ 

„Und was habe ich damit zu tun?“ 

„Hat denn der Herr Baron meinen Brief nicht geleſen?“ 


749 


Allerdings: der Inhalt des Schreibens war Marius ent- 
gangen. Er hatte nur die Schrift aufmerffam geprüft. Überdies 
hatte er einen neuen Fingerzeig empfangen: Der Unbefannte 
hatte gefagt, meine Frau und meine Tochter. Wieder fab 
Marius ibn [harf an wie ein Unterfuhungsrichter. Schließlich 
fagte er: 

„Außern Sie ſich deutlicher. 

Der Unbekannte ftedte die Hände in die Tafchen und ftreifte 
Marius durd feine Brillen mit einem grünen Blick. 

„Gut, Herr Baron. Deutliher. Ich will Ihnen ein Ge- 
heimnig verraten.‘ 

„Ein Geheimnis?‘ 

„Ein Geheimnis.” 

„Das mich betrifft?‘ 

„zum Zeil.” 

„Und was ift dag?‘ 

„Ich beginne gratis,” fagte der Unbefannte, „Sie werden 
gleich feben, daß die Sade Sie intereffiert. Sie haben, Herr 
Baron, einen Dieb und Mörder im Haufe. Beachten Sie wohl, 
Herr Baron, daß ich hier nicht von alten, weit zurückliegenden, 
verjährten Dingen fpreche, die dur Amneftie und Reue getilgt 
fein können. Ich fpreche von Verbrechen, die in jüngfter Zeit 
begangen wurden, von Verbrechen, die der Juſtiz noch nicht be- 
fannt find. Es ift diefem Manne gelungen, hr Vertrauen zu 
erringen und unter falfhem Namen in Ihre Familie einzu- 
dringen. Ich weiß feinen wirfliden Namen. Und ih will ihn 
Ihnen gratis fagen. Er heißt Sean Valjean.“ 

„Das weiß ich.” 

„Und ich will Ihnen auch ſagen, was er iſt. Er iſt ein Ga— 
leerenſträfling.“ 

„Auch das weiß ich.“ 

„Sie wiſſen es, ſeit ich die Ehre gehabt habe, es Ihnen zu 
ſagen.“ 

„Nein, ich wußte es ſchon früher.“ 


750 





Die falte Antwort Marius’ ftimmte den Unbefannten zornig. 
Verftohlen warf er Marius einen wütenden Blick zu. Sofort 
befänftigte er fi wieder, aber es gibt Blicke, die man wieder- 
erkennt, und biefer entging Marius nicht. Gewiffe Flammen 
fönnen nur aus beftimmten Seelen aufzuden. Brillen verbergen 
nichts. Man fieht die Hölle auch durch ein Fenfter. 

„Ich erlaube mir nicht, Herren Baron Lügen zu ſtrafen“, er- 
widerte der Unbefannte lächelnd. ‚Jedenfalls fehen Sie jekt, 
daß ich gut informiert bin. Jetzt follen Sie aber etwas erfahren, 
was nur mir befannt ift. Diefer Punft geht das Vermögen der 
Frau Baronin an. Es ift ein außerordentlic wichtiges Geheim- 
nis, ich will es verkaufen. Billig. Es foftet zwanzigtaufend 
Franken.“ 

„Ich kenne dieſes Geheimnis ſo gut wie die andern.“ 

Der Unbekannte fand es angemeſſen, den Preis zu ſenken. 

„Geben Sie zehntauſend, Herr Baron, und ich ſpreche.“ 

„Ich wiederhole Ihnen, daß Sie mir nichts zu ſagen haben. 
Ich weiß alles, was Sie mir mitteilen wollen.“ 

Wieder blitzte es auf in den Augen des Unbekannten. 

„Ich muß doch eſſen, Herr Baron. Es iſt ein außerordentlich 
wertvolles Geheimnis. Geben Sie zwanzig Franken, und ich 
ſpreche.“ 

Marius ſah ihn ſcharf an. 

„Ich kenne Ihr wertvolles Geheimnis. Mir iſt der Name 
Jean Valjeans ebenſo bekannt wie der Ihre.“ 

„Der war nicht ſchwer zu erraten, Herr Baron. Ich hatte die 
Ehre, ibn unter meinen Brief zu ſetzen. Thénard.“ 

Mende." 

nBie bitte?’ 

„Thénardier.“ 

In der Gefahr ſtreckt das Stachelſchwein ſeine Stacheln aus, 
der Käfer ſtellt ſich tot, die Soldaten bilden ein Karree. Dieſer 
Mann lachte. Dann ſchnippte er mit den Fingern ein Stäub— 
en von feinem Ärmel. 


751 


„Und Sie find aud der Arbeiter Jondrette,“ fuhr Marius 
fort, „der Schaufpieler Favantou, der Dichter Genflot, der 
Spanier Don Alvarez und Frau Balizard.“ 

„Frau wie?’ 

„Und in Montfermeil hatten Sie eine Herberge.‘ 

„Eine Herberge? Niemals!” 

„Und id fage Ihnen, daß Sie Ihenardier heißen und ein 
Lump find.” À 

Marius griff in die Tafhe, 309 eine Banknote heraus und 
warf fie ibm ins Geficht. 

