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Full text of "Die Erkenntnistheorie Rud. Herm. Lotzes"

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Pöhlmann,  Hans  Adam 

Die  Erkenntnistheorie  Rud 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2009  witii  funding  from 

University  of  Toronto 


littp://www.arcliive.org/details/dieerkenntnistlieOOpli 


Die  Erkenntnistheorie 
Rud.  Herrn.  Lotzes. 


Inaupral-Dissertation 

zur 

Erlangung  der  philosophischen  Doktorwürde 

der 
hohen  philosophischen  Fakultät 

der 

k.  b.  Friedricli- Alexanders -Universität  zu  Erlangen 

vorgelegt  von 

Hans  Pöhlmann 

aus  Goldkronach. 
Tag  der  mündlichen  Prüfung:  4.  Juni  1897. 


ERLAKGEN. 

K.  b.  Hof  buchdruckerei  von  Aug.  Vollrath. 

1897. 


^{teiTYOflS^ 


Referent:  Prof.  Dr.  Falckenberg;. 


Meinem  treusten  und  besten  Freunde 


^  011^,  cond.  orl. 


in  herzlicher  Liebe   gfewidmet. 


Benutzte  Litteratur. 


Lotze,  System  der  Philosophie,  I.  Logik,  II.  Aufl.  1880. 

„     ,        „         „  „         ,  II.  Metaphysik,  II.  Aufl.  1884. 

„     ,  Mikrokosmus,  IV.  Aufl.  1888. 

„     ,  Grundzüge  der  Metaphysik,  II.  Aufl.  1887. 

„      ,  „  „     Religionsphilosophie,  III.  Aufl.  1894. 

„     ,  Grundzüge  der  Psychologie,  V.  Aufl.  1894. 

„     ,  Grundzüge  der  praktischen  Philosophie,  II.  Aufl.  1884. 

„     ,  Geschichte  der  d.  Philosophie  seit  Kant,  II.  Aufl.  1894. 

„     ,  Kleine  Schriften,  I.  Bd.  (cd.  Peipers),  1885. 
Gercken,  Beitrag  zur  Würdigung  der  Erkenntnisth.  Lotzes  Prgrm. 
Ed.  V.  Hartmann,  Lotzes  Philosophie,  Neue  Ausgabe. 
Stählin,  Kant,   Lotze,  Ritschi,  1888. 

Falckenberg,  Geschichte  der  neueren  Philosophie,  II.  Aufl.  1892. 
J.  E.  Erdmann,   Grundriss    der   Geschichte   der   Philos.,   2.  Bd , 
IIL  Aufl.  1878. 


nhaltsverzeichnis. 


I.  Metaphysische  Grundlage  und  Ausgangspunkt  der  Erkenntnis- 
theorie Lotzes. 

II.    Seine  Lehre  von  Raum,  Zeit  und  üenkforraen. 

III.  Beurteilung  der  Lehre  Lotze' s  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  Kritik  Hartman ns. 


So  verschieden  auch  die  Urteile  über  Lotze  und 
die  Bedeutung  seiner  Philosophie  sein  mögen,  darüber 
herrscht  gewiss  kein  Streit,  dass  in  ihm  ein  Mann  auf- 
getreten ist,  der  in  einer  Zeit,  wo  die  Königin  der 
Wissenschaft  hoffnungslos  und  verachtet  darniederlag, 
ihr  Banner  wieder  zu  Ehren  brachte  und  es  bewies, 
dass  die  Kraft  und  Tiefe  des  deutschen  philosophischen 
Denkens  weder  von  der  Hochflut  des  Materialismus  hin- 
weggeschwemmt,  noch  von  der  üppig  wuchernden  wissen- 
schaftlichen Detailarbeit  erstickt  werden  konnte.  Man 
könnte  2  Arten  von  epochemachender  Geistesgrösse 
unterscheiden,  durch  welche  die  Wissenschaft  immer 
um  einen  grossen  Schritt  nach  vorwärts  kommt:  einer- 
seits die  schroff'en ,  einseitigen  Denker;  in  glücklicher 
Stunde  blitzt  ihnen  mit  unwiderstehlicher  Deutlichkeit 
ein  neuer  (jedanke  auf,  der  auf  dunkle  Gebiete,  die 
sich  bisher  der  denkenden  Bearbeitung  entzogen,  plötz- 
lich ein  helles  Licht  wirft;  mit  zäher  Energie  halten  sie 
nun  diesen  Gedanken  fest,  kämpfen  und  leiden,  wenn 
es  not  thut,  dafür,  überlassen  es  aber  im  Grossen  und 
Ganzen  anderen,  ihn  nach  allen  Seiten  abzurunden, 
auszugleichen  und  zu  vermitteln,  und  im  Bewusstsein 
der  Schranken  der  neuen  Wahrheit  sie  dem  Ganzen  der 
bisherigen  Erfahrung  und  Erkenntnis  an  der  rechten 
Stelle  einzugliedern;  solche  sind  z.  B.  Athanasius,  K.mt. 
Die  andern  sind  wie  eine  Zisterne,  in  der  sich  alle 
Bäche  und  Bächlein  sammein ,  und  zu  einem  Reservoir 
einer  neuen  und  stärkeren  Kraft  werden ;  die  verschie- 
denen Richtungen  der  bisherigen  Entwicklung  sind  wie 
in    einem    Brennpunkt    gesammelt    und    der    fruchtbare 


Mutterboden  aller  folgenden  Bestrebungen;  solche  um- 
fassenden Geister  waren  Aristoteles,  Augustin,  Leibniz, 
Schleiermacher,  und  auch  Lotze  ist  dieser  letzteren 
Art  zuzuzählen.  Leibnizens  Pluralismus  und  Hegelscher 
Monismus,  Kantischer  Idealismus  und  Herbartscher 
Realismus,  trockener  Mechanismus  und  seelenvollster 
Spiritualismus  haben  sich  in  ihm  zusammengefunden  und 
zwar  nicht  etwa  blos  zu  einem  zusammengewürfelten 
Haufen  unbehauener  Steine,  sondern  zu  einem  bewun- 
dernswerten Gebäude  edelsten  Stils. 

Rücksichtslos  und  konsequent  dehnt  er  die  Prinzipien 
der  Naturerklärung  aus  anf  das  gesamte  Gebiet  der 
Wirklichkeit,  da  Natur  und  Geist  ihm  nicht  durch  eine 
unüberbrückbare  Kluft  getrennt  sind ,  und  doch  steigt 
er  mit  wahrhaft  poetischem  Schwung  und  religiöser 
Begeisterung,  wenn  auch  mit  ehrerbietiger  Scheu  empor, 
um  das  Universum  als  Ausdruck  der  Idee  des  Wahren , 
Guten  und  Schönen  zu  begreifen.  Ferne  liegt  ihm  alles 
gelehrte  Formen-  und  Phrasenwesen,  das  die  deutsche 
Philosophie  von  der  englischen  so  nachteilig  unterscheidet; 
er  stellt  sich  nicht  mit  absichtlicher  Wichtigthuerei  von 
Anfang  an  auf  hohen  Kothurn,  sondern  nimmt  die 
Probleme  einfach  und  natürlich,  wie  sie  gegeben  sind, 
und  doch  gelangt  er  zu  aussichtsvollen  Höhen,  auf  die 
ihm  der  Ateraschwache  von  selbst  nicht  mehr  folgen 
kann.  Einfacher  Ausdruck  bei  grosser  Fülle  der  Ge- 
danken werden  ihn  auch  für  nicht  philosophisch  inter- 
essierte oder  beanlagte  Leser  zu  einem  angenehmen  und 
zugleich  lehrreichen  Schriftsteller  machen. 


I.  Wenn  wir  es  nun  in  folgendem  versuchen,  die  Er- 
kenntnislehre L,  darzustellen,  so  müssen  wir  dem  von 
ihm  selbst  gewiesenen  Weg  folgen,  der  aus  der  Meta- 
physik zur  Erkenntnislehre  führt,  aber  nicht  umgekehrt 
verläuft.     Denn  nach  L.  ist  die  Erkenntnistheorie  nicht 


—     9     — 

das  Thor  zu  der  Metaphysik ,  wofür  sie  gewöhnlich  gilt, 
sondern  vielmehr  ein  spezieller,  angewandter  Teil  der- 
selben. „Wir  werden  zuerst  uns  überlegen  müssen,  was 
wir  über  die  Dinge  und  den  Zusammenhang  zwischen 
ihnen  denken  müssen.  Und  das  gefundene  Resultat 
werden  wir  dann  auf  das  Verhältnis  der  Dinge  zu  uns 
anwenden  und  bestimmen  müssen,  wie  weit  unsre  Er- 
kenntnis reichen  kann,  weil  die  Wechselwirkung  zwischen 
uns  und  den  vorzustellenden  Objekten  nur  ein  Einzelfall 
der  Beziehung  ist,  welche  wir  allgemein  zwischen  irgend 
zwei  Elementen  oder  Dingen  in  der  Wirklichkeit  be- 
stehend kennen  gelernt  haben."     (Grdz.  d.  Met.  §  4.) 

Gercken,  der  sich  in  seinem  Programm  in  allen 
wesentlichen  Stücken  zur  Erkenntnislehre  L.  bekennt, 
tadelt  es  am  Schlüsse  sehr,  dass  L,  noch  gewisse  meta- 
physische Behauptungen  über  die  „Welt  an  sich"  fest- 
halte und  steht  allen  Behauptungen,  die  über  unsere 
Gedankenwelt  hinaus  feste  Wahrheitselemente  finden 
wollen,  mit  unerschütterlichem  Skeptizismus  gegenüber; 
denn  dieses  Gebiet  liege  eben  „ausserhalb  unsrer  I'i- 
tellektual-Grenzen;  was  aber  ausserhalb  der  Intellektual- 
Grenzen  liegt,  was  sich  also  nicht  mehr  logisch  garan- 
tieren lässt,  das  fällt  nicht  mehr  in  die  Aufgabe  der 
Philosophie,  das  gehört  dem  Gebiete  des  Glaubens  oder 
des  Gemütslebens  an"  (Prgr.  S.  23).  Er  bleibt  also  auf 
dem  Standpunkte  von  Kants  Kritik  dr.  r.  Vern.  stehen, 
ohne  den  Fortgang  zur  Kritik  dr.  pr.  Vern.,  den  auch 
L.  in  ihm  eigentümlicherweise  macht,  als  rechtmässigen 
anzuerkennen.  Lassen  wir  die  materielle  Berechtigung 
dieses  Einwurfes  dahingestellt,  so  viel  ist  uns  nach  dem 
Vorigen  gewiss,  dass  es  nicht  angeht,  L.'s  Erkenntnis- 
lehre als  Richterin  über  seine  Metaphysik  aufzustellen; 
denn  für  L.  sind  denknotwendige,  im  letzten  Grunde 
ethisch -ästhetisch  fundierte  Behauptungen  über  die  Wirk- 
lichkeit an  sich  das  Erste  und  Wichtigste  seiner  Welt- 
anschauung. 


—     10     — 

Wie  kommt  er  aber  zu  solchen  Behauptungen? 
Wie  schon  gesagt,  nicht  durch  eine  Untersuchung  über 
die  Grenzen  unseres  Erkennens,  denn  es  sei  langweilig 
immer  das  Messer  zu  wetzen,  ohne  zu  schneiden,  son- 
dern die  geschichtlich  gegebenen  Probleme,  die  von 
unsrer  Yernunft  mit  dem  unausrottbaren  Vertrauen  zu 
sich  selbst,  dass  ihre  Erkenntnis^  die  Welt  und  ihre 
Zusammenhänge  auch  wirklich  erfassen  könne,  aufge- 
nommen und  bearbeitet  werden,  sind  der  Ausgangspunkt 
seines  Philosophierens,  Der  Glaube  an  die  Voraus- 
setzungslosigkeit  erkenntnistheoretischer  Untersuchungen 
sei  ja  doch  auch  nur  eine  Fabel.  „Es  ist  ganz  unmög- 
lich, die  Grenzen  zu  bestimmen,  innerhalb  deren  die 
Vernunft  von  den  Dingen  wissen  kann,  wenn  man  nicht 
zur  Entscheidung  dieser  Frage  irgend  eine  Vorstellung 
über  die  Natur  der  erkennenden  Seele,  irgend  eine  Vor- 
stellung über  die  Natur  des  vorzustellenden  Dinges, 
endlich  irgend  eine  Vorstellung  über  das  Verhältnis ,  in 
welchem  das  Ding  zur  Seele  steht,  als  bereits  gültig 
voraussetzt,  d.  h.  wenn  man  nicht  wenigstens  einen  Teil 
der  wirklichen  Metaphysik  als  bereits  ausgeführt  ansieht, 
um  auf  ihn  jene  Kritik  der  Vernunft  zu  stützen."  (Grdz. 
d.  M.  §  4.) 

Durch  diese  Antipathie  gegen  die  Voranstellung  der 
Erkenntnistheorie  zieht  sich  L.  freilich  vielfachen  Tadel 
zu,  als  wolle  er  damit  in  die  vorkantische  Zeit  des 
naiven  Dogmatismus  zurückrufen,  aber  gegenüber  der 
so  sehr  bevorzugten  und  trotzdem  ziemlich  unfruchtbaren 
Pflege  der  Erkenntnistheorie  in  unserer  Zeit,  kann  sein 
Misstrauensvotum  nur  heilsam  wirken,  zumal  er  in  der 
Entwicklung  seiner  Philosophie  die  erkenntnistheoreti- 
schen Probleme  wohl  zu  würdigen  weiss.  Es  bleibt  eben 
doch  wahr,  dass  man,  ohne  ins  Wasser  zu  gehen  nicht 
schwimmen  kann,  und  dass  unsere  Erkenntnisthätigkeit 
nicht  oder  wenigstens  nicht  mit  Gewinn  isoliert  von  dem 
Stoffe,  den  sie  bearbeitet,  betrachtet  werden  kann.    Es 


—   11   — 

ist  ein' Zeichen  von  Achtung  der  Geschichte  gegenüber, 
die  man  der  Philosophie  in  höherem  Masse,  als  es  bisher 
der  Fall  war,  wünschen  möchte,  dass  L.  aus  ihr  die 
Probleme  entnimmt;  und  in  der  That,  was  die  Mensch- 
heit seit  alten  Zeiten  bewegt  hat,  und  immer  aufs  Neue 
ihre  Wissbegier  anregt,  muss  für  sie  auch  von  ausschlag- 
gebendem Interesse  sein,  und  eine  Lehre,  die  zu  deren 
Aufhellung  etwas  beiträgt,  verdient  den  Namen  Philo- 
sophie, auch  wenn  sie  ohne  viele  erkenntnistheoretische 
Bedenken  einfach  von  der  Geschichte  und  dem  Bedürfnis 
der  jeweiligen  Zeit  sich  ihre  Aufgaben  stellen  lässt. 

Suchen  wir  uns  also  über  die  Grundbegriffe  der 
Lotzeschen  Metaphysik  Klarheit  zu  verschaffen. 

Sein  heisst  in  Beziehungen  stehen,  Wechselwirkungen 
sind  der  letzte  Bestand  der  Wirklichkeit.  Es  ist  irrig, 
vor  dieses  wirksame  Sein  noch  ein  reines,  beziehungs- 
loses Sein  setzen  zu  wollen,  denn  dieses  würde  sich  ja 
vom  Nichtsein  gar  niiht  mehr  bestimmbar  unterscheiden, 
also  zu  leer  sein,  um  eine  geeignete  Grundlage  der 
Wirklichkeit  abgeben  zu  können.  Auch  als  Affirmation 
oder  Position  in  Herbart'scher  Weise  das  Sein  definieren 
zu  wollen,  ist  unmöglich,  denn  dies  sind  nur  einseitige 
Abstraktionen,  die  erst  wieder  mit  der  konkreten  Fülle, 
aus  der  sie  losgelöst  wurden,  verbunden  werden  müssen, 
um  überhaupt  etwas  zu  bedeuten.  Worin  besteht  nun 
eigentlich  das  Was  des  Seienden?  L.  weist  zunächst  es 
ab,  dies  als  einfache  Qualität  zu  bestimmen;  denn  Quali- 
täten seien  unveränderlich,  adjektivisch,  also  ungeeignet, 
das  lebendige  Werden  der  Wirklichkeit  zu  erklären. 
Einfachheit  könne  überhaupt  von  dem  Seienden  nicht 
erwartet  werden,  denn  „jede  Änderung  der  Qualität 
würde  dann  sogleich  eine  totale  Aufhebung  dieses  ganzen 
„Was"  werden  und  alle  Kontinuität  zwischen  dem 
Vorigen  a  und  dem  Späteren  «  aufhören."  Das  Seiende 
muss  vielmehr  notwendig  zusammengesetzt  sein.  Damit 
aber  das  nun  veränderte  Ganze  derselben  Formel  unter- 


—   12  — 

worfen  bleibe,  müssen  wir  von  diesem  Zusammengesetzten 
eine  Einheit  verlangen,  die  eine  Veränderung  zwar  zu- 
lässt,  sie  aber  dadurch  kompensiert,  dass  der  Veränderung 
eines  Elementes  der  Zusammensetzung  eine  korrespon- 
dierende aller  übrigen  nachfolgt.    (Grundz.  d.  M.  §  20.) 

Diese  Einheit  kann  zunächst  am  deutlichsten  dar- 
gestellt werden,  wenn  wir  sie  nicht  nach  Analogie  einer 
Anschauung,  sondern  eines  Begriffes  denken,  also  als 
einheitliches  Gesetz,  als  sinnvolle  Formel.  Es  fehlt 
dabei  nur  noch  das  Konkrete  der  lebendigen  Wirklichkeit, 
aber  in  unserer  sprachlichen  Beschränktheit  können  wir 
dem  nicht  anders  abhelfen ,  als  dass  wir  uns  diese  Formel 
eben  als  eine  lebendige,  individuelle,  wirkungskräftige 
denken. 

Die  Sucht,  dahinter  immer  wieder  einen  realen 
Kern  zu  suchen,  ist  zwar  natürlich,  weil  eine  unserem 
Denken  unvermeidliche  optische  Täuschung;  immer 
wieder  versuchen  wir  alle  lebendige  Wirklichkeit  gleich- 
sam aufzuhängen  an  einen  Träger  und  ein  hinter  ihr 
liegendes  Subjekt;  doch  ist  von  dem  philosophischen 
Denken  diese  Neigung  entschieden  zurückzuweisen,  denn 
gegeben  ist  weiter  nichts,  als  die  der  Art  ihrer  Ent- 
stehung nach  absolut  unbegreifliche  thatsächliche  Wirk- 
lichkeit. 

Damit  ist  auch  der  Substanzbegriff  aus  der  Welt 
der  Dinge  verbannt.  In  welcher  Weise  er  beim  Begriff 
des  Absoluten  wieder  rehabilitiert  wird,  berührt  nicht 
unser  Thema.  „Nun  ist  in  der  That  „Substanz"  nichts 
als  ein  Titel,  der  allem  demjenigen  zukommt,  was  auf 
Andres  zu  wirken,  von  Anderem  zu  leiden,  verschiedene 
Zustände  zu  erfahren  und  in  dem  Wechsel  derselben 
sich  als  bleibende  Einheit  zu  bethätigen  vermag." 
(Grundg.  d.  Psych.  §  78.) 

Die  Dinge  sind  nicht  Dinge  dadurch,  dass  in  ihnen 
eine  Substanz  verborgen  ist,  sondern  weil  sie  so  sind, 
wie  sie  sind,   und   sich  so  verhalten,   wie  sie  sich  ver- 


—     13    — 

halten,  bringen  sie  für  unsere  Phantasie  den  falschen 
Schein  hervor,  als  läge  in  ihnen  eine  solche  Substanz 
als  Grund  ihres  Verhaltens,     (ibid.) 

In  der  Metaphysik  werden  dann  die  Dinge  weiter 
als  Aktionen,  Modifikationen  des  All-Einen  bestimmt, 
an  dem  sie  erst  ihr  Recht  und  eigentliche  Wirklichkeit 
haben.  „Allerdings  sind  sie  das,  was  sie  sind,  und  leisten 
das,  was  sie  leisten,  nicht  vermöge  eines  Rechtes  ihrer 
Natur,  das  ihnen  vor  aller  Welt  zukäme,  so  dass  später 
die  Welt  sich  danach  richten  müsste  und  nur  das  ver- 
wirklichen könnte,  was  diese  Privilegien  erlauben.  Sie 
sind  und  leisten  vielmehr  alles  nur  im  Auftrage  dieses 
Einen  wahrhaften  Wesens;  und  Alles,  was  wir  gewöhn- 
lich als  letzte  unveränderliche  Elemente  und  Gesetze  des 
Weltlaufes  ansehen,  hat  diese  Unveränderlichkeit  und 
diesen  Wert  auch  nur  im  Auftrage  des  Plans ,  zu  dessen 
Verwirklichung  es  dienen  soll."  (Grdz.  dr.  Psych.  §  79). 
Später  kommt  L.  von  dem  konsequenten  Monismus,  den 
er  hier  lehrt,  scheinbar  wieder  etwas  zurück,  indem  er 
die  Dinge  in  ihrem  Fürsichsein  doch  eine  gewisse  Selb- 
ständigkeit besitzen  lässt,  was  sich  aber  doch  mit  seinem 
Monismus  wohl  vereinigen  lässt,  und  nicht,  wie  Ed.  v. 
Hartmann  tadelnd  meint,  ein  herbartisch- pluralistischer 
Einschlag  zu  sein  braucht. 


