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Full text of "Die Erlöserin, Roman"

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Die Erlöſerin. 


— 


Zweiter Band. 


Die Erlöferin, 


Roman 


Fanny Cewald. 


Zweiter Band. 


Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten. 


Berlin, 1873. 
Druck und Verlag von Otto Janke. 


Erſtes Capitel. 


Emanuel hatte ſich bei ſeiner Reiſe nur die un⸗ 
abweisliche Ruhe gegönnt, und doch war an den glück⸗ 
lichen Ufern des Genferſees der Frühling ſchon im 
Erblühen, als er ſein dortiges Landhaus wiederſah, 
denn die Beförderungsmittel waren auch für den Be— 
güterten, der mit Extrapoſt nach eigenem Ermeſſen 
reiſte, noch ſehr unvollkommen. Aber ſelbſt der er⸗ 
freuliche Abſtand zwiſchen der eiſigen Starrheit des 
nordiſchen Winters und dem lieblichen Erwachen einer 
ſüdlicheren Natur vermochte diesmal nicht, ihm das 
Herz zu löſen und den umdüſterten Sinn zu erheitern. 

Er hatte es vermieden, die Gräfin wiederzuſehen, 
ſondern ihr nur angezeigt, daß er das Schloß verlaſſe, 
und ſich dabei mit ſchwerer Anklage gegen ihre un⸗ 
berufenen Eingriffe in ſeine Verhältniſſe und Plane 
ausgeſprochen. Sie hatte darauf ihre Handlungsweiſe 
zu rechtfertigen, eine Ausgleichung und Verſtändigung 
herbeizuführen verſucht, Emanuel war jedoch für eine 
ſolche Ueberredung in jenem Augenblicke noch nicht 


Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 1 


2 


zugänglich geweſen, und des Pfarrers Abſicht, den 
Frieden und die Eintracht in der gräflichen und der 
freiherrlichen Familie auf Koſten ſeines Kindes zu er— 
halten, war damit mißglückt. 

Das Opfer, welches er der Tochter auferlegt, hatte 
Niemandem gedient, als nur der Gräfin, der es ge— 
lungen war, ihre Abſichten in jeder Hinſicht durch— 
zuſetzen. Nicht nur die Verbindung ihres Bruders 

mit der Pfarrerstochter war verhindert, ſondern auch 
Miß Kenney und Hulda waren, wie die Gräfin es 
gewünſcht hatte, für die nächſte Zeit zu einander ge⸗ 
führt und an einander gebunden worden, ohne daß 
die Gräfin nöthig gehabt hätte, darauf mit beſonderer 
Beſtimmung einzuwirken. Miß Kenney hatte aus 
eigenem Antriebe erklärt, daß ſie unter den obwalten⸗ 
den Umſtänden Hulda nicht ſich ſelber überlaſſen könne, 
daß ſie es vielmehr als eine Pflicht erachte, in des ihr 
theuren Mädchens Nähe zu verweilen, bis es ſich ge— 
faßt und in ſich ſelbſt zurechtgefunden haben werde. 
| Es war aber ein ſtilles und freudenarmes Leben, 
das Hulda nach ihrer Geneſung in der Pfarre führte. 
Das Frühjahr war wiedergekommen, die Kirſchbäume 
blühten wieder ſo wie ſonſt, indeß Hulda's weißes 
Kleid flatterte nicht ſo luſtig als im verwichenen Jahre 
zwiſchen den blühenden Bäumen auf der ſtraffgeſpannten 
Leine, und man rüſtete ſich nicht mehr auf den Feſt⸗ 
beſuch der Gäſte aus dem Amte, die ſonſt in jedem 
Jahre gekommen waren. Hulda ſaß ſtill und einſam in 
ihrer Trauerkleidung bei der Arbeit, und wenn ihre 
Wangen ſich auch wieder gerundet und geröthet hatten, 


3 


jo blickten ihre Augen doch nicht mehr mit der hoff— 
nungsvollen Neugier der Kindheit und der friſchen 
Jugend in die Zukunft. Das Gewicht ihrer Erinne⸗ 
rungen hielt ihre Gedanken an der Vergangenheit feſt, 
und kein Tag verging, an dem ſie ſich nicht fragte: 
„Habe ich das Alles denn erlebt? und wenn ich es 
erlebte, wie konnte es vorübergehen gleich einem 
Traume? Wie kann er ferne von mir bleiben, da 
mein Herz ihn ruft zu jeder Stunde, da ſein Ring 
es mir ſagt und immer ſagt: „Halt feſte, wie der Baum 
die Aeſte, wie der Ring den Demant, Dich und mich 
trennt Niemand.“ 

Das Pfingſtfeſt ſtand wieder vor der Thüre, aber 
weder Hulda noch der Vater hatten daran denken 
mögen, Mamſell Ulrike zu beſonderem Beſuche auf⸗ 
zufordern. Sie hatte immer, wenn ſie gekommen war, 
dem Pfarrer ſowohl als Hulda wehe gethan mit ihren 
Andeutungen wie mit ihren Fragen, mit ihrem Bemit⸗ 
leiden wie mit ihrem Tröſten. 

Nur der Amtmann ſprach wie früher mit ver— 
trauensvoller Freundſchaft in der Pfarre vor, wenn 
ſeine Geſchäfte ihn des Weges führten, und Miß 
Kenney, welche nach Hulda's Geneſung ihre Wohnung 
in dem Gartenflügel des Schloſſes wieder bezogen 
hatte, kam zum Oefteren zu ihren Freunden, da der 
Amtmann ihr auf Anordnung der Gräfin ein kleines 
bequemes Fuhrwerk zur freien Verfügung hatte ſtellen 
müſſen. ö 

Hulda ging niemals nach dem Schloſſe, wenn 
ihre alte Freundin ſie nicht ausdrücklich dahin beſchied. 

1 * 


4 


Sie mochte den Vater nicht verlaſſen, mochte Mam— 
ſell Ulrike nicht unnöthig begegnen, und die Stätten, 
an denen alle ihre Erinnerungen hafteten, ſtanden 
ohnehin immerfort vor ihrer Seele. Wenn nicht eine 
Liebespflicht ſie in das Dorf rief, kam ſie oft die ganze 
Woche hindurch nicht über den Bereich ihres Gärtchens 
hinaus. Sie hatte draußen Nichts zu ſuchen, ſie hatte 
auch gar Nichts zu erwarten. Und doch wartete ſie 
und wartete von Tag zu Tag, und wie lang ihr die 
einzelne Stunde auch wurde, die Tage ſchwanden in 
ihrer unterſchiedsloſen Eintönigkeit ihr ſo raſch dahin, 
daß es ſie verwunderte, wenn die Kirchenglocken wieder 
den Sonntag einläuteten, und wieder eine Woche um 
war, ohne daß eine Kunde zu ihr gekommen war von 
ihm, der ihr die Welt war, ihre ganze Welt. 

Die Gräfin hatte dem Pfarrer nach der Herſtellung 
ſeiner Tochter noch einmal geſchrieben, ihn wiederholt 
für die verſtändige Selbſterkenntniß und Selbſtbeſchrän⸗ 
kung zu beloben, mit denen er in dieſem Falle ge⸗ 
handelt, und ſie hatte ihn dabei verſichert, daß er und 
ſeine Tochter in allen Fällen auf ſie und auf den 
Beiſtand der beiderſeitigen Familien rechnen könnten. 
Wenn Hulda etwa Plane und Wünſche für ihre Zu— 
kunft hegen ſollte, für welche ſie einer Förderung be— 
dürfe, ſo brauche ſie dies nur auszuſprechen, um der 
Gewährung ſicher zu ſein. Indeß Hulda hatte keine 
Pläne, keine Wünſche außer dem einen, dem Niemand 
mehr als eben die Gräfin entgegen war. Ihre Auf- 
gabe lag eng begrenzt vor ihren Augen. Selbſt die 
leidenſchaftliche Sehnſucht, die ſie gerade in Augen⸗ 


5 


blicken der tiefſten Entmuthigung hinausziehen wollte 
in das Leben und in die Welt, in welcher der Geliebte 
lebte, in welcher ein Zufall ihn ihr entgegenführen 
konnte, hatte ſie in ſich wie eine Sünde zu unter⸗ 
drücken. Denn Befreiung aus den Banden, welche ſie 
an dieſe Stelle feſſelten, konnte ihr nur der Tod des 
Vaters bringen — und ſie erſchrak vor ſich ſelber, wenn 
ſie ſich mit ihrem hoffenden Gedanken unwillkürlich 
auf dem Wege antraf, der jenſeits ſeines Grabes für 
ſie anfing. 

Arbeit, fleißige Arbeit, das war die Stütze, an 
welche ſie ſich jetzt allein zu halten hatte, und das 
tüchtige Wiſſen ihres Vaters wie der Schatz von Sprach— 
kenntniſſen, welchen ihre alte Freundin ſich angeeignet 
hatte, kamen ihr weſentlich dabei zu Hilfe. Die Ar⸗ 
beit bewahrte ſie vor dem Verſinken, aber ſie konnte 
ihr doch die Flügel nicht verleihen, ſich in fröhlichem 
Aufſchwunge zu jenem unabſehbaren Hoffen zu erheben, 
wie die Jugend es bedarf, und wie das Leben in wei— 
ten wechſelnden Bereichen es ſelbſt Demjenigen er⸗ 
möglicht, der ſich die Kraft dazu verloren glaubte. 


Zweiles Gapitel. 


Konradine war glücklicher daran als Hulda. 

Sie hatte bei ihrer Ankunft in der Reſidenz die 
Ernennung zur Stiftsdame bereits ausgefertigt vor⸗ 
gefunden und ſich augenblicklich zur Abreiſe in das 
Stift angeſchickt, um, wie das Ordensgeſetz es heiſchte, die 
erſten ſechs Monate nach der Ernennung in der Stille 
deſſelben zuzubringen. 

Es war ihr ſonderbar zu Muthe geweſen und ſie 
hatte in gezwungener Faſſung die Zähne aufeinander⸗ 
gepreßt, als ſie zum erſtenmale verſuchsweiſe das 
ſchwarze wollene Kleid mit der dicken Gürtelſchnur 
und den weiten Aermeln, das weiße Buſentuch, die 
dichte, vielfaltige Haube mit dem ſchwarzen Schleier 
angelegt, und das Ordenskreuz auf ihrer Bruſt bes 
feſtigt, welche ſie während der Monate zu tragen hatte, 
die ſie in jedem Jahr in dem Stifte verweilen mußte. 
Aber ihr eigenes Bild überraſchte ſie, wie es ihr aus 
dem Spiegel dann entgegentrat. Die Regelmäßigkeit 
ihrer Geſtalt und ihrer Züge erſchien ernſter und rei⸗ 
ner in der ſtrengen dunklen Tracht; für ihre hellen, 


7 


klaren Farben, für ihr röthlich ſchimmerndes Haar 
bildete der ſchwarze Schleier einen unvergleichlichen 
Hintergrund; und weil ſie fi in der Kleidung wohl- 
gefiel, welche ſie von der Gewohnheit ihrer bisherigen 
Geſellſchaft abſchied, gab ſie ſich der Hoffnung hin, daß 
auch die zeitweilige Abgeſchiedenheit von dieſer Geſell⸗ 
ſchaft ſelbſt, ihr wohlthun, und ſie in der Einſamkeit 
des Kloſters Sammlung und Befriedigung in ruhigem 
Selbſtgenießen finden werde. 

Die Trennung von der Mutter fiel ihr dabei 
nicht ſchwer. Sie hatten Beide das Bedürfniß, nur 
den eigenen Neigungen zu leben. Konradine betrat 
alſo ihre neue Heimat mit jener Zuverſicht, welche man 
ſonſt nur gegenüber von freigewählten 1 
zu empfinden pflegte. 

Das Stift war ſchön gelegen. Es war ein ſtatt 
licher Bau, den die einzelnen Wohnungen der Stifts- 
damen mit ihren Gärten freundlich umgaben, und der 
Empfang, den man Konradinen bereitete, war dazu 
angethan, ihrer Selbſtſchätzung durchaus zu genügen. 

Es hatte natürlich in der Gemeinſchaft der Stifts— 
damen kein Geheimniß bleiben können, durch welches 
Schickſal ihnen die neue Genoſſin zugeführt worden 
war, und ihr Antheil an Konradine hatte ſich dadurch 
geſteigert. Manche unter den älteren Damen, welche, 
wie die gräfliche Aebtiſſin, auf eigene ſchwere Lebens⸗ 
wege zurückzuſehen, oder Herzenskränkungen zu beklagen 
hatten, waren gern bereit, mit der Verlaſſenen, falls 
ſie danach verlangte, über die Treuloſigkeit und den 
Leichtſinn der Männer erbarmungslos den Stab zu 


* 


8 


brechen, während die jungen, durch die Bedeutung 
ihrer einflußreichen Familien zu den Präbenden ge— 
langten Fräulein, ſich Konradinen mit jenem Antheil 
näherten, den romantiſche Erlebniſſe der Jugend immer 
einzuflößen pflegen. Im Grunde hatte Jede von 
ihnen nicht übel Luſt, wie die neue Stiftsdame von 
einem fürſtlichen Manne geliebt zu werden, beſonders 
weil Jede ſich es zutraute, ihn beſſer feſſeln und feſt— 


halten und ihr Lebenslos glücklicher geſtalten zu kön- 


nen, als es Konradine vermocht zu haben ſchien. 
Indeß weder zu dem Anſchluß an die Einen 
noch an die Anderen fühlte dieſe ſich geneigt, wenn 
ſchon ihre neue Lebenslage ihr bald nicht mehr mißfiel. 
Die Sorge für die Herſtellung ihres eigenen Haus— 
haltes, die dem Menſchen angeborene Freude an dem 
eigenen Beſitz und Heerde, beſchäftigten ſie angenehm. 
Die Möglichkeit, ſich, wenn ſie danach verlangte, völlig 
abzuſchließen, war ihr in hohem Grade erwünſcht, 
und ihr ſcharfer Verſtand fand ſich von der Beob— 
achtung des anſehnlichen Frauenkreiſes unterhalten, 
auf den ſie zunächſt angewieſen war, während ihm 
durch mannigfache Gäſte und einen lebhaften Verkehr, 
mit den in der Provinz angeſeſſenen vornehmen Fa⸗ 
milien, auch die Abwechslung nicht fehlte. 
Weil Konradine durch die unruhige Reiſeluſt 
ihrer Mutter von Kindheit an ein unſtätes Wander⸗ 
leben geführt hatte, that es ihr wohl, in dem Stifte 
jetzt nach eigenem Ermeſſen ungeſtört verweilen zu 
können, und da ſie es aus richtigem Selbſtgefühle 
vorſichtig vermied, der Theilnahme und der Neugier 


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ihrer Gefährtinnen durch irgendwelche Mittheilungen 
über ſich ſelbſt zu entſprechen, obgleich ſie mit ihrer 
ſicheren Weltgewandheit und natürlichen Gefälligkeit 
Allen eine heitere Stirne zu zeigen und freundlich zu 
begegnen wußte, rühmten die Aebtiſſin und die älteren 
Stiftsdamen ihr bald nach, daß ſie ſich mit würdigem 
Stolze zu beſcheiden und zu tröſten vermocht habe, 
und wie ihre Faſſung und Haltung einen Seelenadel 
und eine Charakterſtärke bekundeten, denen man die 
höchſte Achtung nicht verſagen könne. Dieſe An⸗ 
erkennung wurde Konradinen für den Augenblick zu 
einer ſie erhebenden Kraft. Sie war an Beachtung, 
an Bewunderung gewöhnt, aber dieſelben hatten ſie 
immer nur gefreut, wenn ſie ſich hatte ſagen dürfen, 
ihre Schönheit, ihr Geiſt, oder welche ihrer anderen 
Eigenſchaften eben dabei in Betracht gekommen waren, 
verdienten die gute Meinung, die man von ihr hegte. 
Denn während eine leicht zu befriedigende Eitelkeit 
durch Huldigungen zu feiernder Selbſtgenügſamkeit 
verleitet wird, ſo reizten dieſelben in dieſem wie in 
allen früheren Fällen nur den Ehrgeiz Konradinens 
auf, und ſie fand es ihrer Würde angemeſſener, ein 
Schickſal wie das ihre mit Faſſung zu ertragen, als 
der Welt das Schauſpiel einer untröſtlichen Verlaſſenen 
zu geben. 

Es war ihr eine Beruhigung, daß Niemand in 
ihrer jetzigen Umgebung die Einzelheiten dieſes Schick— 
ſals kannte, Niemand ſie, wie die Mutter es in guter 
Abſicht oft gethan hatte, darauf anſah, ob ſie ge— 
ſchlafen oder ob ſie in zornigen Thränen die ſchleichen— 


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den Stunden der Nacht gezählt habe; und es währte 
denn auch nicht lange, bis ſie es zu bereuen anfing, 
daß ſie Emanuel ſo tief in ihrem Herzen hatte leſen 
laſſen. — Was hatte es ihr gefrommt? Was konnte 
es ihr frommen? Sie hätte ihn jetzt gern vergeſſen 
machen mögen, was ſie ihm im Schloſſe in leiden— 
ſchaftlicher Erregung unaufgefordert anvertraut hatte. 
Sie verſtand ſich jetzt ſelbſt nicht mehr in jenem 
heftigen Verlangen nach Theilnahme, das fie damals 
ihm gegenüber gefühlt hatte, und da ſie ſich in ihrer 
neuen Umgebung als einen Gegenſtand der Verehrung 
behandelt fand, fing die Vorſtellung, daß ein Anderer, 
daß eben Emanuel ſie bemitleide und fie für beflagens- 
werth halte, ſie zu drücken und zu peinigen an. 

Sie waren nicht beſonders übereingekommen, daß 
ſie einander ſchreiben würden. Es hatte ſich, da ſie 
ſich ſo nahe getreten waren, ganz von ſelbſt verſtanden, 
und Beide hatten eine Erleichterung darin gefunden, 
ſich in den Briefen frei und völlig auszuſprechen. 
Emanuel, der in der Stille ſeines einſamen Land⸗ 
hauſes ganz auf ſich und ſeine Erinnerungen und 
Betrachtungen angewieſen war, empfand die Zerſtörung 
der Hoffnungen, in denen er ſich eine Zeit hindurch 
gefallen hatte, je länger um jo ſchwerer; und wie er 
ſich auch anfangs dagegen ſträuben mochte, es tauchte 
allmälig ein Schuldbewußtſein in ihm auf, das ihm 
das Herz beſchwerte. 

Wenn er in melancholiſchem Sinnen auf der 
Terraſſe ſeines Gartens umherging und es ſich aus— 
malte, wie er Hulda in dem Schatten dieſer Laurus⸗ 


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gänge umherzuführen, wie er ihrem ſtaunenden Blicke 
die Herrlichkeit dieſer ſo lieblichen und zugleich ſo er— 
habenen Natur zu zeigen gehofft hatte, und wenn es 
ihm dann wehe that, auf dieſe erwartete Freude ver— 
zichten zu müſſen, ſo konnte er den Ausruf nicht 
unterdrücken: „Und ſie, wie mag ſie meiner, wie mag 
ſie hieher denken!“ Gerade in ſolchen Stunden aber, 
in denen ſeine Erinnerungen ſich mit erhöhter Zärt— 
lichkeit zu dem geliebten Mädchen zurückwendeten, 
konnte er es am wenigſten verſchmerzen, daß Hulda's 
Liebe nicht ſtark genug geweſen war, ihr töchterliches 
Pflichtgefühl zu überwinden. Wenn er in dem einen 
Augenblicke ſich ſagte, an ihm, an dem unabhängigen, 
lebenserfahrenen Manne, wäre es geweſen, das junge 
Mädchen über alle Bedenken fortzuheben, es mit allen 
Mitteln, auch gegen des Vaters Willen, zu der Heirath 
mit ihm zu überreden, da der Vater nachträglich über 
dem Glücke ſeines Kiudes wohl ſeine Einwendungen 
vergeſſen haben würde, ſo trat gleich daneben ſein 
altes Mißtrauen gegen ſich ſelber feindlich wider jene 
gute Stimmung auf, und ſelbſt der Stolz des alten 
Edelmannes machte ſich dabei geltend. Er fragte ſich, 
ob Hulda's Kindesliebe entſchieden haben würde, wie 
ſie es gethan, hätte ein ſchönerer Mann vor ihr ge— 
ſtanden? Nun er ſie nicht mehr vor ſich ſah, der 
zärtliche Blick ihres Auges, die ſchmerzliche Angſt und 
der verzweifelnde Ton ihrer Stimme ihn nicht mehr 
berührten, konnte er bisweilen an ihr zweifeln. Er 
konnte ſich ſagen, daß es ihm am Ende doch auch 
nicht zugeſtanden habe, um die Hand eines Mädchens 


zu betteln, dem er jo große Opfer zu bringen, dem 
er einen Namen zu bieten bereit geweſen war, welchen 
zu tragen die Tochter der edelſten Geſchlechter des 
Landes ſtolz ſein durften. Sehnſucht nach der Ent— 
fernten und der Vorſatz, ſie zu vergeſſen, wechſelten 
dann oft in raſcher Folge in ihm ab, bis er in ſeiner 
Einſamkeit wieder heimiſch wurde und der lebhafte 
briefliche Verkehr mit Konradinen ihm dieſelbe weniger 
fühlbar zu machen begann. 8 

Es verfloß keine Woche, in welcher er nicht 
Nachricht von ſeiner Freundin und Vertrauten aus 
dem Stift erhielt, und jeder ihrer Briefe wiederholte 
es ihm, daß ſie in ihren jetzigen Verhältniſſen einer 
Befriedigung genieße, die ſie vorher nicht gekannt, ja 
die ſie für eine Natur wie die ihre nicht erreichbar 
geglaubt habe. Sie ſprach ihm von ihrer Leidenſchaft 
für den Prinzen, von ihrer erſten Verzweiflung über 
deſſen Untreue mit einer ſo klaren Ruhe, als wären 
es Ereigniſſe, welche nicht ſie ſelber, ſondern eine 
Andere in lang vergangenen Tagen betroffen hätten; 
und weil ſie für dieſe Selbſtüberwindung auch die 
Bewunderung ihres Freundes erntete, kam ſie dahin, 
ſich immer mehr in dieſem neuen Standpunkte feſt⸗ 
zuſetzen, bis ſie ſich endlich dazu emporſchwang, die 
Handlungsweiſe des Prinzen durch die Vorſtellungen 
und Anſchauungen erklärlich zu nennen und zu ent— 
ſchuldigen, in denen er erzogen worden war. Sie 
erkannte es gegen Emanuel ganz ausdrücklich an, daß 
der Prinz wohl eine Pflichterfüllung in einer Hand- 
lungsweiſe habe erblicken können, die jedem anderen, 


13 


nicht an den Stufen eines Thrones geborenen Manne 
zur Unehre und Schande gereicht haben würde. Daß 
es ihrem ſtolzen Herzen leichter dünkte, der unab— 
weislichen Nothwendigkeit geopfert, als leichthin auf— 
gegeben worden zu ſein, das ſprach ſie dem Freunde 
allerdings nicht aus; aber ſie verſicherte ihm, daß es 
ihr wohlthue, jetzt ohne Zorn und Widerwillen Des— 
jenigen gedenken zu können, den ſie ſo ſehr geliebt 
habe; und, fügte ſie hinzu, gerade darin werde es 
ihr klar, daß nicht in der erwiderten Liebe, ſondern 
in dem Lieben, und vor Allem in dem Beruhen auf 
ſich ſelbſt, das höchſte Glück des Menſchen liege. 

Wie viel ſie davon anfangs als eine Wahrheit 
n ſich ſelbſt empfand, das zu beſtimmen möchte 
ſchwierig ſein; aber die Anſchauungsweiſe, in welche 
ſie ſich ſo lebhaft hineindachte, und die ſie eben des— 
halb auf alle ihre Verhältniſſe zur Anwendung brachte, 
übte allmälig ihren Einfluß auf ſie aus. Sie ward 
endlich Herr und Meiſter über fie, und was im Be 
ginne vielleicht nur ein freiwilliger Selbſtbetrug ge— 
weſen war, das bildete ſich im Verlauf der Tage in 
ihr zu einer Gemüthsverfaſſung aus, die errungen zu 
haben, die behaupten zu können, ſie mit Genugthuung 
erfüllte. Es that ihr wohl, ſich, wie ſie es nannte, 
wieder gefunden zu haben, wieder die alte Konradine 
geworden zu ſein. Sie verſicherte, ihr Stiftskleid mit 
wahrem Stolze zu tragen, weil es, ohne die Freiheit 
ihrer ſpäteren Entſchließungen im mindeſten zu beein⸗ 
trächtigen, doch eine Art von äußerlicher Schranke auf⸗ 


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richte zwiſchen ihr und jenen anderen unvermählten 
Frauenzimmern, denen erſt durch die Ehe ein Rang 
und jene Selbſtſtändigkeit der Stellung gegeben werde, 
deren ihr weltliches Ordenskreuz ſie jetzt theilhaftig 
machen würde, auch wenn ſie ſie nicht durch ihr 
eigenes Bewußtſein ohnehin beſäße. 

Da ſie die Vorzüge einer adeligen Geburt ſehr 
hochhielt, war fie, eben jo wie ihre Mutter, von der 
erſten Stunde an in ihrem Innern dem bürgerlichen 
Heirathsplane ihres Freundes abgeneigt geweſen. Hulda's 
eiferſüchtiges Gebahren gegen ſie hatte ſie gegen Die 
ſelbe perſönlich eingenommen, und wenn ſie ſich in 
ihrer damaligen Stimmung auch nicht entſchieden 
gegen die Abſichten des Freundes ausgelaſſen hatte, 
weil ſie ſelber der Gewalt von Standesrückſichten 
zum Opfer gefallen war, ſo legte ſie ſich jetzt in der 
Beziehung keinen Zwang mehr auf. 

Sie machte in ihren Briefen an Emanuel keinen 
Hehl daraus, daß ſie die Sorge und das Bedauern, 
mit denen er an Hulda denke, übertrieben finde. Sie 
habe, ſchrieb ſie ihm, nie ein beſonderes Gewicht 
auf die ſogenannte erſte Liebe zu legen vermocht. 
Liebe ſei die höchſte Kraftäußerung eines vollent⸗ 
wickelten Herzens, und auch das Herz müſſe ſeine 
Kraft erſt üben und erproben lernen, ehe es jener 
großen Liebe fähig werde, die das ganze Weſen eines 
Menſchen ſo hinnehme, daß ihr, wenn ſie eine 
Täuſchung erleide, keine andere mehr folgen könne. 
Er möge ſich einmal ehrlich fragen, ob er das junge, 


15 


kaum der K Kindheit entwachſene Mädchen einer ſolchen 
Liebe fähig glaube? ob er wähne, daß Hulda's Leben 
nicht auch ohne ihn, eine ſie völlig befriedigende und 
vielleicht ihren Anlagen noch gemäßere Geſtaltung ges 
winnen könne? und ob er wirklich glaube, daß ein 
ſolches junges Kind den blöden, ſchüchternen Traum 
ſeines Frühlingsmorgens nicht vergeſſen, daß es un— 
tröſtlich ſein und bleiben könne, wenn ſelbſt eine reife 
Frau wie ſie, Ruhe und Frieden wieder gefunden 
habe, nachdem ein höchſtes, frei erwähltes und ihr 
bereits zu eigen geweſenes Glück ihr entriſſen und 
zertrümmert worden ſei? 

Emanuel blieb ihr, und wohl auch ſich, die be— 
ſtimmte Antwort auf dieſe Frage ſchuldig. Es war 
nach der Kenntniß, die er von Hulda's Eigenartigkeit 
beſaß, ein Etwas in ihr, was fie von anderen Mäd— 
chen unterſchied. Die ſpröde, tiefe Innerlichkeit ihres 
völlig unentweihten Herzens verbot ihm, den gewöhn⸗ 
lichen Maßſtab an ſie zu legen. Was für hundert 
Andere richtig ſein konnte, fand keine Anwendung auf 
fie und ihre glaubens⸗ und vertrauensvolle Weltfremd⸗ 
heit. — Aber er ſtand mit Konradine in einem un⸗ 
ausgeſetzten lebhaften Verkehr, und Hulda war ihm 
ganz entrückt. 

Einen Brief, den er bald nach ſeinem Fortgehen 
von dem Schloſſe an ſie gerichtet, hatte der Pfarrer 
ihm mit der Bitte zurückgeſendet, er möge ſeine Tochter 
ſchonen; und Miß Kenney, an die er ſich ſpäter ge— 
wendet, um Nachricht von Hulda zu erhalten, hatte 


16 


ihm betheuert, daß dieſelbe ſich mit jedem Tag erhole, 
daß die Kraft und Lebensluſt der Jugend ſich auch an 
ihr heilbringend bewähren. Sie erwähnte, daß Hulda 
ſie bei einer kleinen Reiſe nach der Stadt begleitet 
habe, daß ſie acht Tage dort verweilt und ihre junge 
Freundin durch die Eindrücke, welche ſie dort empfan— 
gen, namentlich durch die erſten theatraliſchen und 
muſikaliſchen Aufführungen, denen ſie beigewohnt habe, 
im höchſten Grade ergriffen, ja völlig von ſich ſelber 
abgezogen worden ſei. Dem Baron werde alſo der— 
einſt die Genugthuung gewiß nicht fehlen, das Mäd— 
chen, dem er ſo viel Antheil zugewendet, heiter und 
dem Leben wiedergegeben zu ſehen. Es werde bei an— 
gemeſſener Zerſtreuung und Behandlung ſicherlich ge— 
lingen, Hulda die Hoffnungen vergeſſen zu machen, in 
denen ihre Jugend ſich eine kurze Spanne Zeit hin⸗ 
durch gewiegt habe; nur Ruhe zu innerer Sammlung 
müſſe man ihr gönnen, und Emanuel möge ihr die— 
ſelbe durch erneute Annäherung nicht unmöglich machen. 

Er las das, las es wieder, es machte ihn allmälig 
ungewiß in ſeiner Neigung, beſonders, da der Amt- 
mann, der ihm im Hochſommer eine geſchäftliche Mel- 
dung zu machen hatte, ſich in gleichem Sinne äußerte. 
Er berichtete am Ende ſeines Briefes ganz unaufge— 
fordert, im Pfarrhauſe ſtehe Alles wohl und ſeine 
Pathe blühe wieder wie eine Roſe. — Der Amtmann 
hatte genau gewußt, weshalb er dieſe Nachricht gab. 
Er hielt Etwas auf Hulda, er gönnte alſo dem Baron 
den Glauben nicht, daß ſich das Mädchen ſeinetwegen 
härme und verzehre. | 


17 


Man hatte eben nicht viel Mühe, Emanuel die 
Anſicht aufzudringen, daß ein ſchönes junges Mädchen 
ihn vergeſſen, ſeine Liebe verſchmerzen könne. Wehe 
that es ihm — aber es enthob ihn einer großen 
Sorge, einer ernſten Reue — es befreite ſein Ge⸗ 
wiſſen. 


Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 5 2 


Drittes Capitel. 


— H— 


Darüber ging der Sommer hin. Als die Ernte⸗ 
zeit vorüber und der Herbſt im Anzuge war, fing Miß 
Kenney davon zu ſprechen an, daß ſie bei ihren vor⸗ 
gerückten Jahren und ihrer ſchwankenden Geſundheit, 
welche ihr doch öfters den Rath eines Arztes wünſchens⸗ 
werth mache, unmöglich daran denken könne, noch einen 
zweiten Winter in dem entlegenen Schloſſe zuzubringen. 
Die Gräfin, welche ſich eben damals auf dem Schloſſe 
der Fürſtin befand, deren erſter Niederkunft man ent⸗ 
gegenſah, machte alſo ihrer alten Freundin augenblicks 
den Vorſchlag, ſich vorläufig in dem Hauſe nieder⸗ 
zulaſſen, welches die gräfliche Familie in der Haupt⸗ 
ſtadt der Provinz beſaß, und dort abzuwarten, wie die 
Gräfin nach der Entbindung und Geneſung ihrer 
Tochter, ſich über die Wahl des eigenen Winteraufent⸗ 
haltes entſchieden haben würde. 

Miß Kenney zeigte ſich damit einverſtanden. Als 
ſie in der Pfarre von ihrem Entſchluſſe Kunde gab, 
nahmen ihn nicht nur der Pfarrer, ſondern auch Hulda 
als etwas Selbſtverſtändliches mit Ruhe hin. Sie 


29 


hatten nicht erwarten können, die Freundin der Gräfin 
dauernd in ihrer Nähe zu behalten, der Pfarrer war 
an Einſamkeit gewöhnt, und Hulda meinte Alles ent⸗ 
behren, jeden Verluſt ertragen zu können, nachdem ſie 
an ſich erfahren hatte, daß ſie zu leben vermochte ohne 
den Mann, an welchem ihre Seele hing und auf den 
alle ihre Gedanken gerichtet waren. Dazu war ſie 
von einer anderen Sorge ſchwer bedrängt. 

Die Geſundheit ihres Vaters war ins Schwanken 
gekommen. Es zeigte ſich mit einer allgemeinen Schwäche 
eine Abnahme des Augenlichtes, die bedenklich wurde, 
und der herbeigerufene Arzt hatte den Ausſpruch ge— 
than, daß der Pfarrer womöglich nach der Hauptſtadt 
gehen müſſe, um ſich dort der nachhaltigen Behand- 
lung eines Augenarztes zu bedienen. Das war aber 
nicht ohne weiteres möglich. Der Pfarrer bedurfte dazu 
eines Urlaubes von der ihm vorgeſetzten Behörde, es 
war nöthig, einen Stellvertreter für ihn anzuſtellen, 
und bei ſeiner Mittelloſigkeit kamen in erſter Reihe 
auch die Ausgaben in Betracht, welche ein mehrmonat⸗ 
licher Aufenthalt in der Hauptſtadt in ſeinem Gefolge 
haben mußte. Ueber dieſe letzte Sorge half jedoch die 
theilnehmende Gunſt der Gräfin fort, ſobald ſie durch 
Miß Kenney Nachricht davon erhielt. 

Sie rieth dem Pfarrer, ſich zugleich mit ihrer 
alten Freundin nach der Stadt zu begeben und Hulda 
natürlich mit ſich zu nehmeu. Dort in ihrem Stadt⸗ 
hauſe, das er ja als Erzieher ihres verklärten Gatten, 
in ſeinen jungen Jahren lange genug bewohnt habe, 
| 95 


20 


möge er ſich in den ihm vertrauten und lieben Zim⸗ 
mern einrichten, und als ihr Gaſt ſo lange verweilen, 
als es ihm erwünſcht und nöthig ſei. Daß ſie 
den Stellvertreter beſolde, den man ihm geben werde, 
daß ſie alle die Koſten decke, welche die Kur und 
der Aufenthalt in der Stadt erfordern würden, be— 
zeichnete ſie als etwas Selbſtverſtändliches, da es ſich 
ja darum handle, ihren Gütern den treuen Seelſorger, 
ihrem Hauſe den vielbewährten Freund in erneuter 
Rüſtigkeit noch ferner zu erhalten. 

Das hob ſchnell alle Schwierigkeiten, und der 
ſchlichte Sinn des Greiſes an die Abhängigkeit von der 
gräflichen Familie von jeher gewöhnt, fand ſich durch 
den Gedanken beruhigt und erfreut, daß ihm der Bei⸗ 
ſtand dieſes edlen Hauſes auch jetzt nicht fehle, und daß 
er alſo auf denſelben auch über ſeinen Tod hinaus 
für ſeine Tochter rechnen dürfe. Anders aber wirkte 
dieſe Gunſt der Gräfin auf das junge Mädchen. 

Hulda konnte keinen Zweifel darüber hegen, daß 
man das Anerbieten der Gräfin als ein Glück zu be⸗ 
trachten und es dankbar anzunehmen habe. Indeß wie 
ſie ſich dies auch vorhielt, wie redlich ſie ſich's ſagte, 
daß es hier auf Nichts ankomme als auf die Möglich⸗ 
keit, das Augenlicht und das Leben ihres Vaters zu 
erhalten, es war in ihrem Innern ein unüberwind⸗ 
liches Widerſtreben dagegen, das Haus der Gräfin zu 
betreten, ihrer Großmuth irgend Etwas zu verdanken. 
Schon während der wenigen Tage, welche ſie im Som⸗ 
mer mit Miß Kenney in der Stadt verlebt hatte, war 
es ihr beſtändig geweſen, als wolle eine geheime Ge⸗ 


21 


walt fie nicht in jenen ernſten, Schönen Räumen dul⸗ 
den, und ſelbſt die Ausſicht auf das Neue jener Ge⸗ 
nüſſe, theilhaftig zu werden, an welche auch nur zu 
denken, etwas Berauſcheudes für fie hatte, konnte das 
gekränkte Ehrgefühl in ihr nicht zum Schweigen brin⸗ 
gen, ſo oft ſie ſich's auch im Gebete als einen falſchen 
Stolz und einen Mangel an Kindesliebe, ja als eine 
Auflehnung gegen die Wege Gottes zum Vorwurfe 
machte. 

Der Herbſt brach früh herein, Miß Kenney und 
der Pfarrer wünſchten, nun die Angelegenheiten ein⸗ 
mal geordnet waren, die Ueberſiedelung nach der Stadt 
ſo viel als möglich zu beſchleunigen; und das Laub 
war noch nicht von den Bäumen abgefallen, als der 
Pfarrer wieder, wie vor langen Jahren, aus dem 
Fenſter ſeines einſtigen Wohnzimmers in den Garten 
des gräflichen Stadthauſes hinausſah, in deſſen grad⸗ 
linigen Alleen Miß Kenney, von Hulda begleitet, ihren 
täglichen Spaziergang machte. 

Es war das erſte Mal, daß der Pfarrer feine Kirche 
für längere Zeit verließ, daß er ſeiner Amtsthätigkeit 
nicht obzuliegen hatte, und die volle Muße dünkte dem 
müden Manne ſüß, da der Ausſpruch des Arztes, daß 
er ſich dieſelbe nothwendig zu vergönnen habe, ſein 
Gewiſſen beruhigt. Er kam ſich wie verjüngt vor, 
wenn er in dem Bücherſaale umherging, deſſen Bücher 
er einſt geordnet hatte. Er nahm den Katalog zur 
Hand, den er in doppelten Exemplaren ausgeführt, 
und freute ſich, daß feine Handſchrift trotz ſeiner vor⸗ 
gerückten Jahre noch nicht weſentlich verändert war. 


22 


Daß ihm unter ſeinen Amtsbrüdern und in manchen 
anderen Aemtern noch hie und da einer der Freunde 
lebte, mit denen er dereinſt ſtudirt und die ihn nicht 
vergeſſen hatten, obſchon er ſie inzwiſchen nur ſelten 
und immer nur in flüchtigem Beſuche wiedergeſehen, 
das erhöhte ſein Behagen. 

Auch Miß Kenney fühlte ſich in der Stadt zu⸗ 
frieden. Sie liebte den Verkehr mit Menſchen, ſie 
war heimiſch und ſehr geſchätzt in den adeligen Fa⸗ 
milien, mit welchen die Gräfin befreundet und ver- 
wandt war, und die Freigebigkeit der Letzteren legte 
es ihrer alten Freundin förmlich als eine Pflicht auf, 
für ſich und den Pfarrer die Einrichtungen ſo zu 
treffen, als ob ſie in ihrem eigenen Hauſe wären, und 
zu ſchalten und zu walten wie in einem ſolchen. Es 
kamen auf dieſe Weiſe häufig Beſuche zu Miß Kenney, 
auch der Pfarrer entbehrte der Geſellſchaft nicht, und 
Hulda wurde bisweilen von ihrer Beſchützerin, die eine 
große Theaterfreundin war, zu den beſten daun 
in das Theater mitgenommen. 

Das waren denn für Hulda Stunden, tu welchem 
ſie Alles zu vergeſſen vermochte: die Gefahr, die ihrem 
Vater drohte, und ihr eigenes Herzeleid. Sie ward 
ſich ſelbſt entrückt. Sie ſtand im Geiſte ſelber an der 
Stelle der Schauspielerin, deren Rolle fie am mäch⸗ 
tigſten ergriff. Sie durchlebte und durchlitt, was ſie 
auf der Bühne erleben und erleiden ſah; und wenn 
es Liebesworte, Liebesklagen waren, neidete ſie es den 
Künſtlerinnen, daß fie ſagen, daß fie ausſprechen durf⸗ 
ten, was ſie ſelber ſtill in ſich verſchließen mußte. 


23 


Sie mußte lächeln, wenn fie fi) dieſes Gedankens 

einmal bewußt ward, konnte ſich es aber dennoch nicht 
verſagen, dem Vater, dem ſie vorzuleſen hatte, die 
Monologe und die Scenen nachahmend zu wiederholen, 
welche ihr am mächtigſten in's Herz gedrungen waren. 
Der Pfarrer ließ ſich das gerne gefallen. Er freute 
ſich der Wärme, mit welcher das Schöne und Erhabene 
auf die Tochter wirkte; und ſie, wenn auch nur für 
Stunden, von ſich und von ihren trüben Erinnerungen 
abgezogen, ſie heiter und erhoben zu ſehen, machte ihn 
ſelber froh und glücklich. 

Man war ſchon ſeit ein paar Monaten in der 
Stadt, als die Nachricht von der bevorſtehenden An- 
kunft einer der größten Bühnenkünſtlerinnen jener Tage, 
die Theaterfreunde in eine geſpannte Erwartung ver⸗ 
ſetzte. Wer Gelegenheit gehabt hatte, die berühmte 
Gabriele früher einmal ſpielen zu ſehen, erinnerte ſich 
deſſen als eines wahrhaften Genuſſes. Nicht nur in 
tragiſchen Rollen nannte man ſie unvergleichlich, auch 
das Muntere und Scherzhafte ſollte ihr in demſelben 
Maße gelingen, denn ſie war immer noch jung und 
ſchön zu nennen. Vor Allem aber konnten Diejenigen, 
welche ihr perſönlich in der Geſellſchaft begegnet waren, 
ſich nicht genug thun in der Schilderung ihrer natür⸗ 
lichen Anmuth, ihrer ſelbſtgewiſſen Freimüthigkeit, ihres 
edlen Künſtlerſtolzes; und allen dieſen Ausſagen ſtimmte 
Miß Kenney bei. Sie hatte die Künſtlerin zuerſt auf 
der Bühne in der Reſidenz bewundert und ſie danach 
in Italien wiedergeſehen, als dieſelbe bei einer ihrer 
Erholungsreiſen im Haufe der Gräfin faft täglich em⸗ 


24 


pfangen worden war. Seitdem waren allerdings meh- 
rere Jahre verfloſſen. 

Man berechnete, daß Gabriele wohl die erſte 
Hälfte der Dreißig überſchritten haben müſſe, und wie 
man eines Abends in dem kleinen Zimmer von Miß 
Kenney wieder einmal auf die Erwartete zu ſprechen 
kam, that eine der anweſenden Perſonen der Gerüchte 
Erwähnung, welche über die Künſtlerin im Schwange 
waren. | 

Man erzählte, daß fie die ausgezeichneteſten Män⸗ 
ner, Künſtler, Schriftſteller und Fürſten zu ihren Füßen 
geſehen, und wie ein junger, begabter Schauſpieler ſich 
aus Liebe zu ihr das Leben genommen habe. Dann 
wieder hieß es, ſie habe für einen berühmten Muſiker, 
dem ſie ihre Neigung zugewendet, große Opfer aller 
Art gebracht und ſei von ihm leichtſinnig auf⸗ 
gegeben und verlaſſen worden; nnd nachdem man ihr 
noch dieſe und jene vorübergehenden Herzensangelegen⸗ 
heiten nachgeſagt hatte, behauptete man ſchließlich auf; 
das Beſtimmteſte, daß ſie ſeit einigen Jahren heimlich 
einem regierenden Fürſten vermält ſei, und daß dieſe 
morganatiſch geſchloſſene Ehe nur deshalb verheimlicht 
werde, weil Gabriele vor allem Anderen Künſtlerin 
ſei und es ſich ausdrücklich vorbehalten habe, auf der 
Bühne bleiben zu dürfen, ſo lange ſie dazu den An⸗ 
trieb in ſich fühle. 

Wohlwollen und jene Abgeneigtheit, welche die 
regelrechte Mittelmäßigkeit allem Außerordentlichen 
gegenüber naturgemäß empfindet, welterfahrene Duld⸗ 
ſamkeit und unnachſichtige Sittenſtrenge machten ſich 


25 


auch in dieſem kleinen Kreiſe in der Beurtheilung der 
berühmten Künſtlerin geltend. Darin aber ſtimmte 
man überein, ihre großen Eigenſchaften des Geiſtes und 
des Herzens anzuerkennen. Nur eine alte entfernte 
Verwandte der Gräfin blieb hartnäckig bei ihrem Tadel. 
Sie behauptete, man dürfe über die mancherlei Ver⸗ 
irrungen und über die Verſtöße gegen das Herkommen 
nicht hinwegſehen, welche Gabriele ſich habe zu Schul- 
den kommen laſſen; denn die Nachſicht, welche man in 
dieſem Betracht gegen weibliche Berühmtheiten, nament⸗ 
lich gegen Bühnenkünſtlerinnen übe, ſei überhaupt nicht 
zu verantworten. 

Die Heftigkeit, mit welcher fie ihre Meinung vers 
trat, reizte die duldſamen Verehrer der Künſtlerin zu 
lebhafter Entgegnung, und da man, auf dieſen Weg 
gelangt, einander raſch zu den äußerſten Grenzen der 
Meinungsverſchiedenheiten hindrängte, ſo ſtand die alte 
Dame bald nicht an, es unumwenden auszuſprechen, 
daß in ihren Augen eigentlich jedes Frauenzimmer, 
welches die Bühne betrete, das Anrecht verliere, von 
der guten Geſellſchaft und von geſitteten Frauen als 
ihresgleichen behandelt zu werden. Sie für ihre Perſon 
habe ſich niemals entſchließen können, mit einer Frau 
Verkehr zu halten, welcher der Erſtebeſte öffentlich ſein 
Mißfallen bezeigen könne, wenn er das Geld an ſein 
Eintrittsbillet einmal gewendet habe. Natürlich rief 
das eben ſo heftige Entgegnungen hervor und die 
Unterhaltung war nahe daran, gegen die gute Gewohn⸗ 
heit des Kreiſes, eine perſönlich verletzende Wendung 
zu nehmen, als der Pfarrer ſich in das Mittel legte. 


h 26 

Er hatte den Erörterungen, hinter ſeinem Licht⸗ 
ſchirm ſitzend, bis dahin mit ſchweigender Aufmerkſam⸗ 
keit zugehört, denn das bevorſtehende Gaſtſpiel Ga⸗ 
brielens intereſſirte ihn, obſchon ſein Zuſtand ihm den 
Beſuch des Theaters unterſagte. Er hatte aber in 
ſeinen jungen Jahren das Theater ſehr geliebt und die 
Eindrücke, welche er dort empfangen, nie vergeſſen. 
Wie er in ſeiner langjährigen Einſamkeit Frau und 
Tochter an den Werken unſerer großen Dichter heran⸗ 
gebildet und erhoben, hatte er ihnen an manchem 
langen Winterabende davon geſprochen, in welcher 
Weiſe die Dichtungen, die er beſonders liebte, von den 
großen Bühnenkünſtlern, die er noch geſehen, von 
einem Eckhoff, einem Schröder, einem Iffland auf⸗ 
gefaßt worden waren. Er hatte ſeine achtſam Zu⸗ 
hörenden damit entzückt, als würden ſie der Genüſſe 
ſelber theilhaft, die er ihnen zu ſchildern verſuchte. 
Seiner verſtändigen Bildung wie ſeinem milden Sinne 
mißfiel deshalb die Herbigkeit, mit welcher jene Frau 
ſich gegen die abweſende Bühnenkünſtlerin zu äußern 
für nöthig hielt. 

„Ich brauche es wohl nicht erſt beſonders hervor— 
zuheben,“ ſagte er endlich, „daß ich die Bedenken gegen 
alles öffentliche Auftreten von Frauen theile, und daß 
ich ein ſolches für Frauen, die mir angehören, nicht 
gutheißen würde. Gott hat die Frau ihrer Natur nach 
zur Gefährtin eines Mannes, zur Mutter Einer Fa⸗ 
milie, zur Mitbegründerin Eines Hauſes beſtimmt, 
und die Frau, welche dieſe Schranke überſchreitet, ver⸗ 
läßt damit die Grenze des Bereiches, für welches ſie 


27 


Gott erſchaffen hat, wofern es nicht Liebespflichten und 
Werke der Barmherzigkeit ſind, welche ſie zu einem 
Heraustreten aus ihrem natürlichſten Wirkungskreiſe 
veranlaſſen. Sie iſt innerhalb der Familie fraglos vor 
allem Irren und Fehlen, vor allen Anfechtungen und 
verleitenden Leidenſchaften am ſicherſten behütet.“ 
Die Dame, welche ſich gegen Gabriele ausge⸗ 
ſprochen hatte, glaubte damit gewonnenes Spiel zu 
haben. Sie ſtimmte alſo dem Pfarrer lebhaft bei, bis 
dieſer noch einmal das Wort nahm. „Vielleicht,“ 
meinte er, „hat man das eigentliche Weſen der Frauen 
in jenen Zeiten richtiger gewürdigt, in denen man 
ihnen das Auftreten vor allem Volk verwehrte, und 
ſelbſt die Frauenrollen von Jünglingen und Knaben 
zur Darſtellnng bringen ließ, wie dies, unbeſchadet 
ihrer Wirkung auf die Menge, bei den Alten und bis 
weit hinein in unſere Zeit bei den größten dramatiſchen 
Werken geſchehen iſt. Aber da wir die Welt und die 
Zuſtände in ihr doch in der Entwickelung anzuerkennen 
haben, welche ſie ohne Zulaſſung der Vorſehung nicht 
genommen haben könnten, ſo dürfen wir denjenigen 
Frauen, welche ihre Lebensaufgabe außerhalb der ſchö— 
nen Schranken einer Häuslichkeit zu erfüllen haben, 
keine zu ſtrengen Richter ſein. Wer in der Darſtellung 
großer Leidenſchaften und gewaltiger Seelenkämpfe 
ſeine Gedanken immer mit hochgeſpannten Empfin⸗ 
dungen zu erfüllen hat, wer ſich gewöhut, ſie in dem 
Augenblicke des Darſtellens als die ſeinen vor aller 
Welt Ohren auszuſprechen, wer als Schauſpielerin ſich 
mit ſeiner Perſon dem Blicke und dem Urtheil von 


28 


Tauſenden von Männern immer auf das Neue preis— 
zugeben und ihren Beifall auf jede Weiſe zu erringen 
nöthig hat, deſſen Gefühlsleben muß mit der Zeit 
nothwendig durch ſolche gewaltige Anſpannung über⸗ 
ſpannt werden, der muß eine gewiſſe Zartheit und 
Keuſchheit des Empfindens einbüßen, und allmählich 
das rechte Maß für die Grenze der Sitte, die rechte 
Würdigung für die ſchlichte Erhabenheit verlieren, mit 
welcher ein gottergebenes Gemüth ſich in engſter Be⸗ 
ſchränkung und Zurückgezogenheit ſchweigend in ſtiller 
** zu beſcheiden und ſich glücklich zu 
fühlen vermag.“ | 
„Ich ſehe nicht, Her Pfarrer,“ meinte die Sitten⸗ 
richterin, „daß Sie meiner Anſicht widerſprechen. Sie 
beſtätigen nur für die Allgemeinheit, was ich von einer 
beſtimmten Perſon behauptete, und Sie verurtheilen 
die Schauſpielerinnen im Grunde härter noch als ich.“ 
„Nein!“ entgegnete der Greis; „ich bin weit da⸗ 
von entfernt, die Frauen zu verdammen, die wir zu 
beklagen haben, weil ihnen mit der zarten Scheu der 
ſich achtenden Weiblichkeit, die ſie in ihrer Lebenslage 
ſchwer bewahren können, die ſchönſte Zierde und die 
ſicherſte Schutzwehr ihres Geſchlechtes nothwendig ver- 
loren gehen muß. Gerade deshalb hat man aber es 
mit doppelter Anerkennung zu betrachten, wenn eine 
Frau, die ſich den großen Prüfungen und Verſuchungen 
einer Schauſpielerin ausſetzt, ſich im Leben Achtung 
und die Freundſchaft edler Menſchen zu erwerben weiß, 
wie ich es hier von der Künſtlerin, die Sie erwarten, 
doch vielfach habe ausſagen hören.“ 


29 


Die Unterhaltung blieb darauf noch eine geraume 
Zeit mit dem Theater und mit den verſchiedenen 
Schauſpielern beſchäftigt, aber Hulda beachtete kaum 
noch, was man von ihnen ſagte. Sie konnte ihres 
Vaters Ausſpruch nicht vergeſſen. Er hatte begütigen 
ſollen und kam ihr härter vor als Alles, was man 
Anklagendes geäußert hatte. Sie vermochte nicht zu 
glauben, daß man das Große, das Schöne darſtellen 
könne, ohne ſelbſt davon erhoben zu werden. Ueber⸗ 
lief es ſie doch jedesmal mit einem heiligen Schauer, 
wenn ihre Lippen die Worte unſerer Dichter ſprachen; 
und wenn ſie von der Bühne aus ihr Ohr berührten, 
war es ihr feierlich wie in der Kirche. Bei aller 
Demuth, welche ſie vor dem Urtheile ihres Vaters 
hegte, ſträubte ſich ihr Gefühl gegen feine ſoeben ge⸗ 
äußerte Meinung, und der Glaube, daß er, in dieſem 
Falle von einem Vorurtheile befangen, den Schau⸗ 
ſpielerinnen Unrecht thue, daß es Ausnahmen auch 
unter ihnen gebe, viele Ausnahmen geben müſſe und 
daß Gabriele zu dieſen zähle, befeſtigte ſich in ihr. 

Sie hatte Gabrielens Bild ſeit Wochen an den Fen⸗ 
ſtern der Kunſthandlungen aushängen ſehen, und der Adel 
ihrer ſchönen Züge hatte ſie mächtig angezogen. Dieſe 
reine Stirne konnte nichts Unedles denken. Die großen 
Augen ſahen ſo ſicher in die Welt, als kennten ſie 
dieſelbe und wüßten ſie zu überwinden. Selbſt das 
Lächeln auf ihren Lippen war ſtolz bei aller Freund⸗ 
lichkeit, die ganze Haltung des Bildes hatte etwas 
Majeſtätiſches. Hulda meinte, ſo könne nur eine 


30 


Frau den Kopf erheben, die auf ſich ſelbſt vertrauen 
dürfe und ein gut Gewiſſen habe. 

Sie hatte ſich mit der raſch zu belebenden Be⸗ 
geiſterungsfähigkeit der Jugend ein Ideal aus der 
Künſtlerin gemacht, und da man es anzutaſten, es 
von ſeiner Höhe herabzuziehen wagte, ſchloß ſie es nur 
noch feſter in ihr Herz. So jung, jo ohne Welt 
kenntniß ſie ſich wußte, meinte ſie es doch ſchon 
nach eigener Erfahrung ermeſſen zu können, daß man 
unverſchuldet Uebelwollen gegen ſic erregen, und wie 
Neid und böſer Wille dem Rufe einer 1755 zu nahe 
treten könnten. 

Alles, was man an dem Theetiſche für und 
gegen Gabriele vorgebracht, trug nur dazu bei, die 
Spannung zu erhöhen, mit welcher ſie der Ankunft 
derſelben entgegenſah, und mit einer Freude, wie 
ſie ſie ſo lange nicht mehr gefühlt hatte, vernahm 
ſie die Zuſage, daß ſie Miß Kenney bei dem erſten 
Auftreten der Künſtlerin, zu welchem dieſelbe die Prin⸗ 
zeſſin in Göthe's „Taſſo“ gewählt hatte, in das a 
begleiten ſolle. 


Viertes Capitel. 


— — 


Es war ein finſterer, kalter Winterabend, an dem 
die beiden Frauenzimmer, tief in ihre Mäntel und 
pelzverbrämten Kappen eingehüllt, den Weg nach dem 
Theater einſchlugen. Der Schnee kniſterte unter den 
Füßen des Dieners, der ihnen die Stocklaterne durch 
die menſchenleeren Straßen vortrug. Nur vor dem 
Schauſpielhauſe war Leben und Bewegung. Wagen 
um Wagen fuhren in raſcher Folge auf. Männer 
und Frauen ſchritten durch die engen Vorhallen und 
Treppen. Aus der Konditorei drang der Geruch heißer 
geiſtiger Getränke heraus, mit denen einzelne der an⸗ 
gekommenen Männer ſich ſtehenden Fußes zu erwär⸗ 
men ſuchten. Aber Alles eilte, Alles haſtete, als er⸗ 
warte man etwas ganz Ungewohntes; und die erſten 
mächtigen Töne der Ouvertüre drangen ſchon an ihr 
Ohr, als die beiden Frauen in das Theater traten. 

Der Raum war von Menſchen überfüllt, alle 
Blicke hingen an dem Vorhang. Er rauſchte empor, 
eine italieniſche Landſchaft breitete ſich vor dem Auge 
aus, helles Sonnenlicht beſtrahlte die Kronen der 


32 


Pinien, die Gipfel der Cypreſſen. Es glänzte wider 
von der Marmor⸗-Baluſtrade der Terraſſe, auf der die 
beiden Leonoren, Kränze windend, dageſeſſen hatten, 
und nun ſich erhebend und zwiſchen den Hermen Vir⸗ 
gil's und Arioſto's aus dem Hintergrunde langſam 
vorwärtsſchreitend, trat Gabriele, welche die Prinzeſſin 
darſtellte, von ihrer Mitſpielerin begleitet, ruhig und 
gemeſſenen Schrittes in den Vordergrund. | 

Ein Beifallsſturm empfing ſie. Ihr bloßes Er⸗ 
ſcheinen entſprach der Erwartung, mit der man ihr 
entgegengeſehen hatte. Ihr ſchönes Auge überflog die 


Verſammlung, aber ſie hatte Geſchmack genug, ihre 


Darſtellung nicht durch jene Zeichen des Dankes zu 
unterbrechen, mit welchen die Maſſe der Schauſpieler 
in ſolchen Fällen ſich nicht ſcheut, aus ihrer Rolle 
herauszutreten und die Phantaſie der Zuhörer zu be⸗ 
leidigen; und in freundlicher Gelaſſenheit u die 
Frage von ihren Lippen: 

Du ſiehſt mich lächelnd an, Eleonore, 

Und ſiehſt Dich ſelber an und lächelſt wieder. 

Was haſt Du? Laß es eine Freundin wiſſen, 

Du ſcheinſt bedenklich, doch Du ſcheinſt vergnügt. 

Es war, als ob ein Zauber mit den Worten 
ausgeſprochen worden wäre. Man fühlte ſich dem 
Leben, daß man zu leben gewohnt war, wie entrückt. 
Man athmete in einer anderen Luft, man empfand 
mit Sinnen, von denen der Druck des mühevollen 
Ringens, des arbeitſamen Tages, von denen alles 


Sorgen und Wünſchen fortgenommen war, und gab 


33 


ſich in feiernder Betrachtung dem Augenblicke und dem 
Genuſſe der Schönheit hin. 

Selbſt Diejenigen unter den Zuhörern, welche 
ſich ſagen durften, daß ſie vollauf mit dem Geiſte des 
Gedichtes vertraut wären, daß jedes Wort deſſelben in 
ihnen lebendig ſei, mußten ſich eingeſtehen, daß ſie es 
bis zu dieſer Stunde nicht in ſeiner ganzen Schön- 
heit gewürdigt hatten, weil heute zum erſtenmale eine 
Prinzeſſin Leonore vor ihnen ſtand, wie ſie dem Dichter 
vorgeſchwebt haben mußte in dem ſcheuen Liebebedürf⸗ 
niß ihrer zu entſagender Abgeſchloſſenheit herangebil⸗ 
deten Natur. Die Künſtlerin beherrſchte und rührte 
durch ihre ſchlichte Erhabenheit. Man ward fo fehr 
von der maßvollen Schönheit ihrer Bewegung, ihrer 
Stimme und Sprache ergriffen, daß ſelbſt der be⸗ 
geiſterte Beifall, den ſie erntete, in ſeinem Ausdrucke 
durch eine Art von Ehrfurcht gemäßigt wurde. Und 
jenes Zutrauen, das Hulda ihr entgegengebracht hatte, 
noch ehe ſie Gabriele geſehen, ſteigerte ſich zu einer 
liebenden Hingebung an die ſeltene Erſcheinung. 

Das Herz ſchlug ihr ſeit der Trennung von 
Emanuel zum erſtenmale leicht und frei, zum erſten⸗ 
male fühlte ſie wieder ein lebhaftes Verlangen, 
das ſich nicht auf ihn bezog. Sie wollte Gabriele 
ſprechen. Was ſie davon erwartete, das hätte ſie 
nicht jagen können. Es war ein reines Bedürf⸗ 
niß, zu verehren, und jene unbeſtimmte Hoffnung 
in ihr, die den Gläubigen ſich vor einem wun⸗ 
derthätigen Bilde neigen machen, und es erſchien ihr 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 3 


34 


deshalb wie die ſichere Anwartſchaft auf ein großes 
Glück, als Miß Kenney, ebenfalls ergriffen durch die 
Darſtellung, die Abſicht kundgab, Gabrielen für den 
gehabten Genuß brieflich zu danken, ſie an ihr frühe⸗ 
res Zuſammentreffen zu erinnern und daran den 
Wunſch eines Wiederſehens anzuknüpfen. 


Das Briefchen wurde denn auch gleich an dem 


nächſten Tage geſchrieben und abgeſendet, und erhielt 
ſofortigen und freundlichen Beſcheid. Gabriele lehnte 
es ab, den Beſuch der alten Dame zu empfangen, da ſie 
über ihre Zeit nicht Herr und in ihrem Gaſthofe wenig 
ſich ſelbſt überlaſſen ſei; aber ſie verhieß zu kommen, 
ſobald ihr eine freie Stunde bleibe, und ſie drückte da⸗ 
neben die Erwartung aus, Miß Kenney werde auch 
ihren ferneren Darſtellungen mit gleichem Antheil 
folgen. 

Das verſtand ſich für die alte Theaterfreundin 
ganz von ſelbſt. Wer es nur irgend erſchwingen und 
ſich eines Platzes verſichern konnte, verſäumte in dieſen 
Tagen das Theater nicht, und jede neue Rolle, in 
welcher Gabriele erſchien, wurde zu einem neuen 
Triumphe für ſie. Heute entzückte ſie die Zuſchauer 
als Mirandolina, morgen bewunderte man ſie als 
Julia, und worin immer man ſie ſah, meinte man, 
ſie in ihrer beſten Rolle geſehen zu haben. Sie machte 
faſt den einzigen Gegenſtand der Unterhaltung aus, 
und mit jedemmale, daß man von ihr im Beiſein 
Hulda's ſprach, bedauerte dieſe es lebhafter, daß ſie 
keine Ausſicht hatte, Gabriele noch einmal auf der 
Bühne zu ſehen. Bald wollte ſie den Vater, bald 


7 
er, 
a n 


35 


Miß Kenney darum bitten, ihr die Freude noch ein⸗ 
mal zu bereiten, aber ſie hatte in beiden Fällen Be⸗ 
denken, es zu fordern. Wenn ihr dann dazwiſchen 
der Einfall kam, an Gabriele zu ſchreiben, ihr zu 
ſagen, wie glücklich ſie ſie machen könne, ſo wies ſie 
ſolchen Gedanken ſchon im nächſten Augenblicke wieder 
von ſich, und ſchalt ſich für die thörichte Vermeſſenheit, 
aus welcher er entſprungen war. 

Darüber vergingen die Tage, welche für Gabrielens 
Gaſtſpiel beſtimmt waren. Sie war zum zweitenmale 
als Julia aufgetreten, weil man ſie eben in dieſer 
Rolle noch einmal zu ſehen gewünſcht hatte, und ſo 
mächtig war der Eindruck geweſen, daß Miß Kenney 
trotz ihrer Jahre durch ihn in eine völlige Aufregung 
verſetzt worden war. Noch in den ſpäten Abendſtunden 
wurde ſie nicht müde, dem Pfarrer und ſeiner Tochter 
mit ſolcher Lebhaftigkeit davon zu ſprechen, daß ſie 
dadurch endlich ſelbſt in dem Greiſe den Wunſch an⸗ 
regte, des erhebenden Genuſſes auch einmal theilhaftig 
geworden zu ſein. 

Am folgenden Tage ſpielte Gabriele nicht. Der 
Pfarrer und Hulda waren alſo Abends, wie gewöhn⸗ 
lich, in Miß Kenney's Zimmer gegangen, um ein 
paar Stunden mit gemeinſamem Leſen auszufüllen, 
als ein Wagen in den ſtillen Vorhof des Hauſes ein⸗ 
fuhr, und Gabriele ſich melden ließ. Gleich darauf 
und noch ehe Hulda, wie ihr befohlen, die Lichter auf 
dem Seitentiſche zum Empfange des erſehnten Gaſtes 
hatte anzünden können, trat die Gefeierte ſchon bei 


3 * 
(9) 


36 


ihnen ein, jo freundlich und jo ſtrahlend, daß man 
meinte, ſie bringe das Licht mit ſich, welches das Zim⸗ 
mer jetzt erhellte. 

„Sie haben wohl an mir zu zweifeln angefangen, 
weil ich mich gar ſo lange habe erwarten laſſen,“ 
ſagte ſie, indem ſie raſch auf Miß Kenney zuſchritt 
und mit anmuthiger Bewegung ihrer alten Bekannten 
die beiden Hände reichte, „aber bei ſolchen Kunſtreiſen 
gehört man ſich ja nicht, und thut am ſeltenſten Das⸗ 
jenige, was man eben thun möchte, denn: „Schau zu 
ſpielen iſt ja unſer Fall!“ Ich habe mir die Stunde 
bei Ihnen, liebe Freundin, auch nur dadurch frei machen 
können, daß ich mich früh zu dem Balle bei dem 
Gouverneur ankleiden ließ, auf welchem ich mich heute 
Abends von nahebei anſehen und ausfragen zu laſſen 
habe. Dafür will ich mich aber hier im voraus ſchad⸗ 
los halten. Sie ſollen mir eine Taſſe Thee geben und 
mir erzählen, wo die Gräfin iſt, wie ſie lebt, wie 
Clariſſe und der junge Graf ſich entwickelt haben, 
und wie es zugeht, daß ich Sie hier ohne die gräfliche 
Familie finde.“ 


Sie hatte das Alles ſchnell wie eine Fürſtin ge⸗ 


ſprochen, die es weiß, daß man ſich glücklich ſchätzt, 
fie reden zu hören, und daß man ſich durch die Theil⸗ 
nahme, welche ſie erweiſt, geehrt fühlt. Nun wendete 
ſie ſich gegen den Paſtor und deſſen Tochter, 
ſagte, ſie freue ſich, daß ihre alte Freundin nicht 
allein zu leben ſcheine, und erkundigte ſich bei der⸗ 


ſelben, ob es Verwandte wären, welche ſie hier bei 


ſich hätte. 


. 37 


Miß Kenney ſtellte ihr die Beiden vor, gab Aus⸗ 
kunft auf alle Fragen ihres Gaſtes und während der 
Pfarrer ſich mit Sicherheit, wie es ſich eben ſchickte, 
in die Unterhaltung miſchte, ſah Hulda, welche den 
Thee bereitete, mit ſtummer Freude unverwandt zu 
Gabriele hin. Sie erſchien ihr jünger und ſchöner 
noch als auf der Bühne, aber ſie konnte ſich nicht 
darin finden, daß dieſe nach der letzten Mode mit 
Blumen und mit Edelſteinen reichgeſchmückte Frau, 
Taſſo's Prinzeſſin Leonore ſei, daß ſie lache und 
ſcherze, daß ſie zum Balle gehen und tanzen werde. 
Sie meinte eine Enttäuſchung zu erleiden, und doch 
entzückte Gabriele ſie, denn Alles an ihr war ſchön 
und ausgebildet. Ihre Stimme, ihre Sprache, ihre 
Ausdrucksweiſe und jede ihrer Mienen, waren im Ein⸗ 
klang mit einander, daß ſie bei aller Natürlichkeit wie 
ein Kunſtwerk wirkte und erfreute. 

Als Hulda herantrat ihr den Thee zu reichen, 
ſchien ſie erſt achtſam auf das junge Mädchen zu wer⸗ 
den. Sie ſah Hulda mit Ueberraſchung an, und rief, 
indem ſie dieſelbe feſt ins Auge faßte: „Sonderbar! 
aber ich glaube, ſo muß ich einmal ausgeſehen haben!“ 
— und ſich zu Miß Kenney wendend, während Hulda's 
Wangen ſich in dunkler Röthe färbten, fragte ſie: 
„Sie haben mich ja gekannt, als ich zehn, zwölf Jahre 
jünger war; finden Sie nicht, daß dieſes Mädchen 
mir ſehr ähnlich ſieht?“ 

Miß Kenney wollte das nicht gelten laſſen. Eine 
gewiſſe Gleichheit der Farben, ſagte ſie, ſei wohl vor⸗ 
handen, eine wirkliche Aehnlichkeit der Züge könne ſie 


38 


nicht auffinden. Indeß Gabriele war nicht gewohnt, 
daß man ihr Unrecht gab, und ſich raſch erhebend, 
nahm ſie Hulda bei der Hand, trat mit ihr an den 
Spiegel heran, und mit prüfendem Blicke über die 
beiden Köpfe hingleitend, wiederholte ſie: „Aber ganz 
auffallend gleichen Sie mir, liebes Mädchen! Nur 
ſchlagen Sie die Augen nicht ſo nieder und machen 
Sie kein ſo ängſtliches Geſtcht, denn zum Erſchrecken 


iſt es doch wirklich nicht, daß Sie mir ähnlich ſehen. 


Sie bog ſich dabei freundlich zu Hulda hinüber, küßte 
ſie auf die Stirne und ſagte: „Nun darf ich nicht 
einmal mehr ſagen, daß Sie mir gefallen, und Sie 
haben alſo doch gleich einen Nachtheil durch die 
ſchlimme Aehnlichkeit mit mir!“ 


Sie ging darauf an den Theetiſch zurück, fragte 


den Pfarrer, dem die Freude, welche die berühmte 
Frau an ſeinem Kinde hatte, gar wohl that, wie er ſich 
innerlich wegen dieſer Eitelkeit auch tadelte, ob er die 
Tochter auf dem Lande erzogen habe, und weil Miß 
Kenney, die vor allem Anderen immer Gouvernante 
und Erzieherin war und blieb, die große Beachtung 
nicht für angemeſſen hielt, welche Gabriele auf Hulda 
wendete, meinte ſie, die Frage der Künſtlerin plötzlich 
unterbrechend, das Beſte an Hulda's Erziehung ſei, 
daß ſie ihr Empfindung für das Große und das 
Schöne gegeben habe. Hulda ſei ſehr glücklich ge⸗ 
weſen, Gabriele neulich als Leonore zu bewundern. 
„Und in welchen Rollen haben Sie mich ſonſt 
geſehen?“ fragte die Künſtlerin. Hulda ſagte, daß ſie 
nur das eine Mal im Theater geweſen ſei, obſchon ſie 


— Aa 


cas 


ſehnlich gewünscht habe, fie als Julia ſehen zu können. 
Selbſt der Pfarrer drückte ihr ſein Bedauern aus, 
daß ihm dieſe Freude verſagt worden ſei, und Miß 
Kenney erwärmte ſich auf das Neue, als ſie es 
Gabrielen ausſprach, wie einzelne ihrer Worte und 
Bewegungen ſie ergriffen hätten. 

