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Die Erlöſerin.
—
Zweiter Band.
Die Erlöferin,
Roman
Fanny Cewald.
Zweiter Band.
Das Recht der Ueberſetzung iſt vorbehalten.
Berlin, 1873.
Druck und Verlag von Otto Janke.
Erſtes Capitel.
Emanuel hatte ſich bei ſeiner Reiſe nur die un⸗
abweisliche Ruhe gegönnt, und doch war an den glück⸗
lichen Ufern des Genferſees der Frühling ſchon im
Erblühen, als er ſein dortiges Landhaus wiederſah,
denn die Beförderungsmittel waren auch für den Be—
güterten, der mit Extrapoſt nach eigenem Ermeſſen
reiſte, noch ſehr unvollkommen. Aber ſelbſt der er⸗
freuliche Abſtand zwiſchen der eiſigen Starrheit des
nordiſchen Winters und dem lieblichen Erwachen einer
ſüdlicheren Natur vermochte diesmal nicht, ihm das
Herz zu löſen und den umdüſterten Sinn zu erheitern.
Er hatte es vermieden, die Gräfin wiederzuſehen,
ſondern ihr nur angezeigt, daß er das Schloß verlaſſe,
und ſich dabei mit ſchwerer Anklage gegen ihre un⸗
berufenen Eingriffe in ſeine Verhältniſſe und Plane
ausgeſprochen. Sie hatte darauf ihre Handlungsweiſe
zu rechtfertigen, eine Ausgleichung und Verſtändigung
herbeizuführen verſucht, Emanuel war jedoch für eine
ſolche Ueberredung in jenem Augenblicke noch nicht
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 1
2
zugänglich geweſen, und des Pfarrers Abſicht, den
Frieden und die Eintracht in der gräflichen und der
freiherrlichen Familie auf Koſten ſeines Kindes zu er—
halten, war damit mißglückt.
Das Opfer, welches er der Tochter auferlegt, hatte
Niemandem gedient, als nur der Gräfin, der es ge—
lungen war, ihre Abſichten in jeder Hinſicht durch—
zuſetzen. Nicht nur die Verbindung ihres Bruders
mit der Pfarrerstochter war verhindert, ſondern auch
Miß Kenney und Hulda waren, wie die Gräfin es
gewünſcht hatte, für die nächſte Zeit zu einander ge⸗
führt und an einander gebunden worden, ohne daß
die Gräfin nöthig gehabt hätte, darauf mit beſonderer
Beſtimmung einzuwirken. Miß Kenney hatte aus
eigenem Antriebe erklärt, daß ſie unter den obwalten⸗
den Umſtänden Hulda nicht ſich ſelber überlaſſen könne,
daß ſie es vielmehr als eine Pflicht erachte, in des ihr
theuren Mädchens Nähe zu verweilen, bis es ſich ge—
faßt und in ſich ſelbſt zurechtgefunden haben werde.
| Es war aber ein ſtilles und freudenarmes Leben,
das Hulda nach ihrer Geneſung in der Pfarre führte.
Das Frühjahr war wiedergekommen, die Kirſchbäume
blühten wieder ſo wie ſonſt, indeß Hulda's weißes
Kleid flatterte nicht ſo luſtig als im verwichenen Jahre
zwiſchen den blühenden Bäumen auf der ſtraffgeſpannten
Leine, und man rüſtete ſich nicht mehr auf den Feſt⸗
beſuch der Gäſte aus dem Amte, die ſonſt in jedem
Jahre gekommen waren. Hulda ſaß ſtill und einſam in
ihrer Trauerkleidung bei der Arbeit, und wenn ihre
Wangen ſich auch wieder gerundet und geröthet hatten,
3
jo blickten ihre Augen doch nicht mehr mit der hoff—
nungsvollen Neugier der Kindheit und der friſchen
Jugend in die Zukunft. Das Gewicht ihrer Erinne⸗
rungen hielt ihre Gedanken an der Vergangenheit feſt,
und kein Tag verging, an dem ſie ſich nicht fragte:
„Habe ich das Alles denn erlebt? und wenn ich es
erlebte, wie konnte es vorübergehen gleich einem
Traume? Wie kann er ferne von mir bleiben, da
mein Herz ihn ruft zu jeder Stunde, da ſein Ring
es mir ſagt und immer ſagt: „Halt feſte, wie der Baum
die Aeſte, wie der Ring den Demant, Dich und mich
trennt Niemand.“
Das Pfingſtfeſt ſtand wieder vor der Thüre, aber
weder Hulda noch der Vater hatten daran denken
mögen, Mamſell Ulrike zu beſonderem Beſuche auf⸗
zufordern. Sie hatte immer, wenn ſie gekommen war,
dem Pfarrer ſowohl als Hulda wehe gethan mit ihren
Andeutungen wie mit ihren Fragen, mit ihrem Bemit⸗
leiden wie mit ihrem Tröſten.
Nur der Amtmann ſprach wie früher mit ver—
trauensvoller Freundſchaft in der Pfarre vor, wenn
ſeine Geſchäfte ihn des Weges führten, und Miß
Kenney, welche nach Hulda's Geneſung ihre Wohnung
in dem Gartenflügel des Schloſſes wieder bezogen
hatte, kam zum Oefteren zu ihren Freunden, da der
Amtmann ihr auf Anordnung der Gräfin ein kleines
bequemes Fuhrwerk zur freien Verfügung hatte ſtellen
müſſen. ö
Hulda ging niemals nach dem Schloſſe, wenn
ihre alte Freundin ſie nicht ausdrücklich dahin beſchied.
1 *
4
Sie mochte den Vater nicht verlaſſen, mochte Mam—
ſell Ulrike nicht unnöthig begegnen, und die Stätten,
an denen alle ihre Erinnerungen hafteten, ſtanden
ohnehin immerfort vor ihrer Seele. Wenn nicht eine
Liebespflicht ſie in das Dorf rief, kam ſie oft die ganze
Woche hindurch nicht über den Bereich ihres Gärtchens
hinaus. Sie hatte draußen Nichts zu ſuchen, ſie hatte
auch gar Nichts zu erwarten. Und doch wartete ſie
und wartete von Tag zu Tag, und wie lang ihr die
einzelne Stunde auch wurde, die Tage ſchwanden in
ihrer unterſchiedsloſen Eintönigkeit ihr ſo raſch dahin,
daß es ſie verwunderte, wenn die Kirchenglocken wieder
den Sonntag einläuteten, und wieder eine Woche um
war, ohne daß eine Kunde zu ihr gekommen war von
ihm, der ihr die Welt war, ihre ganze Welt.
Die Gräfin hatte dem Pfarrer nach der Herſtellung
ſeiner Tochter noch einmal geſchrieben, ihn wiederholt
für die verſtändige Selbſterkenntniß und Selbſtbeſchrän⸗
kung zu beloben, mit denen er in dieſem Falle ge⸗
handelt, und ſie hatte ihn dabei verſichert, daß er und
ſeine Tochter in allen Fällen auf ſie und auf den
Beiſtand der beiderſeitigen Familien rechnen könnten.
Wenn Hulda etwa Plane und Wünſche für ihre Zu—
kunft hegen ſollte, für welche ſie einer Förderung be—
dürfe, ſo brauche ſie dies nur auszuſprechen, um der
Gewährung ſicher zu ſein. Indeß Hulda hatte keine
Pläne, keine Wünſche außer dem einen, dem Niemand
mehr als eben die Gräfin entgegen war. Ihre Auf-
gabe lag eng begrenzt vor ihren Augen. Selbſt die
leidenſchaftliche Sehnſucht, die ſie gerade in Augen⸗
5
blicken der tiefſten Entmuthigung hinausziehen wollte
in das Leben und in die Welt, in welcher der Geliebte
lebte, in welcher ein Zufall ihn ihr entgegenführen
konnte, hatte ſie in ſich wie eine Sünde zu unter⸗
drücken. Denn Befreiung aus den Banden, welche ſie
an dieſe Stelle feſſelten, konnte ihr nur der Tod des
Vaters bringen — und ſie erſchrak vor ſich ſelber, wenn
ſie ſich mit ihrem hoffenden Gedanken unwillkürlich
auf dem Wege antraf, der jenſeits ſeines Grabes für
ſie anfing.
Arbeit, fleißige Arbeit, das war die Stütze, an
welche ſie ſich jetzt allein zu halten hatte, und das
tüchtige Wiſſen ihres Vaters wie der Schatz von Sprach—
kenntniſſen, welchen ihre alte Freundin ſich angeeignet
hatte, kamen ihr weſentlich dabei zu Hilfe. Die Ar⸗
beit bewahrte ſie vor dem Verſinken, aber ſie konnte
ihr doch die Flügel nicht verleihen, ſich in fröhlichem
Aufſchwunge zu jenem unabſehbaren Hoffen zu erheben,
wie die Jugend es bedarf, und wie das Leben in wei—
ten wechſelnden Bereichen es ſelbſt Demjenigen er⸗
möglicht, der ſich die Kraft dazu verloren glaubte.
Zweiles Gapitel.
Konradine war glücklicher daran als Hulda.
Sie hatte bei ihrer Ankunft in der Reſidenz die
Ernennung zur Stiftsdame bereits ausgefertigt vor⸗
gefunden und ſich augenblicklich zur Abreiſe in das
Stift angeſchickt, um, wie das Ordensgeſetz es heiſchte, die
erſten ſechs Monate nach der Ernennung in der Stille
deſſelben zuzubringen.
Es war ihr ſonderbar zu Muthe geweſen und ſie
hatte in gezwungener Faſſung die Zähne aufeinander⸗
gepreßt, als ſie zum erſtenmale verſuchsweiſe das
ſchwarze wollene Kleid mit der dicken Gürtelſchnur
und den weiten Aermeln, das weiße Buſentuch, die
dichte, vielfaltige Haube mit dem ſchwarzen Schleier
angelegt, und das Ordenskreuz auf ihrer Bruſt bes
feſtigt, welche ſie während der Monate zu tragen hatte,
die ſie in jedem Jahr in dem Stifte verweilen mußte.
Aber ihr eigenes Bild überraſchte ſie, wie es ihr aus
dem Spiegel dann entgegentrat. Die Regelmäßigkeit
ihrer Geſtalt und ihrer Züge erſchien ernſter und rei⸗
ner in der ſtrengen dunklen Tracht; für ihre hellen,
7
klaren Farben, für ihr röthlich ſchimmerndes Haar
bildete der ſchwarze Schleier einen unvergleichlichen
Hintergrund; und weil ſie fi in der Kleidung wohl-
gefiel, welche ſie von der Gewohnheit ihrer bisherigen
Geſellſchaft abſchied, gab ſie ſich der Hoffnung hin, daß
auch die zeitweilige Abgeſchiedenheit von dieſer Geſell⸗
ſchaft ſelbſt, ihr wohlthun, und ſie in der Einſamkeit
des Kloſters Sammlung und Befriedigung in ruhigem
Selbſtgenießen finden werde.
Die Trennung von der Mutter fiel ihr dabei
nicht ſchwer. Sie hatten Beide das Bedürfniß, nur
den eigenen Neigungen zu leben. Konradine betrat
alſo ihre neue Heimat mit jener Zuverſicht, welche man
ſonſt nur gegenüber von freigewählten 1
zu empfinden pflegte.
Das Stift war ſchön gelegen. Es war ein ſtatt
licher Bau, den die einzelnen Wohnungen der Stifts-
damen mit ihren Gärten freundlich umgaben, und der
Empfang, den man Konradinen bereitete, war dazu
angethan, ihrer Selbſtſchätzung durchaus zu genügen.
Es hatte natürlich in der Gemeinſchaft der Stifts—
damen kein Geheimniß bleiben können, durch welches
Schickſal ihnen die neue Genoſſin zugeführt worden
war, und ihr Antheil an Konradine hatte ſich dadurch
geſteigert. Manche unter den älteren Damen, welche,
wie die gräfliche Aebtiſſin, auf eigene ſchwere Lebens⸗
wege zurückzuſehen, oder Herzenskränkungen zu beklagen
hatten, waren gern bereit, mit der Verlaſſenen, falls
ſie danach verlangte, über die Treuloſigkeit und den
Leichtſinn der Männer erbarmungslos den Stab zu
*
8
brechen, während die jungen, durch die Bedeutung
ihrer einflußreichen Familien zu den Präbenden ge—
langten Fräulein, ſich Konradinen mit jenem Antheil
näherten, den romantiſche Erlebniſſe der Jugend immer
einzuflößen pflegen. Im Grunde hatte Jede von
ihnen nicht übel Luſt, wie die neue Stiftsdame von
einem fürſtlichen Manne geliebt zu werden, beſonders
weil Jede ſich es zutraute, ihn beſſer feſſeln und feſt—
halten und ihr Lebenslos glücklicher geſtalten zu kön-
nen, als es Konradine vermocht zu haben ſchien.
Indeß weder zu dem Anſchluß an die Einen
noch an die Anderen fühlte dieſe ſich geneigt, wenn
ſchon ihre neue Lebenslage ihr bald nicht mehr mißfiel.
Die Sorge für die Herſtellung ihres eigenen Haus—
haltes, die dem Menſchen angeborene Freude an dem
eigenen Beſitz und Heerde, beſchäftigten ſie angenehm.
Die Möglichkeit, ſich, wenn ſie danach verlangte, völlig
abzuſchließen, war ihr in hohem Grade erwünſcht,
und ihr ſcharfer Verſtand fand ſich von der Beob—
achtung des anſehnlichen Frauenkreiſes unterhalten,
auf den ſie zunächſt angewieſen war, während ihm
durch mannigfache Gäſte und einen lebhaften Verkehr,
mit den in der Provinz angeſeſſenen vornehmen Fa⸗
milien, auch die Abwechslung nicht fehlte.
Weil Konradine durch die unruhige Reiſeluſt
ihrer Mutter von Kindheit an ein unſtätes Wander⸗
leben geführt hatte, that es ihr wohl, in dem Stifte
jetzt nach eigenem Ermeſſen ungeſtört verweilen zu
können, und da ſie es aus richtigem Selbſtgefühle
vorſichtig vermied, der Theilnahme und der Neugier
9
ihrer Gefährtinnen durch irgendwelche Mittheilungen
über ſich ſelbſt zu entſprechen, obgleich ſie mit ihrer
ſicheren Weltgewandheit und natürlichen Gefälligkeit
Allen eine heitere Stirne zu zeigen und freundlich zu
begegnen wußte, rühmten die Aebtiſſin und die älteren
Stiftsdamen ihr bald nach, daß ſie ſich mit würdigem
Stolze zu beſcheiden und zu tröſten vermocht habe,
und wie ihre Faſſung und Haltung einen Seelenadel
und eine Charakterſtärke bekundeten, denen man die
höchſte Achtung nicht verſagen könne. Dieſe An⸗
erkennung wurde Konradinen für den Augenblick zu
einer ſie erhebenden Kraft. Sie war an Beachtung,
an Bewunderung gewöhnt, aber dieſelben hatten ſie
immer nur gefreut, wenn ſie ſich hatte ſagen dürfen,
ihre Schönheit, ihr Geiſt, oder welche ihrer anderen
Eigenſchaften eben dabei in Betracht gekommen waren,
verdienten die gute Meinung, die man von ihr hegte.
Denn während eine leicht zu befriedigende Eitelkeit
durch Huldigungen zu feiernder Selbſtgenügſamkeit
verleitet wird, ſo reizten dieſelben in dieſem wie in
allen früheren Fällen nur den Ehrgeiz Konradinens
auf, und ſie fand es ihrer Würde angemeſſener, ein
Schickſal wie das ihre mit Faſſung zu ertragen, als
der Welt das Schauſpiel einer untröſtlichen Verlaſſenen
zu geben.
Es war ihr eine Beruhigung, daß Niemand in
ihrer jetzigen Umgebung die Einzelheiten dieſes Schick—
ſals kannte, Niemand ſie, wie die Mutter es in guter
Abſicht oft gethan hatte, darauf anſah, ob ſie ge—
ſchlafen oder ob ſie in zornigen Thränen die ſchleichen—
10
den Stunden der Nacht gezählt habe; und es währte
denn auch nicht lange, bis ſie es zu bereuen anfing,
daß ſie Emanuel ſo tief in ihrem Herzen hatte leſen
laſſen. — Was hatte es ihr gefrommt? Was konnte
es ihr frommen? Sie hätte ihn jetzt gern vergeſſen
machen mögen, was ſie ihm im Schloſſe in leiden—
ſchaftlicher Erregung unaufgefordert anvertraut hatte.
Sie verſtand ſich jetzt ſelbſt nicht mehr in jenem
heftigen Verlangen nach Theilnahme, das fie damals
ihm gegenüber gefühlt hatte, und da ſie ſich in ihrer
neuen Umgebung als einen Gegenſtand der Verehrung
behandelt fand, fing die Vorſtellung, daß ein Anderer,
daß eben Emanuel ſie bemitleide und fie für beflagens-
werth halte, ſie zu drücken und zu peinigen an.
Sie waren nicht beſonders übereingekommen, daß
ſie einander ſchreiben würden. Es hatte ſich, da ſie
ſich ſo nahe getreten waren, ganz von ſelbſt verſtanden,
und Beide hatten eine Erleichterung darin gefunden,
ſich in den Briefen frei und völlig auszuſprechen.
Emanuel, der in der Stille ſeines einſamen Land⸗
hauſes ganz auf ſich und ſeine Erinnerungen und
Betrachtungen angewieſen war, empfand die Zerſtörung
der Hoffnungen, in denen er ſich eine Zeit hindurch
gefallen hatte, je länger um jo ſchwerer; und wie er
ſich auch anfangs dagegen ſträuben mochte, es tauchte
allmälig ein Schuldbewußtſein in ihm auf, das ihm
das Herz beſchwerte.