Die  eigentliche  Brücke  zum  Monismus  gewinnt  L. 
aus  seinen  Ansichten  über  Veränderung  und  Wechsel- 
wirkung. Für  unsere  Zwecke  kommt  hier  zunächst  in 
Betracht  seine  starke  Betonung  der  Gegenseitigkeit  der 
Wirkung,  so  dass  zum  Resultat  des  Geschehens  der 
leidende  Teil  mindestens  ebensoviel  beiträgt,  wie  der 
wirkende. 

„Wir  haben  gesehen,  dass  Alles,  was  wir  mit 
Recht  Rezeptivität  nennen  dürfen,  nicht  in  Abwesenheit 
jeder  eigenen  Natur,  sondern  in  wirksamer  Anwesenheit 


—    14    — 

bestimmter  Beschaffenheiten  besteht,  die  allein  dem 
empfänglichen  Element  erst  möglich  machen,  ihm  zu- 
gemutete Eindrücke  aufzunehmen  und  aus  ihnen  seine 
eigenen  Zustände  zu  machen"  (Met.  S.  104).  —  «Ein- 
seitige Wirkung  eines  Dinges  auf  das  andere  gibt  es 
daher  nie,  sondern  nur  Wechselwirkung,  deren  vollstän- 
diger Begriff  so  lautet:  Wenn  zwei  Dinge  a  und  b  in 
eine  bestimmte  Beziehung  treten,  so  geht  a  in  a,  b  in  /!^, 
c  in  ^^  über."  (Gr.  d.  M.  §  33.)  „Den  ganzen  Grund  für 
die  Gestalt  einer  Folge  W  enthält  also  nicht  ein 
Wesen  a  (denn  dann  würde  W  nicht  erst  eintreten, 
sondern  von  jeher  vorhanden  sein),  sondern  er  liegt  ver- 
teilt in  mindestens  zwei  Wesen  a  und  b,  die  in  irgend 
einer  veränderlichen  Beziehung  c  zu  einander  stehen, 
(ibid.  §  34.) 

Met.  S.  55  ff.  weist  L.  falsche  Auffassungen  der 
Kausalität  ab :  sie  kann  nicht  durch  Übergang  eines 
feinsten  Stoffes  gedacht  werden,  damit  wäre  das  Problem 
nur  zurückgeschoben,  da  es  ja  ebenso  unbegreiflich  bleibt, 
wie  dieser  Stoff  auf  einen  anderen  wirken  könne;  ebenso- 
wenig als  Übergang  eines  Zustandes,  denn  dieser  müsste 
dann  einen  Augenblick  in  der  Luft  hängen  und  Nie- 
mandes Zustand  sein. 

Beim  Okkasionalismus,  wo  gelegentlich  der  Ver- 
änderung in  der  einen  Reihe  auch  eine  solche  in  der 
andern  eintritt,  müsste  doch  letztere  die  Veränderung 
in  der  ersteren  bemerken,  aber  wie  sollte  dies  geschehen, 
ohne  dass  auch  hier  die  Kausalität,  die  man  erklären 
will,  schon  voraussetzt;  durch  eine  prästabilierte  Har- 
monie mit  Leibniz,  die  ganze  Entwicklungslinie  von 
Anfang  an  bestimmt  zu  denken  ist  eine  Yerlegenheits- 
auskunft,  und  der  darin  liegende  absolute  Determinismus 
entspricht  der  Wirklichkeit  nicht.  Wie  können  die  Dinge 
überhaupt  auf  einander  wirken?  L.  beantwortet  dies 
dahin:  Sie  können  dies  nur,  wenn  sie  einander  nicht 
absolut    fremd    sind,    sondern    in    einer    übergreifenden 


—    15    — 

Einheit  befasst  sind;  wenn  sie  überhaupt  nicht  von  ein- 
ander unabhängig,  sondern  Teile,  besser  Aktionen  des 
Alleinen  Msind.  Damit  geht  die  transeunte  Kausalität 
in  eine  leicht  verständliche  immanente  im  All  über. 


Wenn  wir  diese  Ansicht  von  der  Kausalität  im 
allgemeinen  nun  im  Besonderen  auf  die  Erkenntnistheorie, 
d,  h.  auf  die  Wechselwirkung  von  Objekt  und  Subjekt 
anwenden,  so  ergibt  sich  für  L.  freilich  eine  von  der 
gewöhnlichen  abweichende  Beantwortung  der  Frage : 
Worin  besteht  die  Wahrheit?  Jene  sagt:  Wahrheit  ist 
die  getreue  Abbildung  eines  wirklichen  Thatbestandes, 
der  gleichsam  zum  zweitenmal  in  geistiger  Form  im 
menschlichen  Denken  Leben  bekommt. 

Setzen  wir  einstweilen  die  Realität  einer  Aussen- 
welt,  deren  Berechtigung  wir  später  noch  prüfen  werden, 
voraus,  so  ergibt  sich  für  L,  nach  seinen  metaphysischen 
Grundanschauungen  die  Ansicht,  dass,  wenn  sich  das 
Ding  a  in  «  ändert,  in  unserem  Geiste  vermöge  des 
Zusammenhangs  in  All-Einen  an  Stelle  der  Vorstellung  b 
die  Vorstellung  ß  tritt;  die  Vorstellung  ß  hat  mit  dem 
Zustande  et  eigentlich  also  nicht  viel  zu  thun;  sie  stehen 
nur  in  einem  gesetzmässigen  Zusammenhang.  „Wahrheit 
besteht  dann  nur  in  der  Übereinstimmung  einer  Vor- 
stellung mit  derjenigen  Vorstellung,  welche  in  bezug  auf 
dasselbe  Objekt  in  allen  andern  Geistern  von  derselben 
Organisation  entstehen  muss.  (Grdz.  dr.  Met.  §  76.) 

Es  ist  ein  Vorurteil,  anzunehmen,  dass  die  äussere 
Welt  für  sich  eigentlich  schon  die  ganze  Welt  bilde, 
dass  die  Erkenntnis  blos  nebenher  dazu  komme,  um 
diese  abgeschlossene  Welt  noch  einmal  abzubilden,  dass 
aber  durch  diese  Abbildung  nichts  Neues  zu  dem  vor- 
herigen Bestände  der  Welt  hinzugefügt  werde,  dass  dieser 
Bestand  vielmehr  ganz  fertig  und  vollständig  wäre,  auch 
wenn  diese  Abbildung  gar  nicht  erfolgte.   Man  muss  im 


—    16    — 

Gegenteil  diese  Thatsache,  dass  durch  den  Einfluss  jener 
äussern  Wirklichkeit  in  den  Geistern  eine  Welt  der 
mannigfaltigsten  Erscheinungen  entsteht,  ebenfalls  mit 
zu  dem  Inhalte  des  Weltlaufes  und  zwar  zu  seinen  wich- 
tigsten Bestandteilen  rechnen,  sodass  die  Welt  ohne 
diesen  Vorgang  gar  nicht  fertig  wäre,  und  dass  sie  nicht 
in  einem  Sein,  welches  nebenher  erkannt  werden  könnte, 
sondern  eben  nur  in  dem  beständigen  Übergang  selbst 
dieses  Seins  in  seine  Erscheinung  für  den  Geist  besteht." 
(Grdz.  dr.  Met.  §  77).  (cf.  ferner  Schluss  des  §  77  und 
§  78  ibid.) 

Zum  erstenmale  sehen  wir  hier,  dass  für  L.  nicht 
Seinsurteile ,  sondern  Werturteile  das  Massgebende  sind, 
dass  ihm  nicht  der  Begriff  der  Wahrheit,  sondern  der 
des  Wertes  und  des  Zweckes  der  oberste  ist.  Farben 
und  Töne ,  Vorstellungen  und  Ideen  haben  Wirklichkeit 
freilich  nur  in  unserem  Geistesleben,  aber  sind  sie  des- 
halb weniger  wert?  Ein  Schmerz,  den  niemand  fühlt, 
ist  auch  unwirklich,  aber  ist  der  gefühlte  deshalb  weniger 
Schmerz?  Was  die  Phantasie  des  Dichters  in  die  Natur 
hineinschaut,  ist  auch  nur  Erzeugnis  seines  Geistes, 
aber  sind  uns  diese  seine  Gedanken  nicht  manchmal 
wertvoller  und  wichtiger  als  ihre  Veranlassung  in  der 
Natur?  So  sehr  L.  von  Fechner  sonst  abweicht,  hierin 
begegnen  sie  sich,  die  geistige  duftige  Gestalt,  in  der 
die  AVeit  vom  Menschen  erfasst  wird,  ist  nicht  etwas, 
mit  dem  wir  uns  leider  begnügen  müssen,  sondern  es 
ist  die  edelste  Blüte  der  Wirklichkeit ;  was  hülfe  es  uns, 
wenn  wir  die  ganze  dahinter  liegende  Maschinerie  noch 
einsehen  könnten? 

Dieser  eigenartigen  Ansicht  halber  ist  L.'s  Erkenntnis- 
theorie als  zum  absoluten  Illusionismus  führend  beurteilt 
worden  (cf.  Stählin),  aber  dies  kann  man  doch  nur,  wenn 
man  seine  eigene  Rechtfertigung  ignoriert  und  sich  ihm 
gegenüber  immer  auf  den  Standpunkt  stellt,  den  er  sich 
Mühe  gibt  zurückzuweisen.   Haben  wir  denn  in  der  That 


-      17     — 

ein  unvermeidliches  Interesse  daran,  ein  Spiegel  der 
"Wirklichkeit  zu  sein?  L.  folgt  hier  dem  gewiss  berech- 
tigten Zuge  unsres  Jahrhunderts,  den  ganzen  Menschen 
zu  seinem  Rechte  kommen  zu  lassen  in  der  Totalität 
seines  geistigen  Lebens,  und  nicht  das  intellektualistische 
Interesse  einseitig  herauszugreifen  und  allein  zu  pflegen. 

L.  erinnert  an  die  ähnliche  Auffassung,  wonach 
unsre  Yorstellungswelt,  die  eine  Folge,  nicht  Abbild 
einer  Ausserwelt  sei,  für  uns  in  Betracht  komme  als 
Material  der  Pflichterfüllung,  indem  sich  der  Mensch 
als  sittliches  Wesen ,  erkennen  und  bethätigen  soll.  Für 
L.'s  monistisch-spekulativen  Geist  ist  dies  zu  atomistisch 
und  anthropozentrisch  gedacht.  Drum  verlegt  er  den 
Zweck  der  Welt  nicht  in  die  einzelnen  Geistweseu,  son- 
dern in  das  Universum  als  höchstes  sich  realisierendes 
Gut,  gesteht  freilich  zu,  dass  dieser  höchste  Gedanke 
nur  regulatives  Prinzip  sein  könne,  ohne  die  einzelnen 
Untersuchungen  störend  beeinflussen  zu  dürfen.  AVir 
werden  noch  auf  diesen  ästhetisch -ethischen  Oberbau 
der  Philosophie  L.'s  zurückkommen. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  erkenntnistheoretischen 
Fragen  im  Einzelnen.  Drei  Auff'assungen  sind  dem  Ob- 
jekte unsres  Denkens  gegenüber  möglich.  Entweder  man 
sagt:  das  Denken  kann  nicht  über  sich  hinaus,  und  seine 
Gedanken  sind  nichts  als  zufällige  Ansichten,  so  der 
Skeptizismus;  oder  man  sagt  das  Denken  könne  zu  festen 
Punkten  gelangen,  deren  Realität  dann  an  unser  Vor- 
stellungsleben gebunden  sein,  oder  in  einer  transcen- 
denten,  von  uns  unabliängigen  Wirklichkeit  begründet 
sein  kann.  (Idealismus  —  Realismus.)  Der  Unterschied 
der  beiden  letzteren  Standpunkte  verliert  bei  L.  fast 
ganz  seine  Bedeutung;  mit  dem  ersteren  (Skeptizismus) 
findet  er  sich  auf  folgende  Weise  ab  (cf.  Logik  III.  1.) 
Da  ja  zugestandener  Massen  nichts  anderes  als  der  Zu- 
sammenhang unserer  Vorstellungen  unter  einander  der 
Gegenstand  unserer  Untersuchung  sein  kann,  so  beruhe 

2 


—     18     — 

der  Zweifel,  ob  nicht  vielleicht  doch  Alles  anders  sei, 
als  es  uns  erscheine,  von  vornherein  auf  der  bereits 
zurückgewiesen  falschen  Definition  von  Wahrheit,  .„Auf 
das  mithin,  was  uns  denknotwendig  ist,  sind  wir  tat- 
sächlich in  jedem  Falle  beschränkt;  das  Selbstvertrauen 
der  Vernunft,  dass  Wahrheit  überhaupt  durch  Denken 
gefunden  werden  könne,  ist  die  unvermeidliche  Voraus- 
setzung alles  üntersuchens"  (Log.  S.  492).  Über  den 
Skeptizismus  in  der  griechischen  Philosophie  sagt  L. : 
„Als  die  antike  Sophistik  lehrte,  es  gebe  keine  Wahr- 
heit, und  wenn  es  eine  gäbe,  so  wäre  sie  nicht  erkennbar, 
wenn  sie  endlich  selbst  erkennbar  wäre,  so  wäre  sie 
nicht  mitteilbar,  so  widersprach  sie  durch  die  That  jedem 
einzelnen  dieser  Sätze.  Denn  das  Ganze  derselben  gab 
sie  doch  für  Wahrheit  und  konnte  mithin  nicht  jede 
Wahrheit  leugnen;  sie  suchte  die  Richtigkeit  ihrer  Be- 
hauptungen ferner  zu  beweisen,  und  musste  deshalb  eben 
die  mittelbare  Erkenntnis  der  Wahrheit,  deren  Unmög- 
lichkeit sie  am  liebsten  dargethan  hätte,  zu  ihren  eigenen 
Gunsten  voraussetzen ;  die  Mitteilbarkeit  endlich  leugnete 
sie  in  dem  Augenblicke,  wo  sie  auf  Grund  derselben 
andre  überzeugen  wollte."  (Log.  S.  486.)  „•  •  •  •  dass 
endlich,  auch  wenn  mau  diese  unzulässige  Beziehung 
der  Vorstellungswelt  auf  eine  ihr  fremde  Welt  der  Ob- 
jekte fallen  lässt,  dennoch  eine  L'^ntersuchung  übrig 
bleibt,  welche  innerhalb  der  Vorstellungswelt  die 
festen  Punkte,  die  ersten  Gewissheiten  aufzufinden  strebt, 
von  denen  aus  die  veränderliche  Menge  der  übrigen 
Vorstellungen  annähernd  in  gesetzlichen  Zusammenhang 
zu  bringen  gelingen  kann."     (Log.  S.  499.) 

Dass  auf  diesem  Standpunkte  der  Unterschied 
zwischen  Idealismus  nnd  Realismus  fast  verschwindet, 
geht  aus  folgendem  hervor:  „Alles  was  wir  von  der 
Aussenwelt  wissen,  beruht  auf  den  Vorstellungen  von 
ihr,  die  in  uns  sind;  es  ist  völlig  gleichgültig  zunächst, 
ob  wir  idealistisch  das  Vorhandensein  jener  Welt  leugnen 


—    19    — 

und  nur  unsre  Vorstellungen  von  ihr  als  das  Wirkliche 
bedachten,  oder  ob  wir  realistisch  an  dem  Sein  der 
Dinge  ausser  -uns  festhalten  und  sie  auf  uns  wirken 
lassen;  auch  in  dem  letzteren  Falle  gehen  die  Dinge 
doch  nicht  selbst  in  unsere  Erkenntnis  über,  sondern 
nur  Vorstellungen,  die  nicht  Dinge  sind,  erwecken  sie 
in  uns."  (Log.  493).  L.  gibt  also  ohne  Rückhalt  zu, 
dass  das  uns  Ciegebene  nur  unsere  Vorstellungswelt  ist; 
aber  dies  könne  der  Leugnung  der  Aussenwelt  nicht 
präjudizieren,  da  es  ja  auch  bei  der  Annahme  derselben 
nicht  anders  sein  könnte.  Der  zum  Solipsismus  fort- 
geführte konsequente  Idealismus  verdient  nach  L.  keine 
grosse  Beachtung.  Für  die  Beteiligung,  die  L.  ästhetisch- 
ethischen Motiven  beim  Aufbau  seiner  Weltanschauung 
zukommen  lässt,  ist  charakteristisch,  dass  er  jene  Kon- 
sequenz einfach  „geschmacklos"  nennt,  „Man  weiss, 
dass  Fichte  die  erste  geschmacklose  Folgerung  nicht 
zog,  die  allerdings  in  der  Konsequenz  dieses  Irrtums 
gelegen  hätte,  die  Folgerung  nämlich,  dass  das  einzelne 
so  philosophierende  Subjekt  sich  selbst  als  die  einzige 
Realität  ansehen  müsste,  die  in  ihrem  Innern  allein  den 
Schein  einer  Mitwelt  erzeugte,"  (Met.  S.  184.)  u,  .  „  .  ,  .  . 
nehmen  wir  an,  einen  Augenblick  allerdings  sei  der  ein- 
same Denker  versucht  gewesen,  alle  natürliche  und 
geistige  Wirklichkeit  als  gesetzlichen  Traum  seines  per- 
sönlichen individuellen  Ich,  des  einzigen  Realen,  welches 
er  unmittelbar  kennt,  anzusehen;  sein  wissenschaftlicher 
Geschmack  jedoch  labe  ihn  durch  einige  leicht  zu 
ergänzende  Mittelglieder  wenigstens  so  weit  der  gewöhn- 
lichen Meinung  wieder  genähert,  dass  die  Wirklichkeit 
der  andern  persönlichen  Geister,  mit  denen  das  Leben 
ihn  in  Berührung  bringt,  ihm  nicht  zweifelhafter  als 
seine  eigene  ist."  (Mikrok.  III.  S.  528,)  Die  Annahme 
einer  Geisterwelt  ist  demnach  für  L.  niclit  ernsthaft 
Gegenstand  des  Streites  und  wir  sind  damit  nun  wenigstens 
bei  einem  objektiven  Idealismus  angelangt.    Vergleiche 

2* 


-    20    — 

noch  Met.  S.  186:  „Zwei  Punkte  würden  wir  für  unauf- 
heblich  halten:  das  Dasein  geistiger  Wesen,  die  uns 
gleichen  und  die,  indem  sie  ihre  Zustände  fühlen  und 
sich  ihnen  als  die  empfindende  Einheit  entgegensetzen, 
eben  dadurch  dem  Begriffe  eines  Wesens  genügen ;  dann 
die  Einheit  des  wahrhaft  Seienden,  das  auch  für  diese 
Wesen  Grund  ihres  Daseins,  Quelle  ihrer  eigentümlichen 
Natur  und  die  eigentliche  in  ihnen  thätige  Wirksam- 
keit ist." 

Wie  steht  es  aber  mit  der  Frage  nach  einer  ding- 
lichen Aussenwelt?  Dem  Idealismus  erscheint  eine  Welt, 
die  nur  den  Zweck  habe  Mittel  für  anderes  zu  sein, 
weder  als  existenzberechtigt,  noch  als  existenzfähig. 
Die  Leistungen,  zu  denen  man  eine  Dingwelt  nötig  zu 
haben  glaube,  seine  ebenso  gut  denkbar  als  unmittel- 
bare Aktionen  des  Allgeistes  in  den  endlichen  Geistern, 
die  durch  Einheit  des  Ursprunges  und  des  Schauplatzes 
ihrer  Wirksamkeit  befähigt  sind,  ein  einheitliches  Welt- 
bild in  allen  Geistern  hervorzubringen. 