Die Künſtlerin hörte es mit der heiteren Ge— 
nugthuung an, welche jede ehrliche und warm⸗ 
herzige Anerkennung auch dem Vielgefeierten bereitet. 
Dann ſich zu Hulda wendend, an welcher ſie ein 
unverkennbares Wohlgefallen zu haben ſchien, ſagte 
ſie: „Die Julia ſpiele ich hier nicht wieder, dazu 
kann ich Sie leider nicht mehr einladen, aber ich 
halte ſie ſelbſt für eine meiner beſten Rollen und 
freue mich immer, wenn die Leute das ebenfalls 
finden. Indeß — da Sie ſo ſehr gewünſcht haben, 
mich als Julia zu ſehen, ſo muß man verſuchen, wie man 
Ihnen, ſoweit als möglich, einen Erſatz dafür bietet, und 
zugleich den Herrn Pfarrer für dieſe Stunde entſchädigt, 
in der Sie ſonſt ſeine Vorleſerin machen. Sie zog 
die Uhr aus dem Gürtel ihres Kleides, ſah nach der 
Zeit und meinte dann: „Eine halbe Stunde habe 
ich noch vor mir. Haben Sie einen Shakeſpeare hier 
im Haufe, fo will ich Ihnen ein paar Scenen leſen, 
wenn Sie mir die Gegenparte halten wollen.“ 

„Ich? Ihnen? Ach, das kann ich nicht!“ rief 
Hulda, der immer unwahrſcheinlicher wurde, was ſie 
eben jetzt erlebte. 

„Probiren Sie es nur, es koſtet nicht das Leben,“ 


40 


ſcherzte Gabriele, „und nun ſchnell das Buch herbei, 
denn wir dürfen keine Zeit verlieren!“ 

Das Trauerſpiel war gleich zur Hand. Hulda 
hatte es in den Tagen geleſen, da es ihr nicht ver— 
gönnt geweſen war, der Aufführung beizuwohnen. 
Gabriele ſchlug die erſte Scene zwiſchen Romeo und 
Julie auf und wies Hulda an, den Romeo zu leſen, 
während ſie ihre Rolle aus dem Gedächtniß ſprach. 
Sie war in allerbeſter Stimmung. Sie begann mit 
der Ballſcene, ließ die Zwieſprache vom Balkone darauf 
folgen und reihte daran die Scene, in welcher Julia, 


Kunde von Romeo erwartend, den Tod Tybalt's 


erfährt. Dann ging ſie zu dem Abſchiede der 
Liebenden bei Tagesanbruch über, und ſo in geſchickter 
Wahl von Scene zu Scenee bis an das Ende der 
Dichtung fortſchreitend, ſpann ſie ihre drei Zuhörer 
mit jedem Worte feſter in die Täuſchung ein, welche 
ſonſt nur der Anblick der Darſtellung gewährt. Sie 
hatte die Liebesſcenen und das Selbſtgeſpräch, bevor 
ſie den Schlaftrunk nimmt, mit einer ſo überwältigen⸗ 
den Wahrheit geſprochen, daß den beiden Alten die 
Thränen in die Augen gekommen waren. Was Hulda 
jedoch dabei empfand, das ging weit hinaus über eine 
ſolche Rührung. | | 

Das Herz hatte ihr laut geſchlagen, als ſie die erſten 
Worte der Dichtung vor Gabrielen hatte ausſprechen 
müſſen, aber je weiter ſie geleſen hatte, um ſo mehr 
hatte ſie ſich ſelbſt vergeſſen, um ſo freier war ihre 
Seele in der Bewunderung Gabrielens geworden. Wie 
man im Traume Dinge erlebt und vollbringt, die man, 


41 


während man ſie thut, mit feinem eigentlichen Bewußt⸗ 
ſein für unmöglich hält, ſo hatte ſie ſich ganz an die 
Dichtung und an die Darſtellerin hingegeben. Sie 
hatte fort und fort geleſen und zuletzt in beglücktem 
Staunen dageſeſſen, als die Künſtlerin ihren letzten 
Monolog mit den Worten 

„O willkommener Dolch! 

Dies werde deine Scheide. Roſte da 

Und laß mich ſterben!“ 
beſchloß. 

Gabriele erhob ſich danach raſch, warf, aufathmend 
und lächelnd, die reichen Locken des ſchönen Hauptes 
zurück, die ihr über die Stirne gefallen waren, und 
ſagte, weil die Macht des Eindruckes ihre Hörer ver⸗ 
ſtummen ließ, ſich zu Hulda wendend, indem ſie ihr 
die Hand reichte: „Nun, habe ich es gut gemacht? Sind 
Sie mit mir zufrieden liebes Mädchen?“ 

„Ja!“ ſagte Hulda; und ſelbſt das Eine Wort 
zu ſprechen fiel ihr ſchwer, aber ſie neigte ſich, während 
der Vater und Miß Kenney der Meiſterin mit Wärme 
dankten, küßte Gabrielens Hand und blieb dann ſtehen 
und ſah ſie an. Die Thränen floſſen ihr vor Begei⸗ 
ſterung über die Wangen nieder. 

„Wie lebhaft Sie empfinden!“ ſagte Gabriele, 
der die ſtille, leidenſchaftliche Huldigung des jungen 
Mädchens wohlgefiel. „Ihre Tochter lieſt ſehr gut, 
Herr Paſtor!“ fügte ſie hinzu, „wirklich ungewöhnlich 
gut. Sie hat mich durch keinen falſchen Ton geſtört, 
bisweilen ſogar überraſcht. Dafür ſoll Sie mich nun 
auch noch als Donna Diana in meiner Abſchiedsrolle 


42 


ſehen. Sie find ja ein Kind vom Lande,“ ſcherzte te 
gegen Hulda, „alſo wohl früh auf. Kommen Sie 
morgen um neun Uhr zu mir, dann ſollen Sie Eintritts⸗ 
karten für Sie und für Miß Kenney haben, und nun 
muß ich machen, daß ich fortkomme, denn ich mag nicht 
auf mich warten laſſen!“ 

Damit wickelte ſie ſich in die Zobelpalatine ein, 
die ſie bei ihrem Eintritte umgehabt hatte und ver⸗ 
ließ die dankbar ihr Folgenden mit der Verſicherung, 
daß ſie ebenſo viel Freude an ihrem Beifall ge⸗ 
habt, als hätte ſie vor dem größten Publikum 
geſpielt. 5 | 


Fünftes Capitel. 


Die Sonne war noch nicht über die hohen Giebel⸗ 
dächer der alten Häuſer in den ſchmalen Straßen 
emporgeſtiegen, und es war bitterkalt, als Hulda nach 
damaliger Landesſitte in ihrem feſtanliegenden Pelz- 
rock, mit dunklem Wollenzeuge überzogen, die kleine, 
das Geſicht umſchließende Sammetkappe auf dem 
Kopfe, ſich am Morgen auf den Weg zu Gabrielen 
machte. 

Zwei mit Poſtpferden beſpannte Wagen ſtanden 
vor dem Gaſthof. Unten in dem Hausflur brannten 
die Lichter noch, denn es wird im Winter in jenen 
Gegenden ſpät Tag. Der Hauswart, an welchen ſich 
Hulda, die noch nie allein in ein Gaſthaus eingetreten 
war, mit verlegener Frage wendete, ſagte ihr, daß 
Mademoiſelle ſchon aufgeſtanden ſei und Befehl ge⸗ 
geben habe, wenn ein junges Mädchen käme, es bei 
ihr vorzulaſſen. Man mochte ſie als eine Hilfeſuchende 
betrachten. 


44 


Gabriele ſaß in einem dunkelen ſeidenen Morgen— 
rocke mit hellen Aufſchlägen an ihrem Frühſtückstiſche. 
Das Feuer flackerte mit luſtigem Scheine in dem 
Ofen, ſilberne Armleuchter erhellten den Tiſch. Trotz 
der befrorenen Scheiben ſtanden blühende Blumen in 
Töpfen an den Fenſtern und blühende Sträuße in 
den Vaſen auf den Tiſchen. Bücher, Zeitungen, 
Briefe und eine Menge von Kleinigkeiten aller Art 
nahmen den Schreibtiſch ein. Die Kammerfrau trug 
ein Koſtüm von rothem, goldgeſticktem Sammet durch 
das Zimmer. 

Hulda hatte in dem Schloſſe wohl Aehnliches ge⸗ 
ſehen, es hatte jedoch hier, wie ſie meinte, Alles einen 
anderen Anſtrich. Es ſah Alles hier weit freier, zu— 
fälliger, romantiſcher aus. Es gefiel ihr beſſer, ohne 
daß ſie ſich während des flüchtigen Blickes Rechenſchaft 
darüber geben konnte, denn Gabriele rief ihr freundlich 
„Guten Morgen!“ zu. Sie ſagte, nach ſolchem 
Gange durch den kalten Morgen habe Hulda gleich 
eine Erwärmung nöthig. Sie befahl alſo noch eine 
Taſſe zu bringen, und hieß Hulda den Pelz und die 
Kappe ablegen, um mit ihr zu frühſtücken. 

Sie ſelber rückte ihr den Stuhl heran, ſchenkte 
ihr die Chokolade ein, und wie ſie Hulda dann noch 
einmal anſah, meinte ſie: „Jetzt, da Sie mit den 
friſchen rothen Farben von der Straße kommen, ſehe 
ich erſt recht, wie jung ſie ſind. Geſtern täuſchte mich 
Ihre ſtattliche Figur darüber. Wie alt ſind Sie eigent⸗ 
lich, mein liebes Kind?“ 

Hulda ſagte, ſie ſtehe im achtzehnten Jahre. 


45 


„And Sie waren immer auf dem Lande? — 
Sie haben, wie Ihr Vater mir geſtern ſagte, Ihr 
Vaterhaus nicht viel verlaſſen. Dafür haben Sie 
merkwürdige Töne in Ihrer Stimme, und in Ihrer 
Bruſt — Töne, die man in der Kinderſtube doch nicht 
zu erlernen pflegt. Wo haben Sie die her?“ 

Hulda ſah ſie an, als verſtehe ſie die Frage 
nicht recht. „Ich meine, ob Sie ſonſt ſchon ähnliche 
Verſuche wie den geſtrigen gemacht, ob Sie ſchon 
öfters Dramen mit vertheilten Rollen geleſen haben?“ 

Hulda bejahte das. „Man hat mich im verwichenen 
Winter bisweilen in das Schloß hinüberkommen laſſen,“ 
ſagte ſie, „um bei dem Leſen auszuhelfen.“ 

„Da alſo haben Sie es gelernt? Mit wem haben 
Sie denn dort geleſen?“ 

„Es war oft größere Geſellſchaft beiſammen, bis⸗ 
weilen aber waren es nur Comteſſe Clariſſe und 
der Fürſt und“ — ſie ſtockte — „und der Herr Baron.“ 

„Was für ein Herr Baron?“ 

„Baron Emanuel!“ ſagte Hulda, während eine 
dunkle Röthe ihr Geſicht übergoß und ſie die Augen 
nicht aufzuheben vermochte, weil ſie fühlte, daß ſie ſich 
verrieth. 

„Ja ſo! nun verſteh' ich's! Nun verſtehe ich es, 
mein Kind! wo Du den tiefen, weichen Ton der Klage 
her haſt, den man nicht vom Hörenſagen lernt — am 
wenigſten mit fiebzehn Jahren!“ rief Gabriele aus, 
und wie ſie dabei dem jungen Mädchen mit ihrem 
klugen, klaren Blick die Hand reichte, da hielt ſich Hulda 
länger nicht. 


46 


Alles, was fie das ganze Jahr hindurch ſtill und 
klaglos in ſich verſchloſſen hatte, all das ſchöne Hoffen, 
das ihr mit einem harten Schlage zertrümmert worden 
war und das neu aufzubauen ſie ſich verbieten mußte, 
die ganze troſtloſe Entmuthigung, die ſelbſt das Vor⸗ 
wärtsblicken in die Zukunft ſcheute, und das nicht zu 
ertödtende Verlangen nach einem nahe geglaubten Glück, 
das Alles ſtürmte mit einemmale und ſo gewaltig auf 
ſie ein, daß ſie, hingeriſſen von dem freundlichen Ent⸗ 
gegenkommen der Frau, in der ſie ein höheres 
Weſen verehrte, ſich unwillkürlich zu Gabrielens Füßen 
warf und, das Geſicht auf deren Knieen bergend, unter 
ſtürzenden Thränen die Worte hervorſtieß: „Ach ver- 
geben Sie mir! ich kann nicht anders! ich bin ſo un⸗ 
glücklich.“ | | 

„Steh' auf, Kind! liebes armes Kind! ſo ſteh' 
doch auf!“ rief Gabriele, indem ſie die Weinende em⸗ 
porhob und in ihre Arme ſchloß, die, beſchämt über 
ihr leidenſchaftliches Thun, ihre Augen trocknete und 
ſich zu faſſen ſuchte. Aber Gabrielens Theilnahme, 
die zuerſt durch jene Aehnlichkeit erregt worden war, 
welche Hulda wirklich mit derſelben beſaß, zeigte ſich 
auch jetzt. Sie hatte Mitleid mit dem Zwange, den 
das junge Mädchen ſich auferlegte. 

„Quäle Dich nicht!“ ſprach ſie, „weine Dich nur 
aus. Es giebt Thränen, die Vater und Mutter nicht 
ſehen dürfen, die aber doch geweint ſein wollen und 
ſanfter fließen, wenn ein Anderer es ſieht, der es gut 
mit uns meint — und ich meine es gut mit Ihnen! 
Sehr, ſehr gut! Alſo reden Sie, weinen Sie ſich nur 


47 


aus! Was iſt Ihnen denn geſchehen? Erzählen Sie 
mir Alles! Ich werde es verſtehen! Denn ich habe auch 
vielerlei, gar vielerlei erleben und erleiden müſſen! Mir 
dürfen Sie Alles ſagen, Alles!“ | 

Und Hulda erzählte Alles, Alles! mit all ihrer 
Wahrhaftigkeit. Es war ihr wie eine wirkliche Erlö⸗ 
ſung, daß ſie endlich einmal ſprechen konnte, daß 
endlich über ihre Lippen kam, was keines Menſchen 
Ohr von ihr vernommen, was ſie dem Geliebten nie 
zu ſagen vermocht und was ihr faſt das Herz zerſprengt 
hatte, weil ſie es allein in ſich getragen hatte, bis auf 
dieſe Stunde. 

Draußen war es völlig Tag geworden. Die Sonne 
ſchien hell durch die beeiſten Scheiben, die Kerzen 
brannten noch immer auf dem Tiſche, aber keine der 
beiden Frauen bemerkte es, keine dachte daran ſie aus⸗ 
zulöſchen. Erſt als Hulda mit einem ſtillen Seufzer 
ihre einfache Erzählung ſchloß, und Gabriele auf ihre 
Erkundigung, was denn nach der Entfernung des 
Barons und nach Hulda's Geneſung noch geſchehen 
ſei, die Antwort erhalten hatte, fragte ſie: „Und was 
erwarten Sie nun ferner? Was denken Sie zu thun?“ 

Hulda hob die Augen traurig zu ihr empor. 
„Was kann ich thun, als meine Pflicht erfüllen! Muß 
ich doch Gott danken, daß er mir die Möglichkeit dazu 
noch gönnt!“ entgegnete ſie mit leiſer Stimme. 

„Ja!“ verſetzte Gabriele, „ich fühle Ihnen das 
wohl nach, Sie müſſen jetzt bei ihrem Vater bleiben. 
Aber ich hätte nicht alſo gehandelt, und der Baron 
rechnet Ihnen Ihre Kindesliebe ſicher nicht als Tugend 


48 


an. Ich kenne ihn ſeit Jahren!“ — Sie ſah, wie 
das Geſicht des Mädchens bei den Worten von einer 
ſchnell aufzuckenden Freude leuchtete. „Ich kenne Baron 
Emanuel genau und gut, fügte ſie danach hinzu, ihn 
und ſein ſchwärmeriſches, weiches Herz, und ich kann 
begreifen, daß Sie ihn lieben, wie daß er Sie liebte. 
Aber er iſt ein Mann, und eben ein ſchwärmeriſcher 
Mann, und er hat die ganze empfindungsvolle und 
mißtrauiſche Selbſtſucht eines ſolchen. Ein Mann, 
wie Baron Emanuel, fordert andere Liebesproben, als 
Sie ihm geboten haben; der anerkennt keinen Anſpruch, 
als nur denjenigen, welchen ſein Herz und ſeine Liebe 
an Sie zu machen hatten. Er wollte ein Opfer 
bringen für Sie, ſo waren Sie ihm auch ein Opfer 
ſchuldig. Er hat ſich ganz gewiß geſagt, die rechte 
Liebe kennt Nichts als ſich ſelbſt, die rechte Liebe muß, 
wie es ja auch in der Bibel heißt, Vater und Mutter 
verlaſſen und dem Manne folgen! Sie haben ihn in 
dieſen Erwartungen getäuſcht. Wie ſoll er an Ihre 
Liebe glauben, da Ihr kindlicher Gehorſam ſtärker ge- 
weſen iſt, als Ihre Liebe für den Geliebten Ihres 
Herzens?“ | 

Hulda hatte eine ſolche Antwort nicht erwartet, 
ſie that ihr deshalb wehe. „Konnte ich denn gegen 
meines Vaters Willen handeln?“ fragte ſie. „Konnte 
5 3 

Gabriele ließ ſie nicht vollenden. „Freilich 
konnten Sie das, freilich mußten Sie das! Und auf 


49 


Händen hätte Sie der Baron dafür getragen — denn 
gerade er hatte eines ſolchen Liebeszeichens nöthig. Aber 
Ihr leſet und lernet Euere Dichter und beherziget ſie 
nicht! — Sie haben es gewiß Thon oftmals ausge- 
ſprochen das tiefſinnige: „Und ſehnt' ich mich nach un⸗ 
gemeinen Schätzen, ich muß das Ungemeine daran 
ſetzen!“ — und jenes ewig wahre: „Was du von der 
Minute ausgeſchlagen, bringt keine Ewigkeit zurück!“ — 
Haben Sie danach gehandelt?“ 

Hulda verſtummte davor. Gabriele ergriff ihre 
Hand. „Ich will Ihnen nicht wehe thun, Kind!“ 
ſagte ſie ſanft. „Im Gegentheile! Ich möchte Ihnen 
nur beweiſen, daß Ihnen Nichts widerfahren iſt, was 
Sie nicht ſelbſt veranlaßt haben; denn ich finde, man 
wird immer ruhig, wenn man ſich einer vernünftigen 
Folgerichtigkeit der Dinge gegenüber weiß. Deshalb halte 
ich Sie aber keineswegs für ſchuldig. Man erzieht 
Euch ja in den ſogenannten guten Bürgerfamilien in 
einer Anſchauungsweiſe, die Euch den Muth Euerer 
Meinung nimmt. Man erzieht Euch für den Haus⸗ 
gebrauch, und nur Wenige kommen darüber hinaus. 
Auch Sie, mein Kind, haben das nicht vermocht. Sie 
trauten ſich zu, den Bann zu brechen, der über Ihrem 
Geliebten lag, und konnten ſich ſelbſt nicht losmachen 
von den Banden, die Sie für heilige hielten, und die 
ein Jeder bis zu einem gewiſſen Punkte auch zu ehren 
hat. Das werden Viele loben und bewundern. Ich 
freilich lobe und bewundere es nicht. Es iſt Jeder von 
uns um ſeiner ſelber willen auf der Welt, und wenn 

Fanny Lewald, Die Erlöjerin. II 4 


50 


die Liebe die ſtärkſte Kraft des Frauenherzens iſt, To 
iſt der Muth der Liebe in meinen Augen des Weibes 
höchſte Tugend.“ Sie machte eine kleine Pauſe, ſah 
Hulda, die ſprachlos und überwältigt an ihrer Seite 
ſaß, eine kleine Weile an und ſagte danach: „Sie haben 
den Romeo ſo gut geleſen und die Julia ſo ſchlecht 
verſtanden! — Trotzdem — es iſt Etwas in Ihnen, 
das mich an meine Jugend mahnt!“ 

„Sie mußten alſo Ihr Vaterhaus und Ihre Eltern 
auch verlaſſen?“ fragte Hulda ſchüchtern. 

„Ich? — Ich habe keine Eltern und kein Vater⸗ 
haus gekannt. Was ich geworden, das bin ich durch 
mich ſelbſt geworden!“ ſagte Gabriele, indem ſie ernſt 
und ſtolz den Kopf erhob. Meiner früh verſtorbenen 
Mutter Schweſter, eine Tänzerin wie ſie, hat mich 
aufgenommen; erzogen hat mich Niemand. Ich bin 
herangewachſen — das war Alles. Wie eine junge 
Ente in das Waſſer, bin ich, wie in das mir ange 
borene Element, in das Leben hineingegangen — und 
es iſt nicht immer ein helles, klares Waſſer geweſen, 
das vor mir gelegen hat. Alles habe ich mir erſchaffen 
und erobern müſſen, ſogar mein Pflichtbewußtſein und 
die Achtung vor mir ſelbſt. Was ich gewonnen und 
verloren habe, gewann, verlor ich mir allein, bis auch 
mir die Stunde der Erlöfung — der Erlöſung durch 
den großen, erhabenen Glauben eines Einzelnen an 
mich, einmal gekommen iſt, die mich neu geboren hat; 
und ſolch eine Stunde, ſolch eine erlöſende Schickſals⸗ 
gunſt fehlt kaum einem Menſchenleben. Sie kommt 
in wechſelnder Geſtalt — nur daß wir fie jo oft ver— 


51 


träumen, daß wir ſie nicht feſtzuhalten und uns in und 
an ihr nicht emporzuheben wiſſen.“ Sie unterbrach ſich, 
über ihre Hingebung verwundert, und ſagte dann: 
„Aber das hat mit Ihrer Lage im Grunde Nichts zu 
ſchaffen. Sie ſagen mir, daß Sie die Hoffnung auf⸗ 
gegeben haben, Baron Emanuel zu Ihnen zurückkehren 
zu ſehen, da er Ihnen ſeit ſo lange kein Zeichen der 
Theilnahme mehr gegeben hat, und ich glaube, daran 
thun Sie wohl, denn ſolches zuwartende Hoffen bricht 
die Kraft entzwei. Aber haben Sie Jemanden, zu 
dem Sie ſich wenden können, der für Sie ſorgen 
würde? Oder was denken Sie zu thun, wenn Ihr Vater, 
der ja betagt und nicht der Stärkſte mehr zu ſein ſcheint, 
die Augen einmal ſchließen wird?“ 

Kaum ein Tag war vergangen, an welchem ſich 
Hulda dieſe Frage nicht vorgehalten, und ſeit Monaten 
hatte ſie ſich geſagt, daß ſie auch nicht die entfernteſte 
Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit Emanuel 
zu bauen habe, daß ſie beſtimmt ſei, ihren Weg im 
Leben einmal ſelbſt zu ſuchen und ihr Brot zu ernten, 
wie ſie können würde. Jetzt, da ſie dieſes vor Ga— 
brielen auszuſprechen hatte, fühlte ſie, wie ſie nicht 
glaubte, was ſie ſagen wollte, wie all ihr Hoffen an 
dem Entfernten hing; und unfähig, es zu unterdrücken, 
rief ſie: „Er kann mich ja nicht vergeſſen haben!“ 

Der Ton, mit dem ſie dieſes ſagte, entzückte Ga⸗ 
briele durch ſeine Naturwahrheit und erhöhte ihre 
Theilnahme und ihr Mitgefühl für Hulda. 

„Vergeſſen?“ wiederholte ſie. „Wer kann ver⸗ 
geſſen? Was vergißt man denn? Aber auch Unver⸗ 

4* 


52 


vergeßliches wird aufgegeben, muß oft aufgegeben, 
werden, und dann je eher, um ſo beſſer, gutes 
Kind!“ | 

Ihre Dienerin unterbrach ſie mit einer Meldung. 
Der Direktor eines größeren Theaters in der benach— 
barten Provinz war in der Frühe angelangt und wünſchte 
vorgelaſſen zu werden. Er hatte Gabrielen den An⸗ 
trag gemacht, zwei oder drei Vorſtellungen auf ſeinem 
Theater zu geben, und war, da ſie es nicht bewilligen 
zu können glaubte, nun ſelbſt gekommen, um ſie wo⸗ 
möglich dazu zu beſtimmen. Da ſie ſich bereit erklärte, 
ihn zu empfangen, wollte Hulda ſich entfernen, aber 
Gabriele hieß ſie bleiben, denn man hatte ihr die 
Eintrittskarten noch nicht gebracht, welche ſie den beiden 
Frauen geben wollte. 

Der Direktor war ein großer und noch ſehr 
ſtattlicher Mann, obſchon er den Sechzigern nicht ferne 
ſein mochte. Hulda hatte von ihrem Vater ſeinen Na⸗ 
men ſchon als Kind vernommen, denn erz gehörte einer 
altbekannten Schauſpieler-Familie an, die in früherer 
Zeit das Theater in der Hauptſtadt in Pacht gehabt, 
und der Pfarrer hatte damals Gelegenheit gefunden, 
ihn als jugendlichen Liebhaber mehrfach zu bewundern. 
Auch ſchien der Direktor ſich in der Rolle eines ſolchen 
noch immer zu gefallen. Er war modiſch und mit 
einer Sorgfalt gekleidet und friſirt, die an Uebertreibung 
grenzte. Sein Ton, ſeine Haltung waren zuverſichtlich 
und auf eine beſondere Wirkung berechnet. Man 
merkte es ſofort, er konnte gar Nichts anders als Ko— 
mödie ſpielen, jeder Naturlaut war ihm abhanden ge⸗ 


53 


kommen. Er ſpielte ſogar ſich ſelber; und auch der 
Enthuſiasmus und die Vertraulichkeit, mit denen er 
ſich Gabrielen nahte, waren berechnet und gemacht. 

„Ich hoffe, Unvergleichlichſte,“ rief er, als fie 
ihm ſagte, ſie ſei überraſcht, ihn hier zu ſehen, „Sie 
glauben nicht, was Sie mir ſagen. Hielten Sie mich 
denn für „ſo ſehr aus der Art geſchlagen,“ daß ich 
Sie ſo nahe wiſſen konnte, ohne Ihnen die ſchöne 
Hand zu küſſen, und hätte ich meinen Weg nicht nur 
durch die Schneefelder, ſondern „durch eine Welt von 
Plagen“ machen ſollen!“ — Er zog dabei den Hand⸗ 
ſchuh ab, drückte mit einer gefliſſentlichen Uebertreibung 
Gabrielens Hand an ſeine Lippen, und als ſie darüber 
lachend den Kopf ſchüttelte und ihm einen leiſen Schlag 
gab, rief er: „Immer dieſelbe bezaubernde Anmuth! 
das unwiderſtehliche Lachen aus den „Erziehungs-Re⸗ 
ſultaten!“ — Weinen — weinen, das kann der ganze 
große Troß! Aber wer kann lachen wie Gabriele? 
Wer hat je gelacht wie Sie? — Nur Sie wieder 
einmal lachen zu hören — das wäre ſchon die Reiſe 
werth!“ | 

Sie lachte wieder, denn es beluſtigte fie, zu be⸗ 
merken, wie er ſich in den Jahren, während deren 
ſie ihn nicht geſehen hatte, gleich geblieben war, und 
auf ſeinen Ton eingehend, verſetzte ſie: „Damit alſo 
könnten Sie denn wieder gehen, Wertheſter! Und 
noch jenſeits meiner Thüre, ſollten Sie mich lachen 
hören über die phantaſtiſche Laune, die Sie hieher 
gebracht hat. Aber, Scherz bei Seite — was führt 
Sie eigentlich hieher, da ich Ihnen ja geſchrieben habe, 


54 


daß ich gegenwärtig nicht bei Ihnen ſpielen könne, 
wenn ich es auch wollte?“ 

„Was mich hieherführt? Wollen Sie, daß ich 
es Ihnen ſage, und wollen Sie mir nicht darüber 
grollen? — Es iſt meine Kenntniß von den Frauen und 
mein Glaube, daß Sie keine Ausnahme von der Regel 
machen würden. Ein Nein zu ſchreiben, fällt den 
Frauen leicht. Dem Hoffenden, dem Bittenden,“ er 
betonte dieſes Wort pathetiſch und begleitete es mit 
der entſprechenden Miene, „dem Bittenden ein Nein 
zu ſagen, wird dem weichen Herzen ſchwer. Und,“ 
fügte er ſchnell hinzu, „Sie können Ihre Bedingungen 
machen, wie Sie wollen, ich geſtehe Ihnen jede im 
Voraus mit tauſend Freuden zu. Die Hälfte, drei 
Viertel des Reinertrages! Man will Sie ſehen um 
jeden Preis; zu verdoppelten Preiſen bin ich ſicher, 
auszuverkaufen bis auf den letzten Platz. Ich ſtelle 
Ihnen Extrapoſt, ich beſorge Ihnen die Wohnung, 
wie Sie dieſelbe wollen. Sie beſtimmen Ihre Rolle, 
aber — ich muß nach Hauſe kommen und ſagen 
können: „Die Gabriele kommt!“ Ich muß die Er⸗ 
innerung behalten: „Gabriele hat bei mir geſpielt!“ 
— Wie wäre es mit der Eboli? — Erinnern Sie 
ſich, welchen Beifall wir errungen haben, als ich den 
Carlos noch mit Ihnen ſpielte? Oder wählen Sie 
die Thekla! Sie werden mit dem Max zufrieden 
ſein! Ein großes, vielverſprechendes Talent, ſchöne 
Geſtalt, vortreffliches Organ, bequemer Partner. Ent- 
ſcheiden Sie, Verehrteſte!“ 


| 
| 
j 


55 


Gabriele hatte ihn feine Rede ruhig zu Ende 
führen laſſen. Da er endlich innehielt, ſagte ſie: „Es 
thut mir in der That ſehr leid, verehrter Freund, daß 
die unabweisliche Nothwendigkeit mich zwingt, Ihre 
Kenntniß des Frauenherzens Lügen zu ſtrafen. Mich 
bindet mein Kontrakt, und wenn Sie mir auch goldene 
Brücken bauen und mir einen Cherub zum Partner 
bieten, ich muß auch mündlich bei dem Nein ver⸗ 
harren, daß ich Ihnen ſchrieb. Ich bin ermüdet, 
darf mir bei der Kälte keine ſo großen Anſtrengungen 
auferlegen, und die Reiſe, die ich vor mir habe, iſt 
lang und ſchwer.“ 

Der Direktor wollte ſich damit noch nicht ab—⸗ 
weiſen laſſen. Bald als bewundernder Verehrer, bald 
als eifriger Geſchäftsmann redend, ſchmeichelnd, ſcherzend, 
Gewinn verſprechend, verſuchte er das Mögliche. Gabriele 
ging je länger, je mehr auf ſeine Scherze ein und 
ließ vor ihm endlich die Hoffnung durchblicken, daß 
ſie nicht zu ſehr angegriffen haben ſollte, bei der Rück⸗ 
kehr zwei oder drei Vorſtellungen auf ſeiner Bühne 
geben wolle. Er war ganz Freude bei der Ausſicht. 
Man traf für dieſen Fall die mündlichen Verab⸗ 
redungen, man ſprach auch von ſeinem Perſonale. Es 
kam dabei in freiem Tone Manches aus dem Privat- 
leben deſſelben und aus dem Privatleben gemeinſamer 
Bekannter auf das Tapet, das dem Ohre des zu— 
hörenden jungen Mädchens befremdlich und faſt er— 
ſchreckend klang; und nicht bevor der Theaterdiener 
eintrat, der Gabrielen die Billete brachte, erhob ſie 


56 


ſich, um den Direktor zu entlaſſen. Da erſt wurde 
der Letztere auf Hulda achtſam, die ſich zurückgezogen 
hatte und an einem der Seitentiſche ſaß. 

Er trat an ſie heran, betrachtete ſie, daß ihr das 
Blut zu Kopfe ſtieg, und fragte dann: „Eine junge 
Kollegin? eine Anverwandte? hat Aehnlichkeit mit 
Ihnen. Vortheilhafte Erſcheinung! Würde mit dem 
ſchönen Haar, wie Sie zu Ihrer Zeit, ein reizendes 
Käthchen von Heilbronn geben! Ein Käthchen, wie's 
im Buche ſteht!“ 

Hulda vermochte die Augen nicht aufzuſchlagen, 
aber ihre Verlegenheit und ihr Erröthen ließen ſie 
nur ſchöner erſcheinen. Gabrielens Blicke ruhten mit 
jenem Wohlgefallen auf ihr, das ſie von der erſten 
Minute, da Hulda vor ſie hingetreten war, für ſie 
gefühlt hatte. 

„Nichts da von Kollegin!“ ſagte ſie, „Mademoiſelle 
iſt eines Landgeiſtlichen, eines Pfarrers Tochter! Aber 
Sie finden alſo auch, daß ſie mir ähnlich ſieht? Es 
hat mich geſtern überraſcht, und Sie haben Recht, 
ſie würde ein hübſches Käthchen machen. Sie iſt, 
wie ich glaube, auch nicht ohne ein gewiſſes Talent. 
Wir haben geſtern mit einander geleſen, und ſie hat 
ihre Sache ganz artig, ganz geſchickt gemacht.“ 

Sie reichte Hulda dabei die Hand und das war 
gut, denn es war derſelben, als brenne, als wanke 
der Boden ihr unter den Füßen. Der Direktor hatte 
die Brille aufgeſetzt und ſah ſie unverwandten Blickes 
an. „Das iſt ein Lob, auf das Sie ſtolz ſein können, 

ſcademoiſelle! ein Lob, nach dem Erprobte geizen 


57 


würden. Sie haben wahrſcheinlich Luft, zur Bühne 
zu gehen? Haben Sie Verſuche dafür gemacht?“ 

„Ich?“ rief Hulda, und es war ihr unmöglich, 
ein weiteres Wort zu finden, ſo daß Gabriele dem 
Direktor die Erklärung gab, durch welche zufällige 
Veranlaſſung das Mädchen zu ihr geführt und wie ſie 
mit demſelben bekannt geworden ſei. 

Das ſchien jedoch den Direktor in ſeinem Plane 
nicht im geringſten zu beirren. „Es heißt im „Fauſt“, 
ſagte er: „Ein Komödiant könnt' einen Pfarrer lehren! 
— aber es iſt auch ſchon Mancher aus dem Bereich 
des Pfarrhauſes, ja Mancher, der für die Kanzel be- 
ſtimmt geweſen, auf die Bühne gegangen; denn zur 
Bühne wie nach Rom führen alle Wege. Der Weg 
dahin iſt aus einem Pfarrdorfe nicht weiter wie aus 
jedem anderen Orte. Wenn Sie meinen, daß Ma⸗ 
demoiſelle Talent hat, und wenn Mademoiſelle in ſich 
Beruf verſpürte —“ 

„So und ſo weiter!“ fiel ihm Gabriele in das 
Wort — „und damit laſſen Sie es auf ſich beruhen, 
mein Beſter! Sie ſehen, Sie ängſtigen, Sie ver⸗ 
wirren das arme Kind. Man muß mit ſolchem Scherz 
nicht Ernfſt machen. Nicht wahr, liebe Hulda? Es 
wird Ihnen bange unter uns Komödianten — und 
ganz Unrecht haben Sie damit nicht. — Glücklicher⸗ 
weiſe ſind die Billete jetzt auch da!“ 

Sie ging an den Seitentiſch, gab ihr die beiden 
Karten, trug ihr Grüße an ihren Vater und an Miß 
Kenney auf, ſagte, ſie möchte ſich ihrer erinnern, möchte 


58 


denken, daß fie eine gute Freundin an ihr habe, möchte 
ſich zuverſichtlich an ſie wenden, wenn ſie glaube, daß ſie 
ihr einmal nützlich ſein könne, und entließ ſie dann, 
um ſich ankleiden zu laſſen und zur Probe zu gehen, 
wohin der Direktor ſie mit ihrer Erlaubniß begleiten 
wollte. 


Zehntes Capitel. 


Wie Hulda nach Hauſe gekommen war, wie der 
Tag ihr vergangen, was ſie am Abende im Theater 
gedacht, gefühlt hatte, das wußte ſie nach wenig Tagen 
ſchon nicht mehr. Nur daß der Direktor aus der 
Proſceniums⸗Loge, in der er ſich befunden, fie durch 
die Brille mit ſeinen großen, hervortretenden Augen 
immer wieder angeſehen, daß er ſie mit einer Ver⸗ 
traulichkeit begrüßt hatte, als ob er ein alter Bekannter 
von ihr wäre, deſſen erinnerte ſie ſich genau, und es 
war ihr beruhigend, daß Miß Kenney es nicht geſehen 
hatte. Die Achtſamkeit, welche der Direktor auf ſie 
gerichtet, hatte ſie förmlich befangen und gepeinigt. 
Das Spiel Gabrielens war ihr darüber zum Theil 
verloren gegangen. Sie hatte von dem Direktor jo- 
gar in der Nacht geträumt. Es war plötzlich ein 
ganz neues, ihr unheimliches Element in ihr Leben 
gekommen, eine Angſt, eine Unruhe, über die ſie nicht 
Herr zu werden vermochte. Sie wagte es weder dem 
Vater noch ihrer alten Freundin zu erzählen, was ſich 
an dem Morgen bei Gabrielen zugetragen, was ſie 


60 


dort erlebt und an welche Möglichkeiten man für ſie 
gedacht hatte; und doch lag ihr jener Morgen immer⸗ 
fort im Sinne, doch ſagte ſie ſich unaufhörlich: wenn 
Er, wenn Emanuel es wüßte, daß man ſie Gabrielen 
ſo ſehr ähnlich fand, daß man die Laufbahn einer 
Schauſpielerin als eine ihr angemeſſene erachte! 

Die Tage und Wochen und die Jahreszeit nahmen 
inzwiſchen ihren ſtill gewohnten Lauf. Hulda that 
an jedem Tage, was ihr oblag, ſie pflegte den Vater, 
leiſtete ihrer Beſchützerin die kleinen häuslichen Dienſte, 


deren ſie bedurfte, und wenn man ſie daneben oft⸗ 
mals noch ſtill und in ſich verſunken ſah, ſo ließ man 


ſie gewähren, denn man war gewiß, ſie bei der 
Geſundheit ihrer Natur getroſt ſich ſelber überlaſſen 
zu dürfen. Man hoffte, die Zeit würde die Wunde 
ihres Herzens heilen und vernarben machen, beſonders 
da Emanuel Nichts weiter von ſich hören ließ und 
Niemand in ihrer jetzigen Umgebung einen Zuſammen⸗ 
hang zwiſchen Hulda und dem Baron auch nur ver⸗ 
muthete. 

Der Pfarrer freute ſich, daß Hulda's Luſt, ſich 
zu unterrichten, ihre Vorliebe für die claſſiſche Literatur 
mit jedem Tage zunahmen, daß ſie ihr Gedächtniß 
mit den ſchönſten Stellen deutſcher Dichtkunſt füllte. 
Er und Miß Kenney bemerkten es mit Wohlgefallen, 
welch einen Einfluß auf Hulda's Vortrag die flüchtige 
Begegnung mit Gabriele ausgeübt hatte. Mit der 
Blindheit, welche man faſt immer für das Seelen— 
leben ſeiner Nächſten hat, ahnte es keiner von den 
Beiden, was in des jungen Mädchens Seele vorging, 


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61 


und wie gerade in den Stunden, in welchen fie am 
ſchmerzlichſten um die verlorene Liebe trauerte, eine 
Hoffnung und ein Verlangen vor Hulda aufſtiegen, 
von deren blendendem Glanze ſie wie vor einer gefähr⸗ 
lichen Verlockung noch ihr Auge ſchloß, beſonders da 
eben jetzt die geſteigerte Sorge um den a ſie von 
ſich ſelber abzog. 

Das Augenleiden des Pfarrers hatte ſich trotz 
der Sorgfalt und Kunſt des Arztes nicht gebeſſert. 
Eine Operation, auf die man ſich vertröſtet, ſtellte ſich 
als nicht ausführbar heraus. Man hatte alſo im 
beſten Falle zu erwarten, daß des Greiſes Augenlicht 
nicht ganz erlöſchen, daß er noch fähig bleiben werde, 
ſeinen Amtsgeſchäften unter Beiſtand des Adjunkten, 
den man ihm gegeben hatte, theilweiſe vorzuſtehen; 
aber zu einem fortgeſetzten Aufenthalte in der Stadt, 
war nach ſolchem Ausſpruch des Arztes für den Pfarrer 
keine Nothwendigkeit mehr vorhanden. Der Greis, 
für den der verhältnißmäßig lebhafte Menſchenverkehr, 
deſſen er durch die Ueberſiedelung in die Stadt theil⸗ 
haftig geworden, am Anfange erfreulich und belebend 
geweſen war, fing an, ſich nach ſeinem Dorfe, nach 
ſeinen Pfarrkindern, nach ſeiner ihm noch möglichen 
Thätigkeit zu ſehnen. Der Gedanke, daß wachſende 
Erblindung ihn behindern könne, die Stätten und 
Plätze, an denen ſeine ganze Seele hing, noch ein⸗ 
mal mit leiblichen Augen zu ſchauen, lag ihm be⸗ 
ſtändig im Sinne, und trieb ihn noch mehr dazu an, 
auf die Rückkehr in die Heimat mit einer ihm ſonſt 
fremden Haſt zu dringen. 


62 


Miß Kenney hatte zuerſt Einwendungen dagegen 


gemacht. Sie war an Hulda als Geſellſchafterin, als 


Vorleſerin gewöhnt, ſie behagte ſich als Herrin des 
Hauſes, in welchem ſie den Winter mit ihren Freunden 
zugebracht hatte. Die Unabhängigkeit, in der ſie zum 
erſtenmale ausſchließlich nach ihrem eigenen Gefallen 
hatte leben können, war ihr, da das Bequemlichkeits⸗ 
Bedürfniß des Alters ſich endlich auch bei ihr ein⸗ 
geſtellt, wohlthuend geworden, und ſie hatte ſich alſo 
ganz allmälig in die Ausſicht hineingelebt, die Jahre, 


welche noch vor ihr liegen mochten, abwechſelnd auf 


dem Schloſſe und in dem gräfllichen Hauſe in der 
Stadt zuzubringen, wobei ſie die Geſellſchaft Hulda's 
als etwas ſich von ſelbſt Verſtehendes in Rechnung 
gebracht hatte. Sie wünſchte deshalb auch Hulda, 
und mit ihr den Vater, deſſen Amtsthätigfeit doch 
keine nachhaltige mehr ſein konnte, bei ſich in der 
Stadt zu behalten, bis es ihr ſelber paſſen würde, 
auf das Land hinauszugehen, und die Gräfin durfte 
ſich, ſo weit es ihre Plane für ihre alte Erzieherin 
betraf, wieder einmal der Scharfſicht und Vorausſicht 
rühmen, mit denen ſie das derſelben Angemeſſene er⸗ 
kannt und für ſie vorbereitet hatte. Trotzdem be— 
ſtimmten Umſtände, welche völlig außerhalb ihrer Be⸗ 
rechnung gelegen, die Gräfin, über die greiſe 
Dienerin und Freundin noch einmal in anderer Weiſe 
zu verfügen. 

Ihr Schwiegerſohn wünſchte, durch Familien⸗ 
Angelegenheiten dazu veranlaßt, nach Paris zu gehen 
und ſeine Frau mit ſich zu nehmen. Die Gräfin war 


53 


geneigt, ſich ihnen anzuschließen, aber die junge Fürſtin 
konnte es nicht über ſich gewinnen, ihren nur wenige 
Monate alten Erſtgeborenen mit der Dienerſchaft allein 
zurückzulaſſen, und den Knaben bei der immer noch 
winterlichen Jahreszeit den Zufällen einer ſo weiten 
und langwährenden Reiſe auszuſetzen, trug der Vater 
Bedenken. Die Gräfin ſchlug alſo vor, die Kenney 
herbeizurufen, um dem fürſtlichen jungen Paare über 
alle Beſorgniſſe hinwegzuhelfen. Damit war man 
augenblicklich einverſtanden. Die Anweiſung, ſich auf 
den Weg zu machen, wurde der Vielbewährten in der⸗ 
ſelben Stunde noch ertheilt, die Zeit, in welcher der 
Brief in ihre Hände gelangen mußte, der Abgang der 
nächſten ſchicklichen Poſtgelegenheit waren dabei genau 
berechnet. Die Gräfin ſchrieb ihr, wann ſie auf der 
Station einzutreffen habe, auf welcher das Fuhrwerk 
des Fürſten ihrer warten würde; und weder in dem 
Gedankenkreis der an unbedingten Gehorſam gegen 
ihre Anordnungen gewöhnten Herrin, noch in dem 
Bereiche deſſen, was die unbedingte Unterordnung von 
Miß Kenney für möglich hielt, lag die Vorausſetzung, 
daß irgend etwas Anderes als ſchwere Krankheit ſie 
behindern könne, der empfangenen Weiſung ſofort 
pünktlich nachzukommen. Aber der zögernde Pulsſchlag 
des Alters ſteht mit raſchen Entſchließungen, mit plötz⸗ 
licher Umgeſtaltung ſeiner Plane im Widerſpruche, und 
wie das Vertrauen, das man in ſie ſetzte, und die 
Ausſicht, das Kind ihrer Clariſſe zu ſehen und zu 
behüten, die Greiſin auch erfreuen mochten, die Noth⸗ 
wendigkeit, innerhalb der nächſten vierundzwanzig 


64 


Stunden aufzubrechen, um, nur von einer Magd be 
gleitet, eine längere Poſtreiſe anzutreten, erſchreckte 
ſie und vermehrte in ihr die Unbehilflichkeit des 
Alters. 

Sie wollte bald dies, bald das, und wollte vor 
Allem doch gehorchen. Hätte die Gräfin ſie in ſolcher 
Rathloſigkeit geſehen, es hätte ſie die Auskunft be⸗ 
reuen machen müſſen, die ſie für ihr Enkelkind ge⸗ 
troffen hatte. Sie gab Hulda und dem Dienſtmädchen 
Befehle, die ſich widerſprachen, und es blieb der Erſteren 
denn endlich auch nichts Anderes übrig, als nach eigenem 
Ermeſſen einzugreifen und für ihre Beſchützerin vor— 
zuſorgen, wie ſie es für ihren Vater ſchon ſeit lange 
thun mußte. 

Der Tag verging in raſtloſer Geſchäftigkeit, es 
war viel des nächſten Nothwendigen zu beſorgen, zu 
bedenken; es mußte Abrede getroffen werden für die 
Heimkehr des Pfarrers und Abrede auch auf den Fall, 
daß Miß Kenney, wie ſie es für wahrſcheinlich hielt, 
für längere Zeit bei dem jungen Prinzen zu bleiben 
haben ſollte. Man kam wenig zur Ruhe, weniger 
noch zu einem geſammelten Geſpräche. Der Abend 
war da, ehe man ſich deß verſah. Auf ein ſo plötz⸗ 
liches Scheiden hatte man nicht gerechnet, aber die 
Gottergebenheit des Pfarrers und das Pflichtgefühl der 
Greiſin gaben Beiden Faſſung, als ſie ſich vor Nacht 
um die gewohnte Stunde trennten. 

„Verlaſſen Sie meine Tochter nicht!“ ſagte der 
Pfarrer, das war Alles. Miß Kenney drückte ihm 
die Hand. „Hulda weiß es,“ entgegnete ſie ihm, „wie 


65 


ſie auf uns Alle zählen kann. Sie wird nie verlaſſen 
ſein, wenn fie ſich getreu bleibt wie bisher.“ Damit 
trennten ſich die Beiden. 

Die Poſt ging in den frühen Morgenſtunden 
fort. Hulda hatte ſich ſehr zeitig erhoben, um der 
Reiſenden den Aufbruch zu erleichtern. Sie fand 
dieſelbe ebenfalls ſchon angekleidet, und beſchäftigt, ver⸗ 
ſchiedene Beſorgungen aufzuſchreiben, welche Hulda 
im Schloſſe für ſie ausrichten ſollte. Wie ſie ihr 
dieſelben mit jener ängſtlichen Genauigkeit des Alters 
eingeſchärft hatte, welches von der eigenen Schwäche 
und Unzulänglichkeit auf die der Anderen zu ſchließen 
liebt, ſagte ſie, während ſie noch die letzten Stücke in 
ihre Reiſetaſche ſteckte: „Ich mache mir einen Vor⸗ 
wurf daraus, daß ich mich mit Dir nicht längſt ein⸗ 
mal über Deine Zukunft ausgeſprochen habe; indeß 
ich hatte nicht erwartet, ſo bald und ſo plötzlich von 
Dir gehen zu müſſen. Nun drängt der Augenblick 
und ſolche Dinge machen ſich mündlich doch immer 
leichter ab als ſchriftlich. Der Arzt hat mir geſagt, 
daß Deines Vaters ganzer Zuſtand beſorgnißerregend 
iſt. Sein Augenleiden iſt Folge einer allgemeinen 
Erſchöpfung, die bei ſeinen Jahren keine Hoffnung auf 
neue Belebung der Kräfte zuläßt. Ich habe Dir dies 
bisher verſchwiegen, weil ich mit Euch zu bleiben und 
Dir im Nothfall, in der entſcheidenden Stunde, zur 
Seite zu ſtehen hoffte; das kann nun anders kommen. 
Du wirſt vorausſichtlich auf Dich und Deine eigene 
Kraft und Faſſung angewieſen ſein, 555 ich denke, 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 


66 


Du wirft Dich zu bewähren und das Zutrauen zu 
rechtfertigen wiſſen, das wir in Dich geſetzt haben. 
Glücklicherweiſe iſt ja auch der Adjunktus draußen, 
der ein wackerer und gemüthvoller Mann zu ſein 
ſcheint. Indeſſen eben ſeine Anweſenheit wird Dich 
in betreffendem Falle nöthigen, die Pfarre ſobald als 
möglich zu verlaſſen, und Du wirſt dann am beſten 
thun, wenn Du zu dem Amtmanne gehſt, der Dir 
wohlgefinnt iſt, bis ſich eine Stelle für Dich gefunden 
haben wird, die wir natürlich ſo bald und ſo wünſchens⸗ 
werth als möglich für Dich zu ermitteln ſuchen werden.“ 

Sie packte während deſſen die warmen Schuhe 
ein, die ſie im Poſtwagen anzuziehen dachte, unter⸗ 
ſuchte die Stöpſel und Korke an ihren Aether⸗ und 
Riechfläſchchen, ſah, ob die Bonbons ihr leicht zur 
Hand wären, und ſie hätte noch lange fortſprechen 
und noch lange unter ihren Sachen kramen können, 
ohne daß Hulda ſie unterbrochen haben würde. 

Es war nicht lange her, daß Gabriele die 
ſchmerzende Frage an ſie gerichtet hatte, was ſie zu 
thun denke, wenn ihr Vater einmal die Augen ſchließen 
werde? Aber wie traurig dieſe Frage fie auch ge⸗ 
macht, ſie hatte nicht die niederwerfende, die völlig 
entmuthigende Wirkung auf ſie hervorgebracht, wie 
Miß Kenney's eben gehörte Worte. Gabriele hatte 
doch nicht voll ermeſſen können, welch ein Sonnen⸗ 
ſchein einmal über Hulda's Leben aufgegangen war, 
wie hell die Zukunft ein paar kurze Tage hindurch ſich 
vor ihr ausgebreitet hatte, und wie unglaublich es ſie 
deshalb dünken mußte, daß all die Liebe und Hoffnung, 


67 


und all die Freude und all das Glück nicht dageweſen 
ſein ſollten; daß ihre heiße, treue Liebe, ihr Glaube 
und ihre Zuverſicht zu dem Manne, in dem ſie das 
Urbild allen Seelenadels verehrt hatte, ſie betrogen 
haben könnten. Miß Kenney wußte dieſes Alles — 
und benahm ihr trotzdem jede Hoffnung, jede! Miß 
Kenney hatte es ihr ſo häufig wiederholt, welch 
mütterliche Zärtlichkeit ſie für ſie hege und konnte an 
ihr Riechſalz und an die kleinſte ihrer Bequemlich⸗ 
keiten denken, während ſie über das Schickſal eines 
armen treuen Herzens den Stab in kühler Seelen⸗ 
ruhe brach. | 
Es war vergebens, daß Hulda mit ſich rang, 
vergebens, daß ſie ſich es vorhielt, wie viel ſie ihrer 
alten Beſchützerin an Unterricht und Pflege, an Unter⸗ 
weiſung und Erziehung, an tragender und ſtützender 
Geduld und Güte ſchuldig geworden ſei. Der Gedanke: 
ſie nimmt Dir alle Hoffnung, ſie findet es in der 
Ordnung, was Dir geſchehen iſt und was Du leideſt, 
und daß Dein Leben wie eine öde Haide weit und 
grau und farblos vor Dir liegt, preßte ihr das Herz 
zuſammen und ſchnürte ihr die Kehle zu. Hätte ſie 
ſprechen wollen, ſie hätte ihre Lippen nur mit einem 
Aufſchrei öffnen können. Die Bitterkeit, welche ſie in 
ihrem Schweigen zum erſtenmale in ſich aufſteigen 
fühlte, ſteigerte ihre Pein, und machte ihr auch das 
kleinſte Wort des Dankes zur Unmöglichkeit. 
Glücklicherweiſe war die gute Kenney viel zu ſehr 
mit ſich beſchäftigt, um Hulda's ſtarres Verſtummen 
5 * 


68 


ſonderlich zu merken. Die Anftrengungen und Un⸗ 
bequemlichkeiten, welche ihre Rückkehr zu der gräflichen 
Familie ihr auferlegte, machten ſie alles Andere ver⸗ 
geſſen. Hätte ſie es nicht als ihre Aufgabe erachtet, 
ihre Pflicht auf jedem Platze, auf den ſie das Geſchick 
geſtellt, bis auf das Letzte gewiſſenhaft zu erfüllen, jo 
hätte ſie vielleicht in der Spannung und Aufregung, 
in welche der plötzliche Befehl der Gräfin ſie verſetzt 
hatte, überhaupt kaum noch daran gedacht, Hulda in 
ſolcher Weiſe vorausſichtig zu berathen. 

Aber fie war beruhigt, daß fie es doch noch ge- 
than hatte, ehe der Wagen vorfuhr, der ſie nach der 
Poſt zu bringen hatte. Sie forderte Hulda noch in 
aller Eile auf, ihre muſikaliſchen Uebungen und ihre 
Sprachſtudien fleißig fortzuſetzen, weil man dieſe an 
einer Gouvernante am meiſten ſuche und bezahle. Sie 
rieth ihr, auch das Zeichnen nicht zu vernachläſſigen, 
in welchem ſie unter ihrer Leitung gute Fortſchritte 
gemacht hätte; ſie verſicherte, daß ſie der Gräfin und 
der Fürſtin über Hulda's verſtändiges Verhalten das 
Allerbeſte jagen werde, und daß dieſe ſicher ſein könne, 
nie des Schutzes und des Beiſtandes der Herrſchaften 
entbehren zu müſſen, durch deren empfehlende Ver⸗ 
wendung ein Unterkommen für ſie, ſich gewiß leicht 
finden werde, ſobald es einmal erforderlich ſein ſollte. 
Darauf küßte ſie Hulda ganz gerührt, drückte ſie mit 
wirklicher Zärtlichkeit an ihr Herz, als Hulda ihr in 
den Wagen half, rief ihr noch zu, ſie möge den Vater 
grüßen und möge es ihr gleich ſchreiben, wenn Etwas 
vorkommen ſollte, und Hulda ſah, wie ſie ſich die 


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69 


Augen trocknete, als ihre Dienerin der Morgenfälte 
wegen das Wagenfenſter ſchloß. 

Hulda ſtand unter dem Portale und ſchaute dem 
Wagen nach. — „Sie wird den Baron gewiß bald wieder⸗ 
ſehen,“ dachte ſie, „ſie wird ihm ſagen, daß ich mich 
getröſtet habe!“ fügte ſie hinzu, und die verhaltenen 
Thränen, die ihr bis dahin das Herz belaſtet hatten, 
ſtürzten ihr aus den Augen. 


Hiebentes Capitel. 


Ein paar Tage Später, gerade als der Adjunktus 
des Pfarrers wieder einmal in das Schloß gekommen 
war, den Amtmann und Mamſell Ulrike zu beſuchen, 
traf ein Brief von Hulda ein. Sie ſchrieb dem Amt⸗ 
mann im Auftrage von Miß Kenney, daß dieſe zu 
der jungen Fürſtin hinbeſchieden ſei, theilte danach 
dem alten Freunde das Urtheil mit, welches der Arzt 
über den Zuſtand ihres Vaters ausgeſprochen hatte, 
und bat ihn im Namen des Letzteren, er möge ihnen, 
ſo bald es ſein könne, für die Heimkehr ein Fuhr⸗ 
werk in die Stadt ſenden, da der Vater ſich danach 
ſehne, in ſein Haus und in ſeine Heimat zurückzu⸗ 
kehren. 

Der Amtmann, der mit unerbittlicher Strenge 
darauf hielt und darauf zu halten Urſache hatte, daß 
die Schweſter keinen Brief in die Hände bekam, der 
an ihn gerichtet war, wie unverfänglich ſein Inhalt 
auch immer ſein mochte, faltete das Blatt, nachdem 
er es geleſen hatte, mit Genauigkeit zuſammen, ſteckte 
es in die Bruſttaſche ſeines Flausrockes und fuhr ruhig 


zu rauchen und mit dem Kandidaten weiter zu con⸗ 
verſiren fort. | 

„Sie werden's nicht durchſetzen, Herr Adjunktus! 
das mit Ihrer Sabathfeier!“ ſagte er. „Wir ſind 
hierlands nicht Engländer und auch nicht Juden. 
Sehen Sie ſich vor. Die Leute beharren hier auf 
ihrem Kopf, auf den Gütern ſo gut wie in der Kate. 
Es geht hier nicht wie in der Stadt. Wir haben 
ſammt und ſonders an manchem Sonntag alle Hände 
nöthig, um den Segen nicht zu Schanden werden zu 
laſſen, den unſer Herrgott uns gegeben hat; und wer 
ſechs Tage in der Woche bei der Arbeit gekeucht hat 
und geſchwitzt, der will am ſiebenten Tage vor Ver⸗ 
gnügen keuchen und zum Vergnügen ſchwitzen. Sehen 
Sie ſich vor! Was man durchzuführen nicht gewiß 
iſt, das muß man mit den Leuten gar nicht exit pro= 
biren. Ein Pferd, das Ihnen vor dem Graben Kehrt 
gemacht hat, über den Sie es ſpringen laſſen wollten, 
das haben Sie nie wieder ſicher in der Hand. Und 
damit ich Ihnen nackt die ganze Wahrheit ſage, an 
mir haben Sie mit dieſer Sache keinen Rückhalt und 
an unſerem Herrn Paſtor auch nicht.“ 

Der Adjunktus ſchwieg. Es war ihm Ernſt mit 
ſeinem Amte, Ernſt auch mit der Heilighaltung des 
Sonntags, wie man ſie einzuführen ſtrebte, ſeit ſich 
die frömmelnde Richtung in der proteſtantiſchen Kirche 
geltend machte. Er war guter Leute Kind, ein hübſcher 
junger Mann von reinen Sitten und von gutem 
Herzen, kurz ein Mann, gegen den der Amtmann ſonſt 


Nichts einzuwenden hatte, als daß er ihm zu welt⸗ 


12 


fremd und zu fromm war, und daß er nicht rauchte. 
Aber er dachte bei ſich: das Rauchen lernt er wohl 
aus langer Weile noch, und die übergroße Frömmig— 
keit, die wird ſich auf dem Lande legen, wenn er ſie 
nicht mehr mit Seinesgleichen in bequemer Geſellig— 
keit, ſondern ganz für ſich alleine zu betreiben hat. 

Auch die Mamſell war ganz für den Adjunktus. 
Sie ſah es gerne, daß er faſt in jeder Woche einmal 
in das Amt kam, ſie ließ ſich's gerne gefallen, wenn 
er zu ihr von ſeiner Mutter ſprach, die ihn nach des 
Vaters frühem Tode mit Opfern aller Art erzogen 
hatte, bis auch ſie geſtorben war. Sie nannte ihn 
ein dankbares Gemüth, einen wohl zu leidenden ſanften 
Menſchen, und der Amtmann lachte, wenn ſie in des 
Adjunktus Beiſein ihre Stimme dämpfte und ihrer 
Rede Gewalt anthat, als beſorgte ſie, ihn zu erſchrecken 
oder zu verſcheuchen. 

„Sie wird ſich aus Narrheit noch auf die Sanft⸗ 
muth und Frömmigkeit verlegen, denn die Pfarr- 
Adjunkten ſind einmal ihre Leidenſchaft!“ ſagte er im 
Scherze zu ſeinem alten Freund, dem königlichen Ober⸗ 
förſter. Auch heute wieder, ſo ſchwer ihr's ankam, 
ihre Neugierde zu zügeln, denn ſie hatte die Hand— 
ſchrift auf dem Briefe erkannt, ging die Mamſell auf 
des jungen Mannes Unterhaltung ein, und ſtellte ſich 
auf ſeine Seite, weil ſich der Bruder gegen ihn 
erklärte. 

„Nein, weiß Gott, nicht!“ ſagte ſie ſo ſanft und 
leiſe, als ſie konnte. „An dem Bruder finden Sie 
Ihren Rückhalt nicht, Herr Adjunkt! Der kennt Nichts 


13 


als Arbeit, immer Arbeit, am Sonntage wie am 
Wochentage und ſich im Stillen freuen hat er nie 
gekonnt.“ 

Der Amtmann ſchlug ſein hellſtes Lachen auf. 
„Nein!“ rief er, „nein, da hat ſie Recht, und zu dem 
Vergnügen, das Sie mir heute bereiten, nicht zu 
lachen, da müßte ich nicht mehr ich ſelber ſein. Aber 
nun iſt Alles möglich! Das iſt ja mehr als bloß Be— 
kehrung, das iſt die reine Hexerei. Die Schweſter, 
die ſich auf die Sonntagsruhe und auf die Heiligkeit 
verlegt! Das iſt ein Mirakel, Herr Adjunkt! Wenn 
Sie mir Die zur Sanftmuth, wenn Sie mir Die zur 
Stille und zum Schweigen bringen, ſo ſollen Sie 
mein Mann ſein, mehr noch als bisher.“ 

Ulrike wurde feuerroth. „Statt den Herrn 
Adjunktus zu verhöhnen und mich zu verſpotten, weil 
ich mich noch nicht zu alt erachte, meine Fehler abzu⸗ 
legen, wenn man ſie mir durch gutes Beiſpiel deut⸗ 
lich macht, ſollteſt Du —“ fie brach plötzlich ab und 
biß ſich auf die ſchmalen Lippen. 

Dem guten Sinne des jungen Geiſtlichen waren 
dieſe Vorgänge zwiſchen dem Amtmann und der 
Schweſter ſehr zuwider. Er war klug und verſtändig 
genug, die rechtſchaffene Tüchtigkeit des Amtmannes 
trotz ſeiner gelegentlichen Derbheiten zu achten und zu 
ſchätzen, und doch noch unerfahren genug, ſich einzu- 
bilden, daß es ihm wohl gelingen könnte, in Mamſell 
Ulrike, die ſich immer ſeiner Anſicht zeigte, ſo oft der 
Amtmann derſelben widerſprach, eine Sinnesänderung 
und vielleicht, wie er es in ſeiner Weiſe nannte, eine 


74 


Bekehrung und Erhebung zu bewirken. Es war ihm bis⸗ 
weilen auch geglückt, Ulrike zu beſänftigen, ſo daß er 
ſich die Ueberwindung, mit welcher ſie in dieſem Augen⸗ 
blicke innehielt, als ſein Verdienſt anrechnete und ihr 
zu Hilfe kommen wollte, als der Amtmann ihm dieſe 
Möglichkeit mit der an die Schweſter gerichteten Frage 
abſchnitt: „Na, komm' nur damit heraus! Was er 
ich denn?“ 

„Du ſollteſt,“ fuhr Ulrike, ihrer ſelbſt jetzt ih 
länger mächtig, fort, „Du ſollteſt wiſſen, daß ich es 
nun einmal für den Tod nicht leiden kann, wenn Du 
ſo die Briefe von der Hulda für Dich allein behältſt 
und wegſteckſt, als ob die heiligen zehn Gebote oder 
die heilige Offenbarung darin ſtänden, die unſer Herr⸗ 


gott“ — der Verkehr mit dem Adjunkten hatte ihre 


Gedanken auf den Bereich der Bibel hingelenkt — 
„die unſer lieber Herrgott denn doch nicht bloß für 
einen Einzigen in die Welt geſchickt hat.“ 

„Stehen auch gar keine Geheimniſſe in dem 
Briefe,“ entgegnete der Amtmann, dem es Spaß zu 
machen ſchien, daß ſeine Schweſter die ihr neue Rolle 
der Gehaltenheit und Mäßigung bei jedem Anlaſſe 
wie ein läſtig Kleidungsſtück von ihren Schultern 
warf, und der das Necken nicht leicht laſſen konnte. 
„Steht Nichts darin, was ich Dir nicht hätte ſofort 
jagen können, hätte ich nicht befürchtet, Dir und dem 
werthen Herrn Adjunktus damit Bedenken zu erregen, 
daß ich das Fuhrwerk für den Paſtor am Sonntag 
abgehen laſſen will.“ 


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75 


: „Wozu das Fuhrwerk?“ fragte die Mamſell auf- 
horchend. 

Der Amtmann ließ ſich mit der Antwort Zeit. 
Seine Pfeife hatte ſich verſtopft, er mußte ſie in 
Ordnung bringen. Ulrike klopfte mit den ſpitzen 
Fingern ungeduldig auf den Tiſch. Der Amtmann 
ſchien das gar nicht zu bemerken. „Die Frau Gräfin“, 
ſagte er endlich, „die Frau Gräfin hat die Kenney 
zur Frau Fürſtin hingerufen, ſie iſt vor einigen Tagen 
abgereiſt —“ 

„Und das ſagſt Du mir erſt jetzt, und als ob 
das gar Nichts wäre?“ fiel die Schweiter dem Amt⸗ 
mann mit freudeſtrahlendem Triumphe in die Rede. 
„Das iſt ja ein wahres Glück! Die alſo wäre man 
doch nun wieder los! Und das leiſe Kommandiren 
und all das beſcheidene Hofmeiſtern und Beſſerwiſſen 
hat doch wieder auch einmal ſein Ende. Ich wollte 
nur, ſie holten —“ 

Aber ſie beſann ſich eines Beſſeren. Sie ſprach 
nicht aus, was ſie erwünſchte, und fragte ſtatt deſſen 
nur, was denn ſonſt noch Gutes in dem Briefe 
ſtände. 

„Nicht viel Gutes,“ verſetzte der Amtmann. „Ich 
hatte es aber bald gedacht, daß keine Hilfe mehr für 
unſeren guten Paſtor ſein würde. Er weiß das jetzt 
auch ſelbſt; das arme Kind, die Hulda aber, weiß noch 
mehr, als der Doktor ihm zu ſagen für gut befunden 
hat. Der kranke Mann ſehnt ſich nun nach Hauſe, 
und die Hulda bittet mich, ihnen ein Fuhrwerk in die 


76 


Stadt zu ſchicken, was ich denn gleich übermorgen 
thun will, ehe die Wege vollends grundlos werden.“ 
„Da ſie ſo lange weggeblieben ſind,“ meinte die 
Mamſell Ulrike, „ſo könnten ſie nun ſchon bleiben, bis —“ 
„Bis die Wege vollends grundlos werden,“ fiel 
der Amtmann ein, „oder bis der arme Mann die 


Heimat, in die er wiederkehrt, gar nicht mehr ſehen 


kann? Nein, das Mädchen hat ganz Recht. Sie 
müſſen je eher je lieber in ihr Haus zurück, wo der 
Pfarrer Alles an ſeinem Flecke kennt und findet, und 
wo er, wie die Hulda es mir ſchreibt, ſelbſt dasjenige 
noch zu ſehen glauben wird, 155 er 1 nicht 
mehr genau erkennt.“ 

Der Amtmann war gegen ſeine Gewohnheit ganz 


gerührt über dieſe Vorſtellung und über ſeines alten 


Freundes trauriges Geſchick. „Für Sie, Herr Ad— 
junktus,“ ſagte er, „wird es auch recht gut ſein, wenn 
die Beiden erſt wieder in dem Hauſe ſein werden. 
Der Pfarrer iſt hier geboren, er kennt die Leute hier 
und wird Ihnen noch beſſer als ich ſelber jagen kön⸗ 
nen, was hier geht und nicht geht; Und die Tochter 
— nun, Sie haben ſie ja geſehen, die drei Tage, die 
Sie in der Pfarre vor des Paſtors Abreiſe noch zu— 
ſammen geweſen find. — Ich halte große Stücke von 
dem Mädchen. Es iſt brav und gut!“ und als wolle 
er die Empfehlung Hulda's, die er mit Gefliſſenheit 
ausgeſprochen hatte, doch nicht gar zu merklich machen, 
fügte er hinzu: „Auch die Mutter war eine brave 
Frau, die mit ihrem Wenigen gut hauszuhalten 
wußte.“ 


77 


Ulrike hatte Hulda's Lob nur mit Ueberwindung 
angehört; ſeit ſie aber in dem Verkehr mit dem Ad⸗ 
junktus angefangen hatte, ſich der Milde und der 
chriſtlichen Liebe zu befleißigen, hatte ſie die ſelige 
Paſtorin in den Kreis derjenigen ihr ungefährlichen 
Perſonen aufgenommen, von denen ſie nichts Uebles 
ſagte und auf die ſie auch Nichts kommen ließ. „Ja!“ 
verſetzte ſie, „die ſelige Simonene war eine gute Frau 
und hatte auch bei uns mancherlei Gutes angenom⸗ 
men in der Wirthſchaft und im Hauſe. Sie und ich 
haben es auch nicht fehlen laſſen an der Hulda! Aber, 
was dem Mädchen mangelt, das läßt ſich nicht erlernen 
und nicht geben; das muß aus dem Herzen kommen, 
das muß angeboren ſein.“ 

„Und was mangelt denn der Hulda?“ fragte der 
Amtmann, der ſeiner Schweſter nie recht traute, wenn 
ſie, wie er ſich ausdrückte, wie ein Igel, der für ſich 
Gefahr merkt, ihre Stacheln einzog. 

„Demuth! Demuth mangelt ihr;“ und halblaut, 
wie zu ſich ſelber ſprechend, ſetzte ſie hinzu: „unter 
einem Baron thut es die Hulda einmal nicht!“ 

Der Amtmann zog die Augenbrauen in die Höhe 
und gab der Schweſter einen Wink, den ſie nicht über- 
ſehen und nicht mißverſtehen konnte. Sie ſtand auf 
und ging, mit den Schlüſſeln an ihrem Bunde klap⸗ 
pernd, raſch hinaus. Der Amtmann ſchritt im Zimmer 
auf und nieder. Es ging ihm Etwas im Kopfe 
herum, er konnte nur nicht mit ſich einig werden. Mit 
einemmale blieb er vor dem Gaſte ſtehen. 


78 


„Ich müßte die Menſchen hier herum, und ich 
müßte meine Schweſter nicht kennen,“ hub er ohne 
alles Weitere an, „oder Sie haben ſchon allerlei von 
dem Gerede zu hören bekommen, das die Schweſter 
Ihnen da eben wieder als ein rechtes Zeichen ihrer 
Art von Nächſtenliebe aufzutiſchen dachte. Glauben 


Sie davon kein Wort, es iſt Alles Lüge und Ver⸗ 


leumdung, Alles! Alles! Das arme Kind iſt zu be⸗ 
klagen, und einem freundlichen Geſicht im Hauſe zu 
begegnen, wird dem Mädchen gut thun. Denken Sie 
daran.“ 8 
Es lag ſo viel redliche Güte in ſeinen Worten 
und in ſeinen Mienen, daß ſie den graden Sinn des 
jungen Mannes überwältigte und ihm das Herz erſchloß. 


