Pöhlmann, Hans Adam
Die Erkenntnistheorie Rud
Digitized by the Internet Archive
in 2009 witii funding from
University of Toronto
littp://www.arcliive.org/details/dieerkenntnistlieOOpli
Die Erkenntnistheorie
Rud. Herrn. Lotzes.
Inaupral-Dissertation
zur
Erlangung der philosophischen Doktorwürde
der
hohen philosophischen Fakultät
der
k. b. Friedricli- Alexanders -Universität zu Erlangen
vorgelegt von
Hans Pöhlmann
aus Goldkronach.
Tag der mündlichen Prüfung: 4. Juni 1897.
ERLAKGEN.
K. b. Hof buchdruckerei von Aug. Vollrath.
1897.
^{teiTYOflS^
Referent: Prof. Dr. Falckenberg;.
Meinem treusten und besten Freunde
^ 011^, cond. orl.
in herzlicher Liebe gfewidmet.
Benutzte Litteratur.
Lotze, System der Philosophie, I. Logik, II. Aufl. 1880.
„ , „ „ „ , II. Metaphysik, II. Aufl. 1884.
„ , Mikrokosmus, IV. Aufl. 1888.
„ , Grundzüge der Metaphysik, II. Aufl. 1887.
„ , „ „ Religionsphilosophie, III. Aufl. 1894.
„ , Grundzüge der Psychologie, V. Aufl. 1894.
„ , Grundzüge der praktischen Philosophie, II. Aufl. 1884.
„ , Geschichte der d. Philosophie seit Kant, II. Aufl. 1894.
„ , Kleine Schriften, I. Bd. (cd. Peipers), 1885.
Gercken, Beitrag zur Würdigung der Erkenntnisth. Lotzes Prgrm.
Ed. V. Hartmann, Lotzes Philosophie, Neue Ausgabe.
Stählin, Kant, Lotze, Ritschi, 1888.
Falckenberg, Geschichte der neueren Philosophie, II. Aufl. 1892.
J. E. Erdmann, Grundriss der Geschichte der Philos., 2. Bd ,
IIL Aufl. 1878.
nhaltsverzeichnis.
I. Metaphysische Grundlage und Ausgangspunkt der Erkenntnis-
theorie Lotzes.
II. Seine Lehre von Raum, Zeit und üenkforraen.
III. Beurteilung der Lehre Lotze' s mit besonderer Berück-
sichtigung der Kritik Hartman ns.
So verschieden auch die Urteile über Lotze und
die Bedeutung seiner Philosophie sein mögen, darüber
herrscht gewiss kein Streit, dass in ihm ein Mann auf-
getreten ist, der in einer Zeit, wo die Königin der
Wissenschaft hoffnungslos und verachtet darniederlag,
ihr Banner wieder zu Ehren brachte und es bewies,
dass die Kraft und Tiefe des deutschen philosophischen
Denkens weder von der Hochflut des Materialismus hin-
weggeschwemmt, noch von der üppig wuchernden wissen-
schaftlichen Detailarbeit erstickt werden konnte. Man
könnte 2 Arten von epochemachender Geistesgrösse
unterscheiden, durch welche die Wissenschaft immer
um einen grossen Schritt nach vorwärts kommt: einer-
seits die schroff'en , einseitigen Denker; in glücklicher
Stunde blitzt ihnen mit unwiderstehlicher Deutlichkeit
ein neuer (jedanke auf, der auf dunkle Gebiete, die
sich bisher der denkenden Bearbeitung entzogen, plötz-
lich ein helles Licht wirft; mit zäher Energie halten sie
nun diesen Gedanken fest, kämpfen und leiden, wenn
es not thut, dafür, überlassen es aber im Grossen und
Ganzen anderen, ihn nach allen Seiten abzurunden,
auszugleichen und zu vermitteln, und im Bewusstsein
der Schranken der neuen Wahrheit sie dem Ganzen der
bisherigen Erfahrung und Erkenntnis an der rechten
Stelle einzugliedern; solche sind z. B. Athanasius, K.mt.
Die andern sind wie eine Zisterne, in der sich alle
Bäche und Bächlein sammein , und zu einem Reservoir
einer neuen und stärkeren Kraft werden ; die verschie-
denen Richtungen der bisherigen Entwicklung sind wie
in einem Brennpunkt gesammelt und der fruchtbare
Mutterboden aller folgenden Bestrebungen; solche um-
fassenden Geister waren Aristoteles, Augustin, Leibniz,
Schleiermacher, und auch Lotze ist dieser letzteren
Art zuzuzählen. Leibnizens Pluralismus und Hegelscher
Monismus, Kantischer Idealismus und Herbartscher
Realismus, trockener Mechanismus und seelenvollster
Spiritualismus haben sich in ihm zusammengefunden und
zwar nicht etwa blos zu einem zusammengewürfelten
Haufen unbehauener Steine, sondern zu einem bewun-
dernswerten Gebäude edelsten Stils.
Rücksichtslos und konsequent dehnt er die Prinzipien
der Naturerklärung aus anf das gesamte Gebiet der
Wirklichkeit, da Natur und Geist ihm nicht durch eine
unüberbrückbare Kluft getrennt sind , und doch steigt
er mit wahrhaft poetischem Schwung und religiöser
Begeisterung, wenn auch mit ehrerbietiger Scheu empor,
um das Universum als Ausdruck der Idee des Wahren ,
Guten und Schönen zu begreifen. Ferne liegt ihm alles
gelehrte Formen- und Phrasenwesen, das die deutsche
Philosophie von der englischen so nachteilig unterscheidet;
er stellt sich nicht mit absichtlicher Wichtigthuerei von
Anfang an auf hohen Kothurn, sondern nimmt die
Probleme einfach und natürlich, wie sie gegeben sind,
und doch gelangt er zu aussichtsvollen Höhen, auf die
ihm der Ateraschwache von selbst nicht mehr folgen
kann. Einfacher Ausdruck bei grosser Fülle der Ge-
danken werden ihn auch für nicht philosophisch inter-
essierte oder beanlagte Leser zu einem angenehmen und
zugleich lehrreichen Schriftsteller machen.
I. Wenn wir es nun in folgendem versuchen, die Er-
kenntnislehre L, darzustellen, so müssen wir dem von
ihm selbst gewiesenen Weg folgen, der aus der Meta-
physik zur Erkenntnislehre führt, aber nicht umgekehrt
verläuft. Denn nach L. ist die Erkenntnistheorie nicht
— 9 —
das Thor zu der Metaphysik , wofür sie gewöhnlich gilt,
sondern vielmehr ein spezieller, angewandter Teil der-
selben. „Wir werden zuerst uns überlegen müssen, was
wir über die Dinge und den Zusammenhang zwischen
ihnen denken müssen. Und das gefundene Resultat
werden wir dann auf das Verhältnis der Dinge zu uns
anwenden und bestimmen müssen, wie weit unsre Er-
kenntnis reichen kann, weil die Wechselwirkung zwischen
uns und den vorzustellenden Objekten nur ein Einzelfall
der Beziehung ist, welche wir allgemein zwischen irgend
zwei Elementen oder Dingen in der Wirklichkeit be-
stehend kennen gelernt haben." (Grdz. d. Met. § 4.)
Gercken, der sich in seinem Programm in allen
wesentlichen Stücken zur Erkenntnislehre L. bekennt,
tadelt es am Schlüsse sehr, dass L, noch gewisse meta-
physische Behauptungen über die „Welt an sich" fest-
halte und steht allen Behauptungen, die über unsere
Gedankenwelt hinaus feste Wahrheitselemente finden
wollen, mit unerschütterlichem Skeptizismus gegenüber;
denn dieses Gebiet liege eben „ausserhalb unsrer I'i-
tellektual-Grenzen; was aber ausserhalb der Intellektual-
Grenzen liegt, was sich also nicht mehr logisch garan-
tieren lässt, das fällt nicht mehr in die Aufgabe der
Philosophie, das gehört dem Gebiete des Glaubens oder
des Gemütslebens an" (Prgr. S. 23). Er bleibt also auf
dem Standpunkte von Kants Kritik dr. r. Vern. stehen,
ohne den Fortgang zur Kritik dr. pr. Vern., den auch
L. in ihm eigentümlicherweise macht, als rechtmässigen
anzuerkennen. Lassen wir die materielle Berechtigung
dieses Einwurfes dahingestellt, so viel ist uns nach dem
Vorigen gewiss, dass es nicht angeht, L.'s Erkenntnis-
lehre als Richterin über seine Metaphysik aufzustellen;
denn für L. sind denknotwendige, im letzten Grunde
ethisch -ästhetisch fundierte Behauptungen über die Wirk-
lichkeit an sich das Erste und Wichtigste seiner Welt-
anschauung.
— 10 —
Wie kommt er aber zu solchen Behauptungen?
Wie schon gesagt, nicht durch eine Untersuchung über
die Grenzen unseres Erkennens, denn es sei langweilig
immer das Messer zu wetzen, ohne zu schneiden, son-
dern die geschichtlich gegebenen Probleme, die von
unsrer Yernunft mit dem unausrottbaren Vertrauen zu
sich selbst, dass ihre Erkenntnis^ die Welt und ihre
Zusammenhänge auch wirklich erfassen könne, aufge-
nommen und bearbeitet werden, sind der Ausgangspunkt
seines Philosophierens, Der Glaube an die Voraus-
setzungslosigkeit erkenntnistheoretischer Untersuchungen
sei ja doch auch nur eine Fabel. „Es ist ganz unmög-
lich, die Grenzen zu bestimmen, innerhalb deren die
Vernunft von den Dingen wissen kann, wenn man nicht
zur Entscheidung dieser Frage irgend eine Vorstellung
über die Natur der erkennenden Seele, irgend eine Vor-
stellung über die Natur des vorzustellenden Dinges,
endlich irgend eine Vorstellung über das Verhältnis , in
welchem das Ding zur Seele steht, als bereits gültig
voraussetzt, d. h. wenn man nicht wenigstens einen Teil
der wirklichen Metaphysik als bereits ausgeführt ansieht,
um auf ihn jene Kritik der Vernunft zu stützen." (Grdz.
d. M. § 4.)
Durch diese Antipathie gegen die Voranstellung der
Erkenntnistheorie zieht sich L. freilich vielfachen Tadel
zu, als wolle er damit in die vorkantische Zeit des
naiven Dogmatismus zurückrufen, aber gegenüber der
so sehr bevorzugten und trotzdem ziemlich unfruchtbaren
Pflege der Erkenntnistheorie in unserer Zeit, kann sein
Misstrauensvotum nur heilsam wirken, zumal er in der
Entwicklung seiner Philosophie die erkenntnistheoreti-
schen Probleme wohl zu würdigen weiss. Es bleibt eben
doch wahr, dass man, ohne ins Wasser zu gehen nicht
schwimmen kann, und dass unsere Erkenntnisthätigkeit
nicht oder wenigstens nicht mit Gewinn isoliert von dem
Stoffe, den sie bearbeitet, betrachtet werden kann. Es
— 11 —
ist ein' Zeichen von Achtung der Geschichte gegenüber,
die man der Philosophie in höherem Masse, als es bisher
der Fall war, wünschen möchte, dass L. aus ihr die
Probleme entnimmt; und in der That, was die Mensch-
heit seit alten Zeiten bewegt hat, und immer aufs Neue
ihre Wissbegier anregt, muss für sie auch von ausschlag-
gebendem Interesse sein, und eine Lehre, die zu deren
Aufhellung etwas beiträgt, verdient den Namen Philo-
sophie, auch wenn sie ohne viele erkenntnistheoretische
Bedenken einfach von der Geschichte und dem Bedürfnis
der jeweiligen Zeit sich ihre Aufgaben stellen lässt.
Suchen wir uns also über die Grundbegriffe der
Lotzeschen Metaphysik Klarheit zu verschaffen.
Sein heisst in Beziehungen stehen, Wechselwirkungen
sind der letzte Bestand der Wirklichkeit. Es ist irrig,
vor dieses wirksame Sein noch ein reines, beziehungs-
loses Sein setzen zu wollen, denn dieses würde sich ja
vom Nichtsein gar niiht mehr bestimmbar unterscheiden,
also zu leer sein, um eine geeignete Grundlage der
Wirklichkeit abgeben zu können. Auch als Affirmation
oder Position in Herbart'scher Weise das Sein definieren
zu wollen, ist unmöglich, denn dies sind nur einseitige
Abstraktionen, die erst wieder mit der konkreten Fülle,
aus der sie losgelöst wurden, verbunden werden müssen,
um überhaupt etwas zu bedeuten. Worin besteht nun
eigentlich das Was des Seienden? L. weist zunächst es
ab, dies als einfache Qualität zu bestimmen; denn Quali-
täten seien unveränderlich, adjektivisch, also ungeeignet,
das lebendige Werden der Wirklichkeit zu erklären.
Einfachheit könne überhaupt von dem Seienden nicht
erwartet werden, denn „jede Änderung der Qualität
würde dann sogleich eine totale Aufhebung dieses ganzen
„Was" werden und alle Kontinuität zwischen dem
Vorigen a und dem Späteren « aufhören." Das Seiende
muss vielmehr notwendig zusammengesetzt sein. Damit
aber das nun veränderte Ganze derselben Formel unter-
— 12 —
worfen bleibe, müssen wir von diesem Zusammengesetzten
eine Einheit verlangen, die eine Veränderung zwar zu-
lässt, sie aber dadurch kompensiert, dass der Veränderung
eines Elementes der Zusammensetzung eine korrespon-
dierende aller übrigen nachfolgt. (Grundz. d. M. § 20.)
Diese Einheit kann zunächst am deutlichsten dar-
gestellt werden, wenn wir sie nicht nach Analogie einer
Anschauung, sondern eines Begriffes denken, also als
einheitliches Gesetz, als sinnvolle Formel. Es fehlt
dabei nur noch das Konkrete der lebendigen Wirklichkeit,
aber in unserer sprachlichen Beschränktheit können wir
dem nicht anders abhelfen , als dass wir uns diese Formel
eben als eine lebendige, individuelle, wirkungskräftige
denken.
Die Sucht, dahinter immer wieder einen realen
Kern zu suchen, ist zwar natürlich, weil eine unserem
Denken unvermeidliche optische Täuschung; immer
wieder versuchen wir alle lebendige Wirklichkeit gleich-
sam aufzuhängen an einen Träger und ein hinter ihr
liegendes Subjekt; doch ist von dem philosophischen
Denken diese Neigung entschieden zurückzuweisen, denn
gegeben ist weiter nichts, als die der Art ihrer Ent-
stehung nach absolut unbegreifliche thatsächliche Wirk-
lichkeit.
Damit ist auch der Substanzbegriff aus der Welt
der Dinge verbannt. In welcher Weise er beim Begriff
des Absoluten wieder rehabilitiert wird, berührt nicht
unser Thema. „Nun ist in der That „Substanz" nichts
als ein Titel, der allem demjenigen zukommt, was auf
Andres zu wirken, von Anderem zu leiden, verschiedene
Zustände zu erfahren und in dem Wechsel derselben
sich als bleibende Einheit zu bethätigen vermag."
(Grundg. d. Psych. § 78.)
Die Dinge sind nicht Dinge dadurch, dass in ihnen
eine Substanz verborgen ist, sondern weil sie so sind,
wie sie sind, und sich so verhalten, wie sie sich ver-
— 13 —
halten, bringen sie für unsere Phantasie den falschen
Schein hervor, als läge in ihnen eine solche Substanz
als Grund ihres Verhaltens, (ibid.)
In der Metaphysik werden dann die Dinge weiter
als Aktionen, Modifikationen des All-Einen bestimmt,
an dem sie erst ihr Recht und eigentliche Wirklichkeit
haben. „Allerdings sind sie das, was sie sind, und leisten
das, was sie leisten, nicht vermöge eines Rechtes ihrer
Natur, das ihnen vor aller Welt zukäme, so dass später
die Welt sich danach richten müsste und nur das ver-
wirklichen könnte, was diese Privilegien erlauben. Sie
sind und leisten vielmehr alles nur im Auftrage dieses
Einen wahrhaften Wesens; und Alles, was wir gewöhn-
lich als letzte unveränderliche Elemente und Gesetze des
Weltlaufes ansehen, hat diese Unveränderlichkeit und
diesen Wert auch nur im Auftrage des Plans , zu dessen
Verwirklichung es dienen soll." (Grdz. dr. Psych. § 79).