„Danke! Verzeihung! Fünfhundert Franfen — Herr 
Baron!” 

Faſſungslos prüfte der Mann das Papier. 

„Gut“, fagte er endlich mit einem wilden Entfhluß. ‚Dann 
ohne Umfchweife.” 

Und mit der Behendigfeit eines Affen nahm er feine Haare 
ab, vif die Brille herunter — kurz, er nahm fein Gefibt ab, 
wie ein anderer den Hut lüfter. Sekt trat feine zerbeulte, wider- 
wärtig rungelige Stirn hervor, die Naſe wurde ſcharf wie ein 
Schnabel, das wilde, liftige Geficht des Beutemachers wurde 
fihtbar. 

„Der Herr Baron ift unfehlbar‘‘, fagte er mit einer Stimme, 
die nicht mehr näfelte. „Ich bin Thénardier.“ 

Und in diefem Augenblick verfhwand auch der Buckel. 

Thenardier war gedemütigt. Er fab diefen Baron Pontmercy 
um erftenmal, und bod erfannte ihn der Baron fogar in feiner 
Verkleidung. Va, er war nicht nur über Ihenardier, er war fo- 
gar über Sean Valjean aufgeflärt. 

Wie der Lefer fib erinnert, war Ihenardier einige Zeit Ma- 
rius’ Nachbar gemwefen, hatte ihn aber, wie bas in Paris wohl 
gefchieht, niemals zu Gefiht befommen. Der Gedanke, daß jener 
Marius diefer Baron Pontmerey fei, lag ihm fern. 

Übrigens hatte feine Tochter Azelma, die er mit der Aus- 
forfhung der Meuvermählten beauftragt hatte, allerlei beraus- 
gebracht, und auch er hatte manche geheimnisvolle Zufammen- 


152 





bänge aufgefpürt. Durch emfige Nachforſchungen war es ihm ge- 
lungen zu erraten, wer der Mann war, dem er damals am Aus- 
gang der Sammelflonfe begegnet war. Dann hatte er ben 
Namen berausgebradt. Er wußte, daß die Baronin Pontmerch 
niemand anderes war als Cofette. Aber über biefen Punkt 
wünſchte er fich nicht zu äußern. Wer war Eofette? Er wußte es 
ja felbft nicht. Irgendein uneheliches Kind offenbar, denn die 
Gefhichte Fantines war ihm immer unglaubwürdig erfchienen. 
Wozu aber follte er davon fprehen? Sollte er fein Schweigen 
verfaufen? Er batte beffere Trümpfe auszufpielen. Oder er 
glaubte es wenigftens. Überdies würde der Baron Pontmercy 
aller Wahrfcheinlichfeit nach, wenn man ihm ohne alle weiteren 
Beweiſe fagte, feine Frau fei ein unebelihes Kind, Faum mit 
einer anderen Münze zahlen als mit einem Fußtritt. 

Thénardier fab Marius fat zärtlich an. 

„Thénardier,“ begann Marius, id babe Ihnen Ihren Na— 
men genannt. Was hr Geheimnis betrifft: wollen Sie, daß 
ich e8 ihnen fage? Ich bin auch informiert. Sie werden feben, 
daß ich mehr weiß als Sie. Sie fagen, daß Jean Valjean ein 
Mörder und Dieb ift. Er ift ein Dieb, denn er hat einen reichen 
Sabrifanten beftohlen, deffen Ruin er verurfacht hat, einen ge- 
wiffen Madeleine. Und er ift ein Mörder, denn er bat den 
Polizeiagenten Javert ermordet.’ 

„Ich verftehe Fein Wort davon’, antwortete Thenardier. 

„Sie werden gleich verftehen. Im Arrondiffement Pas-de- 
Calais lebte um 1822 ein Mann, der einmal mit den Behörden 
Schwierigkeiten gehabt hatte, fi) aber fpäter unter dem Namen 
Madeleine wieder in die Höhe brachte. Diefer Mann wurde ein 
Gerechter im höchſten Sinne des Wortes. Durch die Hebung 
der Vnbuftrie ſchwarzen Glafes begründete er den Wohlſtand 
einer Stadt. Er felbft wurde gleihfalls reich, wenn auch nur in 
zweiter Linie und gewiffermaßen gelegentlih. Er war der Nähr- 
vater der Armen, gründete Spitäler, baute Schulen, forgte für 
die Kranken, gab jungen Mädchen eine Ausfteuer, half Witwen, 
adoptierte MWaifen. Er war, möchte ich jagen, der Vormund der 


48 Hugo, Die Elenden. 753 


ganzen Stadt. Das Kreuz der Ehrenlegion fehlug er aus, aber 
fblieBlih wurde er Bürgermeifter. Ein entfprungener Galeeren- 
fträfling wußte bas Geheimnis einer fhändliben Strafe, zu der 
diefer Mann feinerzeit verurteilt worden war; er benungierte 
ihn, ließ ihn verbaften und benüßte die Gelegenheit diefer Ver— 
baftung, um in Paris bei Lafitte, von deſſen Raffierer ich die 
ganze Sache erfahren habe, mit Hilfe einer falfhen Unterfchrift 
einen Betrag von mehr als einer halben Million abzuheben, die 
jenem Madeleine gehörte. Diefer Sträfling, der Madeleine be- 
ftapl, ift Sean Daljean. Und was bas andere Verbrechen be- 
trifft, Eönnen Sie mir aud nichts Meues erzählen. Sean DBal- 
jean hat den Agenten Javert getötet. Gut, ich felbft war dabei.” 