Wenn er in melancholiſchem Sinnen auf der
Terraſſe ſeines Gartens umherging und es ſich aus—
malte, wie er Hulda in dem Schatten dieſer Laurus⸗
11
gänge umherzuführen, wie er ihrem ſtaunenden Blicke
die Herrlichkeit dieſer ſo lieblichen und zugleich ſo er—
habenen Natur zu zeigen gehofft hatte, und wenn es
ihm dann wehe that, auf dieſe erwartete Freude ver—
zichten zu müſſen, ſo konnte er den Ausruf nicht
unterdrücken: „Und ſie, wie mag ſie meiner, wie mag
ſie hieher denken!“ Gerade in ſolchen Stunden aber,
in denen ſeine Erinnerungen ſich mit erhöhter Zärt—
lichkeit zu dem geliebten Mädchen zurückwendeten,
konnte er es am wenigſten verſchmerzen, daß Hulda's
Liebe nicht ſtark genug geweſen war, ihr töchterliches
Pflichtgefühl zu überwinden. Wenn er in dem einen
Augenblicke ſich ſagte, an ihm, an dem unabhängigen,
lebenserfahrenen Manne, wäre es geweſen, das junge
Mädchen über alle Bedenken fortzuheben, es mit allen
Mitteln, auch gegen des Vaters Willen, zu der Heirath
mit ihm zu überreden, da der Vater nachträglich über
dem Glücke ſeines Kiudes wohl ſeine Einwendungen
vergeſſen haben würde, ſo trat gleich daneben ſein
altes Mißtrauen gegen ſich ſelber feindlich wider jene
gute Stimmung auf, und ſelbſt der Stolz des alten
Edelmannes machte ſich dabei geltend. Er fragte ſich,
ob Hulda's Kindesliebe entſchieden haben würde, wie
ſie es gethan, hätte ein ſchönerer Mann vor ihr ge—
ſtanden? Nun er ſie nicht mehr vor ſich ſah, der
zärtliche Blick ihres Auges, die ſchmerzliche Angſt und
der verzweifelnde Ton ihrer Stimme ihn nicht mehr
berührten, konnte er bisweilen an ihr zweifeln. Er
konnte ſich ſagen, daß es ihm am Ende doch auch
nicht zugeſtanden habe, um die Hand eines Mädchens
zu betteln, dem er jo große Opfer zu bringen, dem
er einen Namen zu bieten bereit geweſen war, welchen
zu tragen die Tochter der edelſten Geſchlechter des
Landes ſtolz ſein durften. Sehnſucht nach der Ent—
fernten und der Vorſatz, ſie zu vergeſſen, wechſelten
dann oft in raſcher Folge in ihm ab, bis er in ſeiner
Einſamkeit wieder heimiſch wurde und der lebhafte
briefliche Verkehr mit Konradinen ihm dieſelbe weniger
fühlbar zu machen begann. 8
Es verfloß keine Woche, in welcher er nicht
Nachricht von ſeiner Freundin und Vertrauten aus
dem Stift erhielt, und jeder ihrer Briefe wiederholte
es ihm, daß ſie in ihren jetzigen Verhältniſſen einer
Befriedigung genieße, die ſie vorher nicht gekannt, ja
die ſie für eine Natur wie die ihre nicht erreichbar
geglaubt habe. Sie ſprach ihm von ihrer Leidenſchaft
für den Prinzen, von ihrer erſten Verzweiflung über
deſſen Untreue mit einer ſo klaren Ruhe, als wären
es Ereigniſſe, welche nicht ſie ſelber, ſondern eine
Andere in lang vergangenen Tagen betroffen hätten;
und weil ſie für dieſe Selbſtüberwindung auch die
Bewunderung ihres Freundes erntete, kam ſie dahin,
ſich immer mehr in dieſem neuen Standpunkte feſt⸗
zuſetzen, bis ſie ſich endlich dazu emporſchwang, die
Handlungsweiſe des Prinzen durch die Vorſtellungen
und Anſchauungen erklärlich zu nennen und zu ent—
ſchuldigen, in denen er erzogen worden war. Sie
erkannte es gegen Emanuel ganz ausdrücklich an, daß
der Prinz wohl eine Pflichterfüllung in einer Hand-
lungsweiſe habe erblicken können, die jedem anderen,
13
nicht an den Stufen eines Thrones geborenen Manne
zur Unehre und Schande gereicht haben würde. Daß
es ihrem ſtolzen Herzen leichter dünkte, der unab—
weislichen Nothwendigkeit geopfert, als leichthin auf—
gegeben worden zu ſein, das ſprach ſie dem Freunde
allerdings nicht aus; aber ſie verſicherte ihm, daß es
ihr wohlthue, jetzt ohne Zorn und Widerwillen Des—
jenigen gedenken zu können, den ſie ſo ſehr geliebt
habe; und, fügte ſie hinzu, gerade darin werde es
ihr klar, daß nicht in der erwiderten Liebe, ſondern
in dem Lieben, und vor Allem in dem Beruhen auf
ſich ſelbſt, das höchſte Glück des Menſchen liege.
Wie viel ſie davon anfangs als eine Wahrheit
n ſich ſelbſt empfand, das zu beſtimmen möchte
ſchwierig ſein; aber die Anſchauungsweiſe, in welche
ſie ſich ſo lebhaft hineindachte, und die ſie eben des—
halb auf alle ihre Verhältniſſe zur Anwendung brachte,
übte allmälig ihren Einfluß auf ſie aus. Sie ward
endlich Herr und Meiſter über fie, und was im Be
ginne vielleicht nur ein freiwilliger Selbſtbetrug ge—
weſen war, das bildete ſich im Verlauf der Tage in
ihr zu einer Gemüthsverfaſſung aus, die errungen zu
haben, die behaupten zu können, ſie mit Genugthuung
erfüllte. Es that ihr wohl, ſich, wie ſie es nannte,
wieder gefunden zu haben, wieder die alte Konradine
geworden zu ſein. Sie verſicherte, ihr Stiftskleid mit
wahrem Stolze zu tragen, weil es, ohne die Freiheit
ihrer ſpäteren Entſchließungen im mindeſten zu beein⸗
trächtigen, doch eine Art von äußerlicher Schranke auf⸗
14
richte zwiſchen ihr und jenen anderen unvermählten
Frauenzimmern, denen erſt durch die Ehe ein Rang
und jene Selbſtſtändigkeit der Stellung gegeben werde,
deren ihr weltliches Ordenskreuz ſie jetzt theilhaftig
machen würde, auch wenn ſie ſie nicht durch ihr
eigenes Bewußtſein ohnehin beſäße.
Da ſie die Vorzüge einer adeligen Geburt ſehr
hochhielt, war fie, eben jo wie ihre Mutter, von der
erſten Stunde an in ihrem Innern dem bürgerlichen
Heirathsplane ihres Freundes abgeneigt geweſen. Hulda's
eiferſüchtiges Gebahren gegen ſie hatte ſie gegen Die
ſelbe perſönlich eingenommen, und wenn ſie ſich in
ihrer damaligen Stimmung auch nicht entſchieden
gegen die Abſichten des Freundes ausgelaſſen hatte,
weil ſie ſelber der Gewalt von Standesrückſichten
zum Opfer gefallen war, ſo legte ſie ſich jetzt in der
Beziehung keinen Zwang mehr auf.
Sie machte in ihren Briefen an Emanuel keinen
Hehl daraus, daß ſie die Sorge und das Bedauern,
mit denen er an Hulda denke, übertrieben finde. Sie
habe, ſchrieb ſie ihm, nie ein beſonderes Gewicht
auf die ſogenannte erſte Liebe zu legen vermocht.
Liebe ſei die höchſte Kraftäußerung eines vollent⸗
wickelten Herzens, und auch das Herz müſſe ſeine
Kraft erſt üben und erproben lernen, ehe es jener
großen Liebe fähig werde, die das ganze Weſen eines
Menſchen ſo hinnehme, daß ihr, wenn ſie eine
Täuſchung erleide, keine andere mehr folgen könne.
Er möge ſich einmal ehrlich fragen, ob er das junge,
15
kaum der K Kindheit entwachſene Mädchen einer ſolchen
Liebe fähig glaube? ob er wähne, daß Hulda's Leben
nicht auch ohne ihn, eine ſie völlig befriedigende und
vielleicht ihren Anlagen noch gemäßere Geſtaltung ges
winnen könne? und ob er wirklich glaube, daß ein
ſolches junges Kind den blöden, ſchüchternen Traum
ſeines Frühlingsmorgens nicht vergeſſen, daß es un—
tröſtlich ſein und bleiben könne, wenn ſelbſt eine reife
Frau wie ſie, Ruhe und Frieden wieder gefunden
habe, nachdem ein höchſtes, frei erwähltes und ihr
bereits zu eigen geweſenes Glück ihr entriſſen und
zertrümmert worden ſei?
Emanuel blieb ihr, und wohl auch ſich, die be—
ſtimmte Antwort auf dieſe Frage ſchuldig. Es war
nach der Kenntniß, die er von Hulda's Eigenartigkeit
beſaß, ein Etwas in ihr, was fie von anderen Mäd—
chen unterſchied. Die ſpröde, tiefe Innerlichkeit ihres
völlig unentweihten Herzens verbot ihm, den gewöhn⸗
lichen Maßſtab an ſie zu legen. Was für hundert
Andere richtig ſein konnte, fand keine Anwendung auf
fie und ihre glaubens⸗ und vertrauensvolle Weltfremd⸗
heit. — Aber er ſtand mit Konradine in einem un⸗
ausgeſetzten lebhaften Verkehr, und Hulda war ihm
ganz entrückt.
Einen Brief, den er bald nach ſeinem Fortgehen
von dem Schloſſe an ſie gerichtet, hatte der Pfarrer
ihm mit der Bitte zurückgeſendet, er möge ſeine Tochter
ſchonen; und Miß Kenney, an die er ſich ſpäter ge—
wendet, um Nachricht von Hulda zu erhalten, hatte
16
ihm betheuert, daß dieſelbe ſich mit jedem Tag erhole,
daß die Kraft und Lebensluſt der Jugend ſich auch an
ihr heilbringend bewähren. Sie erwähnte, daß Hulda
ſie bei einer kleinen Reiſe nach der Stadt begleitet
habe, daß ſie acht Tage dort verweilt und ihre junge
Freundin durch die Eindrücke, welche ſie dort empfan—
gen, namentlich durch die erſten theatraliſchen und
muſikaliſchen Aufführungen, denen ſie beigewohnt habe,
im höchſten Grade ergriffen, ja völlig von ſich ſelber
abgezogen worden ſei. Dem Baron werde alſo der—
einſt die Genugthuung gewiß nicht fehlen, das Mäd—
chen, dem er ſo viel Antheil zugewendet, heiter und
dem Leben wiedergegeben zu ſehen. Es werde bei an—
gemeſſener Zerſtreuung und Behandlung ſicherlich ge—
lingen, Hulda die Hoffnungen vergeſſen zu machen, in
denen ihre Jugend ſich eine kurze Spanne Zeit hin⸗
durch gewiegt habe; nur Ruhe zu innerer Sammlung
müſſe man ihr gönnen, und Emanuel möge ihr die—
ſelbe durch erneute Annäherung nicht unmöglich machen.
Er las das, las es wieder, es machte ihn allmälig
ungewiß in ſeiner Neigung, beſonders, da der Amt-
mann, der ihm im Hochſommer eine geſchäftliche Mel-
dung zu machen hatte, ſich in gleichem Sinne äußerte.
Er berichtete am Ende ſeines Briefes ganz unaufge—
fordert, im Pfarrhauſe ſtehe Alles wohl und ſeine
Pathe blühe wieder wie eine Roſe. — Der Amtmann
hatte genau gewußt, weshalb er dieſe Nachricht gab.
Er hielt Etwas auf Hulda, er gönnte alſo dem Baron
den Glauben nicht, daß ſich das Mädchen ſeinetwegen
härme und verzehre. |
17
Man hatte eben nicht viel Mühe, Emanuel die
Anſicht aufzudringen, daß ein ſchönes junges Mädchen
ihn vergeſſen, ſeine Liebe verſchmerzen könne. Wehe
that es ihm — aber es enthob ihn einer großen
Sorge, einer ernſten Reue — es befreite ſein Ge⸗
wiſſen.
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 5 2
Drittes Capitel.
— H—
Darüber ging der Sommer hin. Als die Ernte⸗
zeit vorüber und der Herbſt im Anzuge war, fing Miß
Kenney davon zu ſprechen an, daß ſie bei ihren vor⸗
gerückten Jahren und ihrer ſchwankenden Geſundheit,
welche ihr doch öfters den Rath eines Arztes wünſchens⸗
werth mache, unmöglich daran denken könne, noch einen
zweiten Winter in dem entlegenen Schloſſe zuzubringen.
Die Gräfin, welche ſich eben damals auf dem Schloſſe
der Fürſtin befand, deren erſter Niederkunft man ent⸗
gegenſah, machte alſo ihrer alten Freundin augenblicks
den Vorſchlag, ſich vorläufig in dem Hauſe nieder⸗
zulaſſen, welches die gräfliche Familie in der Haupt⸗
ſtadt der Provinz beſaß, und dort abzuwarten, wie die
Gräfin nach der Entbindung und Geneſung ihrer
Tochter, ſich über die Wahl des eigenen Winteraufent⸗
haltes entſchieden haben würde.
Miß Kenney zeigte ſich damit einverſtanden. Als
ſie in der Pfarre von ihrem Entſchluſſe Kunde gab,
nahmen ihn nicht nur der Pfarrer, ſondern auch Hulda
als etwas Selbſtverſtändliches mit Ruhe hin. Sie
29
hatten nicht erwarten können, die Freundin der Gräfin
dauernd in ihrer Nähe zu behalten, der Pfarrer war
an Einſamkeit gewöhnt, und Hulda meinte Alles ent⸗
behren, jeden Verluſt ertragen zu können, nachdem ſie
an ſich erfahren hatte, daß ſie zu leben vermochte ohne
den Mann, an welchem ihre Seele hing und auf den
alle ihre Gedanken gerichtet waren. Dazu war ſie
von einer anderen Sorge ſchwer bedrängt.
Die Geſundheit ihres Vaters war ins Schwanken
gekommen. Es zeigte ſich mit einer allgemeinen Schwäche
eine Abnahme des Augenlichtes, die bedenklich wurde,
und der herbeigerufene Arzt hatte den Ausſpruch ge—
than, daß der Pfarrer womöglich nach der Hauptſtadt
gehen müſſe, um ſich dort der nachhaltigen Behand-
lung eines Augenarztes zu bedienen. Das war aber
nicht ohne weiteres möglich. Der Pfarrer bedurfte dazu
eines Urlaubes von der ihm vorgeſetzten Behörde, es
war nöthig, einen Stellvertreter für ihn anzuſtellen,
und bei ſeiner Mittelloſigkeit kamen in erſter Reihe
auch die Ausgaben in Betracht, welche ein mehrmonat⸗
licher Aufenthalt in der Hauptſtadt in ſeinem Gefolge
haben mußte. Ueber dieſe letzte Sorge half jedoch die
theilnehmende Gunſt der Gräfin fort, ſobald ſie durch
Miß Kenney Nachricht davon erhielt.
Sie rieth dem Pfarrer, ſich zugleich mit ihrer
alten Freundin nach der Stadt zu begeben und Hulda
natürlich mit ſich zu nehmeu. Dort in ihrem Stadt⸗
hauſe, das er ja als Erzieher ihres verklärten Gatten,
in ſeinen jungen Jahren lange genug bewohnt habe,
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möge er ſich in den ihm vertrauten und lieben Zim⸗
mern einrichten, und als ihr Gaſt ſo lange verweilen,
als es ihm erwünſcht und nöthig ſei. Daß ſie
den Stellvertreter beſolde, den man ihm geben werde,
daß ſie alle die Koſten decke, welche die Kur und
der Aufenthalt in der Stadt erfordern würden, be—
zeichnete ſie als etwas Selbſtverſtändliches, da es ſich
ja darum handle, ihren Gütern den treuen Seelſorger,
ihrem Hauſe den vielbewährten Freund in erneuter
Rüſtigkeit noch ferner zu erhalten.
Das hob ſchnell alle Schwierigkeiten, und der
ſchlichte Sinn des Greiſes an die Abhängigkeit von der
gräflichen Familie von jeher gewöhnt, fand ſich durch
den Gedanken beruhigt und erfreut, daß ihm der Bei⸗
ſtand dieſes edlen Hauſes auch jetzt nicht fehle, und daß
er alſo auf denſelben auch über ſeinen Tod hinaus
für ſeine Tochter rechnen dürfe. Anders aber wirkte
dieſe Gunſt der Gräfin auf das junge Mädchen.
Hulda konnte keinen Zweifel darüber hegen, daß
man das Anerbieten der Gräfin als ein Glück zu be⸗
trachten und es dankbar anzunehmen habe. Indeß wie
ſie ſich dies auch vorhielt, wie redlich ſie ſich's ſagte,
daß es hier auf Nichts ankomme als auf die Möglich⸗
keit, das Augenlicht und das Leben ihres Vaters zu
erhalten, es war in ihrem Innern ein unüberwind⸗
liches Widerſtreben dagegen, das Haus der Gräfin zu
betreten, ihrer Großmuth irgend Etwas zu verdanken.
Schon während der wenigen Tage, welche ſie im Som⸗
mer mit Miß Kenney in der Stadt verlebt hatte, war
es ihr beſtändig geweſen, als wolle eine geheime Ge⸗
21
walt fie nicht in jenen ernſten, Schönen Räumen dul⸗
den, und ſelbſt die Ausſicht auf das Neue jener Ge⸗
nüſſe, theilhaftig zu werden, an welche auch nur zu
denken, etwas Berauſcheudes für fie hatte, konnte das
gekränkte Ehrgefühl in ihr nicht zum Schweigen brin⸗
gen, ſo oft ſie ſich's auch im Gebete als einen falſchen
Stolz und einen Mangel an Kindesliebe, ja als eine
Auflehnung gegen die Wege Gottes zum Vorwurfe
machte.
Der Herbſt brach früh herein, Miß Kenney und
der Pfarrer wünſchten, nun die Angelegenheiten ein⸗
mal geordnet waren, die Ueberſiedelung nach der Stadt
ſo viel als möglich zu beſchleunigen; und das Laub
war noch nicht von den Bäumen abgefallen, als der
Pfarrer wieder, wie vor langen Jahren, aus dem
Fenſter ſeines einſtigen Wohnzimmers in den Garten
des gräflichen Stadthauſes hinausſah, in deſſen grad⸗
linigen Alleen Miß Kenney, von Hulda begleitet, ihren
täglichen Spaziergang machte.