Später kommt L. von dem konsequenten Monismus, den
er hier lehrt, scheinbar wieder etwas zurück, indem er
die Dinge in ihrem Fürsichsein doch eine gewisse Selb-
ständigkeit besitzen lässt, was sich aber doch mit seinem
Monismus wohl vereinigen lässt, und nicht, wie Ed. v.
Hartmann tadelnd meint, ein herbartisch- pluralistischer
Einschlag zu sein braucht.
Die eigentliche Brücke zum Monismus gewinnt L.
aus seinen Ansichten über Veränderung und Wechsel-
wirkung. Für unsere Zwecke kommt hier zunächst in
Betracht seine starke Betonung der Gegenseitigkeit der
Wirkung, so dass zum Resultat des Geschehens der
leidende Teil mindestens ebensoviel beiträgt, wie der
wirkende.
„Wir haben gesehen, dass Alles, was wir mit
Recht Rezeptivität nennen dürfen, nicht in Abwesenheit
jeder eigenen Natur, sondern in wirksamer Anwesenheit
— 14 —
bestimmter Beschaffenheiten besteht, die allein dem
empfänglichen Element erst möglich machen, ihm zu-
gemutete Eindrücke aufzunehmen und aus ihnen seine
eigenen Zustände zu machen" (Met. S. 104). — «Ein-
seitige Wirkung eines Dinges auf das andere gibt es
daher nie, sondern nur Wechselwirkung, deren vollstän-
diger Begriff so lautet: Wenn zwei Dinge a und b in
eine bestimmte Beziehung treten, so geht a in a, b in /!^,
c in ^^ über." (Gr. d. M. § 33.) „Den ganzen Grund für
die Gestalt einer Folge W enthält also nicht ein
Wesen a (denn dann würde W nicht erst eintreten,
sondern von jeher vorhanden sein), sondern er liegt ver-
teilt in mindestens zwei Wesen a und b, die in irgend
einer veränderlichen Beziehung c zu einander stehen,
(ibid. § 34.)
Met. S. 55 ff. weist L. falsche Auffassungen der
Kausalität ab : sie kann nicht durch Übergang eines
feinsten Stoffes gedacht werden, damit wäre das Problem
nur zurückgeschoben, da es ja ebenso unbegreiflich bleibt,
wie dieser Stoff auf einen anderen wirken könne; ebenso-
wenig als Übergang eines Zustandes, denn dieser müsste
dann einen Augenblick in der Luft hängen und Nie-
mandes Zustand sein.
Beim Okkasionalismus, wo gelegentlich der Ver-
änderung in der einen Reihe auch eine solche in der
andern eintritt, müsste doch letztere die Veränderung
in der ersteren bemerken, aber wie sollte dies geschehen,
ohne dass auch hier die Kausalität, die man erklären
will, schon voraussetzt; durch eine prästabilierte Har-
monie mit Leibniz, die ganze Entwicklungslinie von
Anfang an bestimmt zu denken ist eine Yerlegenheits-
auskunft, und der darin liegende absolute Determinismus
entspricht der Wirklichkeit nicht. Wie können die Dinge
überhaupt auf einander wirken? L. beantwortet dies
dahin: Sie können dies nur, wenn sie einander nicht
absolut fremd sind, sondern in einer übergreifenden
— 15 —
Einheit befasst sind; wenn sie überhaupt nicht von ein-
ander unabhängig, sondern Teile, besser Aktionen des
Alleinen Msind. Damit geht die transeunte Kausalität
in eine leicht verständliche immanente im All über.
Wenn wir diese Ansicht von der Kausalität im
allgemeinen nun im Besonderen auf die Erkenntnistheorie,
d, h. auf die Wechselwirkung von Objekt und Subjekt
anwenden, so ergibt sich für L. freilich eine von der
gewöhnlichen abweichende Beantwortung der Frage :
Worin besteht die Wahrheit? Jene sagt: Wahrheit ist
die getreue Abbildung eines wirklichen Thatbestandes,
der gleichsam zum zweitenmal in geistiger Form im
menschlichen Denken Leben bekommt.
Setzen wir einstweilen die Realität einer Aussen-
welt, deren Berechtigung wir später noch prüfen werden,
voraus, so ergibt sich für L, nach seinen metaphysischen
Grundanschauungen die Ansicht, dass, wenn sich das
Ding a in « ändert, in unserem Geiste vermöge des
Zusammenhangs in All-Einen an Stelle der Vorstellung b
die Vorstellung ß tritt; die Vorstellung ß hat mit dem
Zustande et eigentlich also nicht viel zu thun; sie stehen
nur in einem gesetzmässigen Zusammenhang. „Wahrheit
besteht dann nur in der Übereinstimmung einer Vor-
stellung mit derjenigen Vorstellung, welche in bezug auf
dasselbe Objekt in allen andern Geistern von derselben
Organisation entstehen muss. (Grdz. dr. Met. § 76.)
Es ist ein Vorurteil, anzunehmen, dass die äussere
Welt für sich eigentlich schon die ganze Welt bilde,
dass die Erkenntnis blos nebenher dazu komme, um
diese abgeschlossene Welt noch einmal abzubilden, dass
aber durch diese Abbildung nichts Neues zu dem vor-
herigen Bestände der Welt hinzugefügt werde, dass dieser
Bestand vielmehr ganz fertig und vollständig wäre, auch
wenn diese Abbildung gar nicht erfolgte. Man muss im
— 16 —
Gegenteil diese Thatsache, dass durch den Einfluss jener
äussern Wirklichkeit in den Geistern eine Welt der
mannigfaltigsten Erscheinungen entsteht, ebenfalls mit
zu dem Inhalte des Weltlaufes und zwar zu seinen wich-
tigsten Bestandteilen rechnen, sodass die Welt ohne
diesen Vorgang gar nicht fertig wäre, und dass sie nicht
in einem Sein, welches nebenher erkannt werden könnte,
sondern eben nur in dem beständigen Übergang selbst
dieses Seins in seine Erscheinung für den Geist besteht."
(Grdz. dr. Met. § 77). (cf. ferner Schluss des § 77 und
§ 78 ibid.)
Zum erstenmale sehen wir hier, dass für L. nicht
Seinsurteile , sondern Werturteile das Massgebende sind,
dass ihm nicht der Begriff der Wahrheit, sondern der
des Wertes und des Zweckes der oberste ist. Farben
und Töne , Vorstellungen und Ideen haben Wirklichkeit
freilich nur in unserem Geistesleben, aber sind sie des-
halb weniger wert? Ein Schmerz, den niemand fühlt,
ist auch unwirklich, aber ist der gefühlte deshalb weniger
Schmerz? Was die Phantasie des Dichters in die Natur
hineinschaut, ist auch nur Erzeugnis seines Geistes,
aber sind uns diese seine Gedanken nicht manchmal
wertvoller und wichtiger als ihre Veranlassung in der
Natur? So sehr L. von Fechner sonst abweicht, hierin
begegnen sie sich, die geistige duftige Gestalt, in der
die AVeit vom Menschen erfasst wird, ist nicht etwas,
mit dem wir uns leider begnügen müssen, sondern es
ist die edelste Blüte der Wirklichkeit ; was hülfe es uns,
wenn wir die ganze dahinter liegende Maschinerie noch
einsehen könnten?
Dieser eigenartigen Ansicht halber ist L.'s Erkenntnis-
theorie als zum absoluten Illusionismus führend beurteilt
worden (cf. Stählin), aber dies kann man doch nur, wenn
man seine eigene Rechtfertigung ignoriert und sich ihm
gegenüber immer auf den Standpunkt stellt, den er sich
Mühe gibt zurückzuweisen. Haben wir denn in der That
- 17 —
ein unvermeidliches Interesse daran, ein Spiegel der
"Wirklichkeit zu sein? L. folgt hier dem gewiss berech-
tigten Zuge unsres Jahrhunderts, den ganzen Menschen
zu seinem Rechte kommen zu lassen in der Totalität
seines geistigen Lebens, und nicht das intellektualistische
Interesse einseitig herauszugreifen und allein zu pflegen.
L. erinnert an die ähnliche Auffassung, wonach
unsre Yorstellungswelt, die eine Folge, nicht Abbild
einer Ausserwelt sei, für uns in Betracht komme als
Material der Pflichterfüllung, indem sich der Mensch
als sittliches Wesen , erkennen und bethätigen soll. Für
L.'s monistisch-spekulativen Geist ist dies zu atomistisch
und anthropozentrisch gedacht. Drum verlegt er den
Zweck der Welt nicht in die einzelnen Geistweseu, son-
dern in das Universum als höchstes sich realisierendes
Gut, gesteht freilich zu, dass dieser höchste Gedanke
nur regulatives Prinzip sein könne, ohne die einzelnen
Untersuchungen störend beeinflussen zu dürfen. AVir
werden noch auf diesen ästhetisch -ethischen Oberbau
der Philosophie L.'s zurückkommen.
Wenden wir uns nun zu den erkenntnistheoretischen
Fragen im Einzelnen. Drei Auff'assungen sind dem Ob-
jekte unsres Denkens gegenüber möglich. Entweder man
sagt: das Denken kann nicht über sich hinaus, und seine
Gedanken sind nichts als zufällige Ansichten, so der
Skeptizismus; oder man sagt das Denken könne zu festen
Punkten gelangen, deren Realität dann an unser Vor-
stellungsleben gebunden sein, oder in einer transcen-
denten, von uns unabliängigen Wirklichkeit begründet
sein kann. (Idealismus — Realismus.) Der Unterschied
der beiden letzteren Standpunkte verliert bei L. fast
ganz seine Bedeutung; mit dem ersteren (Skeptizismus)
findet er sich auf folgende Weise ab (cf. Logik III. 1.)
Da ja zugestandener Massen nichts anderes als der Zu-
sammenhang unserer Vorstellungen unter einander der
Gegenstand unserer Untersuchung sein kann, so beruhe
2
— 18 —
der Zweifel, ob nicht vielleicht doch Alles anders sei,
als es uns erscheine, von vornherein auf der bereits
zurückgewiesen falschen Definition von Wahrheit, .„Auf
das mithin, was uns denknotwendig ist, sind wir tat-
sächlich in jedem Falle beschränkt; das Selbstvertrauen
der Vernunft, dass Wahrheit überhaupt durch Denken
gefunden werden könne, ist die unvermeidliche Voraus-
setzung alles üntersuchens" (Log. S. 492). Über den
Skeptizismus in der griechischen Philosophie sagt L. :
„Als die antike Sophistik lehrte, es gebe keine Wahr-
heit, und wenn es eine gäbe, so wäre sie nicht erkennbar,
wenn sie endlich selbst erkennbar wäre, so wäre sie
nicht mitteilbar, so widersprach sie durch die That jedem
einzelnen dieser Sätze. Denn das Ganze derselben gab
sie doch für Wahrheit und konnte mithin nicht jede
Wahrheit leugnen; sie suchte die Richtigkeit ihrer Be-
hauptungen ferner zu beweisen, und musste deshalb eben
die mittelbare Erkenntnis der Wahrheit, deren Unmög-
lichkeit sie am liebsten dargethan hätte, zu ihren eigenen
Gunsten voraussetzen ; die Mitteilbarkeit endlich leugnete
sie in dem Augenblicke, wo sie auf Grund derselben
andre überzeugen wollte." (Log. S. 486.) „• • • • dass
endlich, auch wenn mau diese unzulässige Beziehung
der Vorstellungswelt auf eine ihr fremde Welt der Ob-
jekte fallen lässt, dennoch eine L'^ntersuchung übrig
bleibt, welche innerhalb der Vorstellungswelt die
festen Punkte, die ersten Gewissheiten aufzufinden strebt,
von denen aus die veränderliche Menge der übrigen
Vorstellungen annähernd in gesetzlichen Zusammenhang
zu bringen gelingen kann." (Log. S. 499.)
Dass auf diesem Standpunkte der Unterschied
zwischen Idealismus nnd Realismus fast verschwindet,
geht aus folgendem hervor: „Alles was wir von der
Aussenwelt wissen, beruht auf den Vorstellungen von
ihr, die in uns sind; es ist völlig gleichgültig zunächst,
ob wir idealistisch das Vorhandensein jener Welt leugnen
— 19 —
und nur unsre Vorstellungen von ihr als das Wirkliche
bedachten, oder ob wir realistisch an dem Sein der
Dinge ausser -uns festhalten und sie auf uns wirken
lassen; auch in dem letzteren Falle gehen die Dinge
doch nicht selbst in unsere Erkenntnis über, sondern
nur Vorstellungen, die nicht Dinge sind, erwecken sie
in uns." (Log. 493). L. gibt also ohne Rückhalt zu,
dass das uns Ciegebene nur unsere Vorstellungswelt ist;
aber dies könne der Leugnung der Aussenwelt nicht
präjudizieren, da es ja auch bei der Annahme derselben
nicht anders sein könnte. Der zum Solipsismus fort-
geführte konsequente Idealismus verdient nach L. keine
grosse Beachtung. Für die Beteiligung, die L. ästhetisch-
ethischen Motiven beim Aufbau seiner Weltanschauung
zukommen lässt, ist charakteristisch, dass er jene Kon-
sequenz einfach „geschmacklos" nennt, „Man weiss,
dass Fichte die erste geschmacklose Folgerung nicht
zog, die allerdings in der Konsequenz dieses Irrtums
gelegen hätte, die Folgerung nämlich, dass das einzelne
so philosophierende Subjekt sich selbst als die einzige
Realität ansehen müsste, die in ihrem Innern allein den
Schein einer Mitwelt erzeugte," (Met. S. 184.) u, . „ . , . .
nehmen wir an, einen Augenblick allerdings sei der ein-
same Denker versucht gewesen, alle natürliche und
geistige Wirklichkeit als gesetzlichen Traum seines per-
sönlichen individuellen Ich, des einzigen Realen, welches
er unmittelbar kennt, anzusehen; sein wissenschaftlicher
Geschmack jedoch labe ihn durch einige leicht zu
ergänzende Mittelglieder wenigstens so weit der gewöhn-
lichen Meinung wieder genähert, dass die Wirklichkeit
der andern persönlichen Geister, mit denen das Leben
ihn in Berührung bringt, ihm nicht zweifelhafter als
seine eigene ist." (Mikrok. III. S. 528,) Die Annahme
einer Geisterwelt ist demnach für L. niclit ernsthaft
Gegenstand des Streites und wir sind damit nun wenigstens
bei einem objektiven Idealismus angelangt. Vergleiche
2*
- 20 —
noch Met. S. 186: „Zwei Punkte würden wir für unauf-
heblich halten: das Dasein geistiger Wesen, die uns
gleichen und die, indem sie ihre Zustände fühlen und
sich ihnen als die empfindende Einheit entgegensetzen,
eben dadurch dem Begriffe eines Wesens genügen ; dann
die Einheit des wahrhaft Seienden, das auch für diese
Wesen Grund ihres Daseins, Quelle ihrer eigentümlichen
Natur und die eigentliche in ihnen thätige Wirksam-
keit ist."
Wie steht es aber mit der Frage nach einer ding-
lichen Aussenwelt? Dem Idealismus erscheint eine Welt,
die nur den Zweck habe Mittel für anderes zu sein,
weder als existenzberechtigt, noch als existenzfähig.
Die Leistungen, zu denen man eine Dingwelt nötig zu
haben glaube, seine ebenso gut denkbar als unmittel-
bare Aktionen des Allgeistes in den endlichen Geistern,
die durch Einheit des Ursprunges und des Schauplatzes
ihrer Wirksamkeit befähigt sind, ein einheitliches Welt-
bild in allen Geistern hervorzubringen.