L.  gesteht  zu,  dass,  wenn  es  sich  blos  um  die  Be- 
greiflichkeit der  AVeit  handelte,  der  Begriff  eines  wirk- 
samen realen  Atoms  überall  durch  den  einer  elementaren 
Aktion  des  einen  Seienden  ersetzt  werden  könne.  Schon 
vorher  hat  er  die  Alternative  aufgestellt :  wenn  es  Dinge 
geben  soll  mit  der  Eigenschaft,  die  wir  von  ihr  ver- 
langen müssen,  Einheit  in  der  Yeränderung  zu  bewahren, 
so  müssen  sie  mehr  als  Dinge  sein,  nämlich  geistige 
Wesen  mit  dem  Charakter  des  Fürsichseins,  wie  wir  ihn 
aus  unserem  eigenen  Seelenleben  kennen,  oder  sie  sind 
gar  nicht;  der  Idealismus  wählt  das  letztere.  L.  legt 
die  Möglichkeit  der  ersteren  dar  und  berührt  sich  also 
hier  wieder  mit  Fechner  in  der  Ansicht  von  der  All- 
beseeltheit. Nur  verwahrt  er  sich  dabei  sehr  gegen 
eine  falsche  Ausdeutung  derselben,  wenn  man  nämlich 
den  ganz  unmöglichen  Begriff  eines  ausser  Gottseins 
einmenge,    „man    wird  finden,    dass   man  für  selbstlose 


—     21     — 

bewusstlose  Dinge  nicht  das  Mindeste  gewinnt,  wenn 
man  ihnen  jenes  Sein  ausser  Gott  zuschreibt;  alle  die 
Festigkeit  und  alle  die  Wirksamkeit,  welche  sie  als 
wirkende  und  bedingende  Kräfte  in  den  Veränderungen 
des  uns  sichtbaren  Weltlaufes  bewähren,  besitzen  sie, 
als  blosse  Zustände  des  Unendlichen  gedacht,  ganz  in 
derselben  Fülle,  als  wenn  sie  als  Dinge  ausser  ihm 
beständen ;  ja  vielmehr  eben  nur  durch  ihre  gemeinsame 
Immanenz  in  dem  Unendlichen  haben  sie  überhaupt, 
wie  wir  früher  gesehen,  diese  Fähigkeit  der  Wechsel- 
wirkung auf  einander,  die  ihnen  als  isolierten,  von  jenem 
substanziellen  Grunde  abgelösten  Wesen  nicht  zukommen 
könnte."  Mikrok.  III  S.  634.  Es  liegt  dem  eine  be- 
rechtigte, aber  in  dieser  Weise  falsch  befriedigte  Sehn- 
sucht, den  Dingen  eine  gewisse  Selbständigkeit  zu  er- 
halten, zu  gründe.  Diese  wird  recht  massig  allein  dadurch 
gestillt,  dass  man  den  Dingen  das  Fürsichsein  zuschreibt: 
„Fürsichsein  oder  Ichheit  ist  die  einzige  Definition, 
welche  den  sachlichen  Inhalt  und  Wert  desjenigen  aus- 
drückt, was  wii-  von  zufälligen  übelgewählten  Stand- 
punkten aus  formell  als  Realität  oder  selbständiges  Sein 
ausser  Gott  im  Gegensatze  zur  Immanenz  bezeichnen." 
(Mikrok.  III.  535.) 

Der  Unterschied  dieser  seiner  Ansicht  von  der  idea- 
listischen wird  von  L.  selbst  folgendermassen  bestimmt: 
„Der  Unterschied  des  zuletzt  von  uns  eingenommenen 
Standpunktes  von  dem  des  Idealismus  besteht  daher  nicht 
darin,  dass  wir  den  Dingen  ein  transcendentes  und  des- 
halb reales,  der  Idealismus  dagegen  ihnen  nur  ein 
immanentes  und  deswegen  nur  scheinbares  Dasein  zu- 
schreibe; vielmehr  ist  zwischen  beiden  die  andere 
Differenz,  dass  die  idealistische  Meinung,  von  der  Selbst- 
losigkeit der  Dinge  überzeugt,  ihnen  deswegen  nur  als 
Zuständen  des  Unendlichen  zu  sein  gestattet;  wir  da- 
gegen, im  Prinzip  hiermit  übereinstimmend,  lassen  als 
eine  Sache,  die  wir  nicht  wissen  können,  dahingestellt, 


—     22     — 

ob  die  Yoraussetzung  jener  Selbstlosigkeit  zutrifft,  halten 
es  aber  für  wahrscheinlicher,  dass  sie  nicht  zutrifft, 
und  dass  alle  Dinge  wirklich  in  verschiedenen  Ab- 
stufungen der  Yollkommenheit  die  Selbstheit  besitzen, 
durch  welche  eine  immanente  Produktion  des  Unend- 
lichen zu  dem  wird,  was  wir  ein  Reales  nennen." 
Mikrok.  III,  536.) 

Es  wird  uns  bei  dieser  Sachlage  schwer  werden, 
zu  entscheiden,  ob  wir  Lotze  den  Idealisten  oder  den 
Realisten  zuteilen  wollen.  Zu  erstem  sind  wir  geneigt, 
wenn  wir  uns  erinnern,  dass  die  Dinge  ja  nur  feste 
Punkte  unserer  Yorstellungswelt  sjnd;  zu  letzterem, 
wenn  wir  bedenken,  dass  unsere  Yorstellungswelt  ein 
hochstehender  Teil  der  Wirklichkeit  ist,  und  die 
festen  Punkte  in  ihr  ein  von  uns  unabhängiges  Dasein 
im  All -Einen  haben.  Dieselbe  Doppelseitigkeit  be- 
merken wir  nun  auch,  wenn  wir  in  Folgendem  Lotzes 
Lehren  über  Raum,  Zeit  und  Yerstandeskategorieen 
durchnehmen. 

II.  Met.  §  99  ff.  Lotze  weist  es  entsprechend  seiner 
Grundanschauung  über  den  Ausgangspunkt  der  Philo- 
sophie auch  hier  ab,  auf  erkenntnistheoretischem  Wege 
zu  einem  Yerständnis  des  Raumes  kommen  zu  wollen; 
es  handle  sich  vielmehr  darum,  welche  Auffassung  des- 
selben in  den  denknotwendigen  Zusammenhang  der  Welt 
passe.  Der  Raum  ist  etwas  eigenartiges  und  die  Frage 
nach  der  Art  seiner  Wirklichkeit  kann  nur  nach  den 
Ansprüchen  dieses  seines  eigentümlichen  Yerhaltens 
entschieden  werden;  er  ist  nicht  ein  Ding,  denn  wir 
unterscheiden  ja  von  ihm  die  Dinge,  die  in  ihm  be- 
weglich sind;  er  ist  keine  Eigenschaft,  denn  es  können 
zwar  manche  nur  durch  ihn  mögliche  Bestimmungen, 
aber  nie  er  selbst  als  Eigenschaft  der  Dinge  betrachtet 
werden;  er  ist  nicht  eine  Grenze,  denn  Grenzen  sind 
nur  unter  Yoraussetzung  von  Dingen  möglich;  er  ist 
nicht   eine  Form,   nicht   eine   Ordnung,   nicht   ein  Yer- 


—     23     - 

hältnis  der  Dinge,  sondern  das  eigentümliche  Prinzip, 
das  unzähliclie  Formen,  Ordnungen  und  Yerhältnisse 
der  Dinge  erst  möglich  macht  und  als  völlig  unver- 
änderlicher Hintergrund  Mchts  von  dem  Wechsel  und 
dem  Übergange  dieser  Bestimmungen  in  einander  leidet. 

Auch  ein  Gattungsbegriff  ist  er  nicht,  denn  das 
Gesetz  der  Räumlichkeit  erzeugt  zwischen  den  ver- 
schiedenen Fällen  seiner  Anwendung  andere  Verhält- 
nisse als  der  Gattungsbegriff  zwischen  seinen  Arten; 
dem  Begriffe  sind  die  Arten  einfach  ohne  thatsächliche 
Zusammengehörigkeit  subordiniert,  beim  Raum  kommt 
noch  das  eigentümliche  Verhältnis  des  Ganzen  zu  den 
Teilen  hinzu. 

L.  schliesst  sich  zunächst  der  Kantischen  Ansicht 
von  der  Idealität  des  Raumes  an;  der  Raum  ist  eine 
agriorische  Anschauungsweise  unseres  Geistes,  dem 
freilich  ein  äusserer  Raum  entsprechen  könnte,  wenn 
er  sich  als  denkmöglich  erweist.  Kant  hat  Recht,  wenn 
er  behauptet:  Man  kann  sich  niemals  eine  Vorstellung 
machen,  dass  kein  Raum  sei,  ob  man  sich  gleichwohl 
denken  kann,  dass  keine  Gegenstände  in  ihm  angetroffen 
werden.  Die  indirekte  Begründung,  die  Kant  seiner 
Lehre  durch  die  Darlegung  der  Antinomie  gibt:  Die 
"Welt  ist  dem  Raum  nach  in  Grenzen  eingeschlossen, 
andrerseits:  Die  Welt  hat  keine  Grenzen,  sondern  ist 
unendlich,  hält  L.  nicht  für  beweiskräftig,  denn  dieselbe 
Schwierigkeit  bleibe  bei  der  Idealität  des  Raumes  be- 
stehen für  die  Welt  der  Realen;  mit  der  Annahme  der 
Endlichkeit  der  Welt  seien  beide  Ansichten  vom  Raum 
gleich  verträglich.  Die  gewöhnliche  Auffassung,  unter 
der  Kants  Lehre  populär  geworden  sei,  er  sei  wie  ein 
Netz,  in  das  die  ihm  ganz  fremde  Wirklichkeit  ein- 
gefangen werde,  übertreibt  eine  schon  bei  K.  merkliche 
falsche  Neigung  bis  zur  Undenkbarkeit;  denn  die  Dinge 
müssen  doch  zum  mindesten  fähig  sein,  in  dieses  Netz 
zu  passen,  im  Reich  der  Dinge   muss    irgendwie   etwas 


—     24     — 

Entsprechendes  sein,  das  den  Anlass  und  die  Möglichkeit 
zu  geordneter  Ausfüllung  des  Raumes  gibt;  er  nennt 
es  vorläufig  ein  System  intelligibler  Beziehungen. 

Andre  von  Kant  weniger  beachtete  Momente  führen 
uns  zur  Annahme  seiner  Lehre:  die  Erwägung  der  2 
Fragen :  wie  kann  überhaupt  dem  Räume  eine  eigne 
Wirklichkeit  vor  der  Erfüllung  mit  Dingen  zugeschrieben 
werden?  Die  andere:  Wie  soll  das  Verhältnis  von 
Dingen  zu    diesem   seienden  Raum    vorgestellt  werden? 

Zur  ersten  Frage  sagt  L.,  dass  sie  schon  dadurch 
erledigt  wäre,  dass  wir  den  Raum  ja  als  ein  Gewebe 
von  Beziehungen  bestimmten,  da  wir  aber  in  der  Onto- 
logie  fanden,  dass  Beziehungen  nur  Vorstellungen  in 
einem  beziehenden  Bewusstsein  oder  innre  Zustände  in 
den  realen  Elementen  sein  können,  so  sei  die  Idealität 
des  Raumes  damit  eigentlich  schon  bewiesen.  Doch 
könne  es  auch  ohne  diesen  Rekurs  auf  die  Metaphysik 
dargethan  werden:  Den  Raum  als  gegeben  betrachten^ 
heisst  eine  Wechselwirkung  seiner  einzelnen  leeren 
Punkte  annehmen.  „Die  Punkte  des  leeren  Raumes 
selbst  kann  man  nicht  wieder  in  einem  früheren  Räume 
so  lokalisiert  denken,  dass  aus  ihrer  Lage  in  diesem 
ihre  gegenseitigen  Beziehungen  flössen,  sondern  um 
deswillen,  was  sie  selber  sind  oder  tun,  müssen  sie 
diese  Beziehungen  haben  und  durch  dieselben  den  Raum 
als  Ganzes  zusammensetzen.  Sind  daher  die  beiden 
Punkte  p  und  q,  so  ist  ihre  Entfernung  pq  etwas,  was 
es  ohne  sie  nicht  gäbe,  und  was  sie  durch  sich  selbst 
zu  schaffen  haben."  (Met.  S.  210.)  Gerade  diese  Wechsel- 
wirkung ist  aber  unmöglich,  und  damit  die  Realität 
des  Raums  überhaupt. 

„Denn  die  Relation  oder  Entfernung  p  q,  welche 
ihrer  Natur  nach  die  beiden  seienden  Punkte  p  und  q 
zwischen  sich  setzen  sollten ,  raüsste  zugleich  verschieden 
sein  von  jeder  andern  ähnlichen  Beziehung,  welche  p 
und  r  oder  q  und  r  aus  gleichem  Grunde  zwischen  sich 


—    25     - 

herstellten.  Die  völlige  Gleichheit  aller  leeren  Punkte 
bringt  es  aber  im  Gegenteil  mit  sich,  dass  p  und  q 
keine  andere-  Relation  zwischen  sich  bedingen  können, 
als  jede  beliebigen  zwei  andern  Punkte  auch;  seilest 
eine  Anzahl  N  vereinigter  Punkte,  zwischen  denen  wir 
feste  Relationen  bereits  bestehend  dächten,  würde  einem 
hinzugedachten  weiteren  Punkte  s  gar  keine  bestimmte 
Stelle  anweisen  können,  weil  jeder  andere  t  oder  u  auf 
dieselbe  Stelle  gleiches  Recht  hätte."     (Met.  S.  212). 

Wenn  man  dieser  Auffassung  des  Raumes  den 
Vorwurf  der  Künstlichkeit  gegenüber  der  Annahme  eines 
seienden  leeren  Raumes  mache,  so  vergesse  man,  dass 
dieser  Vorwurf  nicht  weniger  die  letztere  Ansicht  treffe. 
Denn  auch  in  diesem  Falle  kann  doch  der  Raum  nicht 
selbst  in  das  menschliche  Vorstellungsleben  eingehen, 
sondern  nur  Bilder  von  ihm,  die  durch  Einwirkungen 
seinerseits  entstehen.  So  muss  auf  alle  Fälle  unser 
Vorstellen  vom  Räume  entstehen;  wir  kommen  nicht 
wohlfeiler  zu  ihm,  mögen  wir  dem  von  uns  angeschauten 
Bilde  ein  ähnliches  Sein  ausser  uns  oder  ein  völlig 
unvergleichbares  unterlegen.  Was  gewönne  man  also 
durch  die  Festhaltung  der  Ansicht,  die  wir  bestreiten? 
(Met,  S.  217).  Der  Raum  soll  ja  auch  für  uns  nicht 
reine  Illusion  sein;  er  hat  eine  Realität,  nur  ist  die 
des  Raumes  eine  andere  als  die  der  Dinge.  „Es  ist 
nur  ein  Unterschied  vorhanden ,  den  die  beiden  Ansichten 
über  ihn  allerdings  behalten ,  für  uns  sind  alle  räum- 
lichen Bestimmungen  sekundäre  Eigenschaften,  welche 
die  wirklichen  Verhältnisse  der  Dinge  nur  für  uns  an- 
nehmen. Für  die  entgegengesetzte  Ansicht  ist  der  Raum 
als  seiender  und  die  Dinge  umfassender  Hintergrund 
zugleich  primär  ein  Ganzes  bestimmender  Schranken 
und  Gesetze,  nach  denen  das  Sein  und  Wirken  der 
Dinge  sich  zu  richten  hat;  die  Dinge  und  wir  sind  in 
ihm,  während  unsre  Ansicht  meint,  das  er  in  uns  ist. 
(Met.  S.  218). 


—     26     — 

Zu  demselben  Resultate  führt  die  Erwägung  der 
2  ten  Frage:  Wie  ist  das  Sein  der  Dinge  im  seienden 
Raum  begreiflich?  Wir  kämen  hier  zu  einer  Wechsel- 
wirkung der  Realen  mit  den  Raumpunkten,  die  sich 
dann  als  unmöglich  zeigt.  Die  intelligiblen  Verhältnisse, 
die  wir  vorläufig  als  Ursache  unserer  angeschauten 
räumlichen  Verhältnisse  betrachten,  können  nur  in  Be- 
ziehungen wie  Ding  zu  Ding,  nicht  in  Beziehungen 
von  Ding  zum  Raum  bestehen,  und  nicht  sie  au  und 
für  sich ,  sondern  erst  das  Zusammentreffen  ihrer  Ein- 
wirkungen in  unserem  Bewusstsein  ist  die  nächste  Ur- 
sache der  räumlichen  Vorstellung  (S.  220).  Aber  wir 
müssen  noch  einen  Schritt  weiter  gehn.  Nach  den  in 
der  Ontologie  gefundenen  Grundsätzen  dürfen  wir  bei 
Beziehungen  zwischen  den  Dingen  nicht  stehen  bleiben, 
sondern  überhaupt  nicht  Beziehungen  weder  räumliche, 
noch  intelligible  zwischen  den  Dingen,  vielmehr  nur 
unmittelbare  Wechselwirkungen,  welche  die  Dinge  von 
einander  als  innere  Zustände  selbst  erleiden,  bilden  die 
wirkliche  Thatsache,  deren  Wahrnehmung  von  uns  zu 
einer  räumlichen  Erscheinung  ausgesponnen  wird. 

Die  inneren  Zustände  der  Dinge  wechseln;  sie  alle 
wirken  auf  unser  Bewusstsein  und  dessen  Einheit  be- 
gründet die  Möglichkeit  sie  auf  einander  zu  beziehen 
und  zu  vergleichen;  die  besondere  Art  unseres  Bewust- 
seins  bewirkt,  dass  diese  Vergleiche  und  Beziehungen 
in  der  Form  räumlicher  Entfernung  zur  Anschauung 
kommt;  die  Grösse  der  zwischen  beiden  Eindrücken 
empfundenen  Differenz  bestimmt  die  räumliche  Lage. 
Die  Dinge  a,  b,  c  erleiden  von  einander  Wechsel- 
wirkungen, innere  Zustände;  wenn  unter  ihnen  eines 
von  der  Natur  eines  vorstellenden  Geistes  ist,  so  fasst 
68  diese  Zustände  in  räumliehen  Formen  auf;  wenn  es 
von  dem  besonderen  Fall  absieht,  so  gewinnt  es  die 
Raumanschauung  im  allgemeinen ,  die  sich  zum  Gedanken 
des  unendlichen  Raumes  auswächst,    wenn   es   von  jeg- 


—     27     — 

lichem  Inhalt  der  Yorstellimoen  abstrahiert.  Demnach 
ist  der  unendliche  Raum  nicht  die  erste,  sondern  die 
letzte  Stufe." 

L.  verhehlt  sicli  nicht,  dass  seine  Lehre,  wenn  man 
aus  ihr  die  räumlichen  Grundformen  der  Geometrie 
und  weiterhin  der  Mechanik  deduzieren  wolle,  mehr 
Schwierigkeiten  biete  als  die  gewöhnliche;  aber  dies 
könne  nicht  gegen  sie  entscheiden,  da  sie  sich  als  denk- 
notwendig erwies;  und  übrigens  könne  man  zu  prak- 
tischen und  angewandt  wissenschaftlichen  Zwecken  ohne 
Schaden  bei  der  hergebrachten  Meinung  bleiben,  wie 
man  ja  auch  trotz  besserer  Erkenntnis  fortfahre,  vom 
Auf-  und  Untergang  der  Sonne  zu  reden. 

Wir  bemerken  also  auch  hier  in  der  Lehre  von 
Raum  dasselbe  Ineinanderiiiessen  von  Idealismus  und 
Realismus;  dem  Raum  entspricht  thatsächlich  etwas  in 
den  als  denknotwendig  gefundenen  festen  Punkten 
der  Vorstellungswelt,  nämlich  die  innren  Zustände,  dies 
weist  in  die  Richtung  des  Realismus,  und  doch  ist  dies 
Entsprechende  dem  Räume  ganz  unähnlich,  und  auch 
jene  festen  Punkte  gehören  doch  selbst  unsrer  Vor- 
stellungswelt an,  dies  weist  zum  Idealismus,  dem 
sich  L.  durch  seinen  Anschluss  an  Kant  auch  bewusst 
hingibt. 

Auch  zur  psychologischen  Begründung  seiner  Ansicht 
hat  L.,  was  wir  nicht  unerwähnt  lassen  wollen,  einen 
wertvollen  Beitrag  geliefert  in  seiner  Lehre  von  den 
Lokalzeichen,  die  sich  auch  in  rein  naturwissenschaft- 
lichen Kreisen  des  verdienten  Beifalls  erfreut  und  auch 
von  Gegnern  seiner  Philosophie,  wie  Ed.  v.  Hartmann 
anerkannt  wird. 


Wir  wenden  uns  nun  zu  der  zweiten  apriorischen 
Anschauungsform  Kants,  der  Zeit.  L.  weicht  von  Kant 
darin  ab,  dass  er  ihre  durchgängige  Analogie    mit  dem 


—    28     — 

Räume  bestreitet,  was  uns  bei  ihm,  der  ja  das  Werden 
und  Geschehen  als  eine  Grundthatsache  der  Wirklichkeit 
betrachtet,  nicht  verwundern  kann. 