„Es iſt wahr,“ entgegnete er, „und es iſt mir 


befremdlich aufgefallen, daß man auf den bei uns ein⸗ 
gepfarrten Gütern, und auch daß Mamſell Ulrike der 
Tochter des Herrn Paſtors nicht geneigt iſt. Soweit 
ich ſie aber in den paar Tagen kennen lernte, die ich 
mit ihr verlebt habe, kam ſie mir ſanft und gut und 
ſchlicht vor, und die geringen Leute hängen ihr in 
Liebe an. Man hat auch Nichts offen gegen ſie aus⸗ 
geſagt —“ 

„Weil man Nichts auszuſagen hat! Weil ſelbſt 
der Neid, der hier im Spiele iſt, Nichts vorzubringen 
hat!“ rief der Amtmann, der ſich zu erhitzen anfing. 


„Setzen Sie bei allen Weibern, bei den jungen wie 


bei den alten, und bei meiner Schweſter obenan, nur 
immer einen rechten gründlichen Neid voraus, wenn 
ſie von einem ſchönen braven Mädchen reden, und eine 


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PPP 


12 


heimliche Schadenfreude, wenn ihm etwas Uebles wider- 
fährt, und Sie werden ſolch armen Mädchen wie der 
Hulda, dann gerecht ſein.“ 

Der Adjunkt hörte das mit Freude. Man hatte 
ihm Hulda gleich bei den Antrittsbeſuchen, die er zu 
machen hatte, als eitel, als gefallſüchtig und intrigant 
geſchildert. Man hatte argliſtig gelächelt, wenn er aus⸗ 
geſprochen, daß ſie ihm nicht alſo erſchienen ſei, und 
hatte angedeutet, der ſchöne Sekretär des Fürſten, und 
Seine Durchlaucht ſelber, und der Bruder der Frau 
Gräfin wüßten von der ſchlichten Unſchuld mehr zu 
jagen. Er hatte von ſolchen Bemerkungen gleich ab⸗ 
gelenkt, hatte mit richtigem Empfinden auch von Nie⸗ 
mandem Auskunft über die Tochter ſeines vorgeſetzten 
Amtsbruders verlangen wollen; aber die Ausſicht, mit 
einem Mädchen, deſſen Ruf ſo ſchwer geſchädigt ſchien, 
in täglichem und engem Verkehr zu leben, war ihm 
bei ſeiner ſtrengen Sittlichkeit und in ſeiner amtlichen 
Stellung gleich widerwärtig erſchienen, und des Amt⸗ 
manns Worte, das Lob, das derſelbe der Pfarrers— 
tochter mit ſolcher Liebe ſpendete, erfreuten deshalb 
den wackeren jungen Mann. Zum erſtenmal erlaubte 
er ſich nun die Frage, was denn Anlaß geboten habe 
zu den Gerüchten, die über Hulda umliefen, und der 
Amtmann, dem das Verhalten des Adjunkten in dieſer 
Angelegenheit ſehr wohl gefiel, gab ihm offenen und 
völligen Beſcheid. 

Darüber wurde das Eſſen in der Nebenſtube auf⸗ 
getragen, Mamſell Ulrike rief zu Tiſch. Der Amt⸗ 
mann ſagte während der Mahlzeit dem älteſten Inſpektor, 


80 


daß Sonntag in der Frühe der Reiſeknecht mit dem 
halbverdeckten Holſteiner in die Stadt zu fahren habe, 
um den Herrn Paſtor und Mamſell Hulda herauszu⸗ 
holen, und es war danach die Rede weiter nicht von ihnen. 

Nur als der Adjunktus ſich empfahl und Mam⸗ 
ſell Ulriken zum Abſchiede die Hand gab, drückte ſie 
ihm dieſelbe leiſe und ſagte flüſternd: „Sie werden 
Ihr Wunder erleben, Herr Adjunkt! Aber für Sie ib 
mir nicht bange!“ 

Er that, als hörte oder verſtände er es nicht 
Ulrike war ihm plötzlich ſehr zuwider. Er kam ernſt 
und mit ſich unzufrieden in der Pfarre an. Sein 
Mangel an Welt⸗ und Menſchenkenntniß drückte ihn. 
„Man ſollte uns nicht in ſo jungen Jahren ſolche 
Aemter anvertrauen,“ dachte er in ängſtlicher Ge⸗ 
wiſſenhaftigkeit, und mit dem Geloͤbniß, böſer Rede 
nie ſein Ohr zu leihen, ſchloß er an dem Abend ſein 
Gebet. 


ö 
| 
| 


Achtes Capitel. 


Des Amtmanns Reiſeknecht hatte den Befehl er⸗ 
halten, die Pferde in dem Stalle des gräflichen Hauſes 
vierundzwanzig Stunden ruhen zu laſſen. Den Tag 
danach führte der alte Wagen, den der Amtmann ihnen 
zu dem Zwecke in die Stadt geſchickt, den Pfarrer und 
ſeine Tochter wieder in das Dorf zurück. 

Es war die ſchlimmſte Zeit für eine ſolche Fahrt. 
Das Thauwetter war früher als gewöhnlich eingetreten; 
die Wege hielten nicht und brachen nicht, es war nicht 
von der Stelle zu kommen. Obſchon man am Morgen 
mit der Abfahrt nicht gezögert hatte, dämmerte der 
Abend bereits herein, als man an dem Schloſſe vor⸗ 
überfuhr, deſſen hohe, breite Mauern ſich ſchwer und 
maſſig gegen den weißlich⸗grauen Himmel abzeichneten, 
von dem zerſchmelzender Schnee dicht und leiſe auf 
die Erde niederrieſelte. 

Die Fahrt in dem halbverdeckten Wagen kam 
dem kränkelnden Greiſe bei dem naßkalten Wetter recht 
hart an, aber nach ſeiner geduldigen Weiſe ließ er 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 6 


82 


kein Wort der Klage hören. Er drückte nur von Zeit 
zu Zeit freundlich ſeine Zufriedenheit darüber aus, 
daß er nun bald in ſeinem Hauſe, in ſeiner Gemeinde 
ſein werde. Er rühmte es zu verſchiedenenmalen mit 
dankbarer Genugthuung, daß er ſelbſt im Dämmer⸗ 
lichte die Gegenſtände noch immer unterſcheiden, daß 
er ſeine Heimat wirklich noch wiederſehen könne; und 
wie man dann an dem Schloſſe vorüberfuhr, verweilte er 
mit freundlicher Erinnerung bei all dem Guten, das 
ihm durch der Gräfin Großmuth in der Stadt zu 
Theil geworden war, wie bei der tröſtlichen Ausſicht, 
welche ihm ebenfalls die Gunſt der Gräfin für ſeine 
fernere Amtsführung durch die Anweſenheit ſeines 
jungen Gehilfen bereitet hatte. 

Seine Ergebung, ſeine Geduld und Dankbarkeit 
rührten und beſchämten Hulda, aber ſie konnte bei dem 
beſten Willen ihr Herz nicht dazu bringen, ſie zu 
theilen. Sie konnte die Mauern des Schloſſes nicht 
vor ſich aufſteigen ſehen, ohne ſich daran zu erinnern, 
was ſie dort erlebt hatte, und wie es dunkler und 
dunkler wurde, überwältigte ſie die Erinnerung an 
jene ſturmdurchtobte Herbſtnacht, in welcher ſie dieſes 
Weges auch gefahren war, in des Geliebten Arm, den 
Kopf an ſeiner Bruſt, in berauſchenden Glückesträu⸗ 
men, aus denen das Entſetzen über der Mutter Tod 
ſie aufgeſchreckt hatte. Alles, was ſie ſeitdem erlebt, 
erlitten, was in den letzten Tagen in der Stadt er⸗ 
hebend, aufregend und beunruhigend an ſie heran⸗ 
getreten war, zog wie Wolkengebilde, die der Sturm⸗ 
wind jagt, deutlich und doch raſtlos durch ihren Sinn. 


83 


Ihr Sollen und Müſſen, ihr Wünſchen und Wollen 
ſtanden wider einander. Das nahm ihr den Glauben 
an das Gute in ihrem Herzen. Sie fühlte ſich zer⸗ 
riſſen und verwirrt, unzufrieden mit ſich ſelbſt, ver⸗ 
zweifelnd an ſich ſelbſt, und ohne einen Strahl von 
Hoffnung, von Befürchtungen aller Art bedrängt. Das 
iſt ſonſt nur des Alters Stimmung, wenn es ſich zu 
beſcheiden nicht vermag, und Hulda kam ſich auch mit 
ihren achtzehn Jahren alt, und fertig mit dem Leben 
vor, nach deſſen Glück ſie doch ſo ſehr verlangte. 

Es war ſchon völlig dunkel, als der Wagen durch 
das ſtille Dorf fuhr. Nur die Hunde ſchlugen an 
wie in jener wilden Herbſtnacht des verwichenen Jahres. 
Vor den Fenſtern waren die Strohmatten nieder⸗ 
gelaſſen, wo man ſolche hatte, die Läden geſchloſſen. 
Der Schulz des Dorfes trat, wie er den Wagen kom⸗ 
men hörte, an die halbgeöffnete Thüre und rief dem 
Paſtor ſein treuherziges Willkommen durch die Nacht zu. 

Durch die kleinen Scheiben des Pfarrhauſes ſchim⸗ 
merte ihnen das Licht entgegen, als der Kutſcher vor 
dem Gitter des Gärtchens ſtille hielt. Der Küſter, 
der ſeinen Herrn Pfarrer ſchon den ganzen Nachmittag 
erwartet hatte, war der Erſte an dem Wagen, der 
Adjunktus folgte ihm auf dem Fuße. Ernſt und be⸗ 
ſcheiden, wie es ſeine Art war, bot er Hulda die Hand. 
Er half dem Pfarrer behutſam aus dem Wagen, er 
ging vorſichtig neben ihm her, auch ſein Willkomm 
kam vom Herzen. 

Auf dem Tiſche brannten die beiden Lichter, das 
Feuer kniſterte in dem alten grünen Kachelofen. Die 

6 * 


34 


Wärme that dem Pfarrer und auch Hulda nach der 
langen kalten Tagfahrt wohl, und der Pfarrer fetzte 
ſich mit Behagen in den Lehnſtuhl, den der Küſter 
ihm an den Ofen herangerückt hatte. Der Thüre 
gegenüber hing der Schattenriß der Mutter ſo wie 
ſonſt. Der Adjunktus hatte einen ſchönen Kranz von 
friſchem Moos und Tannengrün darum gewunden. 
Man ſah, hier hatte guter Wille den Empfang be⸗ 
reitet, und es erſchreckte Hulda, daß es ſie nicht mehr 
erfreute. Ihr hatte vor dem nahen Zuſammenleben 
mit dem fremden jungen Manne gebangt, nun kam 
er ihnen ſo gutwillig entgegen, und doch laſtete 
eine wahre Angſt auf ihr. Das Haus war ihr nie 
ſo klein, die Stube nie ſo eng und niedrig vorgekom⸗ 
men, als heute, da ſie dieſelbe durch mehrere Monate 
nicht geſehen und betreten hatte. Es umfing ſie wie 
die Mauern eines Kerkers. Sie hätte fort mögen, 
hinaus, zurück in Nacht und Dunkel, den Weg zurück, 
zurück und hin zu ihm, von dem ſie nicht abzulaſſen 
vermochte, wie fern er ihr auch war, wie wenig ſie 
ihm galt. 

Es war gut, daß die häuslichen Verrichtungen 
ſie zwangen, raſch das Zimmer zu verlaſſen, daß ſie 
ihre Augen ungeſehen trocknen konnte, und daß die 
Einrichtung des ins Stocken gerathenen Haushaltes 
ſie an dieſem Abende und durch viele Tage ganz in 
Anſpruch nahm. Die heilende Gewohnheit konnte ſich 
während deſſen wieder beſänftigend über die Wunde 
legen, die bei jedem neuen Anlaß blutend aufſprang, 
Hulda konnte wieder lernen, ihr Geſchick gelaſſen zu 


85 


ertragen. Nur ſich aufzurichten war ſie nicht im 
Stande. 

Das Beiſammenleben mit dem Adjunktus ge⸗ 
ſtaltete ſich inzwiſchen gut und leicht. Weil er in 
ſeiner Gewiſſenhaftigkeit es ſich zum Vorwurf machte, 
daß er auf üble Nachrede hin ungünſtig von Hulda 
gedacht hatte, kam er ihr mit erhöhter Achtſamkeit ent⸗ 
gegen. Er fand ſie ernſt und ſtill, er ſah ſie dienſt⸗ 
fertig und fleißig, ihre vorſorgende Hingebung für 
ihren Vater blieb ſich immer gleich; und da ſie ihrer⸗ 
ſeits bemerkte, daß der Pfarrer die Hilfe und die Ge⸗ 
ſellſchaft des jungen Mannes als ein Glück erachtete, 
war ſie bemüht, demſelben durch Freundlichkeit zu ver⸗ 
gelten, was er dem Vater war und leiſtete. Selbſt 
der Zuſchuß, den die Gräfin dem Paſtor um des Ad- 
junktus wegen in ſeinen Einnahmen und in den ihm 
zuſtehenden Lieferungen bewilligt hatte, kam der haus⸗ 
haltenden Tochter wohl zu ſtatten, und beide Männer 
erkannten es ihr dankbar an, wie ſie mit Wenigem 
viel zu ſchaffen, wie ſie durch Anmuth allem Gelei⸗ 
ſteten und Geſchafften höheren Werth zu geben wußte. 

Der Adjunktus, den ſeine geringen Mittel immer 
zur Zurückgezogenheit genöthigt, hatte wenig unter 
Menſchen gelebt, noch weniger Verkehr mit jungen 
Frauenzimmern gehabt. Die ruhige Sicherheit, die völlige 
Unbefangenheit, mit welcher Hulda ihm begegnete, 
hatten deshalb für ihn einen fremdartigen Zauber. 
Die gute Schulung, welche ihren natürlichen Anlagen 
in der Geſellſchaft des Schloſſes und durch die Kenney 
zu Theil geworden war, ihre Kenntniſſe und ihre 


85 


Bildung hoben ſie weit hinaus über die wenigen jungen 
Frauenzimmer, welche er bisher gekannt, über die 
Töchter der Geiſtlichen und Gutsbeſitzer, denen er nach 
Uebernahme ſeiner jetzigen Stellung ſeine Aufwartung 
zu machen gehabt hatte. Und da er ohne Schweſter 
in ſeinem Elternhaus erwachſen war, gingen ihm in 
dem täglichen Beiſammenſein mit Hulda neue Freuden⸗ 
en uf, 235 
Alles was ſie that und wie ſie's that, Alles, was 

er mit ihr gemeinſam unternehmen konnte, ward ihm 
zum Genuß. Es freute ihn, wenn er den Vorleſer 
des Pfarrers machen durfte, denn Hulda ſaß an ihrer 
Näharbeit ihm gegenüber. Es machte ihn glücklich, 
wenn er neben dem Greiſe am Sonntag in die Kirche 
und zur Kanzel ging, denn Hulda ging mit ihnen. 
Es erhob ihn, wenn er ſtatt des Pfarrers die Sonn⸗ 
tagspredigt halten konnte, denn Hulda's Augen hingen 
in andächtigem Sinnen an den ſeinen, und liehen ihm 
Worte und gaben ihm Bilder und eine Wärme, die 
er früher nicht beſeſſen hatte, und von denen er nicht 
ſagen konnte, woher ſie ihm gekommen waren. — 
Gott iſt mit mir! dachte er, wenn Der und Jener 
ihm zu hören gab, daß er gut gepredigt habe und daß 
man den Herrn Paſtor gar nicht mehr vermiſſe, wenn 
der Adjunktus auf der Kanzel ſtehe. Nur Mamſell 
Ulrike hatte ihm dies nie geſagt, und ſie kam auch 
nicht mehr ſo oft zur Kirche als im Winter, obſchon 
die Kälte und die Näſſe nachgelaſſen hatten und die 
Sonne ſchon an manchen Tagen ſo warm hernieder⸗ 
ſchien, daß der Schnee und das Eis davor geſchmolzen 


87 


waren. Bisweilen krümelten wohl noch weiße Stera⸗ 
chen nieder, aber der Himmel war doch ſchon wieder 
blau, und man freute ſich an dem ſonnendurchleuch⸗ 
teten Geglitzer in der Luft. 

Die Oſtern waren da, man wußte in der Pfarre 
ſelbſt nicht wie. Die Tage waren leiſe dahingeſchwun⸗ 
den, es war für Hulda an ihnen nichts Beſonderes zu 
verzeichnen geweſen, einer hatte dem anderen geglichen. 
Wo aber die Tage ſich nicht von einander unterſchei⸗ 
den, da iſt der Rückblick in die Vergangenheit und 
das Zeitmaß für dieſelbe ungewiß und ſchwankend. 
Sie konnte es bisweilen gar nicht faſſen, daß noch 
nicht zwei Jahre vergangen waren, ſeit ſie Emanuels 
Bild zuerſt erblickt, noch nicht fünfzehn Monate, ſeit 
ſie ihn zuletzt geſehen hatte. Oftmals mußte ſie ſich 
fragen, wie lange es denn her ſei, daß ſie bei Gabrielen 
geweſen war? Sie hatte Mühe, ſich daran zu erinnern, 
daß es eine Zeit gegeben, in der ſie nicht an Emanuel 
gedacht, in der ſie ſeinen Ring nicht an der Hand 
getragen hatte. Weil ihre Liebe ihr Alles war, ſchien 
ſie ihr ohne Anfang wie das All, und fühlte ſie die⸗ 
ſelbe in ſich ohne Ende wie die Ewigkeit. Was konnten 
daneben die Tage und Wochen für ſie noch bedeuten? 
Sie liebte — und die Tage floſſen ſtill an ihr vorüber. 

Am Oſterſonntag wollte der Pfarrer ſelbſt die 
Kanzel beſteigen, denn je mehr ſeine Kräfte nachließen, 
umſomehr hielt er darauf, an den großen Feiertagen 
noch ſelber zu der Gemeinde zu ſprechen, weil er doch 
nicht wiſſen konnte, ob es ihm in dem nächſten Jahre 
noch gegönnt ſein werde. Die Taufe aber ſollte nach⸗ 


88 


her der Adjunkt abhalten, denn es waren alle die 
Kinder aus den eingepfarrten Dörfern in die chriſtliche 
Gemeinde aufzunehmen, welche während der kälteſten 
Zeit geboren worden waren, und die man eben des⸗ 
halb nicht hatte zur Kirche tragen können. 

Eine halbe Stunde vor dem erſten Läuten, wäh⸗ 
rend der Vater in ſeiner Stube noch ſeine Predigt im 
Geiſte wiederholte, trat Hulda vor die Thüre hinaus, 
um die Blumenſtöcke, die ſie ſeit langer Zeit zum 
erſtenmale wieder hatte hinaus 1 5 und in der freien 
Luft begießen können, in das Zimmer und auf das 
Fenſterbrett zurückzutragen, wo ſie hübſch ausſahen 
zwiſchen den friſch gewaſchenen Gardinen. 

Der Adjunktus ging langſam in den kleinen 
Wegen hin und her; bald bückte er ſich zur Erde und 
ſuchte Etwas auf den Beeten, dann muſterte er die 
erreichbaren Aeſte der vier Tannen und die Sträuche 
in dem Garten. Er hielt ein paar Schneeglöckchen und 
einige Weidenzweige in der Hand, an denen die erſten 
ſilbergrauen Blüthenkätzchen ſchimmerten, die das Land⸗ 
volk in der Gegend Palmen nennt. Als er Hulda vor 
die Thüre kommen ſah, trat er an ſie heran. 

„Es iſt heute ein rechtes Auferſtehungswetter,“ 
ſagte er. „Die erſten Palmen ſind heraus, in dem 
e e regt es ſich, und ſogar ein paar 
Schneeglöckchen ſind ſchon hervorgekommen.“ Er reichte 
ihr die Zweige und die Blumen hin, ſie ſprach ihre 
Freude daran aus und ſtrich leiſe, wie ein ſpie⸗ 
lend Kind, mit den weichen Weidenkätzchen über ihre 
Wangen. 


89 

„Ich trug Bedenken,“ meinte er darauf, „die 
Blümchen abzubrechen und Ihnen die Luſt des Fin⸗ 
dens zu entziehen; aber ich habe meiner Mutter immer 
am Oſtertage einen wenn auch noch ſo kleinen Strauß 
geſucht, und ſo wollte ich auch Ihnen einen bringen. 
Es hat ſie immer ſo gefreut!“ 

„Oh, es freut mich auch, und ich danke Ihnen; 
es freut mich wirklich ſehr!“ entgegnete ſie ihm. 

„Sie ſehen ſo ſelten aus, als ob Sie Etwas 
freute!“ ſagte er. 

„Hab' ich denn zu immer neuer Sorge nicht 
täglich neuen Grund?“ verſetzte ſie. „Mein Vater iſt 
ſo ſchwach!“ 

„Aber Gott iſt mächtig und gnädig!“ gab er ihr 
zur Antwort. 

„Ach, für den S geſchehen keine un 
mehr, der hat zu tragen, hat ſich zu beſcheiden — 

„Und zu vertrauen und zu hoffen!“ fügte er 
hinzu. 

Sie ſchüttelte das Haupt. „Was mich bedroht, 
das weiß ich. Und hoffen? —“ Sie brach in ihrer 
Rede ab. Er ſtand verlegen vor ihr, nicht wiſſend, 
ob er reden oder ſchweigen ſolle. Er hätte ihr ſagen 
mögen, daß er durch den Amtmann von ihren Er⸗ 
lebniſſen unterrichtet ſei, aber er ſelber dachte ſo un⸗ 
gerne an dieſelben und mit ſolcher Abneigung an 
Baron Emanuel, daß er ſie vollends nicht an ihn 
erinnern mochte. 

„Ich glaube,“ hub er endlich an, „Ihnen fehlt 
die feſte, zuverſichtliche Ergebung in den Willen Gottes, 


90 


die mir Ihren Vater ſo verehrungswürdig und zu 
einem ſo erhebenden Beiſpiele macht.“ 

Das war es aber gar nicht geweſen, was er ihr 
hatte ſagen wollen, und es ſchien ihr auch nicht zu 
gefallen, denn ſie entgegnete ihm mit einem gewiſſen 
Trotze gegen ſeine Mahnung: „Gott hat dieſe Er⸗ 
gebung nun einmal nicht in mein Herz gelegt!“ 

Der Ausruf erſchreckte ihn, denn er wähnte, 
daß ſie ſeine Gläubigkeit damit verſpotten wolle, und 
ohne die ruhige Ueberlegung, die ihm ſonſt nicht fehlte, 
rief er: „Ach, hätten Sie Ihr Vaterhaus doch nie 
verlaſſen!“ | | 

Der Wunſch kam ſo voll aus feinem Herzen, die 
Lebhaftigkeit, mit welcher er ihn ausſprach, wich durch⸗ 
aus von ſeiner ſonſtigen gehaltenen Weiſe ab. Hulda 
ſah ihn befremdet an. Wie ihr Blick aber den ſeinen 
traf, konnte er es nicht ertragen, und in einer Ver⸗ 
wirrung, die ihm das Blut zu Kopfe trieb, ſagte er: 

„Vergeben Sie mir die Anmaßung!“ 

Aber auch Hulda wurde verwirrt und roth, denn 
ſo wie der Adjunkt jetzt vor ihr ſtand, ſo hatte auch 
ſie einſt faſſungslos und ihrer ſelbſt nicht mächtig da⸗ 
geſtanden vor Emanuel, und ſie wußte, was das zu 
bedeuten hatte. Eine ganze Menge kleiner Vorgänge 
zwiſchen ihr und dem Adjunktus: Worte, Mienen, die 
in all den letzten Wochen an ihr unbeachtet vorüber⸗ 
gegangen waren, drängten ſich nun plötzlich wie die 
kleinen Theilchen in einem Kaleidoſkop mit einemmale 
zu einer feſten, beſtimmten Geſtaltung zuſammen, die 
ſie nicht mißkennen konnte und vor der ſie wie vor 


U... ĩ˙ wm ³»˙.ͥ¹w K ũͤ—Uůʃ—́3-:—[¼æ ] ] A A u mn Tale ln m un m ua nn 


91 


einer heiligen Enthüllung demüthig das Auge ſenkte. 
Indeß ihre Wahrhaftigkeit ließ ihr keine Wahl, und 
mit raſcher Selbſtüberwindung fragte ſie: „Was ſoll 
ich Ihnen verzeihen? Daß Sie Theil an mir und 
meinem Schickſale nehmen, oder daß auch Sie er⸗ 
fahren haben, was hier in der Gegend gewiß vielfach 
beſprochen worden iſt?“ Sie ſtockte, weil es ihr hart 
ankam, vor einem Anderen laut werden zu laſſen, 
was ſie ſich ſelber an jedem Tage wiederholte, aber 
die Bewegung, die ſie in den Zügen des Adjunktus 
las, trieb ſie vorwärts und half ihr über ihre mäadchen- 
hafte Schüchternheit hinweg. 

„Es iſt wahr,“ ſagte ſie, „ich bin nicht glücklich, 
und vielleicht haben Sie recht, daß es mir beſſer ge⸗ 
weſen wäre, ich hätte unſer Pfarrhaus nie verlaſſen. 
Aber glauben Sie mir“ — und ihre Sprache zitterte 
in ſchönem, vollem Klange und ihre Stimme wurde 
belebt wie fie das ſagte — „es gibt ein Unglück, das 
doch beglückender als manches Glück iſt, ein Unglück, 
das man mit allen ſeinen Schmerzen liebt. Ja! wenn 
ich ſelbſt mir ein anderes, ſogenanntes ruhiges Geſchick 
durch Vergeſſen meines Leids erkaufen könnte, ich 
müßte wie der ritterliche König ſagen: „Mieux aime 
mon martyre!“ denn es iſt mein Leben und mein 
Sein!“ 

Sie wendete ſich raſch von ihm und ging in 
das Haus zurück. Sie mochte nicht, daß er es ge- 
wahrte wie ihre Augen ſich mit Thränen füllten, noch 
weniger mochte ſie ihn anſehen. Er blieb geſenkten 
Hauptes ſtehen wie angebannt. Wäre ſein Ebenbild, 


92 


ſein Doppelgänger vor ihm emporgeſtiegen, er ſelbſt 
und doch nicht er ſelbſt, und ihm ſo fremd, wie er 
ſich in ſeinem ganzen Empfinden in dieſem Augen⸗ 
blicke war, ſo fremd wie Alles um ihn her ihm jetzt 
mit einemmale erſchien — es würde ihn nicht mehr 
erſchüttert haben als der Blick, den er in ſein Herz 
und in Hulda's Herz gethan hatte. 

Die Kirchenglocke ſchreckte ihn empor. Sie klang 
ihm mißtönig und dumpf, als wäre ſie geborſten, und 
er hatte ſie doch ſonſt ſo gern gehört. Er konnte es 
nicht aushalten in der freien Natur. Der Tag und 
die Sonne, Baum und Strauch, es ſah ihn Alles mit 
klaren Augen klug und forſchend an. Es war nicht 
zum Ertragen. Es drängte ihn in die Enge, in die 
Einſamkeit zurück, er mußte allein ſein und ſich ſam⸗ 
meln. Wie ſollte er die Taufe heute vollziehen? wie 
konnte er vor der Gemeinde von der heiligen Gemein⸗ 
ſchaft der ganzen Chriſtenheit in einer Stunde ſpre⸗ 
chen, in der er ſich wie ausgeſtoßen und von Gott 
verlaſſen fühlte. Er eilte in ſeine Stube, er wollte 
nachdenken, was eigentlich geſchehen war, er wollte ſich 
ſammeln, er faltete in ſeiner Pein die Hände zum 
Gebet, aber es war Alles vergebens. Er konnte den 
Weg nicht finden, auf dem er ſonſt dem Herrn ge 
naht war, die Himmelsthüre war ihm wie verſchloſſen, 
und wie er auch mit ſich rang und ſich aufzuraffen 
und emporzuſchwingen ſtrebte, wie er es verſuchte, ſich 
zu demüthigen und zu beſcheiden, es gelang ihm nicht. 
Die unſeligen Worte: „Mieux aime mon martyre!“ 
ſchwirrten ihm mit ihrem fremden Klange unheimlich 


W 


93 


vor dem Ohr. Er hörte, er ſah ſie, ſie ſtanden wie 
mit Flammenſchrift in ſeinem Innern, ſie verſengten 
ihm Bruft und Hirn, daß ſelbſt die Thränen ihm 
davor verſiegten, daß er nicht weinen konnte — und 
er hatte doch ſolches Mitleid mit ihr und auch mit ſich! 

Darüber ward es Zeit, zur Kirche zu gehen. Er 
hatte den Pfarrer ſeit deſſen Rückkehr immer hin⸗ 
geleitet, er mochte ihm auch heute nicht fehlen. Der 
Vater in der Mitte, Hulda an ſeiner Rechten, der 
Adjunkt zu feiner Linken, ſo ſchritten fie durch das 
Gärtchen und über die Dorfgaſſe und den Kirchhof, 
durch die Kirche bis in die Sakriſtei. So war es alle 
die Sonntage geweſen, ſo war's auch diesmal anzu⸗ 
ſehen, und doch ſo anders. 

Hulda ſprach von dem ſchönen Wetter, und wie 
gut es dem Vater thun werde, und wie gut es für 
die Täuflinge ſei. Der Adjunkt hörte es und hörte es 
nicht. Es lag eine Welt zwiſchen ihm und ihr, der 
er doch zu eigen war mit ſeiner ganzen Seele. 

„Kann ich hier bleiben? Darf ich hier bleiben? 
und wie wär es denn möglich, daß ich ginge, fort- 
ginge von ihr?“ — Das waren die einzigen Gedanken, 
die er feſtzuhalten vermochte. 

Er hörte es, wie der Pfarrer von der Kreuzigung 
ſprach, die Jeder in ſeinem Innern an ſeinen böſen 
Neigungen vollziehen müſſe zu ſeiner eigenen Erlöſung, 
um dann ſeine Auferſtehung und neue Menſchwerdung 
unter dem Beiſtande Deſſen zu feiern, der ſich an 
das Kreuz ſchlagen laſſen zur Erlöſung der Menſch⸗ 
heit. Bisher hatte der Adjunkt, wie er glaubte, redlich 


94 


an ſich gearbeitet. Er hatte ſeine Seele rein erhalten, 
ſein Gewiſſen frei bewahrt und nichts Höheres gekannt, 
als lehrend in ſeinem Amte ſeinen Glauben zu be— 
kennen. Was ihn davon hätte abziehen können, würde 
er als Sünde erachtet und niederzukämpfen geſtrebt 
haben. Aber heute war es ihm unmöglich, ihr Bild 
aus ſeiner Seele zu verſcheuchen, das ihn von der 
andächtigen Theilnahme an dem Gottesdienſte abzog. 

Er liebte ſie, wie ſie ihr Leiden liebte, er verſtand ſie 
bis in ihr tiefſtes Herz, ſeine Augen hingen an ihr, 


und während der Küſter von der Orgel die feierlichen 
Klänge des Schlußliedes herniederſchallen machte, 


während das troſtreiche Lied: „Auferſteh'n, ja auf⸗ 
erſtehen wirſt du mein Leib nach kurzer Ruh'! Un⸗ 
ſterblich Leben wird der dich ſchuf dir geben!“ mit 
ſeinem Hallelujah, von gläubigen Herzen geſungen, 
durch die kleine Kirche ſchallte, ſtimmten nur die 
Lippen des jungen Geiſtlichen in den verheißungs⸗ 
vollen Hymnus ein, denn Hulda's: „Mieux aime 
mon martyre!“ hatte ſein ganzes Weſen hingenommen. 

Zerſtreut und mit ſich ſelbſt zerfallen, trat er 
nach der beendeten Oſterfeier vor den Altar, um die 
Taufhandlung zu vollziehen. Es waren anſehnliche 
Familien um den Altar verſammelt, denn auch der 
Amtsrath, der die benachbarte königliche Domäne ver⸗ 
waltete, ließ ſeine Zwillingsknaben taufen, die ſchon 
zwei Monate alt waren, und die Eltern waren alſo 
Beide mit zur Kirche gekommen. Der Amtmann und 
Mamſell Ulrike ſtanden bei ihnen Gevatter, ein paar 
hübſche Gutsbeſitzers⸗Töchter hielten die Knaben über 


4 4 dA 5 
nnn 


95 


die Taufe; und auch für die minder vornehmen Täuf⸗ 
linge mangelte es nicht an anſehnlichen Pathen, denn 
der Aermſte und Geringſte will ſeinem Kinde, dem 
er vielleicht ſonſt Nichts zu bieten hat, doch gerne einen 
angeſehenen Pathen und einen ſchönen Namen für den 
Weg durch's Leben zugute kommen laſſen. Hulda 
fehlte unter den Taufzeugen natürlich auch heute nicht, 
denn die Armen im Dorfe wußten, was ſie an ihr 
hatten. Aber ihre Anweſenheit machte dem Adjunktus 
ſeinen Zuſtand vollends unerträglich. 

Weil er ſie nicht anſehen wollte und ſeine Blicke 
ſich doch immer zu ihr wendeten, erſchien er unruhig. 
Seine Sprache war haſtig und abgebrochen, er ver⸗ 
wirrte ſich in ſeiner Rede. Es war nicht allein 
Mamſell Ulrike, welche die Bemerkung machte, daß 
der Adjunktus heute völlig wie verwandelt ſei, und daß 
man noch keine ſo ſchlechte Rede und keinen ſolchen 
ſchlechten Vortrag von ihm vernommen habe; aber es 
war allein Ulrike, die ſeinen Blicken gefolgt war, und 
die mit der ſcharfen Beobachtungskraft der Abneigung 
die Urſache ſeiner Faſſungsloſigkeit vermuthete. 

Der kalte Schweiß ſtand ihm auf der Stirne. 
Es überlief ihn, als er von dem Altare in die 
Sakriſtei kam, während der Amtsrath mit der Frau 
zu ihm hereintrat. Sie wollten, wie üblich, ſich bei 
ihm bedanken und ihm ſagen, daß der Wagen gleich 
vor der Pfarre vorfahren werde, um ihn abzuholen, 
denn es war große Taufgeſellſchaft in dem Domänen⸗ 
Amtshauſe und der Adjunktus hatte die Einladung zu 
derſelben angenommen, während der Pfarrer um ſeiner 


0 


96 


Geſundheit willen ſie für ſich und ſeine Tochter ab⸗ 


gelehnt hatte. Man trug nach der Anweſenheit der 
Letzteren auch kein beſonderes Verlangen, weder die 


Amtsräthin, noch ihre beiden Nichten, die Gutsbeſitzers⸗ 


Töchter. Um ſo erſtaunter war man jedoch, als auch 


der Adjunktus ſich entſchuldigte, und auf ihn nicht zu 


rechnen bat. Er ſei nicht wohl und könne alſo leider 
nicht dabei ſein, erklärte er. Dagegen war Nichts zu 
ſagen und auch Nichts zu machen. Man bedauerte es, 
man gab ihm guten Rath, denn er ſah wirklich übel 
aus. Dann ſtieg man in die Wagen und fuhr davon. 


Mamſell Ulrike und die beiden Mädchen fuhren 


mit der Amtsräthin. „Es kann mir leid thun,“ ſagte 
dieſe, „daß der Adjunktus krank iſt, aber auf der 
anderen Seite iſt es doch beruhigend. Denn ſolch 
eine Rede! Es war wirklich als hätte er nur Fiſcher 
und Einlieger vor ſich gehabt und nicht gebildete 
Menſchen, die eine gute Predigt werth ſind und zu 
ſchätzen wiſſen, und die ſich von ſolch feierlichem Tage 
doch auch für das Gemüth Etwas zur Erinnerung mit⸗ 
zunehmen wünſchen. Ich habe mir von allen meinen 
Kindern aus den Taufreden etwas aufgeſchrieben und 
es oft recht mit Erbauung durchgeleſen — aber heute! 
Es war nicht aus, nicht ein! Der Adjunktus ſah auch 
gleich von Anfang ſehr erbärmlich aus. Wenn ihm 
nur nicht das Fieber in den Gliedern ſteckt, es iſt die 
Jahreszeit dazu.“ 

Mamſell Ulrike lächelte. Die Amtsräthin fragte, 
was das bedeuten ſolle. 


97 


„In den Gliedern wird ihm wohl Nichts ſtecken,“ 
warf Ulrike hin, „aber was ihm im Sinne ſteckt und 
was ihn heute ſo zerſtreut hat, darüber bin ich nicht 
im Zweifel. Ich habe geſehen, wo ſeine Augen hin⸗ 
gegangen find, und da werden feine Gedanken ver⸗ 
muthlich auch geweſen fein. Es iſt immer wieder 
daſſelbe alte Lied!“ 

Die drei Anderen verſtanden ſie nicht gleich und 
wurden neugierig; die Mamſell wich aus. Das machte 
die Anderen dringlicher. Sie ſpielte die Zurückhaltende. 
„Was iſt denn darüber viel zu ſagen,“ meinte ſie 
endlich, „es iſt ja immer die nämliche Geſchichte. So⸗ 
wie nur ein junger Mann in ihre Nähe kommt, wirft 
ſie ihre Netze aus, und es gelingt ihr jedesmal. Man 
ſollte wirklich ſagen, daß es nicht mit rechten Dingen 
zugeht.“ Sie hatte keinen Namen ausgeſprochen, aber 
jetzt wußten die Amtsräthin und auch die Mädchen 
nur zu gut, was und wen Ulrike meinte. 

„Der Adjunkt iſt ſchon der Vierte!“ ſagte ſie 

„Der Vierte?“ fragte die jüngſte der beiden 
Schweſtern. | 
Freilich,“ bekräftigte Ulrike, „mit dem Bruder 
unſerer Frau Gräfin hat es angefangen, dann kam 
Seine Durchlaucht an die Reihe, und dann Seiner 
Durchlaucht Sekretär, ein anſtändiger und hübſcher 
junger Menſch. Und ſelbſt den armen Herrn Adjunktus, 
der gewiß an Nichts weniger gedacht hat, als an 
Frauenzimmer ihrer Art, hat ſie nun auch ſchon in 
ihr Garn gelockt. Es iſt nur zu hoffen, daß er ſich 


Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 7 


98 


herauszieht wie der Herr Baron und daß ſie wieder 
einmal das Nachſehen hat.“ 

„Es iſt ſchrecklich,“ meinte die Amtsräthin, „wirk— 
lich eine Schande, und obenein für eine Pfarrers⸗ 
tochter und ſo braver Leute Kind!“ 

„Was ſie nur dabei denken muß?“ ſagte die eine 
Schweſter. 

„Und was ſoll denn aus ihr werden, wenn ihr 
Vater einmal ſtirbt?“ warf die Andere ein. 

„Hier kann ſie natürlich nicht mehr bleiben,“ be⸗ 


merkte die Amtsräthin, „hier iſt viel zu viel von ihr 


geſprochen worden!“ 

„Oh, man wird noch mehr zu ſprechen haben 
und noch mancherlei erleben. Mir iſt es nur um den 
armen jungen Menſchen leid, den ſie um ſein An⸗ 
ſehen und um die Stelle bringen wird!“ verſicherte 
Mamſell Ulrike, und brach plötzlich ab, da man auf 
dem halben Wege eine kleine Weile anhielt, die Pferde 
verſchnaufen zu laſſen. 

Der Amtsrath und der Amtmann traten an den 
Schlag heran, zu ſehen, wie die vier Frauenzimmer 
ſich die Zeit vertrieben. Sie fanden ſie alle Viere 
munter und vergnügt; und ſie hatten doch ſo eben über 
eine Abweſende, die ſich nicht vertheidigen konnte, er⸗ 
barmungslos Gericht gehalten und eine moraliſche 
Hinrichtung vollzogen. 

Sie fuhren in aller Seelenruhe weiter, von Hulda 
war nicht mehr die Rede. Wer hatte denn an ſolchen 
ſchönen, vergnügten Feſt⸗ und Feiertagen auch Luſt und 


99 


Zeit, ſich mit ſo unangenehmen Dingen und Ver⸗ 
hältniſſen noch einmal zu befaſſen? 

Mochten ſie in der Pfarre zuſehen, wie ſie ſelber 
mit ſich fertig wurden, und mochte dann der Ad— 
junktus die Erfahrung machen, wer es redlicher mit 
ihm gemeint hatte, die alte treue Freundin, der ſeine 
Zukunft ſo am Herzen lag, oder Hulda, die nur daran 
dachte, ſich einen Mann zu ſchaffen und ſich zu ver⸗ 
ſorgen. 


Neunkes Capitel. 


—ͤ — 


Redlich meinen! Wer hat ſich nicht ſchon im 


Leben einmal auf ſeine redliche Meinung geſtützt, wenn 


er, um ſeinen Willen durchzuſetzen, einem Anderen 
Gewalt angethan hatte? Wer hat ſich nicht einmal 
mit ſeiner redlichen Meinung beruhigt, wenn er durch 
den unberechtigten Eingriff in fremde Verhältniſſe ein 
Unheil angerichtet, das leichter heraufzubeſchwören als 
wieder gut zu machen war? 

Auch die Gräfin berief ſich auf ihre redliche 
Meinung, als die Entfernung, in welcher der Bruder 
ſich von ihr hielt, ihr zu lange währte und zu ſchmerz⸗ 
lich wurde; es wollte ihr jedoch nicht recht gelingen, 
ihn dadurch zu verſöhnen. Emanuel beantwortete ihre 
Briefe Anfangs gar nicht. Er vermißte offenbar den 
Zuſammenhang mit ſeiner Schweſter nicht, der Brief⸗ 
wechſel mit Konradine ſchien ihn ſchadlos dafür zu 
halten. 

„Wenn ich nur nicht mehr von den ſogenannten 
guten Abſichten, von redlicher Meinung und ehrlichem 
Rathe, von reiferer Einſicht und von ruhigerer Be⸗ 


101 


trachtung reden hören müßte; von all jenen faden- 
ſcheinigen Mäntelchen, in welche die Selbſtſucht ſich 
verhüllt, wenn es ihr darum zu thun iſt, fremden 
Willen zu unterdrücken, um den ihren durchzuſetzen,“ 
ſchrieb er einmal ſeiner Freundin, die unausgeſetzt in 
ihrem Stift verweilte. „Aber wir verhalten uns 
ſolcher ſeeliſchen Verkleidung gegenüber wie zu den 
Vermummungen auf einer Familien⸗Maskerade. Wir 
wiſſen, wer hinter dieſen Masken ſteckt, wir wiſſen, 
wie wir das Geſagte zu nehmen und zu deuten haben; 
wir ſind indeß viel zu wohlerzogen, um in Zweifel zu 
ziehen, was man uns glauben machen will, und geſell⸗ 
ſchaftlich zu gut geſchult, um Diejenigen zu erkennen, 
die ſich in ihrer Verkleidung wohlgefallen. Darüber 
geht nur leider der Abend, geht uns das Leben hin! 
Wir ſtreifen an einander vorüber, ohne eigentlichen in⸗ 
neren Erwerb, und müſſen ſchließlich froh ſein, wenn wir 
ohne peinliche Berührung bleiben, wenn wir nicht in 
aller Eile erfahren haben, was nicht erfahren zu 
haben, was vergeſſen zu können, wir ſehnlich wünſchen 
müſſen.“ 

Er ſchrieb Konradinen nicht, worauf oder auf 
wen ſich dieſe Betrachtung eigentlich beziehe, und 
Konradine ihrerſeits übte mit feinem Verſtändniſſe 
aus, was er über die Wohlerzogenheit geäußert hatte, 
die in ſolchen Fällen nicht erräth, was man nicht 
ausdrücklich errathen haben will. Sie nahm den 
Satz ſo allgemein, wie er ihn hingeſtellt hatte, um 
aber der Erörterung doch näher zu kommen, bezog ſie 
ihn auf ſich, auf ihr perſönliches Geſchick und ihre 


102 


Handlungsweiſe, und fie wußte es am beften, wie viel 
Grund ſie dazu hatte. 

„Es muthet mich eigenartig an,“ gab ſie ihm 
zur Antwort, „von Ihnen ſo deutlich ausgeſprochen 
und wiederholt zu ſehen, was ich an mir ſelbſt erleidend 
und ausübend erfahren habe. Ich ziehe mir daraus 
den Schluß, daß Herrſchſucht und Gewaltthätigkeit nebſt 
dem Glauben jedes Einzelnen an ſeine ganz beſondere 
Weisheit zu den Angeborenheiten des Menſchen ge— 
hören, gegen die er ſelbſt ſich zu wehren hat, und 
gegen welche auch die Anderen ſich zu verwahren haben, 
da des Menſchen Wohlgefallen an ſich ſelbſt ihn doch 
meiſt behindert, ordentliche, wirklich durchgreifende Er⸗ 
ziehungsverſuche mit ſich vorzunehmen. Mit welchen 
Maſſen von reiferer Einſicht und ruhigerer Erwägung 
bin ich überhäuft worden, als man mich glauben machen 
wollte, daß mir nichts allzu Ungerechtes, nichts Grau⸗ 
ſames widerfahren ſei. Man wollte vermuthlich mit der 
Aſche der Weisheit, die man über mich zu ſchütten für 
angemeſſen hielt, das Feuer erſticken, das in meiner 
Seele brannte, und das doch nicht eher ſich zu be— 
ruhigen begann, bis es die eigentliche Lebenskraft ver⸗ 
zehrt hatte, aus der es ſeine Nahrung zog. Und doch! 
— Kaum hatte ich die Erfahrung gemacht, mit welcher 
leichtfertigen Selbſtgewißheit man es unternommen, 
über meine Empfindungen und über die meiner Natur 
nothwendigen Glücksbedingungen munter abzuurtheilen, 
ſo that ich Ihnen gegenüber ganz genau daſſelbe. Ich 
habe es Ihnen nicht verborgen, daß ich jene Verbindung, 
an welche Sie damals dachten, für Sie als eine Un⸗ 


103 


möglichkeit betrachtete. Auch heute noch glaube ich, 
daß wir Alle, ich und meine Mutter und die Gräfin, 
die wir damals mit ſo viel Sorge auf die Entwicklung 
blickten, welche Ihre Herzens-Idylle nehmen würde, 
Sie und Ihr wahres Weſen und Ihr Bedürfen richtiger 
beurtheilt haben, als Sie ſelbſt. Wenn Sie alſo nicht 
auch mich mit den Anderen ſammt und ſonders zu 
den unheilbar Verblendeten und Unverbeſſerlichen zählen, 
und mit denſelben verwerfen und verdammen wollen, 
fo müſſen Sie ſich entſchließen, falls Sie mir ver⸗ 
zeihen, dies auch bis zu einem gewiſſen Grade gegen 
die Anderen, und gegen die Menſchen im Allgemeinen 
in Ausübung zu bringen. Sie müſſen es über ſich 
gewinnen mit und unter der unvollkommenen großen 
Menge weiter fortzuleben, wie es eben geht, und wie 
ich es auch in meinen jetzigen Verhältniſſen zu thun 
nöthig habe. Dabei aber mache ich zu meinem Er⸗ 
ſtaunen die Erfahrung, wie leicht man Herrſchaft ge⸗ 
winnen kann, wenn man ſich mit der Maſſe auf die 
gleiche Stufe ſtellt, ſtatt ſie von der Höhe aus leiten 
zu wollen, auf die man ſich erhoben hat oder erhoben 
zu haben glaubt.“ 

Sie erwähnte dann noch flüchtig, daß die Ge⸗ 
ſundheit der Aebtiſſin ſich nicht beſſere, daß dieſelbe fie 
in ihr beſonderes Vertrauen gezogen habe, ihr manche 
Theile der Verwaltung und der Verhandlungen zu 
ordnen überlaſſe, in denen fie mit den Behörden viel- 
fach zu verkehren habe, und daß dieſe Art von ge⸗ 
ſchäftlicher Thätigkeit ſie, als ein ihr Neues, unterhalte 
und auch unterrichte. „Aber auch in allem dieſem 


104 


Thun,“ ſo ſchloß ſie ihren Brief, „liegt wiederum die 
Freude an dem Einfluſſe, an der Macht, mit einem 
Worte die Freude an der Herrſchaft verbunden. Da 
es mir nicht zu Theil ward, eines geliebten Mannes 
und eines Fürſten Frau zu werden, ſo male ich es 
mir jetzt mit wachſender Vorliebe immer beſtimmter 
aus, wie es mich kleiden würde, als Aebtiſſin ein 
ſolches weibliches Gemeinweſen zu beherrſchen und zu 
regieren; denn aus dem Grabe der Liebe feht nur zu 
oft der Ehrgeiz ſiegreich auf.“ 

Für Emanuel waren die Tage, an welchen er 
die Briefe ſeiner Freundin erwarten durfte, eigentliche 
Feſttage. a kühne Freimuth, mit welchem ſie ſich 
ſelber preisgab, ihre Fähigkeit ſich unparteiiſch zu be⸗ 
trachten, flößten ihm Achtung ein; und was er am 
meiſten an ihr bewunderte, das war die Entſchloſſen⸗ 
heit, mit welcher ſie ſich über ihre getäuſchte Hoffnung 
zu erheben und mit ihrem Herzen fertig zu werden 
trachtete. Das war mehr, als er jelber vermochte. 
Konradine gefiel ihm aus der Ferne faſt noch mehr, 
als wenn er ſich in ihrer Geſellſchaft befand. Denn 
wenn ſie vor ihm ihre Anſichten mündlich ausſprach, 
trat ſie damit häufig der Vorſtellung zu nahe, welche 
er von dem Weſen ſchöner Weiblichkeit als Ideal in 
ſeinem Herzen trug, während er, wenn ſie ihm ſchrieb, 
ſich rein und voll an ihrer Eigenartigkeit zu erfreuen 
vermochte. Er wurde es nicht müde, es ſich und ihr 
zu wiederholen, daß er in ihr gefunden habe und be⸗ 
ſitze, was er ſtets erſehnt und was für ihn auch ſicher 
das Angemeſſene ſei: einen verſtändnißvollen Freund 


105 


mit einem Frauenherzen; die tieffte Zufammengehörtgfeit, 

ohne daß man auf dieſelbe Anſprüche an eine Aus⸗ 
ſchließlichkeit begründe, welche zu erfüllen beſchwerlich 
fallen könnte, und endlich einen Vertrauten, deſſen 
man ſich vollkommen ſicher wiſſe. 

Auch waren ſeine Offenheit und ſein Vertrauen 
zu ihr ganz unbegrenzt. Weil ſie bei jedem Anlaſſe 
ihre Karten rückhaltlos auf den Tiſch warf, hielt er 
es bei ſeiner Geradheit für unmöglich, daß ſie — mit 
jener Taſchenſpielerkunſt, in welcher alle Herrſchſüchtigen 
und insbeſondere ein großer Theil der Frauen Meiſter 
ſind — die letzte entſcheidende Karte in der Hand für 
ſich zurück behielt. Konradine hatte ihm unumwunden 
ausgeſprochen, daß auch fie ſchon zum öfteren ge⸗ 
nöthigt geweſen ſei, ſich über ihre Handlungen mit 
ihrer redlichen Abſicht und mit ihrer guten Meinung 
zu beruhigen; indeß ſie hatte es doch nicht für an— 
gemeſſen gehalten, ihm mitzutheilen, in welch innige 
Verbindung ſie mit ſeiner Schweſter getreten war, ſeit 
er ſich von derſelben ferne hielt. 

Die Gräfin hatte Konradinen, als dieſe ihr für 
die gaſtliche Aufnahme in ihrem Schloſſe Dank ge⸗ 
ſagt, lebhafte Theilnahme an ihrem Schickſale aus⸗ 
geſprochen und ihr dann aus freiem Antriebe aber⸗ 
mals geſchrieben, nachdem Konradine in das Stift 
eingetreten war. Bis zu jenem Zeitpunkte hatte kein 
brieflicher Verkehr zwiſchen ihnen Beiden ſtattgefunden, 
der von Konradinens Seite über einen gelegentlichen 
Glückwunſch, von Seiten der Gräfin über einen 
freundlichen Dank hinausgegangen wäre. Das be= 


106 


fliffene Entgegenkommen der jo bedeutend älteren und 
einflußreichen Frau hatte Konradine in ihrer damaligen 
Gemüthsverfaſſung angenehm berührt, wenn ſchon ſie 
es ſofort auf ſeine richtigen Beweggründe zurückzu⸗ 
führen verſtanden hatte. Aber ſie hatte in jenen 
Tagen einer Beſchäftigung und neuer Antriebe bedurft, 
und die Verbindung mit der Gräfin hatte ihr ſolche 
dargeboten. Anfangs hatte die Gräfin nur nebenher 
bemerkt, daß ſie ſeit einiger Zeit ohne direkte Nach⸗ 
richten von ihrem Bruder ſei, dann hatte ſie an⸗ 
gedeutet, daß eine Spannung zwiſchen ihnen obwalte, 
über deren Gründe Konradine ſich nicht im Unklaren 
befinden könne, da ſie eben in den Tagen, in welchen 
das Zerwürfniß zwiſchen der Gräfin und ihrem Bruder 
platzgegriffen, ſich in der Geſellſchaft des Letzteren be⸗ 
funden, und, wie die Gräfin von der Baronin zu ihrer 
beſonderen Genugthuung vernommen, eine wirkliche 
Freundſchaft für denſelben gewonnen habe. 

So war man raſchen und leichten Schrittes von bei⸗ 
den Seiten vorwärts gegangen, bis Konradine, die der 
Gräfin fortdauernd ihr Wohlgefallen an ihren neuen 
Lebensverhältniſſen ausgeſprochen hatte, ſich endlich dazu 
erboten, den Freund unmerklich und allmälig zu einer 
Ausſöhnung mit der Schweſter hinzuführen. Daß 
eine ſolche nur zu ermöglichen ſei, wenn man Emanuel 
überzeugen könne, daß er Hulda überſchätzt habe, daß 
ihre vermeintliche Liebe für ihn nur eine flüchtige, 
leicht von ihr verſchmerzte Aufwallung, und ſie durch⸗ 
aus nicht im Stande geweſen ſei, ſeine wirkliche Be⸗ 
deutung zu ermeſſen, darüber waren beide Frauen 


107 


einig, ohne daß darüber eine Silbe zwiſchen ihnen 
gewechſelt worden war. Sie handelten dabei, die 
Eine wie die Andere, in der redlichſten Meinung, nach 
der beſten Abſicht; nur daß Jede von Ihnen noch 
Vorausſichten und Plane hegte, welche über den nächſten 
Zweck, über die Ausſöhnung der Entzweiten hinaus⸗ 
ging, und eben in dieſen Planen wichen die beiden 
neu befreundeten Frauen weit von einander ab. 

Die Gräfin, welche ihren Bruder in ſeinem tiefſten 
Weſen kannte, wußte es, daß er den ſpäten, zerſtörten 
Jugendtraum von Liebe, nicht leicht vergeſſen werde. 
Er hatte es vor Konradinen auch nicht Hehl, daß ſein 
Herz noch blute, und daß es ihn ewig ſchmerzen 
werde, ſich eben in dieſem Mädchen getäuſcht zu haben, 
an deſſen Liebe er mit einer fataliſtiſchen Zuverſicht 
geglaubt. Von ſeiner Schweſter ſprach er in den 
Briefen an Konradine nur ſehr ſelten. Die Stifts⸗ 
dame hingegen erwähnte der Gräfin, ſo oft ſich ein 
ſchicklicher Anlaß dazu darbot und ſie that es immer 
mit warmer Anerkennung ihrer großen und ſeltenen 
Eigenſchaften, die es dem Bruder doch beklagenswerth 
machen müßten, von der bewährten und älteſten Freun⸗ 
din nun getrennt zu ſein. Sie machte dieſe Bemer⸗ 
kung niemals, ohne dabei hervorzuheben, wie uneigen⸗ 
nützig ſie in dem Wunſche ſei, die Geſchwiſter ausgeſöhnt 
zu wiſſen, da ſie fraglos eine Einbuße dadurch erleiden 
werde, und weil Emanuel dadurch genöthigt wird ſich 
über den Charakter ſeiner Schweſter und über die 
Beſchwerden, welche er gegen ſie hatte, auszulaſſen 
gewöhnte er ſich allmälig wieder daran, ſich wenigſtens 


= 


108 


in feinen Briefen wieder mit der Schweſter zu be— 
ſchäftigen. Wenn er ſie anklagte, vertheidigte Konradine 
ſie, aber ſie hob dabei Fehler an ihr hervor, welche 
die Gräfin nicht beſaß, ſo daß der Bruder es als ſeine 
Pflicht erachtete, dieſelbe dagegen in Schutz zu nehmen; 
und war er dabei aus alter Gewohnheit und in wirk— 
licher Schätzung ihrer Verdienſte, wider ſeinen Willen 
ihr Lobredner geworden, ſo begrüßte die Freundin dies 
mit ſolcher Herzlichkeit als ein gutes Zeichen, daß 
Emanuel dadurch veranlaßt ward, nur um ſo größer 
von Konradinens edler Uneigennützigkeit zu denken. 
Mehr als anderthalb Jahre hatte dieſer Brief- 
wechſel zu beiderſeitiger Befriedigung bereits gewährt 
und er war mit der Länge der Zeit nur immer inniger 
geworden. Aber das geſchriebene Wort hat, um richtig 
zu wirken, oft einer Verſtärkung, ja einer gewiſſen 
Uebertreibung nöthig, damit erſetzt und ausgeglichen 
werde, was Ton und Blick, Stimme und Geberde dem 
lebendigen Worte zugute kommen laſſen. Jeder Brief⸗ 
wechſel führt deshalb, wenn er lange und ohne erneute 
perſönliche Berührung fortgeſetzt wird, die Gefahr einer 
Ueberſpannung mit ſich, und wird daneben leicht abſtrakt, 
beſonders wenn die Schreibenden, in Zurückgezogen— 


heit lebend, wenig Wechſelndes und Aeußerliches zu 


berichten, alſo nur von ihrem Denken und Empfinden, 
von ihren Studien und Betrachtungen zu melden 
haben. 

Emanuel bemerkte dieſes vornehmlich, ſo weit es 
ihn betraf, und ward ſich dadurch ſeiner Abgeſchieden⸗ 
heit als eines Nachtheiles bewußt. Freilich hatte er 


r nl ee Nm LT a Zr nl lan un 0 nd 0 na — m 


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109 


auch vordem immer einen großen Theil des Jahres 
in der Schweiz auf ſeinem Landſitze zugebracht, aber 
ſein Aufenthalt am ee war ihm durch die Anweſen⸗ 
heit der Schweſter und ihrer Familie belebt und ver⸗ 
ſchönt worden, und er hatte ſie dann wieder in ihrer 
jeweiligen Heimath aufgeſucht, oder man war einmal 
an drittem Orte nach Verabredung zuſammengetroffen, 
wenn Emanuel ſich von ſeiner Reiſeluſt weiter hatte 
in die Ferne locken laſſen. Jetzt fehlte ihm zum Reiſen 
aller Antrieb. 

Er hatte die Welt geſehen, ſoweit ſie ihm für 
ſeine Intereſſen Anziehendes 1 er hatte die 
Länder und die Orte, welche ihm lieb geworden 
waren, zum großen Theile wiederholt beſucht. Die 
Schweſter und die Nichte aufzuſuchen, fühlte er ſich 
nicht geſtimmt; anmuthigen Erlebniſſen zu begegnen, 
wie die Jugend ſie bei dem Antritte jeder Reiſe ihrer 
wartend glaubt, hatte er niemals erwartet, kam ihm 
jetzt noch weniger als früher in den Sinn; und weil 
er ſich das Liebesglück, das ihm ein paar Stunden 

lang geleuchtet, aus Mangel an Entſchloſſenheit und 
an Vertrauen nicht dauernd anzueignen verſtanden 
hatte, hielt er ſich vom Geſchicke verabſäumt und für 
ebenſo unglücklich, als er es Hulda hatte werden machen. 
Gericht und Strafe erwuchſen in ſeiner Bruſt ihm aus 
der eigenen Natur, und mitten in ſeiner Liebebedürftig⸗ 
keit und Liebefähigkeit war er ſich nicht bewußt, wie 
viel Eitelkeit und Selbſtſucht ſich verbargen in ſeinem 
Zweifel an ſich ſelbſt, wie in este Zweifel an 
Hulda's Liebe. 


110 


Schon während des Winters, als Konradinens 
Mutter, bei ihrem Wanderleben zu einem längeren 
Verweilen an den Genfer See gekommen war, hatte 
er gegen Konradine in ſeinen Briefen zum öfteren den 
Wunſch geäußert, ſie möge dieſen Anlaß benützen, 
um ihm die Gunſt eines Wiederſehens zu gewähren. 
Auch die Mutter hatte ſich ſeinem Vorſchlage an⸗ 
geſchloſſen, aber Konradine hatte zu kommen abgelehnt. 
Der kurze Beſuch, den die Mutter ihr einmal im 
Stifte abgeſtattet, hatte es Konradinen klar bewieſen, 
daß die Baronin in ihrem Lebensgenuſſe durch die Ab⸗ 
weſenheit der Tochter eher gefördert als beeinträchtigt 
werde, und Konradinen war inzwiſchen ihre Unab- 
hängigkeit ſo ſehr zur Gewohnheit und zu einem Be— 


dürfniſſe geworden, daß ſie es ſich nicht mehr auf⸗ 


erlegen mochte, ſich in die wechſelvollen Stimmungen 
und Einfälle der Mutter einzupaſſen, oder es ſich mit 


jener ſogenannten Freiheit genügen zu laſſen, welche 


ihr zu gewähren die Mutter ſich immer gerne ge⸗ 
rühmt hatte. 


Daneben hielt auch in der That ihr Ehrgeiz, 


über den ſie zu ſcherzen und zu ſpotten liebte, weil ſie 
ihn dadurch am leichteſten der tadelnden Beobachtung 
entzog, ſie in dem Stifte feſt. Die Zeit, welche ſie 
in demſelben zugebracht, und das Ende ihres dreißig— 
ſten Jahres waren bei ihrer Eigenartigkeit zu einem 
beſonderen Lebensabſchnitte geworden, weil ſie ſich darin 
gefiel, es als einen ſolchen zu betrachten. Ihr leb⸗ 
hafter Geiſt hatte ſich mit derſelben Entſchiedenheit 


111 


und Sicherheit in die neue Laufbahn hineinbegeben, 
mit welcher ſie ſich auf der verlaſſenen bewegt hatte. 

Sehr frühzeitig in die Geſellſchaft eingetreten, 
lebhaft umworben, hatte ſie, nach Frauenweiſe, die 
glänzende und bevorzugte Stellung, zu welcher ſie ſich 
berechtigt gefühlt, aus der Hand eines geliebten Man⸗ 
nes zu empfangen erwartet. Aber was ihr der Eine 
dargeboten, hatte ihrem heißen Herzen nicht genügt, 
die Verhältniſſe des Anderen hatten ihrem Ehrgeize 
nicht entſprochen, bis ihr dann in des Prinzen Liebe 
jenes Glück gewinkt hatte, das ſie in ihren kühnſten 
Hoffnungen für ſich erſehnt. Als dieſe Hoffnung ſie 
betrogen und der erſte wilde Sturm ſchmerzlicher 
Leidenſchaft ſich in der Tage Lauf geſänftigt, da hatte 
ſie, wie Einer, dem eine Feuersbrunſt ſein Haus zer⸗ 
ſtört, ruhig zu überſchauen getrachtet, was ihr aus 
dem Untergange zu retten gelungen, und was damit 
noch zu beginnen ſei. Liebesglück und Leid waren in 
wildem Andrange raſch wie ein Flammenſtrom über 
fie dahingerollt und hatten in ihrem Herzen viel zer⸗ 
ſtört. Nur der Zorn über des Prinzen Untreue war 
unvermindert noch in ihr lebendig, wie ſehr ſie es 
auch verſtand, nach außen hin die Handlungsweiſe des 
Treuloſen erklärend zu rechtfertigen, um die Beleidigung, 
welche ſie erfahren hatte, weniger groß erſcheinen zu 
laſſen. 

Indeß eben an der Stärke und Gleichmäßigkeit 
dieſes Zornes konnte ſie es für und für ermeſſen, 
wie ſtark ihre Liebe und was der Prinz ihr geweſen 
ſei, und wie wenig ſie ihn vergeſſen habe. All ihr 


112 


Thun und Treiben bezog ſich nach wie vor auf ihn. 
Sie wollte ſich faſſen, damit er ſie nicht untröſtlich 
über ſeinen Treubruch glaube. Sie wünſchte ſich eine 
bevorzugte Stellung zu erwerben, um ihm zu beweiſen, 
daß es nicht der Glanz einer ſolchen geweſen ſei, um 
deſſen willen ſie ihn geliebt habe; und wenn ſte, wie 
ſie es jetzt im Sinne hatte, ehelos verblieb, ſo konnte 
ſie keine Lebenslage für ſich finden, die ausgezeichneter 
und ihrer Selbſtſtändigkeit nach bedeutender geweſen 
wäre, als die der Aebtiſſin des reichſten Fräuleinſtiftes 
im Lande, eine Stellung, welche einzunehmen ſelbſt 
Töchter des regierenden Hauſes nicht unter ihrer Würde 
erachtet hatten. 

Die Aebtiſſin des Stiftes war betagt und kränkelte, 
aber ſie war in jedem Betrachte eine ausgezeichnete 
Frau und hatte von der erſten Stunde an, die geiſtige 
Bedeutung Konradinens zu würdigen, den Umgang 
mit ihr zu ſchätzen gewußt. Ihre Thätigkeit, ihre 
Klugheit und Ueberredungsgabe zeigten ſich der viel⸗ 
erfahrenen Aebtiſſin ebenfalls als brauchbar, und ſie 
hatte nach Art der Herrſchenden, auch dieſe Eigen⸗ 
ſchaften Konradinens für ſich nützlich zu machen und 
praktiſch zu entwickeln verſtanden; ſo daß ſie in ihren 
vertrauten Mittheilungen an die Behörden auf das 
Fräulein von Wildenau als auf die geeigneteſte Nach⸗ 
folgerin für ſich hingewieſen, und die Ermächtigung 
erlangt hatte, Konradinen während der Badereiſe, 
welche die Aebtiſſin zu machen genöthigt war, mit ihrer 
Stellvertretung zu betrauen. Das hatte den Bedürf⸗ 
niſſen Konradinens ganz und gar entſprochen. Es hatte 


113 


fie beſchäftigt, hatte fie zerſtreut und von ſich ſelber ab⸗ 
gezogen. Es hatte ſie den Reiz der Herrſchaft und der 
Macht auch in beſchränktem Maßſtabe empfinden, und 
ſie inne werden laſſen, was es mit dem alten Aus⸗ 
ſpruche auf ſich habe, daß es befriedigender ſei, im 
engeren Kreiſe der Erſte, als der Zweite in einem 
weiteren zu ſein. Ihr Ehrgeiz hatte damit ein ganz 
beſtimmtes Ziel gewonnen, und ſie hielt es vor ſich 
ſelber aufrecht, daß ſie nach dieſem Ziele zu ſtreben 
habe, daß ſie es erreichen könne und erreichen müſſe. 
Gegen alles Erwarten war jedoch die Aebtiſſin 
von ihrer Reiſe ſehr gekräftigt in das Stift zurück⸗ 
gekehrt und hatte die Fäden der Verwaltung wieder 
in die eigenen Hände genommen. Konradine fand 
ſich dadurch, trotz des fortdauernden Vertrauens 
ihrer älteren Freundin zu einer verhältnißmäßigen 
Unthätigkeit verdammt, und die Tage des ſinken⸗ 
den Sommers erſchienen ihr ſehr lang und leer 
und öde. Sie war nun über zwei Jahre nicht 
aus dem Stifte fortgekommen, die ſämmtlichen Damen 
hatten es während dieſes Zeitraumes zu verſchiedenen⸗ 
malen auf längere oder kürzere Zeit verlaſſen. Kon⸗ 
radine ging alſo mit ſich zu Rathe, ob es nicht an⸗ 


gemeſſen für fie ſei, es durch eine zeitweilige Entfernung 


der Aebtiſſin recht fühlbar zu machen, welche Geſell— 

ſchaft und welche Stütze ſie in ihrer jüngeren Freun⸗ 

din beſitze; während es ebenſo zweckmäßig erſchien, 

wenn Konradine ſich wieder einmal mit denjenigen 

ihr geneigten Perſonen in lebendigen Verkehr brachte, 
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 8 


114 


deren Einfluß für fie im betreffenden Falle wichtig 
und von Entſcheidung ſein konnte. Sie hatte es auch 
keineswegs nöthig, fi) aus der Welt, in der fie ge— 
glänzt hatte und gefeiert worden war, zurückzuziehen. 
Ihr Stiftskreuz verlieh ihr den Titel und die Unab⸗ 
hängigkeit einer verheiratheten Frau, es ermächtigte ſie 
zu einer Freiheit des Handelns und Bewegens, welche 
ſie ohne dasſelbe in ihren Lebenskreiſen nicht beſeſſen 
hatte, ſo lange ſie ſich unvermählt unter dem Schutze 
ihrer Mutter befunden. Dazu durfte ſie mit ziem⸗ 
licher Gewißheit darauf rechnen, weder in Deutſchland, 


noch am Genferſee eben jetzt mit dem Prinzen zu⸗ 
ſammenzutreffen, den der ſehr bedenkliche Geſundheits⸗ 


zuſtand ſeiner jungen Gattin auf deren italieniſcher 
Beſitzung feſthielt; und während Emanuel's Bitten ſich 
erneuerten, brachte endlich der Vorſatz der Gräfin, 
ihren Bruder ohneweiters aufzuſuchen, um ſo die 
Ausſöhnung herbeizuführen, die ſie in jedem Betrachte 
wünſchte, Konradine zu dem Entſchluſſe, das Stift 
für eine Weile wieder mit dem Leben in der Welt zu 
vertauſchen. | 


Zehntes Capitel. 


— — 


In noch weit größerer Unentſchloſſenheit als die 
mit allen Mitteln zu freier Entſcheidung ausgeſtattete 
Stiftsdame hatte der arme Adjunktus den Sommer 
hingebracht. Sein Gemüth war ſeit dem Oſtermor⸗ 
gen, an welchem ihm ſo unerwartet die Erkenntniß 
gekommen war, daß er Hulda liebe, nicht mehr zu 
dem Frieden gelangt, in welchem er bis dahin ſich 
glücklich gefühlt und eine Gnade Gottes zu erkennen 
geglaubt hatte. Das war nun Alles, Alles mit einem⸗ 
male hin, und Alles anders. 

Er hatte ſeit jenem Tage ſeine ganze Amts⸗ 
führung, die ihm doch ein Heiligthum und eine Herzens⸗ 
ſache war, nur noch wie eine mechaniſche Aufgabe zu 
erfüllen vermocht. Wenn er von der Kanzel oder dem 
Altar zu der Gemeinde ſprach, ſuchten ſeine Augen 
Hulda, hing ſein Blick an ihr. Er hielt es ſich ver⸗ 
gebens vor, daß er nicht würdig ſei, mit ſo getheiltem 
Sinne das Wort des Herrn zu verkünden. Er ſagte 
ſich, daß er nicht an dieſer Stätte bleiben, an ihr nicht 

8* 


116 


erfolgreich als Seelſorger wirken könne, wenn es ihm 
nicht gelinge, Hulda's Neigung und ihre Hand zu ge⸗ 


winnen, und jo die verlorene innere Einheit und den 


Frieden ſeiner Seele wieder herzuſtellen. Aber wenn 
er einmal am Abende im ernſten Sinnen und Ge⸗ 
bet die Kraft errungen zu haben glaubte, deren er be⸗ 
durfte, um ſich von Hulda loszureißen, ſo machte am 
Morgen ſein erſtes Zuſammentreffen mit ihr, alle f ſeine 
guten Vorſätze zunichte. 

Wenn ſie ihm in ihrer ruhigen Freundlichkeit 
wie jedem Anderen den „guten Tag“ bot, wenn er 
die Genauigkeit bemerkte, mit der ſie auch auf ſeine 
geringen Bedürfniſſe Bedacht nahm, und vollends 
wenn er mit ihr für den hinſterbenden Vater Sorge 
tragen, ihn pflegen, ihm das Schwinden des Augen⸗ 
lichtes minder fühlbar machen und ſich dafür Hulda's 
warmer Dankbarkeit erfreuen durfte, kam ihm ſein 
Fortgehen ganz unmöglich, kam es ihm undenkbar vor, 
daß keine Hoffnung für ihn vorhanden ſein, daß ſeine 


treue Hingebung Hulda's Freundſchaft nicht verdienen, b 


ſeine reine Liebe von der ihren nicht endlich erwidert 
werden ſollte. 