L. gesteht zu, dass, wenn es sich blos um die Be-
greiflichkeit der AVeit handelte, der Begriff eines wirk-
samen realen Atoms überall durch den einer elementaren
Aktion des einen Seienden ersetzt werden könne. Schon
vorher hat er die Alternative aufgestellt : wenn es Dinge
geben soll mit der Eigenschaft, die wir von ihr ver-
langen müssen, Einheit in der Yeränderung zu bewahren,
so müssen sie mehr als Dinge sein, nämlich geistige
Wesen mit dem Charakter des Fürsichseins, wie wir ihn
aus unserem eigenen Seelenleben kennen, oder sie sind
gar nicht; der Idealismus wählt das letztere. L. legt
die Möglichkeit der ersteren dar und berührt sich also
hier wieder mit Fechner in der Ansicht von der All-
beseeltheit. Nur verwahrt er sich dabei sehr gegen
eine falsche Ausdeutung derselben, wenn man nämlich
den ganz unmöglichen Begriff eines ausser Gottseins
einmenge, „man wird finden, dass man für selbstlose
— 21 —
bewusstlose Dinge nicht das Mindeste gewinnt, wenn
man ihnen jenes Sein ausser Gott zuschreibt; alle die
Festigkeit und alle die Wirksamkeit, welche sie als
wirkende und bedingende Kräfte in den Veränderungen
des uns sichtbaren Weltlaufes bewähren, besitzen sie,
als blosse Zustände des Unendlichen gedacht, ganz in
derselben Fülle, als wenn sie als Dinge ausser ihm
beständen ; ja vielmehr eben nur durch ihre gemeinsame
Immanenz in dem Unendlichen haben sie überhaupt,
wie wir früher gesehen, diese Fähigkeit der Wechsel-
wirkung auf einander, die ihnen als isolierten, von jenem
substanziellen Grunde abgelösten Wesen nicht zukommen
könnte." Mikrok. III S. 634. Es liegt dem eine be-
rechtigte, aber in dieser Weise falsch befriedigte Sehn-
sucht, den Dingen eine gewisse Selbständigkeit zu er-
halten, zu gründe. Diese wird recht massig allein dadurch
gestillt, dass man den Dingen das Fürsichsein zuschreibt:
„Fürsichsein oder Ichheit ist die einzige Definition,
welche den sachlichen Inhalt und Wert desjenigen aus-
drückt, was wii- von zufälligen übelgewählten Stand-
punkten aus formell als Realität oder selbständiges Sein
ausser Gott im Gegensatze zur Immanenz bezeichnen."
(Mikrok. III. 535.)
Der Unterschied dieser seiner Ansicht von der idea-
listischen wird von L. selbst folgendermassen bestimmt:
„Der Unterschied des zuletzt von uns eingenommenen
Standpunktes von dem des Idealismus besteht daher nicht
darin, dass wir den Dingen ein transcendentes und des-
halb reales, der Idealismus dagegen ihnen nur ein
immanentes und deswegen nur scheinbares Dasein zu-
schreibe; vielmehr ist zwischen beiden die andere
Differenz, dass die idealistische Meinung, von der Selbst-
losigkeit der Dinge überzeugt, ihnen deswegen nur als
Zuständen des Unendlichen zu sein gestattet; wir da-
gegen, im Prinzip hiermit übereinstimmend, lassen als
eine Sache, die wir nicht wissen können, dahingestellt,
— 22 —
ob die Yoraussetzung jener Selbstlosigkeit zutrifft, halten
es aber für wahrscheinlicher, dass sie nicht zutrifft,
und dass alle Dinge wirklich in verschiedenen Ab-
stufungen der Yollkommenheit die Selbstheit besitzen,
durch welche eine immanente Produktion des Unend-
lichen zu dem wird, was wir ein Reales nennen."
Mikrok. III, 536.)
Es wird uns bei dieser Sachlage schwer werden,
zu entscheiden, ob wir Lotze den Idealisten oder den
Realisten zuteilen wollen. Zu erstem sind wir geneigt,
wenn wir uns erinnern, dass die Dinge ja nur feste
Punkte unserer Yorstellungswelt sjnd; zu letzterem,
wenn wir bedenken, dass unsere Yorstellungswelt ein
hochstehender Teil der Wirklichkeit ist, und die
festen Punkte in ihr ein von uns unabhängiges Dasein
im All -Einen haben. Dieselbe Doppelseitigkeit be-
merken wir nun auch, wenn wir in Folgendem Lotzes
Lehren über Raum, Zeit und Yerstandeskategorieen
durchnehmen.
II. Met. § 99 ff. Lotze weist es entsprechend seiner
Grundanschauung über den Ausgangspunkt der Philo-
sophie auch hier ab, auf erkenntnistheoretischem Wege
zu einem Yerständnis des Raumes kommen zu wollen;
es handle sich vielmehr darum, welche Auffassung des-
selben in den denknotwendigen Zusammenhang der Welt
passe. Der Raum ist etwas eigenartiges und die Frage
nach der Art seiner Wirklichkeit kann nur nach den
Ansprüchen dieses seines eigentümlichen Yerhaltens
entschieden werden; er ist nicht ein Ding, denn wir
unterscheiden ja von ihm die Dinge, die in ihm be-
weglich sind; er ist keine Eigenschaft, denn es können
zwar manche nur durch ihn mögliche Bestimmungen,
aber nie er selbst als Eigenschaft der Dinge betrachtet
werden; er ist nicht eine Grenze, denn Grenzen sind
nur unter Yoraussetzung von Dingen möglich; er ist
nicht eine Form, nicht eine Ordnung, nicht ein Yer-
— 23 -
hältnis der Dinge, sondern das eigentümliche Prinzip,
das unzähliclie Formen, Ordnungen und Yerhältnisse
der Dinge erst möglich macht und als völlig unver-
änderlicher Hintergrund Mchts von dem Wechsel und
dem Übergange dieser Bestimmungen in einander leidet.
Auch ein Gattungsbegriff ist er nicht, denn das
Gesetz der Räumlichkeit erzeugt zwischen den ver-
schiedenen Fällen seiner Anwendung andere Verhält-
nisse als der Gattungsbegriff zwischen seinen Arten;
dem Begriffe sind die Arten einfach ohne thatsächliche
Zusammengehörigkeit subordiniert, beim Raum kommt
noch das eigentümliche Verhältnis des Ganzen zu den
Teilen hinzu.
L. schliesst sich zunächst der Kantischen Ansicht
von der Idealität des Raumes an; der Raum ist eine
agriorische Anschauungsweise unseres Geistes, dem
freilich ein äusserer Raum entsprechen könnte, wenn
er sich als denkmöglich erweist. Kant hat Recht, wenn
er behauptet: Man kann sich niemals eine Vorstellung
machen, dass kein Raum sei, ob man sich gleichwohl
denken kann, dass keine Gegenstände in ihm angetroffen
werden. Die indirekte Begründung, die Kant seiner
Lehre durch die Darlegung der Antinomie gibt: Die
"Welt ist dem Raum nach in Grenzen eingeschlossen,
andrerseits: Die Welt hat keine Grenzen, sondern ist
unendlich, hält L. nicht für beweiskräftig, denn dieselbe
Schwierigkeit bleibe bei der Idealität des Raumes be-
stehen für die Welt der Realen; mit der Annahme der
Endlichkeit der Welt seien beide Ansichten vom Raum
gleich verträglich. Die gewöhnliche Auffassung, unter
der Kants Lehre populär geworden sei, er sei wie ein
Netz, in das die ihm ganz fremde Wirklichkeit ein-
gefangen werde, übertreibt eine schon bei K. merkliche
falsche Neigung bis zur Undenkbarkeit; denn die Dinge
müssen doch zum mindesten fähig sein, in dieses Netz
zu passen, im Reich der Dinge muss irgendwie etwas
— 24 —
Entsprechendes sein, das den Anlass und die Möglichkeit
zu geordneter Ausfüllung des Raumes gibt; er nennt
es vorläufig ein System intelligibler Beziehungen.
Andre von Kant weniger beachtete Momente führen
uns zur Annahme seiner Lehre: die Erwägung der 2
Fragen : wie kann überhaupt dem Räume eine eigne
Wirklichkeit vor der Erfüllung mit Dingen zugeschrieben
werden? Die andere: Wie soll das Verhältnis von
Dingen zu diesem seienden Raum vorgestellt werden?
Zur ersten Frage sagt L., dass sie schon dadurch
erledigt wäre, dass wir den Raum ja als ein Gewebe
von Beziehungen bestimmten, da wir aber in der Onto-
logie fanden, dass Beziehungen nur Vorstellungen in
einem beziehenden Bewusstsein oder innre Zustände in
den realen Elementen sein können, so sei die Idealität
des Raumes damit eigentlich schon bewiesen. Doch
könne es auch ohne diesen Rekurs auf die Metaphysik
dargethan werden: Den Raum als gegeben betrachten^
heisst eine Wechselwirkung seiner einzelnen leeren
Punkte annehmen. „Die Punkte des leeren Raumes
selbst kann man nicht wieder in einem früheren Räume
so lokalisiert denken, dass aus ihrer Lage in diesem
ihre gegenseitigen Beziehungen flössen, sondern um
deswillen, was sie selber sind oder tun, müssen sie
diese Beziehungen haben und durch dieselben den Raum
als Ganzes zusammensetzen. Sind daher die beiden
Punkte p und q, so ist ihre Entfernung pq etwas, was
es ohne sie nicht gäbe, und was sie durch sich selbst
zu schaffen haben." (Met. S. 210.) Gerade diese Wechsel-
wirkung ist aber unmöglich, und damit die Realität
des Raums überhaupt.
„Denn die Relation oder Entfernung p q, welche
ihrer Natur nach die beiden seienden Punkte p und q
zwischen sich setzen sollten , raüsste zugleich verschieden
sein von jeder andern ähnlichen Beziehung, welche p
und r oder q und r aus gleichem Grunde zwischen sich
— 25 -
herstellten. Die völlige Gleichheit aller leeren Punkte
bringt es aber im Gegenteil mit sich, dass p und q
keine andere- Relation zwischen sich bedingen können,
als jede beliebigen zwei andern Punkte auch; seilest
eine Anzahl N vereinigter Punkte, zwischen denen wir
feste Relationen bereits bestehend dächten, würde einem
hinzugedachten weiteren Punkte s gar keine bestimmte
Stelle anweisen können, weil jeder andere t oder u auf
dieselbe Stelle gleiches Recht hätte." (Met. S. 212).
Wenn man dieser Auffassung des Raumes den
Vorwurf der Künstlichkeit gegenüber der Annahme eines
seienden leeren Raumes mache, so vergesse man, dass
dieser Vorwurf nicht weniger die letztere Ansicht treffe.
Denn auch in diesem Falle kann doch der Raum nicht
selbst in das menschliche Vorstellungsleben eingehen,
sondern nur Bilder von ihm, die durch Einwirkungen
seinerseits entstehen. So muss auf alle Fälle unser
Vorstellen vom Räume entstehen; wir kommen nicht
wohlfeiler zu ihm, mögen wir dem von uns angeschauten
Bilde ein ähnliches Sein ausser uns oder ein völlig
unvergleichbares unterlegen. Was gewönne man also
durch die Festhaltung der Ansicht, die wir bestreiten?
(Met, S. 217). Der Raum soll ja auch für uns nicht
reine Illusion sein; er hat eine Realität, nur ist die
des Raumes eine andere als die der Dinge. „Es ist
nur ein Unterschied vorhanden , den die beiden Ansichten
über ihn allerdings behalten , für uns sind alle räum-
lichen Bestimmungen sekundäre Eigenschaften, welche
die wirklichen Verhältnisse der Dinge nur für uns an-
nehmen. Für die entgegengesetzte Ansicht ist der Raum
als seiender und die Dinge umfassender Hintergrund
zugleich primär ein Ganzes bestimmender Schranken
und Gesetze, nach denen das Sein und Wirken der
Dinge sich zu richten hat; die Dinge und wir sind in
ihm, während unsre Ansicht meint, das er in uns ist.
(Met. S. 218).
— 26 —
Zu demselben Resultate führt die Erwägung der
2 ten Frage: Wie ist das Sein der Dinge im seienden
Raum begreiflich? Wir kämen hier zu einer Wechsel-
wirkung der Realen mit den Raumpunkten, die sich
dann als unmöglich zeigt. Die intelligiblen Verhältnisse,
die wir vorläufig als Ursache unserer angeschauten
räumlichen Verhältnisse betrachten, können nur in Be-
ziehungen wie Ding zu Ding, nicht in Beziehungen
von Ding zum Raum bestehen, und nicht sie au und
für sich , sondern erst das Zusammentreffen ihrer Ein-
wirkungen in unserem Bewusstsein ist die nächste Ur-
sache der räumlichen Vorstellung (S. 220). Aber wir
müssen noch einen Schritt weiter gehn. Nach den in
der Ontologie gefundenen Grundsätzen dürfen wir bei
Beziehungen zwischen den Dingen nicht stehen bleiben,
sondern überhaupt nicht Beziehungen weder räumliche,
noch intelligible zwischen den Dingen, vielmehr nur
unmittelbare Wechselwirkungen, welche die Dinge von
einander als innere Zustände selbst erleiden, bilden die
wirkliche Thatsache, deren Wahrnehmung von uns zu
einer räumlichen Erscheinung ausgesponnen wird.
Die inneren Zustände der Dinge wechseln; sie alle
wirken auf unser Bewusstsein und dessen Einheit be-
gründet die Möglichkeit sie auf einander zu beziehen
und zu vergleichen; die besondere Art unseres Bewust-
seins bewirkt, dass diese Vergleiche und Beziehungen
in der Form räumlicher Entfernung zur Anschauung
kommt; die Grösse der zwischen beiden Eindrücken
empfundenen Differenz bestimmt die räumliche Lage.
Die Dinge a, b, c erleiden von einander Wechsel-
wirkungen, innere Zustände; wenn unter ihnen eines
von der Natur eines vorstellenden Geistes ist, so fasst
68 diese Zustände in räumliehen Formen auf; wenn es
von dem besonderen Fall absieht, so gewinnt es die
Raumanschauung im allgemeinen , die sich zum Gedanken
des unendlichen Raumes auswächst, wenn es von jeg-
— 27 —
lichem Inhalt der Yorstellimoen abstrahiert. Demnach
ist der unendliche Raum nicht die erste, sondern die
letzte Stufe."
L. verhehlt sicli nicht, dass seine Lehre, wenn man
aus ihr die räumlichen Grundformen der Geometrie
und weiterhin der Mechanik deduzieren wolle, mehr
Schwierigkeiten biete als die gewöhnliche; aber dies
könne nicht gegen sie entscheiden, da sie sich als denk-
notwendig erwies; und übrigens könne man zu prak-
tischen und angewandt wissenschaftlichen Zwecken ohne
Schaden bei der hergebrachten Meinung bleiben, wie
man ja auch trotz besserer Erkenntnis fortfahre, vom
Auf- und Untergang der Sonne zu reden.
Wir bemerken also auch hier in der Lehre von
Raum dasselbe Ineinanderiiiessen von Idealismus und
Realismus; dem Raum entspricht thatsächlich etwas in
den als denknotwendig gefundenen festen Punkten
der Vorstellungswelt, nämlich die innren Zustände, dies
weist in die Richtung des Realismus, und doch ist dies
Entsprechende dem Räume ganz unähnlich, und auch
jene festen Punkte gehören doch selbst unsrer Vor-
stellungswelt an, dies weist zum Idealismus, dem
sich L. durch seinen Anschluss an Kant auch bewusst
hingibt.
Auch zur psychologischen Begründung seiner Ansicht
hat L., was wir nicht unerwähnt lassen wollen, einen
wertvollen Beitrag geliefert in seiner Lehre von den
Lokalzeichen, die sich auch in rein naturwissenschaft-
lichen Kreisen des verdienten Beifalls erfreut und auch
von Gegnern seiner Philosophie, wie Ed. v. Hartmann
anerkannt wird.
Wir wenden uns nun zu der zweiten apriorischen
Anschauungsform Kants, der Zeit. L. weicht von Kant
darin ab, dass er ihre durchgängige Analogie mit dem
— 28 —
Räume bestreitet, was uns bei ihm, der ja das Werden
und Geschehen als eine Grundthatsache der Wirklichkeit
betrachtet, nicht verwundern kann.