Wir  folgen  zuerst  seiner  Darstellung  in  der  Meta- 
physik S.  268  ff.  Wir  haben  von  der  Zeit  gar  keine 
Anschauung,  sondern  nur  vom  Räume  entlehnte  Bilder, 
die  sich  aber  bei  näherem  Zusehen  als  ungenügend 
erweisen.  Wir  sprechen  von  einer  Zeitlinie:  die  Linie 
besteht  aber  aus  lauter  gleichartigen,  gleichwirklichen 
Teilen,  während  die  Zeit  aus  einem  veränderlichen, 
wirklichen  Punkt,  der  Gegenwart,  und  2  halb  unwirk- 
lichen, halb  aber  wieder  in  verschiedener  Weise  wirk- 
lichen Strecken,  Yergangenheit  und  Zukunft  sich  zu- 
sammensetzt. Dann  redet  man  vom  Flusse  der  Zeit, 
und  ist  nicht  einmal  darüber  sich  klar,  ob  man  sie  sich 
von  Vergangenheit  in  Zukunft  oder  umgekehrt  fliessend 
denken  soll;  ferner  ist  ja  doch  auch  dieser  Fluss  in 
seinem  ganzen  Laufe  von  gleicher  Wirklichkeit,  enthält 
also  auch  das  Charakteristische  der  Zeit  nicht.  Auch 
die  Yergleichung  mit  einer  Reihe  hilft  uns  nichts ;  denn 
die  Zeit  ist  nur  nach  vorwärts  bewegt,  während  die 
Reihe  nach  beiden  Richtungen  durchlaufen  werden  kann. 
Mit  einer  leeren  Zeit,  in  der  das  Geschehen  verfliesse, 
ist  überhaupt  nichts  anzufangen,  denn  diese  Zeit  wäre 
entweder  selbst  zeitlos,  da  alle  Punkte  in  ihr  ja  völlig 
gleich  sind,  oder  man  müsste  eine  zweite  Zeit  annehmen, 
um  den  Verlauf  der  ersten  zu  erklären.  Auch  können 
wir  uns  nichts  darunter  denken,  wenn  wir  nach  dem 
Verhältnisse  der  Zeit  zu  den  Dingen  und  Ereignissen 
fragen,  die  in  ihr  sein  und  geschehen  sollen. 

Trotzdem  will  L.  nicht  mit  Kant  die  blosse  Phä- 
nomenalität  der  Zeit  behaupten,  da  diese  nicht  das 
Hilfsmittel  ist  „um  kurzer  Hand  Schwierigkeiten  zu 
lösen,  die  nur  scheinbar  aus  der  Anwendung  der  Zeit 
auf  das  Wirkliche  entstehen,  in  Wahrheit  aber  an  der 
eigenen  Natur  des  Wirklichen  haften."     Dieselbe  Anti- 


—    29    — 

noinie  nämlich,  wie  beim  Raum,  dass  man  sich  auch 
die  Zeit  mit  derselben  Folgerichtigkeit  als  endlich  wie 
auch  als  unendlich  denken  könne,  veranlasst  Kant,  ihr 
die  transzendentale  Realität  abzusprechen.  Demgegen- 
über zeigt  L.,  dass  dieselbe  Antinomie  den  Realen 
selbst  anhafte;  eine  unendliche  Zeit  aber  könne  wohl 
gedacht  werden,  wenn  auch  keiner  zeitlichen  Sukzession, 
weder  der  unsres  Yorstellens  noch  der  der  Zeit  selbst, 
es  gelingen  könne,  in  endlicher  Zeit  eine  unendliche 
thatsächlich  zu  durchlaufen. 

Der  wesentliche  Unterschied  der  Zeit  vom  Räume 
ist  der,  dass  erstre  nicht  nur  ein  Erzeugnis  psyschischer 
Thätigkeit,  sondern  zugleich  die  Bedingung  für  die  Aus- 
übung der  Thätigkeit  ist,  durch  welche  sie  als  Erzeugnis 
gewonnen  werden  soll,  und  die  Vorstellung  jedes 
Wechsels  scheint  unmöglich  ohne  den  wirklichen  Wechsel 
im  Yorstellen. 

Für  das  Werden  selbst  kann  die  an  sich  verlaufende 
Zeit  nicht  ein  Hilfsmittel  sein,  durch  dessen  irgendwie 
mögliche  Benutzung  es  erst  zu  Stande  käme;  denn  es 
müsste  sich  dann  die  Zeit  mit  in  die  Bedingungssurame 
eines  Resultates  eingliedern,  was  aber  unmöglich  ist, 
denn  sie  ist  am  Ende  einer  Strecke  noch  ganz  die 
gleiche  wie  am  Anfang;  wie  sollte  sie  also  einem  Ereig- 
nisse ein  Signal  zum  Geschehen  sein  können? 

Wie  stellt  es  nun  dann,  wenn  wir  es  mit  der  reinen 
Idealität  der  Zeit  versuchen,  also  an  ein  an  sich  zeit- 
loses Geschehen  glauben,  das  nur  dem  vorstellenden 
Subjekt  unter  der  Form  zeitlichen  Verlaufes  erscheine? 
Wir  können  uns  dies  in  der  Tat  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  ausmalen:  Die  Zeit  habe  für  uns  überhaupt  kein 
festes  Mass;  was  ist  ein  Jahrhundert;  was  eine  Stunde; 
wie  verschiedenlang  können  uns  gleiche  Zeiträume  er- 
scheinen; können  wir  uns  da  nicht  weit  ausgebreitete 
Ereignisse  in  denselben  Proportionen  stehend  in  einem 
Augenblick     zeitlos     denken,     in     einem    Bedingungs- 


^    30    — 

Zusammenhang  stehend,  den  wir  aber  auch  nicht  als 
gleichzeitig  bezeichnen  dürfen,  sondern  eben  als  zeitlos? 
Und  wenn  uns  da  der  Einwurf  gemacht  wird,  dass  doch 
wenigstens  unsre  Vorstellungen  zeitlich  einander  folgen, 
wenn  auch  das  Werden  in  der  Dingwelt  ein  zeitloses 
sein  möge,  so  hat  doch  auch  diese  Behauptung  ihre 
Kehrseite,  Denn  damit  2  Vorstellungen  a  und  b  auf 
einander  bezogen  werden  können,  müssen  sie  doch  in 
einem  unteilbaren  Akt  im  Bewusstsein  beisammen  sein; 
der  zeitliche  Verlauf  der  Vorstellungen  allein  könnte 
nie  die  Anschauung  der  Zeit  hervorbringen,  sondern 
erst  das  das  Ganze  zusammenfassende  einheitliche 
Bewusstsein. 

Und  so  wäre  vielleicht  dies  der  wahre  Sachverhalt: 
jedes  Subjekt  S  steht  an  einem  bestimmten  Punkte 
eines  zeitlosen  Bedinguugszusammenhanges:  Alles,  wo- 
durch es  bedingt  ist,  betrachtet  er  als  seine  Vergangen- 
heit, Alles,  was  von  ihm  bedingt  wird,  als  seine  Zukunft. 
Die  Vorstellungen  a  und  b  wären  im  beziehenden  Be- 
wusstsein zusammen;  ihnen  verschiedene  Plätze  anzu- 
weisen, könnte  die  Seele  nur  durch  Temporalzeichen 
veranlasst  werden;  diese  Zeichen  könnte  ihnen  aber 
nicht  eine  leere  Zeit  mitgeben,  die  ja  in  jedem  Augen- 
blicke gleich  ist,  sondern  sie  könnten  nur  von  der 
eigentümlichen  Verflechtung  jedes  Elementes  in  den 
Bedingungszusammenhang  des  Weltinhaltes  herrühren. 
„So  könnte  mithin  allerdings  ein  Vorstellen,  ohne  Zeit 
zu  bedürfen,  durch  Temporalzeichen,  zu  deren  Dasein 
es  auch  keiner  zeitlichen  Entstehung  bedurfte,  dazu 
geleitet  werden,  seine  einzelnen  Inhalte  in  eine  schein- 
bare zeitliehe  Sukzession  zu  ordnen."  (Met.  S.  295/96). 
Durch  eine  solche  Auffassung  wäre  nicht  nur  aller 
zeitliche  Verlauf,  sondern  überhaupt  alle  Sukzession 
aus  der  Wirklichkeit  verbannt  und  die  Erwägung,  dass 
dann  doch  ein  gewisser  Teil  der  Wirklichkeit  für  S 
ewig  Vergangenheit,  ein  anderer  ewig  Zukunft   bleiben 


—    31     — 

müsste,  veranlasst  L.  doch  endlieh,  den  letzteren  Ge- 
dankengang abzubrechen  und  bei  folgendem  Kesultat 
stehen  zu  bleiben:  Die  Zeit  als  Ganzes  ist  ohne  Zweifel 
nur  ein  Erzeugnis  unsres  Vorsteliens,  und  sie  besteht 
weder  noch  verläuft  sie;  sie  ist  nur  das  wunderliche 
Bild,  das  wir  für  unsere  Anschauung  zu  entwerfen  mehr 
suchen  als  wirklich  vermögen,  wenn  wir  uns  den  zeit- 
lichen Verlauf  auf  alle  die  Beziehungspunkte  ausgedehnt 
denken,  die  er  ins  Unendliche  zulässt  und  zugleich  von 
dem  Inhalte  dieser  Beziehungspnnkte  abstrahieren.  Den 
zeitlichen  Verlauf  selbst  aber  bringen  wir  nicht  aus 
der  Wirklichkeit  hinweg  und  halten  es  für  ein  völlig 
hoffnungsloses  Unternehmen,  auch  seine  Vorstellung  als 
eine  apriorische  blos  subjektive  Auffassungsform  anzu- 
sehen, die  in  dem  Innern  einer  zeitlosen  Realität,  in 
dem  Bewusstsein  geistiger  "Wesen  sich  entwickele." 
(Met.  S.  297/8.) 

Einen  zeitlichen  Verlauf,  eine  thatsächliche  Suk- 
zession gesteht  also  hier  L.  der  Wirklichkeit  zu.  Nur 
fürchtet  er,  es  möchte  hier  von  neuem  ein  Irrtum  sein 
Haupt  erheben,  den  er  schon  in  der  Ontologie  bekämpfte, 
die  Neigung  der  Zerpflückung  des  Wirklichen  in  seinen 
Inhalt  und  seine  Wirklichkeit.  Wir  haben  geflissentlich 
diese  unmögliche  Trennung  bei  dem  vorliegenden  Gegen- 
stande noch  einmal  verfolgt:  Die  Sonderung  des  ge- 
schehenden Inhalts  von  seinem  Geschehen,  und  mussten 
zuletzt  diesen  Versuch  als  vergeblich  aufgeben;  haben 
erkannt,  dass  „es  ein  Irrtum  sei,  Mass  und  Art  jener 
zeitlosen  Bedingtheit,  die  zwischen  zwei  Erlementen 
des  Weltinhaltes  bestände,  als  den  vorangehenden  Grund 
zu  denken,  der  jenem  wirksamen  Grunde  befähle  oder 
verböte,  das  eine  aus  dem  andern  hervorzubringen.  Es 
ist  nur  ein  früher  besprochener  Gedanke,  dem  ich  hier 
eine  weitere  Anwendung  gebe:  jede  Beziehung  existiert 
nur  in  dem  Geiste  des  Beziehenden  und  für  ihn;  glauben 
wir  sie  in  dem  Sein  selbst  anzutreffen,   so   ist   sie  hier 


—     32     — 

allemal  mehr  als  blosse  Beziehung;  sie  ist  selbst  bereits 
ein  Wirken  anstatt  AVirkungen  nur  vorzubereiten  .... 
erst  und  allein  ist  das  volle  lebendige  Wirken  selbst". 
S.  299/300.  Wir  abstrahieren  daraus  Gesetze,  und  so 
auch  eine  leere  Zeit,  vergessen  dann  ihren  Ursprung 
und  stellen  sie  als  ein  gebietendes  Prius  voraus.  „In 
diesem  Sinne  können  wir  die  oft  gehörten  Aussprüche 
richtiger  finden,  nach  denen  nicht  die  Zeit  die  Bedingung 
des  Wirkens  ist,  sondern  das  Wirken  die  Zeit  erzeugt; 
nur  bringt  es,  indem  es  verläuft,  nicht  als  ein  bleibendes 
Produkt,  das  irgendwie  w^äre  oder  flösse  oder  die  Dinge 
beeinflusste,  eine  wirkliche  reale  Zeit,  sondern  nur  in 
dem  vergleichenden  Bewusstsein  die  sogenannte  An- 
schauung dieser  Zeit  hervor;  von  dieser,  dem  leeren 
Totalbilde  der  Ordnung,  in  welche  wir  die  Ereignisse 
reihen,  gilt  es  also,  dass  sie  nur  eine  subjektive  Auf- 
fassungsform, von  der  Sukzession  des  Wirkens  selbst, 
welches  diese  Einreihung  möglich  macht,  gilt  umgekehrt, 
dass  sie  die  eigenste  Natur  des  Wirklichen  ist."  (Met. 
S.  300). 

L.  sieht  voraus,  dass  man  nicht  aufhören  werde 
zu  fragen,  was  denn  eigentlich  geschehe,  wenn  das 
Wirken  wirkt  oder  wenn  die  Sukzession  stattfindet,  die 
seine  Eigentümlichkeit  sein  soll.  Wie  geht  es  zu  und 
wie  wird  es  gemacht,  dass  die  Wirklichkeit  des  einen 
Thatbestaudes  aufhöre,  die  des  anderen  beginne?  Diese 
Fragen  müssen  wir  zwar  zurückweisen,  denn  wir  stehen 
hier  vor  einem  unausdenkbaren  Rätsel,  doch  soll  ihnen 
eine  gewisse  Gemütsberechtigung  nicht  abgesprochen 
werden.  Soll  denn  die  ganze  reiche  Yergangenheit  ein 
Nichts  sein,  das  Dunkel  der  Zukunft  ebenfalls  ein  leeres 
Nichts,  und  immer  nur  der  Punkt  wirklich,  auf  den 
das  Licht  der  Gegenwart  fällt'?  „Man  wird  empfinden, 
wie  wenig  es  uns  möglich  ist,  mit  dem  nackten  Gegen- 
satz von  Sein  und  Nichtsein  auszukommen,  und  wie 
unaustreiblich    das    Verlangen,    auch    das    Nichtseiende 


—     33    — 

irgendwie  als  einen  wunderbaren  Bestandteil  der  Wirk- 
lichkeit fassen  zu  dürfen."  (Met.  S.  302).  Doch  kann 
diese  Sehnsucht  nicht  hier,  sondern  nur  in  der  Religions- 
philosophie befriedigt  werden,  wo  es  uns  vielleicht  ge- 
lingen wird,  eine  über  den  zeitlichen  Yerlauf  über- 
greifende Realität  zu  finden. 

Dem  in  der  Met.  Gesagten  ziemlich  parallel  verläuft 
die  Darstellung  in  Microc.  III.  S.  602  ff  seit  der  III.  Auf- 
lage dieses  Werkes.  Auch  hier  wird  zuerst  die  Unmög- 
lichkeit einer  leeren  Zeit  dargethan,  dann  der  Gedanke 
einer  unzeitlichen  Wirklichkeit  und  der  reinen  Idealität 
der  Zeit  soweit  als  möglich  entwickelt,  und  zuletzt  doch 
auch  fallen  lassen.  Denn  „in  einem  zeitlosen  Zusammen- 
hange an  einen  bestimmten  Ort  gestellt,  würde  jedes 
endliche  Wesen  stets  denselben  klaren  oder  dunklen 
Inhalt  als  seine  Zukunft,  denselben  anderen  als  seine 
Vergangenheit  vor  sich  sehen  müssen;  das  Leben,  das 
uns  jene  sich  nach  und  nach  lichten,  diese  allmählich 
verblassen  lässt,  ist  nicht  ohne  einen  wirklichen  Verlauf 
denkbar,  der  das  Bewusstsein  an  dem  Inhalt  der  Welt 
oder  diesen  an  ihm  vorüberführt  oder  beide  zusammen 
sich  verwandeln  lässt.  Auch  hier  wird  die  teilweise 
Berechtigung  der  Sehnsucht  nach  einer  übergreifenden 
Realität,  die  auch  der  Vergangenheit  und  Zukunft  einen 
dauernden  Platz  einräume  anerkannt  und  deutlicher  die 
Möglichkeit  und  Art  ihrer  Befriedigung  durch  die  Reli- 
gionsphilosophie aufgezeigt,  cf.  S.  605:  So  wenig  wir 
nun  anzugeben  wissen,  wie  der  Verlauf  der  Zeit  gemacht 
wird  und  wie  der  Zustand  des  einen  Augenblicks  aus 
Sein  in  Nichtsein  übergeht,  um  dem  des  nächsten  Augen- 
blickes Platz  zu  machen,  ebensowenig  würden  wir  sagen 
können,  wie  nun  umgekehrt  diese  Zusammenfassung 
des  Verfliessenden  in  eine  gleichzeitige  oder  überzeitliche 
Wirklichkeit  zu  Stande  kommt.  Aber  gewohnt,  die 
Welt  grösser  und  reicher  zu  finden,  als  das  Denken, 
das    ihren  wunderbaren  Bau   nachzubilden   sucht,    hege 

3 


—    34    — 

ich  keinen  Zweifel  an  der  Erfüllung  dieses  Postulats, 
von  der  wir  freilich  nur  in  menschlich  beschränkter 
Weise  reden  können.  Für  Gott  besteht  die  Bedingung 
nicht,  die  uns  im  Ganzen  der  Welt  an  einen  bestimmten 
Punkt  fesselt,  ....  er  ist  die  umfassende  Wesenheit 
des  Ganzen  .  .  .  ,  den  spezifischen  Wert  der  Gegenwart 
besitzt  für  Gott  nur  das  unendliche  Ganze". 

In  der  Met.  spiicht  L.  von  der  Thatsächlichkeit  und 
Wirklichkeit  eines  zeitlichen  Verlaufes  und  hat  damit 
seine  frühere  Ansicht,  die  er  bis  1879  vertrat,  verlassen, 
resp.  modifiziert;  vergl,  Falkenberg:  die  Entwicklung 
der  Lotze'schen  Zeitlehre,  in  der  Zeitschr.  f.  Philos. 
u.  phil.  Kritik.,  Band  105,  Heft  II. 

Die  ältre  Ansicht  finden  wir  auch  noch  in  der 
2.  Aufl.  der  Grdz.  der  Met.  §  50,  da  diese  Diktate  aus 
dem  Jahre  1871   stammen. 

„Die  Gesaratsumme  der  Wirklichkeit  ist  einem 
Systeme  von  Sätzen  oder  Wahrheiten  zu  vergleichen, 
welche  unter  einander  in  sehr  vielfachen  Verhältnissen 
der  Koordination  und  Subordination  stehen,  so  dass 
z.  B.  einige,  ein  a  und  b,  Prinzipien  aller  übrigen, 
andere  (c  d  e,  diesen  ersten  untergeordnet,  unter  sich 
aber  koordiniert  oder  gleichwertig)  Bedingungen  der 
dann  noch  übrigen  1  m  n  sind.  Der  Unterschied  ist, 
dass  in  einem  System  von  Wahrheiten  eine  die  andere 
zwar  bedingt,  aber  nicht  bewirkt;  die  hier  hervorzu- 
hebende Ähnlichkeit  aber  besteht  darin,  dass  die  in  dem 
System  der  Wirklichkeit  vorkommende  Bewirkung  eines 
Gliedes  durch  andere  an  sich  ein  ebenso  zeitloses 
Geschehen  ist,  wie  das  Bedingtwerden  einer  Wahrheit 
durch  eine  andere". 

L.  möchte  also  gerne  eine  zeitlose  Sukzession  als 
die  Wirklichkeit  der  Zeit  auffassen  und  die  Antriebe, 
alle  Zeitlichkeit  womöglich  aus  jener  Sukzession  aus- 
zuschliessen,  kommen  ihm  aus  religionspbilosophischen 
Erwägungen.     Zeitlichkeit  in  Gott  selbst  hineinzutragen 


—    85    — 

scheut  sich  L.  im  Interesse  der  Vollkommenheit  Gottes 
und  doch  wäre  dies  die  notwendige  Konsequenz,  wenn 
ein  zeitlicher"  Verlauf  in  der  Wirklichkeit  bestände, 
und  man  das  Verhältnis  Gottes  in  dem  entschieden 
monistisch -pantheistischen  Sinne  versteht,  wie  L.  Jener 
Konsequenz  sucht  er  nun  zu  entfliehen,  indem  er  ein 
zeitloses  Geschehen  annimmt,  die  aber  doch  immer  ein 
hölzernes  Eisen  bleiben  wird.  Es  gibt  auf  pantheis- 
tischem  Standpunkte  nur  das  Dilemma:  entweder  zeit- 
licher Verlauf  in  der  Wirklichkeit,  dann  auch  in  Gott 
selber  (diese  Konsequenz  hat  Ed.  v.  Hartmann  mutiger 
als  L.  in  seiner  Kritik  der  Philosophie  L.  gezogen),  oder 
Zeitlosigkeit  der  Wirklichkeit,  reine  Phänomenalität  der 
Zeit,  dann  aber  auch  fort  mit  aller  Theologie,  aller 
Ethik  und  Religion;  denn  letztere  sind  ohne  Werden 
und  Entwicklung  undenkbar. 