Er ſchalt ſich ungeduldig, wenn er ſich ent⸗ 
muthigt und hoffnungslos fühlte, er wollte um ſie 
dienen ſieben Jahre und länger. Er ſagte ſich, daß 
Gottes Fügung ihn ja eben auf dieſen Platz geführt, 
und daß es alſo Gottes Zulaſſung ſei, wenn er ſich 
hier erproben müſſe. Er hielt es für ſeine Pflicht, 
neben dem Greiſe auszuharren, dem man ihn zum 
Beiſtande gegeben, und zu dem er jetzt in ein herz⸗ 


117 


liches Verhältniß getreten war. Dann wieder, wenn 
der Gedanke des Fortgehens durch einen neuen An⸗ 
laß wieder in ihm lebendig wurde, überlegte er, wie 
er dem Pfarrer für ſein Scheiden doch unmöglich die 
wahren Gründe angeben könne, wie dasſelbe dem 
kranken Greiſe ſchwer fallen, wie das Zuſammenleben 
mit einem neuen fremden Gehilfen demſelben pein⸗ 
lich werden würde. Und wenn all dieſe Rückſichts⸗ 
nahmen ihm doch nicht ausreichend genug erſchienen, 
ſein Bewußtſein zu beſchwichtigen, wenn er ſich es 
eingeſtehen mußte, wie er ſich nicht die volle Wahr— 
heit ſage, ſo hielt er denn auch vor ſich ſelber ſchließ⸗ 


lich mit dem Bekenntniſſe nicht zurück, daß er Hulda 


nicht allein zu laſſen vermöge in der ſchweren Stunde, 
die immer näher an ſie heranrückte, daß er bleiben 


müſſe um ihretwillen, damit doch Jemand in ihrer 


Nähe ſei, der ſie liebe, der ſie würdige, wie ſie es 


verdiene, der ſie beſchützen könne gegen das neidiſche 
Uebelwollen, von dem er ſie, und nicht allein durch 
Mamſell Ulrikens gefliſſentliche Andeutungen, umgeben 
und verunglimpft wußte. 

In ſolchen Augenblicken fühlte er ſich glücklich, 
fühlte er ſich wie verwandelt, und er war dies auch, 
mehr als er's ſelber glaubte. Die Amtsführung hatte 
ſein Selbſtgefühl gehoben, die Nothwendigkeit, Andere 
auch in den Angelegenheiten zu berathen, in denen 
ihre weltlichen Intereſſen betheiligt waren, hatte unter 
des Amtmannes Anleitung ſeinen Blick zu erweitern 
angefangen. Er durfte ſich nicht mehr ſo wie früher 
ausſchließlich mit ſeinem Seelenheile befaſſen, er hat 


— 


118 


ſeiner inneren Demüthigung wie feiner äußeren De⸗ 
muth eine Grenze zu ſetzen, weil er in der Lage war, 
Anerkennung und Verehrung für ſich fordern zu 
müſſen; und was ſein Amt an ihm begonnen hatte, 
den Bann jener frömmelnden Kirchlichkeit zu durch⸗ 
brechen, in welchem er nach der in gewiſſen Regionen 
herrſchenden Strömung von ſeinen Lehrern und Vor⸗ 
bildern gehalten worden war, das war die Liebe nahe 
daran, zu vollenden, die ſein Mannesgefühl erweckte 
und es in die Schranken rief. 

So war man bis in die Zeit der Roggen⸗Ernte 
hingekommen, als eine geſchäftliche Anfrage den Ad⸗ 
junktus in das Amt zu gehen nöthigte. Es war ſchon 
gegen den Abend hin, doch ſtand die Sonne noch hoch 
am Himmel, denn die Sommertage ſind lang in jenen 
Gegenden, und es war noch immer drückend heiß. 
Nur der feuchte Hauch, der vom Meere kam, erfriſchte 
die Luft, und das ſanfte, gleichmäßige Anſchlagen der 
breiten Wellen wirkte angenehm auf die Einbil⸗ 
dungskraft. 

Dem Adjunktus, der immer in den engen Straßen 
der alten Stadt gelebt und das Meer nicht gekannt 
hatte, bis er in dieſes Pfarrhaus gekommen, war der 
Eindruck immer noch ein überwältigender. Er blieb 
deshalb auch, als er das Haus verlaſſen wollte, unter 
der Thüre ſtehen, auf das in goldigem Feuer fluthende 
Meer hinausſchauend, bis er, von dem funkelnden und 
flimmernden Glanze geblendet, die Augen mit der 
Hand bedecken mußte. Wie er dann emporblickte, ſah 
er Hulda auf der Bank unter dem Hollunderbuſche 


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119 


ſitzen, von welcher ſie durch das niedrige Fenſter das 
Zimmer ihres Vaters überblicken konnte. Der Pfarrer 
ruhte ſchlummernd in dem alten Lehnſtuhle, es regte 
ſich kein Blatt. Nur die Käfer hörte man ſummen 
und die Bienen, die von des Küſters Stöcken in das 
Pfarrgärtchen herüberflogen. 

Um nicht mit einer lauten Anfrage die Ruhe des 
Schlafenden zu ſtören, ging der Adjunkt zu Hulda in 
den Garten. Er erkundigte ſich, ob ſie im Amte Et⸗ 
was zu beſtellen habe. Sie verneinte das, bat ihn aber, 
dem Amtmann ihre Grüße auszurichten, wobei ſie be⸗ 
merkte, er werde einen angenehmen Spaziergang und 
beſonders einen ſchönen Rückweg haben. a 

„Es iſt heute recht ein Tag, wie er im Liede be⸗ 
ſchrieben wird, ſagte ſie: 


Sommer iſt es, ſonnig iſt es, 

In der Welt wie wonnig iſt es, 
Trägt die Erd' ihr Feierkleid! 

Grün iſt Alles weit und breit; 

Mit Gezwitſcher und mit Jubel 
Schwingt ſich in die Luft die Lerche; 
Fichte ſchwankt und Birke wiegt ſich, 
Auf der Wieſe duften Kräuter, 
Früchte prangen im Gezweig! 


Nur die Zeit des Vogelſanges iſt ſchon vorüber, 
und trotz der Wärme werden die Sonnen⸗Untergänge 
ſchon herbſtlich. Sie ſind dann aber gerade bei uns ſo 
majeſtätiſch, daß ſie nirgends herrlicher ſein können. 
Sie müſſen nicht zu lange im Amte verweilen, wenn 
Sie das Schauſpiel recht genießen wollen!“ 


120 


Trotz dieſer Mahnung blieb er zögernd neben ihr 
ſtehen. Er brauche nicht eben heute nach dem Schloſſe 
zu gehen, ſagte er. 

„Dann würden Sie ſich um den Anblick des 
Sonnen⸗Unterganges bringen,“ bedeutete ſie ihm, „denn 
er ſieht ſich, wenn man von dem Schloſſe hinunter⸗ 
kommt, weit ſchöner an, als hier von unſerm Hauſe!“ 

War das guter Wille für ihn oder eine Weiſung 
ſich zu entfernen? Er wußte es nicht. Sie hatte ſeit 
dem Oſtertage jedes längere Alleinſein mit ihm vor⸗ 


ſichtig gemieden, aber der ſchöne, heiße Sommertag, 
der die Blumen auf den beiden Beeten und Hulda's 


beide Roſenſtöcke ihren ganzen Duft ausſtrömen machte, 
ſchloß auch ihm das Herz auf. Er ſehnte ſich danach mit 
ihr zu ſprechen und ein freundlich Wort von ihr zu hö⸗ 


ren, und weil ihm nicht gleich einfiel, was er jagen - 


könne, wollte er wiſſen, von wem die Verſe wären, 
die ſie angeführt habe. 

„Wer weiß das?“ entgegnete Hulda, „das müſſen 
Sie die Sonne und die Luft und die Wellen fragen. 


Das Lied iſt hier irgendwo irgendeinmal an der See 


zuſammen mit ſeiner Melodie entſtanden und hat wie 
der Kiefernſamen, den die Luft verſtreut, irgendwo 
Wurzel geſchlagen und ſich erhalten, bis dann Andere 
gekommen find und gemerkt haben, daß da ein hüb⸗ 
ſches Bäumchen ſtehe. Es iſt eines unſerer Volkslieder, 
wie wir deren viele haben!“ 

„Der Herr Pfarrer hat mir, als er einmal von 
der hieſigen Volkspoeſie mit mir geſprochen, angedeu⸗ 
tet, daß er für den Bruder der Frau Gräfin viele 


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121 


dieſer Lieder zuſammengeſtellt und überſetzt habe, und 


daß Ihre verſtorbene Frau Mutter und auch Sie die 


Lieder früher viel geſungen haben!“ 

„Ja früher!“ 

„Und Sie ſingen ſie jetzt nicht mehr?“ fragte er 
mit einem Tone, der den Wunſch, ſie zu hören, in 
ſich ſchloß. 

„Sie ſind meiſt traurig,“ gab ſie ihm zur Ant⸗ 
wort, „aber mein Vater liebte ſie früher ſehr, und ich 
liebte ſie auch, denn wir hatten ſie von der Mutter. 
Jetzt verlangt mein Vater nicht mehr nach ihnen, und 
für mich iſt das recht gut.“ 

Er ſchwieg, denn er errieth, daß ſich Erinnerun⸗ 
gen an jene Lieder für ſie knüpfen mußten, die ſie viel⸗ 
leicht im Beiſein Dritter nicht aufzuwecken wünſchte. 
Hulda ſtand auf und mahnte ihn an das Fortgehen. 
Sie folgte ihm an die Pforte des Gitters, von der 
man weit hinaus ſah über das Meer, und wie ſie es 
in feiner Herrlichkeit vor Augen hatte, ſagte ſie, die 
Luft mit Wonne einathmend: „Der Abend iſt wirklich 


von einer ſeltenen Herrlichkeit.“ Dabei flog ein Aus⸗ 


druck des Entzückens und der Freude über ihr eben noch 
ſo ſchwermüthiges Antlitz, daß der junge Mann ſie noch 
niemals ſo ſchön geſehen zu haben glaubte, und weil 
es ihn danach verlangte, ſie noch länger in dieſer hei— 
teren Schönheit vor ſich zu ſehen, bat er: „Gehen Sie 
eine Strecke mit mir, oder“, fügte er, ſich beſinnend, 
raſch hinzu, „gehen Sie ſpazieren und laſſen Sie mich 
bei dem Herrn Pfarrer bleiben, denn daß Sie ſich 


122 


freuen, daß Sie heiter find, iſt ja viel mehr werth, als 
der ſchönſte Sonnen⸗ Untergang.“ 

Seine Empfindung hatte ihn fortgeriſſen, Hulda 
war davon gerührt. „Sie ſind ſehr gut!“ ſagte ſie, 
„ſehr gut! Könnte ich Ihnen danken, wie ſie es ver⸗ 
dienen!“ 

Aber wie ſie ihn anſah, wie ſie die beglückte 
Ueberraſchung wahrnahm, die aus ſeinen Augen leuch⸗ 
tete, bereute ſie die ſoeben geſprochenen Worte, und ſich 
nach dem Hauſe wendend, ſagte ſie, daß ſie nach dem 
Vater ſehen müſſe und daß es für ihn ſelber die höchſte 


Zeit zum Gehen ſei. Sie brachte jedoch die Hoffnung, 
die in ſeinem Herzen aufgeflammt war, damit nicht 


zum Erlöſchen. Er blieb ſtehen und ſah ihr zärtlich 
nach. Mit einemmale konnte er ſich nicht länger halten. 
Er folgte ihr mit raſchen Schritten, und ihre Hand 
ergreifend, ſagte er in einem Tone, in dem ſein gan⸗ 
zes Wünſchen hörbar war: „Ach gewiß, Sie werden 


die Lieder ſchon noch einmal ſingen!“ und ihre Hand 


ſchüchtern an ſeine Lippen drückend, eilte er von dan⸗ 
nen, ehe ſie ihm die Antwort geben konnte. — Was 
hätte ſie ihm auch ſagen ſollen? Wie hätte ſie ihm 
wehe thun ſollen in dieſem Augenblicke? Sie dachte 
gut von ihm, ſie hatte ihn ſchätzen gelernt und er that 
ihr leid. Aber was konnte ihm das helfen und was 
half es ihr? 

Er ging während deſſen rüſtig und gehobenen Sin⸗ 
nes ſeines Weges. Er konnte den Hut nicht auf dem 
Haupte dulden, er mußte den Rock aufknöpfen, den er 
anſtandshalber ſonſt ſtets geſchloſſen zu tragen pflegte. 


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123 


Sein Herz war ihm ſo voll, fo weit, er athmete fo 
viel mächtiger und freier, er war noch nie ſo glücklich 
geweſen. Die Welt, in die ſein Schöpfer ihn hinein⸗ 
geſetzt, war ihm nie herrlicher, und ſein und ihr Schöpfer 
ihm nie größer, mächtiger, anbetungswerther erſchienen, 
als in dieſer Stunde, in der er zum erſtenmale voll 
zu empfinden glaubte, wie viel Glück der Herr dem 
Menſchen zu genießen vergönne. Er beſann ſich mit 
Freude auf Alles, was heute zwiſchen ihm und Hulda 
ſich ereignet hatte. Er erinnerte ſich jedes Wortes, das 
ſie und er geſagt; er war entzückt von dem, was er 
in ſeinen Gedanken ihr Vertrauen und ihre Güte nannte, 
und er war auch ſehr zufrieden mit feiner eigenen ra⸗ 
ſchen Kühnheit, die er ſich nicht zugetraut hatte. Er 
war im Schloßhofe und im Amte, ehe er es gedacht. 


Eilftes Capitel. 


Die Ernte war im vollem Gange, die ſchwerbe— 
ladenen Wagen ſchwankten langſam zu dem einen Thore 
des weiten Hofes hinein, während man noch dabei war, 
andere die abgeſchirrt vor den Scheunen ſtanden, ab⸗ 
zuladen, und leere Wagen raſch durch das entgegenge- a 
ſetzte Hofthor ſchon wieder nach dem Felde fuhren. 
Denn der ganze Roggen ſollte heute noch herein. Man . 
wollte die lange Helligkeit benützen, damit nicht etwa 
ein Gewitterregen, deſſen man in dieſer Jahreszeit und 
bei ſolcher Hitze wohl gewärtig ſein mußte, die reiche 
Gottesgabe ſchädige. Deshalb brach man auch die 
ſonſtige feſte Tageseintheilung. Der Amtmann ließ 
auf ſeine Koſten um die gewohnte Feierſtunde einen 
Imbiß unter die Leute austheilen, und es ſollte da= 
nach fortgearbeitet werden, bis man mit dem Einbrin⸗ 
gen ganz und gar zu Stande wäre. 

Wie der Amtmann den jungen Geiſtlichen ſo hei⸗ 
teren Schrittes und baarhäuptig über den Hof und 
nach der Rampe kommen ſah, auf der er ſelber unter 


125 


dem Schatten der Linden ſeine vorläufige Mahlzeit ein⸗ 
nahm, rief er ihn freundlich an. 
„Wahrhaftig, Herr Adjunktus!“ ſagte er, indem 
er ihm treuherzig die Hand ſchüttelte und ihn zum 
Sitzen nöthigte, „wahrhaftig, Herr Adjunktus! Sie 
gehen hier auf wie Weizenteig. Die Luft hier bei uns 
an der See ſchlägt Ihnen an. Sie ſind gar nicht 
mehr derſelbe. Sie ſehen aus, daß man Ihnen gleich 
ein Pferd unter den Leib geben und einen rechtſchaffe⸗ 
nen Landwirth aus Ihnen machen könnte. So ſind 
Sie mein Mann! Und nun ſetzen Sie ſich und laſſen 
es ſich mit uns ſchmecken. Geſtern haben wir auch Be⸗ 
ſuch gehabt. Aber Sie ſehen“ — er wies auf die 


herankommenden Wagen hin — „im nächſten Winter 


verhungern wir noch nicht, wenn auch noch ein gut 
Theil Gäſte kommen.“ 

Der Adjunkt ließ ſich nicht nöthigen, und es gab 
kein Lob und keine Anerkennung in der Welt, die ihm 
in ſeiner gegenwärtigen Stimmung hätten willkommener 
fein können, als das Zugeſtändniß, daß er ein Mann ſei, 
der ſich neben Anderen ſehen laſſen dürfe. Auch die 
Mamſell, die inzwiſchen herausgekommen war, rühmte 
ſein gutes Ausſehen, erwähnte ebenfalls des geſtrigen 
unerwarteten Beſuches, aber da der Amtmann ſich er⸗ 
kundigte, was den Adjunktus zu ihm geführt habe, 
begann dieſer von ſeinem Anſuchen zu berichten, und 
die Mamſell konnte mit ihrer Erzählung nicht ſofort 
heraus. Wie man nun bei Speiſe und Trank die 
kleine Geſchäftsangelegenheit raſch abgefertigt hatte — 
denn gegenüber dem reichen Gottesſegen, den man ein⸗ 


126 


brachte, bewilligte der Amtmann ohne Zaudern die 
kleinen Ausbeſſerungen an der Kirche und an dem 
Pfarrhauſe, welche der Adjunkt im Auftrage des Paſtors 
zu fordern gekommen war — ſo erkundigte ſich der 


Amtmann denn auch nach dem Pfarrer und nach Hulda. 


Der Adjunkt gab ihm Beſcheid. Er ſagte, daß 
es ſich mit dem Pfarrer offenbar zu Ende neige, daß 
die Tochter von einer unermüdlichen Beharrlichkeit in 
ſeiner Pflege ſei. Als er aber im beſten Zuge war, 
nach ſeiner innerſten Meinung und ſeines Herzens Be— 
dürfniß ihr Lob weiter auszuſprechen, ſtieg ihm das 


Blut in das Geſicht. Ulrike wendete das Auge nicht 


von ihm, das machte ihn verwirrt, und zu ſeinem Un⸗ 
glück wurde der Amtmann eben abgerufen. Das kam 
Ulriken eben recht. 

Denn der Bruder hatte die Rampe noch nicht ver⸗ 


laſſen, als Ulrike ſich des Worts bemächtigte. Es freue 


ſie, ſprach fie, daß es ihm hier Orts gefalle und daß 
ihm ſeine Stelle nicht zu ſchlecht ſei. Sie könne ihn 
auch verſichern, daß die Gemeinde ihn gern zum Nach⸗ 
folger des Paſtors haben möchte. Bei der Oſtertaufe 
hätten die Leute, hätten die Amtsräthin und auch ſie 
ſelber ſich allerdings nicht recht aus ſeiner Predigt ver⸗ 


nehmen können, aber die Einſegnung und die Pfingſt⸗ 


predigten, die wären ihnen wieder ſehr zu Herzen 
gegangen und, ſie wären Alle überzeugt, wenn er ein⸗ 
mal völlig freie Hand haben und ſonſt auch, wie es 
ihm zukäme, freigeſtellt und Herr auf der Kanzel und 
im Pfarrhauſe ſein würde, ſo würde Alles noch viel 


127 


beſſer werden. Die Leute würden dann auch weiter 
Nichts zu reden und zu ſagen haben. 

Der Adjunkt entgegnete, er ſchätze ſich glücklich, 
wenn es ihm gelinge, dem geiſtigen Bedürfen der Ge- 
meinde zu entſprechen, und weit entfernt, mit ſeiner 
gegenwärtigen Lage unzufrieden zu ſein, wünſche er 
ſehnlich, Gott möge dem Pfarrer ſeine Lebenszeit noch 
länger friſten, als man es zu hoffen wage. 

„Ach!“ rief Ulrike, „um den Pfarrer iſt es ja auch 
nicht, gegen den Herren Pfarrer hat man Nichts ein⸗ 
zuwenden. Ich ſagte das auch geſtern der Frau Ba⸗ 
ronin. Ihr Gehalt iſt nur zu gering für einen jungen 
Mann wie Sie, und überhaupt iſt unſere Pfarre keine 
von den guten hierzulande. Cin paar Meilen weiter 
hinein ſehen die Pfarrhäuſer ganz anders aus, und 
auch die Einkünfte ſind anders, und die Pfarrerstöch— 
ter rechtſchaffen und gut erzogen.“ 

Der Amtmann, der inzwiſchen zurückgekommen 
war, hatte nur die letzten Worte noch gehört. Aber 
er merkte an dem Geſichte des jungen Mannes, mehr 
noch an der Schweſter plötzlichem Abbrechen, daß ſie 
Etwas vorgehabt habe, was fortzuſetzen ihr in ſeinem 
Beiſein nicht gerathen ſchien. Er fragte alſo, wovon 
die Rede geweſen ſei. Ulrike ſagte, ſie hätten davon 
geſprochen, daß die Pfarre viel zu ſchlecht bezahlt ſei, 
als daß ein junger Mann in jetzigen Zeiten daran den⸗ 
ken könnte, ſein Leben in derſelben zuzubringen. 

„Wobei ich mir aber zu bemerken erlauben muß,“ 
fiel der Adjunkt ihr in das Wort, „daß es die Mamſell 
Schweſter geweſen iſt, die das behauptet hat, nicht ich.“ 


128 


Ulrike fuhr auf. Es lag die offenbarſte widerſetz⸗ 
liche Anklage in ſeinem Tone. Das hatte er früher me 
gewagt. Die Sache ſtand alſo ſchlimmer, als ſie bis 
dahin geglaubt, war weiter gediehen, als ſie bis dahin 
gewußt hatte. Indeſſen der Bruder ließ ihr nicht die 
Zeit, die Bosheit auszuſprechen, die ihr auf den Lippen 
ſchwebte, denn er ſagte mit ſeiner ruhigen Wahrhaftig⸗ 
keit: „Das iſt mir lieb, mein werther Herr Adjunkt! 
Und ſo wie die Frau Gräfin die Stelle um Ihres 
Eintretens willen neuerdings dotirt hat, und auch 
wenn unſer armer Paſtor das Zeitliche geſegnet haben 
wird, dotirt laſſen wird — 


Ja!“ rief Ulrike, ihrer ſelbſt nicht länger mächtig, 5 


9 0 in die Rede fallend, „wenn die Hulda in der 
Pfarre bleibt. Aber der Herr Adjunkt ſieht mir nicht 
aus wie Einer, der ſich, wie das früher die Herrſchaf— 
ten ſo im Brauch hatten, verſorgen laſſen wird, weil 
man ein Frauenzimmer abfinden oder aus dem Wege 
haben will!“ 

„Reitet Dich denn wieder einmal heut der Teufel!“ 
rief der Amtmann, indem er zornig mit der Hand auf 
den Tiſch ſchlug, daß die Teller und die Gläſer 
klirrten. „Das einzige Frauenzimmer, das hier im 
Wege iſt—“ 

Der Adjunkt ließ ihn nicht in ſeinem Zorne zu 
Ende ſprechen. Es war ihm heiß und kalt geworden 
bei den Worten der Mamſell, aber der gehobene und 
befreite Sinn, den er ſchon dieſen ganzen Nachmittag in 


129 


ſich gefühlt hatte, gab ihm auch jetzt die Kraft, feine 


ſonſtige zaghafte Schüchternheit zu überwinden, und mit 


einer Sicherheit, die in ſeiner Liebe und ſeinem Ver⸗ 
trauen zu der Reinheit des von ihm geliebten Mäd⸗ 
chens ihren Urſprung hatte, ſagte er: „Zürnen Sie der 
Mamſell Schweſter nicht, Herr Amtmann! Sie hat 
ganz Recht. Ich würde gewiß der Letzte ſein, unter 
Bedingungen, die ſie vorausſetzt, ein Amt zu übernehmen 
— auch das einträglichſte und allerhöchſte nicht; aber 
wenn die Frau Gräfin mir in dem Falle, der denn ein⸗ 
mal doch eintreten muß, die Pfarre anvertrauen wollte, 
würde ich es als ein großes Glück für mich erachten, 


eine Frau zu finden, ſo gut und ſo von Herzen brav wie 


Mamſell Hulda.“ 

Ulrike ſtand wie vom Donner gerührt, ihre Lip⸗ 
pen waren weiß geworden und zitterten, daß ſie nicht 
ſprechen konnte. Der Adjunkt ſchlug im Schrecken über 
ſeine ihm bis dahin fremde männliche Entſchloſſenheit 
die Augen nieder, ſie waren ihm ganz feucht geworden. 
Der Amtmann jedoch reichte ihm die kräftige Hand 
hinüber und rief mit voller Stimme: „Bravo, Herr 
Adjunkt! Schlagen Sie ein; es ſoll ein Wort ſein! 
Denn es war ein Wort, wie es ſich für einen honet⸗ 
ten Menſchen gegenüber ſolchem Altenweiber⸗Gewäſche 
ziemt. Kommen Sie! Ich muß fort, und ein Stück 
Weges gehen wir noch zuſammen. Unterdeſſen hat die 
Alte Zeit, ſich auszutoben und, wenn ſie will, auch 
auszuweinen und Gott und die Menſchheit wieder ein⸗ 
mal zu verwünſchen.“ 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 9 


130 


Er ſtand damit auf, nahm die langſchirmige Mütze 
und den ſchweren Stock zur Hand und, ſich auf den 
Arm des jungen Mannes ſtützend — was ein großes 
Zeichen ſeiner Freundſchaft war — machte er ſich mit 
ihm auf den Weg. 

Dicht vor dem Hofthore trafen ſie den Knecht, der 
zweimal in der Woche die Briefe und die Zeitungen 
von der Poſt zu holen hatte. Der Amtmann blieb 
ſtehen und ließ ſich die Poſttaſche vom Pferde herunter⸗ 
reichen, zu der er den Schlüſſel an ſeinem Bunde trug. 
Er ſchloß ſie auf, ſah den Eingang nach, ſchickte die 
Taſche in das Amt hinauf und behielt, nur einen der 
Briefe bei ſich, deſſen Aufſchrift die Hand der jungen 
Fürſtin zeigte. Den nahm er mit ſich und brach ihn 
gleich im Gehen auf. Aber kaum hatte er die erſten 
Zeilen geleſen, als er ſtehen blieb, um ihn mit einer 
ſichtlichen Bewegung zu Ende zu leſen. 

„Wie das manchmal doch im Leben kommt,“ ſagte 
er, als er das Schreiben durchgeleſen hatte und in die 
Taſche ſteckte, „man ſollte manchmal ſagen, die alten 
Sprichworte hätten einen prophetiſchen Verſtand. Es. 
iſt wirklich, als könnte ein Unglück nicht allein kom⸗ 
men.“ Er ſchüttelte nachdenklich den Kopf. — „Sp 
geht Einer nach dem Andern hin. Sie hat uns na⸗ 
mentlich in jungen Jahren manchmal mit ihrem ſüß⸗ 
lichen Gequengel hier unſere liebe Noth gemacht, aber 
eine anſtändige und rechtſchaffene Perſon iſt ſie 5 
ſen. Der Frau Gräfin wird es nahe gehen — 

Der Adjunktus mußte ihn unterbrechen, er 1 
nicht, von wem der Amtmann ſprach. 


131 


„Ja ſo,“ rief dieſer, „ich dachte, ich hätte es Ih⸗ 
nen geſagt. Die engliſche Miß, die alte Kenney iſt 
auf dem Schloſſe des Fürſten geſtorben, und die Frau 
Fürſtin ſchreibt's mir ſelber mit der Anweiſung, es in 
der Pfarre mitzutheilen. Sie iſt nur ein paar Tage 
krank geweſen und hat ein ſanftes Ende gehabt. Das 
lernt man als ein Glück betrachten, wenn man ſelber 
nicht mehr weit davon iſt. Sie war ein hübſches 
Frauenzimmer, als ſie jung war, und zuerſt hierherkam.“ 

Der Amtmann war offenbar mehr ergriffen, als 
er es zu zeigen für angemeſſen fand, denn die Natur 
ſtand wieder einmal als die unerbittliche Gläubigerin 
vor ihm, die Keinem ſeine Zahlung an ſie ſchenkt, 
wenn fie fie dem Einzelnen auch mitunter länger ſtun-⸗ 
det. Der Adjunkt bemerkte, dieſer Todesfall werde in 
der Pfarre, namentlich bei Hulda, viel Betrübniß 
erregen. 

„Das glaube ich wohl,“ verſetzte kurzweg der 
Amtmann, der ohnehin bei traurigen Gedanken nicht 
zu verweilen liebte, „aber dagegen iſt nun einmal 
Nichts zu machen, und wer weiß, wozu es für ſie 
gut iſt.“ 

Der Adjunkt fragte, ob der Amtmann von Hulda 
ſpreche und wie er das verſtehe. 

„Ich meine, gut für das Mädchen ee auch für 
Sie, mein Beſter!“ entgegnete der Amtmann, „denn 
wie ich heute Sie und Ihre Abſichten, die mir ſehr 
wohl gefallen, habe kennen lernen, dürfen und müſſen 
wir einander reinen Wein einſchenken. Sie wiſſen es 

9 * 


132 


vermuthlich, daß mich der Paſtor gebeten hat, die 
Vormundſchaft über das Mädchen zu übernehmen, wenn 
er die Augen ſchließen wird.“ 

Der Adjunkt verneinte das. 

„Die Sache verſtand ſich im Grunde von ſelbſt,“ 
fuhr der Amtmann fort, „ſie haben ja ſonſt Niemand. 
Von des Paſtors Seite ſind keine Blutsverwandte da, 
und wenn von der Mutter Seite etwa Jemand leben 
ſollte, ſo ſind das arme Leute auf den freiherrlichen 
Gütern, von denen weiter nicht die Rede ſein kann. 
Auf die Engländerin aber wird ſich Hulda wohl ver⸗ 


laſſen haben, denn nachdem ſich der Handel mit dem. 
Baron zerſchlagen — dem ich nie vergeben werde, wie 


er ſich gegen das Mädchen gehen laſſen, das zu heirathen 
er ernſtlich wohl nie gedacht hat — ſeitdem hat die Miß, 
Gott habe ſie ſelig, der armen Hulda allerhand Zeug 
in den Kopf geſetzt, daß ſie nach England gehen ſolle, 
wie die Miß ihrerzeit nach Deutſchland gegangen ſei, 
daß die Miß dort für ſie ein Unterkommen ſuchen 
wolle, und was derart noch mehr geweſen iſt.“ Er 
ſchwieg eine Weile, dann fuhr er fort: „Das hat dem 
Mädchen doch im Sinne herumgeſpukt, und meine 
Schweſter, die den Mund nun einmal nicht halten 
kann, hat mit ihren Erzählungen von all dem Geklat⸗ 
ſche, das leider über das arme Kind zumeiſt durch 
meiner Schweſter ewiges Gerede hier im Schwange 
iſt, das Uebrige gethan. Hulda hat es einmal unum⸗ 
wunden gegen mich geäußert, ſie wiſſe, daß ſie hier 
nicht bleiben könne und fie wolle auch nicht hier blei⸗ 


ben, ſondern wenn es einmal ſein müſſe, ſehen, wie 


133 


und wo ſie fich anderweit in der Welt ihr Brod ver: 
dienen könne.“ 

Der Adjunkt hatte ernſthaft zugehört, die Mit⸗ 
theilung dünkte ihm entmuthigend, denn Hulda hatte 
nach derſelben nicht an ihn gedacht. Der Amtmann errieth, 
was in dem jungen Manne vorging, und ſchlug ihn 
auf die Schulter. „Munter, munter, Herr Adjunktus, 
und unverzagt! Was ſolch ein Mädchenkopf auf ſei⸗ 
nen Schultern denkt, das iſt ſo ernſthaft nicht zu neh⸗ 
men, das ändert ſich, wenn man ihn nach einer andern 
Seite hinlenkt, an welcher ihm etwas Beſſeres winkt. 
Und jetzt ſind wir ja unſerer Zwei zum Hinlenken, und 
zwei Männer!“ fügte er hinzu. 

Sie waren unterdeſſen an den Platz gekommen, 
an welchem ihre Wege auseinandergingen. Zur Rech⸗ 
ten dehnte ſich die weite Fläche des neuen Stoppel⸗ 
feldes aus, auf dem die Arbeit noch in vollem Gange 
war, zur Linken ſtieg die ſtrahlende Sonne langſam 
in das blaue fluthende Meer ie Der Amtmann 
blieb ſtehen. 

„Bringen Sie es denen in der Pfarre glimpflich 
vor, daß die arme Kenney todt iſt!“ ſagte er. „Der 
Paſtor hat ſie auch lange gekannt, und wie man ſich 
auch auf die Ewigkeit getröſten mag — ſehen Sie 
ſich einmal um — wenn es ſo ſchön iſt hienieden, da 
iſt das Fortmüſſen doch eine ganz verdammte Sache. 
Aber darum Nichts für ungut! Wenn es dazu kommt, 
wird's auch abzumachen ſein wie ein ander Stück 
Arbeit.“ 


134 


Der Adjunkt, gegen deſſen Anſchauungen ſolche 
Worte ſchwer verſtießen und den ſie ſehr verletzten, 
war heute nicht in der Verfaſſung, ſich dagegen auf— 
zulehnen. Er dachte nur daran, wie er Hulda die 
Trauerbotſchaft überbringen, wie ſie und der Vater 
dieſelbe aufnehmen würden, und weil er ſich heute vor 
Ulriken und dem Amtmanne über ſeine Wünſche und 
Abſichten ausgeſprochen und für dieſelben des Letztern 
Zuſtimmung erhalten hatte, fühlte er ſich nur noch 
mehr an Hulda gebunden, ihr gleichſam verlobt und 
für ſie zu ſorgen verpflichtet. Seine innere Freudig⸗ 


keit, ſein Vertrauen zu ſich ſogen daraus neue Nahrung — 
und er war noch in dem Alter, in welchem die Todes 


fälle greiſer Menſchen ihn nicht eben tief berührten. 

Als er ſich mit herzlichem Dankesworte von dem 
Amtmanne getrennt hatte, rief dieſer ihn noch einmal 
zurück. „Erzählen Sie doch in der Pfarre, daß geſtern 
die Frau von Wildenau bei uns geweſen iſt und bei 
uns gefrühſtückt hat!“ ſagte er. | 

Der Adjunktus fragte, wer das ſei? — Das werde 
er zu Hauſe ſchon erfahren, entgegnete der Amtmann, 
der nun Eile hatte. „Sie ging nach Rußland,“ fügte 
er indeſſen doch hinzu, „weil ſie zum Oktober neue 
Pacht⸗Kontrakte abzuſchließen hat; und ſie beſtätigte, 
was ich ſchon auf dem Markte in der Stadt gehört 
hatte, daß es mit dem älteſten Bruder der Frau Gräfin, 
mit dem Majoratsherrn, wirklich ſchlecht ſteht. Das 
war denn Waſſer auf Ulrikens Mühle.“ 

Der Adjunktus wollte wiſſen, inwiefern? 


135 


„Hat ſie Ihnen denn nie von dem ſogenannten 
Falkenhorſter Pergamente und von dem alten Aber⸗ 
glauben geredet, der ſich daran knüpft? 

Der Adjunkt verneinte es. „Nun, da hat ſie ſich 
vor Ihnen eben in Acht genommen,“ meinte der Amt⸗ 
mann, „denn es iſt ſonſt eines von ihren Stecken⸗ 
pferden, die Geſchichte zu erzählen, daß die Falkenhorſt's 
von den Unterirdiſchen, von den kleinen Leuten verflucht 
ſind und ausſterben müſſen, wonach denn die Güter 
an unſere gräfliche Familie fallen würden.“ 

Die ganz harmloſe Bemerkung machte auf den 
jungen Geiſtlichen einen traurigen Eindruck. „Daß 
ich mit ſolchen Elementen hier zu kämpfen hätte,“ rief 
er, „daran habe ich nie gedacht.“ ae 

„Sa,“ verſetzte der Amtmann, „das ſteckt hier jo 
dazwiſchen doch noch in den Köpfen, und ich rathe 
Ihnen, rühren Sie nicht an dem Aberglauben, da 
kommt die Narrheit am eheſten in's Vergeſſen. Aber 
mit dem Ausſterben der Freiherren von Falkenhorſt 
kann es Ernſt werden, wenn ſich der Baron nicht doch 
noch zu heirathen entſchließt. Es wird aber wohl nicht um⸗ 
ſonſt ſein, daß unſere Gräfin, wie geſtern die Frau 
Baronin uns erzählte, in den nächſten Wochen mit 
dem Fräulein Konradine zu Baron Emanuel in die 
Schweiz geht. Die Beiden hatten ſich hier im Schloſſe 
ſchon gern, und wer weiß, ob Sie, Herr Adjunkt, ſich 
nicht bei der ſchönen Stiftsdame dafür zu bedanken 
haben, wenn die Hulda, wie ich es wünſche, einmal 
Ihre Frau wird.“ 


136 


Er hatte den Kopf bei den Worten ſchon nach der 
andern Seite hingewendet, um dem auf dem Erntefelde 
befindlichen Wirthſchafter einen Wink zu geben, und 
während er mit ſeinem noch immer raſchen ſtampfen⸗ 
den Schritte in das Feld zurückkehrte, ging der junge 
Geiſtliche wie ein verwandelter Menſch dem ſtillen 
Pfarrdorfe zu. 8 

Mit dem ausgeſprochenen Vorſatze, ſich zu ver— 
heirathen, war der Adjunkt in einen neuen Abſchnitt 
ſeines Lebens eingetreten. Er hatte wohl früher auch 
daran gedacht, aber es hatte Alles noch in weiter Ferne 
in ungewiſſem Lichte vor ihm gelegen, und deshalb 
keinen weſentlichen Einfluß auf ſeine Entwicklung aus⸗ 
geübt. Das Entfernte kann das Begehren wecken, die 
Richtung und das Beſtreben beſtimmen, den Ehrgeiz 
ſpornen, eine wirkliche Umgeſtaltung bringt es nicht 
hervor. Erſt das feſtgeſtaltete, nahegerückte Ziel, erſt 
ein beſtimmtes Vorhaben, das uns beſtimmte Pflichten 
und mit ihnen beſtimmte Sorgen auferlegt, zwingt den 
Jüngling das traumhafte Wünſchen von ſich abzuſchüt⸗ 
teln, mit entſchiedenem Schritte, mit wachem Auge in 
die Wirklichkeit einzutreten und den Platz in derſelben 
zu beſetzen und zu behaupten, in dem er Herr ſein, 
ſein Haus errichten, ſeine Familie begründen ſoll Der 
Vorſatz, ſich zu verheirathen, iſt für den ernſthaften 
Jüngling der plötzliche Uebergang in das Mannesalter, 
der eigentliche Eintritt in das bürgerliche Leben, der 
Anfang jener gefeſteten Geſittung, die ihn mit der 
Allgemeinheit, mit dem Staate, in eine für ihn ſelber 


137 


nothwendige und dem Allgemeinen förderliche Verbin⸗ 
dung bringt. 

Es waren völlig neue Gedanken und ganz ver⸗ 
änderte Empfindungen, mit denen der Adjunktus durch 
den Abend hinging. Er war ernſthafter, ſorgenvoller, 
als er ſich jemals gefühlt hatte, und trug doch eine 
Freudigkeit und eine Zuverſicht in ſich, die ihn beglück⸗ 
ten. Während er ſein Auge auf das Nächſte gerichtet 
hatte, blickte er darüber hinweg weit in ſeine Zukunft 
hinein. Er fühlte, daß er hier feſte Wurzeln in der 
Erdenwelt zu ſchlagen habe, daß er fortan mehr als 
zuvor nach dem Diesſeitigen zu trachten habe, und ſein 
Herz ward dadurch nur feſter in dem Glauben und Ver⸗ 
trauen auf die Güte und Allweisheit deſſen, deſſen Reich 
auf Erden zu verbreiten, die Aufgabe ſeines Lebens war. 
Mit einer Freude, die einer Anbetung des Schöpfers 
glich, genoß er die Herrlichkeit des Abends und des 
Sonnenunterganges, welche Hulda ihm vorausgeſagt. 
Er hätte fie jo gerne bei ſich gehabt, ihr ſchönes Ant— 
litz gern in der Verklärung dieſes Lichtes leuchten ſehen. 
Der Weg von dem Schloſſe nach der Pfarre, der ihm 
ſonſt nie weit erſchienen war, kam ihm heute gar zu 
lang vor. Er ſehnte ſich nach Hauſe zu kommen, und 
bangte doch davor, die Nachrichten die er mitzutheilen 
hatte, den Seinen — das Herz ſchwoll ihm auf, 
als er ſie innerlich ſo nannte — den Seinen zu über⸗ 
bringen: dem Mädchen, das er liebte, ſeiner künftigen 
Gattin, dem Greiſe, der nun auch ſein Vater werden 
ſollte. Er war an irdiſchem Beſitz noch ganz ſo 
arm als wie bisher, und kam ſich doch mit einemmale 


138 


reich vor, weil er die beiden theuren Menſchen als ſein 
Eigenthum betrachtete, weil er beſchloſſen hatte, für ſie 
ſorgend einzuſtehen. 

Es lag noch heller warmer Sonnenſchein über dem 
hohen Dache der niedern Kirche, als er an das Dorf kam, 
als er ſich dem kleinen Hauſe näherte, das er heute 
ſeine liebe Heimat nannte. Er ging haſtiger darauf 
zu, er fragte ſich, wie er es dort finden werde, und 
das Herz klopfte ihm freudig, als er das geliebte Mäd— 
chen noch in dem Garten ſitzen ſah. 

Weil der Abend ſo ungewöhnlich ſchön war, hatte 


man auf des Pfarrers Wunſch den Lehnſtuhl in das 
Gärtchen hinausgetragen und ſo hingeſtellt, daß der 


Greis den Untergang der Sonne, ohne von dem Pur— 
purglanz des Meeres geblendet zu werden, in dem 
herrlichen farbenſchimmernden Gewölk genießen konnte. 
Aber da der Adjunkt ihn alſo vor ſich ſah, erſchien 
ihm das feine, ſchmale Geſicht des Greiſes noch blei— 
cher und durchſichtiger als ſonſt, und es bewegte ihn 
tief, als der Paſtor mit freundlichem Tone ſagte: 
„Nun Herr Adjunktus! heute haben fie es doch erfah— 
ren, wie ſchön es bei uns ſein kann? Da wir Staub⸗ 
geborene uns in unſerem kindlichen Glauben gar ſo 
wichtig vorkommen, meine ich bisweilen, unſer Herr- 
gott gönne uns dieſen wundervollen Sommer und ſolch 
ein fruchtreiches Jahr, damit ich noch einmal die rechte 
Freude daran haben könne.“ Er lächelte dabei ſtill 


über ſich ſelber. Der Adjunkt und Hulda wollten im 


beweiſen, daß er wohl noch manchen Sommer zu be⸗ 
grüßen habe, er aber wehrte ihnen mit der Hand, und 


139 


fragte, ſich von dem Gedankengange abwendend, was 
der Adjunktus bei dem Amtmann ausgerichtet habe. 

Der junge Mann gab die Auskunft, wie es ſich 
gebührte; der Pfarrer war damit wohl zufrieden. Er 
lobte den Amtmann, rühmte die Freigebigkeit, welche 
die Herrſchaften immer in ſolchen Fällen bewieſen hät⸗ 
ten, und meinte, es werde wahrſcheinlich nur auf ſei⸗ 
nen Nachfolger ankommen, ob ein neues Pfarrhaus 
errichtet werde oder nicht. Der Herr Graf habe ſchon 
vor langen Jahren einmal daran gedacht, die Frau 
Gräfin habe auch davon geſprochen, und ſo werde denn 
der junge Herr Graf wohl ebenfalls dazu geneigt ſein, 
der Kirche und der Pfarre dieſen Vortheil zuzuwenden. 


Er für ſein Theil habe nicht danach verlangt, ihm ſei 


das Haus zu lieb und als Erinnerungsſtätte auch zu 
heilig geweſen. „Für Sie“, ſchloß er, „der Sie ja 
wohl nach mir hier das Amt verwalten werden, wird 
das ein Anderes ſein. Ihnen wird ein beſſeres Pfarr- 
haus wohl erwünſcht dünken, und Hulda hat ſich ja 
eine Zeichnung von dieſem lieben alten Haufe gemacht, 
die ſie einmal mit ſich nehmen kann.“ 

Dem Adjunkten fuhr es heiß durch alle Glieder. 
„Ich hoffe . . . “rief er, und brach dann plötzlich ab. 
Er wagte nicht auszuſprechen, was er dachte, was er 
hoffte. Weil aber der Vater und die Tochter ihn bei 
ſeinem plötzlichen Verſtummen mit fragendem Blicke 
betrachteten, ſagte er: „Ich hoffe nur, daß die Bot- 
ſchaft, die ich noch außerdem zu melden habe, nicht 
den Werth der guten Nachricht vermindert, die ich bie- 
her aus dem Amte mitgebracht habe. Der Herr Amt⸗ 


3 
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140 


mann hat von der Frau Fürſtin Durchlaucht einen Brief 
erhalten, der eine Todesnachricht in ſich ſchloß. Die 
Erzieherin und Freundin der Frau Gräfin iſt geſtorben, 
iſt nach kurzer Krankheit ſanft entſchlafen.“ 

Hulda that einen leiſen Ausruf des ſchmerzlichen 
Erſchreckens, der Vater blieb anſcheinend unbewegt. 
„Es iſt Erntezeit,“ ſprach er, „und die Saat iſt reif; 
da ſammelt der himmliſche Schnitter in die Scheune, 


was aufgehen ſoll als neues Leben und fortbeſtehen un⸗ 


wandelbar in Ewigkeit. — Wohl ihr, ſie hat über ſtanden! 
Er neigte das Haupt ein wenig, faltete die Hände 


und blieb ſo ein paar Augenblicke in ſich verſunken 
ſitzen. Hulda war an ihn herangetreten und hatte ih⸗ 


ren Arm um ſeinen Hals gelegt, als wolle ſie ihn 
halten, ſo lange er ihr noch gelaſſen ward. Endlich 
richtete er ſich wieder auf und that ein paar Fragen. 
Der Adjunkt beantwortete ſie nach ſeinem beſten Wiſſen. 

Die Frau Fürſtin hat den Todesfall gemeldet, wie ſie 
ſagen, bemerkte der Greis, „war denn die Frau Gräfin 
bei dem Tode unſerer alten Freundin nicht zugegen? 

„Nein! Die Frau Gräfin iſt mit der Stiftsdame 
von Wildenau auf dem Wege zu ihrem Bruder nach 
der Schweiz,“ bedeutete der Adjunkt. 

Mit der Stiftsdame von Wildenau? wiederholte 
Hulda, und fuhr unwillkürlich mit der Hand nach ih— 
rem Herzen, während ſie ihr Haupt ſenkte, um ihr 
Erſchrecken zu verbergen. Eine brennende Eiferſucht, 
ein leidenſchaftlicher Schmerz durchzuckte ihre Bruſt. 
Es war kein Zweifel, Emanuel ſollte ihr entriſſen wer⸗ 
den, und er hatte ſich ihr doch anverlobt, er hatte noch 


8 \ * 


141 


im Augenblick des Scheidens es ausgeſprochen, daß 
der Ring, der nie von ihrer Hand gekommen war, 
ihr ein Pfand des Wiederſehens ſein ſollte. Hatte 
Emanuel das vergeſſen? Hatte er Konradine gerufen? 
Denn ohne daß er es gefordert hatte, konnte ſie ja 
nicht zu ihm gehen? — Er verlangte alſo nach der⸗ 
ſelben, er liebte Konradine — und was war dann 
Huldas Loos? Was hatte dann der Ring an ihrem 
Finger ihr noch zu bedeuten? 

Der Schmerz, die Eiferſucht erſtickten ihre Stimme. 
Sie hätte gerne ſprechen, gerne Etwas ſagen mö— 
gen, ſie wußte nur nicht was. Sie ſah es, daß der 
Vater ſie mit zärtlicher Sorge betrachtete, daß der 
Adjunktus, welchem ihre tiefe Erſchütterung nicht ent⸗ 
gehen konnte, verlegen vor ihr ſtand, aber es fiel ihr 
gar Nichts ein, gar Nichts — und ſagen mußte ſie 
doch Etwas. 

„Es freut mich,“ brachte ſie endlich mit leiſer und 
ſtockender Stimme heraus, „es freut mich, daß die Frau 
Gräfin nach ſo langer Trennung mit ihrem Bruder 
zuſammenkommen und vermuthlich längere Zeit bei ihm 
verweilen wird.“ Sie hatte im Sinne hinzuzufügen, 
daß Emanuel ſich auch an dem Wiederſehen mit Kon⸗ 
radine erfreuen werde; allein die Worte wollten ihr 
nicht über die Lippen. Sie ſtockte und fragte dann 
raſch: „Woher haben Sie dieſe Neuigkeit?“ 

Der Adjunkt erzählte, daß Frau von Wildenau 
auf der Durchreiſe nach Rußland bei dem Amtmanne 
gefrühſtückt und ihm von der Reiſe Konradinens Mit⸗ 
theilung gemacht habe. 


142 


Hulda überlief es kalt. „Es wird kühl Vater,“ 
rief ſie aus, „wollen wir nicht in das Haus 
gehen?“ | 

Der Greis ſtützte ſich auf die Lehne feines Stuh— 
les, und ſich langſam erhebend, ſprach er: „Ja mein 


Kind, es will Abend werden. Und wenn die Tage 


des Lebens dem Vergehen zuneigen, vermag man ſelbſt 
den ſchönſten Abend, den die Natur uns ſchenkt, nicht 
bis zu ſeinem Erlöſchen zu genießen. Aber bleiben 
Sie noch draußen, junger Freund! Erlaben Sie ſich 
an den letzten Strahlen der Sonne, wie ich in jünge⸗ 


ren Jahren an ſolchen Abenden dieſen Platz niemals 
zu verlaſſen pflegte, bis der letzte goldene Streifen an 


dem Firmamente von dem lichten Rande, der die See 
für unſer Auge begrenzt, nicht mehr zu unterſchei⸗ 
den war.“ | 

Hulda ergriff den Arm ihres Vaters und führte 
ihn langſam in die dunkle Stube zu dem alten So⸗ 
pha, auf welchem er ſo oft an der Seite der Mutter 
geſeſſen und ihr vorgeleſen hatte. Wie in den Tagen 
ihrer Kindheit ſetzte ſie ſich auf den Schemel zu ihres 
Vaters Füßen nieder, ſeine Hand ſtrich, wie damals 
auch, ſanft und leicht über ihr weiches Haar. Sie 
ſchwiegen Beide, es war dunkel geworden und ſtill in 
dem Gemach. 

Plötzlich ergriff Hulda des Vaters Hand, küßte 
fie mit Inbrunſt, und eilte raſch hinaus. Der Greis 
ſeufzte leiſe; ſeiner Tochter ſchwere heißen Thränen 
waren auf ſeine Hand gefallen. 


1 
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l 
5 
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Zwölftes Capitel. 


Konradine hatte das Stift ſehr wohlgemuth ver- 
laſſen, um mit der Gräfin verabredeter Maßen auf 
ihrem Wege nach der Schweiz zuſammen zu treffen. 

Die Frauen hatten einander ſeit mehr als drei 
Jahren nicht geſehen, und dieſe Jahre hatten an ihnen 
viel gewandelt, hatten ſie durch ihre Erlebniſſe ein⸗ 
ander näher gerückt, als der bloße Verlauf der Zeit 
es vermocht haben würde. Die ſchöne, in ſich ſelbſt 
beruhende Stiftsdame von Wildenau war nicht mehr 
jene in übermüthiger Heiterkeit ſtrahlende Konradine, 
die ſich ſo gefällig zu den Sylveſterſcherzen hergegeben, 
welche ihre Mutter in Turin in Scene zu ſetzen be⸗ 
liebt hatte; und von dem Leben der Gräfin war durch 
die Hand des Todes der ſtolze Freudenſchimmer abge— 
ſtreift. Beide hatten, Jede auf ihre Weiſe, ſchwere 
Leiden durchlebt, Beide neue Stellung im Leben nehmen 
müſſen, und wie bevorzugt die Gräfin an Einfluß, 
Rang und Reichthum ſich neben der Stiftsdame auch 
noch fühlen durfte, Eines hatte dieſe doch vor ihr 
voraus, der Lebensweg vor ihr war länger. Ihrem 


144 


Hoffen war ein weiteres Ziel geſteckt, es konnte ihr 
mehr Unerwartetes, mehr ſie ſelbſt Beglückendes begeg— 
nen als der Gräfin, deren perſönliches Hoffen abge— 
ſchnitten war, ſoferne ſie es nicht auf ihre Kinder 
oder auf das Beſtehen und Gedeihen der Geſchlechter 
richtete, denen ſie angehörte. Ihr Herz aber war 
nicht dazu gemacht, ſich mit ſolchem Hoffen für An⸗ 
dere, mit Glück aus zweiter Hand wahrhaft befriedigen 
zu können, wenn ſchon es ihr ein Bedürfniß war, 
für die Ihrigen zu ſorgen und das Anſehen ihres 
Hauſes zu befeſtigen. Dafür aber fand ſie in ihren 
Kindern nicht die Theilnahme, welche fie erſehnte. 
Der junge Graf, welcher der Geſandtſchaft in 
London beigegeben war, überließ ihr vertrauensvoll 
die Zügel des Regimentes. Er wußte die Verwaltung 
des Vermögens in der Mutter Händen wohl geborgen 
und war zufrieden, wenn er ſich dem Genuſſe feiner 
Jugend überlaſſen durfte. Er war leichtherzig, ohne 
eigentlich leichtſinnig zu ſein. Ihm wie ſeiner Schweſter 
hatte das Glück ſeit ihrem erſten Athemzuge gelächelt; 
Beſitzesfreude hatte als ſolche noch keinen Reiz für 
ihn. Der Ehrgeiz war noch nicht in ihm lebendig, 
das Vergnügen verlockte ihn noch ganz ausſchließlich, 
und in gewiſſem Sinne war es mit der Fürſtin ebenſo. 
Ihr Liebes- und Eheglück, die Freude an ihrem 
Kinde füllten ihr ganzes Weſen und Verlangen aus, 
und der Reichthum des fürſtlichen Hauſes, in das ſie 
als Gattin des einzigen Erben eingetreten war, machte 
fie für das Erſte noch gleichgiltig gegen eine Vermeh⸗ 
rung deſſelben, wie gegen das Beſtehen der Geſchlechter, 


145 


deren Namen ſie nicht mehr trug. Ihr fehlte der 
ſtolze Sinn der Mutter, der eigentlich auf das Er⸗ 
halten des Beſtehenden gerichtete Sinn. Sie nannte 
ſich, mit dem Uebermuthe, den erwachſene und ſelbſt⸗ 
ſtändig gewordene Kinder, oft mit einer wahrhaft kin⸗ 
diſchen Genugthuung ihren Eltern gegenüber an den 
Tag zu legen lieben, im Gegenſatz zu ihrer Mutter 
gerne liberal. Sie hatte es der Gräfin wiederholt 
verſichert, daß ſie die Verbindung ihres Oheims mit 
der ſchönen Pfarrerstochter gern geſehen, und dieſe ro⸗ 
mantiſche Heirath als eine anmuthige Bereicherung 
ihrer ohnehin ſagenreichen, mütterlichen Familien⸗ 
geſchichte, und keineswegs als ein Unglück erachtet ha⸗ 
ben würde. g ö 

Mit Konradinen war das anders. Sie war um 
zehn Jahre älter als die junge Fürſtin, hatte unter 
der ſogenannten Führung ihrer Mutter es von Früh 
auf nöthig gehabt, für ſich ſelber zu denken und zu 
handeln, und auf die äußern Verhältniſſe ſelber Acht 
zu haben. Sie hatte daher deren Bedeutung zeitig er⸗ 
meſſen und würdigen gelernt. Die Gräfin wußte, 
daß die Stiftsdame die Vorzüge der Geburt um der 
Vorrechte willen, welche ſie verleihen, ſehr hoch an— 
ſchlage, und daß ſie ſelber ſich eben deshalb auch in 
Bezug auf Emanuel und Hulda mit Konradinen von 
Anfang an in vollſtändiger Uebereinſtimmung befunden 
habe. 

Man war daher auch nicht lange bei einander, 
ohne von Emanuel zu ſprechen. Die Gräfin fragte, 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 10 


146 


ob Konradine dem Baron Nachricht davon gegeben 
habe, daß ſie in dem Bade zuſammentreffen, und ihre 
Reiſe von demſelben gemeinſam fortſetzen würden. 

Konradine verneinte es. 

„Aber er weiß, daß Sie kommen? er erwartet 
uns?“ fragte die Gräfin weiter. 

„Er weiß, daß ich komme, und er erwartet mich!“ 
entgegnete Konradine. „Er weiß auch, daß ich einmal 
an Sie geſchrieben, eine Antwort von Ihnen erhalten, 
und daß Sie in derſelben ein tiefes Bedauern über 
Ihre Trennung von ihm und die Sehnſucht nach 
baldigſter Verſtändigung mit ihm, ausgeſprochen haben. 
Ihn mehr wiſſen zu laſſen, habe ich nicht gewagt.“ 

„Und weshalb nicht?“ fragte die Gräfin mit 
einem Anflug von Unzufriedenheit, denn Konradine hatte 
dieſer Zurückhaltung in ihren Briefen nie erwähnt. 

„Er hätte nicht mehr an die Unabhängigkeit meines 
Urtheiles glauben können, hätte er mich unter Ihrem 
Einfluſſe vermuthet!“ erwiderte Konradine mit einer 
ſo verbindlichen Beſcheidenheit, daß die Gräfin nichts 
dagegen einzuwenden vermochte. „Ich wollte ſogar,“ 
fügte die Stiftsdame hinzu, „wenn es Ihnen jo ge= 
nehm iſt, dem Baron erſt wenn wir von hier aufge⸗ 


brochen ſein werden, die Mittheilung machen, daß wir 


auf der Reiſe zufällig zuſammengetroffen wären, daß 
ich Ihren Wunſch, ihn wiederzuſehen, lebhafter als 
je gefunden hätte, und daß ich es um der Freundſchaft 
willen, die ihn und mich verbindet, von ihm fordere, 
mir das Glück zu gönnen, in dieſem Werk der Liebe 
und des Friedens die Vermittlerin zu machen. 


N 
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147 


Dieſem Briefe folgen wir dann auf dem Fuße, und 
wenn auf dieſe Weiſe unſerem Freunde nicht die Zeit 


gelaſſen wird, ſich grübelnd die Reihe der von ihm 


durchlebten peinlichen und ſchmerzlichen Empfindungen 
zu wiederholen, wird das Wiederſehen, wird Ihre 
Gegenwart ihn klar erkennen laſſen, was er dieſe 
Jahre hindurch entbehrt hat, und daß er dafür auch 
in der verläßlichſten Freundſchaft den vollen Erſatz un⸗ 
möglich finden könne.“ 

Die Gräfin hatte ihr 1 zugehört und 
zögerte zu antworten. Konradine hatte in der Auf⸗ 
faſſung der Verhältniſſe wie in der Anlage des 
Planes mit voller Kenntniß des Barons gehandelt. 
Sie hatte das Mißtrauen, welches Emanuel gegen die 
ältere Schweſter und gegen deren Neigung, ihren 
Willen durchzuſetzen, ſtets gehegt hatte, richtig in Be⸗ 
tracht gezogen, und es ebenſo richtig erwogen, daß man 
ſeinem Hange zu trüber Grübelei nicht Spielraum 
laſſen dürfe. Dieſe Klugheit Konradinens gefiel der 
Gräfin wohl. Sie fand ſich in derſelben bis zu einem 
gewiſſen Grade wieder, aber eben dieſes wollte ihr nicht 
in gleichem Grade gefallen. 

Es machte ſie ſtutzig, daß die Stiftsdame die 
Leitung der Verhältniſſe auf ſolche Weiſe ſelbſt⸗ 
ſtändig in die Hand genommen hatte. Daß Kon⸗ 
radine ſie daneben jetzt ſo vorſichtig zu ſchonen 
trachtete, daß ſie ſich, während ſie nach dem eigenen 
Ermeſſen gehandelt hatte, jetzt den Anſchein gab, ſich 


der Gräfin in jedem Betrachte unterzuordnen, das 


10* 


148 


verrieth eine Menſchenkenntniß und Selbſtbeherrſchung, 
denen eben in der Freundin ihres Bruders zu begeg— 
nen der Gräfin nicht recht erwünſcht war. Sie hatte 
nach ihrer früheren Vorſtellung von Konradine, wie 
nach der Freimüthigkeit, mit welcher dieſelbe ſich in 
ihren Briefen kundgegeben, in ihr eine leicht beſtimm⸗ 
bare Gefährtin zu finden erwartet; jetzt ſah ſie plötzlich 
ein, daß ſie es hier mit einer ſelbſtſtändigen, ihr eben⸗ 
bürtigen Kraft zu thun habe, und ihr Entſchluß war 
ſchnell gefaßt. 

„Ich erfahre hier wieder einmal,“ ſagte ſie, „daß 


das Auge des Fremden, weil ſein Herz nicht ſo lebhaft 
dabei betheiligt iſt, richtiger ſieht, und daß es alſo beſſer 


entſcheidet, als das der nächſten Angehörigen; und ich 
danke Ihnen, daß Sie mir den Weg zu meinem Bruder 
ſo behutſam vorbereitet haben. Emanuel hat ſich nun 
lange genug in ſeine Einſamkeit vergraben, dem Be⸗ 
dauern lange genug darüber nachgehängt, daß ſich 
liebliche Träume nicht feſthalten und in Wirklichkeit 
verwandeln laſſen. Aber darf man, oder möchte man 
ihn anders wollen, wenn man ſich, wie Sie und ich, 
ſeiner ſo weichen und ſo anſchmiegenden Neigung zu 
erfreuen hat?“ 

Konradine meinte, die Gräfin thue ſich und ihrem 
Bruder Unrecht, wenn ſie die Freundſchaft, welche 
der Baron ihr gönne, mit der tiefen Zuſammengehörig⸗ 
keit vergleiche, die ihn an die Schweſter binde. 

Die Gräfin zuckte die Schultern. „Eine Schweſter, 
die dem Matronenalter entgegengeht, und eine Freundin, 
jung und ſchön wie Sie!“ ſagte ſie lächelnd. „Fra⸗ 


— 


149 


gen Sie ſich ſelber, liebe Konradine, wie zwiſchen dieſen 


Beiden die Entſcheidung fallen wird — beſonders, da 


Sie Nichts von ihm verlangen“ 

„Ich von ihm? — Nein, gewiß Nichts!“ rief 
Konradine betheuernd und mit feſter Ueberzeugung aus. 

„Ich hingegen,“ fügte die Gräfin hinzu, „muß 
beſtimmte Forderungen an ihn ſtellen. Ich will und 
muß ihn an ſeine Pflichten gegen die Familie mahnen, 
und werde ihm den falſchen Glauben ſelbſt durch 
Thatſachen nicht leicht benehmen können, daß ihn 
Niemand je geliebt hat, außer jener Pfarrerstochter, und 
daß wir ihn durch unſeren Einfluß auf den Vater 
und das Mädchen, um ſein ſogenanntes Glück betrogen 
haben. Ich werde Ihrer freundlichen Vermittelung 
neben ihm, mehr als ſie glauben, nöthig haben, denn 
das Gedächtniß ſeines Herzens hält Neigungen und 
Abneigung in gleichem Maße feſt. Sie ſehen alſo, 


wie ſehr Sie gegen mich im Vortheile ſind.“ 


Konradine fand es nicht für angemeſſen, dabei 
zu verweilen. „Ich habe,“ ſagte ſie, „mich bisweilen 
ſelbſt befragt, ob die Erinnerung an Hulda wirklich 
noch ſehr lebhaft in ihm iſt? Ob er nach des Pfarrers 
Tode, doch noch daran denken könnte, ſie zu ſeiner Frau 
zu machen? Denn das allein hätte man im Grunde zu 
befürchten.“ 

„Ich habe dieſelbe Frage auch erwogen,“ meinte 
die Gräfin, „aber über dieſe Beſorgniß hebt mich ein 
Brief hinweg, den ich geſtern von unſerer alten Haus⸗ 
hälterin empfangen habe. Sie wird Ihnen in ihrer 
grilligen Wunderlichkeit wohl auch noch erinnerlich ſein. 


150 


Ich hatte unſeren Amtmann nach dem letzten Willen 
meiner guten Kenney angewieſen, das kleine Vermögen, 
das ſie bei uns erworben, und das der Amtmann ihr 
verwaltet hat, ihrem in Schottland lebenden Neffen 
und Erben zu übermachen, und Hulda ein Legat von 
einigen hundert Thalern, das die Gute dem Mädchen 
zuzuwenden gewünſcht, ſofort auszuzahlen. Vorige 
Woche nun meldete mir der Amtmann, daß er dieſe 
Aufträge vollzogen habe, und er erwähnt daneben, wie 
das kleine Kapital vielleicht in nicht zu ferner Zeit für 
Hulda doppelt nützlich werden könne. Er berichtet 


dann noch über den Zuſtand des Pfarrers, rühmt den 
Stellvertreter, welchen ich ihm halte, und fragt endlich bei 


mir an, ob ich geneigt ſein würde, den jungen Mann, der 
das Vertrauen der Gemeinde gewonnen habe, nach des 
Pfarrers Tode in dem Amte zu beſtätigen, und die 
Gehaltsaufbeſſerung, welche ich dem Pfarrer zugeſtanden, 


auch ſeinem Nachfolger zu gewähren, wenn dieſer ſich 


zu verheirathen wünſchen ſollte.“ 
Und Sie vermuthen, daß es Hulda iſt, auf welche 
der Kandidat ſein Augenmerk gerichtet hat?“ 
„Es war mir wahrſcheinlich nach des Amtmanns 
Mittheilungen. Geſtern aber ſchrieb ſeine Schweſter 
an mich wegen einiger Effecten, die meine gute alte 
Kenney in dem Schloſſe zurück gelaſſen hat, und die bös⸗ 
willige Geſchwätzigkeit der alten Mamſell, der ich ſonſt 
nicht eben Glauben ſchenke, ſetzt jene angedeutete That⸗ 
ſache außer allen Zweifel. Im Grunde verſtand ſich 
dieſe Sache ſehr von ſelbſt. Eine unglückliche Liebe 
für einen Edelmann und eine ſchließliche Heirath mit 


* 


151 


des Vaters Adjunktus, das iſt ſo der gewöhnliche 


Hergang in einem Pfarrershauſe auf dem Lande — 


und es iſt vielleicht ebenſoviel, vielleicht mehr Poeſie 
und Glück in ſolchem engbegrenzten Daſein, als in 
unſerm vielbewegten Leben.“ 

Sie hatte die letzte Bemerkung leicht hingeſprochen, 
Konradine nahm ſie ebenſo achtlos auf. Es war eine 
der herkömmlichen Betrachtungen, mit welchen die 
Reichen und Bevorzugten ſich über das Schickſal ihrer 
weniger vom Glück begünſtigten Mitmenſchen abzufinden 
wiſſen. Konradine beſchäftigte nur die Nachricht, die 
ſie eben erhalten hatte. 

„Das iſt ein günſtiges Ereigniß,“ meinte fie. 
„Es wird die feinfühlige Gewiſſenhaftigkeit des Barons 
beruhigen.“ b 

„Würde ich der Sache ſonſt erwähnen? warf die 
Gräfin ein. „Vor allen Dingen wird es ihn er⸗ 
nüchtern, und das iſt um ſo nöthiger, als nach meiner 
feſten. Ueberzeugung die Phantaſie meines Bruders 
in jener Angelegenheit mehr als ſein Herz bethei⸗ 


ligt war.“ 


„Ich habe das Mädchen nur einmal und nur 
flüchtig auf dem Krankenlager geſehen, aber ſeine 
Schönheit war wirklich ungewöhnlich!“ ſagte Konradine. 

„Es war, wie ich glaube, nicht einmal des Mäpd- 
chens Schönheit, die Emanuel ſo einnahm, obſchon 
ſie ihn gleich Anfangs überraſchte,“ entgegnete die 
Gräfin. „Aber Hulda iſt recht eigentlich, was Göthe 
mit dem Worte „eine Natur“ bezeichnet hat; und wie 
eine Naturkraft hat ſie — ich habe ſie beobachtet, 


152 


weil ich ſie in unſeren Dienſt zu ziehen dachte — 
etwas Ergreifendes, etwas Fortreißendes. Zum Dienen 
war ſie alſo nicht gemacht. Es iſt in ihr nichts Ueber⸗ 
legtes. Alles kommt unwillkürlich, man möchte ſagen 
ſtoßweiſe und gewaltſam zur Erſcheinung, und das 
reizt und feſſelt. Ich hatte Mühe, es zu hindern, daß 
meine Tochter ſie in ihren Haushalt aufnahm. Sie 
und der Fürſt waren ebenſo wie mein Bruder von 
Hulda eigenommen, und ſelbſt die auch Ihnen wohl⸗ 
bekannte Gabriele, die ſie im verwichenen Winter in 
unſerem Hauſe in der Stadt geſehen hat, fühlte ſich 


von ihr angezogen. Sie hat ſogar mit ihr einmal 
geleſen, wie die Kenney ſchrieb. Zu derlei hatte Hulda 


unverkennbares Geſchick. Wir hatten damals, als das 
Abenteuer mit Emanuel ſich in dem Schloſſe entſpann, 
merkwürdig genug, auch ein wirkliches dramatiſches 
Talent in unſeren Dienſten. Es war des Fürſten 
Kammerdiener, der zur Bühne gegangen iſt, weil der 
Fürſt ſich genöthigt fand, ihn zu entlaſſen. Man ſagt, 
er ſolle auf dem Wege ſein, ein bedeutender Charakter⸗ 
ſpieler zu werden. Bei uns in dem Schloſſe hat er ſeine 
Rolle freilich ſchlecht genug geſpielt. Aber es iſt nicht 
Jeder ein guter Diener, der dafür erzogen 1 
iſt; man muß dazu geboren ſein.“ 
Die Unterhaltung war damit von ihrem 110 
lichen Urſprung abgekommen und gerieth einen Augen⸗ 
blick ins Stocken, bis Konradine die Bemerkung machte, 


empfindlich werde die Nachricht dem Baron zuerſt 


doch ſein. 


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153 


„Da er ein Mann iſt, ganz gewiß!“ entgegnete 
die Gräfin. Aber man tröſtet ſich über den Verluſt 
einer Geliebten, die ſich mit einem Geringeren zu 
befriedigen vermag. Ein unbedeutender Nebenbuhler 
iſt für die Eitelkeit nie ſchmeichelhaft, am wenigſten, 
wenn er begünſtigt wird.“ 

„Wollen Sie wirklich das ſchmerzliche Mißtrauen, 
welches Baron Emanuel leider gegen ſich ſelber hegt, 
als die gewöhnliche männliche Eitelkeit bezeichnen?“ 
fragte Konradine im Tone ſanften Vorwurfes. 

Die Gräfin ſah ſie forſchend an. Sie hatte die 
Bemerkung gegen die Eitelkeit der Männer als eines 
jener Stichworte hingeworfen, mit denen die Frauen 
aller Stände, wenn auch auf den verſchiedenſten Wegen 
und in den verſchiedenſten Formen, ein Verſtändniß 
anzuknüpfen, ein engeres perſönliches Vertrauen ein⸗ 
zuleiten lieben. Sie hatte dabei erwartet, daß ihre 
jüngere Gefährtin ſich durch dieſes Vertrauen, welches 
ſich nicht ſcheute, die Schwäche des nächſten Angehö— 
rigen einzugeſtehen, geſchmeichelt finden, und daß ſie 
ſich, nach den Erfahrungen, welche der Prinz ſie hatte 
machen laſſen, veranlaßt fühlen würde, die Anſicht der 
Gräfin zu beſtätigen, und bei der Gelegenheit auch von 
ſich ſelbſt zu ſprechen. Indeß nicht das Eine, nicht 
das Andere traf zu, und die Gräfin mußte ſich ein⸗ 
geſtehen, daß ſie Konradine nach einem anderen als 
dem gewöhnlichen Maßſtabe zu ſchätzen habe. Trotz⸗ 
dem war ſie ſich über die Beweggründe, aus welchen 
Jene handelte, nicht recht klar. War es Vorſicht gegen 
ſie? oder war die Freundſchaft der jungen Stiftsdame 


154 


für den Baron wirklich To lebhaft, daß ihr der leichte 
Tadel nicht gefiel, welchen die Schweſter gefliſſentlich 
gegen ihn ausgeſprochen hatte? Unmöglich war das 
nicht. 