Wir folgen zuerst seiner Darstellung in der Meta-
physik S. 268 ff. Wir haben von der Zeit gar keine
Anschauung, sondern nur vom Räume entlehnte Bilder,
die sich aber bei näherem Zusehen als ungenügend
erweisen. Wir sprechen von einer Zeitlinie: die Linie
besteht aber aus lauter gleichartigen, gleichwirklichen
Teilen, während die Zeit aus einem veränderlichen,
wirklichen Punkt, der Gegenwart, und 2 halb unwirk-
lichen, halb aber wieder in verschiedener Weise wirk-
lichen Strecken, Yergangenheit und Zukunft sich zu-
sammensetzt. Dann redet man vom Flusse der Zeit,
und ist nicht einmal darüber sich klar, ob man sie sich
von Vergangenheit in Zukunft oder umgekehrt fliessend
denken soll; ferner ist ja doch auch dieser Fluss in
seinem ganzen Laufe von gleicher Wirklichkeit, enthält
also auch das Charakteristische der Zeit nicht. Auch
die Yergleichung mit einer Reihe hilft uns nichts ; denn
die Zeit ist nur nach vorwärts bewegt, während die
Reihe nach beiden Richtungen durchlaufen werden kann.
Mit einer leeren Zeit, in der das Geschehen verfliesse,
ist überhaupt nichts anzufangen, denn diese Zeit wäre
entweder selbst zeitlos, da alle Punkte in ihr ja völlig
gleich sind, oder man müsste eine zweite Zeit annehmen,
um den Verlauf der ersten zu erklären. Auch können
wir uns nichts darunter denken, wenn wir nach dem
Verhältnisse der Zeit zu den Dingen und Ereignissen
fragen, die in ihr sein und geschehen sollen.
Trotzdem will L. nicht mit Kant die blosse Phä-
nomenalität der Zeit behaupten, da diese nicht das
Hilfsmittel ist „um kurzer Hand Schwierigkeiten zu
lösen, die nur scheinbar aus der Anwendung der Zeit
auf das Wirkliche entstehen, in Wahrheit aber an der
eigenen Natur des Wirklichen haften." Dieselbe Anti-
— 29 —
noinie nämlich, wie beim Raum, dass man sich auch
die Zeit mit derselben Folgerichtigkeit als endlich wie
auch als unendlich denken könne, veranlasst Kant, ihr
die transzendentale Realität abzusprechen. Demgegen-
über zeigt L., dass dieselbe Antinomie den Realen
selbst anhafte; eine unendliche Zeit aber könne wohl
gedacht werden, wenn auch keiner zeitlichen Sukzession,
weder der unsres Yorstellens noch der der Zeit selbst,
es gelingen könne, in endlicher Zeit eine unendliche
thatsächlich zu durchlaufen.
Der wesentliche Unterschied der Zeit vom Räume
ist der, dass erstre nicht nur ein Erzeugnis psyschischer
Thätigkeit, sondern zugleich die Bedingung für die Aus-
übung der Thätigkeit ist, durch welche sie als Erzeugnis
gewonnen werden soll, und die Vorstellung jedes
Wechsels scheint unmöglich ohne den wirklichen Wechsel
im Yorstellen.
Für das Werden selbst kann die an sich verlaufende
Zeit nicht ein Hilfsmittel sein, durch dessen irgendwie
mögliche Benutzung es erst zu Stande käme; denn es
müsste sich dann die Zeit mit in die Bedingungssurame
eines Resultates eingliedern, was aber unmöglich ist,
denn sie ist am Ende einer Strecke noch ganz die
gleiche wie am Anfang; wie sollte sie also einem Ereig-
nisse ein Signal zum Geschehen sein können?
Wie stellt es nun dann, wenn wir es mit der reinen
Idealität der Zeit versuchen, also an ein an sich zeit-
loses Geschehen glauben, das nur dem vorstellenden
Subjekt unter der Form zeitlichen Verlaufes erscheine?
Wir können uns dies in der Tat bis zu einem gewissen
Grade ausmalen: Die Zeit habe für uns überhaupt kein
festes Mass; was ist ein Jahrhundert; was eine Stunde;
wie verschiedenlang können uns gleiche Zeiträume er-
scheinen; können wir uns da nicht weit ausgebreitete
Ereignisse in denselben Proportionen stehend in einem
Augenblick zeitlos denken, in einem Bedingungs-
^ 30 —
Zusammenhang stehend, den wir aber auch nicht als
gleichzeitig bezeichnen dürfen, sondern eben als zeitlos?
Und wenn uns da der Einwurf gemacht wird, dass doch
wenigstens unsre Vorstellungen zeitlich einander folgen,
wenn auch das Werden in der Dingwelt ein zeitloses
sein möge, so hat doch auch diese Behauptung ihre
Kehrseite, Denn damit 2 Vorstellungen a und b auf
einander bezogen werden können, müssen sie doch in
einem unteilbaren Akt im Bewusstsein beisammen sein;
der zeitliche Verlauf der Vorstellungen allein könnte
nie die Anschauung der Zeit hervorbringen, sondern
erst das das Ganze zusammenfassende einheitliche
Bewusstsein.
Und so wäre vielleicht dies der wahre Sachverhalt:
jedes Subjekt S steht an einem bestimmten Punkte
eines zeitlosen Bedinguugszusammenhanges: Alles, wo-
durch es bedingt ist, betrachtet er als seine Vergangen-
heit, Alles, was von ihm bedingt wird, als seine Zukunft.
Die Vorstellungen a und b wären im beziehenden Be-
wusstsein zusammen; ihnen verschiedene Plätze anzu-
weisen, könnte die Seele nur durch Temporalzeichen
veranlasst werden; diese Zeichen könnte ihnen aber
nicht eine leere Zeit mitgeben, die ja in jedem Augen-
blicke gleich ist, sondern sie könnten nur von der
eigentümlichen Verflechtung jedes Elementes in den
Bedingungszusammenhang des Weltinhaltes herrühren.
„So könnte mithin allerdings ein Vorstellen, ohne Zeit
zu bedürfen, durch Temporalzeichen, zu deren Dasein
es auch keiner zeitlichen Entstehung bedurfte, dazu
geleitet werden, seine einzelnen Inhalte in eine schein-
bare zeitliehe Sukzession zu ordnen." (Met. S. 295/96).
Durch eine solche Auffassung wäre nicht nur aller
zeitliche Verlauf, sondern überhaupt alle Sukzession
aus der Wirklichkeit verbannt und die Erwägung, dass
dann doch ein gewisser Teil der Wirklichkeit für S
ewig Vergangenheit, ein anderer ewig Zukunft bleiben
— 31 —
müsste, veranlasst L. doch endlieh, den letzteren Ge-
dankengang abzubrechen und bei folgendem Kesultat
stehen zu bleiben: Die Zeit als Ganzes ist ohne Zweifel
nur ein Erzeugnis unsres Vorsteliens, und sie besteht
weder noch verläuft sie; sie ist nur das wunderliche
Bild, das wir für unsere Anschauung zu entwerfen mehr
suchen als wirklich vermögen, wenn wir uns den zeit-
lichen Verlauf auf alle die Beziehungspunkte ausgedehnt
denken, die er ins Unendliche zulässt und zugleich von
dem Inhalte dieser Beziehungspnnkte abstrahieren. Den
zeitlichen Verlauf selbst aber bringen wir nicht aus
der Wirklichkeit hinweg und halten es für ein völlig
hoffnungsloses Unternehmen, auch seine Vorstellung als
eine apriorische blos subjektive Auffassungsform anzu-
sehen, die in dem Innern einer zeitlosen Realität, in
dem Bewusstsein geistiger "Wesen sich entwickele."
(Met. S. 297/8.)
Einen zeitlichen Verlauf, eine thatsächliche Suk-
zession gesteht also hier L. der Wirklichkeit zu. Nur
fürchtet er, es möchte hier von neuem ein Irrtum sein
Haupt erheben, den er schon in der Ontologie bekämpfte,
die Neigung der Zerpflückung des Wirklichen in seinen
Inhalt und seine Wirklichkeit. Wir haben geflissentlich
diese unmögliche Trennung bei dem vorliegenden Gegen-
stande noch einmal verfolgt: Die Sonderung des ge-
schehenden Inhalts von seinem Geschehen, und mussten
zuletzt diesen Versuch als vergeblich aufgeben; haben
erkannt, dass „es ein Irrtum sei, Mass und Art jener
zeitlosen Bedingtheit, die zwischen zwei Erlementen
des Weltinhaltes bestände, als den vorangehenden Grund
zu denken, der jenem wirksamen Grunde befähle oder
verböte, das eine aus dem andern hervorzubringen. Es
ist nur ein früher besprochener Gedanke, dem ich hier
eine weitere Anwendung gebe: jede Beziehung existiert
nur in dem Geiste des Beziehenden und für ihn; glauben
wir sie in dem Sein selbst anzutreffen, so ist sie hier
— 32 —
allemal mehr als blosse Beziehung; sie ist selbst bereits
ein Wirken anstatt AVirkungen nur vorzubereiten ....
erst und allein ist das volle lebendige Wirken selbst".
S. 299/300. Wir abstrahieren daraus Gesetze, und so
auch eine leere Zeit, vergessen dann ihren Ursprung
und stellen sie als ein gebietendes Prius voraus. „In
diesem Sinne können wir die oft gehörten Aussprüche
richtiger finden, nach denen nicht die Zeit die Bedingung
des Wirkens ist, sondern das Wirken die Zeit erzeugt;
nur bringt es, indem es verläuft, nicht als ein bleibendes
Produkt, das irgendwie w^äre oder flösse oder die Dinge
beeinflusste, eine wirkliche reale Zeit, sondern nur in
dem vergleichenden Bewusstsein die sogenannte An-
schauung dieser Zeit hervor; von dieser, dem leeren
Totalbilde der Ordnung, in welche wir die Ereignisse
reihen, gilt es also, dass sie nur eine subjektive Auf-
fassungsform, von der Sukzession des Wirkens selbst,
welches diese Einreihung möglich macht, gilt umgekehrt,
dass sie die eigenste Natur des Wirklichen ist." (Met.
S. 300).
L. sieht voraus, dass man nicht aufhören werde
zu fragen, was denn eigentlich geschehe, wenn das
Wirken wirkt oder wenn die Sukzession stattfindet, die
seine Eigentümlichkeit sein soll. Wie geht es zu und
wie wird es gemacht, dass die Wirklichkeit des einen
Thatbestaudes aufhöre, die des anderen beginne? Diese
Fragen müssen wir zwar zurückweisen, denn wir stehen
hier vor einem unausdenkbaren Rätsel, doch soll ihnen
eine gewisse Gemütsberechtigung nicht abgesprochen
werden. Soll denn die ganze reiche Yergangenheit ein
Nichts sein, das Dunkel der Zukunft ebenfalls ein leeres
Nichts, und immer nur der Punkt wirklich, auf den
das Licht der Gegenwart fällt'? „Man wird empfinden,
wie wenig es uns möglich ist, mit dem nackten Gegen-
satz von Sein und Nichtsein auszukommen, und wie
unaustreiblich das Verlangen, auch das Nichtseiende
— 33 —
irgendwie als einen wunderbaren Bestandteil der Wirk-
lichkeit fassen zu dürfen." (Met. S. 302). Doch kann
diese Sehnsucht nicht hier, sondern nur in der Religions-
philosophie befriedigt werden, wo es uns vielleicht ge-
lingen wird, eine über den zeitlichen Yerlauf über-
greifende Realität zu finden.
Dem in der Met. Gesagten ziemlich parallel verläuft
die Darstellung in Microc. III. S. 602 ff seit der III. Auf-
lage dieses Werkes. Auch hier wird zuerst die Unmög-
lichkeit einer leeren Zeit dargethan, dann der Gedanke
einer unzeitlichen Wirklichkeit und der reinen Idealität
der Zeit soweit als möglich entwickelt, und zuletzt doch
auch fallen lassen. Denn „in einem zeitlosen Zusammen-
hange an einen bestimmten Ort gestellt, würde jedes
endliche Wesen stets denselben klaren oder dunklen
Inhalt als seine Zukunft, denselben anderen als seine
Vergangenheit vor sich sehen müssen; das Leben, das
uns jene sich nach und nach lichten, diese allmählich
verblassen lässt, ist nicht ohne einen wirklichen Verlauf
denkbar, der das Bewusstsein an dem Inhalt der Welt
oder diesen an ihm vorüberführt oder beide zusammen
sich verwandeln lässt. Auch hier wird die teilweise
Berechtigung der Sehnsucht nach einer übergreifenden
Realität, die auch der Vergangenheit und Zukunft einen
dauernden Platz einräume anerkannt und deutlicher die
Möglichkeit und Art ihrer Befriedigung durch die Reli-
gionsphilosophie aufgezeigt, cf. S. 605: So wenig wir
nun anzugeben wissen, wie der Verlauf der Zeit gemacht
wird und wie der Zustand des einen Augenblicks aus
Sein in Nichtsein übergeht, um dem des nächsten Augen-
blickes Platz zu machen, ebensowenig würden wir sagen
können, wie nun umgekehrt diese Zusammenfassung
des Verfliessenden in eine gleichzeitige oder überzeitliche
Wirklichkeit zu Stande kommt. Aber gewohnt, die
Welt grösser und reicher zu finden, als das Denken,
das ihren wunderbaren Bau nachzubilden sucht, hege
3
— 34 —
ich keinen Zweifel an der Erfüllung dieses Postulats,
von der wir freilich nur in menschlich beschränkter
Weise reden können. Für Gott besteht die Bedingung
nicht, die uns im Ganzen der Welt an einen bestimmten
Punkt fesselt, .... er ist die umfassende Wesenheit
des Ganzen . . . , den spezifischen Wert der Gegenwart
besitzt für Gott nur das unendliche Ganze".
In der Met. spiicht L. von der Thatsächlichkeit und
Wirklichkeit eines zeitlichen Verlaufes und hat damit
seine frühere Ansicht, die er bis 1879 vertrat, verlassen,
resp. modifiziert; vergl, Falkenberg: die Entwicklung
der Lotze'schen Zeitlehre, in der Zeitschr. f. Philos.
u. phil. Kritik., Band 105, Heft II.
Die ältre Ansicht finden wir auch noch in der
2. Aufl. der Grdz. der Met. § 50, da diese Diktate aus
dem Jahre 1871 stammen.
„Die Gesaratsumme der Wirklichkeit ist einem
Systeme von Sätzen oder Wahrheiten zu vergleichen,
welche unter einander in sehr vielfachen Verhältnissen
der Koordination und Subordination stehen, so dass
z. B. einige, ein a und b, Prinzipien aller übrigen,
andere (c d e, diesen ersten untergeordnet, unter sich
aber koordiniert oder gleichwertig) Bedingungen der
dann noch übrigen 1 m n sind. Der Unterschied ist,
dass in einem System von Wahrheiten eine die andere
zwar bedingt, aber nicht bewirkt; die hier hervorzu-
hebende Ähnlichkeit aber besteht darin, dass die in dem
System der Wirklichkeit vorkommende Bewirkung eines
Gliedes durch andere an sich ein ebenso zeitloses
Geschehen ist, wie das Bedingtwerden einer Wahrheit
durch eine andere".
L. möchte also gerne eine zeitlose Sukzession als
die Wirklichkeit der Zeit auffassen und die Antriebe,
alle Zeitlichkeit womöglich aus jener Sukzession aus-
zuschliessen, kommen ihm aus religionspbilosophischen
Erwägungen. Zeitlichkeit in Gott selbst hineinzutragen
— 85 —
scheut sich L. im Interesse der Vollkommenheit Gottes
und doch wäre dies die notwendige Konsequenz, wenn
ein zeitlicher" Verlauf in der Wirklichkeit bestände,
und man das Verhältnis Gottes in dem entschieden
monistisch -pantheistischen Sinne versteht, wie L. Jener
Konsequenz sucht er nun zu entfliehen, indem er ein
zeitloses Geschehen annimmt, die aber doch immer ein
hölzernes Eisen bleiben wird. Es gibt auf pantheis-
tischem Standpunkte nur das Dilemma: entweder zeit-
licher Verlauf in der Wirklichkeit, dann auch in Gott
selber (diese Konsequenz hat Ed. v. Hartmann mutiger
als L. in seiner Kritik der Philosophie L. gezogen), oder
Zeitlosigkeit der Wirklichkeit, reine Phänomenalität der
Zeit, dann aber auch fort mit aller Theologie, aller
Ethik und Religion; denn letztere sind ohne Werden
und Entwicklung undenkbar.