Ihenardier warf Marius jest den ftolgen lit eines Man- 
nes zu, der fon gefchlagen war und in Iekter Minute bas ver- 
forene Terrain wiedergemwinnt. 

„Sie find hier auf einer falfhen Spur, Herr Baron.” 

„ie, Sie beftreiten das? Es find Tatſachen.“ 

„Dein, e8 find Schimären. Das Vertrauen, mit dem der 
Herr Baron mic beehrt, madt es mir zur Pflicht, Ihnen bas 
zu fagen. Sean Daljean bat Vavert nicht getötet.‘ 

„Wieſo nicht?” 

„Er bat weder Javert getötet noh Madeleine beftohlen. 
Madeleine Éann er nicht beftohlen haben, denn Sean Baljean ift 
felbft Madeleine.” 

„Aber was erzählen Sie da?’ 

„Und zum zweiten hat er nicht Javert getötet, weil Javert 
Selbftmord begangen hat.’ 

„Beweiſen Sie das!’ ſchrie Marius außer fi. 

‚Der Polizeiagent Javert wurde unter dem Pont-au-Change : 
aus dem Wafler gezogen.” 

„Beweiſe!“ 

Thénardier zog einen Umſchlag aus der Taſche, in dem zu— 
ſammengefaltete Blätter von verſchiedener Größe lagen. 

„Das ſind meine Akten“, ſagte er ruhig. „Herr Baron, ich 
habe mich in Ihrem Intereſſe gründlich mit Jean Valjean 


154 





befhäftigt. Wenn id fage, daB Sean Valjean Madeleine ift und 
daß Javert ſich felbft getötet bat, fo babe id aud die Beweiſe 
in der Hand. Nicht gefchriebene, denn biefe find ja verdächtig, 
man fann fhreiben, was man will, aber gedruckte.‘ 

Erzogzweivergilbte, rauchgeſchwängerte Zeitungsblätter heraus. 

„Zwei Tatſachen, zwei Berichte”, fagte er. 

Er reihte Marius die beiden Blätter, die der Lejer bereits 
fennt. Das eine, ältere, war eine Nummer des ,, Drapeau blanc” 
vom 25. juli 1823, in der die Identität Mabeleines und Jean 
Valjeans feftgeftellt wurde. Das andere eine Nummer des 
„Moniteur‘‘ vom 15. Juni 1832, in der der Selbftmord Va- 
verts gemeldet und von einem Bericht des Polizeingenten erzählt 
wurde, daß er auf der Barrikade in der Mue de Ia Cbanvrerie 
durch den hochherzigen Entfchluß eines Ynfurgenten gerettet wor- 
den fei, der ihn, ftatt ihn befehlsgemäß zu erfchießen, laufen ließ. 

Marius las. Hier hatte er es mit unanzweifelbaren Tat- 
fachen zu fun, denn diefe Blätter Fonnten nicht gedruckt worden 
fein, nur um Ihenardiers Behauptungen zu beftätigen. Der Be— 
richt des , Moniteur“ war eine Communiqué der Polizeipräfef- 
tur. Marius fonnte nicht zweifeln. Der Kaffierer hatte fi offen- 
bar getäufht. Plöslih wudbs Sean Valjean zu gewaltiger 
Größe an, trat aus dem Dunfel hervor. 

„Ja, aber dann ift diefer Unalüdlihe ein bemunderungswür- 
biger Mann! Das Vermögen gehörte ihm alfo wirflib! Er ift 
Madeleine, der Netter Javerts! Ein Held! Ein Heiliger!” 

„Weder ein Held noch ein Heiliger”, antwortete Ihenardier. 
„Ein Dieb und ein Mörder.” 

„Noch immer?‘ 

„Noch immer. Er hat zwar nicht Madeleine beftohlen, aber er 
iſt ein Dieb. Er hat nicht Javert ermordet, aber er ift ein Mör- 
der. Sch will ihnen alles fagen, Herr Baron, und ich verlaffe 
mich, was die Entlohnung betrifft, auf Ihre Güte. Diefes Ge- 
heimnis ift gemünztes Gold wert. Herr Baron, am 6. uni 
1832, vor etwa einem jahre, an dem Tag der Rebellion, hielt 
fih ein Mann in der Sammelfloafe auf, dort, wo fie fid in die 