Emanuel hatte den Frauen ſtets gefallen, er 
hatte ſtets ihr Vertrauen und ihre warme Theilnahme 
gewonnen, weil er nie Etwas für ſich zu fordern ge— 
ſchienen hatte. Es war daher leicht denkbar, daß 
Emanuel ſeiner ſchönen Freundin werther war, als ſie 
es ſelber wußte, daß er einen Theil der Lücke aus⸗ 
füllte, welche die Trennung von dem Fürſten in Kon⸗ 


radinens Herzen offen gelaſſen hatte. Sie waren 
Beide geiſtreich, hatten Beide eben erſt ein Liebesleid 


erfahren, als ſie einander nahe getreten waren, und 
ein Briefwechſel iſt immer verführeriſch. Schön war 
Konradine! Sie dünkte der Gräfin ſogar ſchöner, als 
in jenen Tagen, da ſie dieſelbe zuletzt geſehen hatte. 
Ihr Ausdruck war ernſter, ihre Haltung ruhiger, ihre 
ganze Erſcheinung dadurch edler und bedeutender ge— 
worden. Das Geſchlecht, dem ſie entſtammte, war 
eines der älteſten deutſchen Geſchlechter, ihr perſön— 
liches Vermögen war bedeutend, von dem ihrer Mutter 
abgeſehen. Sie war am Hofe wohlgelitten, die Mutter 
war nachgerade auch über die Zeit hinaus, in welcher 
man irgend eine verdrießliche Thorheit von ihr zu 
befürchten hatte, und klug war Konradine, ungewöhn⸗ 
lich klug. Das aber war nach der Gräfin Meinung 
und Erfahrung eine der unerläßlichſten Eigenſchaften 
für eine Frau, die, hochgeſtellt, ſich auf einem beach⸗ 
teten Platze zu bewegen, zu behaupten hatte. Eine 


155 


Schwiegertochter von Konradinens Selbſtgefühl wünſchte 
ſich die Gräfin nicht, eine ſolche Schwägerin konnte 
jedoch unter Verhältniſſen dem Intereſſe der Familie 
weſentlich von Nutzen ſein. In jedem Falle aber 
mußte und durfte man fie für das Erſte ihrem eige- 
nen Ermeſſen überlaſſen, denn daß ihr an der Gräfin 
Theilnahme gelegen war, das ſah und fühlte dieſe 
deutlich. 

Konradine hatte den prüfenden Blick der Gräfin 
ruhig auf ſich weilen laſſen, nun reichte dieſe ihr die 
Hand. „Verzeihen Sie mir, Beſte!“ ſagte ſie, „daß 
ich Sie auch nur einen Augenblick lang nicht ſchätzte, 
wie ich mußte, daß ich Sie zu jenen Naturen zu zäh⸗ 
len vermochte, die das Leiden herb macht. Sie hat es 
erhoben, und darin beſteht ja der wahre Adelsbrief 
des Menſchen, darin vor Allem verräth ſich die Groß— 
artigkeit eines Frauenherzens. Laſſen Sie ſich mit 
dem Bekenntniſſe genügen, daß ich gelernt habe, Sie 
hoch zu halten, und daß es mir viel werth iſt, Sie 
zu kennen, wie ich es jetzt thue.“ 

„Sie machen mich ſtolz, Frau Gräfin, und bes 
ſorgt zugleich. Ich würde untröſtlich ſein, Ihre gute 
Meinung einzubüßen. Das bürgt Ihnen dafür, wie 
ſehr ich danach trachten werde, ſie mir zu erhalten,“ 
erwiderte ihr Konradine. 

Die Frauen drückten einander die Hände, ſie 
waren Beide mit ſich und miteinander wohl zufrieden, 
man ſprach von anderen Dingen. Erſt mehrere Stun⸗ 
den ſpäter fragte die Gräfin, ob Konradine dem Baron 
vielleicht den Tag ihrer bevorſtehenden Ankunft ſchon 


156 


gemeldet habe. Sie entgegnete, fie habe dies nicht 
gewagt, um der Gräfin die Entſcheidung freizulaſſen. 

„Würden Sie Etwas dagegen haben, ihm heute 
noch zu ſchreiben? Wären Sie bereit, dem Briefe 
dann, wie Sie es vorgeſchlagen haben, bald zu folgen, 
und morgen oder übermorgen mit mir in kurzen Tage⸗ 
reiſen von hier fortzug ehen?“ 

Konradine ſtellte ſich ihr völlig zur Verfügung. 
„Erfreuendes erlangen kann man ja nicht ſchnell ge— 
nug!“ ſagte ſie, „und es würde mich ſo glücklich 
machen, Sie und den Baron einander wieder gegeben 


zu ſehen. Ich ſchreibe unſerem Freunde noch in dieſer 
Stunde, und will ihn dabei wiſſen laſſen, was ich 


eben heute durch Sie erfahren habe.“ 


Dreizehntes Capitel. 


Es ließ Hulda keine Ruhe, nicht Tag, nicht Nacht. 
Die glühende Eiferſucht, die ſchnell und gewaltig wie 
ihre Liebe in ihr aufgelodert war, als ſie Konradine 
mit dem erſten flüchtigen Blicke geſehen, und die ge⸗ 
ſchlummert hatte, jo lange fie dieſelbe in dem Stifte 
vermuthet, war bei der Nachricht, daß Konradine ihr 
Stift verlaſſen habe, um mit Emanuel zuſammenzu⸗ 
treffen, neu entbrannt. 

Wo ſie ging und ſtand, ſah ſie Konradine vor 
ſich, wie ſie an jenem Wintertage ſtrahlend in friſcher 
Schönheit an ihr Krankenbett herangetreten war. Da⸗ 
mals hatte ihr Unglück angefangen, an dem Tage war 
Emanuel zum erſtenmale mit ihr unzufrieden geweſen, 
an dem Tage war der Gedanke in ihr aufgeſtiegen, 
daß er eine Andere, daß er Konradine einmal mehr. 
lieben könnte als ſie, denn ohne dieſen Gedanken 
würde ſie nicht darein gewilligt haben, auf Emanuel 
zu verzichten, und ihn ſcheiden zu laſſen, wie ſie es 
gethan hatte. | 


158 


Hundert: und aber hundertmale hatte fie im 
Laufe der Jahre ſich jenen Abſchied und die Stunden 
und Tage, welche ihm vorangegangen waren, und jene 
ungezählten anderen, die ihm gefolgt waren, in das 
Gedächtniß zurückgerufen. Sein Verhalten und das 
ihre hatte ſie immer auf das Neue erwogen und ab— 
gewogen, und je weiter ſie ſich von dem Zeitpunkte 
entfernte, um ſo feſter war in ihr die Ueberzeugung 
geworden, daß nicht Emanuel die Schuld an ihrer 
Trennung trage, ſondern daß fie und fie allein die⸗ 
jelbe herbeigeführt habe, daß fie allein die Schul- 
dige ſei. 5 


gemahnt, die Seine zu bleiben, er hatte den Ring 
nicht angenommen, mit dem er ſich ihr anverlobt, und 
den ſie ihm hatte wieder geben wollen — er trug die 
Schuld an ihrem Unglück nicht. Es war ihr ſtets ein 
Troſt geweſen, ſich ſagen zu können: es haftet keine 
Schuld an ihm! Und wenn ihr dann das Herz doch 
allzu ſchwer geworden war bei der Vorſtellung, daß 
ſie allein alſo die Schuldige ſei, daß ſie das Glück 
geſtört habe, welches er ihr und ſich zu bereiten ge— 
hofft hatte, daß ſie ihn nicht erlöſt habe aus der Ver⸗ 
einſamung, zu der er ſich verdammt geglaubt, ſo hatte 
ſie ſich an der Vorſtellung aufgerichtet, daß ſie, ohne 
ihre Pflicht gegen den Vater zu verletzen, nicht anders 


Er hatte ſie mit fo dringendem Liebesworte daran g 


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habe handeln dürfen. Mit dem Troſte der Gläubigen, 


Gott habe es anders nicht gewollt, Gott habe ihr dies 
Opfer auferlegt, hatte ſie ſich beſchwichtigt, ſo gut es 
gehen wollte. 


159 


Jetzt aber, da Konradine plötzlich wieder zwiſchen 
fie und den Geliebten trat, ſtürzte vor ihrer flam⸗ 
menden Eiferſucht der ganze Bau ihrer religiöſen Er⸗ 
gebung und Entſagung raſch zuſammen, und wie vom 
Sturme getrieben, zogen Entſchlüſſe und Vorſätze wild 
durch ihren Sinn. Bald wollte ſie ihm ſchreiben und 
ihm ſagen, daß ſie nie aufgehört habe, ihn zu lieben, 
auf ihn zu hoffen, an ihn zu glauben — denn der 
Ring an ihrem Finger hielt noch feſt, und der Türkis 
hatte ſein ſanftes Blau noch nicht geändert, wie er es, 
der Sage nach, doch thun ſollte, wenn des Gebers Treue 
wankt. Und er hatte ihr ja den Ring als Pfand ge— 
laſſen. Aber wenn ſie nun ſchrieb? ihm, der in all 
den Jahren ihr kein Lebenszeichen mehr gegeben — 
und einen Gruß, ein Wort hätte er doch zu ihr ge= 
langen laſſen können, wenn er ihrer noch gedachte, 
wenn er ſie noch liebte — wenn ſie ihm ſchrieb und 
ihr Brief erſchreckte ihn, ſtatt ihn zu erfreuen? Wie 
dann? — Was konnte und ſollte ſie ihm auch ſagen? 
— Sollte ſie ihm von ihrer Liebe ſprechen vielleicht 
in dem Augenblicke, da er ſich mit Konradine zu ver⸗ 
binden dachte? — Sollte ſie ihn bitten, auf ſie zu 
warten, bis — — ö 

Sie fuhr ſich angſtvoll mit den Händen nach 
dem Kopfe. Nein! Sie hatte ihm Nichts mehr zu 
ſagen, es war zu ſpät, es war Alles vorbei, lang vor⸗ 
bei. Es war ihr geſchehen, wie der Dichter es geſagt, 
wie Gabriele es an jenem unvergeßlichen Morgen 
ausgeſprochen hatte: 


169 


Was du von der Minute ausgeſchlagen, 
Bringt keine Ewigkeit zurück. 

Es war nicht anders — ſie mußte vergeſſen. 
Alles vergeſſen, ihn vergeſſen. Aber konnte ſie das? 

Sie trug ja ſeinen Ring am Finger. Sie wachte 
in der Nacht auf und fühlte, ob er noch an ſeiner 
Stelle ſei. Sie zündete das Licht an, um zu ſehen, 
ob ſein Blau noch freundlich ſchimmere. Sie war in 
einer fortwährenden Unruhe, ſie war gepeinigt, wie 
ſeit lange nicht. Es ging ihr wie dem deutſchen Kaiſer 
mit dem Ringe der Geliebten, mit Faſtradens Ring. 
Sie konnte nicht von Emanuel laſſen, ſie konnte ihn 
nicht vergeſſen, ſo lange ſie den Ring an ihrem Finger 
trug. — Und was ſollte aus ihr werden, wenn Sie 
Emanuel nicht vergeſſen konnte, auch jetzt immer u 
ihn nicht vergeſſen konnte? 

Es litt ſie nicht in ihrer Kammer, es litt ſie 
nicht im Hauſe, ſie ging hinaus, hinab ans Meer und 
ſetzte ſich auf die Bank am Strande, welche die Fiſcher 
dort für ihre Frauen aufgeſchlagen hatten. Aber das 
Kommen und Gehen der Wellen ſteigerte ihre Qual 
— ſie kamen nicht von dorther, wo er weilte, und 
keine, keine ging zu ihm. Sie ſtiegen empor und 
fielen nieder und zerſchellten, und floſſen dahin — 
ungehört und ungeſehen von ihm — wie ihr Schmerz 
und ihre Klage und ihr ganzes, ganzes Leben, das 
gegenwärtige und das künftige. Sie hätte aufſchreien 
mögen in ihrer Pein und Angſt. Sie rief endlich 
nach ihm mit ſeinem Namen, aber der Wellenſchlag 
verſchlang den Ruf. Nicht einmal der Widerhall gab 


161 


Antwot, und wie ſie ihn dennoch rief und wieder rief, 
kam ein Grauen über ſie. Es war, als fühlte ſie, 
wie die leiſen Schwingen des Wahnſinns ſich ihrem 
Haupte nahten und näher und näher ſie umdrängten. 

So konnte es nicht bleiben, ſo konnte ſie nicht 
weiter leben. Es mußte Etwas geſchehen, ſie mußte 
Etwas thun, ſie mußte ſich helfen, ſich erretten oder 
untergehen; und den Ring von ihrem Finger ſtrei⸗ 
fend, wollte ſie ihn von ſich ſchleudern, weit hinaus 
in das Meer. Aber wie ſie an das Waſſer trat und 
die Hand erhob, ging es über ihre Kräfte. Sie ſetzte 
ſich nieder und weinte bitterlich. 

Als ſie ſich aufrichtete, ſtand der Adjunkt an ihrer 
Seite. Das Rauſchen der Wellen hatte ſein Heran⸗ 
kommen auf dem weichen Sande vollends unhörbar 
gemacht. Da er ſie in Thränen vor ſich ſah, wußte 
er nicht, was er ihr ſagen ſollte. Er wollte es ent⸗ 
ſchuldigen, daß er ſie ſtöre, und brachte endlich Nichts 
als die Worte heraus: „Sie haben geweint!“ — 
aber das Mitleid, das aus ſeinen Mienen ſprach, er⸗ 
gänzte, was er dabei dachte. 

Hulda hatte ſich ſo verlaſſen gefühlt, daß der An⸗ 
blick eines Menſchen, der Ton einer menſchlichen 
Stimme ihr eine Wohlthat waren, und fortgeriſſen 
von den ſie überwältigenden Gedanken, ſagte ſie, ebenſo 
wie er ihr ganzes Empfinden in einen Satz zuſammen 
drängend: „Ich wollte ein Ende machen!“ 

Er fuhr erſchrocken auf. „Wie darf ein ſolches 
Wort von Ihrem Munde kommen!“ rief er, ſeinem 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 11 


162 


Ohre nicht trauend, mit ſittlicher und zorniger Ent- 
rüſtung. 

Das brachte ſie zu ſich ſelber und zu einer Faſſung; 
und weil ſie fühlte, daß ſie ſolchem Zweifel nicht 
Raum in ſeiner Seele laſſen durfte, und weil ihr das 
Herz auch gar ſo ſchwer war und ſo voll, daß es ſie 
zum Sprechen drängte, ſagte ſie: „Ich hatte nichts 
Sündhaftes im Sinne. Ich wollte nur ein e 
machen mit mir ſelbſt für alle Zeit.“ 

Sie wußte nicht, daß ſie in ihrer inneren Ber⸗ 
wirrung nur die Worte wiederholte, die ſie vorhin 


ausgeſprochen hatte, und das machte ihm ihren Zuſtand 


nur noch unheimlicher. 

„Ich verſtehe Sie nicht!“ ſagte er, „und möchte 
Sie doch nicht mißverſtehen, nicht zweifeln müſſen an 
Ihnen.“ 

Die Innigkeit ſeines Tones entging Hulda ſelbſt 
in ihrer gegenwärtigen Verſtörtheit nicht, aber ſie ver⸗ 
mochte mit der Eigenſucht des Schmerzes an Nichts zu 
denken, als allein an ſich, und plötzlich von einer neuen 
Vorſtellung ergriffen, ſagte ſie: „Nein! Sie ſollen 
auch nicht an mir zweifeln müſſen. Ich will offen 
gegen Sie ſein, wenn Sie mir verſprechen, daß Sie 
mir helfen, daß Sie thun wollen, was ich von Ihnen 
fordern werde.“ 

Er wollte ihr die Zuſage leiſten, er reichte ihr 
die Hand, aber ſeine Gewiſſenhaftigkeit war ſtärker als 
ſelbſt die Liebe zu ihr, und er hielt zögernd die Hand 
zurück. „Was verlangen Sie?“ fragte er. 


163 


Sein Zögern mißfiel der Aufgeregten, und raſcher 


und heftiger, als er ſie jemals hatte ſprechen hören, 


ſtieß ſie die Worte hervor: „Ich muß ein Ende machen 
mit mir und meiner Liebe! Ich muß den Ring von 
mir thun, der mich an ihn bindet! Heute noch ſende 
ich ihn zurück; denn es iſt um mich geſchehen, 
wenn ich es nicht thue. Beſorgen Sie den Ring zur 
Poſt, und heute noch!“ 

Die Lippen bebten ihr, als ſie das Wort aus⸗ 
ſprach, und ſelbſt ihre Stimme klang herb und rauh; 
aber der Adjunkt ergriff ihre Hände, und fie feſthal⸗ 
tend, während er ihr voll Liebe in das Antlitz blickte, 
rief er: „Ja, das will ich! Und Gott ſei Dank, daß 
er Ihnen zu dem Entſchluſſe verholfen hat! Gott ſei 
Dank dafür!“ 

Er wollte noch Etwas ſagen, aber er überwand 
ſich und drängte es in ſein Herz zurück. Wie hätte 
er von ſeinem Hoffen ſprechen mögen, da ſie das 
ihrige begraben mußte? Aber er hing an ihr mit jedem 
Tage mehr, er ſorgte ſich um ſie mehr, als er je um 
ſich ſelbſt geſorgt, und der Glaube, daß Gott ihn eben 
hiehergeſendet habe, um dieſer Einſamen, Verlaſſenen 
nach des Vaters Tode ein Troſt und eine Stütze zu 


werden, machte, daß er ſich begnadigt vorkam durch 


die Sorge und die Liebe, die er in ſich wachſen fühlte. 
Ohne miteinander mehr zu ſprechen, kamen ſie 


nach Hauſe. Vor der Thüre blieb der Adjunktus 


ſtehen. „Wann wollen Sie, daß ich gehe?“ erkun⸗ 
digte er ſich. | 
1 


164 


„Kann es heut' noch ſein?“ fragte Hulda, die 
ſich nicht ſicher fühlte, morgen noch zu vermögen, was 
ſie ſich heute abgewonnen hatte. 

Der Adjunkt zog die Uhr hervor, die er an einem 
ſchlichten ſchwarzen Bändchen trug. „Haben Sie den 
Brief bereits geſchrieben?“ 

„Ich habe meinem Vater zugeſagt, es nie zu 
thun!“ gab ſie kurz zur Antwort. 8 

„So will ich warten, bis der Ring verpackt iſt!“ 
ſagte der Adjunkt, und ſie gingen Beide in das Haus; 
er, um ſich für den Weg zum Poſtamt anzuſchicken, 


ſie, um den Goldreif einzuſiegeln, an dem ihr Herz 


und, wie ſie fühlte, auch ihr Schickſal hing. 

Sie hielt das Päckchen in der Hand, als ſie wieder 
vor die Thüre hinaustrat. Sie hatte den Ring in ein 
Käſtchen hineingethan, das ihr noch von der Mutter 
kam. Was ſie dabei empfunden, wie ſie gezweifelt 
und geſchwankt, wie ſie gezaudert hatte und dann in 
die Knie geſunken war, um das Käſtchen zum letzten⸗ 
male noch an die Lippen zu drücken, das konnte 
der Adjunkt nicht wiſſen; aber er las in ihrem bleichen 
Antlitze den Kampf, den ſie gekämpft hatte, und er 
wagte es doch nicht, ſie mit ermuthigendem Worte auf 
die Zukunft zu verweiſen, weil er ſeine Hoffnung auf 
dieſelbe baute. 

„Verlieren Sie es nicht!“ ſagte Hulda mit jener 
Zerſtreutheit, mit welcher man in den ſchmerzlichſten 
Augenblicken oftmals gerade das Gleichgiltigſte ſagt, 
und ausſpricht, was man nicht gedacht hat. 


165 


„Verlaſſen Sie ſich auf mich!“ entgegnete er, 
ihre Hand ergreifend und zum erſtenmale küſſend; 
dann ging er bewegten Herzens raſch davon. 

Sie hatte ſeine Worte und ſeine Huldigung kaum 
beachtet. Sie ſtand und ſah ihm nach, und mußte 
ſich halten, daß ſie ihm nicht folgte, daß ſie ihn nicht 
zurückrief. Der Gedanke, daß ſie jetzt freiwillig über 
ihr Geſchick entſchieden, daß ſie es ſei, die das letzte 
Band zerriſſen habe, welches ſie mit dem geliebten 
Manne noch zuſammengehalten bis auf dieſe Stunde, 
ſtürmte beängſtigend auf ſie ein. Sie wußte ſich nicht 
zu ſagen, ob ſie recht, ob unrecht damit gethan, ob ſie 
an ſich, an ihm damit geſündigt habe, nur daß ſie 
unglücklich, und daß nun Alles für immerdar zu Ende 
ſei, dieſes Bewußtſein lag über ihr und drückte ſie 
darnieder. 

Als ſie in das Haus zurückkam rief der Vater ſie 
zu ſich. Sie half ihm von dem Lager, auf dem er 
ausgeruht, nach dem alten Lehnſtuhl, und ſetzte ſich, 
wie ſie es gewohnt war, auf dem kleinen Schemel zu 
ſeinen Füßen nieder. Seit er ſich nicht mehr ſelbſt 
beſchäftigen konnte, war ihr Geſpräch und ihr Ge⸗ 


plauder ihm Bedürfniß, wenn ſie ihm nicht vorlas, 


und ihre Liebe hatte, wie eng ihr Lebenskreis auch war, 
doch immer Eines oder das Andere gefunden, ihn zu. 
unterhalten. Heute fiel ihr Nichts, nicht das Geringſte 
ein; ſelbſt ihre Näharbeit zur Hand zu nehmen, war 
ſie nicht im Stande. Sie ſaß an ſeiner Seite und 
hielt ſeine Hand in der ihrigen. Ihr Schweigen fiel 
ihm auf. ; 


166 


„Du biſt fo Still mein Kind,“ ſagte er. 

Und wie vorhin das Kommen des Adjunktus, ſo 
löſte jetzt die Stimme ihres Vaters den eiſernen Reif, 
der ihr das Herz zuſammenpreßte, denn unfähig eines 
anderen Gedankens als des Einen, rief ſie: „Jetzt 
hab' ich auf der Welt Nichts mehr als Dich! Nichts, 
Nichts mehr, Vater! Ich habe ihm den Ring, ich habe 
Emanuel feinen Ring zurückgeſchickt.“ 

„Da ſei Gott gelobt!“ rief der Greis, und erfaßte 
ihre beiden Hände und zog die Tochter an ſein Herz. 
Er legte ihr von Thränen überſtrömtes Antlitz an das 


ſeine, wie man es mit einem Kinde thut, das man 
beſchwichtigen will. — „Komm! komm! mein Kind! 


weine Dich aus und ſchäme Dich der Thränen nicht, 
da unſer Herr und Meiſter ſie ſich gegönnt hat in 
der Stunde der Entmuthigung; aber wie er den Kelch 
des Schmerzes geleert in gläubigem Vertrauen auf 
ſeines Vaters Beiſtand und auf ſeine Auferſtehung, 
ſo ſoll es Jeder von uns thun, ſo thue Du es auch. 
Denn auch Du wirſt neu erſtehen nach dieſem Kampf 
und Sieg.“ 

„Ich kann nicht, Vater! ich kann es nicht!“ weh⸗ 
klagte ſie an ſeinem Herzen. 

„Auch nicht, wenn Dir Dein Vater ſagt, daß 
Du ihm damit ſein müdes Herz erleichterſt, weil Du 
das Wort eingelöſt haſt, das er für Dich verpfändet 
hatte?“ 

Sein milder Zuſpruch machte ſie verſtummen. Er 
ließ ihr eine Weile Zeit. Sie kniete immer noch an 
ſeiner Seite, er hielt ihre Hände in den ſeinen feſt. 


Pi #7 
Wr 
1, Ahr 8 
or 1 


167 
Als das heftige Schlagen ihres Herzens nachließ, als 
er fühlte, daß ihre Thränen ſanfter floſſen, hub er 
noch einmal zu ſprechen an. „Du haſt gut gethan, 
gut und recht, mein Kind, daß Du den Ring zurück⸗ 
geſendet haſt, ehe der Baron genöthigt war, ihn von 
Dir zu begehren, was über kurz oder lang hätte ge- 
ſchehen müſſen. Denn das bevorſtehende Ende ſeines 
Bruders legt ihm Pflichten auf, denen er ſich nicht 
entziehen darf; und ich glaube, wie Du es wohl auch 
geglaubt haſt, daß er ſeine Wahl getroffen hat. Der 
Entſchluß, den Du heute unter Gottes Beiſtand gefaßt 
und ausgeführt haſt, nimmt mir die letzte ſchwere 
Sorge von der Seele. Es hätte mir im Grabe nicht 


Ruhe gelaſſen, mein Kind als Ueberläſtige zurüd- 


gewieſen zu denken.“ 

Er hielt inne, Hulda regte ſich nicht. „Der 
Sommer iſt zu Ende, der Herbſt kommt heran,“ ſprach 
er, „und ſeine fallenden Blätter werden mich bedecken; 
aber meine letzten Tage ſind von Gott geſegnet. Deine 
Liebe, die Ergebenheit unſeres wackeren jungen Freun⸗ 
des, des Amtmanns feſte Treue und die immer gleiche 
Gunſt unſerer Frau Gräfin erhellen ſie mir und machen 
fie mir ſchön. Und auch Du wirft nicht verlaſſen fein! 
Der Amtmann hat mir zugeſagt, Dir eine Heimat 
bei ſich zu gewähren; auch die Frau Gräfin iſt bereit, 
ſich Deiner anzunehmen, Du darfſt ihres Schutzes 
jetzt mehr noch als bisher verſichert ſein. Und wer 
will und kann es vorausſehen, ob es dem Herrn nicht 
gefällt, noch anders über Deine Zukunft zu verfügen, 
ob es Dir nicht beſtimmt iſt, in Frieden da weiter zu 


168 


verweilen, wo ich und Deine Mutter unfer ſtilles Lebens⸗ 
glück gefunden haben. Alſo getroſt, mein Kind! Auch 
wenn ich von Dir gehe! Dein himmliſcher Vater geht 
nicht von Dir und ſeine Hand führt Dich und ſein 
Auge leuchtet Dir, wenn ſich das meine ſchließt.“ 

Er hatte ſeine Hände ſegnend auf ihr Haupt ge⸗ 
legt, ſie weinte ſtill in ſchweigender Ergebung, ſie hatte 
nur Einen Wunſch — dem Ende ihres Lebens wie 
ihr Vater nahe zu ſein, und von dannen gehen zu 
können, ſo wie er. — Was ſollte ſie noch auf der Welt? 

Draußen neigte die Sonne ſich in das Meer, in der 
niederen Stube ward's ſchon dunkel, aber Vater und 
Tochter ſaßen noch beiſammen und ſchwiegen alle 
Beide. Es war Nichts mehr zu ſagen, nur hinzu⸗ 
nehmen in Ergebung, was bevorſtand, früher oder 
ſpäter. | 

Wie es von dem alten Thurme ſieben Uhr ſchlug 
und der Abendſegen eingeläutet ward, richtete der Vater 
fih empor. 

„Es wird ſpät werden,“ ſagte er, „ehe der Ad— 
junkt nach Hauſe kommen kann, und er wird müde 
ſein. Denke daran, ihn zu erquicken. Du biſt ihm 
heute das doppelt ſchuldig, denn der Weg iſt weit und 
er macht ihn Dir zu Liebe. Weiß er, was Du ihm 
zur Beſorgung übergeben haſt?“ 

„Ja! Ich hab' es ihm geſagt,“ entgegnete ſie 
leiſe und ging hinaus an ihre Arbeit. 

Aber wie ſie nun da ſtand an demſelben Platze, 
an welchem ſie an jedem Abende am Herde ſtehend 
für den Vater und für den Adjunkt die Abendſuppe 


EV N 
sei 18 


169 


kochte, war es ihr unbegreiflich, daß ſie es that, daß 
ſie es gethan hatte all' die Zeit, und daß ſie es thun 
ſollte fort und fort, auch über ihres Vaters Tod 
hinaus. Denn jetzt, als ſie darüber nachſann, wie der 
Adjunkt vorhin von ihr geſchieden war, und was ihr 
Vater ihr geſagt hatte, konnte ſie nicht mehr darüber 
im Unklaren ſein, was ihr Vater hoffte, was der Ad- 
junktus wünſchte. Die Röthe der Scham ſtieg ihr 
in das Geſicht, als es ihr einfiel, wie dieſer ſich es aus⸗ 
gedeutet haben konnte, daß ſie eben ihn zum Ver⸗ 
trauten und zum Träger ihrer heutigen Sendung aus⸗ 
erſehen hatte, und doch war es nicht ihr Wille, nicht 
ihre Abſicht geweſen es zu thun! Ihre Eiferſucht, ein 
wilder Zug ihres Herzens, ein ihr ſelber unerklärliches 
Gefühl des Müſſens, des Nichtanderskönnens, hatten 
ſie zu dem Entſchluſſe getrieben, für den ihr Vater 
ſie belobte, und den gefaßt zu haben, ſie jetzt völlig 
muth⸗ und rathlos machte. 

Es war weit über die gewohnte Zeit des Nacht⸗ 
eſſens hinaus. Der Vater hatte ſeine Mahlzeit ein⸗ 
genommen und ſich zur Ruhe begeben. Sie hatte 
ihm, wie an jedem Abend, ſeit ſein Augenlicht ver⸗ 
ſagte, das Capitel aus der Bibel vorgeleſen, das er 
ihr bezeichnete, und mit einem Worte der ſegnenden 
Liebe hatte er ſie entlaſſen. Nun ſaß ſie in der klei⸗ 
nen Stube und wartete auf den Adjunktus, denn lange 
konnte er nicht mehr von Hauſe ferne bleiben. 

In dem Stübchen war es warm und ſtill. Die 
Fenſterladen waren offen wie immer, wenn Einer aus 
dem Hauſe am Abende noch auswärts weilte. Die 


170 


Uhr, die hier ſeit Menſchenaltern auf demſelben Flecke 


ſtand, rückte mit ruhigem Pendelſchlage Sekunde um 
Sekunde vorwärts. Auf dem uralten Meſſingleuchter 
brannte ſtill das Licht, wie es ſeit Menſchenaltern hier 
gebrannt hatte, und draußen fielen die Wellen mit 
dumpfem Schlage wie ſeit Jahrtauſenden auf das 
Ufer nieder. Es war hier Alles alt, Alles ſich gleich— 
geblieben, es war ein todtes Leben, ein lebendiger 
Tod; und in dieſes immer gleiche Daſein hatte auch 
ſie unterzutauchen, hatte ſie Alles zu begraben, was 
ſie gehofft und erſehnt. Sie mußte Alles vergeſſen, 


was durch eine kurze Spanne Zeit hellleuchtend an 
ihrem Horizonte vorübergezogen war. Sterben, wie 


hier Alles geſtorben war, mußte hier auch ſie mit 
ihrem heißen Herzen. — Und lebte ſie denn wirk⸗ 
lich noch? HR | 

Sie hatte das Licht in die Hand genommen und 
ging, ein paar Beſorgungen zu machen, aus der Stube 
in die Kammer, aus der Kammer in die Küche. — 
Es ſah ſie Niemand, denn die Magd war hinaus⸗ 
gegangen in den Stall, es hörte ſie Niemand und ſie 
ſelber hörte ſich nicht. Sie kam ſich wie Einer der 
kleinen Leute vor, von denen die Mamſell zu ſprechen 
liebte, wie Einer der Unterirdiſchen, die in den alten 
Häuſern ihr ſtilles Weſen treiben, ſpukhaft und ge⸗ 
ſpenſtiſch. 

Es war ihr unheimlich in dem Hauſe, ſie war 
ſich es ſelbſt. Ein kalter Windhauch ſtrich durch das 
offene Kammerfenſter über ſie hin, ſie ſchauerte zu⸗ 
ſammen. — „Das iſt der Todesengel!“ rief es in ihr, 


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171 


und in dem nächſten Augenblicke ſtand ſie an des 
Vaters Bett. Aber er lag ruhig da, ſein warmer 
Athem berührte ſie, wie ſie ſich zu ihm niederbeugte, 
und ſich zuſammennehmend, verließ ſie ihn, und ſetzte 
ſich an ihre Arbeit. 

Sie hatte ihr Strickzeug vorgeholt, ein Buch zur 
Hand genommen. Die Hände verrichteten mechaniſch 
ihren Dienſt, die Augen glitten über die Zeilen und 
Seiten hinweg, ſie wendete die Blätter um, und wußte 
nicht, was ſie geleſen hatte, denn ſie zählte innerlich 
die Tage, die es währen würde, bis der Ring in die 
Hände des Barons gelangte. Sie zermarterte ihr Herz 
und ihr Gehirn mit der Frage, wo und wie er ihn 
empfangen, ob er ihn behalten, was er damit machen, 
was er dabei empfinden, ob er zufrieden, ob er traurig 
ſein, ob und wie er ihrer dabei denken würde? Ihre 
armen Gedanken wirbelten in haltloſem Treiben durch⸗ 
einander, bis ſie wie durch einen Zauber mit einem⸗ 
male Konradine vor ſich ſah, die den Ring aus ſeinen 
Händen nahm und ihn an ihren Finger ſteckte. 

Sie ſprang empor. Hätte fie jetzt Allmacht beſeſſen, 
hätte es einen Zauber gegeben, ſicher, fernhin treffend, 
wie des kleinen Geiſterkönigs Fluch — ſie mochte nicht 
ausdenken, was durch ihr Gehirn ging. Sie ſtarrte 
in das Licht, bis die Augen ihr übergingen und ein 
weiter vielfarbiger Bogen das kleine Licht umgab. Wie 
ſie die Augen trocknete und näher hinſah, hingen in 
vielgewundenem Gekräuſel die Hobelſpäne an der Kerze 
nieder, die nach des Volkes Glauben eine Leiche in 
dem Hauſe künden; und wieder kam, wie ſie ſich auch 


172 


dagegen wehrte, das Bangen über fie, das Grauen 
vor ihrer Einſamkeit. Sie war unfähig es länger zu er⸗ 
tragen, ſie nahm das Licht und ging mit haſtigem 
Schritte hinaus, die Magd zu ſuchen. In dem Augen⸗ 
blicke trat der Adjunktus in das Haus. 

„Ach! Sie ſind es! Das iſt gut!“ rief ſie ihm 
entgegen; aber wie der Klang der Worte ihr Ohr be⸗ 
rührte, wünſchte ſie dieſelben nicht geſprochen zu haben, 
denn weil das Kommen des jungen Mannes dem un⸗ 
heimlichen Alleinſein nun ein Ende machte, hörte ihr 
Anruf ſich warm und freudig an, und ſie ſah, wie er 


ihn unwillkürlich in ganz anderem Sinne erfaßte und 


auf ſich bezog. 

„Ihr Auftrag iſt beſorgt,“ ſagte er, indem er die 
Mütze und den Ueberrock an den Nagel hing, wäh⸗ 
rend Hulda mit dem Lichte in der Hand ihm in dem 
kleinen dunkeln Vorſaale leuchtete. Die Hausthüre 
ſtand offen, es hatte während der letzten Stunde zu 
regnen angefangen, der Wind trieb die warme feuchte 
Luft vom Meere in das Haus. Die Kleider und das 
Haar des jungen Mannes waren naß, und ſich mit 
dem Tuche die Stirne trocknend, ſagte er: „Die Luft 
iſt noch ſehr warm und ich bin raſch gegangen. Ich 
wollte Sie und den Herrn Pfarrer nicht auf mich 
warten laſſen. Nun komme ich doch zu ſpät.“ 

Sein guter, freundlicher Wille war ganz unver⸗ 
kennbar, Hulda dankte ihm und ſagte, der Vater habe 
ſich ſchon zur Ruhe begeben. Der Adjunkt fragte, ob 
er ſich denn ſchlecht befunden habe? — „Nicht übler 
als ſonſt,“ entgegnete ſie ihm und brach dann ab. 


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173 


So kamen ſie in die Stube. Der Tiſch ſtand 
für zwei Perſonen gedeckt, die Magd trug die Suppe 
auf. Als der Adjunkt das Tiſchgebet ſprach, das ſonſt 
der Vater ſagte, als ſie ſich niederſetzten einander 
gegenüber und allein, das Licht mit ſeinem ſtillen 
Scheine zwiſchen ihnen und Alles um ſie her ſo ſtill, 
fiel ihr Alleinſein Beiden auf. Sie konnten das rechte 
Wort für einander nicht finden, denn ſie hatten die 
alte Unbefangenheit nicht mehr. 

Der Adjunkt blickte ein um das anderemal nach 
Hulda's Hand, an der ſie den goldenen Reif getragen 
hatte, den er ſo oft mit ſtillem Schmerz betrachtet, 
und Hulda griff, ohne es zu wiſſen, immer und immer 
wieder nach der Stelle, an welcher der Ring ihr fehlte. 
Ihre Gedanken trafen auf die Art zuſammen und 
gingen doch weit von einander. Denn ſein Sinn 
war feſter als je zuvor an dieſen Platz gebannt, all 
ſein Wünſchen war an ihn geknüpft; ſie aber dachte, 
während ſie ihm die kleinen, ihr obliegenden Dienſte 
der Hausfrau freundlich leiſtete, mit ſchwerem Herzen 
in die Ferne, und mit noch bangerer Seele an die 
Stunde, in der ſie von hier ſcheiden würde für immer⸗ 
dar; denn bleiben konnte ſie hier nicht. Und dem Schluſſe 
einer langen Gedankenreihe plötzlich Worte gebend, 
fragte ſie den Adjunktus, ob er an Ahnungen glaube. 

Er wollte wiſſen, wie ſie das verſtehe, was ſie 
zu der Frage bringe. 

„ Mein Vater hat Abſchied von mir genommen,“ 
jagte ſie kurz und mit jener ſtillen Gewaltſamkeit, mit 
der ſich zu bemeiſtern ihr eigenthümlich war. „Glauben 


174 


Sie, daß es eine Ahnung feines Endes ift, die ihn 
dazu beſtimmt hat?“ 


„Daß beſonders geſammelten Gemüthern ein Vor⸗ 


empfinden ihres Heimganges vergönnt tft, hat die Er⸗ 
fahrung uns an Beiſpielen bethätigt!“ entgegnete ihr 
der Adjunkt. „Daß Andere eine ſolche Ahnung thei⸗ 
len, glaube ich nicht.“ 


„Nicht?“ wiederholte Hulda. — „Da irren Sie! 


Ich habe meiner Mutter Tod empfunden fern von ihr, 
und ſie hat mich gerufen, einmal, zweimal, daß ich 
aufgeſprungen bin von meinem Sitze. Aber heute? — 
Mein Vater ſchläft ſo ruhig! Ich habe an ſeinem 
Bette geſtanden, ſeine Athemzüge ſtill gezählt. — Ich 
kann es mir nicht denken, kann es nicht glauben, daß 
ich ihn ſchon jetzt verlieren ſoll, jo lange die Befürch⸗ 
tung auch vor mir ſteht. Und nun ich nicht mehr 
ganz allein bin, nun Sie da ſind, ſchweigt meine 
Angſt auch wieder, und mein Herz iſt ſtill, und ohne 
unheilvolles Vorgefühl. Er wird mir noch erhalten 
bleiben. Glauben Sie es nicht?“ 

Sie ſtand von dem Tiſche auf und trat horchend 
an die Thüre. Ein paar Minuten blieben ſie ſchwei⸗ 
gend nebeneinander ſtehen. Es regte ſich in der Kam⸗ 
mer Nichts. Hulda ging vorſichtig hinein und beugte 
ſich zu dem Vater nieder. Sie hörte Nichts. Es fuhr 
ein Schrecken durch ihr Herz. Sie neigte ſich, legte 
ihre Wange an die ſeine und ſank mit einem Schrei 
zuſammen. 

Der Pfarrer hatte ſtill geendet. Sanft wie ſein 
Leben war ſein Tod geweſen. 


Vierzehntes Capitel. 


Emanuel hatte die Ankunft ſeiner ſchönen Freundin 
ſchon ſeit einigen Tagen erwartet, als ihr Brief in 
ſeine Hände gelangte. Ihre Mittheilung, daß ſie mit 
der Gräfin zufällig zuſammengetroffen ſei, überraſchte 
ihn, ohne ihm jedoch irgend ein Mißtrauen einzu⸗ 
flößen. Wie ſollte es auch? — Man war auf den 
verſchiedenen Reiſen oft genug in gleicher unvorberei⸗ 
teter Weiſe zuſammengekommen, und da ein heimliches 
Planen, wie die beiden Frauen es betrieben, ſeiner 
offenen Seele fern lag, kam der Gedanke, daß man 
ihn, wenn auch in beſter Abſicht, täuſche, gar nicht in 
ihm auf. Ebenſowenig aber konnte es ihn unter den 
obwaltenden Verhältniſſen befremden, daß die Gräfin 
ſich gegen Konradi ne über ihr Zerwürfniß mit dem 
Bruder ausgeſprochen hatte. 

Der Wunſch ſeiner Schweſter, ihn wieder zu 
ſehen, ihm die Hand zu reichen, war ſehr natürlich. 
Sie konnten ja, wer mochte ſagen in wie naher 
Zeit? einander an dem Sterbebette ihres Bruders 
egenüberſtehen, und dieſer ſelber hatte Emanuel mit 


176 


dringender Bitte zu einer Ausſöhnung mit der Gräfin 
angetrieben, als er gekommen war, den Kranken zu 
beſuchen. Er hatte es Emanuel zu bedenken gegeben, 


wie dieſer und die Schweſter bald die letzten direkten | 


Abkömmlinge ihres edeln Geſchlechtes ſein würden, und 
wie er es eben deshalb dem Andenken ſeiner Eltern 
und ſeiner Vorfahren ſchuldig ſei, durch Eingehung 
einer ebenbürtigen Ehe womöglich den Namen des 
alten Geſchlechtes fortzupflanzen, und die Güter bei 
den direkten Nachkommen Derjenigen zu erhalten, von 
denen ſie durch frühe Heldenthaten unter den Fahnen 


des Deutſchen Ordens erworben und gegründet worden 


waren. 

Es lag in dieſen Erwägungen Vieles, was Emanuel 
ſich wohl ſelber vorgehalten hatte. Er war in den 
Anſchauungen ſeines Standes hergekommen, er war 
welterfahren und verſtändig genug, die Vortheile eines 
großen Beſitzes und Vermögens nach Gebühr zu 
ſchätzen. Aber Hulda's Leidenſchaft hatte ihn über⸗ 
raſcht und ſo gewaltig ergriffen, daß vor ihr alle ſeine 
Bedenken und Erwägungen überwunden worden waren. 
Getrennt von ihr, hatten dieſelben ſich jedoch in dem 
Mißmuthe und der Niedergeſchlagenheit ſeines Sinnes 
bald wieder geltend gemacht. Die Ermahnungen ſeines 
Bruders waren hinzugekommen; indeß weil ihm vor 
der Begegnung mit Hulda der Gedanke an die Ehe 
nicht geläufig geweſen war, war es immer ihr Bild, 
das ihm vor der Seele ſchwebte, wenn er an eine 
Gattin für ſich dachte, während doch eben eine Ver⸗ 
bindung mit ihr den Plänen ſeiner Familie und dem 


— — 


177 


Bortheile feines Stammes entgegen war. Dazu kam, 
ſein Unbehagen noch zu erhöhen, das Zerwürfniß mit 
der Gräfin und die Scheu des an lange und völlige 
Ungebundenheit gewöhnten Mannes vor einer Ent⸗ 
ſcheidung, die ſeiner freien Entſchließung ein für alle⸗ 
mal ein Ende machen und ihm, der bisher nur ſich 
und ſeinem jeweiligen Belieben nachgekommen war, 
Pflichten gegen Andere auferlegen ſollte, denen er ſich 
dann nicht mehr entziehen durfte; Pflichten, vor denen 
ſein perſönliches Wollen und Wünſchen künftig bis zu 
einem gewiſſen Grad zu ſchweigen hatte. Er wurde 
es mit Erſtaunen inne, daß trotz der Liebe und Hin⸗ 
gebung, deren er ſich fähig wußte, wenn ein augen⸗ 
blicklicher Anreiz ſie in ihm erregte, das ſelbſtſüchtige 
Verlangen der Hageſtolzen nach völliger Unabhängig⸗ 
keit mächtiger in ihm geworden war, als er es ſelber 
geglaubt; und daß die Vorſtellung, immer noch Herr 
über ſeine Entſchließung zu ſein, ihm die Trennung 
von Hulda weniger hart erſcheinen machte, beſonders 
da er ſich in ſeines Herzens Tiefe überzeugt hielt, Hulda 
liebe ihn und könne ihm nicht fehlen, wenn er früher 
oder ſpäter, ihr mit erneuter Werbung nahen wolle. 

Ohne daß er ſich Rechenſchaft darüber gab, ge- 
fiel es ihm ſich zwiſchen Hulda's Liebe und der Freund⸗ 
ſchaft Konradinen's immer noch in voller Freiheit be⸗ 
wegen, und dieſer warmen Freundſchaft genießen zu 
können, ohne daß dadurch der Sehnſucht Abbruch ge⸗ 
ſchah, die ihn in einzelnen Stunden mit ſüßem poeti⸗ 
ſchem Erinnern zu Hulda zog. Die geiſtige Genuß⸗ 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 12 


178 


ſucht, die geiftige Schwelgerei, zu denen feine Kränk⸗ 
lichkeit ihn früher lange Jahre hindurch verleitet hatte, 
machten ſich jetzt bedenklich geltend; ſie ließen ihn in 
Zuſtänden ſchwankend verharren, welche ihm je nach 
ſeiner Stimmung trübe und beklagenswerth oder be= 
haglich und begehrenswürdig däuchten. 

Er hatte mit Freuden Konradinen's Brief em⸗ 
pfangen. Der friſche, herzliche Ton deſſelben, die 
Nachrichten, welche ſie ihm über die Gemüthsverfaſſung 
ſeiner Schweſter gab, waren ihm erfreulich und er⸗ 
wünſcht. Ihre unverkennbare Heiterkeit wirkte an⸗ 
genehm auf ihn zurück, und die unumwundene Weiſe, 
in welcher ſie ihm von der Nothwendigkeit ſeiner Ver⸗ 
heirathung ſprach, ihm, deſſen Mißtrauen in das Wohl⸗ 
gefallen, welches er etwa erregen könne, zu einem 
Grundzug ſeines Weſens geworden war, der immer 
wieder zum Vorſchein kam, ſobald er an die Mög⸗ 
lichkeit dachte, als ein Bewerber um Frauengunſt auf⸗ 
zutreten, verſetzte ihn in die allerbeſte Stimmung. 

„Ich weiß Alles,“ ſchrieb ſie ihm, „was Sie mir 
dagegen einzuwenden für nöthig halten werden, aber 
treten Ihre eigenen Erlebniſſe und Erfahrungen nicht 
als Beweiſe gegen Ihre melancholiſchen und ſelbſt⸗ 
quäleriſchen Zweifel auf? Sind Ihnen Liebe und 
Freundſchaft nicht in dieſen letzten Jahren von Frauen 
entgegengebracht worden, ohne daß Sie dieſelben auch 
nur ſuchten? Haben Sie ſich bemüht um Hulda's 
Liebe? Haben Sie meine Freundſchaft auch nur be⸗ 
gehrt? Nein! Beide ſind Ihnen, wie reife Früchte 
dem harmlos Vorübergehenden, ſo zu ſagen in die Hand 


179 


gefallen, und es hat allein in Ihrem Belieben ge⸗ 
legen, die Hand zu ſchließen und ſie Sich anzueignen, 
oder ſie als unerwünſchte Gunſt des Zufalls unbeachtet 
auf den Boden gleiten zu laſſen. Daß Sie in meinem 
Falle zugegriffen haben, iſt mir ein Glück geworden, 
welches ich Ihnen gerne vergelten möchte. Ich habe 
durch Ihre Freundſchaft die Kraft gewonnen, ruhig in 
meine einſame Zukunft zu blicken, und das Leben über 
mich zu nehmen, wie es eben kommen mag. Ihnen 
jedoch, dem Manne, dem das Wählen frei ſteht, der 
ſein Geſchick nicht hinzunehmen, ſondern es nach ſeinem 
Bedürfen frei zu geſtalten hat, Ihnen iſt mehr ver⸗ 
gönnt als nur die Möglichkeit, ſich mit dem Leben ab⸗ 
zufinden. Sie können, ja ich hoffe es, Sie werden 
glücklich werden; und damit kein ſchmerzliches, kein 
ſorgendes Rückwärtsdenken Ihr Gewiſſen beunruhige 
und Ihre Entſchließungen hindere, muß ich Sie wie⸗ 
der einmal daran erinnern, daß die erſte Jugend 
anders empfindet als Sie und ich. Die Jugend will 
vor Allem ſich ihres Daſeins freuen und das kommt 
ihr zu. Dieſes Verlangen iſt ihr Recht, denn in dem⸗ 
ſelben beruht jene Kraft, die, alles Leiden überwindend, 
ſich immer wieder in ein geſundes Gleichgewicht zu⸗ 
rückbringt. Dieſe Herſtellung hat ſich — und ich ſage 
zu Ihrem Glück, mein theurer Freund! nun auch an 
dem jungen Mädchen vollſtändig vollzogen, deſſen An⸗ 
denken Ihnen immer noch jo werth iſt. Die Einfam⸗ 
keit wird dazu gekommen ſein, die Wandlung zu be⸗ 
ſchleunigen, und das zur Liebe einmal erregte Herz 
verſteht nicht zu darben, ſo lange es jung iſt.“ 
12* 


180 


Emanuel hielt inne. Er vermuthete, was dieſer 
Einleitung jetzt folgen mußte. Aber es widerſtrebte 
ihm, es zu erfahren, und die Hand, in welcher er das 
Blatt hielt, bebte leiſe, als er die Worte las: „Der 
Amtmann hat an die Gräfin geſchrieben, um von ihr 
eine feſte Zuſage wegen der Erhöhung der Pfarr⸗ 
einkünfte auch nach des Paſtors Tode, den man dem⸗ 
nächſt erwarten muß, zu fordern. Er berichtet gleich⸗ 
zeitig über ein kleines Vermächtniß, welches Miß 
Kenney Ihrer jungen Freundin hinterlaſſen hat, und 
fügt hinzu, daß dieſes Letztere für Hulda doppelt ge⸗ 
legen komme, da ihre Verheirathung mit dem jungen 
Pfarr⸗Adjunktus, dem er beiläufig das ehrenvollſte 
Zeugniß ausſtellt, nicht lange auf ſich warten laſſen 
werde. Er nennt dies eine günſtige Schickſalswen⸗ 
dung, und mich dünkt, mein Freund! wir Alle haben 
es ſo zu nennen; denn über ein Kurzes wird die 
junge ſchöne Pfarrersfrau, und werden auch Sie, an 
das kleine Abenteuer jener Tage ſich nur noch wie an 
einen ſchönen Traum erinnern, dem Dauer nicht zu 
wünſchen geweſen wäre!“ 

Er las das Alles — es klang ſo einfach, war ſo 
natürlich, ſo erklärlich, ſo berechtigt! — Er las es 
wieder, es blieb ganz daſſelbe! Und doch glaubte er es 
nicht, konnte er's nicht glauben, obſchon er es allein 
verſchuldet hatte, was er eben jetzt erlebte und erlitt. 

Er ſetzte ſich nieder und ſtützte das Haupt auf 
die Hand. Die ganzen Tage und Monate von jenem 
ſonnigen Sommerabende, da er ſie zuerſt erblickt, bis 
hin zu der ſchmerzlichen Stunde, in der er ſie zuletzt 


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181 


geſehen hatte, zogen an ſeinem Geiſte vorüber. Sie 


war ſich immer gleich geblieben, immer dem Drange 
ihres Herzens ohne weitere Rückſicht folgend. Wie 
hatte er es ihr verargen können, wenn dies kindlich 
wahre Herz fie antrieb, den erſten und natürlichſten 
der Pflichten, der Kindesliebe und dem Gehorſam gegen 
ihren Vater nachzukommen? Wie hätte er trachten 
ſollen, ſie dieſen Pflichten zu entziehen und ſie in 
Widerſpruch mit ſich ſelbſt zu bringen, da doch gerade 
die ſchöne Einheit ihres ganzen Weſens ihn zu ihr 
gezogen hatte. Er durfte ſich auch nicht darüber 
wundern, daß ein jüngerer Bewerber, der in dem 
engſten täglichen Beiſammenſein mit ihr verkehrte, 


über ihn, den Entfernten, den Sieg davongetragen 


hatte. War es ihm doch wie ein unerwartet Glück 
erſchienen, daß ſie ſich ihm zugewendet, eben ihm! 

Er hielt ſich Alles vor: des Vaters Wunſch, das 
Verlangen der Tochter, dem Sterbenden zu willfahren, 
der Freunde Ueberredung, der Gewohnheit Macht — 
und dennoch, dennoch konnte er es nicht glauben. Eine 
Zuverſicht in ſeinem Herzen lehnte ſich gegen alle 
Ueberlegungen ſeines Verſtandes auf. Wie er ſich es 
auch vorhielt, daß er kein Recht habe, nach ſo langem 
Schweigen mit einer Anfrage vielleicht ſtörend in den 
mühſam errungenen Frieden ihres Herzens einzugreifen; 
es war ihm nicht möglich, es einem Anderen als 
Hulda ſelbſt zu glauben, daß ſie ihn vergeſſen habe, 
ihn, der ihrer noch mit ſolcher Zärtlichkeit gedachte. 
Nie mehr als jetzt in dieſer Stunde beklagte er es, 
kein Bild von ihr zu beſitzen, denn zum erſtenmale 


182 


konnte er in feiner Erinnerung ihr ſchönes Antlitz, ihre 
herrliche Geſtalt nicht finden, wie er danach auch rang; 
und als müſſe er ſeinem gedrückten Herzen in lautem 
Ausdruck eine Befreiung ſchaffen, rief er: „Selbſt ihr 
Bild entzieht ſich mir!“ 

Eine geraume Zeit blieb er an ſeinem Arbeits⸗ 
tiſche ſitzen. Er hatte angefangen, ihr zu ſchreiben und 
das Blatt zerriſſen. Er hatte Konradinen's Brief 
zu Ende leſen wollen und ihn unmuthig wieder auf 
die Seite gelegt. Er mochte nicht erfahren, was ſie 
ihm etwa noch zu melden hatte — es war daran 
genug! Aber er mußte es ihr danken, daß ſie es 
über ſich genommen hatte, ihm die Mittheilung zu 
machen, denn ſie von der Gräfin zu erhalten, würde 
ihm härter noch geweſen ſein. 

Er war ſehr bewegt, ſehr aufgeregt. Er ſchwankte 
von einem Vorſatze zu dem anderen. Er beneidete 
Diejenigen, deren Leidenſchaften ſie gewaltig und ohne 
allen Rückhalt vorwärtstreiben; und doch war die Em⸗ 
pfindung, die ihn an Hul da kettete, fo tief, jo wahr! 
Doch war es Liebe! — Nur daß ſein unſeliger Zweifel 
an ſich ſelbſt und frühe Reflexion die Kraft des raſchen 
friſchen Wollens, die Macht der Leidenſchaft in ihm 
gebrochen hatten. 

In dem Augenblicke aber, in welchem er ſich dieſes 
vorhielt, zuckte eine leidenſchaftliche Sehnſucht nach 
der Fernen, ein leidenſchaftlicher Schmerz um die ihm 
Verlorene durch ſeine Bruſt. „Hulda! Hulda! Es iſt 
ja gar nicht möglich!“ rief er und ſprang empor, denn 
er fühlte es, er mußte ſie wiederſehen, er mußte ſie 


183 


und ſich erlöſen, koſte es, was es immer wolle. Noch 
in dieſer Stunde mußte er ihr ſchreiben, daß er 
kommen, daß er ſeinem Briefe auf dem Fuße folgen 
werde, daß ſie keine Entſcheidung über ihre und damit 
über ſeine Zukunft treffen dürfe, ehe er ſie nicht ge⸗ 
ſehen habe. 

Mit raſcher Hand, mit leidenſchaftlicher Bewegung 
warf er die Zeilen auf das Papier. Er ſagte ihr 
Alles, was er in dieſer Stunde fühlte. Er beſchwor 
ſie, nach ſo langem traurigem Entſagen jetzt auf Nichts 
mehr zu hören, als auf ihr Herz und ihre Liebe; an 
Nichts mehr zu denken als an ſein Glück und an das 
ihre. Er wendete ſich auch an ihren Vater und hielt 
ihm vor, wie hart es geweſen ſei, die Tochter zu dem 
Verzichte zu drängen. Er ſchrieb ihm, weil ihm Alles 
daran gelegen war, die Zuſtimmung des Pfarrers zu 
gewinnen, daß er die Gräfin erwarte, daß er auf dem 
Punkte ſtehe, ſich mit ihr auszuſöhnen, daß er zu 
Gunſten ihres Sohnes ſchon jetzt auf das Anrecht des 
Majorates verzichten wolle. Er that Alles, was er in 
ſo manchen Stunden thun wollen, und zögernd unter⸗ 
laſſen hatte. Er meldete, daß er gleich nach der Ent— 
fernung ſeiner Schweſter aufbrechen werde, um die 
Geliebte wiederzuſehen, und obſchon er wußte, daß die 
Poſt erſt am nächſten Abende nach Norden gehe, trug 
er dem Diener auf, den Brief augenblicklich zu be⸗ 
ſorgen. 

Alles, was ihn vorher beſchäftigt hatte, trat davor 
zurück. Er dachte an die ihm bevorſtehende Begeg⸗ 
nung mit der Gräfin, die nach ſo langer Trennung 


184 


immerhin etwas Peinliches haben mußte, an die An⸗ 
kunft ſeiner Freundin, auf die er ſich die ganze Zeit 
hindurch gefreut hatte. Aber er dachte daran, nur um 
es zu berechnen, wie lange dieſe Beſuche etwa währen, 
und wann er im Stande ſein würde, ſeine Reiſe in 
die Heimat anzutreten. Er verſtand ſich ſelber nicht 
in dem trüben Hinbrüten, in welchem er die ganze 
Zeit hindurch gelebt hatte; und weil er redlichen Sinnes 
zu vergüten wünſchte, wo er ſich einer Schuld bewußt 
war, konnte er nicht glauben, daß ihm dieſes nicht 
gelingen, daß er nicht ſollte durch erhöhte Liebe ſich 
und Hulda für die verlorene Zeit entſchädigen können. 

Sich ſchließlich mit der Gräfin zu verſtändigen, ſah 
er, da ſie ihm ja entgegenkam, nicht als eben ſchwer 
an. Wenn ſie auch lebhaft gewünſcht hatte, das Erbe 
ihres Hauſes bei ihren Brüdern und durch dieſe der 
Familie erhalten zu ſehen, ſo ſtand doch eben jetzt ihr 
Sohn auf dem Punkte, ſich zu verheirathen. Ema⸗ 
nuel, welchem neben dem ihm in jedem Falle zu⸗ 
ſtehenden beträchtlichen Allodial⸗Vermögen der Familie, 
der Erwerb jener im Norden gelegenen Majoratsgüter 
keine Lebensfrage, und der Aufenthalt auf denſelben 
Nichts weniger als erwünſcht war, glaubte alſo auf 
keine Abneigung bei ſeinen Geſchwiſtern zu ſtoßen, 
wenn er ihnen den Vorſchlag machte, den Beſitz des 
Majorates gar nicht anzutreten, ſondern es ſofort an 
den jungen Grafen übergehen zu laſſen, dem des 
Königs Gnade es ſicherlich nicht verweigern konnte, 
daß er in dieſem Falle neben ſeinem Namen fortan 


Be 


185 


auch den Namen Derer von Falkenhorſt führte, und in 
ſeinem Hauſe fortvererbte. 

Er war in dieſen Erwägungen raſchen Schrittes 
auf der Teraſſe vor ſeinem Arbeitszimmer umher⸗ 
gegangen. Als es ſchon zu dunkeln begann, kehrte 
der Diener von der Poſt zurück. Er meldete, wie er 
in dem Poſtbureau ein Päckchen vorgefunden habe, 
das eben mit der Packpoſt für den Herrn Baron an⸗ 
gekommen ſei, und daß der Poſtmeiſter ihm daſſelbe 
der Bequemlichkeit wegen gleich mitgegeben habe. 

Emanuel nahm es ihm ab. Der Wiederſchein 
von den Bergen gab eben noch Licht genug, das Poſt⸗ 
zeichen und die kleine, feine Handſchrift zu erkennen. 
Er hatte dieſe zierlichen Lettern oft genug geſehen, 
wenn er die Volkslieder zur Hand genommen, die ſie 
in jenen erſten ahnungsloſen Tagen für ihn abge⸗ 
ſchrieben. Die Sonderbarkeit der Zufalles überraſchte 
ihn. In dem nämlichen Augenblicke, in welchem er ſich 
ihr wieder mit voller entſchloſſener Hingebung genähert 
hatte, kam ihm die erſte Kunde von ihr ſelbſt. Das 
Wahrſcheinlichſte vorausſetzend, glaubte er durch ſie die 
Nachricht von dem Tode ihres Vaters zu erhalten, den 
Konradine ihm als bevorſtehend gemeldet hatte, und 
der Hulda zur Herrin über ihre Zukunft machen 
mußte. 

Mit raſcher Hand brach er die Siegel auf, zerriß 
er die Umwicklung des Päckchens, deſſen geringen Um⸗ 


fang er ſich nicht erklären konnte, bis er, das Schäch⸗ 


telchen eröffnend. den Ring in Händen hielt. 


186 


Er traute ſeinen Augen, feinen Sinnen nicht. 
Mit beklommener Haſt wendete er die Blättchen um, 
in welche ſie das Kleinod eingewickelt hatte. Vorſichtig 
nahm er ſie auseinander, jedes einzelne darauf an⸗ 
ſehend, ob nicht ein Wort darauf verzeichnet wäre, ihm 
zu erklären, was ihm im Grunde nicht unerklärlich 
ſein konnte, und was zu verſtehen ihm deshalb doch 
nicht weniger ſchwer ankam. Anklagen konnte er ſie 
nicht. Er ganz allein trug alle Schuld. Er allein 
hatte ſich durch ſeine Schwäche um das Glück gebracht, 
deſſen Größe er wie immer, erſt recht zu würdigen 
glaubte, da es für ihn verloren war. Aber wie er 
auch ſann und grübelte, wie er ſich auch auflehnte 
gegen das Ertragen deſſen, das wie ein ſchwerer harter 
Schlag auf ihn herniedergefallen war, er kam nicht 
hinaus über jenes armſelige: „Alſo doch!“ — über 
jenes niederbeugende: „Zu ſpät!“ — die einmal mit 
Zorn gegen ſich ſelber, mit widerwilliger Entſagung 
auszuſprechen, kaum einem Erdgeborenen erſpart bleibt. 

Er ſtand noch immer auf der Terraſſe und ſah 
in die Dämmerung hinaus. Er kannte jeden Punkt 
der Landſchaft, die eben noch tagerhellt ſich vor ihm 
ausgebreitet hatte, und doch vermochte er die Gegen⸗ 
ſtände nicht mehr zu erkennen. So ging es ihm mit 
Hulda. Ihre Seele hatte hell und licht vor ihm ge⸗ 
legen, er hatte in ihr geleſen wie in einem offenen 
Buche, nun fand er ſich nicht mehr in ihr zurecht. Ihr 
gerade hatte er eine Treue ohne Wanken zugetraut! 
Daß ſie vergeſſen könne, hatte er nicht für möglich 
gehalten. Darauf hin hatte er vertraut, und in ver⸗ 


187 


meſſenem Vertrauen geſündigt an ihr, an ſich. Und 
jetzt hintreten mit erneuter Werbung, da ſie freien 
Entſchluſſes über ſich ſelbſt entſchieden hatte, da ſie 
vorausſichtlich in der Liebe zu einem gleichalterigen 
Manne glücklich war, vielleicht glücklicher, als ſie mit 
ihm geworden ſein würde — ſollte er das thun? 
Durfte er es thun, da ſie ihm mit ihrem Schweigen 
den Weg anwies, den fie eingehalten zu haben 
wünſchte? 

Er rief ſeinen Diener und hieß ihn augenblicklich 
den Brief zurückholen, den er vorhin zur Poſt be⸗ 
fördert hatte; aber es war mit dieſem Entſchluß für 
ſeine innere Beruhigung noch Nichts geſchehen. 
Sein Sinn war bedrückt, ſeine Gedanken und Em⸗ 
pfindungen wollten ſich nicht klären. Er konnte es 
nicht faſſen, daß ſie keine Zeile für ihn geſchrieben, 
daß ſie kein Wort mehr für ihn gehabt hatte. Warum 
ſagte ſie es ihm nicht, daß ſie ſich über ihr Gefühl 
für ihn getäuſcht habe, daß ſie einen Anderen liebe? 

Sie beſſer als irgend ein Anderer wußte es, wie 
wenig er daran geglaubt hatte, Liebe erwecken zu können, 
und ſie wußte es doch auch, wie theuer ſie ihm ge⸗ 
weſen war, wie herzlich er ſich um ſie geſorgt, ehe er 
im entfernteſten daran gedacht hatte, daß ſie ihn lieben, 
daß er ſie die Seine nennen könnte. 

Er ſah den Wolken zu, die ſchwer und langſam 
vom anderen Ufer emporzuſteigen begannen, und hier 
einen hellen Stern verhüllten und dort wieder Einen, 
bis ſie den ganzen Horizont bedeckten und die Nacht 
ſich ſtill und ſchwül und lichtlos über See und Land 


188 


verbreitete. Es kam ihm endlich vor, als warte er 
auf einen Stern; aber wie er ſein Auge auch nach 
der Stelle richtete, an welcher der letzte helle Stern 
verſchwunden war, er wollte nicht wiederkehren. Es 
blieb Alles dunkel. 

Er fuhr ſich über die Augen; es war damit vor⸗ 
bei. „Möchten Dir glücklichere Sterne leuchten!“ rief 
er, indem er den kleinen Reif an ſeinen Finger ſteckte. 

Er wollte ihn tragen zur Erinnerung an ſie, die 
ihn geliebt hatte, an ſie, um die er trauerte, wie man 
um die Jugend trauert, die nicht wiederkehren kann. 
Und mit der ſchlimmſten aller Qualen, mit dem Be⸗ 
wußtſein ſich ſelber um ſein Glück gebracht zu haben, 
durchwachte er die ſtille, ſchwüle Nacht. 


Fünfzehntes Capitel. 


Die Ankunft der beiden Frauen war Emanuel 
in dieſem Augenblicke durchaus willkommen. Er war 
lange einſam geweſen, und hatte eben in ſeiner gegen⸗ 
wärtigen Stimmung keinen angenehmen Geſellſchafter 
an ſich ſelbſt. 

Die Gräfin, deren Neigung, auf Andere beſtim⸗ 
mend einzuwirken, ihm bisher oftmals unbequem ge⸗ 
weſen war, ſagte ſich, daß er ihr, nach ſeiner Anſicht, 
Manches zu verzeihen, habe und hielt ſich deshalb vor⸗ 
ſichtig in ihren Schranken. Sie fragte ihn um Nichts, 
was von ſich auszuſagen er nicht für angemeſſen fand, 
aber fie ſprach ihm freimüthig und ohne allen Rück⸗ 
halt von ſich ſelbſt, von Clariſſens Glück, von dem 
Guten, das ſie von ihres Sohnes Heirath für den⸗ 
ſelben hoffte. Als Emanuel bei dieſem Anlaſſe ihr 
ſeine Abſicht kundgab, zu Gunſten des jungen Grafen 
auf das Majorat zu verzichten, wenn es durch den Tod 
des Bruders an ihn fallen würde, wies ſie dieſe Ge⸗ 
danken zwar von ſich, jedoch ohne dabei auf ihre frü⸗ 
heren Plane für ihn zurückzukommen. Sie meinte 


190 


nur, es mache ihr immer bange, wenn fie Menſchen 
in nicht abzuändernder Weiſe über ihre Zukunft ent⸗ 
ſcheiden ſehe, ſolange dieſelben ſich noch in einem 
Lebensalter befänden, das neue Ausſichten vor ihnen, 
neue Gedanken in ihnen entwickeln könne. Beſonders 
ſolle man nicht derartige Beſchlüſſe faſſen, wenn keine 
zwingende Nothwendigkeit es erfordere. Vollends in 
ſolchen Fällen aber, wo von dem Erhalten oder Auf⸗ 
geben von Hab und Gut, oder gar von dem Ver⸗ 
zichten auf Rechte die Rede ſei, die noch mehr werth 
wären als Hab und Gut, da ſei das alte Bauernwort 
an ſeinem Platze: Es ſolle Niemand ſeine Stiefel 
ausziehen, ehe er ſich niederlege. 

Sie ſagte das mit einer heiteren Leichtigkeit, die 
ihr doppelt wohl anſtand, weil ſie nur ſelten an ihr 
zur Erſcheinung kam. Sie erwähnte dann noch, daß 
es bei der ſorgloſen Lebensluſt ihres Sohnes ſogar 
Gefahren für ihn haben könne, wenn ſein ohnehin 
reichlicher Beſitz in ſolcher Weiſe und ſo viel früher, 
als er es irgend zu erwarten berechtigt geweſen wäre, 
verdoppelt würde, und ſie gab Emanuel auch zu be⸗ 
denken, daß er wohl der Mann ſei, große Mittel in 
großartiger Weiſe für würdige, ſeinem und des Hauſes 
Namen Ehre machende Zwecke, zu verwenden. Es lag 
etwas Schönes, etwas durchaus Uneigennütziges in den 
Erwägungen und Rathſchlägen der Gräfin, das auf 
Emanuel ſeine Wirkung nicht verfehlte. Auch er mußte 
ihr darin beipflichten, daß, wie die Verhältniſſe jetzt 
lagen, kein Grund zu der Entſagung vorhanden war, 
zu welcher er ſich um Hulda's willen vor wenigen 


191 


Tagen geneigt gefunden hatte. Hulda's oder der 
Pfarrerfamilie gedachte die Gräfin nicht mit einem 
Worte. Auch Emanuel ſprach nicht von ihnen, weder 
mit der Schweſter noch mit ſeiner Freundin, und 
Konradine ihrerſeits war herzenskundig genug, fein 
Schweigen zu ehren und es ſich zu deuten. 