Am  meisten  kehrt  L.  zur  zeitlosen  Wirklichkeit 
und  zur  reinen  Idealität  der  Zeit  zurück  in  der  Religions- 
philosophie, cf.  §  45  der  Grdz.  der  Rel. -phil.;,  man 
müsse  Gott  ein  ausserzeitliches  oder  überzeitliches  Sein 
zuschreiben.  Man  müsse  deshalb  versuchen,  die  Zeit 
als  eine  blosse  Form  der  Anschauung  zu  betrachten,  in 
welcher  die  Ereignisse  uns  zu  verlaufen  scheinen.  Zwar 
sei  dies  schwieriger  als  beim  Räume  und  man  „kann 
nur  folgende  Punkte  sich  vorhalten,  um  zu  erkennen, 
dass  dennoch  die  „Idealität"  der  Zeit  ein  notwendiges 
Postulat  unseres  Denkens  ist".  „Wenn  es  nun  Geister 
gibt,  die  diesen  Zusammenhang  sich  nur  unter  der  Form 
eines  zeitlichen  Nacheinander  vorstellen  können,  so  ist 
auch  ein  anderer  Geist  denkbar,  welcher  den  ganzen 
Weltzusammenhang  direkt  in  der  Form  eines  solchen 
Bedingungsverhältnisses  auffasst,  ohne  die  Ordnung 
desselben  sich  erst  in  ein  anschauliches  Nacheinander 
auseinanderlegen  zu  müssen". 

„Hiemit  sollte  also  gesagt  sein,  dass  auch  die  Welt, 
die   das   unzeitliche  Vorstellen  jenes   Geistes  übersieht, 

3* 


—     36    — 

keineswegs  ein  blosses  System  von  Wahrheiten  zu  sein 
braucht,  sondern  eine  AVeit,  in  der  wirklich  etwas 
gescldeht  und  gewirkt  wird,  ohne  dass  eine  an  sich 
verlaufende  „Zeit"  eine  Bedingung  für  dies  Geschehen 
und  "Wirken  wäre."  Wenn  unter  dieser  „an  sich  ver- 
laufenden Zeit"  nur  eine  objektive  leere  Zeit  gemeint 
ist,  so  widerspricht  diese  Aussage  den  in  der  Met. 
gemachten  nicht;  wenn  aber  damit  jeder  zeitliche  Ver- 
lauf auch  in  dem  Sinne  eines  transzendentalen  Realismus, 
wie  er  bei  Schelling,  Hartmann  und  eigentlich  bei  L. 
selbst  in  der  Met.  zu  finden  ist,  ausgeschlossen  ist,  so 
wäre  damit  deutlich  ein  zeitloses  Werden  als  die 
Wahrheit  hingestellt.  L.  geht  also  auch  hier  von  Kant 
aus,  und  über  ihn  hinaus  sucht  er  zu  einem  transzenden- 
talen Realismus  zu  gelangen,  bleibt  aber  auf  halbem 
Wege  stehen,  ja  kommt  schliesslich  fast  wieder  zu  Kant 
zurück.  Jedenfalls  hat  Ed.  v.  Hartmann  Recht,  seine 
schwankende  Stellung  hier  zu  tadeln,  nur  scheint  L. 
Lehre  dem  Idealismus  doch  näher  zu  stehen,  und  ein 
Bedingungszusammenhang  das  zeitlose  Korrelat  des  zeit- 
lichen Verlaufes  sein  zu  sollen,  wie  die  inneren  Zustände 
das  Korrelat  des  Raumes,  während  Hartmann  unsern 
Philosophen  bald  entschlossen  auf  der  einen,  bald  ebenso 
auf  der  andern  Seite  findet.  Die  Achtung  vor  der 
lebendigen  AVirklichkeit  mit  ihrem  Werden  und  Ge- 
schehen hätte  gewiss  L.  zu  energischerem  Festhalten 
eines  zeitlichen  Verlaufes  veranlassen  sollen. 

Falkenberg  hat  in  der  oben  zitierten,  bei  Abfassung 
meiner  Arbeit  mir  unbekannten  Abhandlung  durch  eine 
neue  Darstellung  des  genetischen  Zusammenhangs  der 
Lotze'schen  Zeitlehre  nachgewiesen,  dass  ihm  mit 
Unrecht  eine  schwankende  Auffassung  vorgeworfen  werde: 
„Eine  Wandlung  hat  nicht  erfahren  Lotzes  Über- 
zeugung von  der  Subjektivität  des  Totalbildes  der  Zeit, 
ebensowenig  die  von  der  Erhabenheit  des  göttlichen 
Wesens   über    die  Zeit;    die    einzige  Änderung    besteht 


—     37     — 

darin,  dass  die  Sukzession  aus  der  Sphäre  der  Idealität 
in  die  der  Realität  übertritt". 

Wir  haben  nun  gesehen,  wie  L.  die  Lehre  Kants 
von  der  transzendentalen  Ästhetik  modifiziert;  wie  stellt 
er  sich  nun  zu  seiner  transzendentalen  Analytik,  zu 
den  agriorischen  Kategorieen;  wie  weit  ist  ihm  die 
menschliche  Erkenntnis  apriorisch,  wie  weit  empirisch 
bedingt?  wie  weit  gibt  es  für  ihn  synthetische  Urteile 
a  priori? 

Gegeben  ist  uns  eine  für  alle  menschliche  Erkenntnis 
objektive,  d.  h.  individueller  Willkür  nicht  ausgesetzte 
Vorstellungswelt.  Davon  zu  unterscheiden  sind  die 
Denkprozesse,  durch  die  wir  jene  Yorstellungswelt  zu 
erfassen  und  zu  systematisieren  versuchen.  Diese  Denk- 
thätigkeit  kommt  vielfach  in  Bezug  auf  jene  Vorstellungs- 
welt zu  festen  Resultaten,  bleibt  aber  teilweise  auch 
rein  subjektiv.  Endlich  deutet  jene  uns  gegebene  Welt 
der  Vorstellungen  über  sich  hinaus  auf  eine  Realwelt,- 
ihr  beiderseitiges  Verhältnis  ist  wohl  auch  von  L.  nicht 
ganz  ohne  Schwanken  gedacht  worden,  bald  ist  die 
Realwelt  das  Ganze,  von  dem  uns  nur  ein  (wenn  auch 
sehr  wichtiger)  Teil,  die  Vorstellungswelt,  gegeben  ist, 
während  wir  das  Ganze  nur  ahnend  erfassen  können; 
bald  ist  sie  doch  wieder  die  dahinter  liegende  Dingwelt, 
deren  Wirklichkeit  zwar  eine  ganz  andre  ist,  aber 
doch  auch  mit  den  Beziehungen  und  Verhältnissen  in 
der  Vorstellungswelt  irgendwie  korrespondiert. 

Man  kann  die  bisher  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie geltenden  Kategorieen  und  Einteilungsprinzipien 
auf  L.'s  Philosophie  zum  grossen  Teil  nicht  anwenden, 
da  sie  bei  seiner  eigentümlichen  Auffassung  sich  als 
unzulänglich  erweisen.  Wir  sahen  schon,  wie  sich  der 
Gegensatz  zwischen  Idealismus  und  Realismus  in  eine 
unbedeutende  Verschiedenheit  verwandelte,  ähnlich  geht 
es  mit   den   Kategorieen   apriorisch   und   aposteriorisch, 


—    38     — 

rational  und  empirisch,  synthetisch  und  analytisch. 
L.'s  Lehre  über  die  erkenntnistheoretische  Bedeutung 
des  logischen  Denkens  finden  wir  im  Mikrok.  S.  200  ff. 
und  im  3.  Teil  der  Logik. 

Mikrok.  S.  200  ff:  Seit  Sokrates  besitzt  das  pliilo- 
sophische  Denken  das  ihm  eigentümliche  Objekt  der 
Untersuchung  durch  die  Aufstellung  einer  in  aller  Ding- 
welt geltenden  Wahrheit;  man  entdeckte  die  Begriffe, 
Damit  \^"ar  der  richtige  Weg  gefunden,  aber  trotzdem 
blieb  die  ganze  griechische  Philosophie  zur  Unfrucht- 
barkeit verurteilt,  da  sie  Denken  und  Sein  nicht  richtig 
auseinanderhielt  und  die  Verwechslung  logischer  Ge- 
dankenzergliederung mit  der  Untersuchung  der  Sache 
selbst  weder  in  Bezug  auf  die  Lehre  von  den  Begriffen, 
noch  auf  die  von  den  Urteilen  und  Schlüssen  vermied. 
„Dass  an  der  Sache  die  Eigenschaften  ganz  anders 
haften  und  zusammenhängen  als  die  Merkmale  oder 
Teilvorstellungen  an  dem  Begriff  der  Sache:  davon 
mag  hin  und  wieder  theoretisch  wohl  eine  Ahnung 
ausgesprochen  sein,  aber  ohne  alle  durchgreifende 
Wirkung  auf  die  Praxis  der  philosophischen  Unter- 
suchung." (S.  213).  „Die  berühmten  Begriffe  von  Dy- 
namis  und  Energie,  als  Potenz  und  Aktus  noch  jetzt 
Schosskinder  des  philosophischen  Dilletantismus  führen 
die  Unfruchtbarkeit  solcher  Betrachtungen  systematisch 
in  die  Untersuchung  aller  Gregenstände  ein." 

Die  Frage  nach  der  Wahrheitsfäbigkeit  unserer 
Erkenntnis  ist  schon  im  Altertum  zum  Gegenstand  sehr 
umfänglicher  Überlegungen  gemacht  worden.  Sie  führten 
aber  alle  ohne  positiven  Nutzen  nur  zum  Skeptizismus. 
Das  Christentum  gab  diesen  Fragen  mehr  Tiefe  und 
sittlichen  Ernst;  in  der  neuern  Zeit  wurde  die  früher 
so  verachtete  Welt  des  Scheins  das  eigentlich  interes- 
sierende und  befriedigende.  „In  dem  Eingeständnis, 
nur  Erscheinungen  aus  Erscheinungen  zu  entwickeln, 
und    dem  Wesen    der   Dinge    völlig   fremd    zu    bleiben, 


—     39     - 

liegt  zwar  eine  Einschränkung,  aber  auch  ein  Fortschritt. 
"Worauf  beruth  die  Gewissheit  unserer  Gedanken?  „Ge- 
wissheit erlangen  unsre  Gedanken  durch  Zurückführung 
auf  die  früher  bewiesene  Gewisslieit  anderer  oder  auf 
die  des  Beweises  weder  bedürftige  noch  fähige  Evidenz 
unmittelbarer  "Wahrheiten.  Das  Yertrauen,  das  wir  teils 
den  Gesetzen  unsers  Denkens,  welche  jene  Zurückführung 
vermitteln,  teils  den  einfachen  und  unmittelbaren  Er- 
kenntnissen schenken,  zu  denen  wir  durch  sie  geleitet 
werden,  lässt  sich  durch  Wiederholung  aufmerksamer 
Prüfung  vor  der  Hingabe  an  Vorurteile  von  zufälliger 
und  vergänglicher  Überredungskraft  behüten";  dem 
Skeptizismus  überhaupt  aber  lässt  sich  nur  die  Über- 
zeugung eines  sittlichen  Glaubens  entgegenhalten,  dass 
die  "VS^elt  nicht  eine  Ungereimtheit  ohne  Sinn  sein  kann. 

Eingehender  sind  L.'s  Ausfülirungen  über  diesen 
Gegenstand  in  der  Logik.  S.  525  fP.  Eine  einzelne  An- 
sicht kann  zwar  durch  eine  Zergliederung  der  Veran- 
lassungen, aus  denen  sie  uns  entsprungen  ist,  innerhalb 
des  Ganzen  unsrer  Erkenntnis  geprüft  werden,  diese 
genetische  Betrachtungsweise  bewährt  sich  aber  nicht 
mehr  bei  einer  Prüfung  der  "Wahrheitsfähigkeit  im 
Ganzen.  Man  bringt,  wie  schon  früher  gezeigt,  not- 
wendig immer  Voraussetzungen  mit  und  wenn  dies  ein- 
mal nicht  anders  sein  kann,  so  muss  man  es  reinlich 
und  aufrichtig  thun;  wir  nehmen  sie  aus  der  Ontologie. 
Die  Aussenwelt  könnte  auf  keinen  Fall  in  uns  eingehen, 
sondern  sie  kann  nur  unsre  Spontaneidät  zur  Thätigkeit 
anreizen,  so  dass  also  unsre  ganze  Vorstellungswelt, 
auch  die  einfachen  sinnlichen  Empfindungen,  nach  dieser 
Richtung  apriorisch  ist.  Kants  Lehre ,  dass  der  gesamte 
Inhalt  unsrer  Erkenntnis  der  Erfahrung,  und  nur  ihre 
Form  der  angebornen  Thätigkeit  des  Geistes  zuzuschreiben 
sei,  ist  missverständlich. 

Damit  soll  aber  dem  Empirismus  sein  Recht  nicht 
genommen    werden,     „Die    ausgedehnte   Apriorität,    die 


—     40     — 

wir  80  für  unsre  Erkenntnis  in  Anspruch  nehmen,  ist 
indessen  nur  die  eine  Seite  der  Sache.  Eben  dann, 
wenn  wir  alle  sinnlichen  Empfindungsweisen,  unsre 
Raumanschauung,  unsre  Begriffe  von  Ding  und  Eigen- 
schaft, von  Ursache  und  Wirkung,  endlich  die  ethischen 
Vorstellungen  das  Gut  und  Böse,  als  angeborene  Aus- 
serungsweisen  des  Geistes  betrachten,  eben  dann  kann 
der  Grund  zu  den  besonderen  einander  ausschliessenden 
Anwendungen  ihrer  aller  nicht  ebenso  in  dem  Wesen 
dieses  Geistes  liegen".  S.  535.  Wir  unterliegen  hier 
einem  fremden  Zwang,  und  können  es  hier  dahingestellt 
lassen,  ob  die  gewöhnliche  Meinung  Recht  hat,  ihn 
einer  Aussenwelt  zuzuschreiben  oder  der  Idealismus, 
ihn  als  unmittelbare  Wirkung  einer  alle  Geister  durch- 
dringenden Macht  anzusehen.  „Woher  diese  Anregung 
auch  stammen  mag,  sie  bleibt  ein  empirisches  oder 
aposteriorisches  Element  unsrer  Erkenntnis."  S.  536. 
Es  bleibe  eine  würdige  Aufgabe,  der  Gesetzmässigkeit 
dieser  apriorisch -empirischen  Erscheinungswelt  nachzu- 
gehen, und  „die  Auflösung  dieser  Aufgabe  wird  die 
Erkenntnis  einer  Wahrheit  sein,  auch  wenn  es  kein 
Mittel  geben  sollte,  zu  entscheiden,  von  welcher  andern 
Gesetzmässigkeit  einer  uns  unbekannt  bleibenden  Aussen- 
welt diese  Gesetzlichkeit  des  Verlaufs  unsrer  Innenwelt 
hervorgebracht  wird". 

Der  Einwand,  auch  die  angebornen  Ideen  könnten 
wir  doch  nur  aus  Erfahrung,  wenn  auch  aus  innerer, 
kennen  lernen,  und  es  sei  also  doch  Erfahrung  die 
einzige  Quelle  unsrer  Erkenntnis,  ist  ebenso  selbstver- 
ständlich als  unfruchtbar;  in  dieser  weitläufigen  Be- 
deutung genommen  ist  der  Begriff  der  Erfahrung  nicht 
mehr  der  Anlass  zu  einer  Verschiedenheit  der  Meinungen; 
wir  wollen  dagegen  nicht  einmal  sagen,  dass  uns  die 
apriorischen  Teile  unsrer  Erkenntnis  durch  unsere  eigene 
Natur,  die  empirischen  durch  fremden  Zwang  aufgenötigt 
werden,  denn  das  können  wir  nicht  beweisen;  es  muss 


-     41     — 

vielmehr  der  Unterschied  zwischen  apriorisch  und  em- 
pirisch darin  gefunden  werden,  dass  erstrer  sich  durch 
unmittelbare  Evidenz  auszeichnet,  die  dem  letztern  ab- 
geht; man  könnte  den  Einwand  erheben:  was  in  diesem 
Augenblicke  uns  selbstverständlich  erschiene,  woher 
hätten  wir  das  Recht  zu  behaupten,  dass  es  in  jedem 
andern  Augenblicke  uns  ebenso  erscheinen  werde.  Wenn 
dieser  Einwurf  im  Interesse  der  Leugnung  jeder  allge- 
meingültigen Wahrheit  gemacht  wird,  so  können  wir 
nach  L.  dem  einfach  entgegenhalten,  dass  man  überhaupt 
auf  jede  Erkenntnis  verzichten  müsste  ohne  die  An- 
nahme, dass  im  Ganzen  des  W^eltlaufes  eine  Beständigkeit 
des  Verhaltens  bestehe,  wonach  unter  gleichen  Beding- 
ungen immer  dieselbe  Wirkung  entstehe.  „Man  sieht 
daher,  dass  die  Neigung  alle  allgemeine  Erkenntnis 
aus  Erfahrung,  d.  h.  aus  Summierung  von  Eiuzelwahr- 
nehmungen  zu  gewinnen,  nicht  zum  Ziele  kommt;  irgendwo 
ist  stets  als  notwendiges  Hülfsmittel  einer  jener 
Gedanken  vorauszusetzen,  dessen  einmal  gedachtem 
Inhalt  man  mit  unmittelbarem  Zutrauen  den  von  ihm 
erhobenen  Anspruch  auf  allgemeine  Gültigkeit  zugibt." 
S.  540.  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit  und  unmittel- 
bare Evidenz  sind  also  die  alle  agriorische  Erkenntnis 
auszeichnenden  Eigenschaften.  Man  sieht,  dass  im  Ver- 
gleich mit  der  Kantischen  Lehre  der  Gegensatz  zwischen 
apriorisch  und  empirisch  bedeutend  fliessender  geworden 
ist ,  um  so  mehr  als  diese  allgemeingültigen  Wahrheiten 
nicht  rein  gegeben  sind,  sondern  erst  herausgearbeitet 
werden  müssen,  und  zwar  mit  Hülfe  der  Erfahrung, 
welche  dieselben  von  ihrer  Verquickung  mit  Vorurteilen 
reinigen  muss.  Hier  bei  dieser  Kritik  der  Vorurteile 
hat  auch  die  psychologische  Untersuchung  ihren  Nutzen, 
während  wir  sie  bei  der  Fundierung  der  Erkenntnis  im 
Ganzen  unzureichend  fanden,  „So  bleibt  denn  nichts 
übrig  als  dass  diese  psychologischen  Zergliederungen 
auf  die  Aufgabe  beschränkt  werden,  zu  zeigen,  wie  an 


—     42     — 

sich  gültige  Wahrheiten  im  Denken  und  für  dasselbe, 
sofern  es  ein  psychischer  Vorgang  ist,  als  unbewusst 
befolgte  Regeln  seines  Verfahrens  verwirklicht  werden." 
S.  544.  Zwischen  dem  psychischen  Mechanismus  und 
dem  Denken  besteht  eine  Kluft;  letzteres  darf  nicht  mit 
dem  ersteren  identifiziert  werden,  sondern  hat  seine 
Einheit  in  sich  selber,  die  freilich  eine  anders  geartete 
ist,  nämlich  eine  teleologische  und  von  dem  Sinne  oder 
der  Idee  abhängt,  zu  deren  Verwirklichung  die  Seele 
bestimmt  ist.  Alle  logischen  Rückwirkungen  des  Geistes 
sind  als  eine  einheitliche  Tentenz  aufzufassen,  deren 
einzelne  Äusserungen  ihrem  Sinne  nach  sich  vei-ständlich 
in  eine  Reihe  gliedern  lassen,  nach  ihrer  Entstehung 
als  psychische  Vorgänge  aber  völlig  unbegreiflich  sind." 
S.  547. 