48* 755 


Seine ergieBt, zwifchen dem Pont-des-nvalides und dem Pont- 
d'Jéna. Diefer Mann mußte fid) aus Gründen, die übrigens 
nichts mit Politik zu tun hatten, verbergen. Darum hatte er die 
Kloafe zu feinem Wohnſitz auserforen und fih einen Schlüffel 
verfchafft. Dies gefhah, wiederhole ih, am 6. Juni. Es mobte 
gegen acht Uhr abends fein. Da hörte diefer Mann in der Kloake 
ein Geräufh. Sehr verwundert budte er fib und hielt Aus- 
ſchau. In der Dunfelbeit näherten fih Schritte. Es war fonder- 
bar, incbiefer Kloake befand fi) außer ihm nod ein Mann. Das 
Gitter war nicht weit von diefer Stelle entfernt. Ymmerbin Tieß 
es genug Licht durch, daß jener Mann den Neuankömmling 
ziemlich gut feben und etwas bemerfen Fonnte. Diefer Mann 
ging gebüct. Er trug etwas auf dem Rücken. Und diefer Mann, 
der da gebücft ging, war ein alter Galeerenfträfling, der Gegen- 
ftand aber, den er auf dem Rücken trug, war ein Leichnam. Alfo: 
ein Mörder, in flagranti ertappt. Was den Diebftahl betrifft, 
fo verfteht er fi von felbft. Denn für nichts und wieder nichts 
bringt man niemand um. Der Sträfling wollte alfo feinen 
Leibnam in den Fluß werfen. Ein Umftand war befonders auf- 
fällig. Bevor der Mörder zu dem Gitter gelangen Fonnte, 
mußte er an einem Schlammloch vorüberfommen, und in biefes 
hätte er die Leiche ganz gut werfen Fünnen. Allerdings, die 
Ranalräumer hätten am nächſten Tage den Toten gefunden, und 
man hätte fit nach dem Mörder auf die Suche gemadt. So 
hatte er es vorgezogen, mit feiner Loft durch biefes Schlammlod) 
hindurchzumwaten, und das muß furchtbar fehwer gemwefen fein. 
Da hieß es fein eigenes Leben aufs Spiel feßen. Mir ift es 
no heute unbegreiflich, wie er dabei Iebendig berausgefommen 
ift. Herr Baron, die Kloake ift nicht das Marsfelb. Man ift 
dort etwas beengt. Wenn zwei Menfchen in der Klonfe find, 
müffen fie einander notwendigerweife begegnen. Und bas gefchah. 
Der Mann, der hier feinen Wohnſitz aufgefchlagen hatte, und 
der andere, der nur vorbeifam — biefe beiden mußten einander 
guten Tag fagen, fo unlieb es ihnen au war. Und der Fremde 
fagte zu dem Klonfenbewohner: du fiehft, was id ba auf dem 


156 





Rücken babe. Ich muß hinaus, bu haft den Schlüffel, gib ibn 
mir. Diefer Sträfling fab fürdterlih aus. Er war nicht einer, 
dem man etwas abſchlägt. Der andere verfuchte zu parlamen- 
tieren, um wenigftens Zeit zu gewinnen. Er fab ſich den Toten 
on, Éonnte aber nur bemerken, daß er jung ausfab, bübfh an- 
gezogen war, einem Neichen gli) und viel Blut im Geficht hatte. 
Während er fi) alfo mit dem Sträfling unterhielt, fand er eine 
Gelegenheit, unauffällig einen Feben von dem Mod des Er- 
mordeten abzureißen. So etwas ift ein Beweisſtück, begreifen 
Sie? Das genügt, um eine Spur zu verfolgen und einen Ver— 
breder zu überführen. Dann öffnete er, ließ den andern mit 
feiner Laft auf dem Buckel hinaus, fperrte wieder zu und 309 fi) 
zurüd. Sie begreifen jeßt wohl. Der Mann, der diefen Toten 
trug, war Sean Daljean, und jener mit dem Schlüffel fpricht 
gerade mit Ihnen; der Fetzen Tuch aber... 

Thenardier 309 ein etwa zwei Zoll langes, ſchwarzes, zerriffe- 
nes Stück Tuch aus der Tafche. 

Marius war aufgeftanden. Er vermochte Faum zu atmen. 
Mortlos, ohne bas Stüf Tuch aus dem Auge zu laffen, eilte er 

zur Wand, fuchte taftend den Schlüffel eines neben dem Kamin 
eingebauten Wandſchranks. Er fand ibn, ſchloß auf, griff ohne 
bingufeben in den Schranf und warf dann einen alten, ſchwar— 
zen, blutbefleckten Mot auf den Boden. 

„Der junge Mann war ich und dies hier ift der Rock!“ rief er. 

Thenardier erftarrte zu Stein. Verzweifelt und ftrahlend zu- 
gleich richtete fih Marius auf. Wieder griff er in die Taſche, 
trat vor Ihenardier bin, hielt ihm die Fauft, in der er no 
einige Banknoten hatte, unter die Naſe und fhrie: 

„Sie find ein Schurfe! Sie find ein elender Lügner, ein Ver— 
leumder und Schuft! Sie fommen hierher, um jenen Mann an- 
zuflagen, und Sie haben ihn nur gerechtfertigt! Sie wollten ihn 
zugrunde richten, aber Sie haben feine Ehre wiederhergeftellt! 
Sie find ein Dieb, und Sie find ein Mörder! Ich habe Sie 
fehr wohl damals auf dem Boulevard de l'Höpital gefeben, 
Ihenardier-Sondrette! ch weiß genug, um Sie fofort in das 


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Bagno zu fhifen. Mehr noch, wenn Sie wollen! Da haben Sie 
nod taufend Sranfen, Sie Hund! Feiger Schurfe! Mag Ihnen 
das eine Lehre fein, Sie Schadyerer mit Geheimniffen, nehmen 
Sie not diefe fünfhundert Franken und paden Sie fib fort! 
Mur Waterloo bewahrt Sie vor dem Schlimmſten!“ 

„Waterloo?“ murmelte Ihenardier und ftedte die beiden 
Banknoten ein. 