Es war das erſte Mal, daß der Pfarrer feine Kirche
für längere Zeit verließ, daß er ſeiner Amtsthätigkeit
nicht obzuliegen hatte, und die volle Muße dünkte dem
müden Manne ſüß, da der Ausſpruch des Arztes, daß
er ſich dieſelbe nothwendig zu vergönnen habe, ſein
Gewiſſen beruhigt. Er kam ſich wie verjüngt vor,
wenn er in dem Bücherſaale umherging, deſſen Bücher
er einſt geordnet hatte. Er nahm den Katalog zur
Hand, den er in doppelten Exemplaren ausgeführt,
und freute ſich, daß feine Handſchrift trotz ſeiner vor⸗
gerückten Jahre noch nicht weſentlich verändert war.
22
Daß ihm unter ſeinen Amtsbrüdern und in manchen
anderen Aemtern noch hie und da einer der Freunde
lebte, mit denen er dereinſt ſtudirt und die ihn nicht
vergeſſen hatten, obſchon er ſie inzwiſchen nur ſelten
und immer nur in flüchtigem Beſuche wiedergeſehen,
das erhöhte ſein Behagen.
Auch Miß Kenney fühlte ſich in der Stadt zu⸗
frieden. Sie liebte den Verkehr mit Menſchen, ſie
war heimiſch und ſehr geſchätzt in den adeligen Fa⸗
milien, mit welchen die Gräfin befreundet und ver-
wandt war, und die Freigebigkeit der Letzteren legte
es ihrer alten Freundin förmlich als eine Pflicht auf,
für ſich und den Pfarrer die Einrichtungen ſo zu
treffen, als ob ſie in ihrem eigenen Hauſe wären, und
zu ſchalten und zu walten wie in einem ſolchen. Es
kamen auf dieſe Weiſe häufig Beſuche zu Miß Kenney,
auch der Pfarrer entbehrte der Geſellſchaft nicht, und
Hulda wurde bisweilen von ihrer Beſchützerin, die eine
große Theaterfreundin war, zu den beſten daun
in das Theater mitgenommen.
Das waren denn für Hulda Stunden, tu welchem
ſie Alles zu vergeſſen vermochte: die Gefahr, die ihrem
Vater drohte, und ihr eigenes Herzeleid. Sie ward
ſich ſelbſt entrückt. Sie ſtand im Geiſte ſelber an der
Stelle der Schauspielerin, deren Rolle fie am mäch⸗
tigſten ergriff. Sie durchlebte und durchlitt, was ſie
auf der Bühne erleben und erleiden ſah; und wenn
es Liebesworte, Liebesklagen waren, neidete ſie es den
Künſtlerinnen, daß fie ſagen, daß fie ausſprechen durf⸗
ten, was ſie ſelber ſtill in ſich verſchließen mußte.
23
Sie mußte lächeln, wenn fie fi) dieſes Gedankens
einmal bewußt ward, konnte ſich es aber dennoch nicht
verſagen, dem Vater, dem ſie vorzuleſen hatte, die
Monologe und die Scenen nachahmend zu wiederholen,
welche ihr am mächtigſten in's Herz gedrungen waren.
Der Pfarrer ließ ſich das gerne gefallen. Er freute
ſich der Wärme, mit welcher das Schöne und Erhabene
auf die Tochter wirkte; und ſie, wenn auch nur für
Stunden, von ſich und von ihren trüben Erinnerungen
abgezogen, ſie heiter und erhoben zu ſehen, machte ihn
ſelber froh und glücklich.
Man war ſchon ſeit ein paar Monaten in der
Stadt, als die Nachricht von der bevorſtehenden An-
kunft einer der größten Bühnenkünſtlerinnen jener Tage,
die Theaterfreunde in eine geſpannte Erwartung ver⸗
ſetzte. Wer Gelegenheit gehabt hatte, die berühmte
Gabriele früher einmal ſpielen zu ſehen, erinnerte ſich
deſſen als eines wahrhaften Genuſſes. Nicht nur in
tragiſchen Rollen nannte man ſie unvergleichlich, auch
das Muntere und Scherzhafte ſollte ihr in demſelben
Maße gelingen, denn ſie war immer noch jung und
ſchön zu nennen. Vor Allem aber konnten Diejenigen,
welche ihr perſönlich in der Geſellſchaft begegnet waren,
ſich nicht genug thun in der Schilderung ihrer natür⸗
lichen Anmuth, ihrer ſelbſtgewiſſen Freimüthigkeit, ihres
edlen Künſtlerſtolzes; und allen dieſen Ausſagen ſtimmte
Miß Kenney bei. Sie hatte die Künſtlerin zuerſt auf
der Bühne in der Reſidenz bewundert und ſie danach
in Italien wiedergeſehen, als dieſelbe bei einer ihrer
Erholungsreiſen im Haufe der Gräfin faft täglich em⸗
24
pfangen worden war. Seitdem waren allerdings meh-
rere Jahre verfloſſen.
Man berechnete, daß Gabriele wohl die erſte
Hälfte der Dreißig überſchritten haben müſſe, und wie
man eines Abends in dem kleinen Zimmer von Miß
Kenney wieder einmal auf die Erwartete zu ſprechen
kam, that eine der anweſenden Perſonen der Gerüchte
Erwähnung, welche über die Künſtlerin im Schwange
waren. |
Man erzählte, daß fie die ausgezeichneteſten Män⸗
ner, Künſtler, Schriftſteller und Fürſten zu ihren Füßen
geſehen, und wie ein junger, begabter Schauſpieler ſich
aus Liebe zu ihr das Leben genommen habe. Dann
wieder hieß es, ſie habe für einen berühmten Muſiker,
dem ſie ihre Neigung zugewendet, große Opfer aller
Art gebracht und ſei von ihm leichtſinnig auf⸗
gegeben und verlaſſen worden; nnd nachdem man ihr
noch dieſe und jene vorübergehenden Herzensangelegen⸗
heiten nachgeſagt hatte, behauptete man ſchließlich auf;
das Beſtimmteſte, daß ſie ſeit einigen Jahren heimlich
einem regierenden Fürſten vermält ſei, und daß dieſe
morganatiſch geſchloſſene Ehe nur deshalb verheimlicht
werde, weil Gabriele vor allem Anderen Künſtlerin
ſei und es ſich ausdrücklich vorbehalten habe, auf der
Bühne bleiben zu dürfen, ſo lange ſie dazu den An⸗
trieb in ſich fühle.
Wohlwollen und jene Abgeneigtheit, welche die
regelrechte Mittelmäßigkeit allem Außerordentlichen
gegenüber naturgemäß empfindet, welterfahrene Duld⸗
ſamkeit und unnachſichtige Sittenſtrenge machten ſich
25
auch in dieſem kleinen Kreiſe in der Beurtheilung der
berühmten Künſtlerin geltend. Darin aber ſtimmte
man überein, ihre großen Eigenſchaften des Geiſtes und
des Herzens anzuerkennen. Nur eine alte entfernte
Verwandte der Gräfin blieb hartnäckig bei ihrem Tadel.
Sie behauptete, man dürfe über die mancherlei Ver⸗
irrungen und über die Verſtöße gegen das Herkommen
nicht hinwegſehen, welche Gabriele ſich habe zu Schul-
den kommen laſſen; denn die Nachſicht, welche man in
dieſem Betracht gegen weibliche Berühmtheiten, nament⸗
lich gegen Bühnenkünſtlerinnen übe, ſei überhaupt nicht
zu verantworten.
Die Heftigkeit, mit welcher fie ihre Meinung vers
trat, reizte die duldſamen Verehrer der Künſtlerin zu
lebhafter Entgegnung, und da man, auf dieſen Weg
gelangt, einander raſch zu den äußerſten Grenzen der
Meinungsverſchiedenheiten hindrängte, ſo ſtand die alte
Dame bald nicht an, es unumwenden auszuſprechen,
daß in ihren Augen eigentlich jedes Frauenzimmer,
welches die Bühne betrete, das Anrecht verliere, von
der guten Geſellſchaft und von geſitteten Frauen als
ihresgleichen behandelt zu werden. Sie für ihre Perſon
habe ſich niemals entſchließen können, mit einer Frau
Verkehr zu halten, welcher der Erſtebeſte öffentlich ſein
Mißfallen bezeigen könne, wenn er das Geld an ſein
Eintrittsbillet einmal gewendet habe. Natürlich rief
das eben ſo heftige Entgegnungen hervor und die
Unterhaltung war nahe daran, gegen die gute Gewohn⸗
heit des Kreiſes, eine perſönlich verletzende Wendung
zu nehmen, als der Pfarrer ſich in das Mittel legte.
h 26
Er hatte den Erörterungen, hinter ſeinem Licht⸗
ſchirm ſitzend, bis dahin mit ſchweigender Aufmerkſam⸗
keit zugehört, denn das bevorſtehende Gaſtſpiel Ga⸗
brielens intereſſirte ihn, obſchon ſein Zuſtand ihm den
Beſuch des Theaters unterſagte. Er hatte aber in
ſeinen jungen Jahren das Theater ſehr geliebt und die
Eindrücke, welche er dort empfangen, nie vergeſſen.
Wie er in ſeiner langjährigen Einſamkeit Frau und
Tochter an den Werken unſerer großen Dichter heran⸗
gebildet und erhoben, hatte er ihnen an manchem
langen Winterabende davon geſprochen, in welcher
Weiſe die Dichtungen, die er beſonders liebte, von den
großen Bühnenkünſtlern, die er noch geſehen, von
einem Eckhoff, einem Schröder, einem Iffland auf⸗
gefaßt worden waren. Er hatte ſeine achtſam Zu⸗
hörenden damit entzückt, als würden ſie der Genüſſe
ſelber theilhaft, die er ihnen zu ſchildern verſuchte.
Seiner verſtändigen Bildung wie ſeinem milden Sinne
mißfiel deshalb die Herbigkeit, mit welcher jene Frau
ſich gegen die abweſende Bühnenkünſtlerin zu äußern
für nöthig hielt.
„Ich brauche es wohl nicht erſt beſonders hervor—
zuheben,“ ſagte er endlich, „daß ich die Bedenken gegen
alles öffentliche Auftreten von Frauen theile, und daß
ich ein ſolches für Frauen, die mir angehören, nicht
gutheißen würde. Gott hat die Frau ihrer Natur nach
zur Gefährtin eines Mannes, zur Mutter Einer Fa⸗
milie, zur Mitbegründerin Eines Hauſes beſtimmt,
und die Frau, welche dieſe Schranke überſchreitet, ver⸗
läßt damit die Grenze des Bereiches, für welches ſie
27
Gott erſchaffen hat, wofern es nicht Liebespflichten und
Werke der Barmherzigkeit ſind, welche ſie zu einem
Heraustreten aus ihrem natürlichſten Wirkungskreiſe
veranlaſſen. Sie iſt innerhalb der Familie fraglos vor
allem Irren und Fehlen, vor allen Anfechtungen und
verleitenden Leidenſchaften am ſicherſten behütet.“
Die Dame, welche ſich gegen Gabriele ausge⸗
ſprochen hatte, glaubte damit gewonnenes Spiel zu
haben. Sie ſtimmte alſo dem Pfarrer lebhaft bei, bis
dieſer noch einmal das Wort nahm. „Vielleicht,“
meinte er, „hat man das eigentliche Weſen der Frauen
in jenen Zeiten richtiger gewürdigt, in denen man
ihnen das Auftreten vor allem Volk verwehrte, und
ſelbſt die Frauenrollen von Jünglingen und Knaben
zur Darſtellnng bringen ließ, wie dies, unbeſchadet
ihrer Wirkung auf die Menge, bei den Alten und bis
weit hinein in unſere Zeit bei den größten dramatiſchen
Werken geſchehen iſt. Aber da wir die Welt und die
Zuſtände in ihr doch in der Entwickelung anzuerkennen
haben, welche ſie ohne Zulaſſung der Vorſehung nicht
genommen haben könnten, ſo dürfen wir denjenigen
Frauen, welche ihre Lebensaufgabe außerhalb der ſchö—
nen Schranken einer Häuslichkeit zu erfüllen haben,
keine zu ſtrengen Richter ſein. Wer in der Darſtellung
großer Leidenſchaften und gewaltiger Seelenkämpfe
ſeine Gedanken immer mit hochgeſpannten Empfin⸗
dungen zu erfüllen hat, wer ſich gewöhut, ſie in dem
Augenblicke des Darſtellens als die ſeinen vor aller
Welt Ohren auszuſprechen, wer als Schauſpielerin ſich
mit ſeiner Perſon dem Blicke und dem Urtheil von
28
Tauſenden von Männern immer auf das Neue preis—
zugeben und ihren Beifall auf jede Weiſe zu erringen
nöthig hat, deſſen Gefühlsleben muß mit der Zeit
nothwendig durch ſolche gewaltige Anſpannung über⸗
ſpannt werden, der muß eine gewiſſe Zartheit und
Keuſchheit des Empfindens einbüßen, und allmählich
das rechte Maß für die Grenze der Sitte, die rechte
Würdigung für die ſchlichte Erhabenheit verlieren, mit
welcher ein gottergebenes Gemüth ſich in engſter Be⸗
ſchränkung und Zurückgezogenheit ſchweigend in ſtiller
** zu beſcheiden und ſich glücklich zu
fühlen vermag.“ |
„Ich ſehe nicht, Her Pfarrer,“ meinte die Sitten⸗
richterin, „daß Sie meiner Anſicht widerſprechen. Sie
beſtätigen nur für die Allgemeinheit, was ich von einer
beſtimmten Perſon behauptete, und Sie verurtheilen
die Schauſpielerinnen im Grunde härter noch als ich.“
„Nein!“ entgegnete der Greis; „ich bin weit da⸗
von entfernt, die Frauen zu verdammen, die wir zu
beklagen haben, weil ihnen mit der zarten Scheu der
ſich achtenden Weiblichkeit, die ſie in ihrer Lebenslage
ſchwer bewahren können, die ſchönſte Zierde und die
ſicherſte Schutzwehr ihres Geſchlechtes nothwendig ver-
loren gehen muß. Gerade deshalb hat man aber es
mit doppelter Anerkennung zu betrachten, wenn eine
Frau, die ſich den großen Prüfungen und Verſuchungen
einer Schauſpielerin ausſetzt, ſich im Leben Achtung
und die Freundſchaft edler Menſchen zu erwerben weiß,
wie ich es hier von der Künſtlerin, die Sie erwarten,
doch vielfach habe ausſagen hören.“
29
Die Unterhaltung blieb darauf noch eine geraume
Zeit mit dem Theater und mit den verſchiedenen
Schauſpielern beſchäftigt, aber Hulda beachtete kaum
noch, was man von ihnen ſagte. Sie konnte ihres
Vaters Ausſpruch nicht vergeſſen. Er hatte begütigen
ſollen und kam ihr härter vor als Alles, was man
Anklagendes geäußert hatte. Sie vermochte nicht zu
glauben, daß man das Große, das Schöne darſtellen
könne, ohne ſelbſt davon erhoben zu werden. Ueber⸗
lief es ſie doch jedesmal mit einem heiligen Schauer,
wenn ihre Lippen die Worte unſerer Dichter ſprachen;
und wenn ſie von der Bühne aus ihr Ohr berührten,
war es ihr feierlich wie in der Kirche. Bei aller
Demuth, welche ſie vor dem Urtheile ihres Vaters
hegte, ſträubte ſich ihr Gefühl gegen feine ſoeben ge⸗
äußerte Meinung, und der Glaube, daß er, in dieſem
Falle von einem Vorurtheile befangen, den Schau⸗
ſpielerinnen Unrecht thue, daß es Ausnahmen auch
unter ihnen gebe, viele Ausnahmen geben müſſe und
daß Gabriele zu dieſen zähle, befeſtigte ſich in ihr.
Sie hatte Gabrielens Bild ſeit Wochen an den Fen⸗
ſtern der Kunſthandlungen aushängen ſehen, und der Adel
ihrer ſchönen Züge hatte ſie mächtig angezogen. Dieſe
reine Stirne konnte nichts Unedles denken. Die großen
Augen ſahen ſo ſicher in die Welt, als kennten ſie
dieſelbe und wüßten ſie zu überwinden. Selbſt das
Lächeln auf ihren Lippen war ſtolz bei aller Freund⸗
lichkeit, die ganze Haltung des Bildes hatte etwas
Majeſtätiſches. Hulda meinte, ſo könne nur eine
30
Frau den Kopf erheben, die auf ſich ſelbſt vertrauen
dürfe und ein gut Gewiſſen habe.
Sie hatte ſich mit der raſch zu belebenden Be⸗
geiſterungsfähigkeit der Jugend ein Ideal aus der
Künſtlerin gemacht, und da man es anzutaſten, es
von ſeiner Höhe herabzuziehen wagte, ſchloß ſie es nur
noch feſter in ihr Herz. So jung, jo ohne Welt
kenntniß ſie ſich wußte, meinte ſie es doch ſchon
nach eigener Erfahrung ermeſſen zu können, daß man
unverſchuldet Uebelwollen gegen ſic erregen, und wie
Neid und böſer Wille dem Rufe einer 1755 zu nahe
treten könnten.
Alles, was man an dem Theetiſche für und
gegen Gabriele vorgebracht, trug nur dazu bei, die
Spannung zu erhöhen, mit welcher ſie der Ankunft
derſelben entgegenſah, und mit einer Freude, wie
ſie ſie ſo lange nicht mehr gefühlt hatte, vernahm
ſie die Zuſage, daß ſie Miß Kenney bei dem erſten
Auftreten der Künſtlerin, zu welchem dieſelbe die Prin⸗
zeſſin in Göthe's „Taſſo“ gewählt hatte, in das a
begleiten ſolle.
Viertes Capitel.