In  dem  folgenden  Abschnitt  S,  548  ff.  handelt  L. 
von  der  realen  und  formalen  Bedeutung  des  Logischen; 
wir  würden  aber  sehr  enttäuscht  werden ,  wenn  wir 
hofften,  hier  eine  grosse  Aufklärung  über  den  Zusammen- 
hang zwischen  Denken  und  Sein  zu  erhalten,  denn  die 
Untersuchung  bezieht  sich  hier  nur  auf  das  Verhältnis 
der  Denkformen  und  des  unsrer  Natur  entsprechenden 
Denkens  zu  jener  Vorstellungswelt,  die  zwar  unabhängig 
ist  von  dem  einzelnen  subjektiven  Denken  und  den 
einzelnen  Momenten  des  Denkens,  aber  doch  auch  nur 
Wirklichkeit  hat,  sofern  sie  gedacht  wird.  Die  Real- 
welt, die  Welt  der  Dinge  an  sich  kommt  dabei  nicht 
in  Betracht,  und  die  ganze  Darstellung  ist  mehr  logisch 
als  erkenntnistheoretisch  interessiert.  Die  Frage,  um 
die  es  sich  handelt,  ist  die,  ob  die  Regeln,  nach  denen 
das  Denken,  Gesetzen  seiner  eigenen  Natur  folgend, 
seine  Vorstellungen  verknüpfen  niuss,  zu  demselben  Ab- 
schluss  führen,  den  der  Zusammenhang  der  Sachen 
—  nämlich  in  der  vom  einzelnen  unabhängigen  Vor- 
stellungswelt —  hervorbringt.  Da  tritt  uns  zunächst 
entgegen   die    Behauptung   von    der   blos   formalen    Be- 


—     43     — 

deutung  des  Denkens.  Aber  „in  welchem  Verhältnisse 
sollen  denn  diese  Formen  und  Gesetze  zu  dem  Inhalt 
stehen,  den  sie  nicht  erzeugen,  sondern  vorfinden,  und 
durch  dessen  Bearbeitung  allein  doch  die  gedachte 
Wahrheit  den  ihrigen  erhält.  Kann  ein  Inhalt  in  Formen 
gebracht  werden,  für  die  er  nicht  passt?"  S.  548.; 
andrerseits  die  Behauptung  von  der  realen  Bedeutung 
des  Denkens,  der  sachliche  Inhalt  des  Vorstellens  sei 
an  keine  andern  Gesetze  gebunden  als  an  die,  welche 
das  Denken  ihm  auferlegt.  Da  jener  aber  unsrer 
Kenntnis  nur  durch  das  Denken  vermittelt  wird,  so 
kann  diese  Behauptung  nicht  bewiesen  werden;  „aber 
wir  können  fragen,  wie  denn  das  Denken  selbst  über 
die  Bedeutung  seiner  eigenen  Handlungen  urteilt,  und 
inwieweit  es  diejenigen  Formen ,  die  es  als  psychische 
Bewegung  des  denkenden  Subjekts  annehmen  muss,  für 
Fjigenbestimmtheiten  des  von  ihm  bearbeiteten  Inhaltes 
ansieht."     S.  549. 

Wenn  unser  Denken  die  Vorstellungen  a  und  b 
vergleicht,  geht  es  zwischen  beiden  hin  und  her,  es  hat 
ferner  fast  alles  in  räumlicher  Gestalt,  Ordnung  und 
Beziehung  symbolisiert  und  ist  endlich  an  eine  Sprache 
als  Ausdrucksform  gebunden ;  dies  Alles  ist  für  die  Denk- 
handlung wichtig,  kann  aber,  gleich  einem  Gerüste, 
nach  vollendeter  Arbeit  ruhig  wieder  abgebrochen  werden, 
d.  h.  es  hat  auf  die  sachliche  Bedeutung  unsrer  Denk- 
handlung keinen  Einfluss.  „So  zeigt  sich  hier  der 
Gegensatz  der  blos  formalen  Bedeutung  unsrer  Denk- 
handlung  zu  der  realen  ihres  Produkts."  S.  553. 
„Wir  müssen  daher  erwarten,  in  dem,  was  wir  logische 
Handlungen,  Formen  und  Gesetze  nennen,  viel  eines 
blos  formalen  Apparates  zu  finden,  der,  obwohl  zur 
Ausübung  des  Denkens  unentbehrlich,  doch  der  realen 
Bedeutung  entbehrt,  die  das  Denken  dem  Endergebnis 
seines  Thuns  allerding-s  zuschreibt."     S.  553. 


—         44:         — 

Wenn  wir  a  und  b  vergleichen,  z.  B,  Eot  und  Gelb, 
so  können  wir  den  von  uns  gefundenen  Unterschied  als 
einen  sachlichen  ansehen,  ohne  befürchten  zu  müssen, 
dass  es  in  Wirklichkeit  anders  sei.  „Solche  Bedenken 
hätten  Grund,  wo  wir  unsre  Gedankenwelt  zu  einer 
ausser  ihr  vorausgesetzten  Öachenwelt  in  Beziehung 
brächten;  so  lange  jedoch  statt  dieser  unsre  eigenen 
Vorstellungen  unsern  Gegenstand  bilden,  zweifeln  wir 
nicht,  dass  die  bei  ihrer  Vergleichung  erfahrenen  Gleich- 
heiten oder  Unterschiede  unsres  Vorstellens  zugleich 
ein  sachliches  Verhalten  unsrer  Vorstellungsinhalte 
bedeuten."  S.  554.  Die  griechische  Philosophie,  welche 
so  gefundene  Verhältnisse  ohne  weiteres  für  von  unserm 
Denken  unabhängige  Beziehungen  der  Realwelt  hielt, 
kam  dadurch  in  viele  Verlegenheiten;  „so  war  es  ihr 
z.  B,  ein  ärgerliches  Rätsel,  wie  die  von  ihren  Be- 
ziehungspunkten abgelösten  und  nun  einander  wieder- 
strebenden Prädikate  des  Kleinerseins  und  des  Grösser- 
seins  sich  an  demselben  b  vertragen  möchten." 

„Sind  aber  (wie  bei  uns)  a  und  b  nicht  Dinge  von 
unabhängiger,  unserem  Denken  jenseitiger  Wirklichkeit, 
sondern  vorstellbare  Inhalte,  wie  Rot  und  Gelb,  Gerade 
und  Krumm,  so  besteht  eine  Beziehung  zwischen  ihnen 
nur,  sofern  wir  sie  denken  und  dadurch,  dass  wir  sie 
denken.  Aber  so  ist  unsre  Seele  beschaffen  und  so 
setzen  wir  jede  andere  voraus,  deren  Inneres  der  unsern 
gleicht,  dass  dieselben  a  und  b,  so  oft  sie  und  von 
wem  sie  auch  vorgestellt  werden  mögen,  stets  im  Denken 
dieselbe  nur  durch  das  Denken  und  nur  in  ihm  besteh- 
bare Beziehung  hervorbringen  werden.  Unabhängig  ist 
diese  daher  von  dem  einzelnen  denkenden  Subjekt  und 
unabhängig  von  einzelnen  Momenten  seines  Denkens; 
hierin  allein  liegt  das,  was  wir  meinen,  wenn  wir  sie 
als  an  sich  bestehend  zwischen  a  und  b  betrachten, 
und  sie  von  unserm  Denken  wie  ein  für  sich  dauerndes 
Objekt   auffindbar  glauben;   sie   steht   wirklich   so   fest, 


-     45    — 

aber  nur  als  ein  Ereignis,  das  im  Denken  stets  unter 
gleichen  Bedingungen  gleich  sich  erneuern  wird." 
S.  555/56. 

Auf  die  Dingwelt  an  sich  lassen  sich  diese  Ver- 
hältnisse nicht  übertragen,  sondern  müssen  erst  in  der 
Metaphysik  auf  ihren  dort  allein  zulässigen  Sinn  ge- 
bracht werden. 

L.  geht  nun  die  logischen  Formen  einzeln  durch 
und  prüft  sie  auf  ihren  Erkenntniswert.  Der  Allgemein- 
begriff bezeichnet  eine  unvollendbare  Forderung.  Denn 
ein  allgemeines  Pferd,  Farbe  im  Allgemeinen  etc.  können 
wir  uns  nie  vorstellen.  Hat  er  überhaupt  eine  sachliche 
Bedeutung  oder  ist  er  nur  ein  gemeinsamer  Name,  nur 
ein  Wort?  In  der  Thatsache,  dass  wir  Allgemeines 
überhaupt  nur  denken  können,  liegt  doch  ein  Beweis 
des  erstem,  einer  realen  Geltung  des  Begriffes;  denn 
wenn  wir  uns  auch  die  allgemeine  Farbe  nicht  vorstellen 
können,  so  empfinden  wir  doch  in  Rot  und  Gelb  ein 
Gemeinsames,  das  uns  nötigt,  den  Allgemeinbegriff  zu 
bilden.  Diese  Betrachtung  ist  sowohl  von  dem  Nomi- 
nalismus als  dem  Realismus  auf  ein  falsches  Gebiet, 
das  der  Dinge  an  sich  übertragen  worden  und  dadurch 
unlösbar  gemacht.  Die  Objektivierung  der  Begriffe, 
wie  sie  nach  Piatos  Vorgang  der  Realismus  vollzieht, 
würde  man  leicht  fallen  lassen,  wenn  man  sich  ent- 
wöhnte, nur  naturgeschichtliche  Gattungsbegriffe  als 
Beispiele  des  Allgemeinen  zu  denken.  Man  würde 
dann  finden,  dass  der  Begriff  nicht  eine  Seins-,  sondern 
eine  Geltungsrealität  habe  und  auch  dies  nicht  in  un- 
eingeschränkter Weise.  Denn  alle  unsre  Begriflfsbild- 
ungen,  Klassifikationen  und  Konstruktionen  sind  sub- 
jektive Bewegungen  unsres  Denkens  und  nicht  Vorgänge 
in  den  Sachen;  so  aber  ist  zugleich  die  Natur  der  Sachen, 
der  gegebenen  vorstellbaren  Inhalte  geartet,  dass  das 
Denken,  wenn  es  sich  den  logischen  Gesetzen  dieser 
seiner  Bewegungen   überlässt,    am  Ende    seines    richtig 


-     46    — 

durchlaufenen  Weges  wieder  mit  dem  Yerh alten  der 
Sachen  zusammentrifft.  Urteile  sind  ohne  realen  Wert, 
z.  B.  die  hypothetischen  bringen  nur  das  allgemein 
logische  Verhältnis  der  Bedingtheit,  nicht  das  spezielle 
der  Kausalität  zum  Ausdruck.  Auch  bei  den  Schlüssen 
liegt  der  Wahrheitsgehalt  nicht  in  der  logischen  Form, 
sondern  nur  in  dem  darin  gefassten  Inhalt,  Die  Hypo- 
stasierung  der  Naturgesetze  ist  ebenso  falsch  und  ver- 
wirrend wie  die  der  Begriffe. 

Am  Schlüsse  sucht  L.  die  Bedeutung  des  Denkens 
verständlich  zu  machen,  indem  er  die  3  Gegensätze 
subjektiv  und  objektiv,  formal  und  sachlich,  formal  und 
real  auf  dasselbe  anwendet.  Die  Denkhandlung,  der 
Weg,  den  unser  Denken  zurücklegt,  um  zu  einer  Er- 
kenntnis zu  gelangen,  ist  subjektiv,  d.  h,  eine  lediglich 
durch  unsre  Natur  und  unsre  Stellung  in  der  Welt  uns 
notwendig  gewordene  innere  Bewegung;  der  erzeugte 
Gedanke  dagegen  ist  objektiv,  d.  h.  „von  allen,  nach 
Zurücklegung  jener  AVege  auf  gleiche  Art  empfunden, 
bildet  das  jetzt  Gesehene  ein  von  der  Subjektivität  des 
einzelnen  Denkenden  unabhängiges  Objekt".  „Formal 
nennen  wir  die  logischen  Thätigkeiten,  weil  ihre  Eigen- 
tümlichkeiten zwar  nicht  die  eigenen  Bestimmungen  der 
Sachen  sind,  aber  doch  Formen  des  Verfahrens,  eben 
die  Natur  der  Sachen  zu  erfassen  und  deshalb  nicht 
ausser  jedem  Zusammenhange  mit  dem  sachlichen  Ver- 
halten selbst."  In  Bezug  auf  den  3.  Gegensatz  ist  zu 
sagen,  dass  weder  die  logischen  Formen  des  Begriffs, 
Urteils  und  Schlusses,  noch  auch  die  logischen  Gedanken, 
denen  wir  objektive  und  sachlic^.  e  Geltung  zuschrieben, 
in  Bezug  auf  das  Reale  eine  unmittelbare  Geltung  haben. 
Wie  weit  sie  eine  solche  überhaupt  und  in  welcher 
modifizierten  Form  haben,  dies  aufzuklären,  muss  der 
Metaphysik  überlassen  bleiben.  Wir  bleiben  also  mit 
den  logischen  Formen  in  jenem  transzendentalen  Gebiet, 


—     47     — 

das  ihnen  Kant  anwies,   gelangen   aber   damit  nicht   in 
das  transzendente. 

Den  letzten  Abschnitt  der  Logik  betitelt  L.:  Die 
agriorischen  Wahrheiten. 

In  Bezug  auf  den  Yorstellungsinhalt  haben  unsre 
Gedanken  sachliche  Bedeutung.  In  dieser  Vorstellungs- 
welt gilt  das  platonische  Ideenreich,  d.  h.  es  besteht 
in  ihm  eine  systematische  ewige  Ordnung.  Dies  ist 
zwar  unentbehrliche  Voraussetzung  und  Grundlage  des 
Denkens,  aber  doch  nicht  selbst  denknotwendig,  sondern 
eine  wunderbare  Thatsache. 

Nun  führen  unsre  Wahrnehmungen  aber  die  ein- 
zelnen Vorstellungen  uns  durchaus  nicht  unsrer  in  ihr 
gefundenen  Ordnung  entsprechend  vor,  sondern  in  einer 
uns  ganz  fremden,  Heterogenes  verbindenden  Weise. 
Diesen  fremden,  empirischen  Bestandteil  nennt  L.  reale 
Wirklichkeit.  Wie  steht  nun  dieser  gegenüber  unser 
Denken?  Dreierlei  Bedingungen  muss  es  erfüllen,  wenn 
es  mit  den  Thatsachen  in  Einklang  bleiben  will  oder 
unsere  Hoffnung,  durch  das  Denken  den  Verlauf  der  Wirk- 
lichkeit beherrschen  zu  können,  beruht  auf  drei  Punkten: 

1.  Es  ist  niemals  möglich,  aus  blossen  Begriffen 
des  Denkens  die  reale  Wirklichkeit  des  in  ihnen  Ge- 
dachten zu  beweisen,  wie  dies  z.  B.  der  ontologische 
Gottesbeweis  versucht;  vielmehr  muss  immer  bei  einem 
gegebenen  wirklichen  Grunde  eingesetzt  werden,  um 
aus  diesem  dann  die  Folgen  als  wirkliche  abzuleiten, 
die  aus  dem  gedachten  als  denknotwendige  hervorgingen. 

2.  Woher  nehmen  wir  die  Gewissheit,  dass  in  dieser 
realen  Welt  überhaupt  noch  eine  Gesetzmässigkeit  vor- 
handen ist?  Diese  ist  weder  selbst  denknotwendig, 
noch  als  eine  denknotwendige  Folge  aus  gegebenen 
Thatsachen  abzuleiten.  „Mit  Grund  wird  man  daher 
sagen,  dass  alle  unsre  Beurteilung  der  Wirklichkeit  auf 
dem  unmittelbaren  Zutrauen  oder  auf  dem  Glauben  be- 


—     48     — 

ruht,  mit  dem  wir  einer  Forderung  des  Denkens,  die 
das  eigene  Gebiet  desselben  überschreitet,  allgemeine 
Gültigkeit  zuerkennen,"     S.  580. 

3.  Wir  werden  die  Wirklichkeit  nicht  erfassen 
können,  ohne  irgendwelche  synthetischen  Urteile  a  priori. 
Schon  in  den  synthetischen  Urteilen  a  posteriori  steckt 
nach  L.  ein  Teil  apriorischen  Bestandes.  Alles  Bilden 
von  Urteilen  hat  schon  solches  an  sich;  jede  Wieder- 
zählung von  Thatsachen,  die  sonst  nur  eine  Wieder- 
erinnerung von  Wahrnehmungen,  eine  Reproduktion  des 
Rohmaterials  sein  dürfte.  Auch  der  Nerv  aller  frucht- 
baren mathematischen  Denkarbeit  liegt  in  der  Möglich- 
keit, "Verschiedenes  gleichzusetzen,  also  in  Synthesis 
a  priori,  aber  nicht  in  der  nackten  Anwendung  des 
logischen  Identitätsgesetzes. 

So  ist  der  Fundamentabsatz  der  Arithmetik :  Grössen 
seien  überhaupt  summierbar  zu  einer  neuen  Grösse  eine 
solche  apriorische  Voraussetzung,  über  deren  Wichtigkeit 
man  geneigt  sein  wird,  hinwegzusehen,  weil  er  ganz 
selbstverständlich  und  nichts  als  eine  identische  Definition 
der  Zahlgrösse  zu  sein  scheint.  Warum  kann  man  nicht 
Rot  und  Grün  addieren?  Es  ist  eben  die  Grösse  als 
Anschauung  die  Bürgschaft  der  Wahrheit  und  zugleich 
der  Grund  der  Fruchtbarkeit  arithmethischer  Gedanken- 
verbindung. Noch  deutlicher  ist  dies  in  der  Geometrie: 
hier  macht  es  nur  die  eigentümliche  Natur  des  Raumes 
möglich,  dass  eine  sachliche  Identität  verschiedener 
Ausdrucksformen  bestehen  kann.  L.  kommt  dann  noch 
einmal  darauf  zurück,  den  Gegensatz  zwischen  Apriorismus 
und  Empirismus  zu  bestimmen.  Da  muss  man  zunächst 
zugestehen,  dass  alle  unsre  Erkenntnis  durch  Erfahrung 
im  weiteren  Sinne  erworben  wird  und  darf  dann  nicht 
einen  Unterschied  zwischen  innerer  und  äusserer  Er- 
fahrung machen;  denn  diesen  gibt  es  nicht,  da  ja  alle 
Erfahrung  nur  unsre  Yorstellungen  zum  Objekt  haben 
kann.      Es    könnte    noch    der   Unterschied   festgehalten 


—    49    — 

werden,  dass  wir  allgemeine  Gültigkeit  aus  einmaliger 
Thatsächlichkeit  annehmen,  die  Empiristen  dies  abzu- 
lehnen behaupten,  während  sie  es  doch  in  Wirklichkeit 
auch  nicht  umgehen  können.  „Auf  der  Möglichkeit 
unmittelbarer  Erkenntnis  des  Allgemeingültigen  beruht 
jede  Überzeugung,  die  uusre  nicht  mehr  als  die  der 
Gegner;  Zwiespalt  kann  nur  darüber  sein,  welche 
Wahrheiten  wir  dieser  Erkenntnis  zugänglich  glauben." 
S.  591.  Es  kann  gewiss  auch  falsche  Evidenzen  geben. 
Diese  kann  erwiesen  werden,  wenn  die  Folgerungen 
zu  falschen  Ergebnissen  führen,  oder  wenn  sich  positiv 
ein  andrer  Satz  beweisen  lässt,  der  die  falsche  Evidenz 
unsres  Satzes  aufdeckt.  Apriorisch  sind  die  Erkenntnisse, 
welche  nicht  durch  Induktion  oder  Summatiou  aus  ihren 
einzelneu  Beispielen  entstehen,  sondern  zuerst  allgemein 
gültig  gedacht  werden,  und  so  als  bestimmende  Regeln 
diesen  Beispielen  vorangehen."  S.  594.  „Hiermit  hängt 
der  letzte  hier  zu  erwähnende  Punkt  zusammen.  Von 
reinen  Anschauungen,  als  einem  angebornen  Besitz  des 
Geistes,  ist  auch  in  Ausdrucksweisen  gesprochen  worden, 
aus  denen  als  natürliche  Konsequenz  die  Annahme  hätte 
fiiessen  müssen,  alle  Wahrheit,  die  auf  einer  dieser 
Anschauungen  beruhe,  sei  gleichfalls  ein  Schatz  immer- 
währender Erkenntnis,  mit  dem  wir  der  Erfahrung,  um 
sie  zu  beurteilen  entgegenkommen."  Dies  ist  falsch; 
wer  überhaupt  von  apriorischen  Wahrheiten  redet, 
rechnet  sicher  die  mathematischen  dazu ;  gleichwohl 
haben  diese  erst  nach  und  nach  entdeckt  werden  müssen. 
Die  Welt  des  Selbstverständlichen  liegt  doch  nicht  selbst- 
verständlich vor  uns;  auch  das  Allgemeingültige  muss 
von  dem  Geist  erst  aus  der  Unermesslichkeit  der  Vor- 
stellungen, die  sein  Bewusstsein  wirklich  füllen,  auf- 
gefunden und  gesondert  werden."  „So  kann  daher  eine 
sehr  schwere  Aufgabe  der  Erkenntnis  darin  bestehen, 
uns  durch  Hinwegräumung  aller  der  Hindernisse,  welche 
die    uns   aufgedrungene    empirische  Verknüpfung  unsrer 