„Allerdings, Sie Mörder, Sie haben einem Oberften das 
Leben gerettet...” 

„Einem General’, antwortete Thenardier und bob den Kopf. 

„Einem Oberften,” fdrie Marius, „für einen General würde 
ich Feinen Pfifferling geben. Und jeßt fommen Sie hierher aus 
purer Niedertracht! Es gibt Fein Verbrechen, bas Sie nicht be- 
gangen hätten. Verſchwinden Sie! Sort mit Ihnen aus Paris! 
Laffen Sie fi) anderswo aufhängen.” 

Theénardier verneigte fich fief. 

„Ewigen Dank, Herr Baron’, fagte er. 

Und er ging. 

Auch wir wollen mit diefem Menfchen fertig werden. Zwei 
Tage fpäter fhiffte er fih unter falfhem Namen nad Amerika 
ein. Das moralifhe Elend diefes Menfhen war unabänderlic. 
Er war in Amerika, was er einft in Europa gewefen. Mit dem 
Geld, das Marius ihm gegeben, wurde er Sflavenhändler. 

Sobald Thénarbdier fort war, eilte Marius zu Cofette in den 
Garten. 

„Coſette!“ rief er, „komm fchnel! Baske, eine Droſchke! 
Komm Cofette! Großer Gott, er ift es, der mir bas Leben ge- 
rettet hat! Wir dürfen Feine Minute verlieren!” 

Cofette gehorchte. 

Er war foffungslos. est erfhien ihm jean Valjean als eine 
erbabene, unvergleihliche Geftalt. Diefer Sträfling nahm die 
Geftalt Eprifti an. 

Sm nähften Augenblid ftand die Drofchfe vor der Zür. Ma- 
rius bob Cofette hinein und folgte ihr. 

„Kutſcher,“ vief er, „Rue de l'Homme Arme No. 71 


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4. Sehbte Naht, Der Log briht an 


Sean Daljean hörte an die Türe Flopfen und wandte fit um. 

„Herein“, fagte er ſchwach. 

Die Tür ging auf, Eofette und Marius erfhienen. 

Die junge Frau eilte an den Tifh. Marius blieb auf der 
Schwelle ftehen und lehnte fit an den Türpfoften. 

„Sofette”, fagte Jean Daljean und richtete fi) in feinem 
Lebnftubl auf. Eine unausfpreblihe Freude war in feinen 
Augen. 

Außer fib vor Rührung, ſank ihm Cofette an die Bruft. 

„Vater!“ rief fie. 

„Coſette,“ ftammelte Jean Valjean, „du bift es! Großer 
Gott!!!’ Er Schloß fie in feine Arme. „Alſo du bift es! Du ver- 
zeihft mir alſo!“ 

Marius, der die Liber niederfchlagen mußte, um die Tränen . 
zu unterdrüden, fraf vor und murmelte, Frampfhaft mit dem 
Schluchzen Fämpfend: 

„Vater!“ 

„Alſo auch Sie verzeihen mir?“ 

Marius konnte nicht ſprechen. 

Jetzt ſaß Coſette bei dem Greis, ſtrich ihm ſeine weißen Haare 
aus der Stirn und küßte ihn. 

Unendlich beglückt, ließ Jean Valjean ſie gewähren. Es war, 
als ob Coſette ein wenig begriffe und die Schuld Marius’ ab- 
fragen wollte. 

„Ach,“ ftammelte Sean Daljean, ‚wie dumm man bob ift! 
Sch glaubte fon, ih würde fie nie wiederfehen. Stellen Sie 
ſich vor, Herr Pontmercy, ih dachte mir: Mie werde ich fie 
wiederfehen. Wie dumm! Man zählt nie auf Gott. Oh, ich war 
febr unglüdlih. Wahrhaftig, ich mußte Eofette zumeilen fehen. 
Auch ein Herz braudt, wie ein Hund, den Knochen, an dem es 
nagen Fann. Aber ich begriff, daß ich überzählig war. Wohl 
überlegte ih mir alles. Sie brauchen mich nicht mehr, dachte ich, 
bleib in deinem Winkel, man darf ſich nicht ewig den Leuten 


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auforangen. Aber Gott fei gefegnet, ich fehe fie wieder. Weißt 
du, Cofette, daß dein Mann febr hübſch ift? Ach, Herr Pont— 
merch, erlauben Sie, daß ich du zu ihr fage. Es ift nur für 
kurze Zeit.‘ 


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„Das war fchledht von dir,” fagte Cofette, „daß du uns fo 
allein gelaffen haft. Wo warft du denn nur? Früher dauerten 
deine Reiſen immer nur drei oder vier Tage. Sch babe oft Mico- 
lette gefchicft, aber immer befam fie ben Beſcheid: noch verreift. 
Seit wann bift du denn zurück? Warum haft bu ung nicht gleich 


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verftändigt? Marius, er ift febr Eranf, fühle nur, wie feine 
Hand falt if!‘ 

„Alſo ihr feid da! Sie verzeihen mir alfo, Herr Pontmercy!’ 