Emanuel wußte ihr das Dank. Ihre ganze Art, 
ihr ganzes Weſen waren ihm erfreulich. Daß ſie nicht 
in ſeinem Haufe wohnte, ſondern ſich mit ihrer Be- 
dienung in einer der am See gelegenen Penſionen 
eingerichtet hatte, deren Anzahl in jenen Tagen im 
Vergleiche zu heute noch gering war, das erhöhte durch 
das jeweilige Entbehren deſſelben den Reiz, welchen 
das Beiſammenſein mit ihr ſchon in dem Schloſſe 
ſeiner Schweſter für ihn gehabt hatte. Aber der Ver⸗ 
kehr mit ihr war ihm jetzt noch angenehmer als vor⸗ 
dem, denn ihr Beruhen in ſich ſelbſt war jetzt voll⸗ 
kommen, und ihre Stimmung von einer Gleichmäßig⸗ 
keit, die beruhigend und vertrauengebend wirkte. Selbſt 
die edle Einfachheit ihrer Kleidung, der geringe Werth, 
den ſie auf alle jene Aeußerlichkeiten und Kleinigkeiten 
legte, von denen das Wohl und Wehe der Frauen 
ſonſt ſo vielfach abzuhängen ſcheint, die Sicherheit, 
mit welcher ſie ſich das Recht zuſprach, nach eigenem 
Ermeſſen zu handeln und ſich ſo frei zu zeigen, als 
ſie ſich mit ihrem tüchtigen Bewußtſein fühlen durfte, 
machten es Emanuel im Verkehre mit ihr bisweilen 
ganz vergeſſen, daß ſie noch jung, und daß ſie ſchön 
ſei, während das Wohlgefühl, das er in ihrer Nähe 
fühlte, doch durch eben dieſe Eigenſchaften weſentlich 


192 


geſteigert ward. Dazu wieſen die Lebensgewohnheiten 
der Gräfin, ihn und die ſchöne Stiftsdame noch be— 
ſonders auf einander an. 

Die Gräfin hatte ſich während ihres langen Auf⸗ 
enthalts in Italien von jeder körperlichen Bewegung 
faſt völlig entwöhnt. Sie kannte keinen Naturgenuß, 
als denjenigen, deſſen ſie von der Terraſſe eines Gar⸗ 
tens oder in den Polſtern ihres Wagens theilhaftig 
werden konnte, und vollends ſich der Stunden des 
Morgens zu erfreuen, trug ſie kein Verlangen, wäh⸗ 
rend das Wachen in der Nacht ihr zu einer Gewohn⸗ 


heit geworden war. Emanuel hingegen konnte nicht 


leben ohne Naturgenuß. 

Durch ſeine ganze Jugend hin, in welcher ihn 
Rückſicht auf ſeine damals ſehr ſchwankende Geſund⸗ 
heit, und der auch noch nicht überwundene Schmerz 
über die Entſtellung ſeiner Wohlgeſtalt von den Sälen 
der Geſellſchaft fern gehalten hatten, war die Natur 
ihm eine Zuflucht, und die Quelle geweſen, aus der er 
Freude geſchöpft, in der er ſeine Kräfte geſtählt und durch 
immer neue Uebung erprobt hatte, bis er ſich im Er⸗ 
tragen von körperlichen Anſtrengungen mit den Ge⸗ 
ſunden meſſen durfte. Er genoß ſich ſelber und ſein 
Daſein nie in volleren Zügen, als wenn er auf raſchem 
Pferde durch die Thäler hinflog, mit ſicherem, rüſti⸗ 
gem Fuße die Höhen der Berge überſchritt, oder mit 
kräftigem Arme die Wellen des Waſſers überwand. 

Einſam in der Natur dachte er nie daran, daß er 
nicht ſchön, daß er nicht mehr dazu gemacht ſei, die Blicke 
der Menſchen wie früher freundlich auf ſich zu ziehen und 


195 


an ſich zu feſſeln. Die Sonne ſchien auf ſein blatter⸗ 
narbiges Geſicht jo freundlich nieder wie auf die jelt- 
ſam zerriſſene Rinde des Baumes; die Luft umfächelte 
und nährte ihn ſo friſch, wie ſie die Stämme um⸗ 
ſpielte, die auch nicht alle gerade in die Höhe wuchſen 
und an deren Laub und Schatten man ſich doch er⸗ 
freute; und das Landvolk, mit dem er bei ſeinem Herum⸗ 
ſtreifen zuſammentraf, legte nicht den Werth auf die 
äußere Wohlgeſtalt des Menſchen, wie die Geſellſchaft, 
in welcher er hergekommen war, und wie ſeine eigene 
Mutter, deren Bedauern über die Entſtellung des einſt 
ſo ſchönen Sohnes damals den Stachel der verletzten 
Selbſtgefälligkeit, der Emanuel ohnehin empfindlich 
genug war, immer tiefer in das weiche Herz des Jüng⸗ 


lings gedrückt hatte. 


Er liebte und verſtand die Natur in allen ihren 
Aeußerungen. Er hatte in der Natur auch die Men⸗ 
ſchen verſtehen gelernt, die ihr noch nahe ſtanden, und 
es traf ſich gut, daß Konradine ſeine Freude an der⸗ 
ſelben theilte, daß ſie rüſtig war wie er. Das Wander⸗ 
leben, welches ſie an ihrer Mutter Seite von Kindheit 
an geführt, hatte ſie frei von allen hemmenden Ge⸗ 
wohnheiten werden laſſen. Sie war körperlichen An⸗ 
ſtrengungen ebenſo wie Emanuel gewachſen, und für 
den Augenblick hatte das verhältnißmäßige Stillleben, 
das ſie im Stift geführt, ihr Wechſel und Bewegung 
doppelt erwünſcht gemacht. 

Wie früh man die Morgenſtunde auch feſtgeſetzt 
hatte, in welcher Emanuel und ſie zu Pferde ihre 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 13 


194 


Streifzüge in das Land unternehmen wollten, er fand 
ſie immer fertig, immer ſeiner wartend, und in Friſche 


ſtrahlend, daß ſie hm wie die Verkörperung des Mor⸗ 


gens ſelbſt erſchien. Feſt wie in ihrem Sattel, war ſie 
in allen Sätteln gerecht und überall an ihrem Platze. 

Wenn man das Frühſtück in den Sälen eines Gaſt⸗ 
hofes oder in dem erſten beſten Bauernhauſe einnahm, 
wenn man es Wanderburſchen gleich, auf grünem Raſen 
unter Bäumen am Quellenrande verzehrte, es ſchien 
jedesmal, als ſei dies gerade die Lage, in welche ſie 
hineingehöre, in der ſie ihre anmuthige Selbſtbeſtimmt⸗ 
heit am vortheilhafteſten entfalten könne. Jeder zu⸗ 
fälligen Begegnung mit anderen Reiſenden wußte ſie 
eine gute Seite und jedem Menſchen das Beſte abzu⸗ 
gewinnen, das an ihm ſein mochte. Die Bauerfrau 
und das Kind am Wege wendeten ſich ihr vertraulich 
aufgeſchloſſen zu, weil ſie natürlich und ohne jene kin⸗ 
diſche Herablaſſung mit ihnen zu verkehren wußte, 
hinter welcher die Eitelkeit und der Hochmuth der 
ſogenannten Vornehmen und Reichen, ſich ländliche 
Feſte zu bereiten lieben, bei denen ſie erſt recht in ihrer 
ganzen Lächerlichkeit erſcheinen; und ohne daß fie be⸗ 
ſonders darauf aus war, oder daß man es bemerkte, 
hatte ſie hier einen guten Rath ertheilt, dort eine Lehre 
in ſo knapper und beſtimmter Form gegeben, daß ſie 
Ausſicht hatte, ſchnell verſtanden und nicht leicht ver⸗ 
geſſen zu werden. 

Als ihr Emanuel einmal ſeine Verwunderung 
über dieſe praktiſche Gewandtheit ausſprach, die ſie zum 


u \ 
EN Ar 3 


135 


„Handeln und Befehlen wie wenig Andere befähige, 
räumte ſie ihm ein, daß ſie dieſelbe allerdings beſitze. 
„Aber,“ ſagte ſie lachend, „es iſt nicht mein Verdienſt, 
daß dieſe Anlage ſich in mir ſo ausgebildet hat. Sie 
hat ſich an den entgegengeſetzten Eigenſchaften meiner 
Mutter nothwendig entwickeln müſſen. Ich lernte von 
Kindesbeinen an, wie die Wilden, meine Umſicht üben, 
nich zurechtfinden und mir helfen — und nicht nur mir 
allein, denn wir lebten damals immer in einer Art 
von Wildniß. Noch ehe ich leſen und ſchreiben konnte, 
mußte ich im Gedächtniß behalten, was uns nöthig 
war, und in der Heimatloſigkeit, zu welcher meine 
Mutter ſich freiwillig verdammte, alle paar Tage ein 
neues Zuhauſe für uns zu bereiten, war eine Noth⸗ 
wendigkeit für mich. Das geht denn ſo allmälig in 
des Menſchen Sein und Weſen über, und meine zigeu⸗ 
neriſche Praxis hat ſeitdem im Stifte mehr Form und 
Halt bekommen, ſo daß ich jetzt ſelber Luft an ihr ge⸗ 
wonnen habe. Ich überraſche mich bisweilen in dieſen 
Tagen darauf, wie ich mit Sorgen an die Verwal⸗ 
tungs⸗Angelegenheiten unſeres Stiftes denke, die unſere 
Aebtiſſin mir während ihrer Krankheit und Abweſen⸗ 
heit überlaſſen hatte. Und es war doch nicht einmal 
mein perſönliches Eigenthum, das ich verwalten half, 
und um deſſen Erhaltung und Vermehrung ich be= 
müht war.“ 

„Das ſcheint mir zu dem Wohlgefallen an ſolcher 
Thätigkeit auch keinesweges nothwendig zu ſein,“ meinte 
Emanuel, „fie iſt verlockend an ſich ſelbſt. Wir Alle 

13 * 


196 


find von Kindheit an mehr oder weniger darauf ger 
ſtellt, Etwas zu ſchaffen. Wir wollen Etwas hinſtellen, 
Etwas vor uns bringen, Etwas werden ſehen. Das 
Kind ſchon macht ſich im Garten ein Gärtchen für 
den Nachmittag zurecht, der Knabe macht ſich Samm⸗ 
lungen von Auszügen aus den Büchern, die doch ſein 
eigen ſind. Der Jüngling macht ſich ſeine eigenen 
Liebeslieder, obſchon unendlich ſchönere vorhanden ſind. 
Der Mann, der Herrſcher, dem ſchöne Beſitzungen, 
dem ſchöne Schlöſſer als Erbe zufallen, will augen⸗ 
blicklich in denſelben irgend einen Neubau, eine Aen⸗ 
derung machen, in denen er ſich ſelbſt und ſein eigenes 
Weſen bethätigt und ausſpricht. Er will Etwas hin- 
ſtellen, das er als von ihm geſchaffen vor ſich ſieht; 
und ich glaube, daß die ſogenannte Freude am Erwerb 
und Beſitz ebenſo viel von dieſer Luſt am Schaffen 
als am Beſitzen in ſich trägt.“ 

Konradine nannte das nach ihrem eigenen Erfahren 
richtig, aber ſie wollte wiſſen, wie er ſich ſelbſt dazu 
verhalte. | 

Emanuel ward nachdenklich. „Es iſt das eine 
Frage,“ ſagte er, „die weit in das Leben zurückgreift, 
und ich habe leider, wenn ich das thue, nicht ſonder⸗ 
lich viel Gutes von mir zu ſagen, ſondern auf eine 
lange Reihe von Unterlaſſungsfünden, auf viel ver⸗ 
lorene Zeit, auf wenig oder eigentlich auf nichts Ge⸗ 
leiſtetes zurückzuſehen.“ 

„Sie thun ſich Unrecht,“ meinte Konradine, „denn 
ſeit ich Sie kenne, und wir ſind ja ſehr alte Be⸗ 


197 


* kannte,“ fügte fie mit ihrem reizendſten Lächeln hinzu, 


„babe ich Sie immer beſchäftigt, immer mit... .” 

„Mit mir und meiner Selbſtbefriedigung beſchäftigt 
geſehen,“ fiel er ihr in das Wort. „Wenn Sie offen 
gegen mich ſein wollen, werden Sie mir das nicht in 
Abrede ſtellen können. Die große Liebe meiner Mutter, 
der angeerbte Familienſinn, der die Erhaltung eben 
unſerer Familie als etwas Weſentliches anſah, hat auch 
auf meine Erhaltung, ſo viel Mühe, Opfer, Achtſam⸗ 
keit verwendet, daß ich ſchließlich mir ſelber um meiner 
ſelbſt willen wichtig vorgekommen bin. Und es iſt doch 
im Grunde ſo gar wenig daran gelegen, ob ein Menſch 
da iſt oder nicht, wenn er nicht etwas ganz Beſon⸗ 
deres zu werden verſpricht.“ 

„Oder wenn er nicht ſo glücklich iſt, daß er in 
ſeinem Glücke jenes vollendete Selbſtgenügen dar⸗ 
ſtellt, um deſſen willen es ſich verlohnt, zu ſein!“ rief 
Konradine im Rückblicke auf ſich ſelbſt. 

„Bei mir,“ verſetzte Emanuel, „traf weder das 
Eine noch das Andere zu. Aber weil man mich ſo 
wichtig nahm, wurde ich mir wichtig, und weil man 
ſich ſo gar viel Mühe damit gab, mich zu befriedigen, 
gewöhnte ich mich daran zu glauben, daß ich den An⸗ 
ſpruch auf eine beſondere Befriedigung, auf ein beſon⸗ 


deres Glück zu machen hätte. Man erzog mich auf 


dieſe Weiſe förmlich zum Egoiſten, und ich war doch 
von der Natur mit meinem weichen, liebebegehrenden 
Herzen nicht darauf angelegt. Es gelang deshalb nicht 
einmal, mich zu einem völligen Egoiſten heranzubil⸗ 
den. Nur unbrauchbar für mich ſelber hat man 


198 


mich für lange Zeit gemacht. Man umgab mich mit 
einer Liebe und einem zuvorkommenden Wohlwollen, 
denen in der Welt zu begegnen, unter meinen Alters⸗ 
genoſſen zu begegnen, ich in meiner Lage nicht erwarten 
durfte. Von den Kreiſen der jungen Männer hielt 
meine damals üble Geſundheit mich zurück, die weib⸗ 
liche Jugend wendete ſich Männern von gefälligerem 
Aeußeren zu. Ich fand mich alſo einſam; und je 
weniger ich ſie in mir ſelbſt beſaß, um ſo ſehnſüchtiger 
begehrte ich nach Schönheit. Was mir das Leben nicht 
gleich bieten wollte, das begann ich in der Kunſt zu 


ſuchen. Ich hatte Zeiten, in denen ich meinte, zu ihrer 
Ausübung als Maler, als Dichter berufen zu ſein; 


aber ich wurde bald inne, daß die Fähigkeit, das 
Schöne zu erkennen und ſich an ihm zu freuen, kein 
Bürge iſt für die Kraft, es zu erzeugen. Alles, was 
ich leiſtete, ging über die Grenze des Dilettantismus 
nicht hinaus, und wenn es Andere hie und da auch 
freute, mich ſelber befriedigte, mich förderte es nicht. 
Mein Mißtrauen gegen mich, meine innere Unzufrieden⸗ 
heit ſteigerten ſich daran. Ich kam mir geiſtig ſo 
wenig begabt, ſo ungenügend wie leiblich vor, und 
weil ich dabei doch immer nur an mich ſelber dachte, 
verfiel ich nicht darauf, daß vielleicht dennoch Gaben 
und Anlagen in mir zu entwickeln wären, die für An⸗ 
dere nutzbar werden dürften, und deren Anwendung 
meinem Daſein in meinen eigenen Augen Werth ver⸗ 
leihen könne.“ 

„Und doch meine ich mich zu erinnern,“ bemerkte 
Konradine, „daß Sie mannigfache Studien getrieben, 


199 


die, auf das praktiſche Leben, ſelbſt bei der Bewirth⸗ 
ſchaftung Ihrer Güter, angewendet, Ihnen und den 
Leuten auf denſelben, zu Gute kommen mußten.“ 

„Freilich!“ entgegnete er, „aber ich entſchloß mich 
nicht, Verwalter meiner Güter zu werden, weil ich 
das Leben in ſüdlicherem Klima vorzog, und weil der 
Beſitz der Güter für mich nur eine zeitweilige Bedeu⸗ 
tung hatte.“ 

Konradine wollte wiſſen, was er damit meine. 

„Um am Beſitz und vollends an ſeiner Ver⸗ 
mehrung die eigentliche Beſitzesfreude zu finden, muß 
man entweder große koſtſpielige Bedürfniſſe, oder Men⸗ 
ſchen haben, denen man den Beſitz zu vererben wünſcht. 
Das Beides trifft bei mir nicht zu. Ich habe mehr, 
als ich für die Befriedigung meiner Gewohnheiten be- 
darf, und Vermögen aufzuhäufen, um mit demſelben 
das glänzende Fortbeſtehen eines beſtimmten Geſchlechtes 
oder, wie in unſerem Falle, vielleicht nur das Fort- 
beſtehen eines beſtimmten Namens, und für den Haupt⸗ 
träger dieſes Namens, die Aufrechterhaltung eines Vor⸗ 
urtheiles zu verewigen, welches die Freiheit ſeines 
Handelns beſchränkt, dazu bin ich nicht Ariſtokrat genug. 
Vielleicht bin ich auch ſogar dazu noch zu ſelbſtſüchtig 
geweſen.“ 

Er hielt eine Weile inne, Konradine ſchwieg. 
Es war das erſtemal, daß Emanuel ſich ſo offen und 
weitläufig über ſich ſelber ausließ, und ſie hütete ſich 
um ſo ſorglicher, ihn zu unterbrechen, als ſie es einſt 
ſelbſt erfahren hatte, wie wohlthuend es unter Ver⸗ 
hältniſſen ſein kann, einmal vor einem Theilnehmen⸗ 


200 


den dasjenige auszuſprechen, was man mit ſchmerz⸗ 
lichem Brüten lang in ſich verſchloſſen hatte. 

„Ich glaube, das lange Alleinſein hier auf Ihrer 
Villa iſt Ihnen nicht gut geweſen, lieber Freund,“ 
ſagte ſie endlich, um ſeine Mittheilungen wieder in 
Fluß zu bringen. „Sie find dadurch in ſich ver— 
ſunken, und das hat für gewiſſenhafte Menſchen im⸗ 
mer ſein Bedenkliches. Man nimmt es in ſolcher 
Selbſtbetrachtung mit ſich und ſeinen Schwächen dann 


meiſt zu genau. Durch das Mitkroſkop betrachtet, hat 


Jeder Etwas von einem Ungeheuer an ſich. Muß doch 


ſelbſt unſer Herrgott Gnade oft für Recht an uns 
ergehen laſſen, um uns aufnehmen zu können in 


ſein Reich.“ 

„Sie ſcherzen, Konradine, das ſteht Ihnen ſehr 
wohl an,“ entgegnete er ihr, „und ich freue mich, daß 
Sie dazu wieder fähig ſind. Aber ſelbſt auf die Ge⸗ 
fahr hin, Ihnen in Ihrer heutigen Stimmung ſchwer⸗ 
fällig zu ſcheinen, kann ich heut' nicht ſcherzen.“ 

Sie fühlte den Fehler, den ſie gemacht hatte, 
lenkte ſofort wieder ein, und Emanuel ließ ſich das 
gefallen. „Ich finde im Gegentheil,“ hub er danach 
an, „daß Jeder von uns es nöthig hat, bisweilen mit 
ſich ſelber allein zu ſein, um, wie die Schrift es nennt, 
in ſich zu gehen, und Abrechnung, mit ſich zu halten. 
Ich habe das gerade in den Tagen vor Ihrer Ankunft 
zu thun Anlaß gehabt; und da ich mir auf die Weiſe 
klarer in meiner eigentlichen Weſenheit geworden bin, 
hoffe ich, fortan mein Leben zweckmäßiger zu geſtalten 
und zu nützen.“ 


201 


„Und was hat Ihnen eben jetzt den Anlaß ges 
boten zu ſolcher Selbſtbetrachtung?“ fragte ſie. 
| „Die Nachricht, welche ich zuerſt durch Sie erhalten 
habe und die ſich mir nachher als eine richtige be= 
ſtätigt hat!“ ſagte er, und machte eine neue Pauſe. 
Dann, als wünſche er darüber keine weitere Erörterung, 
fuhr er fort: „Auch eine Erwägung, die meine 
Schweſter mir vorgehalten, hat mich zu Betrachtungen 
veranlaßt, welche Einfluß auf die Geſtaltung meiner 
Zukunft haben werden. Ich habe bisher mich für un⸗ 
ſelbſtiſch gehalten, weil ich keinen beſonderen Werth 
auf Geld und Gut gelegt, weil ich keine Neigung ver⸗ 
ſpürt habe, den Beſitz des Majorates anzutreten, ſtatt 
mir zu ſagen, daß eben darin meine Luſt an hin⸗ 
träumendem, müßigem Selbſtgenügen ſich am ent⸗ 
ſchiedenſten kundgegeben hat. Der Beſitz hat aber 
nicht nur Bedeutung durch das, was er für unſere 
eigene Befriedigung möglich macht, ſondern auch durch 
jenes Andere, was wir mit demſelben für Andere, 
für Einzelne oder Viele leiſten können; und ich habe 
in dieſer Nacht, die mir in mannigfachem Sinnen 
hingegangen iſt, den Vorſatz gefaßt, wenn — wie es 
leider in naher Zeit vorauszuſetzen iſt — die Majorats⸗ 
güter an mich fallen, ſie nicht an den Sohn meiner 
Schweſter abzutreten, ſondern hinzugehen, ihre Ver⸗ 
waltung zu übernehmen, auf ihnen und an ihren 
Eingeſeſſenen zu fördern, was der Förderung bedürftig 
iſt, und ſomit zu verſuchen, ob ich nicht im Leiſten 
und Schaffen die Zeit einbringen kann, die ich in 


202 


müßiger Sehnſucht nach einem für mich nicht zu 
erreichenden Glücke habe an mir vorübergehen laſſen.“ 

Konradine hatte nicht erwartet, daß feine Ge— 
danken und Entſchlüſſe eben dieſe Wendung nehmen 
könnten, aber ſie vermochte ſich zu erklären, wie er 
auf dieſen Weg gekommen war, und die ſchlichte ernſte 
Redlichkeit, mit welcher er ſich ſelbſt beurtheilte, flößte 
ihr eine erneute Achtung vor ihm ein. Es war darin 
Nichts von jener ſelbſtgefälligen Reue, die ſich ſchön⸗ 
redneriſch kundgiebt, um ſich mit der Verſicherung 
tröſten zu laſſen, daß ſie gar Nichts zu bereuen habe, 
ſondern daß ſie ſich bewundern und fremder Bewun⸗ 
derung ſicher ſein dürfe. Es war die einfache Erkenntniß 
eines begangenen Fehlers und der Vorſatz, ihn durch 
eine richtigere Handlungsweiſe auszugleichen. Dagegen 
war kein beſchönigender Einſpruch zu erheben, und 
Konradine dachte an einen ſolchen umſoweniger, als 
die Abſichten Emanuel's auf das Beſte mit den Wün⸗ 
ſchen der Gräfin zuſammenſtimmten. Nur ein Be⸗ 
denken hegte ſie, und dieſes bezog ſich auf die Geſund⸗ 
heit des Barons. Sie meinte, daß er dem nordiſchen 
Winter auf die Dauer nicht würde widerſtehen können. 

Emanuel ließ das nicht gelten. „Sie haben es 
ja erlebt, wie gut ich ihn ertrug, als Sie mir dort 
erſchienen,“ ſagte er. „Meine Geſundheit iſt ſeit 
Jahren feſt genug und wird immer beſſer, je weniger 
ich Rückſicht auf ſie nehme. Was ich ertragen konnte, 
weil Liebe und Sorge für ein beſtimmtes Weſen mich 
achtlos auf mich ſelber machten, das werde ich ebenſo 
ertragen können, wenn die Zuneigung und die Sorge 


203 


für eine ganze Gemeinſchaft mich an den Norden 
feſſeln. Wenn ich auch der Jugend und der Schön— 
heit auf die Dauer nicht eben liebenswerth erſcheinen 
kann, ſo meine ich, es ſolle mir gelingen, mir da oben 
unter den Leuten, die uns lange kennen, lange lieben, 
eine dauernde Zuneigung zu verdienen. — Im Grunde 
find wir ja Alle, Jeder nach feiner Weiſe auf Ent- 
ſagung angewieſen; und Sie felber lehren mich, 
wie man in derſelben wachſen und ſich erheben kann. 
Will des Frühlingstages ſchöne Sonne uns nicht 
leuchten und erwärmen, ſo muß ein tüchtiges Reiſig⸗ 
feuer uns am Abend ſchadlos halten. Und auch das 
kann ſchön ſein, kann zum Glücke werden,“ fügte er 
hinzu, „wenn Freunde wie Sie es nicht verſchmähen, 
ſich bisweilen an unſeren Heerd zu ſetzen und ſich 
mit uns an ſeiner Gluth zu freuen.“ 

Er hielt bei den Worten Konradinen ſeine Rechte 
hin, ſie ſchlug herzlich ein, ſie ſchüttelten einander die 
Hände recht als Freunde, und Konradine meinte die 
urſprüngliche Schönheit ſeines Antlitzes nie ſo klar 
erkannt zu haben als in dem Augenblicke, da ein 
ſchwermüthiges Lächeln ſanft über ſeine Züge glitt. 

Hulda's erwähnte er mit keiner Sylbe weiter, 
auch die Frauen vermieden es. Aber ſie bemerkten 
Beide, daß er einen Ring, von dem alten Familien⸗ 
ringe nur durch die bedeutungsvolle Farbe des Steines 
unterſchieden, an ſeiner Hand trug, und ſie wußten 
ſich zu ſagen, was ihm dieſer Ring bedeute. 


Sechszehntes Capitel 


— 


Man hatte den Greis zur Ruhe beſtattet. Die 
Kirchenglocken, die ihm ſo oft das Herz erhoben, wenn 
ſie ihn gerufen, des Herrn Wort vor der Gemeinde 
zu verkünden, tönten noch durch die Luft und gaben 
ihm das letzte irdiſche Geleite. Der Todtengräber 
ſchüttete die Erde über den ſchlichten Sarg, der Küſter 
und die Schuljugend, die Frauen und die Männer aus 
dem Dorfe gingen ſchweigend von dem Kirchhofe heim, 
und wo Zwei bei einander waren, ſprachen ſie von 
ihrem ſeligen Herrn Paſtor, der ihnen ein getreuer 
Hirt und Führer, ein treuer Berather und Seelſorger 
geweſen war, durch all' die langen Jahre und in mancher 
ſchweren Zeit. Es tröſtete ſie aber Alle, daß er doch 
in ſeinem Bette geſtorben war, daß er ein ſchönes 
chriſtliches Begräbniß bekommen habe, und nicht ſo 
elend umgekommen und zu Grunde gegangen ſei wie 
die arme ſelige Frau Paſtorin. Nun war Paſtor's 
Hulda ganz allein. 


* 


5 


205 


Im Pfarrhauſe ftanden die Fenſter in der Kam⸗ 


mer offen. Das Zimmer, die Flur und die Schwelle, 


bis hinaus durch das Gärtchen und hin bis an das 
Kirchhofsgitter, hatte man den Weg mit Sand und mit 
gehacktem Tannengrün beitreut. In der Wohnſtube 


ſaß der Amtmann auf dem Sopha und ſprach ge— 


dämpften Tones mit dem Pfarr-Adjunkten, der noch 
den Talar anhatte. 

Mamſell Ulrike, die gleich herübergekommen 
war, als man im Amte die Todesnachricht erhalten, 
und die in der Pfarre geblieben war, weil man doch 
das Mädchen mit dem jungen Manne nicht allein dort 
laſſen konnte, Mamſell Ulrike hantierte mit Hilfe der 
Küſterin eifrig in der Kammer umher, aus welcher 
man den Greis hinweggetragen hatte. Sie war nun 
ſchon drei ganze Tage von ihrer Wirthſchaft fort und 
mußte ſorgen, daß man hier bald fertig ward, denn 
noch lange vom Hauſe wegzubleiben, hatte ſie nicht Zeit. 

Hulda hörte nicht, was der Amtmann und der 


Adjunkt beſprachen, ſie bemerkte es auch nicht, wie und 


was Ulrike in der Kammer ſchaffte. Sie ſtand am 
Tenfter und ſah hinüber nach der Stelle, an der fie 
ihren Vater eingeſenkt hatten. So hatten ſie einſt 
dageſtanden, der Vater und die Mutter und auch ſie, 
als die Kunde von dem Tod des Grafen in das Dorf ge— 
kommen war, und damals war es geweſen, daß ſie 
zuerft der Nothwendigkeit gedacht hatte, einmal erleben 
zu müſſen, was ſie heute erlebte. 

„Unſer Leben fährt dahin wie ein Traum und 
wie ein Rauch!“ hatte der Vater damals ausgerufen, 


206 


und Schöne, erhebende Worte Hatte er daran geknüpft. 
Sie erinnerte ſich ihrer wohl. Er war ſchon damals 
matt und ſchwach geweſen. Sie wußte es noch ganz 
genau, wie die Mutter ihn ängſtlich angeſehen, wie ſie 
fie dann an ihre Bruſt gedrückt, und wie die Vorſtel⸗ 
lung ſie darauf ergriffen hatte, daß ſie einmal mit der 
Mutter werde von dem Hauſe ſcheiden müſſen, ſich 
eine neue Heimat aufzuſuchen. — Mit der Mutter! 
— Und jetzt war ſie allein, ganz verlaſſen und allein 
— verlaſſen auch von ihm! 

„Wenn er es wüßte!“ rief es in ihrem Herzen 
und laut aufweinend wider ihren Willen, ſank fie auf. 
den Stuhl am Fenſter nieder und verbarg ihr Antlitz 
in den Händen. 

Dem Amtmanne ging es nahe, wie er das ſah 
und hörte. Es war ihm überhaupt ſehr weich um's 
Herz, und der ſchwarze Anzug, den er nur bei großen 
Gelegenheiten trug und der ihm ſchon ſeit langen 


Jahren viel zu eng geworden war, machte ſein ge⸗ 


rührtes Unbehagen noch weit ärger. 

„Nimm Dich zuſammen, Kind,“ rief er Hulda 
freundlich zu, „komm' her, genieße Etwas, es hilft ja 
Nichts, in das Grab kannſt Du Dich doch nicht legen, 
und es blos zu denken iſt eine Sünde! Sieh nicht 
dort hinüber, komm' her! Ich bin hier und der Herr 
Adjunkt iſt hier; und er und ich, wir meinen es gut 
mit Dir! Komm' her, mein Kind! 

„Ich fühl' das ja, lieber Onkel, und ich dank 
es Ihnen! Und auch Ihnen danke ich für alle die 
Güte, die Sie mir erwieſen haben, und — für die 


207 


Thränen,“ fügte fie hinzu, indem fie dem Adjunktus 


ihre Hand gab, „die Sie auf meines lieben Vaters 


Grab geweint haben. Die werd' ich Ihnen nicht ver⸗ 
geſſen!“ | 

„War er mir denn nicht ein Vater? Waren wir 
denn nicht verbunden durch die Liebe, die wir für ihn 
hegten, durch die Sorge, die wir um ihn trugen?“ 
ſagte der Adjunkt. „Ach, es wird auch für mich ſehr 
einſam ſein hier in dem Hauſe, und ſehr traurig, 
wenn Sie von hier gehen!“ 

Sie ſah ihn an, ſein ernſtes Auge ſprach noch 
mehr als zu ſagen dieſe Stunde zuließ; und ſcheu 
und ſchüchtern zog ſie ihre Hand zurück, während 
Ulrike, welche die letzten Worte auch vernommen hatte, g 
aus der Kammer in das Zimmer trat. 

„Es iſt Rath für Alles! Es wird auch für Sie 
ſchon Rath ſein, Herr Adjunktus,“ meinte Ulrike und 
ſah mit ihren ſcharfen Augen um ſich her, als könne 
ſie auch mit den Augen noch in aller Eile Etwas 
ſchaffen oder thun. „Aber die Hauptſache iſt,“ fuhr 
ſie fort, „daß die Hulda von hier forkommt, und daß 
ich in meine Wirthſchaft komme, in der viel nachzu⸗ 
holen iſt und wo ſie mit Hand anlegen kann. Das 
wird ihr gut thun, ganz gewiß; das thut Jedem gut, 
denn leben hilft leben! Und wenn ſie nur erſt eine 
Nacht in ihrer alten Stube bei uns geſchlafen haben 
wird, ſo können wir ja ab und zu auch hier wieder 
nachſehen kommen, und dann wird es ſich ja ſpäter 
finden, wie es mit ihr wird und wo ſie hin ſoll.“ 


208 


Sie hatte das auf ihre Weiſe gut gemeint und 
ſich alle die Tage hindurch auch gutwillig gezeigt, denn 
große Unglücksfälle hatten auf ſie immer eine erhebende 
und für den Augenblick auch ihre Geſinnung reinigende 
Wirkung, nur daß die Erhebung und Veredlung nicht 
eben lange währten und daß ſelbſt ihrer Milde noch 
immer genug Schärfe und Herbigkeit innewohnten, 
um die Schmerzesäußerung zurückzudrängen und die 
Thränen gefrieren und verſiegen zu machen, die zu 
ſtillen ſie gekommen, und die zu trocknen ihr nicht ge⸗ 
geben war. Aber ſie wußte ſich damit Etwas und 


rühmte es von ſich, daß man in ihrer Gegenwart ſich 
auf das Weinen und Klagen nicht verlege, weil ſie 


herzhaft ſei und kräftig, und alſo die Menſchen auch 
gleich auf herzhafte und kräftige Gedanken bringe. 
Hulda hatte ſchon am Abende vorher das für ſie 
Nöthige zuſammenpacken müſſen. Die Trauerkleider, 
die ſie nach der Mutter Tod getragen, waren noch 
zur Hand geweſen, und mehr bedurfte ſie ja für das 
Erſte nicht. Des Amtmanns Wagen ſtand und war⸗ 
tete, die Pferde wurden ungeduldig. Mamſell Ulrike 
hing ſich das ſchwarze Tuch um, welches ſie immer 
umlegte, wenn ſie zu Leichen fuhr. Der Amtmann war 
auch aufgeſtanden, Hulda's kleines Köfferchen hatte der 
C hriſtian hinten feſt auf dem Wagen aufgeknebelt. 
„Nun können wir wohl fort!“ ſagte der Amt⸗ 
mann, indem er ſeine Uhr herauszog. 
Hulda ſetzte ihren Hut auf und nahm das Körb⸗ 
chen in die Hand, in das ſie noch die letzten Stücke 
eingepackt hatte. Ulrike ging an den Tiſch, auf dem 


e 


209 


die Kuchen und der Wein ftanden, die fie aus dem 


Amte zum Begräbniß hatte kommen laſſen und ſah, 


wie viel davon noch übrig war. „Verſchließen Sie 
das doch, Herr Adjunktus!“ rieth ſie, „auch den 
Kaffee und den Zucker. Im Uebrigen wird die Frau 
Küſterin ſchon für Sie ſorgen, ich hab' ihr Alles über⸗ 
geben und angewieſen; und wenn Sie dazwiſchen 
herüberkommen wollen, das Wetter iſt ja noch immer 
ſchön, ſo kommen Sie nur. Ein Platz am Tiſch iſt 
immer da.“ 

Der Adjunkt dankte ihr, aber ſeine Seele war 
nicht dabei. Er allein ermaß, was in dem armen 
Mädchen vorging. Auch er hatte einen Verluſt er⸗ 
litten in dem Greiſe, deſſen milde, menſchenfreund⸗ 
liche Geſinnung dem jüngeren Amtsgenoſſen aufklärend 
und erziehend zu Hilfe gekommen war, deſſen ſchlichte, 
tiefe Frömmigkeit ihn aus den Feſſeln einer überſtrengen 
Kirchlichkeit zu befreien und ihn dem Leben in werk⸗ 
thätiger Duldung zuzuwenden begonnen hatte; und 
auch er erlebte ein Scheiden in dieſer Stunde, das 
ihm durch das Herz ſchnitt. Er war es ſo gewohnt, 
Hulda zu ſehen, auf ihr Gehen und Kommen im 
Hauſe zu achten, wenn er in ſeinem Erkerſtübchen ſaß; 
ihre Stimme zu hören, wenn er in das Zimmer zu ebener 
Erde eintrat. Nun ſollte er das entbehren! Nun 
ſollte er ſie gehen laſſen und nicht wiſſen, ob ſie 
wiederkehren, zu ihm wiederkehren würde, um nicht 
wieder von ihm fortzugehen? Er ſtand neben ihr und 
ſah ſie an, und folgte ihrem ſchwermüthigen Blicke, 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 14 


210 


der ſich im Scheiden zögernd noch an jeden Platz, 
an jede Ecke und an jedes Möbel heftete. 

„Sie werden es ja nicht vergeſſen!“ ſagte er 
endlich. | 

„Wie könnte ich?“ gab ſie ihm zur Antwort. 

„Vergeſſen Sie auch mich nicht,“ bat er. „Den⸗ 
ken Sie bisweilen meiner, ich werde hier für Alles 
ſorgen!“ | 

„Sie kommen auch wohl bald in das Amt hin= 
über!“ entgegnete ſie ihm, und er hörte an ihrem 
Tone, daß ſie darauf hoffte. Er war ja der Einzige, 
mit dem ſie von dem Vater reden konnte, wie es ihr 
um das Herz war. Er und er allein hatte mit ihr 
die Sorge um den Greis getheilt, ſeit ſie wieder in 
dem Pfarrhauſe weilten, und er allein wußte auch, 
daß für ſie nun Alles aus und zu Ende war, ſeit ſie 
den Ring zurückgeſendet hatte. Sie reichten einander 
und drückten einander die Hände. Ulrike ſaß ſchon 
feſt in ihrem Wagen, der Amtmann ſtand an dem 
Schlage. Der Adjunkt geleitete das von ihm geliebte 
Mädchen ſtill hinaus und half ihm einſteigen, denn 
die Augen Hulda's ſchwammen in Thränen. 

Chriſtian, der auf dem Bocke ſaß, merkte davon 
Nichts. Er ſchwang die Peitſche in dem unvergleich- 
lichen, weithin ſchallenden Doppelſchlag, an dem ihn 
in der ganzen Gegend Jedermann erkannte, die Brau⸗ 
nen zogen luſtig an, weil es endlich nun nach Hauſe 
ging. Die Küſterin und die Magd weinten ihre bit⸗ 
teren Thränen. Im Dorfe traten die Leute unter die 
Thüre. Es trocknete ſich Mancher ſtill die Augen ab. 


211 


Sie grüßten von rechts und grüßten von links, ſagen 
that Keiner Etwas. 

Der Adjunkt konnte es nicht mit anſehen, daß ſie 
von dannen fuhr. Er ging in das Haus zurück und 
in ſein Erkerſtübchen. Da hatte er ſie nie geſehen, 
da konnte er verweilen ohne ſie. Er ſetzte ſich hin 
und ſah auf das Meer hinaus und überdachte, was er 
hier erlebt hatte. Und wie er ſaß und ſann, da fühlte 
er plötzlich, daß ſeine Gedanken wieder bei ihr waren, 
und mit Sehnſucht vorwärts blickend, rief er: „Möge 
ihr Eingang einſt geſegnet ſein, wenn der Herr, der 
mir gnädig geweſen iſt bis auf dieſe Stunde, ihr Herz 
alſo lenkt, daß ſie wiederkehrt in dieſes liebe Haus!“ 

Er blieb den ganzen Abend ſtill bei ſeinen Büchern 
ſitzen, und war zufrieden, daß ihn Niemand ſtörte, daß 
er traurig ſein durfte nach Herzensluſt. 


14* 


Hiebenzehntes Capitel. 


— 


Das Stübchen, welches Hulda in dem Amte inne⸗ 
gehabt hatte, ehe man ſie zu Miß Kenney hinüber⸗ 
genommen, ward wieder für ſie aufgethan; man 
ſchaffte ihre Sachen ſchnell hinein. Sie ſollte ſich nur 
Alles gleich zurechte machen, ſagte die Mamſell, danach 
ſolle ſie dann zu ihr kommen, und ſie wollten weiter 
zuſehen. | 
Das Einrichten war bald beſorgt. Sie war leicht 
damit fertig, denn ſie war ſo unglücklich, daß ſie auf 
ihr äußeres Behagen keinen Werth legte und Nichts 
empfand, als daß ſie eben lebte und leben mußte. 
Dazu hatte Hulda ſeit der Mutter Tod allein ihr 
Haus verſorgt, und weil ſie in dieſem Augenblicke 
keinen eigenen Wunſch und kein Verlangen hatte, war 
ihr jede Arbeit recht und lieb, welche ihr dazu ver⸗ 
half, an jedem Tage die Stunden deſſelben zu über⸗ 
winden. 

Mamſell Ulrike ſah das gern. Sie fand, daß 
dem Mädchen die Arbeit jetzt ganz anders als vordem 
von Händen gehe, nur daß Hulda gar ſo ſtill war, 


213 


das gefiel ihr nicht und gefiel ihr mit jedem neuen 
Tage weniger. Sie mochte nun einmal keine Men⸗ 
ſchen um ſich haben, die nicht bei ihrer Arbeit redeten, 
ſie mißtraute Denen ſogar ein- für allemal, die ſo 
ſchweigend und in ſich verſunken herumgehen konnten, 
denn ſie wußte das aus eigener Erfahrung: gute, 
offenherzige Menſchen haben immer das Herz auf 
ihrer Zunge ſo wie ſie. Was hatte Hulda denn auch 
zu verſchweigen? Daß ſie traurig war, das ſah man, 
das konnte ſie auch einem Jeden ſagen. Sie war in⸗ 
deſſen, wer weiß wie lang, auf ihres Vaters Ende vor— 
bereitet geweſen, und es war ein großes Glück zu 
nennen, daß er endlich noch entſchlafen war, ehe ſein 
Augenlicht ihn ganz verlaſſen hatte. Um den Baron 
konnte ſie ſich jetzt doch auch nicht mehr ſo härmen, 
da er ſie vergeſſen hatte und auf dem Punkte ſtand, 
ſich eine Frau zu nehmen, wie ſie ihm gebührte. 
Hulda konnte es jetzt ja deutlich ſehen, daß es ihm 
nie Ernſt geweſen war mit ihr. Wenn ſie ſich aber 
etwa Hoffnungen auf den Herrn Adjunktus machen 
ſollte, ſo war das wieder einzig ihre Schuld. Der 
Adjunktus konnte doch unmöglich daran denken, ſie, 
über die hierorts und rundherum ſoviel geredet mor- 
den war, zur Frau zu nehmen. Das lag ja Alles 
auf der Hand, das mußte Jeder ſehen, wie Mamſell 
Ulrike meinte. Und weil ſie, wie ſie gleichfalls meinte, 
ein ganz redliches Gemüth war, ohne Falſch und ohne 
Hinterliſt, ſo brauchte ſie auch kein Blatt vor ihren 
Mund zu nehmen, und durfte unumwunden ſagen, 
was ſie dachte. 


214 


Kein Tag verging deshalb, an welchem fie das 
Hulda nicht erklärte. Sie waren niemals bei einander, 
ohne daß die Mamſell ihr vorhielt, wie es nun genug 


des Trauerns wäre, und wie ſie ſich tapfer aus dem 


Sinne ſchlagen müſſe, was nicht zu ändern ſei. Ein 
trauriges Geſicht und einen ſtummen Menſchen um 
ſich und neben ſich zu haben, das gehe ihr gegen die 
Natur. Vorwärts! das ſei die richtige Parole für 
Alt und Jung, für Mann und Weib. Vorwärts mit 
Courage! damit komme man auch vorwärts. 
„Vorwärts! — Vorwärts!“ Hulda hörte das in 
einemfort, es war zuletzt das Einzige, was ſie von 


Ulrikens Reden hörte, was ſie ſich ſelber ſagte und als 


Nothwendigkeit erkannte. Denn dauernd in der quäle⸗ 
riſchen Nähe der ihr abgeneigten und raſtloſen Mamſell 
zu bleiben, daran konnte ſie ebenſowenig denken, als 
an eine Ehe mit dem Pfarr⸗Adjunkten, wenn ihr dieſer 
ſeine Hand antragen ſollte. Ihr Herz und ihr Ge— 
wiſſen lehnten ſich gleichmäßig dagegen auf. 

„Aber was denn ſonſt?“ fragte ſie ſich oftmals. 
Was thun? Was beginnen in der Welt, die ihr ſo 
fremd und eben deshalb ſo troſtlos leer und weit erſchien. 

Sie ging in mancher nächtlichen Stunde, die ſie 
bang durchwachte, alle ihre Möglichkeiten durch. Sie 
hatte mancherlei Kenntniſſe erworben; der Vater ſo⸗ 
wohl als Miß Kenney hatten ihr oftmals wiederholt, 
daß ſie im Stande ſei, als Lehrerin in guten Familien 
ihren Platz mit Ehren auszufüllen. Aber ſolch eine 
Stellung fand ſich ja nicht gleich, und — darüber 
hatte ſie ſich auf die Länge nicht verblenden können — 


215 


hier in ihrer Heimat Stand ihr ein Vorurtheil im 
Wege, dem ſie nicht entgegenzutreten wußte. Man 
hatte ſie verdächtigt, ihr guter Name war angegriffen, 
und wenn ihr Bewußtſein ſie auch freiſprach, ſie hatte 
in den letzten Jahren durch die lächelnden Mienen, 
durch die thörichten Fragen und die unvernünftigen 
Anſpielungen der wenigen Frauenzimmer, mit denen 
ſie zuſammengekommen war, ſchon genug gelitten. Sie 
ahnte es ſeit lange, daß Ulrike ganz allein dieſe 
Zweifel an ihrer Sittlichkeit erregt haben konnte, und 
ſie mochte nicht in einer Umgebung bleiben, in wel⸗ 
cher ſie ſich gegen ein heimliches Uebelwollen unab⸗ 
weislich zu vertheidigen hatte. Aber wohin? an wen 
ſich wenden? von wem den Rath begehren, den Bei⸗ 
ſtand fordern, deren ſie ſo ſehr benöthigt war. Sie 
ſtand immer wieder vor derſelben bangen Frage. 

Sie dachte daran, daß die Gräfin es zu ver⸗ 
ſchiedenenmalen den verſtorbenen Eltern zugeſagt hatte, 
ſich ihrer anzunehmen. Die Gräfin hatte es auch dem 
Amtmann, als dieſer ihr des Pfarrers Tod gemeldet, 
ausdrücklich wiederholt, daß ſie ihre Hand von Hulda 
nicht abzuziehen denke, daß dieſelbe ihre Wünſche nur 
auszuſprechen habe, und daß ſie gerne bereit ſei, ſich 
für ſie um ein Unterkommen zu bemühen, wenn Hulda 
vielleicht die verſtändige Abſicht hegen ſollte, im Aus⸗ 
lande als Gouvernante ſich eine Stellung zu erwerben. 
Aber in des armen Mädchens Seele erweckte dieſes 
Anerbieten Nichts als einen Mißton. Denn eben von 
der Gräfin irgend einen Beiſtand zu begehren, dazu 
hätte ſie in der größten Noth ſich kaum entſchloſſen. 


216 


Sie wußte, was die Gräfin damit meinte, 
wenn ſie ſie auf das Ausland hin verwies, und doch 
durfte man ſich, wie Hulda meinte, wohl darauf ver- 
laſſen, daß ſie Ehrgefühl genug beſaß, ſich von dem 
Manne fern zu halten, der ihr zu begegnen nicht mehr 
wünſchen konnte. Sie hatte ihm ja unaufgefordert 
das Liebespfand zurückgeſendet, mit dem er ſich ihr 
einſtmals anverlobt. 

Sie kannte ſich oft ſelbſt nicht wieder, wenn ſie 
in ihrer Einſamkeit mit ſich zu Rathe ging. Sie 
wußte nicht, weshalb ſie nicht mehr zu vertrauen, nicht 
mehr mit ſo gutem Glauben um ſich her zu blicken 
vermochte. Sie erſchrak vor ſich ſelbſt, wenn fie ge= 
wahrte, wie ſcheu ſie geworden war, ſeit ihres Vaters 
Haus und Anſehen ſie nicht mehr beſchützten. Sie er⸗ 
ſchien ſich hier unter den Menſchen, neben denen ſie 
herangewachſen war, wie verlaſſen, wie fremd und aus⸗ 
geſtoßen; und während dieſe Gefühle ſie ängſtigten 
und quälten, kam es ihr wie die einzige Rettung vor, 
von hier fortzugehen, an einen anderen Ort, an wel⸗ 
chem ſie zwar noch fremder, noch verlaſſener ſein mußte, 
aber an dem ſie nicht wie hier, immer nur an ſich zu den⸗ 
ken hatte, immer nur das Gleiche ſah und hörte, immer 
wieder in ſich ſelbſt zurückgewieſen ward. Glück, das 
gab es für ſie nirgends. Was alſo konnte ſie für ſich 
begehren, als ihr Unglück und womöglich Alles zu 
vergeſſen, was ihr Herz bedrückte, ihren Sinn ver⸗ 
düſterte. Aber — wohin? Und was beginnen und 
wem ſich anvertrauen? | 


217 


Der Fürſt und die Fürſtin hatten fich ihr im 
Schloſſe vorzugsweiſe geneigt erwieſen. Clariſſe war 
überhaupt ihr Ideal. In den wenigen glücklichen Tagen, 
welche nach Hulda's Krankheit bis zu der Abreiſe des 
Barons vergangen waren, hatte die Geneſende ſich der 
Hoffnung hingegeben, die junge Fürſtin werde nicht, 
wie die Gräfin, ſich ihrer Verbindung mit Emanuel 
entgegenſtellen, ſie werde ihr es gönnen, von ihm ge⸗ 
liebt zu werden, ſie werde ihr helfen, ſich auf dem 
Platze zu behaupten, auf den er ſie zu ſtellen dachte. 
Ihr Vertrauen in Clariſſen's Herzensgüte war ſehr 
groß. Erfahren mußte die Fürſtin es jetzt durch ihre 
Mutter ohne Frage haben, daß der Pfarrer hingegan⸗ 
gen war, und doch hatte ſie Hulda kein Zeichen ihrer 
Theilnahme gegönnt. Freilich, der Fürſtin Leben war 
ſo bewegt und reich. Es gingen in dem beſtändigen 
Wechſel ihres Aufenthaltes ſo viele Menſchen raſch an 
ihr vorüber, und ſie war ſo glücklich. Sie konnte es 
ja nicht ermeſſen, welch ein Segen dem Einſamen, 
der ſich verlaſſen fühlt, ein Wort des Troſtes werden 
könne. Sie mochte der armen Pfarrerstochter vielleicht 
vergeſſen haben, ſie konnte auch, wie ſo mancher Andere, 
irre an ihr geworden ſein, wenn Etwas von den ver⸗ 
dächtigenden Gerüchten zu ihr gedrungen war, welche 
der gewiſſenloſe Michael im Schloſſe verbreitet hatte; 
und von Clariſſe zurückgewieſen, von der Schwelle 
fortgeſchickt zu werden, die ſie einſt als Angehörige 
des Hauſes frohen Herzens zu betreten gehofft hatte, 
vor dieſer bitteren Möglichkeit wollte ſie ſich wenigſtens 
bewahren. g 


218 


Wie fie nun immer länger auf dieſen Vorſtel⸗ 
lungen verweilte, traten alle die kleinen Kränkungen, 
welche ſie in den beiden letzten Jahren von ihren 
wenigen Bekannten erfahren hatte, in ihrer Erinne— 
rung ſchärfer und deutlicher hervor, und jene Ver— 
zagtheit, welche faſt noch ſchlimmer iſt als das Unglück 
ſelbſt, bemächtigte ſich ihrer. Sie fing an, ſich ihres 
Unglückes zu ſchämen. Sie ſchämte ſich endlich ſogar 
ihrer Liebe und der Hoffnungen, welche ſie dereinſt 
auf ſie gebaut hatte. Sie konnte es nicht aushalten, 
wenn man ſie anſah, weil ſie meinte, man wolle ſich 
überzeugen, wie ſie ſich in die Zerſtörung aller ihrer 
Lebensausſichten zu ſchicken wiſſe. Sie mochte dem 
Adjunkten nicht mehr begegnen, ſo dankbar ſie ſich ihm 
verpflichtet fühlte, denn ſie konnte ihm nicht lohnen, 
wie er es wünſchte. Kurz Alles, was ſie ſah und 
hörte und was ſie hier umgab, ward ihr zur Pein, 
und das Verlangen, zu vergeſſen und vergeſſen zu 
werden, und an einen Ort zu kommen, an dem Nie⸗ 
mand von ihr wußte, wurde immer überwältigender 
in ihr. 

Darüber ſchwanden die Wochen hin und im Amte 
fing es an, recht luſtig herzugehen. Da die Herr⸗ 
ſchaften wieder fort waren, hielt der Amtmann 
mit den Gutsbeſitzern und den Freunden aus der 
Nachbarſchaft die großen Jagden ab; nach einer Ernte, 
wie man ſie in dieſem Jahre hierzulande gehabt hatte, 
brauchte man nicht ängſtlich zu berechnen, ſondern 
konnte etwas daraufgehen laſſen. Es gab der Gäſte 
und der Arbeit viel im Hauſe, und es war eine Reihe 


219 


von Tagen hingegangen, ehe Hulda an den Amtmann 


die Bitte richten konnte, er möge mit ihr einmal nach 


dem Pfarrhauſe hinüberfahren, wo ſie ſeit des Vaters 
Tode nicht wieder hingekommen war. 

Der Amtmann, der ſie nach wie vor gern in ſeiner 
Nähe hatte, war an dem Morgen beſonders gut auf- 
gelegt, und wie er denn überhaupt mit ihr zu ſcherzen 
liebte, ſagte er: „Hält es die Woche über nicht mehr 
vor? Wir ſind heut' erſt am Donnerſtag und Sonn⸗ 
tags war ja der Herr Adjunktus hier. Aber mir iſt 
es nicht zuwider. Fuhrwerk iſt frei und ich hab' auch 
eben Zeit.“ Damit ſtand er auf, um den Kutſcher. 
herbeizuſchaffen. Hulda trat ihm in den Weg. 

„Onkel,“ ſagte ſie verlegen, „Sie wiſſen es wohl, 
das habe ich nicht gemeint. Um den Adjunktus war 
mir es nicht, aber alle meine Sachen ſind noch in der 
Pfarre.“ 

„Und Du willſt nach dem Deinen ſehen! Das 
iſt recht, mein Schatz!“ fiel der Amtmann ihr in das 
Wort, „das wird dem Adjunktus wohl von Dir ge— 
fallen.“ 

„Ich dachte nicht an das Nachſehen, Onkel; ich 
wollte mir nur von dort herüberholen, was ich für 
die kalten Tage brauche, und vielleicht ein paar Bücher, 
und den Nähtiſch von der Mutter, wenn es ſein kann,“ 
entgegnete ſie ihm, um ihn abzulenken von dem Scherze, 
der nicht nach ihrem Sinne war. Aber hinter dieſem 
Scherze verbarg ſich bei dem treuen Freunde ſein 
voller, gutgemeinter Ernſt, und ihr auf die Schulter 
klopfend, ſagte er: „Deine Kleider und Deinen Mantel 


220 


und die Bücher, Die wollen wir Dir holen, Schatz! 
Das Uebrige, das laß Du nur in Gottes Namen ſte⸗ 
hen. Das hat dageſtanden alle die Jahre lang und 
wird mit Gottes Hilfe auch die kommenden Jahre 
dorten ſtehen, wenn ich es auch nicht in Abrede ſtellen 
will, daß ich und Du — denn Du haſt ja jetzt Dein 
eigen Geld von Mamſell Kenney her — daß ich und 
Du nicht hie und da ein neues Stück, eine Wiege 
oder ſo Etwas, dazwiſchenſtellen werden. Ihr kommt 
von Vaters Seite aus dem Hauſe her, und es iſt gut 
und ſchön, daß ſich auch wieder Einer zu Dir gefun⸗ 


den hat, dem das alte Haus in das Herz gewachſen 


iſt, und neben dem Du dort ſicher und in Frieden ſitzen 
wirft Dein Lebenlang, wie Dein Vater und Deine 
Mutter dort gewaltet und gelebt haben bis an ihr ſelig 
Ende.“ 

Er war, ohne ihr Zeit zu einer Antwort zu laſſen, 
nach dem Fenſter gegangen, um mit dem Eulenpfiff, 
den Jeder anf dem Gute kannte, das Zeichen zu geben, 
daß der Hofmann kommen ſollte, dem es oblag, den 
Leuten die Befehle des Amtmanns zu übermitteln. 
Wie er aber das Fenſter öffnen wollte, kam des Ober⸗ 
förſters Wagen in den Hof. Mamſell Ulrike rief nach 
Hulda; aus der Fahrt in das Pfarrhaus konnte heute 
nun Nichts werden, und dem Mädchen war das lieb 
und recht. Es mochte gar nicht daran denken. 

Wie eine Laſt, unter der ſie ſich nicht regen konnte, 
wie eine ſchwere Angſt waren des Amtmanns gut⸗ 
gemeinte Worte: „Dort wirſt Du ſitzen Dein Leben⸗ 
lang“ auf Hulda herniedergefallen. Alle die langen, 


— 
—— 


221 


bangen Tage, alle die ſchweren Stunden, die fie im 
Pfarrhauſe in den letzten Jahren zu durchleben gehabt 
hatte, hingen für ihr Empfinden über demſelben wie 
der Deckſtein eines Grabgewölbes, der ſich nun auch 
über ſie herniederſenken ſollte. Die Ausſicht, ihr ganzes 
Leben lang immer und immer an dem kleinen Fenſter 
zu ſitzen, an dem ſie geſeſſen von früher Kindheit an, 
immer nur die Kirche vor Augen zu haben und den 
Kirchhof, und immer Nichts zu hören, als das Wogen 
und Rollen der Wellen und den ſchrillen Schrei der 
Möwe, die über die Ufer nach dem Meere eilt, das 
war ihr entſetzlich. Es ſchnürte ihr das Herz zuſam⸗ 
men. Es war ihr, als gäbe es hier nicht mehr den 
Frühling und nicht den ſommerlichen Sonnenſchein, 
an dem ſie ſich doch ſonſt erfreut hatte. Die unbe⸗ 
ſtimmte Sehnſucht, mit der ſie ſchon in früher Kind⸗ 
heit dem Fluge der weit hinwandernden Vögel nach⸗ 
geſehen, bemächtigte ſich ihrer mit neuer und ſtärkerer 
Gewalt. Es zog ſie förmlich in die Ferne hinaus 
aus der Enge und der Bewegungsloſigkeit, die fie hier 
in Feſſeln ſchlagen ſollten. Und das ſollte das Glück 
ſein, das größte Glück, auf welches zu rechnen für fie 
möglich war? Nimmermehr! Die Lebensluſt und 
Lebensfülle in ihrem Innern empörten ſich dagegen. 
Es ſtiegen ein Zorn, ein Trotz gegen ihr Schickſal in 
ihr auf, wie ſie ſie nie zuvor gefühlt hatte. 

„Soll ich dazu jung und ſchön ſein,“ dachte ſie, 
und ihre Wangen erglühten vor Scham, wie ſie ſich 
Das eingeſtand, „dazu jung und ſchön ſein, um hier 
in grauer, träger, freud⸗ und hoffnungsloſer Einſamkeit 


222 


ein Daſein zu vertrauern? Und ſoll ich Liebe heu— 
cheln, einen braven Mann betrügen, einen Meineid 
ſchwören, um mir dies traurige Geſchick erſt zu erkau— 
fen? — Nimmermehr!“ 

Sie wendete, ohne zu überlegen, was ſie that, 
ihr Antlitz nach dem Spiegel hin, es ſtrahlte ihr in 
dem hellen Scheine der Nachmittagsſonne leuchtend 
aus demſelben wider. Ihre blonden Flechten ſchim⸗ 
merten wie Gold. „Ein Käthchen, wie es im Buche 
ſteht!“ hatte der Theater⸗Direktor gejagt, al er ſie bei 
Gabriele angetroffen hatte. 

Sie wußte nicht, wie grade dieſe Worte ihr 
eben jetzt mitten in ihrer Traurigkeit in den Sinn 
kamen, aber ſie klangen ſo deutlich in ihr wieder, als 
hätte ein Anderer ſie in ihrer Nähe ausgeſprochen, und 
Alles, was an jenem Morgen geſchehen war, an wel⸗ 
chem ſie dieſelben von des Direktors Mund vernom⸗ 
men, wurde mit einmal in ihr lebendig. 

Sie ſah Gabriele wieder vor ſich auf der Bühne, 
in all ihrer Erhabenheit, getragen von der Bewunde⸗ 
rung jenes Publikums, das mit athemloſer Freude zu 
ihr emporblickte; ſie war wieder bei ihr in dem trau⸗ 
lichen Gemach, in welchem an dem kalten Winter⸗ 
morgen die ſchönſten Blumen ſie umgaben. Sie ſah 
Briefe ankommen von hier und dort, ſah wieder den 
Direktor mit einſchmeichelnder Huldigung als Bittenden 
vor der ſelbſtgewiſſen, heiteren Künſtlerin erſcheinen. 
Die prächtigen Koſtüme, welche die Kammerfrau durch 
das Zimmer trug, die werthvollen Schmuckſachen, die 
zierlichen Kleinigkeiten, die auf den Tiſchen umher⸗ 


223 


gelegen hatten: fie erinnerte ſich jedes einzelnen Stückes. 
Auch der Verhandlungen, welche zwiſchen dem Diref- 
tor und der Künſtlerin gepflogen worden waren, ent- 
ſann ſie ſich genau. Gleich damals hatten ihr die 
Hindeutung auf die Reiſen, auf den Ortswechſel, die 
Gabrielen bevorſtanden, das Herz vor Sehnſucht nach 
gleichem Glücke ſchlagen machen; und wie ſie nun wie⸗ 
der daran dachte, klang ihr des Amtmanns wohl- 
gemeintes: „Dort wirſt Du ſitzen Dein Lebenlang,“ 
immer in dem Pfarrhauſe, immer an derſelben 
Stelle, wie der härteſte Bann, der über eines 
Menſchen Daſein ausgeſprochen werden konnte, wie 
der böſe Fluch einer feindlichen Fee, der das Leben- 
dige in Stein verwandelt und zur Unbeweglichkeit 
verdammt. 

Wer aber zwang ſie denn, ſich ſolchem Fluche 
ohne Widerſtand zu unterwerfen? Sie hatte ihrem 
Vater gehorſamt, ſo ſchwer ihr es angekommen war. 
Ihre Jugend, ihre Liebe, ihre Ausſichten auf das er— 
ſehnteſte und neidenswertheſte Glück hatte ſie ihm ſtill 
geopfert. Jahre des Schmerzes und der hoffnungsloſen 
Trauer hatte ſie durchlebt, von denen nur ſie es wußte, 
wie ſchwer die einzelnen Stunden auf ihr gelaſtet und 
wie langſam ſie ihr hingegangen waren. Jetzt hatte 
ſie nicht Vater und nicht Mutter, jetzt hatte ſie nicht 
die geringſte Hoffnung mehr, dem geliebten Manne 
zu gehören. Sie war ganz allein, es lebte Niemand, 
gegen den ſie Pflichten, der an ſie Rechte hatte. Wes⸗ 
halb ſollte ſie ſich freiwillig in ein Schickſal fügen, 


224 


vor dem ihr graute wie vor einem langen, leidens— 
vollen Sterben? Nimmermehr! 

Gabriele war das einzige Menſchenweſen, vor 
dem ſie von ſich und ihrer Liebe frei geſprochen, weil 
ihr warmes, verſtändnißvolles Auge ihr das Herz er— 
ſchloſſen, weil ihre Güte ihr dazu den Muth gemacht 
hatte. Sie hatte kein Wort vergeſſen von Allem, was 
die Künſtlerin ihr damals ernſt und wenig tröſtend 
zu bedenken gegeben hatte. Es war Alles gekommen, 
wie die Welterfahrene es vorausgeſehen. Hulda hatte 
jetzt ſelber ihren Weg zu ſuchen, und wie zu einer 
jener fernen Leuchten, zu denen der verirrte müde 
Wanderer ſeine Blicke wendet, richteten Hulda's Ge⸗ 
danken ſich auf die berühmte Frau. 

Gabriele hatte ihr es ausdrücklich erlaubt, ſich an 
ſie zu wenden, wenn ſie jemals auf ihrem Lebenswege 
ſich ihres Rathes, ihres Beiſtandes bedürftig fühlen 
ſollte. Je länger, je feſter ſie ſich die Vorgänge jenes 
Morgens zu vergegenwärtigen ſtrebte, um ſo unwider⸗ 
ſtehlicher ſetzte ſich in ihr die Ueberzeugung feſt, an 
welchen Lebensweg die Künſtlerin für ſie gedacht, zu 
welchem Zwecke ſie ihr ihren Beiſtand angeboten 
hatte. 

Auf das Theater gehen! Schauſpielerin werden! 
— Es fuhr blendend und erſchreckend wie ein jähes 
Licht durch den Sinn der Pfarrerstochter, und doch 
war ihr die Vorſtellung nicht neu. Tag und Nacht 
hatte dieſelbe ſie beſchäftigt, als ſie Gabriele geſehen, 
und vollends, nachdem fie mit ihr den Romeo ges 
leſen, und den unvergeflichen Morgen in ihrem Zim⸗ 


225 


mer zugebracht hatte. Ohne daß fie es gewollt, hatte 
ſie ſich danach in den langen, einſamen Tagen im 
Pfarrhauſe es ausgemalt, wie es ihr ſein würde, wenn 
ſie daſtünde vor den Augen eines ihr huldigenden 
Publikums. Mit heimlichem Wohlbehagen hatte ſie 
ſich der kleinen Erfolge erinnert, welche ſie bei den 
gelegentlichen Darſtellungen im Schloſſe errungen, 
und oft genug waren ihr die Worte des Direktors ein⸗ 
gefallen: „Auf das Theater führen alle Wege, wie 
nach Rom!“ 

Damals hatte der Direktor ihr mißfallen. Sein 
ganzes Behaben, die Dreiſtigkeit, mit welcher er ihr 
entgegentrat, hatten ſie verletzt; indeß, das war im 
Grunde ihre Schuld geweſen und nicht die ſeine. Was 
hatte er ihr denn gethan? Ihre Aehnlichkeit mit Ga⸗ 
briele war ihm aufgefallen. Weil er ſie bei Gabrielen 
fand, hatte er ſie für eine junge Schauſpielerin ge⸗ 
halten und ſie darauf angeſehen, welche Bedeutung 
und welchen Werth ſie für die Bühne haben mochte. 
Er hatte ihr Aeußeres, auf das ſo viel ankam, exa⸗ 
minirt, wie ihr Vater das geiſtige Vermögen der 
Kinder geprüft hatte, welche ihm zum Unterrichte im 
Chriſtenthume zugeführt worden waren; und ihres 
Aeußeren, ihrer Mittel hatte ſie ſich nicht zu ſchämen. 
Sie trat unwillkürlich wieder vor den Spiegel hin, 
hob das Haupt ſtolz empor, und das Antlitz, das ſie vor 
ſich hatte, ſtrahlte von einer ſiegreichen Selbſtgewißheit. 

Ihre Gedanken gingen mit raſchem Fluge vor⸗ 
wärts, erhoben ſich zu weitgeſteckten, ruhmgekrönten 
Zielen, aber mit der Gewiſſenhaftigkeit, a der ſie er⸗ 


Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 


226 


zogen worden war, zwang fie fich, in ihren verlocken— 
den Träumen innezuhalten und, rückwärts blickend, 
ſich es vorzuſtellen, was jenen Ausſichten und Plänen 
entgegenſtand, in denen fie ſich mit freudiger Auf- 
regung zu wiegen angefangen hatte. 

Sie wußte es, wie die Frauen, denen es be— 
ſchieden iſt, in guten, wohlumfriedeten Familienver⸗ 
hältniſſen ein ruhiges Daſein behaglich hinzubringen, 
geneigt ſind, über die dem allgemeinen Urtheile preis⸗ 
gegebene Bühnenkünſtlerin mit hochmüthiger und kurz⸗ 
ſichtiger Ungerechtigkeit zu urtheilen. Sie hatte gerade 
in Bezug auf Gabriele Härten ausſprechen hören, die 
ihr empörend geweſen waren und gegen welche ihr 
Vater Gabriele und die Künſtlerinnen im Allgemeinen 
in Schutz genommen hatte. Er war überhaupt keiner 
von jenen engherzigen Eiferern geweſen, welche das 
Theater verurtheilten; er hatte es vielmehr geliebt, 
und hatte es als berechtigt anerkannt, daß Frauen ſich 
der Bühne widmen, um jene Meiſterwerke darſtellen 
zu helfen, an deren Aufführung er ſich noch erfreute, 
als ſein Augenlicht erloſch und nur ſeines Geiſtes Auge 
noch klar und hell geblieben war. 

Sie hatte an den beiden Abenden, an denen ſie 
Gabrielen ſpielen geſehen, lebhaft daran gedacht, mit 
welch prieſterlicher Freude es die herrliche Frau erfüllen 
müſſe, Tauſenden von Menſchen die Verkörperung und 
die Vermittlerin der großen Dichterwerke zu ſein. Sie 
hatte ſich oftmals im Geiſte die erſten Worte des 
Dialoges wiederholt, mit denen Gabriele in der Auf: 
führung des „Taſſo“ auf die Bühne getreten war. 


227 


Jetzt zum erſtenmale ſprach fie dieſelben mit lauter, 
voller Stimme vor dem Spiegel für ſich ſelber aus, 
und wie der Klang ihr Ohr berührte, ergriff er ſie 
mit einer fortreißenden Gewalt und erſchütterte er ihr 
das eigene Herz. 

„Ja! ſo dazuſtehen auf der hohen Bühne, die 
Blicke eines zuſtimmenden, bewundernden Publikums 
an ſich zu feſſeln, es zu empfinden, wie in Hunderten 
von Herzen das Schöne, das Erhabene, das die eigene 
Bruſt mit bebender Begeiſterung erfüllte, wiederklang, 


das mußte ein Glück ſein, über das man Alles ver⸗ 


geſſen konnte — Alles — auch verſchmähte Liebe und 
gebrochene Treue. — Und wenn er dann daſäße unter 
den Hunderten, die ihr huldigten und Beifall klatſchten, 
wenn er ſich dann ſagen müßte: „Und Du haſt ſie 
verſchmäht und haſt ſie aufgegeben und vergeſſen, 
weil ſie ihre Pflicht gegen ihren armen alten Vater 
höher geachtet als ihr eigenes, ach, ſo heiß erſehntes 
Glück 

Sie konnte nicht weiter, ſie ſchlug die Hände vor 
das Geſicht, es wollte ihr das Herz brechen und ſie 
mußte bitterlich weinen. Ihr Liebesleid, das ließ ſich 
nicht vergeſſen! 

Draußen fing es inzwiſchen allgemach ſtill zu 
werden an. Der taktmäßige Schlag der Dreſchflegel 
verſtummte, und die Dreſcher gingen, mit den ſchweren 
Holzſchuhen auf dem Pflaſter des Hofes klappernd, 
noch an Hulda's Fenſtern vorüber nach dem Dorfe. 
Drüben machten der Hofmann und der Schäfer die 
Thüren der Scheunen und der Ställe zu, die Eggen 

35* 


228 


wurden zuſammengeſtellt, die Wagen neben einander 
in gerader Linie aufrangirt. Am Brunnen ſcheuerten 
und ſpülten die Mägde die Gefäße, deren man in den 
Milchkammern bedurfte. Der Hofmann ging an ihnen 
vorüber, machte einen Scherz mit der Jüngſten und 
Derbſten unter ihnen, dann trat er in das Amt, die 
Schlüſſel in der Schreibſtube aufzuhängen. Oben über 
Hulda's Zimmer ſtimmte der Wirthſchafter ſeine Flöte, 
um wieder eine der Melodien zu verſuchen, die klar 
und rein herauszubringen ihm nun einmal nicht ge⸗ 
lingen wollte. Das war einen Tag ſo wie den an⸗ 
deren! Und ein Menſchenleben konnte doch lange Jahre 
währen und der Tage waren ſo viel in einem Jahre! 