4 


—    50    - 

Vorstellungen  entgegenstellt,  zu  der  Einsicht  in  das 
Selbstverständliche  erst  durchzuringen."  8.  595.  Wie  in 
der  Mathematik,  so  wird  man  auch  in  der  Mechanik 
erste  synthetische  Sätze  finden,  welche  als  höchste 
Prinzipien  2  Beziehungsglieder  allgemeingültig  und  selbst- 
verständlich verknüpfen,  die  durch  kein  Mittel  logischer 
Beweisführung  als  analytisch  oder  identisch  zusammen- 
gehörig nachweisbar  sind.  Man  sagt,  alles  unser  Denken 
gehe  darauf  aus.  Zusammenseiendes  auf  Zuzammen- 
gehöriges,  synthetische  Urteile  auf  analytische  zurück- 
zuführen. L.  behauptet,  dass  der  letzte  Satz,  den  unsre 
Erkenntnis  am  Ende  ihres  Weges  erreichte,  doch  ein 
synthetischer  von  der  Form  A  -]-  B  =  C  sein  würde,  der 
im  Grunde  nicht  wunderbarer  sei  als  der  identische  A  =  A. 
Es  kann  dies  ja  eine  notwendige  Folge  der  Beschaffen- 
heit des  Seienden  sei.  Es  kann  ja  im  Sein  „sachlich 
ursprüngliche  Zusammengehörigkeiten  des  Verschiedenen 
geben,  ursprüngliche  Synthesen,  deren  Beziehungsglieder 
durcli  keine  Zwischenvermittlung  zusammenliängen,  welche 
ihre  Vereinigung  als  noch  so  entfernte  Folgen  des  Identi- 
tätsgesetzes erscheinen  Hesse,  und  die  dennoch  unmittel- 
bar zusammengehören.  Dem  müsste  dann  das  Erkennen 
entsprechen.  „Gewiss  kann  es  daher  letzte  und  ein- 
fachste synthetische  Wahrheiten  geben,  die  rein  auf- 
gefasst,  nicht  blos  thatsächlich  gelten,  sondern  auch 
selbstverständlich,  deren  Evidenz  aber,  wenn  man  alles 
Logische  auf  den  Satz  der  Identität  gründen  will,  nicht 
mehr  eine  logische,  sondern  eher  eine  ästhetische  zu 
nennen  ist,  und  demgemäss  nicht  an  der  Denkmöglich- 
keit, sondern  an  der  evidenten  Absurdität  ihres  kontra- 
diktorischen Gegenteils  ihren  Prüfstein  hat."  S.  607. 


III.  Wenn  wir  nun  diesen  Abschnitt  aus  der  Logik 
überblicken,  so  scheint  uns  sein  Ergebnis  für  die  Fragen 
der  Erkenntnistheorie  nur  gering;  dies  ist  aber  nur  dann 


—     51     — 

der  Fall,  wenn  wir  mit  der  Erwartung,  über  eine  hinter 
der  Yorstellungswelt  liegende  Dingwelt  aufgeklärt  zu 
werden,  herantreten.  Dann  werden  wir  freilich  sagen, 
wir  bleiben  bei  ihm  immer  in  der  Erscheinungswelt, 
ohne  zu  dem  Seienden  zu  gelangen;  wenn  wir  uns  aber 
erinnern,  dass  bei  L.  die  Vorstellungswelt  nicht  ein 
verblasstes  Bild  der  Wirklichkeit,  sondern  selbst  ein 
Teil  derselben,  und  zwar  gleichsam  ihre  Blüte  ist,  so 
gewinnen  auch  alle  Urteile  über  sie  eine  metaphysische 
Bedeutung. 

Wenn  wir  L.'s  Erkenntnistheorie  zusammenfassend 
zu  charakterisieren  versuchen,  so  bemerken  wir  un- 
beschadet ihrer  Originalität  doch  zwei  Strömungen,  eine 
neukantische  und  eine  hegelsche.  Wie  Kant  bleibt  auch 
er  in  der  Vorstellungswelt,  in  der  Sphäre  des  Trans- 
zentalen  stehen;  Raum  mit  Katogorieen  haben  in  ihr 
allein  ihre  Wahrheit;  es  gibt  für  Menschen  nur  eine 
menschliche,  durch  ihre  Natur  wesentlich  mit  bedingte 
Erkenntnis;  und  auch  darin  trifft  L.  mit  Kant  zusammen, 
dass  er  die  praktische  Vernunft,  d.  h.  den  Menschengeist 
nach  der  Seite  des  Fühlens  und  W^oUens  als  letztes  Er- 
kenntnisprinzip aufstellt;  die  Wirklichkeit  ist  überall 
reicher  als  unser  Denken  und  kann  durch  dasselbe  nicht 
adäquat  erfasst  werden;  aber  der  Geist  im  Ganzen  kann 
doch  ahnungsvolle  Blicke  hiueinthun  in  die  Wirklichkeit, 
kann  das  Ganze  empfindend  erleben.  Astetische  und 
ethische  Ideen,  die  ihre  Wahrheit  in  ihrem  Werte  haben, 
sind  die  letzten  Resultate  unsrer  Welterklärung,  eine 
Lehre,  in  welcher  L.  ganz  der  dyrch  Kants  Kritik  an- 
geregten Strömung  unsrer  Zeit  folgt. 

Der  einseitige  Intellektualismus  ist  gewichen;  die 
Überschätzung  des  Logischen  zurückgewiesen,  der 
Willens-  und  Gefühlsseite  ihr  berechtigter  Teil  an  der 
Ausbildung  der  Weltanschauung  zugestanden.  Von  Wert- 
urteilen wird  heutzutage  auch  in  theologischen  Kontro- 
versen viel  geredet ;  es  sind  Urteile,  die  von  Wert  eines 

4* 


—     52     — 

Gegenstandes,  eines  Gedankens  auf  seine  Wirklichkeit 
schliessen,  gegenüber  den  Seinsurteilen,  die  nur  die 
Überführung  durch  ein  thatsächliches  Objekt  für  voll- 
gültigen Beweis  der  Wahrheit  und  Wirklichkeit  gelten 
lassen. 

Neigung  zu  solchen  Werturteilen  finden  wir  bei  L. 
schon  im  einzelnen;  das  Stehenbleiben  beim  Solipsismus 
z.  B. ,  das  man  logisch  gewiss  nicht  anfechten  kann, 
nennt  er  geschmacklos:  ein  W^erturteil.  Am  deutlichsten 
spricht  sich  L.  darüber  aus  gegenüber  der  Vorherrschaft 
des  Logischen  in  der  Rezension:  der  Streit  des  Natur- 
gesetzes mit  dem  Zweckbegriff.  „Er  hat  nur  gezeigt, 
was  sich  wohl  von  selbst  verstand,  dass  keine  Macht 
auf  Erden  zwingen  kann,  ästhetischen  Anforderungen 
des  Gemütes  eine  theoretisch  beweisende  Kraft  zuzu- 
gestehen, aber  mit  Unrecht  bestrebt  er  sich,  durch  die 
Künste,  mit  denen  sich  dieser  abstrakt  verständige 
Standpunkt  jenen  Bedürfnissen  zu  entziehen  sucht,  uns 
ihre  Erfüllung  überhaupt  zu  verleiden.  —  —  —  Der 
Philosoph  muss  sich  erinnern,  dass  die  Gedanken,  die 
jedem  energisch  zuströmen,  der  mit  offenem  Herzen 
und  Sinn  die  Natur  betrachtet,  ein  unveräusserliches 
und  unantastbares  Gut  sind,  das  nicht  von  einem  Gewebe 
spitzfindiger  Spekulationen  zerstört  werden  darf,  sondern 
immer  als  das  sicherste  unsrer  Erkenntnis  ein  richtiges 
korrigierendes  Gegengewicht  gegen  die  Yerwirrungen 
des  grübelnden  Verstandes  bildet." 

Sind  schon  im  einzelnen  seine  Sätze  so  beeinflusst, 
so  ist  ebenso  unstreitig  das  Abschliessende  in  seiner 
Weltansicht  nur  in  einer  ethischen  Idee  zu  finden;  er 
spricht  dies  auch  öfters  deutlich  genug  aus,  z.  B. 
Mikrok.  III  234:  „Dadurch  wird  er  —  der  Realismus  — 
stets  den  Widerspruch  jener  idealistischen  Neigung  des 
menschlichen  Gemütes  erwecken,  welche  das  wahre  Sein 
nicht  in  Thatsachen  anerkennt,  die  nur  sind,  weil  sie 
sind,   oder  angenommen   werden   müssen,   weil  Anderes 


—     53     - 

ist,  sondern  allein  in  einer  solchen,  die  durch  den  "Wert 
des  Gedankens,  welchen  sie  darstellt,  ihren  Beruf,  ihr 
Recht  und  ihre  Kraft  bezeugt,  als  das  letzte  Gegebene, 
als  das  höchste  gestaltende  Prinzip  an  die  Spitze  der 
Wirklichkeit  zu  treten." 

Andrerseits  ist  L.  doch  zu  spekulativ  interessiert, 
um  dies  konsequent  durchzuführen  und  auf  eine  Meta- 
physik in  dogmatischem  Sinne,  auf  jede  Erkenntnis  der 
Dinge  an  sich  zu  verzichten,  etwa  in  der  Weise  Fr.  A. 
Lange's  und  diese  spekulativen  Neigungen  möchten  wir 
das  Hegeische  an  ihm  nennen.  Das  Selbstvertrauen 
der  Vernunft,  das  er  selbst  manchmal  seiner  kantischen 
Neigung  entsprechend  einen  sittlichen  Glauben  nennt, 
bildet  für  ihn  die  Brücke,  um  doch  einigen  erkenutnis- 
mässigen  Aussagen  über  die  Wirklichkeit  an  sich  zu 
gelangen.  Und  wir  dürfen  ihm  daraus  keinen  Vorwurf 
der  Inkonsequenz  machen;  denn  seine  Vorstellungswelt 
ist  eben  nicht  Abbild  einer  unfassbaren  Wirklichkeit, 
sondern  selbst  Wirklichkeit,  und  deshalb  der  meta- 
physischen Untersuchung  zugänglich.  Da  hören  wir 
nun,  was  der  Raum  in  Wirklichkeit  sei  und  was  ihm 
entspreche,  die  Intensität  des  Leidens  und  Wirkens, 
nämlich  in  den  Dingen,  dass  eine  eigenartige  Bedingungs- 
ordnung, wenn  auch  nicht  als  zeitlicher,  so  doch  als  ein 
wirklicher  Verlauf  unserer  Auffassung  der  Zeit  entspreche ; 
ferner  dass  die  logischen  Beziehungen  als  immanente 
Zustände  in  dieser  Dingwelt  realiter  sein  können,  dass 
die  Urerkenntnis  synthetischer  Art  sei,  weil  auch  im 
Realen  ursprüngliche  Synthesen  bestehen. 

Hier  sehen  wir  also  die  Neigung  zu  einem  volleren 
dogmatisch -spekulativen  Ausbau  transzendentalen  Rea- 
lismus. An  diese  Seite  des  Lotze sehen  Denkens  knüpft 
nun  Ed.  v.  Hartmann  seine  Kritik  an,  um  ihr  Halbheit 
und  Inkonsequenz  vorzuwerfen.  Der  transzendentale 
Realismus  ist  ihm  nicht  energisch  genug  durchgeführt, 
wie  er   an   den   einzelnen  Punkten   zeigt.     Seine  Kritik 


—    54    — 

geht  von  einem  festen  spekulativen  Standpunkt  aus  und 
da  wir  ja  in  L.  eine  kantische  und  hegelsche  Seite  an- 
erkennen, so  mag  Hartmann  von  seinem  Standpunkt  aus 
Recht  haben.  Doch  wollen  wir  der  interessanten  und 
lehrreichen  Kritik  in  den  einzelnen  Punkten  nachgehen. 
An  dem  Substanzbegriff  L.  tadelt  Hartmann  am 
meisten  dies,  dass  er  ihn  an  bewusste  Geistigkeit  nach 
Analogie  unsres  Seelenlebens  gebunden  denkt,  während 
schon  bei  unserem  geistigen  Leben  das  Bewusste  nur 
ein  geringer  Teil  sei,  und  der  Glaube  an  die  Geistigkeit 
der  Dinge  eine  ebenso  überflüssige  als  ungeheuerliche 
Zumutung  sei.  Den  Einzeldingen  gegenüber  vergisst 
L.  oft,  dass  es  doch  nur  eine  Substanz,  die  das  AU- 
Einen  gibt,  und  dass  Alles  nur  Aktion  dieser  Substanz 
ist;  er  fällt  manchmal  in  den  Herbartschen  Pluralismus 
zurück.  (S.  68.)  L.  wisse,  dass  weder  die  Fassung  als 
Ideen,  noch  als  Gesetz  genüge,  um  das  Dasein  der  Dinge 
zu  erklären;  es  fehlt  dabei  gerade  das,  was  ihnen  den 
Charakter  der  Wirklichkeit  gibt.  Welches  ist  nun  dieses 
Realprinzip?  Weder  kann  es  ein  Wirklichkeitstoff,  noch 
eine  einmalige  absolute  Position  sein ,  aber  doch  eine 
stetige  Setzung  der  realen  Beziehungen  durch  das 
Absolute.  „An  Stelle  des  unbegreiflichen  Begriffes  der 
stetigen  absoluten  Setzung  muss  der  klare  und  deutliche 
Begriff  des  stetigen  absoluten  Wollens  gesetzt  werden, 
und  haben  wir  damit  das  gesuchte  Realprinzip,  oder 
diejenige  Aktion  im  absoluten  Subjekt,  welche  zur 
intellektuellen  Anschauung  noch  hinzutreten  muss,  um 
den  Ideen  dingliche  Realität  zu  geben,  gefunden."  S.  72. 
L.  verderbe  sich  auch  den  Begriff  der  Realität  durch 
die  Einmischung  des  Fürsichseins,  der  Geistigkeit  oder 
Ichheit,  was  ihn  zu  dem  weiteren  Irrtum  treibe,  Realität 
sei  Selbständigkeit  nicht  nur  gegen  seines  Gleichen, 
sondern  auch  gegen  Gott,  und  dass  er  die  Möglichkeit 
einer  objektiv -realen  Erscheinung  leugnet,  vielmehr  nur 
eine  subjektive  kenne,  womit  aber  eigentlich  jede  Realität 


—     55     - 

unmöglich  gemacht  sei,  da  sie  eben  nur  in  einer  ob- 
jektiv-realen Erscheinung» weit,  nicht  aber  in  dem  über- 
seienden Wesen  der  absoluten  Substanz,  aber  ebensowenig 
in  der  reinen  Idealität  und  realitätslosen  Bildlichkeit 
der   subjektiven  Erscheinung  ihren   Ort   haben   können. 

In  Bezug  auf  die  Kausalität  habe  L.  Recht,  sie  nur 
bei  Annahme  das  Monismus  erklärbar  zu  finden,  aber 
es  sei  schon  wieder  eine  Hinneigung  zum  Pluralismus, 
sie  als  immanente  Beziehungen  in  den  Diugen  anzusehen, 
sie  seien  vielmehr  über  und  hinter  den  Dingen  im  abso- 
luten Sein. 

Auch  die  Methode  L.,  A  und  B  zu  isolieren,  um  an 
ihnen  die  Kausalität  zu  beobachten,  sei  ein  überflüssiger 
und  unphilosophischer  Umweg  durch  den  Herbartschen 
Pluralismus;  der  Blick  muss  immer  aufs  Ganze  gerichtet 
sein. 

Auch  hier  menge  L.  wieder  sein  verwirrendes  Für- 
sichsein  ein;  das  Merken  und  Spüren  in  den  Dingen 
sei  absolut  überflüssig;  Kausalität  sei  ohne  solche  Inner- 
lichkeit völlig  begreiflich;  höchstens  könnte  letztere 
Nebenwirkung  oder  Begleiterscheinung  sein.  Dieses 
überall  störende  Fürsichsein  hat  die  Tendenz  sich  zum 
allein  Wahren  zu  machen;  aber  damit  wäre  aller  reale 
Prozess  zu  einem  blos  subjektiven  Schein  verflüchtigt, 
und  Kausalität  wäre  magisch -mystische  Übertretung 
dieses  Scheins.  „Mag  man  sonst  über  die  Bedeutung 
des  Fürsichseins  in  der  Welt  und  in  einem  philosophischen 

System  noch  so  hoch  denken ,  in  der  Betrachtung 

der  Begriffe  Substanzialität,  Realität  und  Kausalität 
gehört  das  Fürsichsein  nicht  hin;  das  Fürsichsein  ist 
weder  Substanzialität  noch  Realität,  und  das  Spüren 
im  Fürsichsein  ist  nicht  Bedingung  für  die  Möglichkeit 
der  Kausalität.  Aber  gerade  zu  diesen  drei  Behauptungen 
spitzt  sich  die  L.'sche  Ontologie  zu,  und  in  ihnen  hat 
sie  ihre  charakteristische  Physiognomie  und  eigentüm- 
liche   Originalität."    S.  98.      So    ist   Hartmanns    Urteil 


—    56     — 

über  L.'s  Antologie  kurz  dies:  Das  Gate  nicht  neu,  das 
Neue  nicht  gut.  „Das  Endurteil  über  die  L.'sche  Onto- 
logie  kann  also  nur  dahin  lauten,  dass  die  aus  andern 
monistischen  Systemen  entlehnten  Wahrheiten  durch  die 
verkehrte  Einfügung  des  einzigen  originellen  Prinzips 
entwertet  und  entstellt  sind,  und  um  brauchbar  zu  werden, 
erst  wieder  von  demjenigen  gereinigt  werden  müssen, 
was  L.  eigentümlich  ist,  von  dem  Prinzip  des  Fürsich- 
seins."  S.  98. 

Gehen  wir  nun  zur  Kritik  der  Kosmologie.  L.  sucht 
die  Undenkbarkeit  einer  realen  Räumlichkeit  zu  beweisen, 
vergisst  aber,  dass  es  zwei  Arten  dieser  Ansicht  geben 
kann,  die  von  einer  substantiellen  und  die  von  einer 
nur  akzidentellen  oder  inhärenten  Realität  des  Raumes. 
(Ansicht  Schellings.)  L.  beweist  mit  viel  überflüssiger 
Mühe  die  Unmöglichkeit  der  erstem,  und  glaubt  dadurch 
zur  Annahme  der  Idealität  des  Raumes  ohne  weiteres 
berechtigt  zu  sein.  Diese  Alternative  ist  aber  falsch.  — 
Im  Grunde  ist  für  L.  die  Frage  schon  entschieden  durch 
seine  Ansicht,  dass  kausale  oder  Wechselwirkung  nicht 
zwischen  den  Dingen,  sondern  nur  in  der  bewussten 
Innerlichkeit  der  Dinge  soll  stattfinden  können  .... 
Wie  die  Ansicht  von  der  blossen  Innerlichkeit  der 
kausalen  Beziehungen  und  A^orgänge  auf  pluralistischen 
Boden  erwachsen  ist  und  dem  L. 'sehen  Monismus  wider- 
spricht, so  auch  die  aus  ihr  gezogene  Folgerung  von 
der  blossen  Innerlichkeit  der  räumlichen  Beziehungen." 
S.  108.  In  einer  längern  Auseinandersetzung  wird  dann 
gezeigt,  dass  die  L.'sche  Hypothese,  wenn  es  sich  darum 
handle  die  Wirklichkeit  zu  erklären,  höchst  kompliziert, 
unbestimmt,  unklar,  unbrauchbar  und  in  manchen  Punkten 
geradezu  undenkbar  sei.  Hartmanns  Schlussurteil:  „es 
ist  zwar  anzuerkennen,  dass  L.  die  Kant'schen  Beweise 
für  die  ausschliessliehe  Subjektivität  der  Räumlichkeit 
als  nichts  beweisend  vorwirft  und  durch  sein  intelligibles 
Beziehungsnetz  von  stetiger   dreifacher  Mannigfaltigkeit 


—    57     — 

mit  einem  Fiiss  auf  den  Boden  des  transzendentalen 
Realismus  hinübertritt,  aber  es  ist  zu  bedauern,  dass  er 
durch  sein  pluralistisch  -  ontologisches  Vorurteil  von  der 
rein  subjektiven  Innerlichkeit  der  Wechselwirkung 
zwischen  den  Dingen  sich  davon  hat  abhalten  lassen, 
auch  den  andern  Fuss  nachzuziehen  und  ganzer  und 
voller  transzendentaler  Realist  zu  werden."  S.  126. 