Am meisten kehrt L. zur zeitlosen Wirklichkeit
und zur reinen Idealität der Zeit zurück in der Religions-
philosophie, cf. § 45 der Grdz. der Rel. -phil.;, man
müsse Gott ein ausserzeitliches oder überzeitliches Sein
zuschreiben. Man müsse deshalb versuchen, die Zeit
als eine blosse Form der Anschauung zu betrachten, in
welcher die Ereignisse uns zu verlaufen scheinen. Zwar
sei dies schwieriger als beim Räume und man „kann
nur folgende Punkte sich vorhalten, um zu erkennen,
dass dennoch die „Idealität" der Zeit ein notwendiges
Postulat unseres Denkens ist". „Wenn es nun Geister
gibt, die diesen Zusammenhang sich nur unter der Form
eines zeitlichen Nacheinander vorstellen können, so ist
auch ein anderer Geist denkbar, welcher den ganzen
Weltzusammenhang direkt in der Form eines solchen
Bedingungsverhältnisses auffasst, ohne die Ordnung
desselben sich erst in ein anschauliches Nacheinander
auseinanderlegen zu müssen".
„Hiemit sollte also gesagt sein, dass auch die Welt,
die das unzeitliche Vorstellen jenes Geistes übersieht,
3*
— 36 —
keineswegs ein blosses System von Wahrheiten zu sein
braucht, sondern eine AVeit, in der wirklich etwas
gescldeht und gewirkt wird, ohne dass eine an sich
verlaufende „Zeit" eine Bedingung für dies Geschehen
und "Wirken wäre." Wenn unter dieser „an sich ver-
laufenden Zeit" nur eine objektive leere Zeit gemeint
ist, so widerspricht diese Aussage den in der Met.
gemachten nicht; wenn aber damit jeder zeitliche Ver-
lauf auch in dem Sinne eines transzendentalen Realismus,
wie er bei Schelling, Hartmann und eigentlich bei L.
selbst in der Met. zu finden ist, ausgeschlossen ist, so
wäre damit deutlich ein zeitloses Werden als die
Wahrheit hingestellt. L. geht also auch hier von Kant
aus, und über ihn hinaus sucht er zu einem transzenden-
talen Realismus zu gelangen, bleibt aber auf halbem
Wege stehen, ja kommt schliesslich fast wieder zu Kant
zurück. Jedenfalls hat Ed. v. Hartmann Recht, seine
schwankende Stellung hier zu tadeln, nur scheint L.
Lehre dem Idealismus doch näher zu stehen, und ein
Bedingungszusammenhang das zeitlose Korrelat des zeit-
lichen Verlaufes sein zu sollen, wie die inneren Zustände
das Korrelat des Raumes, während Hartmann unsern
Philosophen bald entschlossen auf der einen, bald ebenso
auf der andern Seite findet. Die Achtung vor der
lebendigen AVirklichkeit mit ihrem Werden und Ge-
schehen hätte gewiss L. zu energischerem Festhalten
eines zeitlichen Verlaufes veranlassen sollen.
Falkenberg hat in der oben zitierten, bei Abfassung
meiner Arbeit mir unbekannten Abhandlung durch eine
neue Darstellung des genetischen Zusammenhangs der
Lotze'schen Zeitlehre nachgewiesen, dass ihm mit
Unrecht eine schwankende Auffassung vorgeworfen werde:
„Eine Wandlung hat nicht erfahren Lotzes Über-
zeugung von der Subjektivität des Totalbildes der Zeit,
ebensowenig die von der Erhabenheit des göttlichen
Wesens über die Zeit; die einzige Änderung besteht
— 37 —
darin, dass die Sukzession aus der Sphäre der Idealität
in die der Realität übertritt".
Wir haben nun gesehen, wie L. die Lehre Kants
von der transzendentalen Ästhetik modifiziert; wie stellt
er sich nun zu seiner transzendentalen Analytik, zu
den agriorischen Kategorieen; wie weit ist ihm die
menschliche Erkenntnis apriorisch, wie weit empirisch
bedingt? wie weit gibt es für ihn synthetische Urteile
a priori?
Gegeben ist uns eine für alle menschliche Erkenntnis
objektive, d. h. individueller Willkür nicht ausgesetzte
Vorstellungswelt. Davon zu unterscheiden sind die
Denkprozesse, durch die wir jene Yorstellungswelt zu
erfassen und zu systematisieren versuchen. Diese Denk-
thätigkeit kommt vielfach in Bezug auf jene Vorstellungs-
welt zu festen Resultaten, bleibt aber teilweise auch
rein subjektiv. Endlich deutet jene uns gegebene Welt
der Vorstellungen über sich hinaus auf eine Realwelt,-
ihr beiderseitiges Verhältnis ist wohl auch von L. nicht
ganz ohne Schwanken gedacht worden, bald ist die
Realwelt das Ganze, von dem uns nur ein (wenn auch
sehr wichtiger) Teil, die Vorstellungswelt, gegeben ist,
während wir das Ganze nur ahnend erfassen können;
bald ist sie doch wieder die dahinter liegende Dingwelt,
deren Wirklichkeit zwar eine ganz andre ist, aber
doch auch mit den Beziehungen und Verhältnissen in
der Vorstellungswelt irgendwie korrespondiert.
Man kann die bisher in der Geschichte der Philo-
sophie geltenden Kategorieen und Einteilungsprinzipien
auf L.'s Philosophie zum grossen Teil nicht anwenden,
da sie bei seiner eigentümlichen Auffassung sich als
unzulänglich erweisen. Wir sahen schon, wie sich der
Gegensatz zwischen Idealismus und Realismus in eine
unbedeutende Verschiedenheit verwandelte, ähnlich geht
es mit den Kategorieen apriorisch und aposteriorisch,
— 38 —
rational und empirisch, synthetisch und analytisch.
L.'s Lehre über die erkenntnistheoretische Bedeutung
des logischen Denkens finden wir im Mikrok. S. 200 ff.
und im 3. Teil der Logik.
Mikrok. S. 200 ff: Seit Sokrates besitzt das pliilo-
sophische Denken das ihm eigentümliche Objekt der
Untersuchung durch die Aufstellung einer in aller Ding-
welt geltenden Wahrheit; man entdeckte die Begriffe,
Damit \^"ar der richtige Weg gefunden, aber trotzdem
blieb die ganze griechische Philosophie zur Unfrucht-
barkeit verurteilt, da sie Denken und Sein nicht richtig
auseinanderhielt und die Verwechslung logischer Ge-
dankenzergliederung mit der Untersuchung der Sache
selbst weder in Bezug auf die Lehre von den Begriffen,
noch auf die von den Urteilen und Schlüssen vermied.
„Dass an der Sache die Eigenschaften ganz anders
haften und zusammenhängen als die Merkmale oder
Teilvorstellungen an dem Begriff der Sache: davon
mag hin und wieder theoretisch wohl eine Ahnung
ausgesprochen sein, aber ohne alle durchgreifende
Wirkung auf die Praxis der philosophischen Unter-
suchung." (S. 213). „Die berühmten Begriffe von Dy-
namis und Energie, als Potenz und Aktus noch jetzt
Schosskinder des philosophischen Dilletantismus führen
die Unfruchtbarkeit solcher Betrachtungen systematisch
in die Untersuchung aller Gregenstände ein."
Die Frage nach der Wahrheitsfäbigkeit unserer
Erkenntnis ist schon im Altertum zum Gegenstand sehr
umfänglicher Überlegungen gemacht worden. Sie führten
aber alle ohne positiven Nutzen nur zum Skeptizismus.
Das Christentum gab diesen Fragen mehr Tiefe und
sittlichen Ernst; in der neuern Zeit wurde die früher
so verachtete Welt des Scheins das eigentlich interes-
sierende und befriedigende. „In dem Eingeständnis,
nur Erscheinungen aus Erscheinungen zu entwickeln,
und dem Wesen der Dinge völlig fremd zu bleiben,
— 39 -
liegt zwar eine Einschränkung, aber auch ein Fortschritt.
"Worauf beruth die Gewissheit unserer Gedanken? „Ge-
wissheit erlangen unsre Gedanken durch Zurückführung
auf die früher bewiesene Gewisslieit anderer oder auf
die des Beweises weder bedürftige noch fähige Evidenz
unmittelbarer "Wahrheiten. Das Yertrauen, das wir teils
den Gesetzen unsers Denkens, welche jene Zurückführung
vermitteln, teils den einfachen und unmittelbaren Er-
kenntnissen schenken, zu denen wir durch sie geleitet
werden, lässt sich durch Wiederholung aufmerksamer
Prüfung vor der Hingabe an Vorurteile von zufälliger
und vergänglicher Überredungskraft behüten"; dem
Skeptizismus überhaupt aber lässt sich nur die Über-
zeugung eines sittlichen Glaubens entgegenhalten, dass
die "VS^elt nicht eine Ungereimtheit ohne Sinn sein kann.
Eingehender sind L.'s Ausfülirungen über diesen
Gegenstand in der Logik. S. 525 fP. Eine einzelne An-
sicht kann zwar durch eine Zergliederung der Veran-
lassungen, aus denen sie uns entsprungen ist, innerhalb
des Ganzen unsrer Erkenntnis geprüft werden, diese
genetische Betrachtungsweise bewährt sich aber nicht
mehr bei einer Prüfung der "Wahrheitsfähigkeit im
Ganzen. Man bringt, wie schon früher gezeigt, not-
wendig immer Voraussetzungen mit und wenn dies ein-
mal nicht anders sein kann, so muss man es reinlich
und aufrichtig thun; wir nehmen sie aus der Ontologie.
Die Aussenwelt könnte auf keinen Fall in uns eingehen,
sondern sie kann nur unsre Spontaneidät zur Thätigkeit
anreizen, so dass also unsre ganze Vorstellungswelt,
auch die einfachen sinnlichen Empfindungen, nach dieser
Richtung apriorisch ist. Kants Lehre , dass der gesamte
Inhalt unsrer Erkenntnis der Erfahrung, und nur ihre
Form der angebornen Thätigkeit des Geistes zuzuschreiben
sei, ist missverständlich.
Damit soll aber dem Empirismus sein Recht nicht
genommen werden, „Die ausgedehnte Apriorität, die
— 40 —
wir 80 für unsre Erkenntnis in Anspruch nehmen, ist
indessen nur die eine Seite der Sache. Eben dann,
wenn wir alle sinnlichen Empfindungsweisen, unsre
Raumanschauung, unsre Begriffe von Ding und Eigen-
schaft, von Ursache und Wirkung, endlich die ethischen
Vorstellungen das Gut und Böse, als angeborene Aus-
serungsweisen des Geistes betrachten, eben dann kann
der Grund zu den besonderen einander ausschliessenden
Anwendungen ihrer aller nicht ebenso in dem Wesen
dieses Geistes liegen". S. 535. Wir unterliegen hier
einem fremden Zwang, und können es hier dahingestellt
lassen, ob die gewöhnliche Meinung Recht hat, ihn
einer Aussenwelt zuzuschreiben oder der Idealismus,
ihn als unmittelbare Wirkung einer alle Geister durch-
dringenden Macht anzusehen. „Woher diese Anregung
auch stammen mag, sie bleibt ein empirisches oder
aposteriorisches Element unsrer Erkenntnis." S. 536.
Es bleibe eine würdige Aufgabe, der Gesetzmässigkeit
dieser apriorisch -empirischen Erscheinungswelt nachzu-
gehen, und „die Auflösung dieser Aufgabe wird die
Erkenntnis einer Wahrheit sein, auch wenn es kein
Mittel geben sollte, zu entscheiden, von welcher andern
Gesetzmässigkeit einer uns unbekannt bleibenden Aussen-
welt diese Gesetzlichkeit des Verlaufs unsrer Innenwelt
hervorgebracht wird".
Der Einwand, auch die angebornen Ideen könnten
wir doch nur aus Erfahrung, wenn auch aus innerer,
kennen lernen, und es sei also doch Erfahrung die
einzige Quelle unsrer Erkenntnis, ist ebenso selbstver-
ständlich als unfruchtbar; in dieser weitläufigen Be-
deutung genommen ist der Begriff der Erfahrung nicht
mehr der Anlass zu einer Verschiedenheit der Meinungen;
wir wollen dagegen nicht einmal sagen, dass uns die
apriorischen Teile unsrer Erkenntnis durch unsere eigene
Natur, die empirischen durch fremden Zwang aufgenötigt
werden, denn das können wir nicht beweisen; es muss
- 41 —
vielmehr der Unterschied zwischen apriorisch und em-
pirisch darin gefunden werden, dass erstrer sich durch
unmittelbare Evidenz auszeichnet, die dem letztern ab-
geht; man könnte den Einwand erheben: was in diesem
Augenblicke uns selbstverständlich erschiene, woher
hätten wir das Recht zu behaupten, dass es in jedem
andern Augenblicke uns ebenso erscheinen werde. Wenn
dieser Einwurf im Interesse der Leugnung jeder allge-
meingültigen Wahrheit gemacht wird, so können wir
nach L. dem einfach entgegenhalten, dass man überhaupt
auf jede Erkenntnis verzichten müsste ohne die An-
nahme, dass im Ganzen des W^eltlaufes eine Beständigkeit
des Verhaltens bestehe, wonach unter gleichen Beding-
ungen immer dieselbe Wirkung entstehe. „Man sieht
daher, dass die Neigung alle allgemeine Erkenntnis
aus Erfahrung, d. h. aus Summierung von Eiuzelwahr-
nehmungen zu gewinnen, nicht zum Ziele kommt; irgendwo
ist stets als notwendiges Hülfsmittel einer jener
Gedanken vorauszusetzen, dessen einmal gedachtem
Inhalt man mit unmittelbarem Zutrauen den von ihm
erhobenen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit zugibt."
S. 540. Allgemeinheit und Notwendigkeit und unmittel-
bare Evidenz sind also die alle agriorische Erkenntnis
auszeichnenden Eigenschaften. Man sieht, dass im Ver-
gleich mit der Kantischen Lehre der Gegensatz zwischen
apriorisch und empirisch bedeutend fliessender geworden
ist , um so mehr als diese allgemeingültigen Wahrheiten
nicht rein gegeben sind, sondern erst herausgearbeitet
werden müssen, und zwar mit Hülfe der Erfahrung,
welche dieselben von ihrer Verquickung mit Vorurteilen
reinigen muss. Hier bei dieser Kritik der Vorurteile
hat auch die psychologische Untersuchung ihren Nutzen,
während wir sie bei der Fundierung der Erkenntnis im
Ganzen unzureichend fanden, „So bleibt denn nichts
übrig als dass diese psychologischen Zergliederungen
auf die Aufgabe beschränkt werden, zu zeigen, wie an
— 42 —
sich gültige Wahrheiten im Denken und für dasselbe,
sofern es ein psychischer Vorgang ist, als unbewusst
befolgte Regeln seines Verfahrens verwirklicht werden."
S. 544. Zwischen dem psychischen Mechanismus und
dem Denken besteht eine Kluft; letzteres darf nicht mit
dem ersteren identifiziert werden, sondern hat seine
Einheit in sich selber, die freilich eine anders geartete
ist, nämlich eine teleologische und von dem Sinne oder
der Idee abhängt, zu deren Verwirklichung die Seele
bestimmt ist. Alle logischen Rückwirkungen des Geistes
sind als eine einheitliche Tentenz aufzufassen, deren
einzelne Äusserungen ihrem Sinne nach sich vei-ständlich
in eine Reihe gliedern lassen, nach ihrer Entstehung
als psychische Vorgänge aber völlig unbegreiflich sind."