— —
Es war ein finſterer, kalter Winterabend, an dem
die beiden Frauenzimmer, tief in ihre Mäntel und
pelzverbrämten Kappen eingehüllt, den Weg nach dem
Theater einſchlugen. Der Schnee kniſterte unter den
Füßen des Dieners, der ihnen die Stocklaterne durch
die menſchenleeren Straßen vortrug. Nur vor dem
Schauſpielhauſe war Leben und Bewegung. Wagen
um Wagen fuhren in raſcher Folge auf. Männer
und Frauen ſchritten durch die engen Vorhallen und
Treppen. Aus der Konditorei drang der Geruch heißer
geiſtiger Getränke heraus, mit denen einzelne der an⸗
gekommenen Männer ſich ſtehenden Fußes zu erwär⸗
men ſuchten. Aber Alles eilte, Alles haſtete, als er⸗
warte man etwas ganz Ungewohntes; und die erſten
mächtigen Töne der Ouvertüre drangen ſchon an ihr
Ohr, als die beiden Frauen in das Theater traten.
Der Raum war von Menſchen überfüllt, alle
Blicke hingen an dem Vorhang. Er rauſchte empor,
eine italieniſche Landſchaft breitete ſich vor dem Auge
aus, helles Sonnenlicht beſtrahlte die Kronen der
32
Pinien, die Gipfel der Cypreſſen. Es glänzte wider
von der Marmor⸗-Baluſtrade der Terraſſe, auf der die
beiden Leonoren, Kränze windend, dageſeſſen hatten,
und nun ſich erhebend und zwiſchen den Hermen Vir⸗
gil's und Arioſto's aus dem Hintergrunde langſam
vorwärtsſchreitend, trat Gabriele, welche die Prinzeſſin
darſtellte, von ihrer Mitſpielerin begleitet, ruhig und
gemeſſenen Schrittes in den Vordergrund. |
Ein Beifallsſturm empfing ſie. Ihr bloßes Er⸗
ſcheinen entſprach der Erwartung, mit der man ihr
entgegengeſehen hatte. Ihr ſchönes Auge überflog die
Verſammlung, aber ſie hatte Geſchmack genug, ihre
Darſtellung nicht durch jene Zeichen des Dankes zu
unterbrechen, mit welchen die Maſſe der Schauſpieler
in ſolchen Fällen ſich nicht ſcheut, aus ihrer Rolle
herauszutreten und die Phantaſie der Zuhörer zu be⸗
leidigen; und in freundlicher Gelaſſenheit u die
Frage von ihren Lippen:
Du ſiehſt mich lächelnd an, Eleonore,
Und ſiehſt Dich ſelber an und lächelſt wieder.
Was haſt Du? Laß es eine Freundin wiſſen,
Du ſcheinſt bedenklich, doch Du ſcheinſt vergnügt.
Es war, als ob ein Zauber mit den Worten
ausgeſprochen worden wäre. Man fühlte ſich dem
Leben, daß man zu leben gewohnt war, wie entrückt.
Man athmete in einer anderen Luft, man empfand
mit Sinnen, von denen der Druck des mühevollen
Ringens, des arbeitſamen Tages, von denen alles
Sorgen und Wünſchen fortgenommen war, und gab
33
ſich in feiernder Betrachtung dem Augenblicke und dem
Genuſſe der Schönheit hin.
Selbſt Diejenigen unter den Zuhörern, welche
ſich ſagen durften, daß ſie vollauf mit dem Geiſte des
Gedichtes vertraut wären, daß jedes Wort deſſelben in
ihnen lebendig ſei, mußten ſich eingeſtehen, daß ſie es
bis zu dieſer Stunde nicht in ſeiner ganzen Schön-
heit gewürdigt hatten, weil heute zum erſtenmale eine
Prinzeſſin Leonore vor ihnen ſtand, wie ſie dem Dichter
vorgeſchwebt haben mußte in dem ſcheuen Liebebedürf⸗
niß ihrer zu entſagender Abgeſchloſſenheit herangebil⸗
deten Natur. Die Künſtlerin beherrſchte und rührte
durch ihre ſchlichte Erhabenheit. Man ward fo fehr
von der maßvollen Schönheit ihrer Bewegung, ihrer
Stimme und Sprache ergriffen, daß ſelbſt der be⸗
geiſterte Beifall, den ſie erntete, in ſeinem Ausdrucke
durch eine Art von Ehrfurcht gemäßigt wurde. Und
jenes Zutrauen, das Hulda ihr entgegengebracht hatte,
noch ehe ſie Gabriele geſehen, ſteigerte ſich zu einer
liebenden Hingebung an die ſeltene Erſcheinung.
Das Herz ſchlug ihr ſeit der Trennung von
Emanuel zum erſtenmale leicht und frei, zum erſten⸗
male fühlte ſie wieder ein lebhaftes Verlangen,
das ſich nicht auf ihn bezog. Sie wollte Gabriele
ſprechen. Was ſie davon erwartete, das hätte ſie
nicht jagen können. Es war ein reines Bedürf⸗
niß, zu verehren, und jene unbeſtimmte Hoffnung
in ihr, die den Gläubigen ſich vor einem wun⸗
derthätigen Bilde neigen machen, und es erſchien ihr
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 3
34
deshalb wie die ſichere Anwartſchaft auf ein großes
Glück, als Miß Kenney, ebenfalls ergriffen durch die
Darſtellung, die Abſicht kundgab, Gabrielen für den
gehabten Genuß brieflich zu danken, ſie an ihr frühe⸗
res Zuſammentreffen zu erinnern und daran den
Wunſch eines Wiederſehens anzuknüpfen.
Das Briefchen wurde denn auch gleich an dem
nächſten Tage geſchrieben und abgeſendet, und erhielt
ſofortigen und freundlichen Beſcheid. Gabriele lehnte
es ab, den Beſuch der alten Dame zu empfangen, da ſie
über ihre Zeit nicht Herr und in ihrem Gaſthofe wenig
ſich ſelbſt überlaſſen ſei; aber ſie verhieß zu kommen,
ſobald ihr eine freie Stunde bleibe, und ſie drückte da⸗
neben die Erwartung aus, Miß Kenney werde auch
ihren ferneren Darſtellungen mit gleichem Antheil
folgen.
Das verſtand ſich für die alte Theaterfreundin
ganz von ſelbſt. Wer es nur irgend erſchwingen und
ſich eines Platzes verſichern konnte, verſäumte in dieſen
Tagen das Theater nicht, und jede neue Rolle, in
welcher Gabriele erſchien, wurde zu einem neuen
Triumphe für ſie. Heute entzückte ſie die Zuſchauer
als Mirandolina, morgen bewunderte man ſie als
Julia, und worin immer man ſie ſah, meinte man,
ſie in ihrer beſten Rolle geſehen zu haben. Sie machte
faſt den einzigen Gegenſtand der Unterhaltung aus,
und mit jedemmale, daß man von ihr im Beiſein
Hulda's ſprach, bedauerte dieſe es lebhafter, daß ſie
keine Ausſicht hatte, Gabriele noch einmal auf der
Bühne zu ſehen. Bald wollte ſie den Vater, bald
7
er,
a n
35
Miß Kenney darum bitten, ihr die Freude noch ein⸗
mal zu bereiten, aber ſie hatte in beiden Fällen Be⸗
denken, es zu fordern. Wenn ihr dann dazwiſchen
der Einfall kam, an Gabriele zu ſchreiben, ihr zu
ſagen, wie glücklich ſie ſie machen könne, ſo wies ſie
ſolchen Gedanken ſchon im nächſten Augenblicke wieder
von ſich, und ſchalt ſich für die thörichte Vermeſſenheit,
aus welcher er entſprungen war.
Darüber vergingen die Tage, welche für Gabrielens
Gaſtſpiel beſtimmt waren. Sie war zum zweitenmale
als Julia aufgetreten, weil man ſie eben in dieſer
Rolle noch einmal zu ſehen gewünſcht hatte, und ſo
mächtig war der Eindruck geweſen, daß Miß Kenney
trotz ihrer Jahre durch ihn in eine völlige Aufregung
verſetzt worden war. Noch in den ſpäten Abendſtunden
wurde ſie nicht müde, dem Pfarrer und ſeiner Tochter
mit ſolcher Lebhaftigkeit davon zu ſprechen, daß ſie
dadurch endlich ſelbſt in dem Greiſe den Wunſch an⸗
regte, des erhebenden Genuſſes auch einmal theilhaftig
geworden zu ſein.
Am folgenden Tage ſpielte Gabriele nicht. Der
Pfarrer und Hulda waren alſo Abends, wie gewöhn⸗
lich, in Miß Kenney's Zimmer gegangen, um ein
paar Stunden mit gemeinſamem Leſen auszufüllen,
als ein Wagen in den ſtillen Vorhof des Hauſes ein⸗
fuhr, und Gabriele ſich melden ließ. Gleich darauf
und noch ehe Hulda, wie ihr befohlen, die Lichter auf
dem Seitentiſche zum Empfange des erſehnten Gaſtes
hatte anzünden können, trat die Gefeierte ſchon bei
3 *
(9)
36
ihnen ein, jo freundlich und jo ſtrahlend, daß man
meinte, ſie bringe das Licht mit ſich, welches das Zim⸗
mer jetzt erhellte.
„Sie haben wohl an mir zu zweifeln angefangen,
weil ich mich gar ſo lange habe erwarten laſſen,“
ſagte ſie, indem ſie raſch auf Miß Kenney zuſchritt
und mit anmuthiger Bewegung ihrer alten Bekannten
die beiden Hände reichte, „aber bei ſolchen Kunſtreiſen
gehört man ſich ja nicht, und thut am ſeltenſten Das⸗
jenige, was man eben thun möchte, denn: „Schau zu
ſpielen iſt ja unſer Fall!“ Ich habe mir die Stunde
bei Ihnen, liebe Freundin, auch nur dadurch frei machen
können, daß ich mich früh zu dem Balle bei dem
Gouverneur ankleiden ließ, auf welchem ich mich heute
Abends von nahebei anſehen und ausfragen zu laſſen
habe. Dafür will ich mich aber hier im voraus ſchad⸗
los halten. Sie ſollen mir eine Taſſe Thee geben und
mir erzählen, wo die Gräfin iſt, wie ſie lebt, wie
Clariſſe und der junge Graf ſich entwickelt haben,
und wie es zugeht, daß ich Sie hier ohne die gräfliche
Familie finde.“
Sie hatte das Alles ſchnell wie eine Fürſtin ge⸗
ſprochen, die es weiß, daß man ſich glücklich ſchätzt,
fie reden zu hören, und daß man ſich durch die Theil⸗
nahme, welche ſie erweiſt, geehrt fühlt. Nun wendete
ſie ſich gegen den Paſtor und deſſen Tochter,
ſagte, ſie freue ſich, daß ihre alte Freundin nicht
allein zu leben ſcheine, und erkundigte ſich bei der⸗
ſelben, ob es Verwandte wären, welche ſie hier bei
ſich hätte.
. 37
Miß Kenney ſtellte ihr die Beiden vor, gab Aus⸗
kunft auf alle Fragen ihres Gaſtes und während der
Pfarrer ſich mit Sicherheit, wie es ſich eben ſchickte,
in die Unterhaltung miſchte, ſah Hulda, welche den
Thee bereitete, mit ſtummer Freude unverwandt zu
Gabriele hin. Sie erſchien ihr jünger und ſchöner
noch als auf der Bühne, aber ſie konnte ſich nicht
darin finden, daß dieſe nach der letzten Mode mit
Blumen und mit Edelſteinen reichgeſchmückte Frau,
Taſſo's Prinzeſſin Leonore ſei, daß ſie lache und
ſcherze, daß ſie zum Balle gehen und tanzen werde.
Sie meinte eine Enttäuſchung zu erleiden, und doch
entzückte Gabriele ſie, denn Alles an ihr war ſchön
und ausgebildet. Ihre Stimme, ihre Sprache, ihre
Ausdrucksweiſe und jede ihrer Mienen, waren im Ein⸗
klang mit einander, daß ſie bei aller Natürlichkeit wie
ein Kunſtwerk wirkte und erfreute.
Als Hulda herantrat ihr den Thee zu reichen,
ſchien ſie erſt achtſam auf das junge Mädchen zu wer⸗
den. Sie ſah Hulda mit Ueberraſchung an, und rief,
indem ſie dieſelbe feſt ins Auge faßte: „Sonderbar!
aber ich glaube, ſo muß ich einmal ausgeſehen haben!“
— und ſich zu Miß Kenney wendend, während Hulda's
Wangen ſich in dunkler Röthe färbten, fragte ſie:
„Sie haben mich ja gekannt, als ich zehn, zwölf Jahre
jünger war; finden Sie nicht, daß dieſes Mädchen
mir ſehr ähnlich ſieht?“
Miß Kenney wollte das nicht gelten laſſen. Eine
gewiſſe Gleichheit der Farben, ſagte ſie, ſei wohl vor⸗
handen, eine wirkliche Aehnlichkeit der Züge könne ſie
38
nicht auffinden. Indeß Gabriele war nicht gewohnt,
daß man ihr Unrecht gab, und ſich raſch erhebend,
nahm ſie Hulda bei der Hand, trat mit ihr an den
Spiegel heran, und mit prüfendem Blicke über die
beiden Köpfe hingleitend, wiederholte ſie: „Aber ganz
auffallend gleichen Sie mir, liebes Mädchen! Nur
ſchlagen Sie die Augen nicht ſo nieder und machen
Sie kein ſo ängſtliches Geſtcht, denn zum Erſchrecken
iſt es doch wirklich nicht, daß Sie mir ähnlich ſehen.
Sie bog ſich dabei freundlich zu Hulda hinüber, küßte
ſie auf die Stirne und ſagte: „Nun darf ich nicht
einmal mehr ſagen, daß Sie mir gefallen, und Sie
haben alſo doch gleich einen Nachtheil durch die
ſchlimme Aehnlichkeit mit mir!“
Sie ging darauf an den Theetiſch zurück, fragte
den Pfarrer, dem die Freude, welche die berühmte
Frau an ſeinem Kinde hatte, gar wohl that, wie er ſich
innerlich wegen dieſer Eitelkeit auch tadelte, ob er die
Tochter auf dem Lande erzogen habe, und weil Miß
Kenney, die vor allem Anderen immer Gouvernante
und Erzieherin war und blieb, die große Beachtung
nicht für angemeſſen hielt, welche Gabriele auf Hulda
wendete, meinte ſie, die Frage der Künſtlerin plötzlich
unterbrechend, das Beſte an Hulda's Erziehung ſei,
daß ſie ihr Empfindung für das Große und das
Schöne gegeben habe. Hulda ſei ſehr glücklich ge⸗
weſen, Gabriele neulich als Leonore zu bewundern.
„Und in welchen Rollen haben Sie mich ſonſt
geſehen?“ fragte die Künſtlerin. Hulda ſagte, daß ſie
nur das eine Mal im Theater geweſen ſei, obſchon ſie
— Aa
cas
ſehnlich gewünscht habe, fie als Julia ſehen zu können.
Selbſt der Pfarrer drückte ihr ſein Bedauern aus,
daß ihm dieſe Freude verſagt worden ſei, und Miß
Kenney erwärmte ſich auf das Neue, als ſie es
Gabrielen ausſprach, wie einzelne ihrer Worte und
Bewegungen ſie ergriffen hätten.
Die Künſtlerin hörte es mit der heiteren Ge—
nugthuung an, welche jede ehrliche und warm⸗
herzige Anerkennung auch dem Vielgefeierten bereitet.
Dann ſich zu Hulda wendend, an welcher ſie ein
unverkennbares Wohlgefallen zu haben ſchien, ſagte
ſie: „Die Julia ſpiele ich hier nicht wieder, dazu
kann ich Sie leider nicht mehr einladen, aber ich
halte ſie ſelbſt für eine meiner beſten Rollen und
freue mich immer, wenn die Leute das ebenfalls
finden. Indeß — da Sie ſo ſehr gewünſcht haben,
mich als Julia zu ſehen, ſo muß man verſuchen, wie man
Ihnen, ſoweit als möglich, einen Erſatz dafür bietet, und
zugleich den Herrn Pfarrer für dieſe Stunde entſchädigt,
in der Sie ſonſt ſeine Vorleſerin machen. Sie zog
die Uhr aus dem Gürtel ihres Kleides, ſah nach der
Zeit und meinte dann: „Eine halbe Stunde habe
ich noch vor mir. Haben Sie einen Shakeſpeare hier
im Haufe, fo will ich Ihnen ein paar Scenen leſen,
wenn Sie mir die Gegenparte halten wollen.“
„Ich? Ihnen? Ach, das kann ich nicht!“ rief
Hulda, der immer unwahrſcheinlicher wurde, was ſie
eben jetzt erlebte.
„Probiren Sie es nur, es koſtet nicht das Leben,“
40
ſcherzte Gabriele, „und nun ſchnell das Buch herbei,
denn wir dürfen keine Zeit verlieren!“
Das Trauerſpiel war gleich zur Hand. Hulda
hatte es in den Tagen geleſen, da es ihr nicht ver—
gönnt geweſen war, der Aufführung beizuwohnen.
Gabriele ſchlug die erſte Scene zwiſchen Romeo und
Julie auf und wies Hulda an, den Romeo zu leſen,
während ſie ihre Rolle aus dem Gedächtniß ſprach.
Sie war in allerbeſter Stimmung. Sie begann mit
der Ballſcene, ließ die Zwieſprache vom Balkone darauf
folgen und reihte daran die Scene, in welcher Julia,
Kunde von Romeo erwartend, den Tod Tybalt's
erfährt. Dann ging ſie zu dem Abſchiede der
Liebenden bei Tagesanbruch über, und ſo in geſchickter
Wahl von Scene zu Scenee bis an das Ende der
Dichtung fortſchreitend, ſpann ſie ihre drei Zuhörer
mit jedem Worte feſter in die Täuſchung ein, welche
ſonſt nur der Anblick der Darſtellung gewährt. Sie
hatte die Liebesſcenen und das Selbſtgeſpräch, bevor
ſie den Schlaftrunk nimmt, mit einer ſo überwältigen⸗
den Wahrheit geſprochen, daß den beiden Alten die
Thränen in die Augen gekommen waren. Was Hulda
jedoch dabei empfand, das ging weit hinaus über eine
ſolche Rührung. | |
Das Herz hatte ihr laut geſchlagen, als ſie die erſten
Worte der Dichtung vor Gabrielen hatte ausſprechen
müſſen, aber je weiter ſie geleſen hatte, um ſo mehr
hatte ſie ſich ſelbſt vergeſſen, um ſo freier war ihre
Seele in der Bewunderung Gabrielens geworden. Wie
man im Traume Dinge erlebt und vollbringt, die man,
41
während man ſie thut, mit feinem eigentlichen Bewußt⸗
ſein für unmöglich hält, ſo hatte ſie ſich ganz an die
Dichtung und an die Darſtellerin hingegeben. Sie
hatte fort und fort geleſen und zuletzt in beglücktem
Staunen dageſeſſen, als die Künſtlerin ihren letzten
Monolog mit den Worten
„O willkommener Dolch!