Bei diefem Wort ſchmolz Marius’ Herz, er ſchrie auf. 

„Sofette, bôrft du es? Er verlangt, daß ich ihm verzeihe! 
Weißt du aud, was er getan hat? Er bat mir dag Leben ge- 
rettet. Mehr noch, dich bat er mir gefchenft. Und dann bat er 
fih felbft geopfert. Und ich Undankbarer, Unbarmherziger, id 
ftehe da, und er fagt zu mir: Danfe! Cofette, wenn id mein 
Leben lang vor diefem Mann auf den Knien gelegen wäre, es 
wäre nicht genug! Die Barrifade, die Kloafe, das Schlammloch 
— alles für mid und für dich, Cofette! Tauſendfach bat er mid 
vor dem Tod bewahrt und fi) dem Tode ausgefest! Er befist 
jede Art von Mut, Tugend, Heroismug — er ift ein Engel!‘ 

„Stil, fagte Sean Daljean, „warum fagen Sie dag?” 

„Barum haben Sie nichts gefagt? Sie find felbft ſchuld. Sie 
retten den Leuten dag Leben und verftefen fih! Mehr no, 
unter dem Vorwande, ſich zu demasfieren, verleumden Sie fic 
felbft! Es ift ſchrecklich!“ 

„Ich babe die Wahrheit gejagt‘, antwortete Jean Valjean. 

„Sein, denn nur die ganze Wahrheit ift wahr. Sie find 
Madeleine, warum haben Sie das nicht gefagt? Sie haben Ja— 
vert gerettet, warum haben Sie es verheimlicht? ch fchulde . 
Ahnen mein Leben, warum fagten Sie es nicht?‘ 

„Ich dachte wie Sie. Sie hatten ja recht. Ich mußte gehen. 
Wenn Sie gewußt hätten von der Kloafe, hätten Sie mich ge- 
zwungen, bei Ihnen zu bleiben. Alfo mußte ich ſchweigen. Wenn 
ich gefprochen hätte, wäre ich Ihnen hinderlich geweſen.“ 

„Wer? Uns hinderlih? Glauben Sie wirklich, daß Sie jekt 
bierbleiben werden? Mein, wir nehmen Sie mit. Großer Gott, 
wenn ich bedenke, daß nur ein Zufall mid) aufgeflärt hat! Wir 
nehmen Sie gleich mit. Sie gehören zu uns. Sie find Cofettes 
und mein Vater. Keinen Tag mehr follen Sie in diefem fchred- 
lihen Haus zubringen.“ 


761 


„Ich werde morgen nicht mehr hier fein, aber auch nicht bei 
Ihnen.“ 

„Was meinen Sie damit?“ fragte Marius. „Oh, wir werden 
nicht erlauben, daß Sie wieder verreiſen. Sie dürfen uns nicht 
mehr verlaſſen. Sie gehören uns, wir laſſen Sie nicht.“ 

‚Diesmal für immer’, beſtätigte Cofette. , Der Wagen war— 
tet unten. Ich nehme dich gleich mit. Wenn es nötig iſt, auch 
mit Gewalt. Dein Zimmer in unſerem Haus erwartet dich. 
Wenn du nur wüßteſt, wie hübſch der Garten jetzt iſt. Die 
Azaleen gedeihen prächtig. Auch kannſt du friſche Erdbeeren aus 
meinem Garten eſſen. Ich begieße ſie immer ſelbſt. Und jetzt iſt 
es aus mit Frau Baronin und Herr Jean, bei uns iſt Republik, 
alle Welt duzt ſich, nicht wahr, Marius? Wir ſind alle fröhlich 
und glücklich. Großvater wird ſich ſehr freuen. Du ſollſt ein 
eigenes Beet im Garten bekommen, dann wollen wir ſehen, ob 
deine Erdbeeren ebenſogut gedeihen wie meine. Ich werde alles 
tun, was du willſt, aber du mußt mir auch gehorchen.“ 

Jean Valjean lauſchte ihren Worten, ohne zu hören. Er 
fühlte nur die Muſik ihrer Stimme. 

„Ja,“ ſagte er ſchließlich, „das wäre ſehr ſchön, wenn wir 
zuſammen leben könnten. Ich könnte zu den Leuten gehören, die 
einander fröhlich guten Tag zurufen. Schon am frühen Morgen 
ſieht man einander. Jeder könnte ein Beet bebauen. Sie wird 
mich ihre Erdbeeren eſſen laſſen, ich ſchenke ihr meine Roſen. 
Sehr ſchön, nur... ſchade!“ 

Jean Valjean lächelte. 

Coſette nahm ſeine Hände in die ihren. 

„Mein Gott,“ rief ſie, „deine Hände ſind ja noch kälter ge— 
worden. Biſt du krank?“ | 

„Oh, id fühle mic, febr wohl. Nur ...“ 

— 

„Ich ſterbe.“ 

„Sterben!“ rief Marius. 

„Ja, aber es bedeutet nichts“, entgegnete Jean Valjean. 
„Coſette, ſprich weiter, ich will deine Stimme hören.“ 


762 


Marius ftarrte wortlos den Greis an. 