In  Bezug  auf  die  Zeit  kann  Hartmann  unserm 
Philosophen  mehr  Lob  spenden;  hier  ist  er  realistischer 
gesinnt;  in  der  Metaph.  sogar  rein  transzendentaler 
Realist,  die  leere  Zeit  wird  wieder  unnötig  breit  von 
L.  bekämpft.  Doch  kommt  er  hier  zur  richtigen  Er- 
kenntnis, dass  reale  Zeitlichkeit  eine  dem  Verlauf  des 
Wirklichen  inhärierende  Daseinsform,  eigenste  Natur  des 
Wirklichen  sei.  Wie  er  das  dem  Raum  Korrelate  in 
Intensitätsverhältnissen  der  realen  Kraftwirkungen  fand, 
so  hätte  er  das  der  Zeitanschauung  entsprechende  ein- 
dimensionale Netz  intelligibler  Beziehungen  in  dem 
logischen  Verhältnis  von  Grund  und  Folge,  Bedingung 
und  Bedingten  suchen  können.  L.  sieht  hier  die  Un- 
möglichkeit dieses  Beginnens  ein;  Grund  und  Folge 
wären  ja  koexistierend;  Kausalität  ist  aber  nicht  um- 
kehrbar. Suezession  ist  nun  einmal  schlechterdings  nicht 
aus  zeitlosen  Momenten  zu  deduzieren. 

Von  dieser  richtigen  Lehre  falle  L.  in  der  Religions- 
philosophie wieder  ab,  da  er  sich  nicht  entschliessen 
kann,  Gott  in  den  zeitlichen  Verlauf  mit  hineinzuziehen ; 
er  verkennt  dabei,  dass  die  unzeitliche  Ewigkeit  Gottes 
sich  sehr  wohl  mit  einer  zeitlichen  Thätigkeit  dieses 
Wesens  verträgt,  weil  er  noch  in  abstraktem  Monismus 
(Identifikation  von  Potenz  und  Aktus)  stecke,  anstatt 
sich  zu  einem  konkreten  Monismus  hindurchzuringen. 

L.  wünsche  eine  Fortdauer  der  Vergangenheit,  eine 
Erhaltung  der  Güter  und  Individuen  aus  einem  berech- 


—    58     — 

tigten  und  einem  unberechtigten  Grunde,  Soweit  diese 
Sehnsucht  berechtigt  ist,  brauche  man  nicht  ihr  zu  liebe 
den  zeitlichen  Verlauf  für  illusorisch  zu  erklären,  sie 
werde  völlig  befriedigt  durch  die  Teilnahme  der  Indivi- 
duen am  absoluten  Subjekt.  —  Der  Weltgrund  ist  nach 
Hartmann  verbesserungsbedürftig.  „Es  entsteht  also  die 
Aufgabe,  einen  Gottesbegriff  zu  konstruieren,  welcher 
dem  Rechnung  trägt,  nicht  einen  solchen,  der  ihn  wider- 
spricht; letzteres  thut  aber  der  mangellos  unbewegliche, 
sich  ewig  gleichbleibende  Gott,  dessen  Schöpfungszweck 
als  in  jedem  Augenblick  gleichmässig  erfüllt  gilt."  S.  142. 
Für  Freiheit  in  den  Geschöpfen  bleibt  kein  Raum, 
weil  sie  ja  nur  Aktionen  des  absoluten  Subjektes  sind, 
also  scheinbare  neue  Anfänge  in  ihnen  ja  doch  nur  neue 
Anfänge  in  Gott  wären  5  für  Freiheit  in  Gott  ist  kein 
Raum,  weil  sie  der  logischen  Notwendigkeit  des  teleo- 
logischen Fortgangs  widersprechen  würde."  S.  143.  L.'s 
Abneigung  gegen  den  Determinismus  beruhe  ja  doch 
nur  auf  Stimmung  und  praktischen  Postulaten,  sei  also 
ohne  Belang.  „Die  ganze  religionsphilosophische  üm- 
kehrung  des  realistischen  Ergebnisses  der  Metaphysik 
in  Bezug  auf  die  Zeit  ist  damit  als  unberechtigt  auf- 
gezeigt, und  der  transzendentale  Realismus  der  L. 'sehen 
Zeitlehre  bleibt  in  voller  Kraft."  S.  143,  S.  148  ff.  folgt 
nun  noch  eine  Beurteilung  der  L. 'sehen  Lehre  von  den 
Denkformen.  Da  L.  eine  Einheit  der  Substanz,  Vielheit 
ihrer  Aktionen,  eine,  wenn  auch  immanente  Kausalität 
in  den  Dingen  kenne,  so  erkenne  er  damit  thatsächlich 
die  erkenntnistheoretisch -transzendente  Bedeutung  und 
Gültigkeit  der  Kategorieen  Einheit  und  Vielheit,  Sub- 
stanz und  Akzidens,  Realität,  Kausalität  und  Wechsel- 
wirkung an  und  ebenso  diejenige  der  logischen  Denk- 
gesetze. Aber  er  bleibe  sich  auch  hier  nicht  treu;  „das 
eine  Mal  will  er  mit  Hülfe  des  Denkens  das  Seiende 
a  priori  bestimmen  und  die  Metaphysik  aus  der  Logik 
deduzieren,    das  andre  Mal  will   er   uns   zum  absoluten 


—     59     — 

Agnostizismus  verurteilen,  indem  er  alles  Erkennen,  nicht 
blos  das  unsrige  ....  für  unfähig  erklärt,  etwas  andres 
als  subjektiven,  formell  wahren,  aber  materiell  unwahren 
Schein  zu  produzieren."  Der  Begriff'  der  formalen 
Wahrheit,  d.  h.  die  widerspruchslose  Übereinstimmung 
des  Bewusstseinsinhaltes  mit  sich  selbst  und  seiner  inneren 
Mannigfaltigkeit  unter  einander)  kann  niemals  den  der 
materiellen  Wahrheit  (d.  h.  die  Übereinstimmung  des  Be- 
wusstseinsinhaltes mit  der  korrelativen  Wirklichkeit) 
ersetzen,  wie  L.  glaubt."  S.  150.  Vielleicht  ist  aber 
diese  formale  Wahrheit  doch  zugleich  eine  materiale, 
wenn  wir  uns  erinnern ,  dass  die  Vorstellungswelt  der 
uns  gegebene  Teil  der  Wirklichkeit  ist;  es  braucht  dann 
nicht  erst  eine  Brücke  hinüber  zur  Dingwelt  gesucht 
werden,  die  llartmann  in  einer  unmittelbaren  praktischen 
Gewissheit  des  Affiziertwerdens  durch  einen  fremden 
Zwang,  eine  Aussenwelt  findet. 

Und  angenommen  auch ,  L.'s  Erkenntnislehre  führe 
theoretisch  zum  Illusionismus  und  Skepticismus,  so  hat 
er  doch  in  seinen  Werturteilen,  in  der  praktischen  Ver- 
nunft ein  Mittel,  die  wahre  Wirklichkeit  zu  erfassen. 
Hartmann's  Schlussurteil  ist:  Da  Lotze  sich  in  Betreff 
der  Denkformen  ebenso  wenig  wie  in  Betreff  der  Zeit- 
lichkeit aus  seinem  Schwanken  herausarbeiten  und  zu 
fester  Stellungnahme  auf  Seiten  des  transzendentalen 
Realismus  entschliessen  konnte,  so  zeigt  seine  Erkenntnis- 
theorie hier  eine  klaffende  Lücke.  Damit  ist  seinem 
ganzen  System  der  Eckstein  weggezogen,  so  dass  es 
haltlos  in  der  Luft  schwebt." 


Man  muss  dieser  Kritik  Hartmanns  zugestehen, 
dass  sie  einheitlich  und  konsequent  ist  und  manche 
Doppelheit  in  L.'s  Philosophie  aufdeckt.  H.  ist  ein 
Ausläufer  der  ihrerzeit  so  imponierenden  spekulativen 
Philosophie  Deutschlands,   Schelling  nahe  stehend,    und 


—     60     — 

teilt  in  seiner  Philosophie  alle  Vorzüge  und  Schatten- 
seiten jener  älteren.  Gerne  wird  man  den  Mut  und  die 
Kraft,  bis  zu  dem  Letzten  erkennend  vorzudringen, 
anerkennen  und  bewundern,  und  wünschen,  dass  es  nie 
an  Männern  fehlen  möge,  die  dies  immer  wieder  wagen. 
Aber  Kants  Kritizismus  hat  uns  doch  zu  sehr  die  Augen 
geöffnet  über  die  Schwierigkeit,  ja  Unmöglichkeit  dieses 
Unternehmens.  Kants  Philosophie  bleibt  eine  Stufe  in 
der  Entwicklung  unsrer  deutschen  Philosophie,  die  nie- 
mand ohne  Schaden  übersehen  wird.  Ist  ja  doch  selbst 
Hartmann  nicht  unbeeinflusst  davon:  denn  seine  und 
Schopenhauers  starke  Betonung  des  Willens  gegenüber 
der  früheren  Bevorzugung  des  Intellekts  beruht  gewiss 
neben  einer  vervollkommneteren  Psychologie  auch  auf 
den  Einfluss  von  Kants  praktischer  Vernunft. 

So  wenig  auch  H.  Gutes  an  L.  lassen  will,  so  stehen 
sie  sich  doch  nicht  so  fern,  auch  Hartmann  nimmt  einen 
Glauben,  eine  unmittelbare  Erkenntnis  als  Fundament 
seiner  Philosophie  an.  Andrerseits  nähert  sich  wieder 
L.  an  Hartmann  durch  sein  spekulatives  Interesse,  das 
er  wiederholt  betont  z.B.  Schluss  der  Logik:  „Aber  im 
Angesicht  der  allgemeinen  Vergötterung,  die  man  jetzt 
der  Erfahrung  um  so  wohlfeiler  und  sicherer  erweist,  je 
weniger  es  noch  jemanden  gibt,  der  ihre  Wichtigkeit 
und  Unentbehrlichkeit  nicht  begriffe,  im  Angesicht  dieser 
Thatsache  will  ich  wenigstens  mit  dem  Bekenntnis,  dass 
ich  eben  jene  vielgeschmähte  Form  der  spekulativen 
Anschauung  für  das  höchste  und  nicht  schlechthin  un- 
erreichbare Ziel  der  Wissenschaft  halte,  und  mit  der 
Hoffnung  schliessen,  dass  mit  mehr  Mass  und  Zurück- 
haltung, aber  mit  gleicher  Begeistrung  sich  doch  die 
deutsche  Philosophie  zu  dem  Versuche  immer  wieder- 
erheben werde,  den  Weltlauf  zu  verstehen  und  ihn  nicht 
blos  zu  berechnen."  Nur  ist  Hartmann's  Monismus  mehr 
ontologisch  wie  der  Fichte's.  Hartmann's  System  mag 
konsequenter  und  systematischer  sein,  aber  es  hat  eben 


—    61     — 

auch  den  Nachteil  der  spekulativen  Philosophie,  über 
Dinge  Erkenntnisse  haben  zu  wollen,  die  unserm  Denken 
entzogen  sind,  und  deshalb  manchmal  an  Mythologie  zu 
grenzen. 

Hartmann's  Kritik  zeigt  uns  die  schon  früher 
konstatierte  kantisch -hegelsche  Doppelheit  in  L.  noch 
deutlicher.  Alle  die  halben  Ansätze  zum  transzenden- 
talen Realismus,  ferner  der  Monismus  und  seine  oben- 
erwä'inte  spekulative  Neigung  sind  ein  Erbe  unsrer 
spekulativen  Philosophen;  die  von  Hartmann  gerügte 
Idealität  des  Raumes,  der  Zeit  (in  der  Religionsph ), 
der  Denkformen,  der  manchmal  hervortretende  logische 
und  metaphysische  Skeptizismus  und  Agnostizismus  sind 
kantisch.  Hartmann  betont  sehr  die  Abhängigkeit  L.'s 
von  Weisse  und  auch  L.  gesteht  den  tiefen  und  mass- 
gebenden Einfluss  desselben  auf  seine  Philosophie  zu. 
cf.  Hartm.  S.  25 :  Mit  seinem  Freund  und  Lehrer  Weisse 
fühlt  L.  sich  auf  das  engste  verbunden  und  bekennt 
freudig  mit  der  dankbarsten  Erinnerung,  dass  er  ihm 
„nicht  nur  der  Anregungen  auf  weiten  Gebieten  gar 
viele,  sondern  auch  den  positiveren  Gewinn  verdanke, 
über  einen  engeren  Kreis  von  Gedanken  so  belehrt  und 
in  ihm  befestigt  worden  zu  sein,  dass  er  diesen  wieder 
aufzugeben  weder  eine  "Veranlassung  ausser  ihm,  noch 
einen  Trieb  in  ihm  gefühlt  habe."  Yon  ihm  hat  L. 
seinen  Glauben  an  die  Persönlichkeit  Gottes  und  an 
ein  Reich  freier  persönlicher  Geister,  die  Gott  gegenüber 
eine  gewisse  Selbständigkeit  behaupten. 

Yon  diesem  Glauben,  den  L.  nicht  lassen  will, 
kommen  die  von  H.  getadelten  Halbheiten  her.  Er  ist  der 
Grund,  warum  er  ein  bewusstes  Fürsichsein  und  eine 
relative  Selbständigkeit  der  Aktionen  Gott  gegenüber 
festhalten  will,  warum  er  überhaupt  bewusste  Geistigkeit 
und  Ichheit  so  hoch  stellt,  warum  er  Gott  nicht  in  den 
Zeitverlauf  hereinziehen  lassen  will,  warum  er  so  hart 
nackig  die  Persönlichkeit  Gottes   verteidigt,    warum   er 


—    62    — 

eine  Freiheit  der  Geschöpfe  beibehalten  und  die  Sehn- 
sucht der  Individuen,  an  dem  von  ihnen  geschaffenen 
Gütern  individuellen  Genuss  zu  haben,  nicht  unbillig 
findet. 

H.  ist  als  Philosoph  und  Pantheist  konsequent,  in 
L.  streitet  Pantheismus  und  Theismus;  vielleicht  gibt 
er  uns  deshalb  eine  schlechtere  Philosophie,  aber  gewiss 
bietet  er  uns  eine  befriedigendere  Weltanschauung. 
Denn  wir  sind  im  Unterschied  von  H.  der  Ansicht,  dass 
gerade  in  der  kantischen  Seite  und  den  theistischen 
Neigungen  als  deren  Ergänzung  das  Wertvolle  der  L. 
Philosophie  liegt,  und  wenn  uns  der  Einwand  gemacht 
würde,  das  sei  denn  nicht  mehr  Philosophie,  sondern 
Religion,  so  entgegnen  wir,  dass  es  eine  vollständig 
anerkannte  und  gerechtfertigte  Brücke  von  der  Philosophie 
zur  Religion  gibt,  die  Kant  gezeigt  hat,  wenn  er  sagt, 
dass  er  die  Anmassungen  der  Philosophie  zurückweisen 
musste,  um  dem  Glauben  Platz  zu  machen. 

Es  wird  eben  doch  dabei  bleiben,  dass  eine  auf 
rein  logisch -philosophischer  Grundlage  entwickelte  und 
aufgebaute  Weltanschauung  nie  die  Bedeutung,  die  Kraft 
und  den  Einfiuss  erlangen  und  nie  die  Befriedigung 
gewähren  kann,  die  mau  von  der  richtigen  Weltanschauung 
erwarten  darf  und  muss,  dass  die  Philosophie,  wenn  sie 
auf  sich  selbst  angewiesen  bleibt,  überhaupt  unfähig 
ist,  eine  abschliessende  Weltanschauung  zu  finden 
und  wenn  sie  es  doch  versucht,  nur  W^orte  statt  Wahr- 
heiten bieten  kann,  dass  die  Philosophie  vielmehr  die 
Aufgabe  hat,  über  sich  selbst  hinauszuweisen  und  hinaus- 
zuführen zu  dem  Glauben  an  die  Offenbarung.  Die 
Philosophie  in  diesem  Sinne  bearbeitet  zu  haben,  wenn 
auch  nicht  ganz  rückhaltslos,  halten  wir  für  L.'s  grösstes 
Verdienst, 

Die  Erkenntnis  der  Unzulänglichkeit  des  mensch- 
lichen Denkens  gegenüber  den  transzendenten  Wahr- 
heiten   sollte    die    Philosophie    nicht     mehr    aufgeben. 


^     63    — 

vielmehr  nach  dem  Seinsollenden  als  letztem  Grunde 
des  Seienden  suchen,  wie  L.  es  wünscht.  Da  die  Ideale 
des  Seinsolleuden  nur  in  der  Geschichte  zu  finden  sind, 
so  würde  die  Philosophie  auch  dazu  geführt  werden,  von 
den  unfruchtbaren  ontisch-kosmologischen  Spekulationen 
abzulassen  und  nach  den  Idealen  in  der  Geschichte  zu 
fragen,  diese  nach  ihrem  "Werte  zu  beurteilen,  so  Ge- 
schichtsphilosophie anstatt  Seinsphilosophie  zu  werden; 
auf  diesem  Wege  würde  auch  die  so  sehnlich  erwünschte 
Versöhnung  zwischen  Philosophie  und  Offenbarung  gewiss 
zu  erreichen  sein. 

Dass  wir  mit  solcher  Beurteilung  der  L.'schen 
Philosophie  nicht  Unrecht  thun,  bestätigt  auch  die 
Darstellung  Erdmanns  in  seiner  Gesch.  Phil.  II  S.  841f 
„Schwerlich  wird  man  fehlgreifen,  wenn  man  zu  den  früh 
unerschütterlich  gewordenen  Überzeugungen,  ja  zu  ihrem 
Kulminationspunkt  die  rechnet,  dass  der  genügende 
Grund  für  den  Inhalt  alles  Seins  und  Geschehens  in 
der  Idee  des  Guten  liege,  oder  dass  die  Welt  der  Werte 
zugleich  der  Schlüssel  für  die  Welt  der  Formen  sei. 

Dieser  Grundanschauung  gemäss  kann  er  in  seiner 
Metaphysik  seinen  Standpunkt  als  teleologischen  Idealis- 
mus bezeichnen  und  sagen,  dass  die  Metaphysik  ihren 
Anfang  nicht  in  sich  selbst  habe,  sondern  in  der  Ethik." 


Lebenslauf  des  Verfassers. 


Als  Sohn  des  Gerbereibesitzers  Georg  Pohl  mann 
und  dessen  Ehefrau  Margare  tha,  geb.  Wer  nie  in,  wurde 
ich  Hans  Adam  Pohl  mann  zu  Goldkronach  am 
23.  April  1872  geboren  und  durch  die  Taufe  in  die  christ- 
liche Kirche  evangel.-luth.  Konfession  aufgenommen. 
In  meinem  Heimatsstädtchen  besuchte  ich  die  Elementar- 
schule, von  1882  an  das  Gymnasium  zu  Bayreuth, 
welches  ich  im  Jahre  1891  absolvierte.  Ich  wandte 
mich  dann  dem  Studium  der  Theologie  und  Philosophie 
zu,  welchem  ich  4  Semester  in  Erlangen  und  ebenso 
lange  in  Berlin  oblag.  Die  letztgenannte  Universität 
mit  ihrem  vielseitigen  und  reichen  geistigen  Leben  übte 
auf  mich  einen  mächtigen  und  für  meine  "Weltanschauung 
entscheidenden  Einfluss  aus,  ihr  habe  ich  das  Beste 
meines  geistigen  Besitzes  zu  verdanken.  Im  Jahre  1895 
unterzog  ich  mich  mit  Erfolg  der  theologischen  Auf- 
nahmsprüfung in  Ansbach. 

Nach  erfüllter  Militärpflicht  wurde  ich  im  folgenden 
Jahre  ordiniert  und  als  Pfarrvikar  zum  Dienst  in  der 
bayerischen  Landeskirche  berufen. 

Die  Wahrheit  zu  suchen  und  ihr  zu  dienen,  be- 
zeichnete Lessing  als  des  Menschen  edelstes  Recht  und 
dauerndstes  Glück;  ihr  seien  mit  Gottes  Hilfe  auch 
fernerhin  meine  bescheidenen  Dienste  geweiht! 


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B  Föhlraann,   Hans  Adam 

329ß  Die  Sirkenntnistheorie  Rud 

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