Sie lehnte hinträumend am Fenſter. Drüben in 
dem Schloſſe ſchimmerte nicht mehr der Kerzenſchein 
wie in jenen glücklichen Tagen, die nicht wiederkehren 
konnten. Aber durch die kleinen Scheiben ihres Fen⸗ 
ſters leuchtete das erſte Mondesviertel von dem hellen 
Himmel freundlich in ihr Stübchen, und ihm zur 
Seite ſchwamm der ſchöne Abendſtern ſanften Glanzes 
durch das leichte ſchimmernde Gewölk. Sie konnte 
ihre Augen nicht abwenden von den milden, tröſtlichen 
Geſtirnen. | 

„Die find treu, die werden mit mir gehen!“ 
ſagte ſie zu ſich ſelbſt; und wie über ihrem Haupte 
das ſchwebende Gewölk, jo zogen in kaum merklichem 
Entſtehen und Vergehen ihr traumhaft die Gedanken 
durch den Sinn, bis der ſchrille Ton von Mamſell 
Ulrikens Wirthſchaftsglocke ſie aufſchreckte und an ihre 
Arbeit rief. 


Achtzehntes Capitel. 


Der Oberförſter hatte ſich bereden laſſen, die 
Nacht im Amte zuzubringen, weil ihn gerade Nichts 
nach Hauſe rief. Er war ein Mann noch in den 
beſten Jahren, nicht weit in die Fünfziger hinein, war 
kinderlos und hatte vor einigen Monaten ſeine Frau 
verloren, ſo daß er froh war, wenn er aus dem leeren 
Hauſe fort war, in welchem die Fran ihm an allen 
Ecken und Enden fehlte. Er liebte eine gute Schüſſel, 
ein gutes Glas, ein freundliches Geſicht; und wenn er 
dieſe drei Dinge vor ſich hatte, ging ihm leicht das 
Herz auf. 

Der Amtmann und die Mamſell ſahen ihn Beide 
gern kommen. Er war überhaupt angeſehen in der 
Provinz, und da er häufig unterwegs und bald in 
dieſem, bald in jenem Hauſe war, wußte er immer 
Neues zu erzählen, und zwar von Dingen, von denen 
in der Zeitung und in dem Amtsblatte Nichts zu 
finden war. Er und der Amtmann waren gute 
Freunde von Alters her, er ſtand auch mit Mamſell 
Ulrike auf dem beſten Fuße. Er nannte ſie ein kluges, 


230 


Icharffichtiges Frauenzimmer, und ihre Schrullen und 
Launen gingen ihn Nichts an, fie hielt ſich auch vor 
ihm in Schranken. 

Da er ſeit dem Tode ſeiner Frau öfter in das 
Amt gekommen war, wußte Hulda, was für ihn zu 
beſchaffen war, und machte ſich daran, es zu beſorgen. 
Aber war es, daß die Mamſell heute eine andere Ein⸗ 
richtung im Sinne hatte oder hatte Hulda ihre Ge⸗ 
danken nicht genug beiſammen, kurz, ſie machte es 
Jener wieder einmal in keinem Punkte recht. Ulrike 
warf ihr vor, daß ſie keine Art von Hilfe von ihr 


habe, daß ſie Alles ſelbſt bedenken, ſelber leiſten müſſe, 


und wenn ſie erſt einmal in das Schelten kam, war 
ſie in ihrem Eifer nicht gewohnt, ihre Worte auf die 
Goldwage zu legen. Ihr Mißmuth und ihr Zorn 
miſchten ſich dann wie Hagel und Regen und fielen 
peinlich erkältend auf Jeden nieder, der in ihre 
Nähe kam. | 
Schon während des Abendeſſens hatte fie Hulda 
bald offen, bald verſteckt getadelt, und Hulda hatte 
ſchweigend zu verbeſſern geſucht, was der Erzürnten 
nicht genehm geweſen war; als aber der Inſpektor und 
die Wirthſchafter ſich entfernt hatten und die beiden 
Männer ſich auf dem Sopha zu einander ſetzten, um 
die Früchte und das Backwerk zu verzehren, die den 
Nachtiſch bildeten, und bei einer Bowle ihre Pfeife 
vor dem Schlafengehen zu rauchen, kam das Unwetter 
von Ulrikens übler Laune ganz zu ſeinem Ausbruche. 
Sie fand die Goldreinetten nicht blank genug geputzt, 
das Waſſer kochte nicht genug, die Citronenpreſſe war 


a — 


231 


nicht ſauber, der Tabakskaſten und die Fidibus dem 


Herrn Oberförſter nicht zur Hand geſtellt. Sie kam 


aus dem Verweiſen, aus dem verächtlichen Achſel⸗ 
zucken, aus dem verzweifelnden Kopfſchütteln gar nicht 
mehr heraus. Es machte den Amtmann endlich un⸗ 
geduldig. 

„So gib Dich doch zufrieden und laß ſie doch 
in Frieden!“ ſagte er endlich und hieß Hulda ſich mit 
ihrer Arbeit an dem Tiſche niederſetzen. Auch der 
Oberförſter meinte, es ſei ja Alles gut und recht, 
„und“, fügte er hinzu, „wenn Alles zu Allem kommt, 
iſt doch ein fröhliches Geſicht noch beſſer anzuſehen, 
als der allerſchönſte Apfel.“ Er erhob ſich bei den 
Worten, rückte für Hulda einen Stuhl heran, und 
zwar an ſeiner Seite, und machte ihr auf dem Tiſche 
Platz, damit ſie ihr Nähkörbchen unterbringen könnte. 
So aber hatte Ulrike es nicht gemeint. 

„Beſtärken Sie ſie nur in dieſem Glauben, Herr 
Oberförſter!“ rief ſie höhniſch, „nachher hat Unſereiner 
es im Hauſe auszubaden. Unordnung läßt ſich nicht 
weglächeln, und freundliche Mienen und vornehme 
Manieren helfen in der Wirthſchaft nicht. Da muß 
man auf den Kern ſehen. — Ich muß doch wohl am 
Beſten wiſſen, was ich an ihr habe.“ 

„Aber Schweſter! Schweſter!“ zürnte der Amt⸗ 
mann, dem es verdrießlich war, daß ſie ſich in des 
Gaſtes Beiſein in ihrer üblen Weiſe gehen ließ. Hulda 
erhob ſich, um das Zimmer zu verlaſſen. Der Ober⸗ 
förſter hielt ſie bei der Hand zurück. 


232 


Er wußte von dem Amtmann, wie es Hulda mit 
dem Baron ergangen war, er kannte auch das un— 
nütze Gerede, mit welchem man die Arme in der Um⸗ 
gegend verfolgte, und weil er ſah, daß Hulda bei 
Mamſell Ulrike keine guten Tage hatte, war es ihm 
ein Bedürfniß ihr freundlich zu begegnen. Die gute 
Art, mit welcher ſie ihre Obliegenheiten erfüllte, die 
Freundlichkeit, mit der ſie dem im Amte geehrten 
Gaſte ſtets entgegen kam, hatten ihm immer ein be⸗ 
ſonderes Vergnügen gemacht. Er fand dazu, wie die 
meiſten älteren Männer, große Freude an der Jugend, 


und er hatte es Ulriken nie verborgen, daß er, ebenſo 
wie ihr Bruder, viel von Hulda halte und die beſte 


Meinung von dem Mädchen habe. 

Als nun an dem Abende die Mamſell des Ta⸗ 
delns und des Scheltens gar kein Ende finden konnte, 
als ſelbſt des Amtmanns Mahnung ſie nicht zu be⸗ 
ſchwichtigen vermochte, meinte der Oberförſter ſie mit 
einem Scherze zur Vernunft bringen zu können. 

„Tante Ulrike! Tante Ulrike!“ warnte er, „ſehen 
Sie ſich vor! Heute dürfen Sie Mamſell Hulda 
nicht ſo ſchelten, denn heute hat ſie doppelten Suc⸗ 
curs!“ 

„Freilich!“ entgegnete Ulrike ſpitz, „darauf ver⸗ 
läßt ſie ſich ja auch!“ 

„Und daran thut ſie wohl!“ rief der Oberförſter, 
immer noch im wohlgemuthen Scherze. Wenn es 
die Tante Ihnen einmal gar zu arg macht, Mamſell 
Hulda! ſo gehen Sie ihr davon und kommen Sie zu 


233 


mir. Solch einen guten Hausgeiſt könnte ich jult ge⸗ 
brauchen, und mir macht man es ſehr leicht zu Dank!“ 

Das freundliche Wort des wackeren Mannes war 
dem Mädchen nach Ulrikens beleidigender Härte eine 
Wohlthat, und die ſchönen ſchwermüthigen Augen auf 
ihn richtend, ſagte Hulda: „Man thut ja auch ſo herz⸗ 
lich gerne, was man kann!“ 

Der Amtmann, der vor ſeinem Freunde weder 
die Schweſter bloßgeben, noch Hulda Unrecht thun 
laſſen wollte, meinte: „Du ſollteſt ſie auch wohl ver⸗ 
miſſen, Schweſter!“ 

„Ich?“ fragte die Mamſell, in einem Tone und 
mit einer Miene, die bitterer und ſpöttiſcher nicht ſein 
konnten. 

Des Oberförſters gutes Herz empörte ſich gegen 
dieſe Härte. Er konnte es nicht mit anſehen, daß man 
das Mädchen ohne Anlaß ſchlecht behandelte, und einem 
Einfalle, der ihm durch den Kopf ſchoß, raſch, ohne 
viel Bedenken Worte gebend, ſagte er: „Ich habe es 
im vollen Ernſte gemeint, Mamſell Hulda! Hier zu 
bleiben, das halten Sie auf die Länge ja nicht aus, 
und bei mir zu Hauſe brauche ich 5 Kommen 
Sie zu mir!“ 

Ulrike traute ihren Ohren nicht. Daß man ſich 
unterfangen wollte, ihrer Herrſchſucht und ihrem Ein⸗ 
fluß auf des Mädchens Schickſal ſo mit einemmale 
ein Ziel zu ſtecken, das ſchien ihr eine nicht zu er⸗ 
tragende Vermeſſenheit zu ſein, und von ihrer zor⸗ 
nigen Heftigkeit über jede Schicklichkeit und jede Rück⸗ 
ſicht fortgeriſſen, rief ſie: „Ja freilich, eine junge 


234 


glatte Haushälterin, das iſt fo recht der Herren Ge— 
ſchmack!“ 

Der Amtmann fuhr haſtig empor, aber der Ober⸗ 
förſter trat gelaſſen zwiſchen ihn und ſeine Schweſter, 
und obſchon er bisher im entfernteſten nicht daran ge⸗ 
dacht hatte, nahm er Hulda's Hand in die ſeine und 
ſagte: „Es ſteht in der Bibel geſchrieben: fie ge- 
dachten es böſe mit mir zu machen, und ſiehe da, ſie 
haben es gut gemacht! So geht es Ihnen auch, 
Mamſell Ulrike! Es könnte ja noch Einer oder der 
Andere auf Gedanken wie die Ihren kommen, und ich 


meine es ja gut mit Ihnen, liebe Hulda!“ — Er zog 


an dem Kragen ſeines grünen Uniformrockes und 
knöpfte den Haken auf. Das, was er zu ſagen hatte, 
wollte ihm nicht gleich ſo kommen, wie er es wünſchte. 
Er war ja kein junger Mann mehr, und ſie konnte 
ſeine Tochter ſein; aber heraus mußte es nun doch. 
Das Mädchen, wie es ſo daſtand, that ihm leid und 
war ihm herzlich lieb. Endlich gab er ſich den nöthigen 
Stoß. „Allein bleiben kann ich nicht und will ich 
nicht,“ ſagte er, „das hab' ich mir von Anfang an ge⸗ 
ſagt. Ich brauche eine Frau für das Haus und auch für 
mich. Wollten Sie meine Frau werden, ſo ſollte mir es 
lieb ſein, und auf mein Wort, zu bereuen ſollten Sie es 
nicht haben.“ 

Er fuhr ſich mit der Hand über das ganze Ge⸗ 
ſicht, um es nicht merken zu laſſen, daß ihm die Augen 
feucht geworden waren; und weil Keiner der Anweſen⸗ 
den, ja er ſelber nicht, eine ſolche Erklärung vorausgeſehen 
hatte, wußten ſie im erſten Augenblicke ſich ſammt und 


235 


ſonders nicht zu fallen. Der Amtmann ſchlug, ohne 
zu ſprechen, dem Freunde mit derbem Schlage auf die 
Schulter, als habe er an ſeinem männlich entſchloſſenen 
Vorgehen Freude. Ulrike war blaß geworden und 
preßte die ohnehin ſchmalen Lippen noch feſter auf⸗ 
einander, und Hulda, die im erſchreckten Staunen die 
Hände wie die Jungfrau auf den Bildern der Ver⸗ 
kündigung über die Bruſt gefaltet hatte, ſagte mit ge⸗ 
rührter Stimme leiſe Nichts weiter als: „Lieber Herr 
Oberförſter!“ 

Indeß die drei Worte brachten doch wieder Leben 
in ſie Alle, und der Oberförſter, dem das ſchöne 
Mädchen nie ſo ſchön wie eben jetzt erſchienen war, 
und dem ſein Wohlgefallen an demſelben das Herz 
raſcher und wärmer ſchlagen machte, als er es ſeit 
lange gewohnt war, rief, Hulda nachſprechend: „Lieber 
Herr Oberförſter! Lieber Herr Oberföriter! Was will 
das ſagen, Kind? Heißt das ja? Heißt das nein? 
Sag' es rund heraus!“ | 

Hulda ſah ihn an, wollte ſprechen, ſchwieg aber 
dennoch und reichte ihm die Hand. Ihre Lippen 
bebten, man ſah, ſie rang einen ſchweren Kampf mit 
ſich. Ulrikens Blicke hingen lauernd an jeder ihrer 
Mienen. Die bloße Vorſtellung, daß ſie Hulda, des 
Pfarrers Tochter, Simonenen's Tochter, als Frau des 
Oberförſters vor ſich ſehen, daß ſie dieſem Mädchen, 
wo immer ſie es künftig treffen würde, in der Kirche 
oder bei Taufen und auf den Gütern in der Nach⸗ 
barſchaft, den Vortritt laſſen ſolle, brachte ſie ganz 
außer ſich. 


236 


„Alſo ja?“ rief der Oberförſter, und ſchlang ſeine 
beiden kräftigen Hände um des Mädchens Rechte. 
Aber Hulda ſchüttelte leiſe das Haupt, und die Augen 
zu dem ſtattlichen Manne erhebend, ſagte ſie mit 
einer Stimme, deren Ton feſter wurde, während ſie 
ſprach, und deren Wahrhaftigkeit etwas Ueberwältigen⸗ 
des hatte: „Ich fühle es ja, wie gut Sie ſind; bis 
in das Herz geht es mir, wie gut Sie es mit mir 
meinen, und ich werde es Ihnen nie vergeſſen, aber 
ich kann nicht, ich kann es nicht, Herr Oberförſter!“ 

„Natürlich nicht!“ ſtieß Ulrike mit ſchlecht ver⸗ 


hehlter Genugthuung hervor. „Es iſt ja kein 


Baron!“ 


Der Oberförſter hatte ihre Hand losgelaſſen. 


„Das thut mir leid für Sie und mich!“ ſagte er 
feſt, aber man hörte es ihm an, daß er die raſch ent⸗ 
ſtandene Hoffnung ungern ſchwinden ſah und daß es 
ihm, dem älteren und angeſehenen Manne, ſehr em⸗ 
pfindlich war, ſich in ſeines Freundes und Ulrikens 
Beiſein alſo abgewieſen und verſchmäht zu ſehen. 
Der Amtmann fühlte ihm das nach. Er wollte 
begütigen, und da ihm das Anerbieten des Freundes 
in jedem Betrachte der Erwägung werth, ja, ſo weit 
es äußere Vortheile betraf, der Heirath mit dem künf⸗ 
tigen Paſtor noch vorziehbar erſchien, denn der Ober⸗ 
förſter hatte von Hauſe aus ein namhaftes Ver⸗ 
mögen, ſagte er: „Du haſt ſie überraſcht, mein alter 
Freund! Sie konnte ſich ja deſſen nicht verſehen. So 
Etwas will doch überlegt ſein, gönne ihr nur Zeit!“ 


237 


Der Oberförſter ſchüttelte abwehrend das Haupt. 
„Nein!“ entgegnete er, „laß es ſo gut ſein. So Etwas 
muß man ohne viel Beſinnen thun. Hätte ſie zu 
mir den Zug und das Vertrauen gehabt, wie ich zu 
ihr, ſo wäre es gegangen; ohne das geht es nicht, 
denn ich bin alt und ſie iſt jung. Sie muß das 
ſelber fühlen, und“ — Ulrikens boshaftes Wort hatte 
ihn getroffen und ſeine ſchlimme Wirkung nicht ver⸗ 
fehlt — „vielleicht findet ſich auch noch ein Beſſerer 
für ſie.“ — Er wendete ſich mit dieſen Worten ab, 
ſah nach der alten Steh⸗Uhr in der Ecke und meinte, 
es ſei ſpät, und Zeit zu Bette zu gehen, denn morgen 
müſſe er in aller Frühe fort. 

Es war das freilich gegen die Abrede, indeß wie 
es nun gekommen war, konnte man ihn zum Bleiben 
nicht wohl überreden. Der Amtmann nahm den 
Leuchter, ſeinen Gaſt ſelbſt nach ſeinem Zimmer zu ge⸗ 
leiten, Ulrike nützte auf ihre Weiſe das Alleinſein mit 
dem Mädchen. Sie warf es Hulda vor, die älteſten 
Freunde des Hauſes durch ihre Gefallſucht dem Hauſe 
zu entfremden; ſie that und ſprach, als wären der An⸗ 
trag und die beabſichtigte Heirath durchaus nach ihrem 
Sinne geweſen. Sie fragte, worauf Hulda denn 
warte oder was ſie von ſich denke, und prägte es ihr 
mit ſchneidendem Spotte ein, wie ſie nun wieder ſich 
einen neuen Feind geſchaffen habe, wie der Ober— 
förſter ihr das ganz gewiß gedenken werde. Jetzt 
dürfe ſie nun vollends nicht mehr darauf rechnen, hier 
in dieſer Gegend Aufnahme in einer auch nur halb⸗ 
wegs angeſehenen Familie zu finden, und daß der 


238 


Amtmann ſie jetzt nicht hier behalten könnte, wenn er 
es ſelbſt wollte, das ſei doch ſonnenklar. 

Hulda vertheidigte ſich mit keinem Worte. Sie 
ging auf ihr Zimmer und ſchrieb die halbe Nacht. 
Dann ſteckte ſie den Brief in die Ledertaſche des 
Knechtes, die in der Schreibſtube hing und die der⸗ 
ſelbe am Morgen mitzunehmen hatte, wenn er bei 
Tagesanbruch zum Wochenmarkte in den nächſten 
Flecken fuhr. 

Wie ſie ſich dann niederlegen wollte, waren die 
Sterne und der Mond, die ihr am Abende fo tröft- 
lich geweſen waren, lange ſchon am Horizont nieder⸗ 
geſunken, aber es waren dafür andere ihr ebenſo ver⸗ 
traute Sternbilder emporgekommen, und ſie ſagte ſich: 
„Die gehen ſeit aller Ewigkeit die ihnen von Gott be⸗ 
ſtimmte, immer gleiche Bahn, der Allweiſe wird auch 
mir die meine vorgezeichnet haben. Wenn die Ant⸗ 
wort auf mein Schreiben ausfällt, wie ich es erwarte, 
ſo ſoll mir das ein Zeichen ſein, daß ich auf dem 
rechten Wege bin, und ich will ihn dann, mein Ziel 
im Auge, in Gottes Namen freudigen Herzens gehen!“ 


Neun zehntes Capitel. 


Der Aufenthalt in der Villa ihres Bruders ſagte 
der Gräfin mehr als früher zu. Seit dem Tode ihres 
Gatten hatte ihr Lebenskreis ſich doch mehr verengt, 
ſie kam allmälig auch in die Jahre, in denen das un⸗ 
ruhige Geſellſchaftstreiben der großen Welt ihren Reiz 
für ſie zu verlieren begann, beſonders weil ſie dort 
nichts Weſentliches mehr zu ſuchen oder zu fördern 
hatte, denn ihr Ehrgeiz war immer mehr auf ihre 
Familien⸗Angelegenheiten als auf eine große perſön⸗ 
liche Bedeutung gerichtet geweſen. Jetzt war Clariſſe 
glänzend verſorgt, ihres Sohnes Laufbahn auf dem 
beſten Wege, und ſeine bevorſtehende Heirath ihren 
Wünſchen in jeder Beziehung entſprechend. Ihre eigenen 
Vermögens ⸗ Angelegenheiten befanden ſich in beſter 
Ordnung, ſie hielt es ſich alſo mit Wohlgefallen vor, 
daß ſie jetzt keine zwingenden Verpflichtungen mehr 
habe und mit Behagen feiern dürfe. Indeß ihre nicht 
zur Beſchaulichkeit geneigte Natur ward durch Nichts 
ſchneller und leichter ermüdet als eben durch die Ruhe; 
ſie mußte, wenn ſie dieſelbe ertragen ſollte, mindeſtens 


240 


einen Plan haben, deſſen Durchführung ihr nicht 
zweifellos erſchien, der ihr das Gefühl des Beſchäftigt— 
ſeins, und ſie damit in der Ausſicht auf einen bevor⸗ 
ſtehenden Erfolg erhielt. Das Alles aber bot ihr dies— 
mal das Beiſammenſein mit ihrem Bruder und mit 
Konradinen. 

Sie fand in ihnen eine ihr in jedem Betrachte 
erfreuliche Geſellſchaft, und der Wunſch, dieſe Beiden 
mit einander zu verbinden, hielt ſie in einer ihr an⸗ 
genehmen Spannung. Er erheiterte ſie oder gab ihr 
ſorgend zu denken, je nachdem die Ausſicht, ihn erfüllt 
zu ſehen, ihr näherzurücken oder fernerzutreten ſchien. 

Im Hinblicke auf dieſen Zweck waren ihr die 
Mittheilungen, welche ihr der Amtmann über Hulda's 
Ausſichten gemacht hatte, ſehr angenehm geweſen, und 
ſie hatte, da ſie nach einem Uebereinkommen mit ihrem 
Sohne, die Verwaltung jener preußiſchen Familien⸗ 
güter auch ferner in der Hand behielt, die Ernennung 
des Adjunkten zu dem Pfarramte unter den von ihm 
gewünſchten Bedingungen ſofort vollziehen wollen. 
Aber ihre Erfahrungen hatten ſie zurückhaltend ge⸗ 
macht. 

Sie kannte die Menſchen ebenſogut als Kon⸗ 
radine; ſie wußte, wie man ſie behandeln müſſe, ſich 
ihres Dankes zu verſichern, und war es deshalb nicht 
gewohnt, durch zu raſches Handeln und eiliges Ge⸗ 
währen ihre Gunſtbezeigungen in den Augen Der⸗ 
jenigen herabzuſetzen, denen ſie zugute kommen ſollten. 

Der Adjunktus war in jedem Falle verpflichtet, ſein 
Amt bis zu dem Ende des laufenden Halbjahres fortzu⸗ 


241 


führen, und feine feſte Berufung und Ernennung zu 


demſelben gewannen bei ſeinen Heirathsplanen für ihn 


offenbar an Werth, wenn er ſie einige Zeit lang für 
zweifelhaft gehalten und zu erwarten gehabt hatte. 

Inzwiſchen wußte die Gräfin des Pfarrers Tochter, 
deren ſich anzunehmen ſie für ihre Pflicht erkannte, 
in des Amtmannes Haufe wohl geborgen; dem Ad⸗ 
junktus ging in der Pfarre auch Nichts ab, und ihre 
Guts⸗Inſaſſen waren nach des verſtorbenen Pfarrers 
wie nach des Amtmannes Anſicht durch den Adjunktus 
wohl verſorgt. Sie hatte deshalb, als ſie ihrem Sohne, 
den ſeine bevorſtehende Heirath in dieſem Augenblicke 
ganz gefangen nahm, einmal von der Angelegenheit 
des Pfarr⸗Adjunktus geſchrieben, ſcherzend hinzugefügt, 
ſie wolle den jungen Leuten das ſüße Hangen und 
Bangen in ſchwebender Pein, nicht allzu ſehr ver⸗ 
kürzen, da ja für ſolche Leute thatſächlich mit dem Ein⸗ 
tritte in die Ehe die Lebensmühe beginne und die 
Poeſie in der Regel ihr Ende finde. 

Der junge Graf hatte die Angelegenheit in ſeinem 
Antwortſchreiben gar nicht der Erwähnung werth ge⸗ 
achtet. Er war ſeit ſeiner Kindheit nicht in Preußen 
und auf dem Schloſſe geweſen, des verſtorbenen 
Pfarrers erinnerte er ſich dunkel, von deſſen Tochter 
hatte er nur gehört, daß ſein Oheim nahe daran ge— 
weſen ſei, eine Mißheirath mit ihr einzugehen, jedoch 
noch rechtzeitig davon zurückgekommen ſei. Ihn küm⸗ 
merte alſo das Schickſal dieſes Mädchens ganz und 
gar nicht. Für die Beſetzung des Amtes nach beſtem 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 16 


242 


Ermeſſen zu entſcheiden, war die Sache der Gräfin, 
und dieſe hatte keine Veranlaſſung, weder gegen Konra⸗ 
dinen noch gegen den Baron, der Vorgänge auf den 
Gütern beſonders zu gedenken. Kam man einmal zu⸗ 
fällig auf den letzten Aufenthalt zu ſprechen, den man 
im Schloſſe gemacht hatte, ſo ging man wie auf Ver⸗ 
abredung ſchnell darüber hinweg. Es hatte Jedes von 
den Dreien genug gelebt, um ſich zu ſagen, daß man 
nicht vorwärts ſchreiten könne, ohne immer und immer 
wieder einen Theil der Erinnerungen von ſich abwerfen 
zu müſſen, die uns niederbeugen und zurückhalten 
würden, wenn wir uns ihnen widerſtandslos über⸗ 
ließen; und vollends die Gräfin hielt es aufrecht, daß 
es ganz unmöglich ſei, allen den Menſchen gerecht zu 
werden, mit denen der Lebensweg den Einzelnen in 
Berührung bringe. Wie ſie ſich das Recht zuerkenne, 
Den und Jenen aufzugeben und zu vergeſſen, der 
ſeine Bedeutung für ſie verloren habe, ſo fechte es ſie 
ebenfalls keineswegs an, wenn ihr Gleiches wider⸗ 
fahre. Ja ſie behauptete, es immer als ein Zeichen 
von Engherzigkeit und von Mangel an Entwicklungs⸗ 
fähigkeit betrachtet zu haben, wenn Menſchen an einer 
ſogenannten unglücklichen Liebe oder an den erſten Ein⸗ 
drücken und Verbindungen ihrer Jugend haften ge⸗ 
blieben wären. Sich eines unveränderten Weſens, 
eines Gleichbleibens zu berühmen, heiße Nichts mehr 
und Nichts weniger, als ſich für eine gering angelegte 
Natur erklären. Jedes Wachſen eines Organismus 
bedinge ſchon ſeine Veränderung; je reicher er aber 
ſei, umſomehr ſei er der Entwickelung und Wandlung 


243 


fähig, und dieſelbe ſei ein Bedingniß feines Fort⸗ 
beſtehens. 

N „Sie ſprechen damit,“ ſagte Konradine, „die 
Ueberzeugung meiner Mutter aus, nur daß dieſe die 
Sache in ihrer Weiſe ausdrückte, wenn ſie behauptete, 
es gäbe gar keine Beharrlichkeit, und es könne keinen 
Menſchen geben, der verſprechen könne, ſich ſelber oder 
einem Anderen treu zu bleiben. Deshalb ſei der Eid 
der Treue, den zwei Menſchen einander vor dem Altare 
leiſteten, eine Vermeſſenheit und ein Frevel. Und wie 
ſie denn in ihrer Lebhaftigkeit leicht weiterzugehen 
pflegte, als ſie ſelber wollte, hat ſie mit den Schil⸗ 
derungen aller der Ehen, die in gutem Glauben an 
ein bevorſtehendes Glück geſchloſſen, dies Glück nicht 
gewährt, und zu Wortbruch und Untreue Veranlaſſung 
gegeben hatten, mir frühzeitig das Zutrauen zerſtört, 
mit dem die Jugend eigentlich an das Leben, an die 
Menſchen, an Glück und Liebe und an alles Gute 
und Beſtehende glauben muß, um ſich zu ihrem eigenen 
Heil und zu Anderer Freude harmoniſch zu entwickeln. 
Ich habe an der Liebe gezweifelt, ehe ich ſie kannte, 
und — vielleicht hat ſie ſich eben deshalb auch an 
mir gerächt!“ fügte ſie kurz hinzu. 

Nach der geläuterten geſellſchaftlichen Sitte, deren 
die Freunde ſich zu rühmen hatten, nahm Keines von 
ihnen das hingeworfene Wort weiter auf. Emanuel 
jedoch meinte, indem er ſich gegen ſeine Schweſter 
wendete, er verſtehe ſie nicht in dem, ihrer ſonſtigen 
Geſinnung nach durchaus auffälligen Zugeſtändniß, 

16* 


244 


welches ſie eben heute der Unbeſtändigkeit mache. Er 
ſei vielmehr gewiß, daß ſie trotz ihrer Verſicherung 
des Gegentheils höchlich betroffen ſein würde, wenn 
man ſich die Freiheit nehmen wollte, ihr gegenüber 
von dem Rechte der Wandelbarkeit, das ſie ſich ein= 
räume, den entſprechenden Gebrauch zu machen. 

„Auf die Gefahr hin, Dir meine Beſte, dadurch 
wenig entwickelungsfähig zu ſcheinen,“ ſagte er endlich, 
„bekenne ich Dir, daß für mich, ſeit ich denken kann, 
in dieſer unaufhaltſamen Wandlung alles Beſtehenden 
etwas Schmerzliches, etwas Beängſtigendes gelegen 


hat, gegen das ich mich nur mit dem Gedanken zu 
ſtählen vermochte, daß dieſe Wandlung, ſofern keine 


Gewaltthätigkeit ihren folgerechten Lauf verhindert, 
oftmals eine Umgeſtaltung zum Beſſeren, ein Fort⸗ 
ſchritt auf gutem Wege iſt. Ich erinnere mich ſehr 
deutlich, wie mich als werdenden Jüngling Schiller's 
Wort, daß „Alles im ewigen Wechſel kreiſt“ ergriffen, 
und wie mich ſpäter bei reiferer eigener Erfahrung 
das Goethe'ſche: „Ach! und in demſelben Fluſſe 
ſchwimmſt du nicht zum zweitenmal“, gerührt hat. 
Frage ich mein geheimſtes Inneres, ſo trage ich in 


demſelben ein tiefes Verlangen nach Dauer, nach Be⸗ 


ſtändigkeit deſſen, was mir einmal an Dingen, Men⸗ 
ſchen, Zuſtänden werth geworden iſt. Mit dieſer Em⸗ 
pfindung hängt denn auch meine Scheu zuſammen, 
Gegenden, in denen ich einmal ſehr glücklich geweſen 
bin, die mir alſo deshalb in einem idealiſchen Lichte 
vorſchweben, oder Perſonen, die ich als beſonders ſchön 
gekannt habe, nach längerer Trennung wiederzuſehen. 


245 


Man verliert in ſolchen Fällen gar zu häufig eine 
Vorſtellung, an der man ſich in der Erinnerung 
erfreute, und wird in einer ſchmerzlichen Weiſe an die 
Wandelbarkeit und Vergänglichkeit gemahnt, mit deren 
Erkenntniß für uns auch nur inſofern Etwas ges 
wonnen iſt, als ſie uns antreibt, den Augenblick, der 
unſer iſt, werkthätiger zu benutzen.“ 

„Du bleibſt eben der liebenswürdige Schwärmer,“ 
meinte die Gräfin, „dem das Schickſal, wenn es ihm 
gerecht ſein wollte, die Gunſt ewiger Jugend zuerken⸗ 
nen müßte —“ 

„Ach,“ rief Konradine mit einer Wärme, die 
Emanuel ſehr wohl that, „beſitzt denn unſer Freund 
in ſeinem ſchönen, weichen Sinne nicht wirklich jene 
Jugend, die uns Anderen abhanden gekommen iſt?“ 

„Jung bleiben in einer Welt, in welcher Alles 
altert, was mit uns jung geweſen tft, das heißt ver⸗ 
einſamen und gefliſſentlich auf dasjenige verzichten, 
was die Jahre uns lehren und bringen!“ warf die 
Gräfin ein. 

„Was lehren, was bringen ſie uns denn?“ ent⸗ 

gegnete Konradine. „Selbſt zugegeben, daß ſie uns 
klüger machen, was iſt denn damit für unſer Glück 
gewonnen? Wir werden durch die Klugheit, die ſie uns 
aufdringen, glaubenslos und mißtrauiſch, werden eng⸗ 
herziger und ſelbſtſüchtiger. Wir lernen rechnen und 
berechnen, wägen und erwägen, unſere Vortheile hoch⸗ 
halten, und kommen mit alledem doch zuletzt nicht 
weiter, als an jedem Tage die Befriedigung für dieſen 


246 


Tag zu ſuchen und fie gelegentlich auch einmal au er⸗ 
langen.“ 

„Das iſt nicht eben wenig!“ gab die Gräfin zu 
ebenen, „das iſt viel, denn aus Tagen ſetzt das Leben 
ſich zuſammen.“ 

„Gewiß, es iſt nicht wenig,“ gab ihr Konradine 
zu, „indeß es iſt nichts Großes, Nichts, das uns er— 
freuen kann, ſobald des Tages Befriedigung vorüber 
iſt. Es iſt das materielle Wohlbefinden, das auf ſolche 
Art erſtrebt und auch erreicht wird. Aber iſt es denn 
nicht eine Freude, einmal mitten unter allen Denen, 


die nach ſolchem billigen Wohlbefinden trachten, einem 
Herzen zu begegnen, das den glaubensvollen Traum 


der Jugend in ſich feſtzuhalten wünſcht und ſtrebt? 
das ſich nach der unvergänglichen Dauer des von ihm 
geliebten Schönen ſehnt, und eine ideale Erinnerung 
höher hält und achtet, als das Mitgehen und Mitleben 
in einer nüchternen Alltäglichkeit? Ich wollte, ich ver⸗ 
möchte zu empfinden wie der Baron. Und ich verſichere 
Sie, mein Freund, daß ich es in Ihrer Nähe immer 
mit einer Art von Beſchämung und Rührung empfinde, 
um wie viel Sie jünger und um wie viel Sie eben 
deshalb auch vertrauensvoller und beſſer ſind, als ich.“ 

Emanuel dankte ihr für dieſes Zugeſtändniß, und 
die Gräfin erhob keinen Einwand dagegen, weil es 
ihr erwünſcht war, die Beiden auf dem Wege eines 
ſo guten Einvernehmens anzutreffen. Da ſie ſich je⸗ 
doch nicht leicht für überwunden zu erklären vermochte, 
warf ſie das Bedenken auf, ob ſich in dem gefliſſent⸗ 
lichen Feſthalten an dem ſchönen Scheine der Erinne⸗ 


== — 


247 


rungen nicht ein gewiſſer Selbſtbetrug, ein muthloſes 
Zurückſchrecken vor den Bedingungen der harten Wirk⸗ 
lichkeit verberge, und ob man ſich nicht eben durch jene 
Verklärung des nicht mehr Vorhandenen, des Ent⸗ 
fernten, ungerecht gegen das mehr oder weniger Gute 
und Schöne werden laſſe, welches der Augenblick und 
die Gegenwart uns zu bieten vermöchten. 

„Sich durch die Vergangenheit um den Genuß 
und die Schaffensluſt in der Gegenwart, und um die 
Hoffnungen für die Zukunft berauben zu laſſen, wäre 
gewiß eine große Thorheit,“ entgegnete Emanuel. 
„Aber mich dünkt, daß man allem Gewöhnlichen und 
Alltäglichen ſehr gerecht ſein und es nach ſeinem 
Werthe und ſeiner Bedeutung fortdauernd würdigen 
kann, ohne darum die Heilighaltung eines Idealen 
aufzugeben. Man kann in dem Thale, in dem man 
ſeine Heimat gründet, ſehr zufrieden ſein, und ſchaffen, 
und ernten, ſelbſt wenn man auf den Gipfeln der Hoch⸗ 
gebirge reinere Luft geathmet und weiter hinausgeſchaut 
hat in die Herrlichkeit der Welt. Es iſt ein Unterſchied 
zwiſchen einem Idealiſten und einem müßig ſchwärme⸗ 

riſchen Träumer.“ 
| „Freilich, freilich,“ ſagte die Gräfin mit einem 
Anfluge von Ungeduld. Denn durchaus nur auf das 
Poſitive geſtellt, konnte ſie ſich nicht lange mit allge⸗ 
meinen Betrachtungen beſchäftigen, ohne daß ſie dieſes 
Allgemeine auf ein Beſonderes, auf ein Perſönliches 
bezog. Und ſo fügte ſie denn jenem raſchen, zuſtim⸗ 
menden Ausrufe auch ſofort die Bemerkung hinzu, daß 
trotz alledem der Idealismus ihr immer und vollends, 


248 


wenn ſie an die Ehe denke, als etwas ſehr Gefähr— 
liches erſchienen ſei. Wie will denn ein Ehemann, 
es mit Gleichmuth — um nicht zu ſagen mit der 
nothwendigen liebenden Ergebung hinnehmen, daß 
ſeine Gattin altert, an ihrer Schönheit, an ihrer Fri— 
ſche, an ihrem jugendlichen Frohſinne allmälig Ein⸗ 
buße erleidet, während er in idealiſtiſcher Empfindung 
ſich ſelbſt noch immer jung fühlt? Wie könnte eine 
Frau es ertragen, wenn irgend eine Jugendliebe in ewig 
unwandelbarer Schönheit und Heiterkeit vor dem jungen 
Auge ihres Mannes ſchwebte? Und wie müßte es voll⸗ 
ends auf einen ſolchen Idealiſten wirken, wenn ein 


unholder Zufall ihn einmal das einſt geliebte Ideal, 


ſeinen Inbegriff der Jugend und der Schönheit, als 
eine ſehr alltägliche und gealterte Hausfrau wieder 
ſehen ließe?“ | 

Sie hatte es damit auf eine leichte Beendigung 
der Unterhaltung abgeſehen, aber da es ihr ein- für 
allemal an jener Harmloſigkeit gebrach, welche einem 
Scherze ſeine Anmuth verleiht, ſo hatte ſich ihrer 
Phantaſie ſofort der beſondere Fall ihres Bruders auf⸗ 
gedrängt, und ſie hatte dies in einer Weiſe kundgegeben, 
die weder dieſem noch Konradinen einen Zweifel über 
ihre Meinung laſſen konnte. Sie bereuete das auch 
ſofort, denn gegen ihre Abſicht und gegen ihr 
Erwarten nahm der Baron ihre Andeutungen auf, 
und mit jener ſanften Gelaſſenheit, welche einen Grund⸗ 
zug ſeines Weſens machte, ſagte er: „Ich habe mich 
ſelbſt bisweilen gefragt, ob es, wie die Verhältniſſe 
ſich nun einmal entwickelt haben, mich freuen 


249 


könnte, Hulda wieder zu ſehen, und ich habe mir das 
verneinen müſſen; nicht etwa, weil ich daran zweifle, 
daß ſie ſich gleich, ſich ſelbſt gleich bleiben werde, ſon⸗ 
dern weil ich dazu noch nicht unſelbſtiſch genug und 
noch über unſer und über mein Verſchulden gegen 
ſie, und über die Folgen deſſelben für ſie, nicht beru⸗ 
higt bin.“ 

„Unſer Verſchulden gegen ſie?“ rief die Gräfin; 
„ich bin mir keines ſolchen gegen ſie bewußt:“ 

„Das wundert mich,“ entgegnete ihr Emanuel, 
ohne ſich von ihrer Lebhaftigkeit beirren zu laſſen. 
„Ich für meinen Theil erinnere mich ſehr deutlich jenes 
Gewitterabendes, bald nach unſerer Ankunft auf dem 
Schloſſe, an welchem zwiſchen uns Beiden zum erſten⸗ 
male die Rede von der Pfarrerfamilie und von deren 
Tochter war. Ich hatte Hulda damals eben nur ge⸗ 
ſehen, aber ihre Schönheit und ihr ſanftes Inſich⸗ 
beruhen hatten mir die Ueberzeugung gegeben, daß 
man dieſes, unter eigenartigen Verhältniſſen eigenartig 
aufgewachſene Mädchen, ſeiner eigenen Entwickelung 
überlaſſen müſſe. Du aber hatteſt andere Plane für 
ſie, Plane, mit deren Ausführung es ſchließlich auf 
Deine und Clariſſen's ſpätere Bequemlichkeit hinaus⸗ 
lief, und denen gegenüber Du meiner warnenden Bitte, 
an dieſes Mädchens Daſein nicht zu rühren, dieſe holde 
Menſchenblume nicht in fremdes Erdreich zu verpflanzen, 
kein Gehör gabſt. Du wieſeſt meine Warnung mit 
der Bemerkung ab, daß in der Natur ein- für allemal 
das Geringere ſich dem Höheren unterordnen, ihm 
dienſtbar ſein müſſe; und ohne auch nur ein ſicheres 


250 


Urtheil über die Begabung und Bedeutung dieſes Mäd- 
chens haben zu können, hielteſt Du Dich deshalb für 
berechtigt, den Eltern mit einer entſchiedenen Gewalt— 
thätigkeit das freie Selbſtbeſtimmungsrecht über ihre 
Tochter aus der Hand zu nehmen.“ 

Emanuel's Bemerkung erzürnte die Gräfin. „Du 
haſt dabei es nur vergeſſen,“ entgegnete ſie, „daß Du 
ſelber an jenem Tage mir ausdrücklich ſagteſt, des 
Mädchens Anweſenheit im Schloſſe würde Dich er— 
freuen. Auch Dir hatte ich ein Vergnügen durch die⸗ 
ſelbe bereiten wollen. Im Uebrigen hat Hulda bei 
uns wie bei der guten Kenney in jedem Betrachte För⸗ 
derung erfahren. Für ihre Zukunft iſt zudem jetzt 
ausreichend geſorgt, man kann in Erinnerung an ihren 
Vater auch weiterhin noch Etwas für ſie thun, und da 
Du auf das Selbſtbeſtimmungsrecht des Menſchen ſo viel 
Gewicht legſt, nun! ſo hat ſie ja durchweg nach ihrem 
eigenen Bedürfen über ſich entſchieden, ſowohl damals, 
als ſie gegen Deinen Wunſch bei ihrem Vater blieb, 
wie er es vollberechtigt von ihr fordern durfte, 
als jetzt, wo ſie nach eigenem Ermeſſen ihre Zu⸗ 
kunft feſtſtellt. Mein Gewiſſen iſt deshalb ſehr 
ruhig!“ | 

„Ich wollte, ich könnte das auch von mir ſelber 
ſagen!“ rief Emanuel. 

Die Gräfin zuckte ungeduldig mit den Schultern, 
und um der Unterhaltung kurz ein Ende zu machen, 
die ihr in Konradinens Beiſein peinlich war, ſagte 
ſie: „Du beſtärkſt mich mit Deinen reuevollen Sorgen 
nur in meiner Meinung von der Gefährlichkeit des 


251 


Idealismus. Das Mädchen hat fih einem Manne 
ihres Standes jetzt verlobt; was konnte es Beſſeres 


erwarten?“ Und ſich von ihrem Platze erhebend, meinte 


ſie, ſich mit lächelnder Miene gegen Konradine wen⸗ 
dend: „Wie doch, ſelbſt ein von Eitelkeit ſonſt freier 
Mann, den Gedanken nicht zu faſſen vermag, daß ein 
Mädchen ihn vergeſſen und an der Seite eines An⸗ 
deren glücklich, wahrſcheinlich glücklicher als an der 
ſeinen werden könne.“ 

Emanuel hielt ſich an dieſe letzten Worte, und 
mit einem Ernſte, der gegen den leichten Ton der 
Gräfin faſt feierlich erklang, rief er: „Gib mir dieſe 
Gewißheit, Schweſter, und Du wirſt eine ſchwere 
Sorge von mir nehmen. Denn Du haſt Recht, ich 
habe mich einer unverzeihlichen, ſelbſtſüchtigen Eitel⸗ 
keit anzuklagen, wenn ſchon nicht in dem Sinne, in 
dem Du es vorausſetzeſt!“ 

Er ſchwieg einen Augenblick und fuhr dann mit 
dem Freimuthe innerſter Wahrhaftigkeit fort: „Mein 
Leben lang hatte ich mich nach einer Liebe geſehnt, 
wie ſie mir in Hulda, ohne all mein Zuthun, wider 


all mein Hoffen entgegenkam, wie ich ſie reiner, ſchöner 


gar nicht finden konnte. Aber ſtatt ſie zu hegen, zu 
pflegen, zu ſtützen und groß werden zu laſſen in 
meines Herzens Obhut, verlangte ich von ihr eine 
Probe, die zu beſtehen über ihre Kraft ging, überließ 
ich ſie einem Einfluſſe, der heilige, alte, angeborene 
Rechte auf ſie geltend machte, und — ich ſtehe nicht 
an, auch dieſes auszuſprechen — von Konradinens 
Anweſenheit und ihrem Antheil mehr beſchäftigt und 


252 


geſchmeichelt, als mir zuſtand, von der gewaltigen 
Leidenſchaft unſerer Freundin falſche Rückſchlüſſe 
machend auf die Liebesſtärke und Charakterkraft des 
um ſo viel jüngeren und von ſchwerer Krankheit kaum 
geneſenen Mädchens, glaubte ich mich in verblendeter 
Eitelkeit nicht genug geliebt, meinte ich, Hulda ſolle 
in der Trennung fühlen lernen, was ſie an mir be⸗ 
ſeſſen habe, und ſich mir früher oder ſpäter in lie⸗ 
bender Erkenntniß wieder nahen. Daß ſie ſchwieg, 
daß ihr gekränktes Herz, ihr Ehrgefühl, und wer will 
ſagen, welcher Einfluß ihres in Abhängigkeit um ſeinen 
Mannesmuth gebrachten Vaters, ſie zu ſchweigen 
zwangen — das einzuſehen war ich aus Eitelkeit zu 
blind, zu eigenſinnig. Erſt, da ſie mirs wortlos den 
Ring zurückgeſendet hatte, kam mit der vollen Reue 
über mein Vergehen gegen ſie, die ganze ſchmerzende 
Erkenntniß des Verluſtes über mich, den ich mir ſelber 
zugezogen hatte; während doch der Zweifel, ob ſie 
wirklich vergeſſen konnte, und ob ſie wirklich glücklich 
iſt, mich bis auf dieſe Stunde nicht verläßt.“ 

„So lege ihr offen dieſe Frage vor!“ rief die 
Gräfin, der es immer und überall nur um die Be⸗ 
friedigung ihrer Angehörigen zu thun war. 

„Soll er neue Unruhe, darf er Zwieſpalt in ihre 
Seele werfen,“ wendete Konradine ein, die mit tiefer 
Theilnahme dem Gange des Geſpräches gefolgt war, 
„wenn ſie vielleicht nicht ohne Kampf zum Frieden 
gekommen iſt? Oder ſoll er trübe Schatten an dem 
Heiligthume eines Glückes heraufbeſchwören, wenn ſich 
ihr junges Herz, wirklich geheilt, in froher Liebe einem 


er 


253 


anderen jungen Herzen zugewendet hat? Solche Frage 
nach ſo langem Schweigen kann gefährlich, kann min⸗ 


deſtens ſo unheimlich verwirrend und erſchreckend wir⸗ 


ken, wie die Erſcheinung eines Todtgeglaubten!“ 
„Das iſt es! Das iſt es, was ich mir ſage, und 
was mich hindert, ihr jene Frage vorzulegen!“ rief 
Emanuel mit lebhafter Bewegung aus. „Ich habe 
mein Recht an ſie verſcherzt, ich darf mir nicht er⸗ 
lauben, jetzt mit einer Frage vor ſie hinzutreten, die 
neuen Zwieſpalt in ihr Leben bringen könnte. Aber 
die Stunde, in welcher ich fie wiederſehen, fie glück⸗ 
lich auch an eines Anderen Seite wiederſehen würde, 
dieſe Stunde würde ein ſchmerzliches Gefühl der Reue 
von mir nehmen; und wenn dann auch an ihr der 
Lauf der Jahre nicht ohne Spur geblieben wäre, wenn 
ſie nicht ausgenommen wäre von dem Geſetze, dem 
wir Alle unterliegen — mir, ich ſchäme mich nicht, 
es auszuſprechen, mir wird ſie unverändert in der 


Seele leben als die leuchtende Göttin der Aehren, 


wie ich ſie zuerſt geſchaut, als ein Ideal der unent⸗ 
weihten, friſchen Jugend, und ich werde es ihr nicht 


vergeſſen, daß ſie mich geliebt hat!“ 


Er ſtand mit dieſen Worten auf und verließ das 
Zimmer. Konradine ſah, daß er im Hinausgehen mit 
der Hand die Augen trocknete. Auch ihre Augen waren 
feucht geworden. Er war ihr nie werther geweſen, ſie 
hatte ihn nie höher gehalten und lieber gehabt, als in 
dieſem Augenblicke. 

„Wie Wenige gibt es, die ihm gleichen!“ ſagte 
ſie zur Gräfin. 


— 
— 
en 


254 


„Ich wollte zu ſeinem Heil und zu dem unferen, 
daß er anders wäre!“ entgegnete ihr dieſe, unmuthig 
ſeufzend. „Er wird die Menſchen und die Welt nie 
kennen lernen wie ſie ſind, und eben dadurch nie zu 
jenem mäßigen, aber geſunden und dauernden Be⸗ 
hagen kommen, das die bedingten irdiſchen Zuſtände 
doch allein ermöglichen. Er an leiden und leiden 
machen, ſo lange er nach dem Idealen, Abſoluten 
ſtrebt; gleichviel ob er es für ſich, für einen An⸗ 
deren oder für das Allgemeine fordert.“ 

„Um ſo mehr hat er ſelbſtloſer Liebe, ſelbſtloſer 


an nöthig, ihm Wirklichkeit und Ideal auge 


gleichend zu vermitteln!“ meinte Konradine. 

„So machen Sie ſich ihm zu der Vermittlerin,“ 
fiel ihr die Gräfin lebhaft ein, „und mein Herz, das 
mit weit mehr Liebe an ihm hängt, als Sie es viel⸗ 


leicht glauben, wird dankbar die Stunde ſegnen, in 


der Sie ſich dazu entſchließen.“ 

Konradine blickte ihr feſt in das Auge. Sie ſah, 
daß die Gräfin ſehr bewegt war, und ernſt wie dieſe 
entgegnete ſie ihr: „Heute, eben in dieſer Stunde 
habe ich es gedacht, daß es ein Großes ſein müßte, 
mit einem Manne wie Emanuel in dem Aether jenes 
reinen Denkens und Empfindens zu leben, von dem 
uns im Getriebe des Alltagslebens kaum ein Hauch 
noch übrig bleibt. Aber mit allem meinem Selbſtge⸗ 
fühle — oder vielleicht um dieſes Selbſtgefühles willen, 
und weil ich die Elemente kenne, aus denen es ſich 
zuſammenſetzte, habe ich mir ſagen müſſen, dazu ge⸗ 
hört ein anderes Herz als meines, ein weniger ge⸗ 


255 


trübter Sinn, als der meine. Emanuel, wie ſeine 
Zukunft ſich auch geſtalten mag, Emanuel iſt, ſelbſt 
wo er irrt und fehlt, uns überlegen. Man muß ihn 
ſeine eigenen Wege gehen laſſen!“ 

„Und wohin werden ſie ihn führen?“ warf die 
Gräfin ein. 

„Gewiß zu einem ihm gemäßen Ziele.“ 

„Es liegen jetzt ernſte Pflichten, es liegt gewie- 
ſene Arbeit vor ihm!“ erinnerte die Gräfin. 

„Wenn er es ſich zutraut, ſie bewältigen zu können, 
wird er ſie ergreifen!“ 

„Und wenn nicht?“ 

„Nun, dann hat unter den Millionen, die ſich 
auf der Erde nach Erwerb begierig und nach Ehre 
durſtig, jagend drängen, einmal Jemand eine Aus⸗ 
nahme davon gemacht, weil ihn ſein Geſchick der Mühe 
des Erwerbes enthob, weil ihn frühe Krankheit von 
der allgemeinen Rennbahn fernhielt. Und wenn er 
unter dieſen beſonderen Bedingungen ſich zu einem 
Manne entwickelte, deſſen milder Sinn uns ſtets er⸗ 
freut, wenn er in ſich den Glauben an das Gute, 
an das Große, an das Schöne, das Vertrauen zu den 
Menſchen aufrechtzuerhalten wußte, die verloren zu 
haben wir Anderen als ein Unglück erkennen, ſollen 
wir ihn deshalb nicht als einen Glücklichen bezeichnen? 
Sollen wir uns nicht daran erfreuen, daß er iſt, wie 
er iſt, und daß wir von ihm beſſer denken dürfen als 
von uns?“ 

„Konradine,“ rief die Gräfin, „ſo ſeheriſch und 
ſo gerecht iſt nur die Liebe.“ 


256 


„Ja, die Liebe, die keinen Anſpruch irgend einer 
Art für ſich erhebt,“ ſetzte Konradine hinzu, ohne 
durch den Ausruf der Gräfin irgendwie beirrt zu 
werden, „und ich wollte, theure Frau, auch Sie ließen 
ihn gewähren, auch Sie verlangten, erwarteten von 
ihm Nichts für die Förderung Ihrer Zwecke. Um wie 
viel reiner und inniger würden Sie ſich zu einander 
finden!“ | 

Die Gräfin umarmte fi. Es war ſchon dunkel 
geworden. Emanuel kam, wie es früher oder ſpäter 
an jedem Abende geſchah, die Freundin nach ihrer 


Wohnung hinüber zu geleiten. Die Gräfin aber fer⸗ 


tigte noch in derſelben Stunde das Schreiben aus, 
das dem Adjunktus unter weſentlich verbeſſerten Be⸗ 
dingungen die frei gewordene Pfarrerſtelle zuſprach; 
und ſie ſchrieb daneben ihrem Amtmanne, daß ſie ſich 
der Verlobung Hulda's mit dem Pfarrer aufrichtig er⸗ 
freue, daß damit der Wunſch des verſtorbenen Pfarrers 
in Erfüllung gehe, daß man die Hochzeit je eher je 
lieber feiern möge, und daß eine nicht unbeträchtliche 
Summe, die zu zahlen fie den Amtmann anwies, als 
das Brautgeſchenk der Gräfin für Hulda's Einrichtung 
verwendet werden ſolle. 


Zwanzigſtes Capitel. 


Das offene Ausſprechen hatte gut gewirkt, denn 
es hatte fortan die ſcheue Vorſicht, welche Emanuel 
und die Gräfin ſeit ihrer Wiedervereinigung gegen 
einander beobachtet hatten, unnöthig gemacht. Ein 
Jeder wußte jetzt unwiderleglich, was und wie der 
Andere dachte, man konnte ſich alſo freier, rückhalt⸗ 
loſer gehen laſſen, und wie Konradinens Neigung für 
den Freund mit jedem Tage an Wärme und an Zärt⸗ 
lichkeit gewann, ſo hatte auch der Gräfin Antheil an 
Konradine ſich erhöht. Sie wußte Weichheit und Hin⸗ 
gebung in einem ſtarken Frauenherzen wohl zu wür⸗ 
digen, und da ſie ihren Bruder wirklich liebte, war 
es ihr eine Freude, ihn ſelbſt in jenen Eigenſchaften, 
welche ihr als Schwächen an ihm erſchienen, von der 
ſchönen Stiftsdame verſtanden und gewürdigt zu 
finden, die ſie jetzt mit Zuverſicht als ſeine künftige 
Gattin anzuſehen begann. 

Es hatte ſich zwiſchen den Beiden auch ein ſchönes 
Vertrauen herausgebildet. Sie genoſſen mit Be⸗ 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 17 


258 


wußtſein eines freien, beſtändig wachſenden Einver⸗ 
ſtändniſſes, das eben, weil es zwiſchen Perſonen ver— 
ſchiedenen Geſchlechtes ſtattfand, einen erhöhten, be— 
lebenden Reiz gewann. Konradine hatte ſich in der 
Zurückgezogenheit des Stiftes ernſterem Leſen und 
dauernderem Nachdenken hingegeben, ſie fand daher 
Freude und zeigte Theilnahme an Emanuel's mannig⸗ 
fachen Studien, die hinwiederum zu erörternden Ge⸗ 
ſprächen reichen Anlaß gaben. Während man ſo in 
müheloſer Muße, in vornehmer Beſchaulichkeit, nur 
mit einander und mit den eigenen Gedanken und 
Empfindungen angenehm beſchäftigt, die ganze Herr⸗ 
lichkeit eines friſchen ſonnigen Spätherbſtes genoß, 
floſſen die Stunden unmerklich dahin. Die Zeit, welche 
für Konradinens Aufenthalt an dem See beſtimmt ge⸗ 
weſen war, nahte ihrem Ende, und ohne daß man 
es einander eingeſtand, begann man heimlich die Zahl 
der Tage nachzurechnen, während deren man ſich dieſes 
beglückenden Beiſammenſeins noch verſichert halten 
konnte. | | 

Aber man meinte noch auf manche ſchöne Stunde 
hoffen zu dürfen, als ein Brief des jungen Arztes, 
der den Majoratsherrn und deſſen Gattin nach ihrem 
gegenwärtigen Aufenthalt im Süden geleitet und dort 
ſeine Pflege übernommen hatte, die Geſchwiſter des 
Kranken davon in Kenntniß ſetzte, daß ſie nicht ſäumen 
dürften, ſich zu demſelben zu verfügen, wenn ſie ihm 
das Wiederſehen, nach welchem er verlangte, noch be= 
reiten wollten. 


259 


Man hatte dieſe Kunde an jedem Tage erwarten 
müſſen, der bevorſtehende Tod des Majoratsherrn hatte 
in allen Planen der Gräfin ſeinen Platz gehabt, man 
hatte im Voraus um den drohenden Verluſt des treff⸗ 
lichen Mannes, des geliebten Bruders oft gelitten und 
geklagt, es war Nichts in der Botſchaft, das beſtürzen 
oder irgend Jemanden überraſchen konnte. Aber das 
Leben ſchreckt immer zuſammen, wenn der Tod an 
daſſelbe herantritt, und ſo nothwendig iſt für Jeden 
der Glaube wenigſtens an eine verhältnißmäßige Dauer 
der Zuſtände, in denen zu exiſtiren ihm leben heißt, 
daß man Mühe hat, ihr Ende, mag es in langſamer 
Annäherung oder plötzlich über uns hereinbrechen, zu 
begreifen, zu ertragen. Die Gräfin war indeß noch 
ganz beſonders von der Kunde erſchüttert. 

„Es ruht ein eigener Unſtern über den Hochzeits- 
feſten meiner Kinder,“ ſagte ſie zu Konradinen, als 
dieſe, von Emanuel benachrichtigt, aus ihrer Villa 
hinübergekommen war, den Freunden in ſolchem Augen⸗ 
blicke nicht zu fehlen. „Clariſſens Trauung, die wir 
im Kreiſe der ganzen beiderſeitigen Familien zu feiern 
gedacht hatten, mußte im Trauerjahre um ihren Vater, 
an dem Sterbebette ihres Schwiegervaters vollzogen 
werden; und ſelbſt wenn ich darauf verzichten wollte, 
der Ceremonie beizuwohnen, wird jetzt meines Sohnes 
Hochzeit nothwendig einen Aufſchub erleiden müſſen. 
Man kann es nicht darauf ankommen laſſen, daß er 
e eben in demſelben Augenblicke den Bund für 
das Leben ſchließt, in welchem wir den Bruder aus 

17* 


260 


dem Leben ſcheiden ſehen. Bei der lebhaften Phan⸗ 
taſie ſeiner Braut, bei ihrem Zuge zu religiöſem My⸗ 
ſticismus könnte das leicht einen verwirrenden Ein⸗ 
druck in ihrem Gemüthe zurücklaſſen, und ſie würde 
bei all den mehr oder weniger unheilvollen Zufällen, 
von denen kein Menſchenſchickſal frei iſt, auf ihren 
Hochzeitstag zurückblickend, an eine üble Vorbedeutung 
glauben. Davor muß man ſie in jedem Falle be⸗ 
wahren.“ 5 

„Clariſſens Beiſpiel könnte es ihr aber doch be— 
weiſen,“ meinte Emanuel, „wie wenig das Glück der 
Ehe von den Umſtänden abhängt, unter welchen ſie 
eingeſegnet wird.“ 

„Ja, wenn träumeriſch grübelnde Naturen, wie 
die ihre, mit Vernunftgründen zu überzeugen wären,“ 
entgegnete die Gräfin, „oder wenn mein Sohn und 
ſeine Braut einander im Denken und Empfinden ſo 
ähnlich wären als Clariſſe und der Fürſt. Aber da 
meines Sohnes raſche Lebensluſt, ſeine Gewohnheit, 
die Dinge leicht zu nehmen und das Unbequeme von 
ſich abzuweiſen, und die Inſichgekehrtheit ſeiner Braut, 
ihre Neigung zu fürchtenden Sorgen und bangem, 
ahnendem Verbinden des Zufälligen, ſich einander 
ſchroff entgegenſtehen, ſo erfordert es die Vorſicht, 
Alles zu vermeiden, was das Gemüth des lieben 
Mädchens beunruhigen könnte. Denn daß ich es nur 
geſtehe, trotz der ungewöhnlichen Gunſt aller äußeren 
Glücksbedingungen kann ich mich bisweilen der beun⸗ 
ruhigenden Frage nicht entſchlagen, wie ſo verſchieden 
geartete Naturen, wenn ſie ſich auch zu einander 


261 


finden konnten, ſich dauernd in einander ſchicken 
werden.“ 

„Vielleicht müheloſer als Du es erwarteſt,“ ver⸗ 
ſetzte Emanuel, „ſofern ſich nur in Beiden Elemente 
finden, die einander ergänzen und ſich an einander 
entwickeln können. Wenn Deines Sohnes Frohſinn 
und Julia's zur Schwermuth neigendes Gemüth ſich 
mit einander in das Gleiche ſetzen, ſo würde daraus, 
wenn auch nicht das helle Licht, das über Clariſſens 
Haus leuchtet, ſo doch ein ruhiges Chiaroscuro ent⸗ 
ſtehen, in welchem es ſich wie in einer gemäßigten 
Zone behaglich leben läßt, beſonders wenn der Mann 
und die Frau, wie dies hier ſicher zu erwarten ſteht, 
doch Jedes noch ſeine eigene Welt für ſich in Anſpruch 
nehmen werden. Das gibt dann freilich nicht das 
allerhöchſte Glück, aber doch jenen mittleren Zuſtand, 
in welchem die Mehrzahl der Menſchen ſich ſehr wohl 
behagt.“ 

Die Gräfin, der ähnliche Sorgen nur ſelten zu 
kommen pflegten und die es gar nicht beſſer verlangte, 
als ſie verſcheucht zu ſehen, ſtimmte ihm ohneweiteres 
bei. Auch Konradine meinte, daß ihr völlige Gleich⸗ 
heit der Charaktere durchaus kein Erforderniß für 
das Glück der Ehe zu ſein ſcheine, vorausgeſetzt, daß 
nur eine Uebereinſtimmung in den ſittlichen An⸗ 
ſchauungen und in den Hauptforderungen vorhanden 
ſei, welche man an das Leben ſtelle. 

„Und daß der Mann ein ganzer Mann, die Frau 
in 9 Hingebung ein echtes Weib ſei,“ fügte die 
Gräfin hinzu, der es aus Vorliebe für das Her⸗ 


262 


gebrachte gelegentlich wohl begegnen konnte, derartige 
Sätze auszusprechen, ſelbſt wenn fie und ihre Eigen— 
art als Beweis des Gegentheiles gelten durften. Denn 
Niemand beſaß jene ſogenannten echt weiblichen Eigen⸗ 
ſchaften, auf die ſie hinwies, weniger als gerade ſie, 
und doch hatte fie ihren verſtorbenen Gatten ſehr be= 
glückt und ihre Ehe hatte als ein Vorbild gelten 
dürfen. | | 
Auch konnten die beiden Anderen, da ihre Blicke 


ſich bei der Gräfin Ausſpruch trafen, das flüchtige 


Lächeln ihres Einverſtändniſſes nicht ganz verbergen, 
und Konradine bemerkte: „Es fällt mir auf, eben 
von Ihnen, theure Frau, den Glauben an die abſolute 
Geſchiedenheit der Eigenſchaften in den beiden Ge⸗ 
ſchlechtern ſo ſcharf hervorheben zu ſehen, da wir doch 


fortdauernd von dem Gegentheile die Beiſpiele vor 


Augen haben. Ich kenne Frauen, auf welche, neben 
jenen Eigenſchaften, die wir als die weiblichen zu be⸗ 
zeichnen gewohnt ſind, ſich unverkennbar ein großer 
Theil der väterlichen Begabung — und oft auch der 
väterlichen Züge — fortgeerbt hat. Und ebenſo be⸗ 
gegnet man ſehr tüchtigen, bedeutenden Männern, aus 
deren charaktervollem Antlitz uns ein paar Augen mit 
ſo mildem Glanze an ſehen, aus deren breiter Bruſt 
uns eine ſo weiche Stimme anſpricht, und in denen 
Kraft und Weichheit ſich ſo eigenartig miſchen, daß 
man durchaus behaupten darf, es ſei ein Gemüth, eine 
Hingebung, ein Liebesbedürfniß und auch eine Liebe⸗ 
fähigkeit in ihnen vorhanden, wie man ſie herge⸗ 
brachterweiſe nur den Frauen zuzuſchreiben pflegt. 


RT SIT 


2 —— 


= 


263 


Warum ſollten derartig angelegte Menſchen ſich nicht 
zuſammenfinden, ſich nicht ineinander ſchicken und 
einander zu ihrem Heil ergänzen können, ohne daß 
auch nur Einer von Beiden jenes vollendete Bild der 
Männlichkeit oder Weiblichkeit in ſich darſtellt, das 
Sie mit den Worten: „ein ganzer Mann, ein echtes 
Weib“ vorhin bezeichnen wollten?“ 

Die Gräfin hatte ihr achtſam zugehört. Sie 
mochte dieſe Anſchauung in Konradinen nicht voraus⸗ 
geſetzt haben, aber ſie ließ ſie ohne Einwand gelten und 
verſetzte, dieſelbe nach der einen Seite bekräftigend: 
„Was Sie von der ungleichen Vererbung der Eigen- 
ſchaften auf die verſchiedenen Geſchlechter ſagen, an⸗ 
erkenne ich für meinen Theil unbedingt. Ich habe 
mehr von meines Vaters als von der Mutter Natur 
in mir. Auch bei Ihnen möchte man das Nämliche 
behaupten; während meine Kinder Beide ihrem Groß⸗ 
vater väterlicherſeits bis in ſeine kleinen Eigenheiten 
ähnlich ſind, und meinen Brüdern, vor Allen Emanuel, 
die Gemüthsanlagen und die Gemüthstiefe unſerer 
Mutter zu Theil geworden ſind. Das ſind Spiele der 
Natur, und glücklich genug, wenn ſie zu unſerem Heil 
ausſchlagen.“ 

Sie erhob ſich mit den Worten und verließ die 
beiden Anderen, da die Zeit vor der am nächſten 
Mittage bevorſtehenden Abreiſe noch von mancherlei 
Anforderungen hingenommen war. Konradine trat 
auf die Terraſſe hinaus, Emanuel folgte ihr dorthin. 

Die Sonne ſtand hoch am Himmel, es war wie 
im Sommer hell und warm, nur daß die Luft ſich 


264 


erquickender und leichter athmen ließ. Die Roſen 
blühten noch und hingen in reicher Fülle von den 
Zweigen des Laurus und von den Aeſten der Feigen⸗ 
bäume hinab, zu denen ſie emporgeklettert waren, und 
miſchten ſich dort oben mit der zweiten Fruchtreife. 
Auch aus dem dunkeln Grün der Cypreſſen, die ſich 
an den Seiten der Terraſſe hinzogen, ſahen die 
Roſen leuchtend hervor, und nach dieſen hinblickend, 
ſagte Emanuel: „Das iſt recht ein Bild der Zuſtände, 
in denen wir uns jetzt befinden, Roſen von Cypreſſen 
rings umgeben. Und es iſt doch ſchön, dieſes In— 
einanderranken von Trauer und Freude, eine die 
andere ſänftigend, Troſt verheißend und zur Beſcheidung 
mahnend.“ 

Konradine folgte ſeinem Blicke, und wie ihre 
Augen dabei weiterſchweifend die ſchimmernde Fläche 
des Sees betrachteten, den die ſchneebedeckten Berge 
in ſich umſchloſſen hielten, ſagte ſie: „Daß wir das 
Alles morgen nicht mehr ſehen, daß dieſe Schönheit 
ſchon nach wenigen Stunden für uns nicht mehr vor⸗ 
handen ſein wird! — Man kann es kaum glauben 
und man denkt es auch nicht gern.“ 

„Es waren ſanfte, ſchöne Tage, die wir hier verleb⸗ 
ten, die wir Ihnen hier verdankten,“ entgegnete Emanuel, 
„und es geht mir wie Ihnen. Auch ich habe Mühe 
mir vorzuſtellen, daß ſie nun vorüber ſind. Wir leben 
uns in das Gute, in das, was uns gemäß iſt, ſo leicht 
ein. Wie ſpielende Kinder überlaſſen wir uns immer 
auf das Neue dem Glauben, auf ſicherem Kahn in 
ruhigem Fluſſe immer weiter fortzugleiten; und plötz⸗ 


265 


lich von einer Stromſchnelle gewaltig fortgezogen, 
ſchrecken wir empor, weil wir uns weit ab von dem 
Ziele finden, dem wir zugeſtrebt haben, und weil wir 
wieder einmal die melancholiſche Erfahrung machen, 
wie wenig Sicherheit des Glücks es für uns giebt.“ 
„Das Bild, das Sie brauchen,“ verſetzte Kon⸗ 
radine, „iſt heute auch für mich und meinen Zuſtand 
ſehr bezeichnend. Ich habe am Morgen einen Brief 
von unſerer Aebtiſſin empfangen mit einer Nachricht, 
die meine innere Ruhe angetaſtet hat, und die meinen 
Planen für die Zukunft und meinen Erwartungen 
von derſelben wahrſcheinlich ein Ende machen wird.“ 
Emanuel fragte, was das heißen ſolle. 
„Sie wiſſen,“ gab ſie ihm zur Antwort, „daß 
vor einigen Wochen eine unſerer jüngeren Damen, 
die ſich verlobte, das Stift verlaſſen hat. Heute 
meldet mir die Aebtiſſin, daß man, Abſtand nehmend 
von der ganzen Reihe der eingeſchriebenen Aſpiran⸗ 
tinnen, jene Stelle der Prinzeſſin Marianne, der 
älteſten Schweſter des Prinzen Friedrich, zugeſprochen 
hat, und daß dieſe noch im Laufe des Herbſtes ihren 
erſten Aufenthalt bei uns zu nehmen gedenkt.“ 
„Und Sie ſcheuen die Begegnung mit ihr?“ 
„Eine Begegnung mit ihr würde ich leicht er⸗ 
tragen, aber die Ausſicht auf ein langes, dauerndes, 
unvermeidliches Zuſammenſein mit ihr, iſt mir nicht 
willkommen. Dazu unterliegt es keinem Zweifel, daß 
man ihr dieſe Stelle nur angewieſen hat, um ſie 
ſpäter zur Aebtiſſin zu ernennen, denn nur in dieſer 
Vorausſicht wird ſie dieſelbe angenommen haben. 