Dies werde deine Scheide. Roſte da
Und laß mich ſterben!“
beſchloß.
Gabriele erhob ſich danach raſch, warf, aufathmend
und lächelnd, die reichen Locken des ſchönen Hauptes
zurück, die ihr über die Stirne gefallen waren, und
ſagte, weil die Macht des Eindruckes ihre Hörer ver⸗
ſtummen ließ, ſich zu Hulda wendend, indem ſie ihr
die Hand reichte: „Nun, habe ich es gut gemacht? Sind
Sie mit mir zufrieden liebes Mädchen?“
„Ja!“ ſagte Hulda; und ſelbſt das Eine Wort
zu ſprechen fiel ihr ſchwer, aber ſie neigte ſich, während
der Vater und Miß Kenney der Meiſterin mit Wärme
dankten, küßte Gabrielens Hand und blieb dann ſtehen
und ſah ſie an. Die Thränen floſſen ihr vor Begei⸗
ſterung über die Wangen nieder.
„Wie lebhaft Sie empfinden!“ ſagte Gabriele,
der die ſtille, leidenſchaftliche Huldigung des jungen
Mädchens wohlgefiel. „Ihre Tochter lieſt ſehr gut,
Herr Paſtor!“ fügte ſie hinzu, „wirklich ungewöhnlich
gut. Sie hat mich durch keinen falſchen Ton geſtört,
bisweilen ſogar überraſcht. Dafür ſoll Sie mich nun
auch noch als Donna Diana in meiner Abſchiedsrolle
42
ſehen. Sie find ja ein Kind vom Lande,“ ſcherzte te
gegen Hulda, „alſo wohl früh auf. Kommen Sie
morgen um neun Uhr zu mir, dann ſollen Sie Eintritts⸗
karten für Sie und für Miß Kenney haben, und nun
muß ich machen, daß ich fortkomme, denn ich mag nicht
auf mich warten laſſen!“
Damit wickelte ſie ſich in die Zobelpalatine ein,
die ſie bei ihrem Eintritte umgehabt hatte und ver⸗
ließ die dankbar ihr Folgenden mit der Verſicherung,
daß ſie ebenſo viel Freude an ihrem Beifall ge⸗
habt, als hätte ſie vor dem größten Publikum
geſpielt. 5 |
Fünftes Capitel.
Die Sonne war noch nicht über die hohen Giebel⸗
dächer der alten Häuſer in den ſchmalen Straßen
emporgeſtiegen, und es war bitterkalt, als Hulda nach
damaliger Landesſitte in ihrem feſtanliegenden Pelz-
rock, mit dunklem Wollenzeuge überzogen, die kleine,
das Geſicht umſchließende Sammetkappe auf dem
Kopfe, ſich am Morgen auf den Weg zu Gabrielen
machte.
Zwei mit Poſtpferden beſpannte Wagen ſtanden
vor dem Gaſthof. Unten in dem Hausflur brannten
die Lichter noch, denn es wird im Winter in jenen
Gegenden ſpät Tag. Der Hauswart, an welchen ſich
Hulda, die noch nie allein in ein Gaſthaus eingetreten
war, mit verlegener Frage wendete, ſagte ihr, daß
Mademoiſelle ſchon aufgeſtanden ſei und Befehl ge⸗
geben habe, wenn ein junges Mädchen käme, es bei
ihr vorzulaſſen. Man mochte ſie als eine Hilfeſuchende
betrachten.
44
Gabriele ſaß in einem dunkelen ſeidenen Morgen—
rocke mit hellen Aufſchlägen an ihrem Frühſtückstiſche.
Das Feuer flackerte mit luſtigem Scheine in dem
Ofen, ſilberne Armleuchter erhellten den Tiſch. Trotz
der befrorenen Scheiben ſtanden blühende Blumen in
Töpfen an den Fenſtern und blühende Sträuße in
den Vaſen auf den Tiſchen. Bücher, Zeitungen,
Briefe und eine Menge von Kleinigkeiten aller Art
nahmen den Schreibtiſch ein. Die Kammerfrau trug
ein Koſtüm von rothem, goldgeſticktem Sammet durch
das Zimmer.
Hulda hatte in dem Schloſſe wohl Aehnliches ge⸗
ſehen, es hatte jedoch hier, wie ſie meinte, Alles einen
anderen Anſtrich. Es ſah Alles hier weit freier, zu—
fälliger, romantiſcher aus. Es gefiel ihr beſſer, ohne
daß ſie ſich während des flüchtigen Blickes Rechenſchaft
darüber geben konnte, denn Gabriele rief ihr freundlich
„Guten Morgen!“ zu. Sie ſagte, nach ſolchem
Gange durch den kalten Morgen habe Hulda gleich
eine Erwärmung nöthig. Sie befahl alſo noch eine
Taſſe zu bringen, und hieß Hulda den Pelz und die
Kappe ablegen, um mit ihr zu frühſtücken.
Sie ſelber rückte ihr den Stuhl heran, ſchenkte
ihr die Chokolade ein, und wie ſie Hulda dann noch
einmal anſah, meinte ſie: „Jetzt, da Sie mit den
friſchen rothen Farben von der Straße kommen, ſehe
ich erſt recht, wie jung ſie ſind. Geſtern täuſchte mich
Ihre ſtattliche Figur darüber. Wie alt ſind Sie eigent⸗
lich, mein liebes Kind?“
Hulda ſagte, ſie ſtehe im achtzehnten Jahre.
45
„And Sie waren immer auf dem Lande? —
Sie haben, wie Ihr Vater mir geſtern ſagte, Ihr
Vaterhaus nicht viel verlaſſen. Dafür haben Sie
merkwürdige Töne in Ihrer Stimme, und in Ihrer
Bruſt — Töne, die man in der Kinderſtube doch nicht
zu erlernen pflegt. Wo haben Sie die her?“
Hulda ſah ſie an, als verſtehe ſie die Frage
nicht recht. „Ich meine, ob Sie ſonſt ſchon ähnliche
Verſuche wie den geſtrigen gemacht, ob Sie ſchon
öfters Dramen mit vertheilten Rollen geleſen haben?“
Hulda bejahte das. „Man hat mich im verwichenen
Winter bisweilen in das Schloß hinüberkommen laſſen,“
ſagte ſie, „um bei dem Leſen auszuhelfen.“
„Da alſo haben Sie es gelernt? Mit wem haben
Sie denn dort geleſen?“
„Es war oft größere Geſellſchaft beiſammen, bis⸗
weilen aber waren es nur Comteſſe Clariſſe und
der Fürſt und“ — ſie ſtockte — „und der Herr Baron.“
„Was für ein Herr Baron?“
„Baron Emanuel!“ ſagte Hulda, während eine
dunkle Röthe ihr Geſicht übergoß und ſie die Augen
nicht aufzuheben vermochte, weil ſie fühlte, daß ſie ſich
verrieth.
„Ja ſo! nun verſteh' ich's! Nun verſtehe ich es,
mein Kind! wo Du den tiefen, weichen Ton der Klage
her haſt, den man nicht vom Hörenſagen lernt — am
wenigſten mit fiebzehn Jahren!“ rief Gabriele aus,
und wie ſie dabei dem jungen Mädchen mit ihrem
klugen, klaren Blick die Hand reichte, da hielt ſich Hulda
länger nicht.
46
Alles, was fie das ganze Jahr hindurch ſtill und
klaglos in ſich verſchloſſen hatte, all das ſchöne Hoffen,
das ihr mit einem harten Schlage zertrümmert worden
war und das neu aufzubauen ſie ſich verbieten mußte,
die ganze troſtloſe Entmuthigung, die ſelbſt das Vor⸗
wärtsblicken in die Zukunft ſcheute, und das nicht zu
ertödtende Verlangen nach einem nahe geglaubten Glück,
das Alles ſtürmte mit einemmale und ſo gewaltig auf
ſie ein, daß ſie, hingeriſſen von dem freundlichen Ent⸗
gegenkommen der Frau, in der ſie ein höheres
Weſen verehrte, ſich unwillkürlich zu Gabrielens Füßen
warf und, das Geſicht auf deren Knieen bergend, unter
ſtürzenden Thränen die Worte hervorſtieß: „Ach ver-
geben Sie mir! ich kann nicht anders! ich bin ſo un⸗
glücklich.“ | |
„Steh' auf, Kind! liebes armes Kind! ſo ſteh'
doch auf!“ rief Gabriele, indem ſie die Weinende em⸗
porhob und in ihre Arme ſchloß, die, beſchämt über
ihr leidenſchaftliches Thun, ihre Augen trocknete und
ſich zu faſſen ſuchte. Aber Gabrielens Theilnahme,
die zuerſt durch jene Aehnlichkeit erregt worden war,
welche Hulda wirklich mit derſelben beſaß, zeigte ſich
auch jetzt. Sie hatte Mitleid mit dem Zwange, den
das junge Mädchen ſich auferlegte.
„Quäle Dich nicht!“ ſprach ſie, „weine Dich nur
aus. Es giebt Thränen, die Vater und Mutter nicht
ſehen dürfen, die aber doch geweint ſein wollen und
ſanfter fließen, wenn ein Anderer es ſieht, der es gut
mit uns meint — und ich meine es gut mit Ihnen!
Sehr, ſehr gut! Alſo reden Sie, weinen Sie ſich nur
47
aus! Was iſt Ihnen denn geſchehen? Erzählen Sie
mir Alles! Ich werde es verſtehen! Denn ich habe auch
vielerlei, gar vielerlei erleben und erleiden müſſen! Mir
dürfen Sie Alles ſagen, Alles!“ |
Und Hulda erzählte Alles, Alles! mit all ihrer
Wahrhaftigkeit. Es war ihr wie eine wirkliche Erlö⸗
ſung, daß ſie endlich einmal ſprechen konnte, daß
endlich über ihre Lippen kam, was keines Menſchen
Ohr von ihr vernommen, was ſie dem Geliebten nie
zu ſagen vermocht und was ihr faſt das Herz zerſprengt
hatte, weil ſie es allein in ſich getragen hatte, bis auf
dieſe Stunde.
Draußen war es völlig Tag geworden. Die Sonne
ſchien hell durch die beeiſten Scheiben, die Kerzen
brannten noch immer auf dem Tiſche, aber keine der
beiden Frauen bemerkte es, keine dachte daran ſie aus⸗
zulöſchen. Erſt als Hulda mit einem ſtillen Seufzer
ihre einfache Erzählung ſchloß, und Gabriele auf ihre
Erkundigung, was denn nach der Entfernung des
Barons und nach Hulda's Geneſung noch geſchehen
ſei, die Antwort erhalten hatte, fragte ſie: „Und was
erwarten Sie nun ferner? Was denken Sie zu thun?“
Hulda hob die Augen traurig zu ihr empor.
„Was kann ich thun, als meine Pflicht erfüllen! Muß
ich doch Gott danken, daß er mir die Möglichkeit dazu
noch gönnt!“ entgegnete ſie mit leiſer Stimme.
„Ja!“ verſetzte Gabriele, „ich fühle Ihnen das
wohl nach, Sie müſſen jetzt bei ihrem Vater bleiben.
Aber ich hätte nicht alſo gehandelt, und der Baron
rechnet Ihnen Ihre Kindesliebe ſicher nicht als Tugend
48
an. Ich kenne ihn ſeit Jahren!“ — Sie ſah, wie
das Geſicht des Mädchens bei den Worten von einer
ſchnell aufzuckenden Freude leuchtete. „Ich kenne Baron
Emanuel genau und gut, fügte ſie danach hinzu, ihn
und ſein ſchwärmeriſches, weiches Herz, und ich kann
begreifen, daß Sie ihn lieben, wie daß er Sie liebte.
Aber er iſt ein Mann, und eben ein ſchwärmeriſcher
Mann, und er hat die ganze empfindungsvolle und
mißtrauiſche Selbſtſucht eines ſolchen. Ein Mann,
wie Baron Emanuel, fordert andere Liebesproben, als
Sie ihm geboten haben; der anerkennt keinen Anſpruch,
als nur denjenigen, welchen ſein Herz und ſeine Liebe
an Sie zu machen hatten. Er wollte ein Opfer
bringen für Sie, ſo waren Sie ihm auch ein Opfer
ſchuldig. Er hat ſich ganz gewiß geſagt, die rechte
Liebe kennt Nichts als ſich ſelbſt, die rechte Liebe muß,
wie es ja auch in der Bibel heißt, Vater und Mutter
verlaſſen und dem Manne folgen! Sie haben ihn in
dieſen Erwartungen getäuſcht. Wie ſoll er an Ihre
Liebe glauben, da Ihr kindlicher Gehorſam ſtärker ge-
weſen iſt, als Ihre Liebe für den Geliebten Ihres
Herzens?“ |
Hulda hatte eine ſolche Antwort nicht erwartet,
ſie that ihr deshalb wehe. „Konnte ich denn gegen
meines Vaters Willen handeln?“ fragte ſie. „Konnte
5 3
Gabriele ließ ſie nicht vollenden. „Freilich
konnten Sie das, freilich mußten Sie das! Und auf
49
Händen hätte Sie der Baron dafür getragen — denn
gerade er hatte eines ſolchen Liebeszeichens nöthig. Aber
Ihr leſet und lernet Euere Dichter und beherziget ſie
nicht! — Sie haben es gewiß Thon oftmals ausge-
ſprochen das tiefſinnige: „Und ſehnt' ich mich nach un⸗
gemeinen Schätzen, ich muß das Ungemeine daran
ſetzen!“ — und jenes ewig wahre: „Was du von der
Minute ausgeſchlagen, bringt keine Ewigkeit zurück!“ —
Haben Sie danach gehandelt?“
Hulda verſtummte davor. Gabriele ergriff ihre
Hand. „Ich will Ihnen nicht wehe thun, Kind!“
ſagte ſie ſanft. „Im Gegentheile! Ich möchte Ihnen
nur beweiſen, daß Ihnen Nichts widerfahren iſt, was
Sie nicht ſelbſt veranlaßt haben; denn ich finde, man
wird immer ruhig, wenn man ſich einer vernünftigen
Folgerichtigkeit der Dinge gegenüber weiß. Deshalb halte
ich Sie aber keineswegs für ſchuldig. Man erzieht
Euch ja in den ſogenannten guten Bürgerfamilien in
einer Anſchauungsweiſe, die Euch den Muth Euerer
Meinung nimmt. Man erzieht Euch für den Haus⸗
gebrauch, und nur Wenige kommen darüber hinaus.
Auch Sie, mein Kind, haben das nicht vermocht. Sie
trauten ſich zu, den Bann zu brechen, der über Ihrem
Geliebten lag, und konnten ſich ſelbſt nicht losmachen
von den Banden, die Sie für heilige hielten, und die
ein Jeder bis zu einem gewiſſen Punkte auch zu ehren
hat. Das werden Viele loben und bewundern. Ich
freilich lobe und bewundere es nicht. Es iſt Jeder von
uns um ſeiner ſelber willen auf der Welt, und wenn
Fanny Lewald, Die Erlöjerin. II 4
50
die Liebe die ſtärkſte Kraft des Frauenherzens iſt, To
iſt der Muth der Liebe in meinen Augen des Weibes
höchſte Tugend.“ Sie machte eine kleine Pauſe, ſah
Hulda, die ſprachlos und überwältigt an ihrer Seite
ſaß, eine kleine Weile an und ſagte danach: „Sie haben
den Romeo ſo gut geleſen und die Julia ſo ſchlecht
verſtanden! — Trotzdem — es iſt Etwas in Ihnen,
das mich an meine Jugend mahnt!“
„Sie mußten alſo Ihr Vaterhaus und Ihre Eltern
auch verlaſſen?“ fragte Hulda ſchüchtern.
„Ich? — Ich habe keine Eltern und kein Vater⸗
haus gekannt. Was ich geworden, das bin ich durch
mich ſelbſt geworden!“ ſagte Gabriele, indem ſie ernſt
und ſtolz den Kopf erhob. Meiner früh verſtorbenen
Mutter Schweſter, eine Tänzerin wie ſie, hat mich
aufgenommen; erzogen hat mich Niemand. Ich bin
herangewachſen — das war Alles. Wie eine junge
Ente in das Waſſer, bin ich, wie in das mir ange
borene Element, in das Leben hineingegangen — und
es iſt nicht immer ein helles, klares Waſſer geweſen,
das vor mir gelegen hat. Alles habe ich mir erſchaffen
und erobern müſſen, ſogar mein Pflichtbewußtſein und
die Achtung vor mir ſelbſt. Was ich gewonnen und
verloren habe, gewann, verlor ich mir allein, bis auch
mir die Stunde der Erlöfung — der Erlöſung durch
den großen, erhabenen Glauben eines Einzelnen an
mich, einmal gekommen iſt, die mich neu geboren hat;
und ſolch eine Stunde, ſolch eine erlöſende Schickſals⸗
gunſt fehlt kaum einem Menſchenleben. Sie kommt
in wechſelnder Geſtalt — nur daß wir fie jo oft ver—
51
träumen, daß wir ſie nicht feſtzuhalten und uns in und
an ihr nicht emporzuheben wiſſen.“ Sie unterbrach ſich,
über ihre Hingebung verwundert, und ſagte dann:
„Aber das hat mit Ihrer Lage im Grunde Nichts zu
ſchaffen. Sie ſagen mir, daß Sie die Hoffnung auf⸗
gegeben haben, Baron Emanuel zu Ihnen zurückkehren
zu ſehen, da er Ihnen ſeit ſo lange kein Zeichen der
Theilnahme mehr gegeben hat, und ich glaube, daran
thun Sie wohl, denn ſolches zuwartende Hoffen bricht
die Kraft entzwei. Aber haben Sie Jemanden, zu
dem Sie ſich wenden können, der für Sie ſorgen
würde? Oder was denken Sie zu thun, wenn Ihr Vater,
der ja betagt und nicht der Stärkſte mehr zu ſein ſcheint,
die Augen einmal ſchließen wird?“
Kaum ein Tag war vergangen, an welchem ſich
Hulda dieſe Frage nicht vorgehalten, und ſeit Monaten
hatte ſie ſich geſagt, daß ſie auch nicht die entfernteſte
Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit Emanuel
zu bauen habe, daß ſie beſtimmt ſei, ihren Weg im
Leben einmal ſelbſt zu ſuchen und ihr Brot zu ernten,
wie ſie können würde. Jetzt, da ſie dieſes vor Ga—
brielen auszuſprechen hatte, fühlte ſie, wie ſie nicht
glaubte, was ſie ſagen wollte, wie all ihr Hoffen an
dem Entfernten hing; und unfähig, es zu unterdrücken,
rief ſie: „Er kann mich ja nicht vergeſſen haben!“
Der Ton, mit dem ſie dieſes ſagte, entzückte Ga⸗
briele durch ſeine Naturwahrheit und erhöhte ihre
Theilnahme und ihr Mitgefühl für Hulda.