S. 547.
In dem folgenden Abschnitt S, 548 ff. handelt L.
von der realen und formalen Bedeutung des Logischen;
wir würden aber sehr enttäuscht werden , wenn wir
hofften, hier eine grosse Aufklärung über den Zusammen-
hang zwischen Denken und Sein zu erhalten, denn die
Untersuchung bezieht sich hier nur auf das Verhältnis
der Denkformen und des unsrer Natur entsprechenden
Denkens zu jener Vorstellungswelt, die zwar unabhängig
ist von dem einzelnen subjektiven Denken und den
einzelnen Momenten des Denkens, aber doch auch nur
Wirklichkeit hat, sofern sie gedacht wird. Die Real-
welt, die Welt der Dinge an sich kommt dabei nicht
in Betracht, und die ganze Darstellung ist mehr logisch
als erkenntnistheoretisch interessiert. Die Frage, um
die es sich handelt, ist die, ob die Regeln, nach denen
das Denken, Gesetzen seiner eigenen Natur folgend,
seine Vorstellungen verknüpfen niuss, zu demselben Ab-
schluss führen, den der Zusammenhang der Sachen
— nämlich in der vom einzelnen unabhängigen Vor-
stellungswelt — hervorbringt. Da tritt uns zunächst
entgegen die Behauptung von der blos formalen Be-
— 43 —
deutung des Denkens. Aber „in welchem Verhältnisse
sollen denn diese Formen und Gesetze zu dem Inhalt
stehen, den sie nicht erzeugen, sondern vorfinden, und
durch dessen Bearbeitung allein doch die gedachte
Wahrheit den ihrigen erhält. Kann ein Inhalt in Formen
gebracht werden, für die er nicht passt?" S. 548.;
andrerseits die Behauptung von der realen Bedeutung
des Denkens, der sachliche Inhalt des Vorstellens sei
an keine andern Gesetze gebunden als an die, welche
das Denken ihm auferlegt. Da jener aber unsrer
Kenntnis nur durch das Denken vermittelt wird, so
kann diese Behauptung nicht bewiesen werden; „aber
wir können fragen, wie denn das Denken selbst über
die Bedeutung seiner eigenen Handlungen urteilt, und
inwieweit es diejenigen Formen , die es als psychische
Bewegung des denkenden Subjekts annehmen muss, für
Fjigenbestimmtheiten des von ihm bearbeiteten Inhaltes
ansieht." S. 549.
Wenn unser Denken die Vorstellungen a und b
vergleicht, geht es zwischen beiden hin und her, es hat
ferner fast alles in räumlicher Gestalt, Ordnung und
Beziehung symbolisiert und ist endlich an eine Sprache
als Ausdrucksform gebunden ; dies Alles ist für die Denk-
handlung wichtig, kann aber, gleich einem Gerüste,
nach vollendeter Arbeit ruhig wieder abgebrochen werden,
d. h. es hat auf die sachliche Bedeutung unsrer Denk-
handlung keinen Einfluss. „So zeigt sich hier der
Gegensatz der blos formalen Bedeutung unsrer Denk-
handlung zu der realen ihres Produkts." S. 553.
„Wir müssen daher erwarten, in dem, was wir logische
Handlungen, Formen und Gesetze nennen, viel eines
blos formalen Apparates zu finden, der, obwohl zur
Ausübung des Denkens unentbehrlich, doch der realen
Bedeutung entbehrt, die das Denken dem Endergebnis
seines Thuns allerding-s zuschreibt." S. 553.
— 44: —
Wenn wir a und b vergleichen, z. B, Eot und Gelb,
so können wir den von uns gefundenen Unterschied als
einen sachlichen ansehen, ohne befürchten zu müssen,
dass es in Wirklichkeit anders sei. „Solche Bedenken
hätten Grund, wo wir unsre Gedankenwelt zu einer
ausser ihr vorausgesetzten Öachenwelt in Beziehung
brächten; so lange jedoch statt dieser unsre eigenen
Vorstellungen unsern Gegenstand bilden, zweifeln wir
nicht, dass die bei ihrer Vergleichung erfahrenen Gleich-
heiten oder Unterschiede unsres Vorstellens zugleich
ein sachliches Verhalten unsrer Vorstellungsinhalte
bedeuten." S. 554. Die griechische Philosophie, welche
so gefundene Verhältnisse ohne weiteres für von unserm
Denken unabhängige Beziehungen der Realwelt hielt,
kam dadurch in viele Verlegenheiten; „so war es ihr
z. B, ein ärgerliches Rätsel, wie die von ihren Be-
ziehungspunkten abgelösten und nun einander wieder-
strebenden Prädikate des Kleinerseins und des Grösser-
seins sich an demselben b vertragen möchten."
„Sind aber (wie bei uns) a und b nicht Dinge von
unabhängiger, unserem Denken jenseitiger Wirklichkeit,
sondern vorstellbare Inhalte, wie Rot und Gelb, Gerade
und Krumm, so besteht eine Beziehung zwischen ihnen
nur, sofern wir sie denken und dadurch, dass wir sie
denken. Aber so ist unsre Seele beschaffen und so
setzen wir jede andere voraus, deren Inneres der unsern
gleicht, dass dieselben a und b, so oft sie und von
wem sie auch vorgestellt werden mögen, stets im Denken
dieselbe nur durch das Denken und nur in ihm besteh-
bare Beziehung hervorbringen werden. Unabhängig ist
diese daher von dem einzelnen denkenden Subjekt und
unabhängig von einzelnen Momenten seines Denkens;
hierin allein liegt das, was wir meinen, wenn wir sie
als an sich bestehend zwischen a und b betrachten,
und sie von unserm Denken wie ein für sich dauerndes
Objekt auffindbar glauben; sie steht wirklich so fest,
- 45 —
aber nur als ein Ereignis, das im Denken stets unter
gleichen Bedingungen gleich sich erneuern wird."
S. 555/56.
Auf die Dingwelt an sich lassen sich diese Ver-
hältnisse nicht übertragen, sondern müssen erst in der
Metaphysik auf ihren dort allein zulässigen Sinn ge-
bracht werden.
L. geht nun die logischen Formen einzeln durch
und prüft sie auf ihren Erkenntniswert. Der Allgemein-
begriff bezeichnet eine unvollendbare Forderung. Denn
ein allgemeines Pferd, Farbe im Allgemeinen etc. können
wir uns nie vorstellen. Hat er überhaupt eine sachliche
Bedeutung oder ist er nur ein gemeinsamer Name, nur
ein Wort? In der Thatsache, dass wir Allgemeines
überhaupt nur denken können, liegt doch ein Beweis
des erstem, einer realen Geltung des Begriffes; denn
wenn wir uns auch die allgemeine Farbe nicht vorstellen
können, so empfinden wir doch in Rot und Gelb ein
Gemeinsames, das uns nötigt, den Allgemeinbegriff zu
bilden. Diese Betrachtung ist sowohl von dem Nomi-
nalismus als dem Realismus auf ein falsches Gebiet,
das der Dinge an sich übertragen worden und dadurch
unlösbar gemacht. Die Objektivierung der Begriffe,
wie sie nach Piatos Vorgang der Realismus vollzieht,
würde man leicht fallen lassen, wenn man sich ent-
wöhnte, nur naturgeschichtliche Gattungsbegriffe als
Beispiele des Allgemeinen zu denken. Man würde
dann finden, dass der Begriff nicht eine Seins-, sondern
eine Geltungsrealität habe und auch dies nicht in un-
eingeschränkter Weise. Denn alle unsre Begriflfsbild-
ungen, Klassifikationen und Konstruktionen sind sub-
jektive Bewegungen unsres Denkens und nicht Vorgänge
in den Sachen; so aber ist zugleich die Natur der Sachen,
der gegebenen vorstellbaren Inhalte geartet, dass das
Denken, wenn es sich den logischen Gesetzen dieser
seiner Bewegungen überlässt, am Ende seines richtig
- 46 —
durchlaufenen Weges wieder mit dem Yerh alten der
Sachen zusammentrifft. Urteile sind ohne realen Wert,
z. B. die hypothetischen bringen nur das allgemein
logische Verhältnis der Bedingtheit, nicht das spezielle
der Kausalität zum Ausdruck. Auch bei den Schlüssen
liegt der Wahrheitsgehalt nicht in der logischen Form,
sondern nur in dem darin gefassten Inhalt, Die Hypo-
stasierung der Naturgesetze ist ebenso falsch und ver-
wirrend wie die der Begriffe.
Am Schlüsse sucht L. die Bedeutung des Denkens
verständlich zu machen, indem er die 3 Gegensätze
subjektiv und objektiv, formal und sachlich, formal und
real auf dasselbe anwendet. Die Denkhandlung, der
Weg, den unser Denken zurücklegt, um zu einer Er-
kenntnis zu gelangen, ist subjektiv, d. h, eine lediglich
durch unsre Natur und unsre Stellung in der Welt uns
notwendig gewordene innere Bewegung; der erzeugte
Gedanke dagegen ist objektiv, d. h. „von allen, nach
Zurücklegung jener AVege auf gleiche Art empfunden,
bildet das jetzt Gesehene ein von der Subjektivität des
einzelnen Denkenden unabhängiges Objekt". „Formal
nennen wir die logischen Thätigkeiten, weil ihre Eigen-
tümlichkeiten zwar nicht die eigenen Bestimmungen der
Sachen sind, aber doch Formen des Verfahrens, eben
die Natur der Sachen zu erfassen und deshalb nicht
ausser jedem Zusammenhange mit dem sachlichen Ver-
halten selbst." In Bezug auf den 3. Gegensatz ist zu
sagen, dass weder die logischen Formen des Begriffs,
Urteils und Schlusses, noch auch die logischen Gedanken,
denen wir objektive und sachlic^. e Geltung zuschrieben,
in Bezug auf das Reale eine unmittelbare Geltung haben.
Wie weit sie eine solche überhaupt und in welcher
modifizierten Form haben, dies aufzuklären, muss der
Metaphysik überlassen bleiben. Wir bleiben also mit
den logischen Formen in jenem transzendentalen Gebiet,
— 47 —
das ihnen Kant anwies, gelangen aber damit nicht in
das transzendente.
Den letzten Abschnitt der Logik betitelt L.: Die
agriorischen Wahrheiten.
In Bezug auf den Yorstellungsinhalt haben unsre
Gedanken sachliche Bedeutung. In dieser Vorstellungs-
welt gilt das platonische Ideenreich, d. h. es besteht
in ihm eine systematische ewige Ordnung. Dies ist
zwar unentbehrliche Voraussetzung und Grundlage des
Denkens, aber doch nicht selbst denknotwendig, sondern
eine wunderbare Thatsache.
Nun führen unsre Wahrnehmungen aber die ein-
zelnen Vorstellungen uns durchaus nicht unsrer in ihr
gefundenen Ordnung entsprechend vor, sondern in einer
uns ganz fremden, Heterogenes verbindenden Weise.
Diesen fremden, empirischen Bestandteil nennt L. reale
Wirklichkeit. Wie steht nun dieser gegenüber unser
Denken? Dreierlei Bedingungen muss es erfüllen, wenn
es mit den Thatsachen in Einklang bleiben will oder
unsere Hoffnung, durch das Denken den Verlauf der Wirk-
lichkeit beherrschen zu können, beruht auf drei Punkten:
1. Es ist niemals möglich, aus blossen Begriffen
des Denkens die reale Wirklichkeit des in ihnen Ge-
dachten zu beweisen, wie dies z. B. der ontologische
Gottesbeweis versucht; vielmehr muss immer bei einem
gegebenen wirklichen Grunde eingesetzt werden, um
aus diesem dann die Folgen als wirkliche abzuleiten,
die aus dem gedachten als denknotwendige hervorgingen.
2. Woher nehmen wir die Gewissheit, dass in dieser
realen Welt überhaupt noch eine Gesetzmässigkeit vor-
handen ist? Diese ist weder selbst denknotwendig,
noch als eine denknotwendige Folge aus gegebenen
Thatsachen abzuleiten. „Mit Grund wird man daher
sagen, dass alle unsre Beurteilung der Wirklichkeit auf
dem unmittelbaren Zutrauen oder auf dem Glauben be-
— 48 —
ruht, mit dem wir einer Forderung des Denkens, die
das eigene Gebiet desselben überschreitet, allgemeine
Gültigkeit zuerkennen," S. 580.
3. Wir werden die Wirklichkeit nicht erfassen
können, ohne irgendwelche synthetischen Urteile a priori.
Schon in den synthetischen Urteilen a posteriori steckt
nach L. ein Teil apriorischen Bestandes. Alles Bilden
von Urteilen hat schon solches an sich; jede Wieder-
zählung von Thatsachen, die sonst nur eine Wieder-
erinnerung von Wahrnehmungen, eine Reproduktion des
Rohmaterials sein dürfte. Auch der Nerv aller frucht-
baren mathematischen Denkarbeit liegt in der Möglich-
keit, "Verschiedenes gleichzusetzen, also in Synthesis
a priori, aber nicht in der nackten Anwendung des
logischen Identitätsgesetzes.
So ist der Fundamentabsatz der Arithmetik : Grössen
seien überhaupt summierbar zu einer neuen Grösse eine
solche apriorische Voraussetzung, über deren Wichtigkeit
man geneigt sein wird, hinwegzusehen, weil er ganz
selbstverständlich und nichts als eine identische Definition
der Zahlgrösse zu sein scheint. Warum kann man nicht
Rot und Grün addieren? Es ist eben die Grösse als
Anschauung die Bürgschaft der Wahrheit und zugleich
der Grund der Fruchtbarkeit arithmethischer Gedanken-
verbindung. Noch deutlicher ist dies in der Geometrie:
hier macht es nur die eigentümliche Natur des Raumes
möglich, dass eine sachliche Identität verschiedener
Ausdrucksformen bestehen kann. L. kommt dann noch
einmal darauf zurück, den Gegensatz zwischen Apriorismus
und Empirismus zu bestimmen. Da muss man zunächst
zugestehen, dass alle unsre Erkenntnis durch Erfahrung
im weiteren Sinne erworben wird und darf dann nicht
einen Unterschied zwischen innerer und äusserer Er-
fahrung machen; denn diesen gibt es nicht, da ja alle
Erfahrung nur unsre Yorstellungen zum Objekt haben
kann. Es könnte noch der Unterschied festgehalten
— 49 —
werden, dass wir allgemeine Gültigkeit aus einmaliger
Thatsächlichkeit annehmen, die Empiristen dies abzu-
lehnen behaupten, während sie es doch in Wirklichkeit
auch nicht umgehen können. „Auf der Möglichkeit
unmittelbarer Erkenntnis des Allgemeingültigen beruht
jede Überzeugung, die uusre nicht mehr als die der
Gegner; Zwiespalt kann nur darüber sein, welche
Wahrheiten wir dieser Erkenntnis zugänglich glauben."
S. 591. Es kann gewiss auch falsche Evidenzen geben.
Diese kann erwiesen werden, wenn die Folgerungen
zu falschen Ergebnissen führen, oder wenn sich positiv
ein andrer Satz beweisen lässt, der die falsche Evidenz
unsres Satzes aufdeckt. Apriorisch sind die Erkenntnisse,
welche nicht durch Induktion oder Summatiou aus ihren
einzelneu Beispielen entstehen, sondern zuerst allgemein
gültig gedacht werden, und so als bestimmende Regeln
diesen Beispielen vorangehen." S. 594. „Hiermit hängt
der letzte hier zu erwähnende Punkt zusammen. Von
reinen Anschauungen, als einem angebornen Besitz des
Geistes, ist auch in Ausdrucksweisen gesprochen worden,
aus denen als natürliche Konsequenz die Annahme hätte
fiiessen müssen, alle Wahrheit, die auf einer dieser
Anschauungen beruhe, sei gleichfalls ein Schatz immer-
währender Erkenntnis, mit dem wir der Erfahrung, um
sie zu beurteilen entgegenkommen." Dies ist falsch;
wer überhaupt von apriorischen Wahrheiten redet,
rechnet sicher die mathematischen dazu ; gleichwohl
haben diese erst nach und nach entdeckt werden müssen.