266 


Sich mit uns Anderen dauernd auf gleiche Stufe hin⸗ 
zuſtellen, iſt ſie viel zu ſtolz und viel zu herriſch. 
Damit ſind denn nun die Schritte, welche die Aebtiſſin 
bei ihrer letzten Reiſe in meinem Intereſſe gethan hat, 
vergeblich geweſen, und die faſt bindenden Zuſagen, 
welche ihr höchſtenorts in dem Betracht gegeben worden 
ſind, natürlich aufgehoben. Man war ſo weit 
gegangen, mich ſchon im Beginne des nächſten Jahres 
zu ihrer officiellen Stellvertreterin bei Krankheits⸗ 
fällen oder ſonſtigen Störungen ernennen zu wollen, 
und ſie ſchreibt mir, dies zu thun, ſei man auch jetzt 
noch geſonnen. Natürlich! denn man will der 
Prinzeſſin für die Zukunft die Mühe und die Arbeit 
im voraus von den Schultern nehmen; man möchte 
mich ihr zu einem bequemen Beamten machen. Aber 
unter den obwaltenden Verhältniſſen paßt dieſe Auf⸗ 
gabe mir nicht mehr.“ 

„Haben Sie denn wirklich daran denken können,“ 
wendete Emanuel ein, „Ihre Zukunft ganz dem 
Stifte zu weihen, die Angelegenheiten dieſer kleinen 
Frauengemeinde als Ihre Lebensaufgabe über ſich zu 
nehmen?“ 

„Und warum nicht?“ entgegnete ſie ihm. „Ich 
habe in unſerem Stifte eine feſte Heimat und eine 
dauernde, zuſammenhängende Beſchäftigung gefunden, 
zwei Dinge, die ich bis dahin nicht gekannt habe, und 
die ich auf unſerem eſthländiſchen Gute nicht finden 
würde, ſo lange — und ich hoffe, es wird lange 
ſein — ſo lange meine Mutter lebt, die es ihrem 
Verwalter überantwortet hat, in den ſie mit Recht 


267 


Vertrauen ſetzt. Dazu handelt es ſich, wie Sie willen, 
bei uns im Stifte nicht nur um die Einkünfte des⸗ 
ſelben. Es hängen Ortſchaften mit ihren Einwohnern 
von dem Stifte ab, es iſt eine kleine Herrſchaft, die 
man dort zu leiten hat, für deren Inſaſſen man ver⸗ 
antwortlich iſt. Ich habe viele von den Leuten, habe 
ihre Bedürfniſſe kennen gelernt, konnte perſönlich 
manche Hilfe leiſten, mancher Ungerechtigkeit begegnen. 
Ich war gerne in dem Stifte und dachte mit Zuver⸗ 
ſicht an meine Rückkehr in daſſelbe, an den mir lieb 
gewordenen Wirkungskreis.“ 

Sie brach ab, Emanuel ſchwieg ebenfalls; ſo 
blieben ſie, ihren Gedanken nachhängend, eine geraume 
Weile neben einander ſtehen, bis er leiſe ſeine Hand 
auf ihre legte, ihre Achtſamkeit auf ſich zu ziehen. Wie 
ſie ihn anſah, fiel ihr der Ausdruck ſeiner Mienen 
auf. Sie fragte ihn, was ihn bewege. 

„Ich gehe mit mir zu Rathe, ob ich es wagen 
darf, Ihnen eine Frage vorzulegen, die ſich mir in 
dieſer Stunde aufdrängt!“ gab er ihr zur Antwort. 
Dann hielt er inne, und mit einer ſchüchternen Zu⸗ 
rückhaltung, die ihm bei ſeinem Ernſte ſehr wohl an⸗ 
ſtand, ſagte er: „Sie beſorgen, die Ihnen lieb ge- 
wordene Heimat, den Ihnen gemäßen Wirkungskreis 
im Stifte nicht unverändert wiederzufinden. Sie 
fürchten, auf dieſelben aus Gründen, die mir ein⸗ 
leuchten, vielleicht verzichten zu müſſen. Es ſcheint 
mir aber, als ob Sie keine weiteren beſonderen Plane 
für ſich hätten, als ob Sie nicht danach verlangten, 
in die Geſellſchaft der großen Welt zurückzukehren, in 


263 


welcher Auszeichnungen aller Art Ihnen jetzt noch 
weniger als früher fehlen würden, und Sie haben es 
mir zu meiner großen Freude ausgeſprochen, daß unſer 
Beiſammenſein auch Ihnen lieb geweſen iſt, auch 
Ihnen wohl gethan hat.“ 

Er hielt zögernd inne, und mit einer Stimme, 
in welcher das Klopfen ſeines Herzens hörbar wieder: 
klang, ſagte er danach: „Ich bin nicht dazu gemacht, 
Konradine, einer Frau wie Sie, von Liebe zu ſprechen, 
und meine neueſten Erfahrungen würden mir das be— 
ſtätigt haben, hätte ich irgendwie im Zweifel darüber 
ſein können. Dazu haben Sie einen Mann geliebt, 
mit deſſen glänzenden, fortreißenden Eigenſchaften ich 
mich in keiner Rückſicht meſſen darf. Aber eine wür⸗ 
dige Heimat und einen ſegensreichen Wirkungskreis, 
die kann ich Ihnen bieten auf den Gütern, die mir 
zufallen, und die ich freudiger übernehmen würde, wenn 
Sie ſich entſchließen könnten, dort mit mir zu woh⸗ 
nen; wenn die Gewißheit, einem Manne, der Sie 
von Herzen hochhält und Ihren Werth mit liebender 
Bewunderung erkennt, das Leben lieb und zum Ge⸗ 
nuſſe zu machen, Sie ſchadlos halten könnte für jene 
Eigenſchaften, die mir fehlen; wenn Sie gewillt 
wären, wahr zu machen, was Sie heute ſo tief und 
richtig von den ſich ausgleichenden und einander er⸗ 
gänzenden Elementen in der Ehe ausgeſprochen haben.“ 

Konradine hatte Nichts weniger als das erwartet, 
aber ſeine ernſte Gefaßtheit ergriff ſie, und ihr er⸗ 
glühendes Antlitz in ihren Händen bergend, rief ſie: 


269 


„Ach! warum haben Sie mir das gerade heute, gerade 
jetzt geſagt!“ 
| Er trat erſchreckend von ihr fort, aber ſich ges 
waltſam faſſend, ſprach er: „Verzeihen Sie es, wenn 
es Ihnen widerſtrebt. Es ſoll nicht ausgeſprochen 
ſein. Vergeſſen Sie es, wie ich vergeſſen will, daß 
ich mehr wünſchte und erſtrebte, als Sie mir ge⸗ 
währten.“ | 
„Soll ich Ihrem Mitleid ſchulden,“ rief fie, 
„was Sie mir ohne daſſelbe nicht zu bieten dachten?“ 

„Welch ein Wort iſt das! Wie mögen Sie fi 
und mir alſo wehe thun, wo Sie in ſo hohem Grade 
die Gewährende ſind? Nicht die Umſtände, welche 
Ihnen vielleicht die Entfernung aus dem Stifte wün⸗ 
ſchenswerth machen, es ſind die Gedanken, welche Sie 
heute als Ihre Ueberzeugung dargelegt, die mich er⸗ 
muthigt haben, Ihnen mein Wünſchen zu offenbaren, 
Ihnen meine Hand zu bieten. Nehmen Sie ſie an. 
Auch jenſeits der glänzenden Erwartungen, auf deren 
Verwirklichung das Herz der erſten Jugend hofft, iſt 
Glück vorhanden, wird es für uns, ich hoffe es voll 
Zubverſicht, vorhanden fein können.“ 

„Und ich ſollte Ihnen, ſollte der Gräfin den 
Glauben aufnöthigen, daß ich mit jenen Worten, die 
ich heut' Gott weiß wie arglos! ausgeſprochen habe, 
Ihrer oder meiner dachte?“ 

Emanuel fand in ſeiner Seele für dieſe Be⸗ 
denken weder Urſache noch Wiederhall, aber ſein altes 
Mißtrauen in ſich ſelbſt ward vor ihnen rege. Er 
beſorgte, Konradine ſuche Gründe für eine Weige⸗ 


270 


rung, und obſchon es ihm ſehr wehe that, ſagte er 
ſanft und ruhig: „Ich will Sie nicht bedrängen, will 
Ihnen nicht zurückgeben oder auf mich anwenden, was 
Sie von Mitleid ſprachen, und was in Ihrem Munde 
ſo unberechtigt war. Ueberlegen Sie in aller Ruhe. 
Nur das Eine laſſen Sie mich ſagen und das glauben 
Sie mir: Ihre Nähe iſt für mich ein großer Segen. 
Ihre Neigung gewinnen, zu Ihrer Zufriedenheit bei— 
tragen zu können, würde mich glücklich machen; und 
wenn Sie, wie ich hoffe, die Wa 1 Verwun⸗ 
derung der Unbetheiligten —“ 

Konradine ließ ihn nicht vollenden. „Nicht wei⸗ 
ter!“ rief ſie; „das hieße wirklich Ihnen zu nahe 
thun und mir,“ fuhr ſie fort; „aber ich habe das 
verdient mit meinem alten, falſchen Stolz. Laſſen 
Sie mich es nicht entgelten. Ich bin ſicher, Sie 
fühlen es, wie theuer Sie mir ſind, und was wir 
wünſchen und erſtreben, wiſſen wir. Mit voller Zu⸗ 
verſicht bin ich die Ihre!“ Sie reichte ihm beide 
Hände hin, er küßte ihr die Hand, er nannte ſie mit 
Zärtlichkeit die Seine, und bewegten Gemüthes, herz⸗ 
lich einander zugeneigt, voll guten Willens und voll 
guten Glaubens an die Zukunft, ſo ſchritten ſie Arm 
in Arm dem Hauſe zu, ſich der Gräfin als Verlobte 
vorzuſtellen. 

Es geſchah der Gräfin ſelten, daß die Freude ſie 
überwältigte, wie in dieſer Stunde. Sie nannte Kon⸗ 
radine ihre Schweſter, ihre Tochter; ſie pries es als 
eine große Gunſt des Schickſals, daß der Sonnen⸗ 
ſchein dieſer freudigen Botſchaft noch die letzten Tage 


271 


ihres ſterbenden Bruders erhelle, und von der her— 
gebrachten Sitte abſehend, ſobald es die Genugthuung 
eines der Ihren galt, ſprach ſie den Wunſch aus, daß 
die Verlobten Beide ſie auf der Reiſe, die man mor⸗ 
gen anzutreten hatte, begleiten möchten, um noch den 
Segen des Bruders zu empfangen, in deſſen Rechte 
Emanuel jetzt eintrat, in deſſen Stammſitz er und 
Konradine künftig walten ſollten. Aber Emanuel 
wehrte den Vorſchlag von ſich ab. 

Seine vorſorgende Zärtlichkeit wünſchte der Braut 
die ſchweren Tage zu erſparen, denen er entgegen⸗ 
ging, und weil es ſeinem feinen Empfinden ohnehin 
widerſtrebte, dem hoffnungsloſen Bruder jo reich an 
eigenen Hoffnungen zu nahen, ſtimmte er Konradinen 
noch entſchiedener darin bei, daß ſie nicht als Verlobte 
aufträten, ehe man die Mutter benachrichtigt und ſich 
ihrer freilich zweifelloſen Zuſtimmung verſichert hätte. 
Auch hielt Konradine es für geboten, auf den von ihr 
feſtgeſetzten Tag im Stifte einzutreffen und der Aebtiſſin 
eben bei der Ankunft der Prinzeſſin nicht zu fehlen. 

Man hatte alſo in den wenigen Stunden, deren 
man noch gemeinſam ſicher war, vollauf zu thun, und 
erſt am Abende kam man dazu, das nächſte Wieder⸗ 
ſehen und die nothwendigſten Verabredungen mit ein⸗ 
ander ſo weit als möglich feſtzuſetzen. Am nächſten 
Morgen brachen die Gräfin und der Bruder gen 
Süden auf. Vierundzwanzig Stunden ſpäter trat 
Konradine in dem Wagen ihres Bräutigams, unter 
dem Schutze ſeines Kammerdieners, den er ihr zurück⸗ 
gelaſſen hatte, ihre Reiſe in das Stift an. 


Einundzwanzigſtes Capitel. 


Während die Reiſenden ſich noch hellen Wetters 
und warmer Mittage erfreuten, wehte der Wind ſchon 
wieder rauh und eiſig von dem Meere über das Pfarr⸗ 
haus und das Schloß hinweg, und trieb unabläſſig 
neue Regenwolken über das Land, daß die Wege von 
der langen Näſſe bereits wieder faſt grundlos gewor⸗ 
den waren. Wen nicht eben Geſchäfte dazu nöthigten, 
der machte ſich nicht hinaus, um Wagen und Pferde 
nicht unnöthig zu ſtrapaziren, ſondern ſaß nach des 
Tages Arbeit ſtille in ſeiner warmen Stube an dem 
wohlgeheizten Ofen. 

Auch der Amtmann kam nicht viel heraus. Die 
Kartoffeln waren eingebracht, die Felder neu beſtellt, 
und ſeine gewohnten wöchentlichen Fahrten nach der 
Oberförſterei hatte er in den letzten Zeiten eingeſtellt; 
denn, obſchon der Amtmann es unvernünftig nannte, 
war doch von Seiten des Oberförſters gegen ihn eine 
Verſtimmung eingetreten. Der Oberförſter ging dem 
alten Freunde gerne aus dem Wege, und wenn der 
Amtmann auch zu gerecht war, ſeinen Verdruß darüber 


275 


Hulda zur Laſt zu legen, oder ihr, wie Ulrike es that, 
beſtändig vorzuwerfen, daß fie unverantwortlich ges 
handelt, als ſie den angeſehenen Mann, des Onkels 
Freund, zurückgewieſen habe, ſo ſehnte er doch nun 
auch ſeinerſeits den Tag herbei, an welchem die Gräfin 
dem Adjunktus die Pfarre verliehen haben würde, da⸗ 
mit die Sache mit dem Adjunktus und mit Hulda 
endlich in das Reine, Hulda aus dem Hauſe, und 
zwiſchen ihm und ſeinem Freunde der gewohnte be⸗ 
hagliche Verkehr wieder in das vernünftige alte Ge⸗ 
leiſe käme. 

Inzwiſchen war es ihm ganz recht und lieb, daß 
der Adjunktus immer öfter in das Amt herüberkam. 
Er ließ ſich es ſogar bisweilen nicht verdrießen, Abends 
für den Rückweg den Einſpänner an ihn zu wenden, 
denn der Amtmann kam auch allmälig in die Jahre, 
in denen man gerne ſpricht, weil man das Leſen ſatt 
hat. Er kannte ſeine alten Lieblingsbücher von An⸗ 
fang bis zu Ende, die neuen Bücher machten ihm 
aber nicht halb ſo viel Vergnügen; und den ganzen 
Abend, ſo wie ſonſt, über den Zeitungen zu ſitzen, 
war ihm nicht mehr recht. Es war in denſelben ſo 
oft vom Volke die Rede, und von Rechten und von 
Freiheiten, mit denen nach ſeiner Meinung die Ord— 
nung nicht beſtehen konnte, und an die vordem kein 
Menſch auch nur gedacht hatte. Die Augen wurden 
ihm dabei nur müde, ſie fielen ihm gelegentlich ſogar 
zu, und das ärgerte ihn doppelt, wenn die Schweſter, 
in deren Unermüdlichkeit und eiſerner Feſtigkeit gar 
kein Vergang war, ihn lachend dabei anrief. 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 18 


274 


Man hätte meinen können, daß Ulrike, wenn 
man ſie ſo ſah, ſich von den Kräften friſch erhielt, 
die fie die Anderen unnöthig verbrauchen machte; denn 
im Spätherbſt, wenn es im Haufe recht viel zu 
ſchaffen gab, wenn ſie Alles und Jeden in beſtändiger 
Bewegung erhielt, daß weder ſie noch ſonſt Jemand 
von Denen, welchen ſie zu befehlen hatte, zur Be⸗ 
finnung und zu Athen kam, war ſie immer am ge⸗ 
ſündeſten, und ſie ſagte es oft ſelber, daß ſie ſolches 
Arbeiten auf ein Jahr verjünge. Selbſt wenn ſie 
endlich einmal ſtille ſaß, mußte ſie noch immer Etwas 
thun, und wenn es nichts Anderes war, ſich noch die 
Karten legen, um zu wiſſen, was ihr am nächſten 
Tage glücken, was mißglücken werde, und ob Gutes 
oder Böſes an ihrem Horizonte ſtehe. Es focht ſie 
dabei nicht im geringſten an, daß der Bruder es 
Narrenspoſſen nannte, daß der Adjunkt ihr freundlich 
mahnend zu bedenken gab, wie dem Menſchen nach 
Gottes weiſem Rathſchluſſe kein Blick vergönnt ſei in 
die Zukunft. Sie ſagte, das ſei Alles gut und ſchön, 
aber der Menſch müſſe ja an ſo Vieles glauben, was 
auch nicht zu beweiſen und deshalb doch nicht minder 
wahr ſei. Was ſie wiſſe, das wiſſe ſie; und wenn 
auch das alte Kartenlegen ihr nicht immer ganz und 
gar zugetroffen ſei, die Patience, welche Monſieur 
Michael ſie gelehrt, die habe ſie noch nie im Stiche 
gelaſſen, wenn ſie mit Ja und Nein gefragt habe, und 
auf die lebe und ſterbe ſie. | 

Der Adjunkt war gerade da, als fie wieder ein⸗ 
mal, ihre Karten legend, dieſe Behauptung ausſprach. 


275 

Der Amtmann hatte ihn nach der Kirche mit in das 
Amt gebracht und ſich erboten, ihn nach Hauſe zu 
ſchicken. Es war nach dem Abendeſſen, und ſie machten 
ihre Schachpartie; aber weil des jungen Mannes Theil⸗ 
nahme auf Hulda gerichtet war, die mit ihrer Arbeit 
an Ulrikens Seite ſaß, hörte er auf Alles, was ſie 
an dem Tiſch am Ofen ſagten. Er hatte alſo die 
letzten Worte auch vernommen, und um auf dieſe Art 
wieder eine Unterhaltung mit den Frauen anzuknüpfen, 
in die er Hulda hineinzuziehen hoffte, fragte er, wer 
der Monſieur Michael geweſen ſei, dem ſie ihre ge⸗ 
heimnißvoll untrügliche Patience verdanke. 

„Habe ich Ihnen denn nie von ihm erzählt? Ein 
ganz charmanter junger Menſch, der Geheim⸗Sekretär 
des Fürſten Severin.“ 

„Hat ſich was vom e ehrt: fiel der 
Amtmann ihr in die Rede; „er war des Fürſten Kam⸗ 
merdiener, ein eitler, geriebener, nichtsnutziger Geſell, 
den der Fürſt wegjagen mußte, wie ich Ihnen vordem 
einmal erzählte. Er iſt dann auch auf ſeinen rechten 
Weg gekommen, denn er ſoll unter die Komödianten 
gegangen ſein.“ 
| „Wer hat das gejagt?“ rief Ulrike, die bei ihrer 
Verachtung gegen Alles, was dem Theater angehörte, 
dieſe Anſchuldigung auf ihrem Günſtling nicht ſitzen 
laſſen wollte. 1 

„Wer das geſagt hat? Des Poſthalters Sohn, 
der ihn hier geſehen hat, wenn Michael des Fürſten 
Briefe expedirte, hat es hergeſchrieben. Er hat ihn 


ſelber ſpielen ſehen.“ 
18* 


276 


„Das iſt freilich ein trauriges Gewerbe und ein 
gefährlicher Beruf!“ meinte der Adjunkt. | 

„Ich glaub's nicht! Es iſt nicht wahr, daß er 
beim Theater iſt!“ behauptete Ulrike. 

„Lege Dir doch ſeine unfehlbare Patience darauf 
mit Ja und Nein, da wirſt Du's ja erfahren!“ meinte 
der Amtmann. 

„Was nicht ſein kann, das frage ich nicht erſt!“ 
entgegnete ſie trotzig und legte ihre Karten fort. 

„Es ſind ſchon ganz Andere auf die Bretter ge⸗ 
gangen!“ warf der Amtmann hin. 

„Aber kein honneter Menſch!“ ſagte die Mamſell, 


ohne daß der Bruder ihr eine Antwort darauf gab, 


denn der Adjunktus bot ihm ſchon zum zweitenmale 
„ein Schach der Königin“, und er hatte nun an An⸗ 
deres zu denken als an die Freundſchaften und an die 
Grillen ſeiner Schweſter. Kaum aber bemerkte ſie, 
daß der Bruder nicht mehr auf ſie achtete, ſo hatte 
ſie die Karten wieder in der Hand und fing an ſie 
in langen Reihen neben und über einander zu ord⸗ 
nen: hier eine fortzunehmen, dort eine hinzulegen; und 
ſie ſchien es mit Erſtaunen zu gewahren, wie die ſonſt 
ſo ungefügen Blätter ſich heute leicht zuſammenbringen 
ließen, wie raſch die Aſſe oben lagen und die ganze 
Zahlenreihe neben einander ihr entgegenlachte. Sonſt 
war ihr das meiſt eine Genugthuung, heute legte ſie 
die Karten ſchnell wieder zuſammen, ſteckte ſie in die 


Tiſchſchieblade und ging, ohne ein Wort zu ſprechen, 


raſch hinaus. 
Auch die Anderen hatten ihre Partie beendet, der 
Amtmann hatte ſich danach entfernt, um ein paar 


RE 
N ET 


27 


Schriftſtücke zuſammenzuſuchen, die der Adjunktus für 
den Schulzen des Pfarrdorfes mit hinunternehmen 
ſollte. Hulda ſaß noch bei ihrer Näharbeit, die Er⸗ 
innerung an Michael, die ganze Unterhaltung war ihr 
auf das Herz gefallen. Der Adjunktus ſah ihr an, 
daß Etwas ſie bedrückte, als er an ſie herantrat und 
ſie die Augen zu ihm aufhob. 

„Es muß Ihnen manchmal doch recht ſchwer 
fallen,“ ſagte der Adjunktus, „die Verkehrtheiten von 
Mamſell Ulrike zu ertragen, Sie ſind ſo ſtill gewor⸗ 
den und ſo abgeſchloſſen.“ 

Hulda entgegnete, ſie habe ſich wie ihre Mutter 
in Ulrike ſchicken lernen, und da dieſelbe gerne ſpreche, 
gewöhne man ſich ihr zuzuhören und zu ſchweigen. 

„Sie glauben mir es wohl,“ hub er darauf 
wieder an, „wie ſehr ich hieher denke, wenn ich zu 
Hauſe in Ihre Stuben komme, Ihr Klavier benütze. 
Es kommt mir immer wie ein Unrecht, wie eine An⸗ 
maſſung vor, weil Sie das Alles und obenein die 
Ruhe, hier entbehren. In den erſten Wochen nach 
Ihrem Fortgehen mochte ich die leeren Räume nicht 
betreten, jetzt aber freut es mich, darin zu fein. Die 
guten Stunden, die herzerquickenden Geſpräche, die 
wir dort mit Ihrem Vater hatten, ſind mir dann in 
der Erinnerung ſo lebendig, ſo erhebend!“ 

Sie hatte ihm bis dahin eben nur das Uner⸗ 
läßliche geantwortet, denn das Alleinſein mit ihm war 
ihr mit jedem Beſuche, den er in dem Amte gemacht 
hatte, peinlicher geworden, und das Erlebniß mit dem 
Oberförſter hatte ſie noch ſcheuer und noch vorſichtiger 


278 


werden laſſen; aber dieſe Erinnerung an ihren Vater 
traf ſie bei den Gedanken, mit denen ſie ſich heimlich 
trug, nur um ſo tiefer, und mit einem Seufzer rief 
ſie: „Glauben Sie, ich dächte nicht zurück?“ 

Die Worte belebten ihn, denn er deutete ſie ſich 
in ſeinem Sinne. „Ich weiß es, o, ich weiß es!“ 
rief er. „Ich meine manchmal, Sie müßten es em⸗ 
pfinden, wenn ich Sie dort ſuche, wo Sie mir ſo 
gegenwärtig ſind; es müßte Sie dorthin ziehen, wie 
den jungen Vogel zu dem heimiſchen Neſte —“ 

Seine Wärme, ſeine wachſende Lebhaftigkeit 


machten ſie beſorgt, und ihn gefliſſentlich unter⸗ 
brechend, um ihn am Weiterſprechen zu verhindern, 


ſagte ſie, ohne von ihrer Arbeit aufzuſehen: „Man 
merkt es, Sie ſind nicht auf dem Lande groß ge⸗ 
worden, Sie glauben an die Fabel! Kein flügger 
Vogel kehrt in das alte Neſt zurück, wenn Vater und 
Mutter es verlaſſen haben.“ 

„Mamſell Hulda!“ rief er ſchmerzlich, aber die 
Rückkehr des Amtmannes hinderte ihn mehr zu ſagen. 

Er hatte die Papiere in Empfang zu nehmen, der 
Amtmann knüpfte ein paar Bemerkungen daran, die 
der Adjunkt ausrichten ſollte. Darüber kam auch die 
Mamſell zurück, und da ſie trotz ihrer Engherzigkeit 
gern Hilfe leiſtete und ſchenkte, weil ſie ſich dabei ihrer 
guten Lage und des Ueberfluſſes, deſſen ſie ſich zu 
erfreuen hatte, recht bewußt ward, ſo hatte ſie Back⸗ 
werk und Honig und einige von ihren ſchönſten Golp- 
Reinetten mit herbeigebracht, die ſie, an dem großen 
Tiſche ſtehend, dem Adjunktus für die nächſten Tage 


279 


noch zuſammenpacken wollte. Wie ſie dabei nach dem 
Lichte hinüberſah, fiel ihr ein blaues Flämmchen auf, 
das an beſonderem Faden an dem Dochte zitterte. 
„Aber Herr Adjunktus,“ rief ſie, „Herr Adjunktus, 
Ihnen brennt ein Brief, und zwar ein großer! Mor⸗ 
gen wird er kommen! Sie ſollen ſehen, morgen kommt 
die Vokation! Sie ſollen ſehen, das wird zutreffen —“ 

„Wie Kälte um Lichtmeß!“ fiel ihr der Amt⸗ 
mann in die Rede, denn morgen iſt Poſttag, die 
Vokation hat lange genug auf ſich warten laſſen, und 
wenn ſie nun endlich einmal kommt, ſo iſt es das blaue 
Wunder! Und die Unfehlbarkeit von des Komödianten 
Patience hat ſich wieder neu bewährt.“ 

Ulrike entgegnete, davon ſei die Rede nicht ge⸗ 
weſen, aber Briefe kämen morgen, auch für Hulda 
einer. Indeß, weder Dieſe noch der Adjunkt machten 
eine Bemerkung dazu. Nur wie er ihr im Fortgehen 
die Hand zum Abſchied reichte, ſagte er ihr heimlich: 
„Ich hoffe, das vom Vogel und vom Neſte haben Sie 
nicht auf ſich hezogen!“ 

Des Amtmanns Zuruf, daß der Wagen vor⸗ 
gefahren ſei, erſparte ihr die Antwort; und ſeinem 
Zweifeln und ſeinem Hoffen überlaſſen, fuhr der Ad⸗ 
junktus in die Nacht hinaus. 


Zweiundzwanzigſtes Capitel. 


— — 


Am anderen Morgen ſaß der Amtmann ſchon 
bei dem zweiten Frühſtück, als der Knecht mit der 
Poſttaſche in das Zimmer trat und ſie wie immer 
vor dem Herrn auf den Tiſch niederlegte. Der Amt⸗ 
mann nahm den Schlüſſel zur Hand, und die Taſche 


öffnend, ſagte er, wie er in ſie hinein blickte; 


„Das iſt ja heute eine ganze Ladung!“ 

„War auch für die Pfarre Etwas?“ fragte die 
Mamſell, die nach ihrer Gewohnheit dem Knechte auf 
dem Fuße gefolgt war. 

7 05 Mamſell, ein Brief, und noch ein großer 
daneben wie ein Schreiben.“ 

„Habe ich es nicht geſagt,“ rief Ulrike, „die Vo⸗ 
kation iſt da — und da iſt ja für die Hulda auch 
der Brief!“ Sie langte gleich danach, aber der Bru⸗ 
der bedeutete ihr mit einem Winke, den Brief liegen 
zu laſſen, und ordnete mit gelaſſener Pünktlichkeit die 
Zeitungen auf die eine, die amtlichen Schreiben und 
die Briefe, die an ihn gerichtet waren, auf die andere 
Seite. Dann ſah er noch einmal nach, ob ſich viel- 


281 


leicht für einen der Wirthſchafter oder einen der Leute 
in der Taſche ſonſt noch Etwas fände, und erſt nach⸗ 
dem er ſich überzeugt hatte, daß weiter Nichts darin 
ſei, reichte er Hulda, die kein Auge von dem Tiſche 
verwendet hatte, ihren Brief hinüber und fragte: „Von 
wem kommt denn der?“ 

„Von Emilie und von der Frau Kaſtellanin!“ 
antwortete ſie und wendete ſich ab, damit er es nicht 
ſehen ſollte, wie ſie roth geworden war. 

„Alſo die Freundſchaft dauert fort!“ ſagte der 
Amtmann arglos, denn der Kaſtellan des gräflichen 
Hauſes in der Stadt war ein alter Diener der Familie, 
und der Amtmann wußte, daß Hulda während ihres 
dortigen Aufenthaltes mit der Tochter deſſelben, die 
gut erzogen war, Verkehr gehalten hatte. „Was ſchrei— 
ben ſie Dir denn?“ 

Hulda war an das andere Fenſter hingetreten und 
hatte unbemerkt einen Brief, der in dem Schreiben 
ihrer Freundin enthalten geweſen war, in der Taſche 
ihres Kleides verborgen, und die Zeilen, welche die 
Freundin ihr geſchrieben, raſch durchfliegend, ant⸗ 
wortete ſie: „Sie laden mich zu ſich ein.“ 
| „Bei den Wegen? Ja, auf jo Etwas verfallen 
ſie in der Stadt, am Ofen und mit dem Steinpflaſter 
vor dem Fenſter. Es wird damit zunächſt wohl keine 
Eile haben,“ ſagte er und ſtand auf, um ſich mit 
ſeinen neu eingegangenen Papieren an den alten 
Schreibtiſch hinzuſetzen. 

Hulda wollte in dem Augenblicke auch hinaus 
gehen, um den zweiten Brief zu leſen, aber Ulrike 


282 


hielt fie in der Stube feſt. Sie hatte erſt dies, dann 
jenes noch von ihr zu fordern, ſie ſchickte ſie hierhin 
und dann dorthin, und als ahne ſie es, welche Pein 
ſie ihr damit bereite, legte ſie ihr endlich ein großes 
Gebinde Wolle auf die Hände, damit ſie es ihr zum 
Wickeln halte. 

Die arme Hulda zählte in ihrer Ungeduld die 
Minuten, die Sekunden; die Wangen flammten ihr 
vor Aufregung. Das kümmerte aber Ulrike nicht und 
Nichts die alte Uhr. Die Uhr tickte ruhig fort, und 
Ulrike wickelte und wickelte und zerrte an den Fäden, 
die ſich verſchlungen hatten, und gab Hulda bald einen 
Wink und bald ein Zeichen; denn ſprechen durfte ſie 
nicht, wenn der Bruder bei der Arbeit ſaß. Darum 
aber wollte und mußte ſie gerade in ſolchen Stunden 
Jemanden bei ſich haben, der ihr die Langeweile tragen 
half. Hulda's Gedanken ſchwärmten während deſſen 
aber weit, weit ab von der ſie ermüdenden Arbeit, 
an welcher ihre Quälerin ſie feſthielt. 

Sie hatte den Brief, den ſie, Rath und Hülfe 
ſuchend, in jener Nacht an Gabriele gerichtet, dem be⸗ 
freundeten jungen Mädchen nach der Stadt geſchickt, 


und um ſeine Weiterbeförderung mit der Anweiſung 


gebeten, daß man ihr, falls eine Antwort einginge, 
dieſelbe auf gleiche Weiſe übermachen möge. Nun war 
der Brief in ihrer Hand, ihre Zukunft hing an ſeinem 
Inhalt, und ſie konnte nicht erfahren, was er für ſie 
brachte, denn ein tückiſcher Dämon ſchien heimlich 
immer neues Garn zu ſpinnen. Das Garn nahm gar 
kein Ende, und noch lagen ein paar Gebinde auf ihren 


283 


Händen, als ein Wagen über den gepflaſterten Damm 
in den Hof fuhr und vor der Thür des Amtes ſtille 
hielt. 

Ulrike war bei dem erſten Hufſchlag aufgeſtanden 
und, eifrig an dem Knäuel wickelnd, nach dem Fenſter 
gegangen. „Habe ich es nicht geſagt!“ rief ſie, „da iſt 
Er! Um Nichts iſt er nicht ausgefahren, die Voka⸗ 
tion iſt da! Der Schulze hat denn auch ein Uebriges 
gethan und für den neuen Herrn Pfarrer angeſpannt!“ 
— und das Fenſter öffnend, rief ſie mit ihrer hellen 
Stimme: „Guten Tag, Herr Paſtor! ſchönen guten 
Tag! Nun werden es der Herr Pfarrer ja wohl ſelber 
in die Hand bekommen haben, daß unſereiner auch 
nicht immer als einer von den falſchen Propheten zu 
verſpotten iſt!“ 

Der junge Mann war ſchnell vom Wagen und 
im Hauſe. Der Amtmann ging ihm bis an die 
Stubenthür entgegen. Er hatte den betreffenden Brief 
der Gräfin ebenfalls erhalten, er konnte es ſich alſo den⸗ 
ken, was den Gaſt zu ſo ungewohnter Stunde zu ihm 
führte; aber er ließ es ſich nicht merken. Er gönnte 
Jenem die Freude, ſich in ſeiner neuen Würde ſelber 
einzuführen und die gute Botſchaft vor dem Mädchen 
auszuſprechen, mit dem er ſeine Zukunft zu verbinden 
dachte. Auch ließ der Eintretende ſie nicht lange er⸗ 
warten. 

„Verzeihen Sie es mir,“ ſagte er mit heiterer 
Lebendigkeit, „daß ich ſchon wieder hier bin, aber es 
litt mich nicht allein zu Hauſe. Meine Vokation iſt 
angekommen!“ 


284 


„Gratulor, Herr Pfarrer!“ rief der Amtmann. 
„Gratulor! es freut mich, daß Sie bei uns bleiben, 
freut mich ſehr! und es wird auch manchen Anderen 
freuen, denke ich!“ ſetzte er, nach Hulda hinüberſehend, 
mit einem nicht mißzuverſtehenden Lächeln raſch hinzu; 
aber Hulda ſah es nicht. Sie hatte ſeit des jungen 
Mannes Eintritt kaum die Augen aufgeſchlagen, und 
der Amtmann meinte es zu wiſſen, wie er ſich das zu 
deuten habe. „Schweſter, eine Flaſche Wein! denn 
das iſt gute Botſchaft und ſo Gott will, für eine lange 
Zei!“ gebot er. i 

„Ja, es war eine geſegnete Stunde für mich, in 
der es Gott gefiel, mich herzuſenden, möchte mir es 
gelingen, ſie unter ſeinem Beiſtande auch für Andere 
ſegensreich zu machen!“ ſagte der junge Pfarrherr, 
während die Mamſell die Schlüſſel von dem Bunde 
hakte, und Hulda anwies, was ſie aus dem Keller und 
der Vorrathskammer herbeizuſchaffen habe.“ 

Dieſe war froh, wenn auch nur für Minuten 
fortzukommen, der Angſt und der Verlegenheit, die 
auf ihr lagen, für eine Weile zu entgehen. Als ſie 
wieder in das Zimmer trat, hatte die eifrige Ulrike 
für die beiden Männer das Gedeck ſchon aufgelegt. 
Der Amtmann ſaß bereits am Tiſche und ließ ſich gut⸗ 
müthig, obſchon er es ſelbſt am beſten wußte, von dem 
jungen Maune die Begünſtigungen herzählen, welche 
ihm von der Gräfin bewilligt worden waren. Als er 
aber die Bemerkung machte, daß ſein Glück weit über 
ſein Erwarten gehe, ſtand der Amtmann auf, nahm 
ſelbſt noch zwei Gläſer aus dem Wandſchrank, füllte 


285 


ſie ebenfalls, und der Schweſter und Hulda winkend, 
ſprach er: „Dazu müſſen doch die Frauenzimmer auch 
heran! — Auf Ihr Wohl, Herr Pfarrer! und auf 
gute Nachbarſchaft, Herr Pfarrer! und nun in Gottes 
Namen vorwärts, dann kann Alles bleiben, wie es 
ſteht und liegt. Damit Ihnen aber doch noch einmal 
mehr zu Theil werde, als Sie ſich erwartet, ſo will 
ich es Ihnen nur gleich heute ſagen, daß ich auch noch 
Etwas für Sie in petto habe, aber freilich nicht 
direkt für Sie und nicht für Sie allein.“ 

Der Amtmann gefiel ſich außerordentlich in die⸗ 
ſem andeutenden Scherze, der nach ſeiner Meinung 
gar nicht mißzuverſtehen war und der dem Pfarrer 
einen bequemen Eingang zu dem Antrage bieten ſollte, 
den er nach des Amtmanns Anſicht zu keiner ſchickli⸗ 
cheren Stunde machen konnte. Indeß Hulda's Aeuße⸗ 
rung am verwichenen Abende hatte den Liebenden be— 
ſorgt gemacht, und wenn er ſie in ſeines Herzens 
Freude ſich auf dem Wege auch wieder aus dem Sinne 
geſchlagen und als zufällig und harmlos ausgedeutet 
hatte, ſo wachte doch, wie er jetzt Hulda ſo in ſich 
verſchloſſen und ſo wortkarg vor ſich ſah, der Zweifel 
wieder in ihm auf, und er konnte am wenigſten in 
der beiden Alten Beiſein über ſ eine Lippen bringen, 
wovon ihm ſein bewegtes Herz doch übervoll war. 

Mamſell Ulriken's ſonſt oft unbequeme Neugier 
kam ihm jetzt zu Hülfe. Sie wollte wiſſen, was des 
Bruders geheimnißvolle Verſprechungen bedeuten ſoll⸗ 
ten, und der Amtmann ließ ſich diesmal nicht lange 
bitten. „Das ſteht Alles in dem Briefe,“ ſagte er, 


286 


während er für ſich und ſeinen Gaſt auf das Neue 
die Gläſer füllte, „und wir können, denke ich, nun ge— 
troſt noch einmal anſtoßen auf die Anzeige, die ich 
heute von unſerer Frau Gräfin empfangen habe. 
Es hat ſeine Richtigkeit gehabt mit den Nachrichten 
über das Fräulein und Baron Emannel. Sie haben 
ſich verlobt und — —“ 

„Hab' ich es nicht geſagt,“ fiel Ulrike ein, „gleich 
damals, als ſie hier geweſen ſind!“ 

Der Amtmann hatte die Mittheilung mit reifli⸗ 
chem Bedacht gemacht. Er meinte, ſie müſſe auf 
Hulda's Entſchließung einen guten Einfluß haben; 
aber wie er dieſelbe von ihrem Platze aufſtehen, er⸗ 
bleichen und nach der Thür gehen ſah, ward es ihm 
leid, daß er geſprochen hatte, und verdrießlich mit dem 
Kopfe ſchüttelnd, rief er: „Hulda, Hulda, was ſind 
denn das für Poſſen!“ 

Indeß ehe er die Worte noch vollendet, war der 
junge Pfarrer ſchon an ihrer Seite. Seine Sorge 
um das geliebte Mädchen trug über die ſchmerzliche 
Eiferſucht den Sieg davon. 

„Sie befinden ſich nicht gut, Mamſell Hulda!“ 
ſagte er, und mit einer Sicherheit, die er ſich noch 
einen Augenblick vorher nicht zugetraut hatte, bat er, 
fie möge ihm erlauben, ſie zu begleiten. Weil ſie 
wußte, daß ſie der Unterredung, die er wünſchte, nicht 
entgehen konnte, ſagte ſie es ihm zu. Ulrike wollte 
ſich dazwiſchen legen, aber der Bruder bannte ſie mit 
einem: „Du ſitzeſt ſtill!“ an ihren Platz, und Hulda 
und der Pfarrer verließen das Gemach. 


287 


Recht nach jenem Sinne war dem Amtmann 
dieſe Art und Weiſe nicht, und über den Ausgang 
war er nach dem, was er eben jetzt geſehen hatte, auch 
nicht mehr ſo zuverſichtlich, als die ganze Zeit zuvor. 
Er hatte feft geglaubt, Hulda habe ſich die ganze 
Sache mit Baron Emanuel lange aus dem Sinne 
geſchlagen, er hatte ihre Weigerung, des Oberförſters 
Frau zu werden, ohne alles Weitere auf den Adjunkten 
bezogen. Nun ſah er, daß der Spuk noch nicht vor⸗ 
über war, und obſchon der Pfarrer heute anders auf: 
trat, und ſich unter dem Nimbns ſeiner neuen Würde 
auch ganz anders als vordem zu fühlen ſchien, war 
der Amtmann doch nicht ſicher, ob und wie ſich Jener 
aus dem Handel ziehen, und welch' ein Ende es mit 
demſelben nehmen werde, wenn er ſelber ſich nicht 
dabei ins Mittel legte. Er war ſchon auf dem Wege 
nach der Thüre, kehrte aber wieder um. Ulrike lachte 
hoͤhniſch. 

„Was für Umſtände Ihr mit dem Frauenzimmer 
macht, Einer wie der Andere!“ ſagte Ulrike, „und 
man ſoll hier ſitzen und abwarten, wozu es ihr be⸗ 
lieben wird, ſich zu entſchließen!“ 

Der Amtmann ward auch ungeduldig, nur daß 
er es nicht in Worten zeigte. Er ging in der Stube 
auf und nieder, ſchüttelte die Pfeife aus, ſtopfte ſie 
und zündete ſie wieder an. Von den Beiden war 
noch immer Nichts zu hören. Er ſah in ſeinen Büchern 
Etwas nach, er ſetzte ſich nieder, indeß er hatte keine 
Ruhe. Es war ihm ſelber ſehr daran gelegen, daß 
es mit dem Mädchen nun endlich ein vernünftig Ende 


288 


nahm, es war des Geredes darüber ſchon zu viel ge— 
weſen Er begriff nicht, wie die da oben ſo viel Zeit 
zu einer Sache brauchen konnten, die doch mit zwei 
Worten abzumachen war. Er ſtand wieder auf, trat 
an den Barometer heran und klopfte an das Queck- 
ſilber. 

„Du denkſt wohl,“ ſagte Ulrike, „er ſoll Dir an- 
zeigen, was der Prinzeß belieben wird?“ 

Ehe er ihr darauf die Antwort geben konnte, 
hörte man feſte Schritte, die von dem langen Gange 
hinunterkamen. Der Amtmann und die Schweſter 
wendeten ſich Beide nach der a durch die der 
Pfarrer eintrat. 

„Allein, Herr Pfarrer?“ fragte der Amtmann 
mit ſichtlicher Beſtürzung, während über Ulrikens 
Antlitz ein unheimliches Lächeln des Triumphes zuckte. 

Des jungen Pfarrherrn ernſtes Antlitz gab die 
Antwort, noch ehe er, ſich männlich zuſammenfaſſend, 
ſie ausgeſprochen hatte. „Es hat nicht ſein ſollen,“ 
ſagte er, „es wäre vielleicht zu viel Glück für mich 
geweſen!“ 

„Iſt denn das Mädchen ganz von Sinnen!“ fuhr 
der Amtmann zornig auf und wollte nach der Thüre 
gehen. 

Der Pfarrer hielt ihn davon zurück. „Laſſen Sie 
ſie, verehrter Freund! Es trifft ſie kein Tadel und 
kein Vorwurf. Gott hat ihr Herz in ſeiner Hand — 
er hat es gelenkt. Er weiß am beſten, was ihr 
frommt und mir. Nicht ſie, nur mein eigenes Wün⸗ 
ſchen täuſchte mich. Es war nicht ihre Schuld.“ 


289 


„Schuld hin, Schuld her,“ rief der Amtmann. 

„Das ſind ja Alles Redensarten! Ein Frauenzimmer 
iſt zum Heirathen auf der Welt und hat in jetzigen 
Zeiten ſeinem Herrgott ſehr zu danken, wenn ein 
Mann wie Sie ſich zu ihm findet. Mit der Narrheit 
muß es doch ein Ende haben, und es ſoll gleich heut', 
gleich jetzt ein Ende haben!“ — Und wieder gab er 
Ulrike das Zeichen, daß ſie nach Hulda ſchellen ſolle; 
indeß Ulrike ſaß in ihrer Ecke und rückte und rührte 
ſich nicht. Der Pfarrer aber hatte nach ſeinem Hut 
gegriffen und ſchickte ſich zum Aufbruch an. Der 
Amtmann durfte ihn nicht halten. Sie wechſelten 
noch ein paar Worte; der Amtmann meinte, ſo ein 
Mädchenkopf beſinne ſich wohl noch, der Pfarrer 
achtete nicht darauf. Er ſehnte ſich danach, allein zu 
ſein, denn die Faſſung, die er zeigte, fiel ihm ſchwer. 
Der ganze Vorgang hatte nur wenige Minuten ein⸗ 
genommen, und wie der Pfarrer nun eingeſtiegen 
war, wie der Wagen wieder über den gepflafterten 
Steindamm dem Hofthor zufuhr, der Amtmann mit 
heftigem Schritte in die Stube zurückkam, ſtand Ulrike 
auf und ſagte mit kaltblütigem Tone: „Das iſt nun 
der Dritte, den ſie aus dem Hauſe bringt.“ 

„Und es ſoll der Letzte ſein!“ fuhr der Amtmann 
auf und zog mit ſolcher Macht die Glocke, die nach 
Hulda's Stube ging, daß die Schnur ihm in der 
Hand blieb. Er warf ſie in die fernſte Ecke und ſetzte 
ſich in den großen Stuhl an ſeinem Schreibtiſch, in 
den er ſich immer niederließ, wenn er Jemanden vor⸗ 

Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 19 


290 
zunehmen hatte. Auch Ulrike ſetzte ſich noch einmal 
und mit einem Behagen nieder, als wenn ſie im 
Theater wäre, und fing die Maſchen an ihrem Strumpfe 
zu zählen an. 

„Was hat es da oben gegeben zwiſchen Euch?“ 
rief der Amtmann ihr entgegen, als Hulda bleich und 
mit verweinten Augen vor ihn hintrat. 

Sie konnte die Worte nicht über die Lippen brin⸗ 
gen. „Rede!“ fuhr der Amtmann ſie an, „denn Du 
haſt ja oben ſicher reden können!“ 

Hulda hob die Augen zu ihm auf, und ſelbſt in 
dem bebenden Schmerze war ihr Geſicht noch ſchön, 
als ſie, die Hände flehend nach ihm ausgeſtreckt, die 
Bitte ausſprach: „Zwingen Sie mich nicht zu wieder⸗ 


holen, was mir zu ſagen ſo hart und ſchwer ge— 


weſen iſt.“ 
„Schwer?“ ſpottete Ulrike, „ich denke, Du ſollteſt 


nun ſchon Praxis darin haben, anſtändige Männer 


vor den Kopf zu ſtoßen, denn das iſt ſchon der Dritte!“ 

„Still! Wer ſpricht mit Dir?“ herrſchte der 
Amtmann, der ſchon wieder mit Hulda Mitleid fühlte, 
weil ſie im Grunde doch in der Welt verlaſſen war, 
und der ſofort für ſie Partei nahm, wenn der Haß 
gegen die Schönheit und die glücklichere Jugend, den 
Ulrike von der Mutter auf die Tochter übertragen 
hatte, ſich gegen dieſe äußerte. „Steh' nicht ſo da 
und weine wie ein Kind,“ fuhr er, ſich an Hulda 
wendend, fort, „denn das iſt kindiſch und ich kann's 
nicht ausſtehen! Rede, daß man weiß, woran man iſt. 
Was ſtellſt Du Dir denn vor?“ 


291 


Sie wußte darauf keine Antwort, das regte ihm 
den Zorn ſchnell wieder auf. „Ich ſage nicht wie die 


Schweſter,“ ſprach er, „das iſt nun der Dritte, denn 


der Michael war ein Taugenichts und Nichts mehr.“ 
Der Amtmann freute ſich des Stiches, den er Ulriken 
damit gab. „Von Baron Emanuel rede ich nicht erſt, 
denn damals warſt Du noch ein halbes Kind und das 
iſt abgethan; da lebten noch die Eltern, die hatten für 
Dich einzuſtehen, nicht ich. Jetzt aber iſt das meine 
Sache und ich will in's Klare mit Dir kommen.“ — 
Er räusperte ſich, zog an der Pfeife, die ihm aus⸗ 
gegangen war, ſtellte ſie hinter den Tiſch, ſetzte ſich 
wieder, und die Hände über der Bruſt Gera ſagte 
er: „Der Oberförſter, der unter den adeligen Fräulein 
nur die Hand auszuſtrecken hat, um morgen eine Frau 
zu haben, der war Dir zu alt, und kommt uns 
nicht mehr in das Haus. Der Pfarrer, dem die Gräfin, 
die Dir noch obenein die Ausſteuer geben wollte, eine 
ſchöne Stellung zubereitet hat, der iſt Dir auch nicht 
recht und wird auch nicht mehr über die Schwelle 
kommen wollen, ſo lange Du hier im Hauſe biſt. 
Soll ich mir alle meine Freunde von Dir zu Feinden, 
ſoll ich mir mein Haus um Deinetwillen zum Ge⸗ 
ſpött und zum Gerede machen laſſen?“ 
„Du gehſt uns ja im Grunde gar Nichts an!“ 

warf Ulrike, die ſich nicht länger halten konnte, ein. 

„Ich weiß es, daß ich fort muß!“ ſagte Hulda, 
und ſie fügte dann leiſer noch hinzu, „und ich will 
auch gerne fort.“ 

19 * 


292 


Der Amtmann ſah ſie mit großen Augen an. 
„Du willſt fort? Und wo denn hin? Was ſtellſt Du 
Dir denn vor?“ 

Hulda hatte ſich die Stunde, in welcher dieſe 
Frage an ſie gerichtet werden und in der ſie dieſelbe 
zu beantworten haben würde, ſeit vielen Wochen un⸗ 
abläſſig durchgedacht, und ſie war immer entſchloſſen 
geweſen, ihr Vorhaben offen auszuſprechen. Jetzt aber, 
da ſie es thun ſollte, fehlte ihr dazu der Muth. Nach 
dem, wie der Amtmann ſich geſtern erſt über den Be⸗ 
ruf und die Stellung eines Schauſpielers hatte ver⸗ 
nehmen laſſen, konnte ſie es nicht wagen ihre Abſicht 
kundzuthun, am wenigſten, ehe ſie es wußte, was 
Gabriele ihr zu thun rieth; und ſie hatte den Brief 
eben erſt erbrechen können, als der Amtmann ſie zu 
ſich gerufen. Sie ſagte alſo, ſie wolle es verſuchen, 
ſich ihr Brot ſelber zu verdienen. 

„Und wie denkſt Du das zu machen?“ fragte der 
Amtmann ſpöttiſch, der an dem Glauben feſthielt, ein 
gebildetes Frauenzimmer könne ſich auf die Dauer 
ſelber nicht verſorgen. 

„Ich bin ja auferzogen in der Vorausſicht und 
Gewißheit, daß ich mir ſelbſt zu helfen haben würde,“ 
entgegnete ſie mit wachſender Feſtigkeit, weil ihr Ehr⸗ 
gefühl ſich gegen die ſpottende Nichtachtung ihres bis- 
herigen Beſchützers aufzulehnen anfing. „Mein guter 
armer Vater und Miß Kenney haben mich darauf 
vorbereitet, und —“ 

„Alſo Du willſt wie die Kenney Lehrmamſell 
werden und alte Jungfer!“ unterbrach ſie der Amt⸗ 


293 


mann, dem Gouvernanten und alte Mädchen unter 
allen Umſtänden zuwider waren. „Aber wer wird 
Dich denn nehmen hier herum, ſelbſt wenn er ein 
ſolches Frauenzimmer brauchte, ſobald es erſt aus⸗ 
kommt, daß Du nun zum zweitenmale Dein Glück 
von Dir geſtoßen und die Anträge der angeſehenſten 
und bravſten Männer abgewieſen haſt? — Und herum⸗ 
kommen wird es, verlaſſe Dich darauf, ich kenne meine 
Leute!“ ſetzte er hinzu mit einem Seitenblick auf ſeine 
Schweſter. 

„Ich wollte Sie eben deshalb bitten, mir einen 
kleinen Theil der Summe zu geben, welche Miß 
Kenney mir hinterlaſſen hat, und mich in die Stadt 
zu ſchicken, wo ich der Aufnahme in der Familie des 
Kaſtellans gewiß bin, bis ſich irgend eine paſſende 
Stellung für mich finden wird!“ entgegnete das 
Mädchen, das an Zutrauen in ſich gewann, je härter 
und ungerechter es ſich angegriffen fühlte. 

„Das alſo iſt der Plan! alſo Alles wohl be— 
rechnet, Alles hübſch ausgedacht und überlegt! Und 
dazu dem Adjunktus Hoffnungen gemacht und mit 
ihm ſchön gethan,“ höhnte ſie Ulrike, und zum erſten⸗ 
male wies der Amtmann ſie nicht zurück, ſondern in 
den Ton der Schweſter einſtimmend, ſagte er bitter: 
„Und das Alles um der elenden Liebſchaft willen mit 
dem Baron, der ſich mit ſeiner Frau auf ſeinem 
Schloſſe kein Haar darum grau werden laſſen wird, 
wo und wie Du einmal zu Grunde gehſt.“ 

Das war mehr, als ſie ertragen konnte. Sie 
richtete ſich hoch auf, und obſchon das Blut ihr in den 


294 


Schläfen hämmerte und ihre Lippen mühſam die 
Worte ausſprachen, ſagte ſie: „Ich werde nicht zu 
Grunde gehen, Herr Amtmann, auch wenn ſich Nie— 
mand um mich kümmert! — Und ich habe — deſſen 
iſt Gott mein Zeuge — nie mit Jemandem ſchön ge 
than; habe dem Herrn Pfarrer, das hat er ſelber zu— 
geſtehen müſſen, mit keinem Wort und keinem Blick 
eine falſche Hoffnung angeregt. Ich wußte ſeit lange, 
daß ich hier nicht bleiben konnte, und ich bitte Sie, 
flehentlich bitte ich Sie, erzeigen Sie mir die Liebe und 
ſchicken Sie mich ſobald als möglich fort. Hier müßte 
ich zu Grunde gehen!“ 

Dem Amtmann ſchwollen die Adern auf de 
Stirne. Er wollte einen Fluch ausſtoßen, aber er 
ſchluckte ihn hinunter, denn er wußte nicht, gegen wen 
er ſo erbittert, ſo ergrimmt war, daß der Aerger ihm 
an dem Herzen fraß: ob gegen das Mädchen, das 
nun einmal nicht in die vernünftige Bahn zu bringen 
war, und das er doch ſo gerne in ſeiner Nähe behalten 
und unter ſeinen Augen glücklich hätte ſehen mögen, 
oder gegen die Härte und den Herzenswahnſinn ſeiner 
Schweſter, die dem Mädchen ſein Leben ſo verbittert 
hatte, daß es lieber unter Fremde in die weite Welt 
gehen, als dieſe Unbill länger tragen wollte. 

Er war mit raſchem Schritt vor Hulda hin⸗ 
getreten, blieb dann ſtehen wie Einer, der ſich ſelber 
mißtraut, und maß ſie mit finſterem Blick vom Kopfe 
bis zum Fuß. Sie ſah, wie die Unſchuld, wie die 
Sanftmuth ſelber aus, er konnte es kaum ertragen. 
Er hatte nicht Weib, nicht Kind, und an der Schweſter 


295 


hatte er keine Freude gehabt, ſo lange ſie zuſammen 
lebten. Auf Hulda aber hielt er. Er hatte ſie lieb, 
als wäre ſie ſein eigen Kind, und daß ſie das nicht 
wußte, daß ſie in die Welt gehen wollte, das verdroß 
ihn, das empörte ihn, während er ihr nicht ſagen 
konnte, daß ſie bleiben ſolle, denn er ſelber ſah es ein, 
ſie mußte für das Erſte fort. — Es war ihm noch 
niemals Etwas ſo vollkommen gegen ſeinen Sinn ge⸗ 
gangen. Er ſollte thun und geſchehen laſſen, was er 
nicht wollte, was er für verkehrt hielt. Aber ein Ende 
mußte es jetzt haben, ein Ende mußte er mit ihr 
machen, ſie mußte erſt einmal fühlen lernen, was ſie 
aufgab, probiren, wie es draußen wäre. Sie ſollte 
ihren Willen haben. — Und ging es nachher nicht, 
nun, ſo ſtand das Schloß ja auf dem alten Flecke 
und ſie konnte wieder kommen — zahmer wieder kom⸗ 
men, als ſie ſich heut' anließ. Deſſen war er ficher. 

Mit dieſer Einſicht und mit der Gewißheit kam 
ihm auch ſein alter Gleichmuth wieder. Er legte die 
Hände auf dem Rücken zuſammen, was er immer 
that, wenn er ſich ſo recht auf ſeinen Füßen fühlte, 
beſah ſich Hulda noch einmal und ſagte mit gemeſſener 
Langſamkeit: „Alſo Du willſt fort und morgen ſchon?“ 

Sie verſetzte, wenn es ſein könne, bäte ſie darum. 
Der Amtmann ging nach dem Kalender, zu ſehen, 
was für den Tag notirt war, und ſagte dann: „Es 
ſteht Nichts im Wege! Mach' Dich fertig, Du kannſt 
fort. Geld kannſt Du bekommen, ſo viel Du für das 
Erſte brauchſt, das Uebrige findet ſich nachher. Was 


296 


in der Pfarre jetzt zu thun iſt, das werde ich beſor— 
gen. Um acht Uhr Morgens kannſt Du reiſen.“ 

Sie dankte ihm leiſe, er ſagte, dazu habe ſie nicht 
Urſache, und das ſchnitt ihr in das Herz, denn ſie war 
ihm anhänglich von Kindheit an und wußte, daß er 
es redlich mit ihr meinte. Er nahm die Mütze, und 
wie ſie ihm nach gewohnter Weiſe den Krückſtock aus 
der Ecke holen wollte, meinte er: „Laß es gut ſein, 
ich kann ihn mir ſchon heute ſelber holen!“ Damit 
ging er in den Hof hinaus. d 

Sie biß die Zähne zuſammen, denn ſie wollte 
nicht weinen, ſie mußte ſich zuſammennehmen lernen. 

Ulrike ſagte, „ſie ſolle den Koffer wichſen laſſen, 
damit er doch nach Etwas ausſähe; und den Tiſch 
beſorgen könne heut' die Magd, ſie wolle nach dem 
Ihren ſehen. 


Dreiundzwanzigſtes Capitel. 


„Nun iſt es geſchehen!“ — Das war Alles, was 
Hulda denken konnte, als ſie ſich in ihrer Stube müde 
und zerſchlagen niederſetzte. Erwartet hatte ſie es 
lange. Sie hatte ſich nothwendig befreien müſſen aus 
einer Lage, die in jeder Beziehung unertragbar für ſie 
geworden war, aber es war heute Alles ſo mit einem 
Schlage über ſie gekommen; und wie die Entſcheidung 
nun vor ihr ſtand, ſah Alles um ſie her ſo nackt, ſo 
roh, ſo öde aus. Der verklärende Schimmer, der die 
Zukunft geheimnißvoll umwoben, war dahin, es war 
ganz anders, als ſie es ſich vorgeſtellt hatte. 

Jetzt kam es darauf an, was Gabriele ſchrieb. 
Sie zog den Brief heraus; ſchon die klare, feſte Hand⸗ 
ſchrift hatte etwas Tröſtliches für ſie. „Was Sie mir 
mittheilen,“ hieß es nach den erſten Zeilen, „hat nichts 
Befremdliches für mich. Jeder von uns trägt mehr 
oder weniger bewußt ein Verlangen nach einem be⸗ 
ſonderen Glück, oder nach einer idealen Bethätigung 
ſeines Weſens in ſich, und wenn das Erſte uns nicht 
winken will, trachten wir danach, die Zweite zu erreichen. 


298 


Das it Ihr Fall, und manche Ihrer Anlagen ſcheinen 
Ihrem Vorhaben Erfolg zu verſprechen. Aber der 
Weg einer Bühnenkünſtlerin iſt ſchwer und rauh, und 
ſelbſt an dem glänzend errungenen Ziel finden ſich der 
verletzenden Dornen unter den Kränzen des Triumphes 
noch genug. Ob Ihr Talent ausreichend iſt, kann nur 
die Probe darthun. Ob Sie den Muth, die nichts⸗ 
achtende Entſchloſſenheit und das Inſichſelbſtberuhen 
beſitzen, ohne welche die theatraliſche Laufbahn nicht 
zurückzulegen iſt, darüber können nur Sie ſelbſt ent⸗ 
ſcheiden. Legen Sie ſich die Frage ernſthaft vor. — 
Sind Sie mit ſich einig, ſo melden Sie es dem 
Direktor des Theaters, den Sie bei mir an jenem 
Morgen ſahen. Ich habe ihm geſchrieben, ihn auf 
Ihre Abſicht vorbereitet, ihm meine Meinung über die 
Ihnen gemäßen Studien mitgetheilt, und Sie ihm auf 
das Nachdrücklichſte empfohlen. Fürchten Sie von 
Seiten Ihrer Angehörigen auf Hinderniſſe bei der 
Ausführung Ihres Planes zu ſtoßen, ſo müſſen Sie 
ſuchen, ihn ohne deren Zuſtimmung zur Ausführung 
zu bringen, denn in dieſem Falle, wie in manchem 
anderen kann man nicht durchkommen, ohne nach dem 
ſonſt übel berufenen Grundſatze zu handeln, daß der 
Zweck die Mittel heiligt.“ | 
Sie fügte dann noch hinzu, daß fie Zutrauen zu 
Hulda's Begabung habe, daß deren überraſchende 
Aehnlichkeit mit ihr eine gute Vorbedeutung für ſie 
ſein möge, und wie der ganze Brief in einem durch⸗ 
aus einfachen, geſchäftsmäßigen Tone gehalten war, 
ſo ſagte ſie denn auch ganz am Schluſſe, da Hulda 


299 


ſich Rath fordernd an ſie gewendet, ſo verſtände es 
ſich von ſelbſt, daß fie von ihr auch die Mittel an⸗ 
zunehmen habe, ohne welche ſie jene Rathſchläge nicht 
befolgen könne. Sie ſende ihr deshalb für alle Fälle 
das nöthige Reiſegeld bis nach dem Aufenthaltsorte 
des Direktors. Bei dieſem werde ſie eine kleine An⸗ 
weiſung auf einen dortigen Bankier vorfinden, deren 
Ertrag ausreichen dürfte, ſie zu unterhalten, bis der 
Direktor ſich überzeugt haben werde, ob ſie für ihn 
zu brauchen ſei, und ob ihre Ausbildung überhaupt 
eine lohnende zu werden verſpreche. Wenn das ent⸗ 
ſchieden ſei, ſo möge Hulda ſie davon in Kenntniß 
ſetzen, bis dahin wünſche ſie ihr Muth, Geduld 
und Glück. ö 

Hulda athmete auf, als ſie den Brief zu Ende 
geleſen hatte. Er brachte ihr die Ermuthigung, die 
Anweiſung, deren ſie bedurft hatte. Man hörte jedem 
Worte des Briefes die reife Ueberlegung einer Viel⸗ 
erfahrenen an. Die Güte, die Großmuth, mit welcher 
ſie ſich Hulda's annahm, gingen über ihr Erwarten, 
aber auch dieſem Briefe fehlte der helle Schimmer, 
der jenen Wintermorgen bei Gabriele für Hulda's 
Phantaſie ſo zauberhaft umleuchtet hatte; die Wirk⸗ 
lichkeit war nicht ſo lichtumfloſſen, ſie war ernſt und 
begehrte feſtes, ernſtes Thun. 

Eines Ueberlegens bedurfte Hulda nicht. Was 
ihr als Kind in unbeſtimmten Bildern verlockend vor⸗ 
geſchwebt hatte, das zu erreichen ſollte ſie jetzt ſtreben. 
Das Glück hatte ſich ihr verſagt, ſie wollte, wie es 
Gabriele ſchön genannt, nach einer idealen Bethätigung 


300 


ihres Weſens trachten. Die ſelbſtgewählte Arbeit ihres 
Lebens begann mit dieſem Tage und in dieſer Stunde. 

„Die Kindheit, die Heimat, die Jugend und die 
Liebe ſind dahin!“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt, „ich muß 
abſchließen mit der Vergangenheit, und vorwärts gehen 
an mein Ziel!“ 

Ihre Vorkehrungen für die Abreiſe waren bald 
gemacht, ihr Beſitz war ſehr gering. Ihre beſcheidene 
Garderobe, die wenigen Bücher und Muſikalien, die 
kleinen Andenken an ihre Eltern, die ſie bei ſich hatte, 
waren bald eingepackt, die Guitarre in ihrem Kaſten 
wohl verwahrt. Es war noch lange bis zum Abend 
hin, lang noch bis zum andern Morgen. 

Als die Mittagsglocke läutete, ging ſie hinab zum 
Eſſen, der Amtmann, die Wirthſchafter kamen an den 
Tiſch, Alles lag und ſtand wie ſonſt, nur daß ſie es 
nicht mehr auf den Tiſch gebracht hatte wie ſonſt. 
Der Amtmann ſprach mit ſeinen Leuten, Mamſell 
Ulrike machte, ohne von ihrer Abreiſe zu ſprechen, 
allerlei Bemerkungen, die es Hulda fühlen ließen, daß 
ſie aus dem Kreiſe dieſes Hauſes ſchon entlaſſen ſei. 
Der Amtmann gönnte ihr kein Wort. Die Wirth⸗ 
ſchafter ſahen neugierig nach ihr hin, ſie wußten es 
ſchon, daß ſie dem Pfarrer einen Korb gegeben habe 
und daß der Amtmann ſie deshalb länger nicht be⸗ 
halten wolle. 

Am Nachmittage, als ſie ſich zu den gewohnten 
Dienſten anſchickte, wies Ulrike ſie zurück. „Das ſei 
für ſie Nichts mehr,“ meinte ſie, „eine Stadtdame, 


301 


eine Gouvernante müſſe ihre Hände ſchonen.“ Aber 
ſie ſah böſe aus, als ſie das ſagte. 

Hulda hatte den ganzen Nachmittag für ſich. 
Sie las wieder und wieder Gabrielens Brief, ſie 
kramte in den wenigen Papieren, die ſie hatte, und 
band die Volkslieder zuſammen, nach denen ſie die 
Abſchriften für Emanuel gemacht. Es waren Kor⸗ 
rekturen von ihres Vaters Hand, und auch von ſeiner 
Hand darin, ſie konnte das Auge nicht davon ver- 
wenden. 

Sie ging an das Fenſter und ſah in die Nacht 
hinaus. Wie oft hatte ſie an dem Platze geſtanden 
und hinübergeblickt nach ſeinen Zimmern im Schloſſe, 
den ſanften Klängen ſeiner Phantaſien lauſchend. Jetzt 
war da drüben Alles dunkel, Alles ſtill. Es drang 
kein Ton von dort zu ihr, und ſeine Gedanken ſuchten 
ſie nicht mehr. Wie ſollten ſie das auch? Was war 
ſie noch für ihn in ſeinem Glücke? Er wußte ſich ge⸗ 
liebt, er war erlöſt! — Erlöſt durch ſie! — Der Fluch 
aber war zurückgefallen auf ihr Haupt. Sie war die 
Aufgegebene, die Vergeſſene, die Ungeliebte! und hei⸗ 
matlos und einſam mußte ſie fortan des Lebens neue 
Wege gehen. 

Sie ſtand noch auf demſelben Flecke, als der 
Amtmann zu ihr in die Stube kam. Er brachte ihr 
das Geld, das ſie bekommen ſollte, und hieß ſie, es 
einzunähen in ihr Kleid. 

„Wegen Deiner Möbel und des Vaters Bücher,“ 
ſagte er, „will ich mit dem Pfarrer ein Abkommen zu 
treffen ſuchen. Er kann das Alles brauchen, und rückt 


302 


man den alten Kram von feinem Platz, fo tft er gar 
Nichts werth. Was es ergibt, wird für Dich auf- 
bewahrt.“ | 

Sie verſetzte, fie ſei deswegen ohne Sorge; er 
antwortete nicht darauf und ging davon. 

Spät, als im Haufe Alles ſchon zur Ruhe war 
und ſie noch einſam wachend die Erlebniſſe des Tages 
an ſich vorübergehen ließ, kam eine Rührung über ſie. 
Sie dachte an den jungen Pfarrer. 5 

„Der wird auch noch wachen und wird traurig 
ſein!“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt, und die Vorſtellung, 
daß unter dem Dache, in dem Hauſe, welches ihr Ge— 
ſchlecht und ſie ſo lang beſchirmt, man ihrer in Schmerz 
und Unmuth denke, drückte ſie wie eine ſchwere Laſt. 
Sie konnte ſo nicht fortgehen, nicht ſo von ihm 
ſcheiden. Auf dem letzten Blatt Papier, das ihr zur 
Hand war, ſchrieb ſie ihm. 

„Vergeſſen Sie, daß Sie wünſchten, was zu ge⸗ 
währen nicht in meiner Macht lag,“ bat ſie ihn. „Ich 
habe Sie nie wiſſentlich getäuſcht, ich durfte Sie auch 
jetzt nicht täuſchen, ohne eine ſchwere Sünde zu be⸗ 
gehen. Wir haben wie Geſchwiſter friedliche Tage 
unter meines theuern Vaters Schutz verlebt, nur 
dieſer erinnern Sie ſich, wenn Sie an mich ge⸗ 
denken, aber nicht der ſchmerzensvollen Stunde, die 
uns trennte. Und wollen Sie mir eine Gunſt ge⸗ 
währen, ſo behalten Sie zu meines Vaters Angedenken 
und zu meinem, das Klavier, mit deſſen Tönen wir 
gemeinſam ihn erheitert haben, als wenig andere Er⸗ 
heiterung ihm mehr vergönnt war. Ich danke Ihnen 


303 


von Herzen für die Liebe, die Sie ihm, für die 
Freundſchaft und Treue, die Sie mir erwieſen haben. 
Denken Sie ſeiner in Ihrem Gebete und auch meiner.“ 

Es war ihr leichter um das Herz, als ſie den Brief 
geſchrieben hatte. Am Morgen, wie der Wagen kam, 
übergab ſie ihn dem Amtmann unverſiegelt. Er las 
ihn, da ſie es wünſchte, und hieß ihn gut. Es zuckte 
dabei Etwas über ſein Geſicht, was man ſonſt darin 
nicht ſah. Er umarmte ſie, wie ſie in den Wagen 
ſtieg und ſagte, ſie ſolle nun ihr Heil verſuchen, es 
ſei aber noch nicht aller Tage Abend. Sie küßte ihm 
die Hand und auch Ulriken, und dankte ihnen für das 
Gute, das ſie ihrem Vater und auch ihr gethan hätten. 

„Davon iſt keine Rede!“ ſagte Ulrike, die nicht 
Abſchied nehmen konnte, und ging in das Haus. 

Als der Wagen fort war, und der Amtmann 
wieder in die Stube kam, ſaß die Schweſter wei— 
nend hinter dem Ofen. 

„Du haſt's ja ſo haben wollen!“ ſagte der Amt⸗ 
mann und ging an ihr vorüber in die Schreiberſtube. 

„Sie hat es danach gemacht!“ entgegnete Ulrike, 
ſtand auf und trat an das Fenſter. 

Der Wagen war ſchon weit hinaus im Felde. 
An der Stelle, Hulda kannte ſie ſo genau, da hatte 
ſie Emanuel zuerſt geſehen. 


Ende des zweiten Bandes. 


199 


. 
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Date Due 


Library Bureau Cat. No. 1137 


F E ) 


lg 
3 5002 03081 3823 


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TITLE 5 
Die Erlöserin. 


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