„Vergeſſen?“ wiederholte ſie. „Wer kann ver⸗
geſſen? Was vergißt man denn? Aber auch Unver⸗
4*
52
vergeßliches wird aufgegeben, muß oft aufgegeben,
werden, und dann je eher, um ſo beſſer, gutes
Kind!“ |
Ihre Dienerin unterbrach ſie mit einer Meldung.
Der Direktor eines größeren Theaters in der benach—
barten Provinz war in der Frühe angelangt und wünſchte
vorgelaſſen zu werden. Er hatte Gabrielen den An⸗
trag gemacht, zwei oder drei Vorſtellungen auf ſeinem
Theater zu geben, und war, da ſie es nicht bewilligen
zu können glaubte, nun ſelbſt gekommen, um ſie wo⸗
möglich dazu zu beſtimmen. Da ſie ſich bereit erklärte,
ihn zu empfangen, wollte Hulda ſich entfernen, aber
Gabriele hieß ſie bleiben, denn man hatte ihr die
Eintrittskarten noch nicht gebracht, welche ſie den beiden
Frauen geben wollte.
Der Direktor war ein großer und noch ſehr
ſtattlicher Mann, obſchon er den Sechzigern nicht ferne
ſein mochte. Hulda hatte von ihrem Vater ſeinen Na⸗
men ſchon als Kind vernommen, denn erz gehörte einer
altbekannten Schauſpieler-Familie an, die in früherer
Zeit das Theater in der Hauptſtadt in Pacht gehabt,
und der Pfarrer hatte damals Gelegenheit gefunden,
ihn als jugendlichen Liebhaber mehrfach zu bewundern.
Auch ſchien der Direktor ſich in der Rolle eines ſolchen
noch immer zu gefallen. Er war modiſch und mit
einer Sorgfalt gekleidet und friſirt, die an Uebertreibung
grenzte. Sein Ton, ſeine Haltung waren zuverſichtlich
und auf eine beſondere Wirkung berechnet. Man
merkte es ſofort, er konnte gar Nichts anders als Ko—
mödie ſpielen, jeder Naturlaut war ihm abhanden ge⸗
53
kommen. Er ſpielte ſogar ſich ſelber; und auch der
Enthuſiasmus und die Vertraulichkeit, mit denen er
ſich Gabrielen nahte, waren berechnet und gemacht.
„Ich hoffe, Unvergleichlichſte,“ rief er, als fie
ihm ſagte, ſie ſei überraſcht, ihn hier zu ſehen, „Sie
glauben nicht, was Sie mir ſagen. Hielten Sie mich
denn für „ſo ſehr aus der Art geſchlagen,“ daß ich
Sie ſo nahe wiſſen konnte, ohne Ihnen die ſchöne
Hand zu küſſen, und hätte ich meinen Weg nicht nur
durch die Schneefelder, ſondern „durch eine Welt von
Plagen“ machen ſollen!“ — Er zog dabei den Hand⸗
ſchuh ab, drückte mit einer gefliſſentlichen Uebertreibung
Gabrielens Hand an ſeine Lippen, und als ſie darüber
lachend den Kopf ſchüttelte und ihm einen leiſen Schlag
gab, rief er: „Immer dieſelbe bezaubernde Anmuth!
das unwiderſtehliche Lachen aus den „Erziehungs-Re⸗
ſultaten!“ — Weinen — weinen, das kann der ganze
große Troß! Aber wer kann lachen wie Gabriele?
Wer hat je gelacht wie Sie? — Nur Sie wieder
einmal lachen zu hören — das wäre ſchon die Reiſe
werth!“ |
Sie lachte wieder, denn es beluſtigte fie, zu be⸗
merken, wie er ſich in den Jahren, während deren
ſie ihn nicht geſehen hatte, gleich geblieben war, und
auf ſeinen Ton eingehend, verſetzte ſie: „Damit alſo
könnten Sie denn wieder gehen, Wertheſter! Und
noch jenſeits meiner Thüre, ſollten Sie mich lachen
hören über die phantaſtiſche Laune, die Sie hieher
gebracht hat. Aber, Scherz bei Seite — was führt
Sie eigentlich hieher, da ich Ihnen ja geſchrieben habe,
54
daß ich gegenwärtig nicht bei Ihnen ſpielen könne,
wenn ich es auch wollte?“
„Was mich hieherführt? Wollen Sie, daß ich
es Ihnen ſage, und wollen Sie mir nicht darüber
grollen? — Es iſt meine Kenntniß von den Frauen und
mein Glaube, daß Sie keine Ausnahme von der Regel
machen würden. Ein Nein zu ſchreiben, fällt den
Frauen leicht. Dem Hoffenden, dem Bittenden,“ er
betonte dieſes Wort pathetiſch und begleitete es mit
der entſprechenden Miene, „dem Bittenden ein Nein
zu ſagen, wird dem weichen Herzen ſchwer. Und,“
fügte er ſchnell hinzu, „Sie können Ihre Bedingungen
machen, wie Sie wollen, ich geſtehe Ihnen jede im
Voraus mit tauſend Freuden zu. Die Hälfte, drei
Viertel des Reinertrages! Man will Sie ſehen um
jeden Preis; zu verdoppelten Preiſen bin ich ſicher,
auszuverkaufen bis auf den letzten Platz. Ich ſtelle
Ihnen Extrapoſt, ich beſorge Ihnen die Wohnung,
wie Sie dieſelbe wollen. Sie beſtimmen Ihre Rolle,
aber — ich muß nach Hauſe kommen und ſagen
können: „Die Gabriele kommt!“ Ich muß die Er⸗
innerung behalten: „Gabriele hat bei mir geſpielt!“
— Wie wäre es mit der Eboli? — Erinnern Sie
ſich, welchen Beifall wir errungen haben, als ich den
Carlos noch mit Ihnen ſpielte? Oder wählen Sie
die Thekla! Sie werden mit dem Max zufrieden
ſein! Ein großes, vielverſprechendes Talent, ſchöne
Geſtalt, vortreffliches Organ, bequemer Partner. Ent-
ſcheiden Sie, Verehrteſte!“
|
|
j
55
Gabriele hatte ihn feine Rede ruhig zu Ende
führen laſſen. Da er endlich innehielt, ſagte ſie: „Es
thut mir in der That ſehr leid, verehrter Freund, daß
die unabweisliche Nothwendigkeit mich zwingt, Ihre
Kenntniß des Frauenherzens Lügen zu ſtrafen. Mich
bindet mein Kontrakt, und wenn Sie mir auch goldene
Brücken bauen und mir einen Cherub zum Partner
bieten, ich muß auch mündlich bei dem Nein ver⸗
harren, daß ich Ihnen ſchrieb. Ich bin ermüdet,
darf mir bei der Kälte keine ſo großen Anſtrengungen
auferlegen, und die Reiſe, die ich vor mir habe, iſt
lang und ſchwer.“
Der Direktor wollte ſich damit noch nicht ab—⸗
weiſen laſſen. Bald als bewundernder Verehrer, bald
als eifriger Geſchäftsmann redend, ſchmeichelnd, ſcherzend,
Gewinn verſprechend, verſuchte er das Mögliche. Gabriele
ging je länger, je mehr auf ſeine Scherze ein und
ließ vor ihm endlich die Hoffnung durchblicken, daß
ſie nicht zu ſehr angegriffen haben ſollte, bei der Rück⸗
kehr zwei oder drei Vorſtellungen auf ſeiner Bühne
geben wolle. Er war ganz Freude bei der Ausſicht.
Man traf für dieſen Fall die mündlichen Verab⸗
redungen, man ſprach auch von ſeinem Perſonale. Es
kam dabei in freiem Tone Manches aus dem Privat-
leben deſſelben und aus dem Privatleben gemeinſamer
Bekannter auf das Tapet, das dem Ohre des zu—
hörenden jungen Mädchens befremdlich und faſt er—
ſchreckend klang; und nicht bevor der Theaterdiener
eintrat, der Gabrielen die Billete brachte, erhob ſie
56
ſich, um den Direktor zu entlaſſen. Da erſt wurde
der Letztere auf Hulda achtſam, die ſich zurückgezogen
hatte und an einem der Seitentiſche ſaß.
Er trat an ſie heran, betrachtete ſie, daß ihr das
Blut zu Kopfe ſtieg, und fragte dann: „Eine junge
Kollegin? eine Anverwandte? hat Aehnlichkeit mit
Ihnen. Vortheilhafte Erſcheinung! Würde mit dem
ſchönen Haar, wie Sie zu Ihrer Zeit, ein reizendes
Käthchen von Heilbronn geben! Ein Käthchen, wie's
im Buche ſteht!“
Hulda vermochte die Augen nicht aufzuſchlagen,
aber ihre Verlegenheit und ihr Erröthen ließen ſie
nur ſchöner erſcheinen. Gabrielens Blicke ruhten mit
jenem Wohlgefallen auf ihr, das ſie von der erſten
Minute, da Hulda vor ſie hingetreten war, für ſie
gefühlt hatte.
„Nichts da von Kollegin!“ ſagte ſie, „Mademoiſelle
iſt eines Landgeiſtlichen, eines Pfarrers Tochter! Aber
Sie finden alſo auch, daß ſie mir ähnlich ſieht? Es
hat mich geſtern überraſcht, und Sie haben Recht,
ſie würde ein hübſches Käthchen machen. Sie iſt,
wie ich glaube, auch nicht ohne ein gewiſſes Talent.
Wir haben geſtern mit einander geleſen, und ſie hat
ihre Sache ganz artig, ganz geſchickt gemacht.“
Sie reichte Hulda dabei die Hand und das war
gut, denn es war derſelben, als brenne, als wanke
der Boden ihr unter den Füßen. Der Direktor hatte
die Brille aufgeſetzt und ſah ſie unverwandten Blickes
an. „Das iſt ein Lob, auf das Sie ſtolz ſein können,
ſcademoiſelle! ein Lob, nach dem Erprobte geizen
57
würden. Sie haben wahrſcheinlich Luft, zur Bühne
zu gehen? Haben Sie Verſuche dafür gemacht?“
„Ich?“ rief Hulda, und es war ihr unmöglich,
ein weiteres Wort zu finden, ſo daß Gabriele dem
Direktor die Erklärung gab, durch welche zufällige
Veranlaſſung das Mädchen zu ihr geführt und wie ſie
mit demſelben bekannt geworden ſei.
Das ſchien jedoch den Direktor in ſeinem Plane
nicht im geringſten zu beirren. „Es heißt im „Fauſt“,
ſagte er: „Ein Komödiant könnt' einen Pfarrer lehren!
— aber es iſt auch ſchon Mancher aus dem Bereich
des Pfarrhauſes, ja Mancher, der für die Kanzel be-
ſtimmt geweſen, auf die Bühne gegangen; denn zur
Bühne wie nach Rom führen alle Wege. Der Weg
dahin iſt aus einem Pfarrdorfe nicht weiter wie aus
jedem anderen Orte. Wenn Sie meinen, daß Ma⸗
demoiſelle Talent hat, und wenn Mademoiſelle in ſich
Beruf verſpürte —“
„So und ſo weiter!“ fiel ihm Gabriele in das
Wort — „und damit laſſen Sie es auf ſich beruhen,
mein Beſter! Sie ſehen, Sie ängſtigen, Sie ver⸗
wirren das arme Kind. Man muß mit ſolchem Scherz
nicht Ernfſt machen. Nicht wahr, liebe Hulda? Es
wird Ihnen bange unter uns Komödianten — und
ganz Unrecht haben Sie damit nicht. — Glücklicher⸗
weiſe ſind die Billete jetzt auch da!“
Sie ging an den Seitentiſch, gab ihr die beiden
Karten, trug ihr Grüße an ihren Vater und an Miß
Kenney auf, ſagte, ſie möchte ſich ihrer erinnern, möchte
58
denken, daß fie eine gute Freundin an ihr habe, möchte
ſich zuverſichtlich an ſie wenden, wenn ſie glaube, daß ſie
ihr einmal nützlich ſein könne, und entließ ſie dann,
um ſich ankleiden zu laſſen und zur Probe zu gehen,
wohin der Direktor ſie mit ihrer Erlaubniß begleiten
wollte.
Zehntes Capitel.
Wie Hulda nach Hauſe gekommen war, wie der
Tag ihr vergangen, was ſie am Abende im Theater
gedacht, gefühlt hatte, das wußte ſie nach wenig Tagen
ſchon nicht mehr. Nur daß der Direktor aus der
Proſceniums⸗Loge, in der er ſich befunden, fie durch
die Brille mit ſeinen großen, hervortretenden Augen
immer wieder angeſehen, daß er ſie mit einer Ver⸗
traulichkeit begrüßt hatte, als ob er ein alter Bekannter
von ihr wäre, deſſen erinnerte ſie ſich genau, und es
war ihr beruhigend, daß Miß Kenney es nicht geſehen
hatte. Die Achtſamkeit, welche der Direktor auf ſie
gerichtet, hatte ſie förmlich befangen und gepeinigt.
Das Spiel Gabrielens war ihr darüber zum Theil
verloren gegangen. Sie hatte von dem Direktor jo-
gar in der Nacht geträumt. Es war plötzlich ein
ganz neues, ihr unheimliches Element in ihr Leben
gekommen, eine Angſt, eine Unruhe, über die ſie nicht
Herr zu werden vermochte. Sie wagte es weder dem
Vater noch ihrer alten Freundin zu erzählen, was ſich
an dem Morgen bei Gabrielen zugetragen, was ſie
60
dort erlebt und an welche Möglichkeiten man für ſie
gedacht hatte; und doch lag ihr jener Morgen immer⸗
fort im Sinne, doch ſagte ſie ſich unaufhörlich: wenn
Er, wenn Emanuel es wüßte, daß man ſie Gabrielen
ſo ſehr ähnlich fand, daß man die Laufbahn einer
Schauſpielerin als eine ihr angemeſſene erachte!
Die Tage und Wochen und die Jahreszeit nahmen
inzwiſchen ihren ſtill gewohnten Lauf. Hulda that
an jedem Tage, was ihr oblag, ſie pflegte den Vater,
leiſtete ihrer Beſchützerin die kleinen häuslichen Dienſte,
deren ſie bedurfte, und wenn man ſie daneben oft⸗
mals noch ſtill und in ſich verſunken ſah, ſo ließ man
ſie gewähren, denn man war gewiß, ſie bei der
Geſundheit ihrer Natur getroſt ſich ſelber überlaſſen
zu dürfen. Man hoffte, die Zeit würde die Wunde
ihres Herzens heilen und vernarben machen, beſonders
da Emanuel Nichts weiter von ſich hören ließ und
Niemand in ihrer jetzigen Umgebung einen Zuſammen⸗
hang zwiſchen Hulda und dem Baron auch nur ver⸗
muthete.
Der Pfarrer freute ſich, daß Hulda's Luſt, ſich
zu unterrichten, ihre Vorliebe für die claſſiſche Literatur
mit jedem Tage zunahmen, daß ſie ihr Gedächtniß
mit den ſchönſten Stellen deutſcher Dichtkunſt füllte.
Er und Miß Kenney bemerkten es mit Wohlgefallen,
welch einen Einfluß auf Hulda's Vortrag die flüchtige
Begegnung mit Gabriele ausgeübt hatte. Mit der
Blindheit, welche man faſt immer für das Seelen—
leben ſeiner Nächſten hat, ahnte es keiner von den
Beiden, was in des jungen Mädchens Seele vorging,
— u
r
61
und wie gerade in den Stunden, in welchen fie am
ſchmerzlichſten um die verlorene Liebe trauerte, eine
Hoffnung und ein Verlangen vor Hulda aufſtiegen,
von deren blendendem Glanze ſie wie vor einer gefähr⸗
lichen Verlockung noch ihr Auge ſchloß, beſonders da
eben jetzt die geſteigerte Sorge um den a ſie von
ſich ſelber abzog.
Das Augenleiden des Pfarrers hatte ſich trotz
der Sorgfalt und Kunſt des Arztes nicht gebeſſert.
Eine Operation, auf die man ſich vertröſtet, ſtellte ſich
als nicht ausführbar heraus. Man hatte alſo im
beſten Falle zu erwarten, daß des Greiſes Augenlicht
nicht ganz erlöſchen, daß er noch fähig bleiben werde,
ſeinen Amtsgeſchäften unter Beiſtand des Adjunkten,
den man ihm gegeben hatte, theilweiſe vorzuſtehen;
aber zu einem fortgeſetzten Aufenthalte in der Stadt,
war nach ſolchem Ausſpruch des Arztes für den Pfarrer
keine Nothwendigkeit mehr vorhanden. Der Greis,
für den der verhältnißmäßig lebhafte Menſchenverkehr,
deſſen er durch die Ueberſiedelung in die Stadt theil⸗
haftig geworden, am Anfange erfreulich und belebend
geweſen war, fing an, ſich nach ſeinem Dorfe, nach
ſeinen Pfarrkindern, nach ſeiner ihm noch möglichen
Thätigkeit zu ſehnen. Der Gedanke, daß wachſende
Erblindung ihn behindern könne, die Stätten und
Plätze, an denen ſeine ganze Seele hing, noch ein⸗
mal mit leiblichen Augen zu ſchauen, lag ihm be⸗
ſtändig im Sinne, und trieb ihn noch mehr dazu an,
auf die Rückkehr in die Heimat mit einer ihm ſonſt
fremden Haſt zu dringen.