„Vater,“ vief Cofette, „du wirft leben! Sch will, daß bu 
lebſt!“ 

Jean Valjean ſah ſie innig an. 

„Ja, verbiete mir nur zu ſterben. Wer weiß, vielleicht ge— 
horche ich dir. Ich war ſchon dabei, als ihr kamt. Das hat mich 
aufgehalten. Mir ſcheint, ich bin wiedergeboren.“ 

„Aber Sie ſind ja noch voll Lebenskraft,“ rief Marius, „wie 
können Sie glauben, daß man ſo leicht ſtirbt? Sie hatten Kum— 
mer, gut, aber das iſt jetzt zu Ende. Jetzt bitte ich Sie um 
Verzeihung, und auf den Knien! Sie werden leben mit uns und 
lange! Wir ſind zwei, aber wir haben nur einen einzigen Ge— 
danken, Ihr Wohlergehen.“ 

„Siehſt du wohl, Vater,“ ſagte Coſette weinend, „auch Ma— 
rius ſagt, daß du nicht ſterben wirſt.“ 

Wieder lächelte Jean Valjean. 

Jetzt wurde an die Tür geklopft. Es war der Arzt. 

„Guten Tag, Herr Doktor“, ſagte Jean Valjean. „Dies ſind 
meine Kinder.“ 

Marius näherte ſich dem Arzt. Er fragte nur „Herr Dok— 
tor ...?“, aber in dieſer Frage lag alles. Mit einem bedeu— 
tungsvollen Slif antwortete der Arzt. 

„Daß die Sade uns nicht gefällt,” fagte Sean Valjean, ,,ift 
fein Grund, gegen Gott ungerecht zu fein.’ 

Test ſchwiegen alle bedrüdt. Jean Valjean betradhtete Co- 
fette, als ob er ihr Bild in die Emigfeit mitnehmen wollte. Der 

Arzt fühlte feinen Puls. 
„aAlſo Sie find es, die er brauchte!’ murmelte er. 

Sean Valjean fab jest aud Marius und den Arzt heiter an. 
Man hörte, wie er mit [hwaher Stimme fagte: 

„Sterben bedeutet nichts. Es ift fbredlib, nicht zu leben.“ 

Plötzlich richtete er fih auf. Die Rückkehr der Körperfraft 
ift zuweilen ein Vorbote des Todeskampfes. 

„Ihr feid beide gut”, fagte Sean Valjean. „Ich will euch 


163 


jagen, was mic) gefränft bat. Es fat mir leid, Herr Pontmercy, 
daß Sie bas Geld nicht anrühren wollten. Diefes Geld gehört 
wirklich Ihrer Frau. hr follt wiffen, meine Kinder, gerade 
darum freut es mic befonders, daß ihr gefommen jeid. Der 
Ihwarze Jett Fommt aus England, der weiße aus Norwegen. 
Ihr findet das alles in dem Brief da. Was die Armbänder be- 
trifft, babe ich entdeckt, daß es gar nicht gut ift, die Verfchlüffe 
zu Flöten. Ungelötet find fie hHübfcher und Fommen billiger. Wenn 
ihr bas left, werdet ihr begreifen, daB man auf diefe Weife viel 
Geld verdienen Fann. Ich fage euch das alles nur, damit ihr 
beruhigt ſeid.“ 

Er winfte Cofette und Marius, fie follten näher treten. Leife, 
als ob er fon aus der Ferne fpreche, fuhr er fort: 

„Tretet näher, ihr beiden! Ich Liebe euch febr. Auch bu liebft 
mich, Cofette. Es ift fchön, fo zu fterben. Wußte ich es doch, daß 
du den Alten immer gern batteft! Du wirft doc ein wenig um 
mich weinen, nicht wahr? Aber nicht zuviel! ch will nicht, daß 
du wirflih Kummer haft. hr ſollt euch amüfieren, Kinder. Faft 
hätte ich vergeflen, euch zu fagen, daß die Schnallen beffer find 
und einträglicher, wenn man den Dorn wegläßt. Wir haben 
Ichließlich fogar mit den Berliner Sabrifanten erfolreih Eon- 
Éurriert. Gegen das Schwarze Glas aus Deutfhland Fann man 
aber nicht kämpfen. Ein Gros, zwölfhundert gutgedrechfelte Per- 
Ien, Éoftet nur drei Sranfen. Wenn man von den Schnallen 
zwölf Dusßend für zehn Franken herftellt, Fann man fie für 
jechzig verkaufen. Da dürft ihr euch nicht wundern, wo die ſechs— 
hunderttaufend Franfen herfommen. Es ift fauberes Geld. Ihr 
fönnt mit gutem Gewiffen reich fein. hr follt eud einen Wagen 
halten, von Zeit zu Zeit ins Ihenter gehen und euren Freunden 
Gefellfehaften geben. Ich babe Eofette gefchrieben, fie wird den 
Brief finden. Er liegt dort auf dem Kamin zwifchen den beiden 
Leuchtern. Sie find aus Silber, aber für mid) find fie Gold, ja 
fogar Diamanten. Wenn man ein Zalgliht in fie ſteckt, wird es 
zu einer Kerze. Sch weiß nicht, ob er, der fie mir gefhentt bat, 
da droben zufrieden mit mir ift. Sch tat, was ich konnte. Ber- 