Die Welt des Selbstverständlichen liegt doch nicht selbst-
verständlich vor uns; auch das Allgemeingültige muss
von dem Geist erst aus der Unermesslichkeit der Vor-
stellungen, die sein Bewusstsein wirklich füllen, auf-
gefunden und gesondert werden." „So kann daher eine
sehr schwere Aufgabe der Erkenntnis darin bestehen,
uns durch Hinwegräumung aller der Hindernisse, welche
die uns aufgedrungene empirische Verknüpfung unsrer
4
— 50 -
Vorstellungen entgegenstellt, zu der Einsicht in das
Selbstverständliche erst durchzuringen." 8. 595. Wie in
der Mathematik, so wird man auch in der Mechanik
erste synthetische Sätze finden, welche als höchste
Prinzipien 2 Beziehungsglieder allgemeingültig und selbst-
verständlich verknüpfen, die durch kein Mittel logischer
Beweisführung als analytisch oder identisch zusammen-
gehörig nachweisbar sind. Man sagt, alles unser Denken
gehe darauf aus. Zusammenseiendes auf Zuzammen-
gehöriges, synthetische Urteile auf analytische zurück-
zuführen. L. behauptet, dass der letzte Satz, den unsre
Erkenntnis am Ende ihres Weges erreichte, doch ein
synthetischer von der Form A -]- B = C sein würde, der
im Grunde nicht wunderbarer sei als der identische A = A.
Es kann dies ja eine notwendige Folge der Beschaffen-
heit des Seienden sei. Es kann ja im Sein „sachlich
ursprüngliche Zusammengehörigkeiten des Verschiedenen
geben, ursprüngliche Synthesen, deren Beziehungsglieder
durcli keine Zwischenvermittlung zusammenliängen, welche
ihre Vereinigung als noch so entfernte Folgen des Identi-
tätsgesetzes erscheinen Hesse, und die dennoch unmittel-
bar zusammengehören. Dem müsste dann das Erkennen
entsprechen. „Gewiss kann es daher letzte und ein-
fachste synthetische Wahrheiten geben, die rein auf-
gefasst, nicht blos thatsächlich gelten, sondern auch
selbstverständlich, deren Evidenz aber, wenn man alles
Logische auf den Satz der Identität gründen will, nicht
mehr eine logische, sondern eher eine ästhetische zu
nennen ist, und demgemäss nicht an der Denkmöglich-
keit, sondern an der evidenten Absurdität ihres kontra-
diktorischen Gegenteils ihren Prüfstein hat." S. 607.
III. Wenn wir nun diesen Abschnitt aus der Logik
überblicken, so scheint uns sein Ergebnis für die Fragen
der Erkenntnistheorie nur gering; dies ist aber nur dann
— 51 —
der Fall, wenn wir mit der Erwartung, über eine hinter
der Yorstellungswelt liegende Dingwelt aufgeklärt zu
werden, herantreten. Dann werden wir freilich sagen,
wir bleiben bei ihm immer in der Erscheinungswelt,
ohne zu dem Seienden zu gelangen; wenn wir uns aber
erinnern, dass bei L. die Vorstellungswelt nicht ein
verblasstes Bild der Wirklichkeit, sondern selbst ein
Teil derselben, und zwar gleichsam ihre Blüte ist, so
gewinnen auch alle Urteile über sie eine metaphysische
Bedeutung.
Wenn wir L.'s Erkenntnistheorie zusammenfassend
zu charakterisieren versuchen, so bemerken wir un-
beschadet ihrer Originalität doch zwei Strömungen, eine
neukantische und eine hegelsche. Wie Kant bleibt auch
er in der Vorstellungswelt, in der Sphäre des Trans-
zentalen stehen; Raum mit Katogorieen haben in ihr
allein ihre Wahrheit; es gibt für Menschen nur eine
menschliche, durch ihre Natur wesentlich mit bedingte
Erkenntnis; und auch darin trifft L. mit Kant zusammen,
dass er die praktische Vernunft, d. h. den Menschengeist
nach der Seite des Fühlens und W^oUens als letztes Er-
kenntnisprinzip aufstellt; die Wirklichkeit ist überall
reicher als unser Denken und kann durch dasselbe nicht
adäquat erfasst werden; aber der Geist im Ganzen kann
doch ahnungsvolle Blicke hiueinthun in die Wirklichkeit,
kann das Ganze empfindend erleben. Astetische und
ethische Ideen, die ihre Wahrheit in ihrem Werte haben,
sind die letzten Resultate unsrer Welterklärung, eine
Lehre, in welcher L. ganz der dyrch Kants Kritik an-
geregten Strömung unsrer Zeit folgt.
Der einseitige Intellektualismus ist gewichen; die
Überschätzung des Logischen zurückgewiesen, der
Willens- und Gefühlsseite ihr berechtigter Teil an der
Ausbildung der Weltanschauung zugestanden. Von Wert-
urteilen wird heutzutage auch in theologischen Kontro-
versen viel geredet ; es sind Urteile, die von Wert eines
4*
— 52 —
Gegenstandes, eines Gedankens auf seine Wirklichkeit
schliessen, gegenüber den Seinsurteilen, die nur die
Überführung durch ein thatsächliches Objekt für voll-
gültigen Beweis der Wahrheit und Wirklichkeit gelten
lassen.
Neigung zu solchen Werturteilen finden wir bei L.
schon im einzelnen; das Stehenbleiben beim Solipsismus
z. B. , das man logisch gewiss nicht anfechten kann,
nennt er geschmacklos: ein W^erturteil. Am deutlichsten
spricht sich L. darüber aus gegenüber der Vorherrschaft
des Logischen in der Rezension: der Streit des Natur-
gesetzes mit dem Zweckbegriff. „Er hat nur gezeigt,
was sich wohl von selbst verstand, dass keine Macht
auf Erden zwingen kann, ästhetischen Anforderungen
des Gemütes eine theoretisch beweisende Kraft zuzu-
gestehen, aber mit Unrecht bestrebt er sich, durch die
Künste, mit denen sich dieser abstrakt verständige
Standpunkt jenen Bedürfnissen zu entziehen sucht, uns
ihre Erfüllung überhaupt zu verleiden. — — — Der
Philosoph muss sich erinnern, dass die Gedanken, die
jedem energisch zuströmen, der mit offenem Herzen
und Sinn die Natur betrachtet, ein unveräusserliches
und unantastbares Gut sind, das nicht von einem Gewebe
spitzfindiger Spekulationen zerstört werden darf, sondern
immer als das sicherste unsrer Erkenntnis ein richtiges
korrigierendes Gegengewicht gegen die Yerwirrungen
des grübelnden Verstandes bildet."
Sind schon im einzelnen seine Sätze so beeinflusst,
so ist ebenso unstreitig das Abschliessende in seiner
Weltansicht nur in einer ethischen Idee zu finden; er
spricht dies auch öfters deutlich genug aus, z. B.
Mikrok. III 234: „Dadurch wird er — der Realismus —
stets den Widerspruch jener idealistischen Neigung des
menschlichen Gemütes erwecken, welche das wahre Sein
nicht in Thatsachen anerkennt, die nur sind, weil sie
sind, oder angenommen werden müssen, weil Anderes
— 53 -
ist, sondern allein in einer solchen, die durch den "Wert
des Gedankens, welchen sie darstellt, ihren Beruf, ihr
Recht und ihre Kraft bezeugt, als das letzte Gegebene,
als das höchste gestaltende Prinzip an die Spitze der
Wirklichkeit zu treten."
Andrerseits ist L. doch zu spekulativ interessiert,
um dies konsequent durchzuführen und auf eine Meta-
physik in dogmatischem Sinne, auf jede Erkenntnis der
Dinge an sich zu verzichten, etwa in der Weise Fr. A.
Lange's und diese spekulativen Neigungen möchten wir
das Hegeische an ihm nennen. Das Selbstvertrauen
der Vernunft, das er selbst manchmal seiner kantischen
Neigung entsprechend einen sittlichen Glauben nennt,
bildet für ihn die Brücke, um doch einigen erkenutnis-
mässigen Aussagen über die Wirklichkeit an sich zu
gelangen. Und wir dürfen ihm daraus keinen Vorwurf
der Inkonsequenz machen; denn seine Vorstellungswelt
ist eben nicht Abbild einer unfassbaren Wirklichkeit,
sondern selbst Wirklichkeit, und deshalb der meta-
physischen Untersuchung zugänglich. Da hören wir
nun, was der Raum in Wirklichkeit sei und was ihm
entspreche, die Intensität des Leidens und Wirkens,
nämlich in den Dingen, dass eine eigenartige Bedingungs-
ordnung, wenn auch nicht als zeitlicher, so doch als ein
wirklicher Verlauf unserer Auffassung der Zeit entspreche ;
ferner dass die logischen Beziehungen als immanente
Zustände in dieser Dingwelt realiter sein können, dass
die Urerkenntnis synthetischer Art sei, weil auch im
Realen ursprüngliche Synthesen bestehen.
Hier sehen wir also die Neigung zu einem volleren
dogmatisch -spekulativen Ausbau transzendentalen Rea-
lismus. An diese Seite des Lotze sehen Denkens knüpft
nun Ed. v. Hartmann seine Kritik an, um ihr Halbheit
und Inkonsequenz vorzuwerfen. Der transzendentale
Realismus ist ihm nicht energisch genug durchgeführt,
wie er an den einzelnen Punkten zeigt. Seine Kritik
— 54 —
geht von einem festen spekulativen Standpunkt aus und
da wir ja in L. eine kantische und hegelsche Seite an-
erkennen, so mag Hartmann von seinem Standpunkt aus
Recht haben. Doch wollen wir der interessanten und
lehrreichen Kritik in den einzelnen Punkten nachgehen.
An dem Substanzbegriff L. tadelt Hartmann am
meisten dies, dass er ihn an bewusste Geistigkeit nach
Analogie unsres Seelenlebens gebunden denkt, während
schon bei unserem geistigen Leben das Bewusste nur
ein geringer Teil sei, und der Glaube an die Geistigkeit
der Dinge eine ebenso überflüssige als ungeheuerliche
Zumutung sei. Den Einzeldingen gegenüber vergisst
L. oft, dass es doch nur eine Substanz, die das AU-
Einen gibt, und dass Alles nur Aktion dieser Substanz
ist; er fällt manchmal in den Herbartschen Pluralismus
zurück. (S. 68.) L. wisse, dass weder die Fassung als
Ideen, noch als Gesetz genüge, um das Dasein der Dinge
zu erklären; es fehlt dabei gerade das, was ihnen den
Charakter der Wirklichkeit gibt. Welches ist nun dieses
Realprinzip? Weder kann es ein Wirklichkeitstoff, noch
eine einmalige absolute Position sein , aber doch eine
stetige Setzung der realen Beziehungen durch das
Absolute. „An Stelle des unbegreiflichen Begriffes der
stetigen absoluten Setzung muss der klare und deutliche
Begriff des stetigen absoluten Wollens gesetzt werden,
und haben wir damit das gesuchte Realprinzip, oder
diejenige Aktion im absoluten Subjekt, welche zur
intellektuellen Anschauung noch hinzutreten muss, um
den Ideen dingliche Realität zu geben, gefunden." S. 72.
L. verderbe sich auch den Begriff der Realität durch
die Einmischung des Fürsichseins, der Geistigkeit oder
Ichheit, was ihn zu dem weiteren Irrtum treibe, Realität
sei Selbständigkeit nicht nur gegen seines Gleichen,
sondern auch gegen Gott, und dass er die Möglichkeit
einer objektiv -realen Erscheinung leugnet, vielmehr nur
eine subjektive kenne, womit aber eigentlich jede Realität
— 55 -
unmöglich gemacht sei, da sie eben nur in einer ob-
jektiv-realen Erscheinung» weit, nicht aber in dem über-
seienden Wesen der absoluten Substanz, aber ebensowenig
in der reinen Idealität und realitätslosen Bildlichkeit
der subjektiven Erscheinung ihren Ort haben können.
In Bezug auf die Kausalität habe L. Recht, sie nur
bei Annahme das Monismus erklärbar zu finden, aber
es sei schon wieder eine Hinneigung zum Pluralismus,
sie als immanente Beziehungen in den Diugen anzusehen,
sie seien vielmehr über und hinter den Dingen im abso-
luten Sein.
Auch die Methode L., A und B zu isolieren, um an
ihnen die Kausalität zu beobachten, sei ein überflüssiger
und unphilosophischer Umweg durch den Herbartschen
Pluralismus; der Blick muss immer aufs Ganze gerichtet
sein.
Auch hier menge L. wieder sein verwirrendes Für-
sichsein ein; das Merken und Spüren in den Dingen
sei absolut überflüssig; Kausalität sei ohne solche Inner-
lichkeit völlig begreiflich; höchstens könnte letztere
Nebenwirkung oder Begleiterscheinung sein. Dieses
überall störende Fürsichsein hat die Tendenz sich zum
allein Wahren zu machen; aber damit wäre aller reale
Prozess zu einem blos subjektiven Schein verflüchtigt,
und Kausalität wäre magisch -mystische Übertretung
dieses Scheins. „Mag man sonst über die Bedeutung
des Fürsichseins in der Welt und in einem philosophischen
System noch so hoch denken , in der Betrachtung
der Begriffe Substanzialität, Realität und Kausalität
gehört das Fürsichsein nicht hin; das Fürsichsein ist
weder Substanzialität noch Realität, und das Spüren
im Fürsichsein ist nicht Bedingung für die Möglichkeit
der Kausalität. Aber gerade zu diesen drei Behauptungen
spitzt sich die L.'sche Ontologie zu, und in ihnen hat
sie ihre charakteristische Physiognomie und eigentüm-
liche Originalität." S. 98. So ist Hartmanns Urteil
— 56 —
über L.'s Antologie kurz dies: Das Gate nicht neu, das
Neue nicht gut. „Das Endurteil über die L.'sche Onto-
logie kann also nur dahin lauten, dass die aus andern
monistischen Systemen entlehnten Wahrheiten durch die
verkehrte Einfügung des einzigen originellen Prinzips
entwertet und entstellt sind, und um brauchbar zu werden,
erst wieder von demjenigen gereinigt werden müssen,
was L. eigentümlich ist, von dem Prinzip des Fürsich-
seins." S. 98.
Gehen wir nun zur Kritik der Kosmologie. L. sucht
die Undenkbarkeit einer realen Räumlichkeit zu beweisen,
vergisst aber, dass es zwei Arten dieser Ansicht geben
kann, die von einer substantiellen und die von einer
nur akzidentellen oder inhärenten Realität des Raumes.
(Ansicht Schellings.) L. beweist mit viel überflüssiger
Mühe die Unmöglichkeit der erstem, und glaubt dadurch
zur Annahme der Idealität des Raumes ohne weiteres
berechtigt zu sein. Diese Alternative ist aber falsch. —
Im Grunde ist für L. die Frage schon entschieden durch
seine Ansicht, dass kausale oder Wechselwirkung nicht
zwischen den Dingen, sondern nur in der bewussten
Innerlichkeit der Dinge soll stattfinden können ....
Wie die Ansicht von der blossen Innerlichkeit der
kausalen Beziehungen und A^orgänge auf pluralistischen
Boden erwachsen ist und dem L. 'sehen Monismus wider-
spricht, so auch die aus ihr gezogene Folgerung von
der blossen Innerlichkeit der räumlichen Beziehungen."
S. 108. In einer längern Auseinandersetzung wird dann
gezeigt, dass die L.'sche Hypothese, wenn es sich darum
handle die Wirklichkeit zu erklären, höchst kompliziert,
unbestimmt, unklar, unbrauchbar und in manchen Punkten
geradezu undenkbar sei. Hartmanns Schlussurteil: „es
ist zwar anzuerkennen, dass L. die Kant'schen Beweise
für die ausschliessliehe Subjektivität der Räumlichkeit
als nichts beweisend vorwirft und durch sein intelligibles
Beziehungsnetz von stetiger dreifacher Mannigfaltigkeit
— 57 —
mit einem Fiiss auf den Boden des transzendentalen
Realismus hinübertritt, aber es ist zu bedauern, dass er
durch sein pluralistisch - ontologisches Vorurteil von der
rein subjektiven Innerlichkeit der Wechselwirkung
zwischen den Dingen sich davon hat abhalten lassen,
auch den andern Fuss nachzuziehen und ganzer und
voller transzendentaler Realist zu werden." S. 126.