62
Miß Kenney hatte zuerſt Einwendungen dagegen
gemacht. Sie war an Hulda als Geſellſchafterin, als
Vorleſerin gewöhnt, ſie behagte ſich als Herrin des
Hauſes, in welchem ſie den Winter mit ihren Freunden
zugebracht hatte. Die Unabhängigkeit, in der ſie zum
erſtenmale ausſchließlich nach ihrem eigenen Gefallen
hatte leben können, war ihr, da das Bequemlichkeits⸗
Bedürfniß des Alters ſich endlich auch bei ihr ein⸗
geſtellt, wohlthuend geworden, und ſie hatte ſich alſo
ganz allmälig in die Ausſicht hineingelebt, die Jahre,
welche noch vor ihr liegen mochten, abwechſelnd auf
dem Schloſſe und in dem gräfllichen Hauſe in der
Stadt zuzubringen, wobei ſie die Geſellſchaft Hulda's
als etwas ſich von ſelbſt Verſtehendes in Rechnung
gebracht hatte. Sie wünſchte deshalb auch Hulda,
und mit ihr den Vater, deſſen Amtsthätigfeit doch
keine nachhaltige mehr ſein konnte, bei ſich in der
Stadt zu behalten, bis es ihr ſelber paſſen würde,
auf das Land hinauszugehen, und die Gräfin durfte
ſich, ſo weit es ihre Plane für ihre alte Erzieherin
betraf, wieder einmal der Scharfſicht und Vorausſicht
rühmen, mit denen ſie das derſelben Angemeſſene er⸗
kannt und für ſie vorbereitet hatte. Trotzdem be—
ſtimmten Umſtände, welche völlig außerhalb ihrer Be⸗
rechnung gelegen, die Gräfin, über die greiſe
Dienerin und Freundin noch einmal in anderer Weiſe
zu verfügen.
Ihr Schwiegerſohn wünſchte, durch Familien⸗
Angelegenheiten dazu veranlaßt, nach Paris zu gehen
und ſeine Frau mit ſich zu nehmen. Die Gräfin war
53
geneigt, ſich ihnen anzuschließen, aber die junge Fürſtin
konnte es nicht über ſich gewinnen, ihren nur wenige
Monate alten Erſtgeborenen mit der Dienerſchaft allein
zurückzulaſſen, und den Knaben bei der immer noch
winterlichen Jahreszeit den Zufällen einer ſo weiten
und langwährenden Reiſe auszuſetzen, trug der Vater
Bedenken. Die Gräfin ſchlug alſo vor, die Kenney
herbeizurufen, um dem fürſtlichen jungen Paare über
alle Beſorgniſſe hinwegzuhelfen. Damit war man
augenblicklich einverſtanden. Die Anweiſung, ſich auf
den Weg zu machen, wurde der Vielbewährten in der⸗
ſelben Stunde noch ertheilt, die Zeit, in welcher der
Brief in ihre Hände gelangen mußte, der Abgang der
nächſten ſchicklichen Poſtgelegenheit waren dabei genau
berechnet. Die Gräfin ſchrieb ihr, wann ſie auf der
Station einzutreffen habe, auf welcher das Fuhrwerk
des Fürſten ihrer warten würde; und weder in dem
Gedankenkreis der an unbedingten Gehorſam gegen
ihre Anordnungen gewöhnten Herrin, noch in dem
Bereiche deſſen, was die unbedingte Unterordnung von
Miß Kenney für möglich hielt, lag die Vorausſetzung,
daß irgend etwas Anderes als ſchwere Krankheit ſie
behindern könne, der empfangenen Weiſung ſofort
pünktlich nachzukommen. Aber der zögernde Pulsſchlag
des Alters ſteht mit raſchen Entſchließungen, mit plötz⸗
licher Umgeſtaltung ſeiner Plane im Widerſpruche, und
wie das Vertrauen, das man in ſie ſetzte, und die
Ausſicht, das Kind ihrer Clariſſe zu ſehen und zu
behüten, die Greiſin auch erfreuen mochten, die Noth⸗
wendigkeit, innerhalb der nächſten vierundzwanzig
64
Stunden aufzubrechen, um, nur von einer Magd be
gleitet, eine längere Poſtreiſe anzutreten, erſchreckte
ſie und vermehrte in ihr die Unbehilflichkeit des
Alters.
Sie wollte bald dies, bald das, und wollte vor
Allem doch gehorchen. Hätte die Gräfin ſie in ſolcher
Rathloſigkeit geſehen, es hätte ſie die Auskunft be⸗
reuen machen müſſen, die ſie für ihr Enkelkind ge⸗
troffen hatte. Sie gab Hulda und dem Dienſtmädchen
Befehle, die ſich widerſprachen, und es blieb der Erſteren
denn endlich auch nichts Anderes übrig, als nach eigenem
Ermeſſen einzugreifen und für ihre Beſchützerin vor—
zuſorgen, wie ſie es für ihren Vater ſchon ſeit lange
thun mußte.
Der Tag verging in raſtloſer Geſchäftigkeit, es
war viel des nächſten Nothwendigen zu beſorgen, zu
bedenken; es mußte Abrede getroffen werden für die
Heimkehr des Pfarrers und Abrede auch auf den Fall,
daß Miß Kenney, wie ſie es für wahrſcheinlich hielt,
für längere Zeit bei dem jungen Prinzen zu bleiben
haben ſollte. Man kam wenig zur Ruhe, weniger
noch zu einem geſammelten Geſpräche. Der Abend
war da, ehe man ſich deß verſah. Auf ein ſo plötz⸗
liches Scheiden hatte man nicht gerechnet, aber die
Gottergebenheit des Pfarrers und das Pflichtgefühl der
Greiſin gaben Beiden Faſſung, als ſie ſich vor Nacht
um die gewohnte Stunde trennten.
„Verlaſſen Sie meine Tochter nicht!“ ſagte der
Pfarrer, das war Alles. Miß Kenney drückte ihm
die Hand. „Hulda weiß es,“ entgegnete ſie ihm, „wie
65
ſie auf uns Alle zählen kann. Sie wird nie verlaſſen
ſein, wenn fie ſich getreu bleibt wie bisher.“ Damit
trennten ſich die Beiden.
Die Poſt ging in den frühen Morgenſtunden
fort. Hulda hatte ſich ſehr zeitig erhoben, um der
Reiſenden den Aufbruch zu erleichtern. Sie fand
dieſelbe ebenfalls ſchon angekleidet, und beſchäftigt, ver⸗
ſchiedene Beſorgungen aufzuſchreiben, welche Hulda
im Schloſſe für ſie ausrichten ſollte. Wie ſie ihr
dieſelben mit jener ängſtlichen Genauigkeit des Alters
eingeſchärft hatte, welches von der eigenen Schwäche
und Unzulänglichkeit auf die der Anderen zu ſchließen
liebt, ſagte ſie, während ſie noch die letzten Stücke in
ihre Reiſetaſche ſteckte: „Ich mache mir einen Vor⸗
wurf daraus, daß ich mich mit Dir nicht längſt ein⸗
mal über Deine Zukunft ausgeſprochen habe; indeß
ich hatte nicht erwartet, ſo bald und ſo plötzlich von
Dir gehen zu müſſen. Nun drängt der Augenblick
und ſolche Dinge machen ſich mündlich doch immer
leichter ab als ſchriftlich. Der Arzt hat mir geſagt,
daß Deines Vaters ganzer Zuſtand beſorgnißerregend
iſt. Sein Augenleiden iſt Folge einer allgemeinen
Erſchöpfung, die bei ſeinen Jahren keine Hoffnung auf
neue Belebung der Kräfte zuläßt. Ich habe Dir dies
bisher verſchwiegen, weil ich mit Euch zu bleiben und
Dir im Nothfall, in der entſcheidenden Stunde, zur
Seite zu ſtehen hoffte; das kann nun anders kommen.
Du wirſt vorausſichtlich auf Dich und Deine eigene
Kraft und Faſſung angewieſen ſein, 555 ich denke,
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II.
66
Du wirft Dich zu bewähren und das Zutrauen zu
rechtfertigen wiſſen, das wir in Dich geſetzt haben.
Glücklicherweiſe iſt ja auch der Adjunktus draußen,
der ein wackerer und gemüthvoller Mann zu ſein
ſcheint. Indeſſen eben ſeine Anweſenheit wird Dich
in betreffendem Falle nöthigen, die Pfarre ſobald als
möglich zu verlaſſen, und Du wirſt dann am beſten
thun, wenn Du zu dem Amtmanne gehſt, der Dir
wohlgefinnt iſt, bis ſich eine Stelle für Dich gefunden
haben wird, die wir natürlich ſo bald und ſo wünſchens⸗
werth als möglich für Dich zu ermitteln ſuchen werden.“
Sie packte während deſſen die warmen Schuhe
ein, die ſie im Poſtwagen anzuziehen dachte, unter⸗
ſuchte die Stöpſel und Korke an ihren Aether⸗ und
Riechfläſchchen, ſah, ob die Bonbons ihr leicht zur
Hand wären, und ſie hätte noch lange fortſprechen
und noch lange unter ihren Sachen kramen können,
ohne daß Hulda ſie unterbrochen haben würde.
Es war nicht lange her, daß Gabriele die
ſchmerzende Frage an ſie gerichtet hatte, was ſie zu
thun denke, wenn ihr Vater einmal die Augen ſchließen
werde? Aber wie traurig dieſe Frage fie auch ge⸗
macht, ſie hatte nicht die niederwerfende, die völlig
entmuthigende Wirkung auf ſie hervorgebracht, wie
Miß Kenney's eben gehörte Worte. Gabriele hatte
doch nicht voll ermeſſen können, welch ein Sonnen⸗
ſchein einmal über Hulda's Leben aufgegangen war,
wie hell die Zukunft ein paar kurze Tage hindurch ſich
vor ihr ausgebreitet hatte, und wie unglaublich es ſie
deshalb dünken mußte, daß all die Liebe und Hoffnung,
67
und all die Freude und all das Glück nicht dageweſen
ſein ſollten; daß ihre heiße, treue Liebe, ihr Glaube
und ihre Zuverſicht zu dem Manne, in dem ſie das
Urbild allen Seelenadels verehrt hatte, ſie betrogen
haben könnten. Miß Kenney wußte dieſes Alles —
und benahm ihr trotzdem jede Hoffnung, jede! Miß
Kenney hatte es ihr ſo häufig wiederholt, welch
mütterliche Zärtlichkeit ſie für ſie hege und konnte an
ihr Riechſalz und an die kleinſte ihrer Bequemlich⸗
keiten denken, während ſie über das Schickſal eines
armen treuen Herzens den Stab in kühler Seelen⸗
ruhe brach. |
Es war vergebens, daß Hulda mit ſich rang,
vergebens, daß ſie ſich es vorhielt, wie viel ſie ihrer
alten Beſchützerin an Unterricht und Pflege, an Unter⸗
weiſung und Erziehung, an tragender und ſtützender
Geduld und Güte ſchuldig geworden ſei. Der Gedanke:
ſie nimmt Dir alle Hoffnung, ſie findet es in der
Ordnung, was Dir geſchehen iſt und was Du leideſt,
und daß Dein Leben wie eine öde Haide weit und
grau und farblos vor Dir liegt, preßte ihr das Herz
zuſammen und ſchnürte ihr die Kehle zu. Hätte ſie
ſprechen wollen, ſie hätte ihre Lippen nur mit einem
Aufſchrei öffnen können. Die Bitterkeit, welche ſie in
ihrem Schweigen zum erſtenmale in ſich aufſteigen
fühlte, ſteigerte ihre Pein, und machte ihr auch das
kleinſte Wort des Dankes zur Unmöglichkeit.
Glücklicherweiſe war die gute Kenney viel zu ſehr
mit ſich beſchäftigt, um Hulda's ſtarres Verſtummen
5 *
68
ſonderlich zu merken. Die Anftrengungen und Un⸗
bequemlichkeiten, welche ihre Rückkehr zu der gräflichen
Familie ihr auferlegte, machten ſie alles Andere ver⸗
geſſen. Hätte ſie es nicht als ihre Aufgabe erachtet,
ihre Pflicht auf jedem Platze, auf den ſie das Geſchick
geſtellt, bis auf das Letzte gewiſſenhaft zu erfüllen, jo
hätte ſie vielleicht in der Spannung und Aufregung,
in welche der plötzliche Befehl der Gräfin ſie verſetzt
hatte, überhaupt kaum noch daran gedacht, Hulda in
ſolcher Weiſe vorausſichtig zu berathen.
Aber fie war beruhigt, daß fie es doch noch ge-
than hatte, ehe der Wagen vorfuhr, der ſie nach der
Poſt zu bringen hatte. Sie forderte Hulda noch in
aller Eile auf, ihre muſikaliſchen Uebungen und ihre
Sprachſtudien fleißig fortzuſetzen, weil man dieſe an
einer Gouvernante am meiſten ſuche und bezahle. Sie
rieth ihr, auch das Zeichnen nicht zu vernachläſſigen,
in welchem ſie unter ihrer Leitung gute Fortſchritte
gemacht hätte; ſie verſicherte, daß ſie der Gräfin und
der Fürſtin über Hulda's verſtändiges Verhalten das
Allerbeſte jagen werde, und daß dieſe ſicher ſein könne,
nie des Schutzes und des Beiſtandes der Herrſchaften
entbehren zu müſſen, durch deren empfehlende Ver⸗
wendung ein Unterkommen für ſie, ſich gewiß leicht
finden werde, ſobald es einmal erforderlich ſein ſollte.
Darauf küßte ſie Hulda ganz gerührt, drückte ſie mit
wirklicher Zärtlichkeit an ihr Herz, als Hulda ihr in
den Wagen half, rief ihr noch zu, ſie möge den Vater
grüßen und möge es ihr gleich ſchreiben, wenn Etwas
vorkommen ſollte, und Hulda ſah, wie ſie ſich die
7 Pe ee
er N u =
69
Augen trocknete, als ihre Dienerin der Morgenfälte
wegen das Wagenfenſter ſchloß.
Hulda ſtand unter dem Portale und ſchaute dem
Wagen nach. — „Sie wird den Baron gewiß bald wieder⸗
ſehen,“ dachte ſie, „ſie wird ihm ſagen, daß ich mich
getröſtet habe!“ fügte ſie hinzu, und die verhaltenen
Thränen, die ihr bis dahin das Herz belaſtet hatten,
ſtürzten ihr aus den Augen.
Hiebentes Capitel.
Ein paar Tage Später, gerade als der Adjunktus
des Pfarrers wieder einmal in das Schloß gekommen
war, den Amtmann und Mamſell Ulrike zu beſuchen,
traf ein Brief von Hulda ein. Sie ſchrieb dem Amt⸗
mann im Auftrage von Miß Kenney, daß dieſe zu
der jungen Fürſtin hinbeſchieden ſei, theilte danach
dem alten Freunde das Urtheil mit, welches der Arzt
über den Zuſtand ihres Vaters ausgeſprochen hatte,
und bat ihn im Namen des Letzteren, er möge ihnen,
ſo bald es ſein könne, für die Heimkehr ein Fuhr⸗
werk in die Stadt ſenden, da der Vater ſich danach
ſehne, in ſein Haus und in ſeine Heimat zurückzu⸗
kehren.
Der Amtmann, der mit unerbittlicher Strenge
darauf hielt und darauf zu halten Urſache hatte, daß
die Schweſter keinen Brief in die Hände bekam, der
an ihn gerichtet war, wie unverfänglich ſein Inhalt
auch immer ſein mochte, faltete das Blatt, nachdem
er es geleſen hatte, mit Genauigkeit zuſammen, ſteckte
es in die Bruſttaſche ſeines Flausrockes und fuhr ruhig
zu rauchen und mit dem Kandidaten weiter zu con⸗
verſiren fort. |
„Sie werden's nicht durchſetzen, Herr Adjunktus!
das mit Ihrer Sabathfeier!“ ſagte er. „Wir ſind
hierlands nicht Engländer und auch nicht Juden.
Sehen Sie ſich vor. Die Leute beharren hier auf
ihrem Kopf, auf den Gütern ſo gut wie in der Kate.
Es geht hier nicht wie in der Stadt. Wir haben
ſammt und ſonders an manchem Sonntag alle Hände
nöthig, um den Segen nicht zu Schanden werden zu
laſſen, den unſer Herrgott uns gegeben hat; und wer
ſechs Tage in der Woche bei der Arbeit gekeucht hat
und geſchwitzt, der will am ſiebenten Tage vor Ver⸗
gnügen keuchen und zum Vergnügen ſchwitzen. Sehen
Sie ſich vor! Was man durchzuführen nicht gewiß
iſt, das muß man mit den Leuten gar nicht exit pro=
biren. Ein Pferd, das Ihnen vor dem Graben Kehrt
gemacht hat, über den Sie es ſpringen laſſen wollten,
das haben Sie nie wieder ſicher in der Hand. Und
damit ich Ihnen nackt die ganze Wahrheit ſage, an
mir haben Sie mit dieſer Sache keinen Rückhalt und
an unſerem Herrn Paſtor auch nicht.“
Der Adjunktus ſchwieg. Es war ihm Ernſt mit
ſeinem Amte, Ernſt auch mit der Heilighaltung des
Sonntags, wie man ſie einzuführen ſtrebte, ſeit ſich
die frömmelnde Richtung in der proteſtantiſchen Kirche
geltend machte. Er war guter Leute Kind, ein hübſcher
junger Mann von reinen Sitten und von gutem
Herzen, kurz ein Mann, gegen den der Amtmann ſonſt
Nichts einzuwenden hatte, als daß er ihm zu welt⸗
12
fremd und zu fromm war, und daß er nicht rauchte.