164 


geßt nicht, liebe Kinder, daß ich ein armer Mann bin, und laßt 
mich in irgendeiner Ecke begraben. Ich will bas fo. Setzt feinen 
Namen auf meinen Stein. Wenn Eofette zuweilen mich befuchen 
will, wird es mich freuen. Auch Sie follen fommen, Herr Pont- 
merch. Sch war, offen gefagt, nicht gerade immer Ihr Freund: 
Verzeihen Sie mir. Aber ich weiß, daß Sie Eofette glüdflich 
machen, und dafür bin ich Ihnen dankbar. Ich war immer glüd- 
lib, wenn das Kind rofig war, immer traurig, wenn ich fie blaß 
fab. In der Kommode liegt ein Fünfhundertfranfenfchein. Ich 
babe nichts davon verbraudt. Gebt bas Geld den Armen. Co- 
fette, fiehft du dort auf dem Bett bas Kinderfleid? Erfennft 
bu es? Erinnerft bu did an Montfermeil, Cofette? Du batteft 
damals große Angft. Erinnerft du did noch, wie ich dir ben 
Eimer abnabm? Damals babe ich zum erftenmal dein armes, 
Éleines Händchen berührt. Ach, e8 war fo falt! Du batteft rote 
Hände, damals, aber jest find fie weiß. Und die große Puppe! 
Erinnerft du dih? Du nannteft fie Katherine. Es tat dir fo 
leid, daß bu fie nicht ins Klofter mitnehmen durfteft! Wie oft 
babe ich lachen müflen über dich, mein Engel! Wenn e8 geregnet 
hatte, warfft bu Strohhalme in den Ninnftein und fahft ihnen 
nad. Einmal Faufte id dir einen Schläger und einen Ball mit 
gelben, blauen und grünen Federn. Du haft e8 vergeflen. Und 
die Thénarbdiers waren fehr fchleht zu dir. Man muß es ihnen 
nicht verübeln. Du follft jest aud den Namen deiner Mutter 
wiſſen. Sie hieß Fantine. Merk’ dir diefen Namen: Fantine. 
Knie immer nieder, wenn du ihn ausfpribft. Sie hat viel ge- 
Titten und dich febr geliebt. Cofette, eg war nicht meine Schuld, 
daß ich all die Zeit über nicht zu dir Fam. Mir bat es bas Herz 
zerriſſen; Kinder, ich febe nicht mehr ganz Elar, ich hätte euch 
mod vieles zu fagen, aber es ift ja nicht wichtig. Denft ein 
"wenig an mich. Ihr feid gefegnete Geſchöpfe. Ich weiß nicht, 
was bas ift, aber ich febe jest Licht. Kommt nod näher. Gebt 
mir eure lieben Köpfe, damit id meine Hände darauf lege.“ 
Cofette und Marius Enieten nieder und legten die Hände 
Sean Valjeans, die bereits reglos waren, auf ihre Köpfe. Er 


165 


faß zurückgelehnt im Licht der beiden Leuchter, fein weißes Ge- 
fit war dem Himmel zugewandt. 

Er war tot. 

Diefe Naht war tief dunfel und von feinem Stern erhellt. 


5. Das Gras wuhertdarauf und der Megen 
vermifhtes 


Auf dem Friedhof des Père Lahaife, unweit des Maffen- 
grabs, fern von dem vornehmen Viertel der Gräberftadt, fern 
von diefen Phantafiegräbern, die im Angeficht der Ewigkeit einer 
iheußlihen Mode huldigen, in einem ftillen Winfel, an einer 
alten Mauer findet man unter einer Eibe einen Grabftein. Auch 
on ihm hat der Zahn der Zeit genagt, Moos und Flechten über- 
wuchern ihn, das Wafler macht ihn grün, die Luft ſchwarz. Es 
führt fein Pfad dahin, denn das Gras wächſt dort hoch, niemand 
will feine Füße naß maden. Wenn die Sonne fheint, fommen 
die Eidechſen aus ihren Derfteefen hervor. Ningsum wiegt fi 
im Winde wilder Hafer. 

Der Stein ift Éabl. Man bat ihn nicht länger und breiter 
gemacht als nötig war, um einen Leichnam zu bededen. 

Es fteht Fein Name darauf. 

Dod bat vor vielen Jahren eine Hand mit Dleiftift vier 
Verſe darauf gefchrieben, die der Megen und der Staub fhon 
etwas verwifcht haben, und die heute gewiß fchon verlöfcht find: 


„Er ſchläft. Sein Schidfal feltfam war. 
Er ftarb, als feinen Engel er verlor. 
Und dies geſchah von ungefähr, 

So wie die Nacht dem Tage folgt.” 


Finis 


Die Aluftrationen 


auf Seite 218, 281 und 298 find von BictorYugo, auf 
©eite 233 und 575 von Jeanniot. Das Bild auf dem 
Umſchlag, auf Seite 569 wiederholt, ift von Delacroir, 
die Zeichnung auf Seite 409 von Cazin, das Bild gegen- 
über der Zitelfeite von Bayard, Alle übrigen Illuftra= 
tionen find von dem Elfäfler Öuftave Brion. 


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DEMCO 38-297 


BRIGHAM YOUNG UNIVERSITY 


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