In Bezug auf die Zeit kann Hartmann unserm
Philosophen mehr Lob spenden; hier ist er realistischer
gesinnt; in der Metaph. sogar rein transzendentaler
Realist, die leere Zeit wird wieder unnötig breit von
L. bekämpft. Doch kommt er hier zur richtigen Er-
kenntnis, dass reale Zeitlichkeit eine dem Verlauf des
Wirklichen inhärierende Daseinsform, eigenste Natur des
Wirklichen sei. Wie er das dem Raum Korrelate in
Intensitätsverhältnissen der realen Kraftwirkungen fand,
so hätte er das der Zeitanschauung entsprechende ein-
dimensionale Netz intelligibler Beziehungen in dem
logischen Verhältnis von Grund und Folge, Bedingung
und Bedingten suchen können. L. sieht hier die Un-
möglichkeit dieses Beginnens ein; Grund und Folge
wären ja koexistierend; Kausalität ist aber nicht um-
kehrbar. Suezession ist nun einmal schlechterdings nicht
aus zeitlosen Momenten zu deduzieren.
Von dieser richtigen Lehre falle L. in der Religions-
philosophie wieder ab, da er sich nicht entschliessen
kann, Gott in den zeitlichen Verlauf mit hineinzuziehen ;
er verkennt dabei, dass die unzeitliche Ewigkeit Gottes
sich sehr wohl mit einer zeitlichen Thätigkeit dieses
Wesens verträgt, weil er noch in abstraktem Monismus
(Identifikation von Potenz und Aktus) stecke, anstatt
sich zu einem konkreten Monismus hindurchzuringen.
L. wünsche eine Fortdauer der Vergangenheit, eine
Erhaltung der Güter und Individuen aus einem berech-
— 58 —
tigten und einem unberechtigten Grunde, Soweit diese
Sehnsucht berechtigt ist, brauche man nicht ihr zu liebe
den zeitlichen Verlauf für illusorisch zu erklären, sie
werde völlig befriedigt durch die Teilnahme der Indivi-
duen am absoluten Subjekt. — Der Weltgrund ist nach
Hartmann verbesserungsbedürftig. „Es entsteht also die
Aufgabe, einen Gottesbegriff zu konstruieren, welcher
dem Rechnung trägt, nicht einen solchen, der ihn wider-
spricht; letzteres thut aber der mangellos unbewegliche,
sich ewig gleichbleibende Gott, dessen Schöpfungszweck
als in jedem Augenblick gleichmässig erfüllt gilt." S. 142.
Für Freiheit in den Geschöpfen bleibt kein Raum,
weil sie ja nur Aktionen des absoluten Subjektes sind,
also scheinbare neue Anfänge in ihnen ja doch nur neue
Anfänge in Gott wären 5 für Freiheit in Gott ist kein
Raum, weil sie der logischen Notwendigkeit des teleo-
logischen Fortgangs widersprechen würde." S. 143. L.'s
Abneigung gegen den Determinismus beruhe ja doch
nur auf Stimmung und praktischen Postulaten, sei also
ohne Belang. „Die ganze religionsphilosophische üm-
kehrung des realistischen Ergebnisses der Metaphysik
in Bezug auf die Zeit ist damit als unberechtigt auf-
gezeigt, und der transzendentale Realismus der L. 'sehen
Zeitlehre bleibt in voller Kraft." S. 143, S. 148 ff. folgt
nun noch eine Beurteilung der L. 'sehen Lehre von den
Denkformen. Da L. eine Einheit der Substanz, Vielheit
ihrer Aktionen, eine, wenn auch immanente Kausalität
in den Dingen kenne, so erkenne er damit thatsächlich
die erkenntnistheoretisch -transzendente Bedeutung und
Gültigkeit der Kategorieen Einheit und Vielheit, Sub-
stanz und Akzidens, Realität, Kausalität und Wechsel-
wirkung an und ebenso diejenige der logischen Denk-
gesetze. Aber er bleibe sich auch hier nicht treu; „das
eine Mal will er mit Hülfe des Denkens das Seiende
a priori bestimmen und die Metaphysik aus der Logik
deduzieren, das andre Mal will er uns zum absoluten
— 59 —
Agnostizismus verurteilen, indem er alles Erkennen, nicht
blos das unsrige .... für unfähig erklärt, etwas andres
als subjektiven, formell wahren, aber materiell unwahren
Schein zu produzieren." Der Begriff' der formalen
Wahrheit, d. h. die widerspruchslose Übereinstimmung
des Bewusstseinsinhaltes mit sich selbst und seiner inneren
Mannigfaltigkeit unter einander) kann niemals den der
materiellen Wahrheit (d. h. die Übereinstimmung des Be-
wusstseinsinhaltes mit der korrelativen Wirklichkeit)
ersetzen, wie L. glaubt." S. 150. Vielleicht ist aber
diese formale Wahrheit doch zugleich eine materiale,
wenn wir uns erinnern , dass die Vorstellungswelt der
uns gegebene Teil der Wirklichkeit ist; es braucht dann
nicht erst eine Brücke hinüber zur Dingwelt gesucht
werden, die llartmann in einer unmittelbaren praktischen
Gewissheit des Affiziertwerdens durch einen fremden
Zwang, eine Aussenwelt findet.
Und angenommen auch , L.'s Erkenntnislehre führe
theoretisch zum Illusionismus und Skepticismus, so hat
er doch in seinen Werturteilen, in der praktischen Ver-
nunft ein Mittel, die wahre Wirklichkeit zu erfassen.
Hartmann's Schlussurteil ist: Da Lotze sich in Betreff
der Denkformen ebenso wenig wie in Betreff der Zeit-
lichkeit aus seinem Schwanken herausarbeiten und zu
fester Stellungnahme auf Seiten des transzendentalen
Realismus entschliessen konnte, so zeigt seine Erkenntnis-
theorie hier eine klaffende Lücke. Damit ist seinem
ganzen System der Eckstein weggezogen, so dass es
haltlos in der Luft schwebt."
Man muss dieser Kritik Hartmanns zugestehen,
dass sie einheitlich und konsequent ist und manche
Doppelheit in L.'s Philosophie aufdeckt. H. ist ein
Ausläufer der ihrerzeit so imponierenden spekulativen
Philosophie Deutschlands, Schelling nahe stehend, und
— 60 —
teilt in seiner Philosophie alle Vorzüge und Schatten-
seiten jener älteren. Gerne wird man den Mut und die
Kraft, bis zu dem Letzten erkennend vorzudringen,
anerkennen und bewundern, und wünschen, dass es nie
an Männern fehlen möge, die dies immer wieder wagen.
Aber Kants Kritizismus hat uns doch zu sehr die Augen
geöffnet über die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit dieses
Unternehmens. Kants Philosophie bleibt eine Stufe in
der Entwicklung unsrer deutschen Philosophie, die nie-
mand ohne Schaden übersehen wird. Ist ja doch selbst
Hartmann nicht unbeeinflusst davon: denn seine und
Schopenhauers starke Betonung des Willens gegenüber
der früheren Bevorzugung des Intellekts beruht gewiss
neben einer vervollkommneteren Psychologie auch auf
den Einfluss von Kants praktischer Vernunft.
So wenig auch H. Gutes an L. lassen will, so stehen
sie sich doch nicht so fern, auch Hartmann nimmt einen
Glauben, eine unmittelbare Erkenntnis als Fundament
seiner Philosophie an. Andrerseits nähert sich wieder
L. an Hartmann durch sein spekulatives Interesse, das
er wiederholt betont z.B. Schluss der Logik: „Aber im
Angesicht der allgemeinen Vergötterung, die man jetzt
der Erfahrung um so wohlfeiler und sicherer erweist, je
weniger es noch jemanden gibt, der ihre Wichtigkeit
und Unentbehrlichkeit nicht begriffe, im Angesicht dieser
Thatsache will ich wenigstens mit dem Bekenntnis, dass
ich eben jene vielgeschmähte Form der spekulativen
Anschauung für das höchste und nicht schlechthin un-
erreichbare Ziel der Wissenschaft halte, und mit der
Hoffnung schliessen, dass mit mehr Mass und Zurück-
haltung, aber mit gleicher Begeistrung sich doch die
deutsche Philosophie zu dem Versuche immer wieder-
erheben werde, den Weltlauf zu verstehen und ihn nicht
blos zu berechnen." Nur ist Hartmann's Monismus mehr
ontologisch wie der Fichte's. Hartmann's System mag
konsequenter und systematischer sein, aber es hat eben
— 61 —
auch den Nachteil der spekulativen Philosophie, über
Dinge Erkenntnisse haben zu wollen, die unserm Denken
entzogen sind, und deshalb manchmal an Mythologie zu
grenzen.
Hartmann's Kritik zeigt uns die schon früher
konstatierte kantisch -hegelsche Doppelheit in L. noch
deutlicher. Alle die halben Ansätze zum transzenden-
talen Realismus, ferner der Monismus und seine oben-
erwä'inte spekulative Neigung sind ein Erbe unsrer
spekulativen Philosophen; die von Hartmann gerügte
Idealität des Raumes, der Zeit (in der Religionsph ),
der Denkformen, der manchmal hervortretende logische
und metaphysische Skeptizismus und Agnostizismus sind
kantisch. Hartmann betont sehr die Abhängigkeit L.'s
von Weisse und auch L. gesteht den tiefen und mass-
gebenden Einfluss desselben auf seine Philosophie zu.
cf. Hartm. S. 25 : Mit seinem Freund und Lehrer Weisse
fühlt L. sich auf das engste verbunden und bekennt
freudig mit der dankbarsten Erinnerung, dass er ihm
„nicht nur der Anregungen auf weiten Gebieten gar
viele, sondern auch den positiveren Gewinn verdanke,
über einen engeren Kreis von Gedanken so belehrt und
in ihm befestigt worden zu sein, dass er diesen wieder
aufzugeben weder eine "Veranlassung ausser ihm, noch
einen Trieb in ihm gefühlt habe." Yon ihm hat L.
seinen Glauben an die Persönlichkeit Gottes und an
ein Reich freier persönlicher Geister, die Gott gegenüber
eine gewisse Selbständigkeit behaupten.
Yon diesem Glauben, den L. nicht lassen will,
kommen die von H. getadelten Halbheiten her. Er ist der
Grund, warum er ein bewusstes Fürsichsein und eine
relative Selbständigkeit der Aktionen Gott gegenüber
festhalten will, warum er überhaupt bewusste Geistigkeit
und Ichheit so hoch stellt, warum er Gott nicht in den
Zeitverlauf hereinziehen lassen will, warum er so hart
nackig die Persönlichkeit Gottes verteidigt, warum er
— 62 —
eine Freiheit der Geschöpfe beibehalten und die Sehn-
sucht der Individuen, an dem von ihnen geschaffenen
Gütern individuellen Genuss zu haben, nicht unbillig
findet.
H. ist als Philosoph und Pantheist konsequent, in
L. streitet Pantheismus und Theismus; vielleicht gibt
er uns deshalb eine schlechtere Philosophie, aber gewiss
bietet er uns eine befriedigendere Weltanschauung.
Denn wir sind im Unterschied von H. der Ansicht, dass
gerade in der kantischen Seite und den theistischen
Neigungen als deren Ergänzung das Wertvolle der L.
Philosophie liegt, und wenn uns der Einwand gemacht
würde, das sei denn nicht mehr Philosophie, sondern
Religion, so entgegnen wir, dass es eine vollständig
anerkannte und gerechtfertigte Brücke von der Philosophie
zur Religion gibt, die Kant gezeigt hat, wenn er sagt,
dass er die Anmassungen der Philosophie zurückweisen
musste, um dem Glauben Platz zu machen.
Es wird eben doch dabei bleiben, dass eine auf
rein logisch -philosophischer Grundlage entwickelte und
aufgebaute Weltanschauung nie die Bedeutung, die Kraft
und den Einfiuss erlangen und nie die Befriedigung
gewähren kann, die mau von der richtigen Weltanschauung
erwarten darf und muss, dass die Philosophie, wenn sie
auf sich selbst angewiesen bleibt, überhaupt unfähig
ist, eine abschliessende Weltanschauung zu finden
und wenn sie es doch versucht, nur W^orte statt Wahr-
heiten bieten kann, dass die Philosophie vielmehr die
Aufgabe hat, über sich selbst hinauszuweisen und hinaus-
zuführen zu dem Glauben an die Offenbarung. Die
Philosophie in diesem Sinne bearbeitet zu haben, wenn
auch nicht ganz rückhaltslos, halten wir für L.'s grösstes
Verdienst,
Die Erkenntnis der Unzulänglichkeit des mensch-
lichen Denkens gegenüber den transzendenten Wahr-
heiten sollte die Philosophie nicht mehr aufgeben.
^ 63 —
vielmehr nach dem Seinsollenden als letztem Grunde
des Seienden suchen, wie L. es wünscht. Da die Ideale
des Seinsolleuden nur in der Geschichte zu finden sind,
so würde die Philosophie auch dazu geführt werden, von
den unfruchtbaren ontisch-kosmologischen Spekulationen
abzulassen und nach den Idealen in der Geschichte zu
fragen, diese nach ihrem "Werte zu beurteilen, so Ge-
schichtsphilosophie anstatt Seinsphilosophie zu werden;
auf diesem Wege würde auch die so sehnlich erwünschte
Versöhnung zwischen Philosophie und Offenbarung gewiss
zu erreichen sein.
Dass wir mit solcher Beurteilung der L.'schen
Philosophie nicht Unrecht thun, bestätigt auch die
Darstellung Erdmanns in seiner Gesch. Phil. II S. 841f
„Schwerlich wird man fehlgreifen, wenn man zu den früh
unerschütterlich gewordenen Überzeugungen, ja zu ihrem
Kulminationspunkt die rechnet, dass der genügende
Grund für den Inhalt alles Seins und Geschehens in
der Idee des Guten liege, oder dass die Welt der Werte
zugleich der Schlüssel für die Welt der Formen sei.
Dieser Grundanschauung gemäss kann er in seiner
Metaphysik seinen Standpunkt als teleologischen Idealis-
mus bezeichnen und sagen, dass die Metaphysik ihren
Anfang nicht in sich selbst habe, sondern in der Ethik."
Lebenslauf des Verfassers.
Als Sohn des Gerbereibesitzers Georg Pohl mann
und dessen Ehefrau Margare tha, geb. Wer nie in, wurde
ich Hans Adam Pohl mann zu Goldkronach am
23. April 1872 geboren und durch die Taufe in die christ-
liche Kirche evangel.-luth. Konfession aufgenommen.
In meinem Heimatsstädtchen besuchte ich die Elementar-
schule, von 1882 an das Gymnasium zu Bayreuth,
welches ich im Jahre 1891 absolvierte. Ich wandte
mich dann dem Studium der Theologie und Philosophie
zu, welchem ich 4 Semester in Erlangen und ebenso
lange in Berlin oblag. Die letztgenannte Universität
mit ihrem vielseitigen und reichen geistigen Leben übte
auf mich einen mächtigen und für meine "Weltanschauung
entscheidenden Einfluss aus, ihr habe ich das Beste
meines geistigen Besitzes zu verdanken. Im Jahre 1895
unterzog ich mich mit Erfolg der theologischen Auf-
nahmsprüfung in Ansbach.
Nach erfüllter Militärpflicht wurde ich im folgenden
Jahre ordiniert und als Pfarrvikar zum Dienst in der
bayerischen Landeskirche berufen.
Die Wahrheit zu suchen und ihr zu dienen, be-
zeichnete Lessing als des Menschen edelstes Recht und
dauerndstes Glück; ihr seien mit Gottes Hilfe auch
fernerhin meine bescheidenen Dienste geweiht!
^ ?^
m
PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET
UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
B Föhlraann, Hans Adam
329ß Die Sirkenntnistheorie Rud
YaYau
O N-