Aber er dachte bei ſich: das Rauchen lernt er wohl
aus langer Weile noch, und die übergroße Frömmig—
keit, die wird ſich auf dem Lande legen, wenn er ſie
nicht mehr mit Seinesgleichen in bequemer Geſellig—
keit, ſondern ganz für ſich alleine zu betreiben hat.
Auch die Mamſell war ganz für den Adjunktus.
Sie ſah es gerne, daß er faſt in jeder Woche einmal
in das Amt kam, ſie ließ ſich's gerne gefallen, wenn
er zu ihr von ſeiner Mutter ſprach, die ihn nach des
Vaters frühem Tode mit Opfern aller Art erzogen
hatte, bis auch ſie geſtorben war. Sie nannte ihn
ein dankbares Gemüth, einen wohl zu leidenden ſanften
Menſchen, und der Amtmann lachte, wenn ſie in des
Adjunktus Beiſein ihre Stimme dämpfte und ihrer
Rede Gewalt anthat, als beſorgte ſie, ihn zu erſchrecken
oder zu verſcheuchen.
„Sie wird ſich aus Narrheit noch auf die Sanft⸗
muth und Frömmigkeit verlegen, denn die Pfarr-
Adjunkten ſind einmal ihre Leidenſchaft!“ ſagte er im
Scherze zu ſeinem alten Freund, dem königlichen Ober⸗
förſter. Auch heute wieder, ſo ſchwer ihr's ankam,
ihre Neugierde zu zügeln, denn ſie hatte die Hand—
ſchrift auf dem Briefe erkannt, ging die Mamſell auf
des jungen Mannes Unterhaltung ein, und ſtellte ſich
auf ſeine Seite, weil ſich der Bruder gegen ihn
erklärte.
„Nein, weiß Gott, nicht!“ ſagte ſie ſo ſanft und
leiſe, als ſie konnte. „An dem Bruder finden Sie
Ihren Rückhalt nicht, Herr Adjunkt! Der kennt Nichts
13
als Arbeit, immer Arbeit, am Sonntage wie am
Wochentage und ſich im Stillen freuen hat er nie
gekonnt.“
Der Amtmann ſchlug ſein hellſtes Lachen auf.
„Nein!“ rief er, „nein, da hat ſie Recht, und zu dem
Vergnügen, das Sie mir heute bereiten, nicht zu
lachen, da müßte ich nicht mehr ich ſelber ſein. Aber
nun iſt Alles möglich! Das iſt ja mehr als bloß Be—
kehrung, das iſt die reine Hexerei. Die Schweſter,
die ſich auf die Sonntagsruhe und auf die Heiligkeit
verlegt! Das iſt ein Mirakel, Herr Adjunkt! Wenn
Sie mir Die zur Sanftmuth, wenn Sie mir Die zur
Stille und zum Schweigen bringen, ſo ſollen Sie
mein Mann ſein, mehr noch als bisher.“
Ulrike wurde feuerroth. „Statt den Herrn
Adjunktus zu verhöhnen und mich zu verſpotten, weil
ich mich noch nicht zu alt erachte, meine Fehler abzu⸗
legen, wenn man ſie mir durch gutes Beiſpiel deut⸗
lich macht, ſollteſt Du —“ fie brach plötzlich ab und
biß ſich auf die ſchmalen Lippen.
Dem guten Sinne des jungen Geiſtlichen waren
dieſe Vorgänge zwiſchen dem Amtmann und der
Schweſter ſehr zuwider. Er war klug und verſtändig
genug, die rechtſchaffene Tüchtigkeit des Amtmannes
trotz ſeiner gelegentlichen Derbheiten zu achten und zu
ſchätzen, und doch noch unerfahren genug, ſich einzu-
bilden, daß es ihm wohl gelingen könnte, in Mamſell
Ulrike, die ſich immer ſeiner Anſicht zeigte, ſo oft der
Amtmann derſelben widerſprach, eine Sinnesänderung
und vielleicht, wie er es in ſeiner Weiſe nannte, eine
74
Bekehrung und Erhebung zu bewirken. Es war ihm bis⸗
weilen auch geglückt, Ulrike zu beſänftigen, ſo daß er
ſich die Ueberwindung, mit welcher ſie in dieſem Augen⸗
blicke innehielt, als ſein Verdienſt anrechnete und ihr
zu Hilfe kommen wollte, als der Amtmann ihm dieſe
Möglichkeit mit der an die Schweſter gerichteten Frage
abſchnitt: „Na, komm' nur damit heraus! Was er
ich denn?“
„Du ſollteſt,“ fuhr Ulrike, ihrer ſelbſt jetzt ih
länger mächtig, fort, „Du ſollteſt wiſſen, daß ich es
nun einmal für den Tod nicht leiden kann, wenn Du
ſo die Briefe von der Hulda für Dich allein behältſt
und wegſteckſt, als ob die heiligen zehn Gebote oder
die heilige Offenbarung darin ſtänden, die unſer Herr⸗
gott“ — der Verkehr mit dem Adjunkten hatte ihre
Gedanken auf den Bereich der Bibel hingelenkt —
„die unſer lieber Herrgott denn doch nicht bloß für
einen Einzigen in die Welt geſchickt hat.“
„Stehen auch gar keine Geheimniſſe in dem
Briefe,“ entgegnete der Amtmann, dem es Spaß zu
machen ſchien, daß ſeine Schweſter die ihr neue Rolle
der Gehaltenheit und Mäßigung bei jedem Anlaſſe
wie ein läſtig Kleidungsſtück von ihren Schultern
warf, und der das Necken nicht leicht laſſen konnte.
„Steht Nichts darin, was ich Dir nicht hätte ſofort
jagen können, hätte ich nicht befürchtet, Dir und dem
werthen Herrn Adjunktus damit Bedenken zu erregen,
daß ich das Fuhrwerk für den Paſtor am Sonntag
abgehen laſſen will.“
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75
: „Wozu das Fuhrwerk?“ fragte die Mamſell auf-
horchend.
Der Amtmann ließ ſich mit der Antwort Zeit.
Seine Pfeife hatte ſich verſtopft, er mußte ſie in
Ordnung bringen. Ulrike klopfte mit den ſpitzen
Fingern ungeduldig auf den Tiſch. Der Amtmann
ſchien das gar nicht zu bemerken. „Die Frau Gräfin“,
ſagte er endlich, „die Frau Gräfin hat die Kenney
zur Frau Fürſtin hingerufen, ſie iſt vor einigen Tagen
abgereiſt —“
„Und das ſagſt Du mir erſt jetzt, und als ob
das gar Nichts wäre?“ fiel die Schweiter dem Amt⸗
mann mit freudeſtrahlendem Triumphe in die Rede.
„Das iſt ja ein wahres Glück! Die alſo wäre man
doch nun wieder los! Und das leiſe Kommandiren
und all das beſcheidene Hofmeiſtern und Beſſerwiſſen
hat doch wieder auch einmal ſein Ende. Ich wollte
nur, ſie holten —“
Aber ſie beſann ſich eines Beſſeren. Sie ſprach
nicht aus, was ſie erwünſchte, und fragte ſtatt deſſen
nur, was denn ſonſt noch Gutes in dem Briefe
ſtände.
„Nicht viel Gutes,“ verſetzte der Amtmann. „Ich
hatte es aber bald gedacht, daß keine Hilfe mehr für
unſeren guten Paſtor ſein würde. Er weiß das jetzt
auch ſelbſt; das arme Kind, die Hulda aber, weiß noch
mehr, als der Doktor ihm zu ſagen für gut befunden
hat. Der kranke Mann ſehnt ſich nun nach Hauſe,
und die Hulda bittet mich, ihnen ein Fuhrwerk in die
76
Stadt zu ſchicken, was ich denn gleich übermorgen
thun will, ehe die Wege vollends grundlos werden.“
„Da ſie ſo lange weggeblieben ſind,“ meinte die
Mamſell Ulrike, „ſo könnten ſie nun ſchon bleiben, bis —“
„Bis die Wege vollends grundlos werden,“ fiel
der Amtmann ein, „oder bis der arme Mann die
Heimat, in die er wiederkehrt, gar nicht mehr ſehen
kann? Nein, das Mädchen hat ganz Recht. Sie
müſſen je eher je lieber in ihr Haus zurück, wo der
Pfarrer Alles an ſeinem Flecke kennt und findet, und
wo er, wie die Hulda es mir ſchreibt, ſelbſt dasjenige
noch zu ſehen glauben wird, 155 er 1 nicht
mehr genau erkennt.“
Der Amtmann war gegen ſeine Gewohnheit ganz
gerührt über dieſe Vorſtellung und über ſeines alten
Freundes trauriges Geſchick. „Für Sie, Herr Ad—
junktus,“ ſagte er, „wird es auch recht gut ſein, wenn
die Beiden erſt wieder in dem Hauſe ſein werden.
Der Pfarrer iſt hier geboren, er kennt die Leute hier
und wird Ihnen noch beſſer als ich ſelber jagen kön⸗
nen, was hier geht und nicht geht; Und die Tochter
— nun, Sie haben ſie ja geſehen, die drei Tage, die
Sie in der Pfarre vor des Paſtors Abreiſe noch zu—
ſammen geweſen find. — Ich halte große Stücke von
dem Mädchen. Es iſt brav und gut!“ und als wolle
er die Empfehlung Hulda's, die er mit Gefliſſenheit
ausgeſprochen hatte, doch nicht gar zu merklich machen,
fügte er hinzu: „Auch die Mutter war eine brave
Frau, die mit ihrem Wenigen gut hauszuhalten
wußte.“
77
Ulrike hatte Hulda's Lob nur mit Ueberwindung
angehört; ſeit ſie aber in dem Verkehr mit dem Ad⸗
junktus angefangen hatte, ſich der Milde und der
chriſtlichen Liebe zu befleißigen, hatte ſie die ſelige
Paſtorin in den Kreis derjenigen ihr ungefährlichen
Perſonen aufgenommen, von denen ſie nichts Uebles
ſagte und auf die ſie auch Nichts kommen ließ. „Ja!“
verſetzte ſie, „die ſelige Simonene war eine gute Frau
und hatte auch bei uns mancherlei Gutes angenom⸗
men in der Wirthſchaft und im Hauſe. Sie und ich
haben es auch nicht fehlen laſſen an der Hulda! Aber,
was dem Mädchen mangelt, das läßt ſich nicht erlernen
und nicht geben; das muß aus dem Herzen kommen,
das muß angeboren ſein.“
„Und was mangelt denn der Hulda?“ fragte der
Amtmann, der ſeiner Schweſter nie recht traute, wenn
ſie, wie er ſich ausdrückte, wie ein Igel, der für ſich
Gefahr merkt, ihre Stacheln einzog.
„Demuth! Demuth mangelt ihr;“ und halblaut,
wie zu ſich ſelber ſprechend, ſetzte ſie hinzu: „unter
einem Baron thut es die Hulda einmal nicht!“
Der Amtmann zog die Augenbrauen in die Höhe
und gab der Schweſter einen Wink, den ſie nicht über-
ſehen und nicht mißverſtehen konnte. Sie ſtand auf
und ging, mit den Schlüſſeln an ihrem Bunde klap⸗
pernd, raſch hinaus. Der Amtmann ſchritt im Zimmer
auf und nieder. Es ging ihm Etwas im Kopfe
herum, er konnte nur nicht mit ſich einig werden. Mit
einemmale blieb er vor dem Gaſte ſtehen.
78
„Ich müßte die Menſchen hier herum, und ich
müßte meine Schweſter nicht kennen,“ hub er ohne
alles Weitere an, „oder Sie haben ſchon allerlei von
dem Gerede zu hören bekommen, das die Schweſter
Ihnen da eben wieder als ein rechtes Zeichen ihrer
Art von Nächſtenliebe aufzutiſchen dachte. Glauben
Sie davon kein Wort, es iſt Alles Lüge und Ver⸗
leumdung, Alles! Alles! Das arme Kind iſt zu be⸗
klagen, und einem freundlichen Geſicht im Hauſe zu
begegnen, wird dem Mädchen gut thun. Denken Sie
daran.“ 8
Es lag ſo viel redliche Güte in ſeinen Worten
und in ſeinen Mienen, daß ſie den graden Sinn des
jungen Mannes überwältigte und ihm das Herz erſchloß.
„Es iſt wahr,“ entgegnete er, „und es iſt mir
befremdlich aufgefallen, daß man auf den bei uns ein⸗
gepfarrten Gütern, und auch daß Mamſell Ulrike der
Tochter des Herrn Paſtors nicht geneigt iſt. Soweit
ich ſie aber in den paar Tagen kennen lernte, die ich
mit ihr verlebt habe, kam ſie mir ſanft und gut und
ſchlicht vor, und die geringen Leute hängen ihr in
Liebe an. Man hat auch Nichts offen gegen ſie aus⸗
geſagt —“
„Weil man Nichts auszuſagen hat! Weil ſelbſt
der Neid, der hier im Spiele iſt, Nichts vorzubringen
hat!“ rief der Amtmann, der ſich zu erhitzen anfing.
„Setzen Sie bei allen Weibern, bei den jungen wie
bei den alten, und bei meiner Schweſter obenan, nur
immer einen rechten gründlichen Neid voraus, wenn
ſie von einem ſchönen braven Mädchen reden, und eine
r
PPP
12
heimliche Schadenfreude, wenn ihm etwas Uebles wider-
fährt, und Sie werden ſolch armen Mädchen wie der
Hulda, dann gerecht ſein.“
Der Adjunkt hörte das mit Freude. Man hatte
ihm Hulda gleich bei den Antrittsbeſuchen, die er zu
machen hatte, als eitel, als gefallſüchtig und intrigant
geſchildert. Man hatte argliſtig gelächelt, wenn er aus⸗
geſprochen, daß ſie ihm nicht alſo erſchienen ſei, und
hatte angedeutet, der ſchöne Sekretär des Fürſten, und
Seine Durchlaucht ſelber, und der Bruder der Frau
Gräfin wüßten von der ſchlichten Unſchuld mehr zu
jagen. Er hatte von ſolchen Bemerkungen gleich ab⸗
gelenkt, hatte mit richtigem Empfinden auch von Nie⸗
mandem Auskunft über die Tochter ſeines vorgeſetzten
Amtsbruders verlangen wollen; aber die Ausſicht, mit
einem Mädchen, deſſen Ruf ſo ſchwer geſchädigt ſchien,
in täglichem und engem Verkehr zu leben, war ihm
bei ſeiner ſtrengen Sittlichkeit und in ſeiner amtlichen
Stellung gleich widerwärtig erſchienen, und des Amt⸗
manns Worte, das Lob, das derſelbe der Pfarrers—
tochter mit ſolcher Liebe ſpendete, erfreuten deshalb
den wackeren jungen Mann. Zum erſtenmal erlaubte
er ſich nun die Frage, was denn Anlaß geboten habe
zu den Gerüchten, die über Hulda umliefen, und der
Amtmann, dem das Verhalten des Adjunkten in dieſer
Angelegenheit ſehr wohl gefiel, gab ihm offenen und
völligen Beſcheid.
Darüber wurde das Eſſen in der Nebenſtube auf⸗
getragen, Mamſell Ulrike rief zu Tiſch. Der Amt⸗
mann ſagte während der Mahlzeit dem älteſten Inſpektor,
80
daß Sonntag in der Frühe der Reiſeknecht mit dem
halbverdeckten Holſteiner in die Stadt zu fahren habe,
um den Herrn Paſtor und Mamſell Hulda herauszu⸗
holen, und es war danach die Rede weiter nicht von ihnen.
Nur als der Adjunktus ſich empfahl und Mam⸗
ſell Ulriken zum Abſchiede die Hand gab, drückte ſie
ihm dieſelbe leiſe und ſagte flüſternd: „Sie werden
Ihr Wunder erleben, Herr Adjunkt! Aber für Sie ib
mir nicht bange!“
Er that, als hörte oder verſtände er es nicht
Ulrike war ihm plötzlich ſehr zuwider. Er kam ernſt
und mit ſich unzufrieden in der Pfarre an. Sein
Mangel an Welt⸗ und Menſchenkenntniß drückte ihn.
„Man ſollte uns nicht in ſo jungen Jahren ſolche
Aemter anvertrauen,“ dachte er in ängſtlicher Ge⸗
wiſſenhaftigkeit, und mit dem Geloͤbniß, böſer Rede
nie ſein Ohr zu leihen, ſchloß er an dem Abend ſein
Gebet.
ö
|
|
Achtes Capitel.
Des Amtmanns Reiſeknecht hatte den Befehl er⸗
halten, die Pferde in dem Stalle des gräflichen Hauſes
vierundzwanzig Stunden ruhen zu laſſen. Den Tag
danach führte der alte Wagen, den der Amtmann ihnen
zu dem Zwecke in die Stadt geſchickt, den Pfarrer und
ſeine Tochter wieder in das Dorf zurück.
Es war die ſchlimmſte Zeit für eine ſolche Fahrt.
Das Thauwetter war früher als gewöhnlich eingetreten;
die Wege hielten nicht und brachen nicht, es war nicht
von der Stelle zu kommen. Obſchon man am Morgen
mit der Abfahrt nicht gezögert hatte, dämmerte der
Abend bereits herein, als man an dem Schloſſe vor⸗
überfuhr, deſſen hohe, breite Mauern ſich ſchwer und
maſſig gegen den weißlich⸗grauen Himmel abzeichneten,
von dem zerſchmelzender Schnee dicht und leiſe auf
die Erde niederrieſelte.
Die Fahrt in dem halbverdeckten Wagen kam
dem kränkelnden Greiſe bei dem naßkalten Wetter recht
hart an, aber nach ſeiner geduldigen Weiſe ließ er
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 6
82
kein Wort der Klage hören. Er drückte nur von Zeit
zu Zeit freundlich ſeine Zufriedenheit darüber aus,
daß er nun bald in ſeinem Hauſe, in ſeiner Gemeinde
ſein werde. Er rühmte es zu verſchiedenenmalen mit
dankbarer Genugthuung, daß er ſelbſt im Dämmer⸗
lichte die Gegenſtände noch immer unterſcheiden, daß
er ſeine Heimat wirklich noch wiederſehen könne; und
wie man dann an dem Schloſſe vorüberfuhr, verweilte er
mit freundlicher Erinnerung bei all dem Guten, das
ihm durch der Gräfin Großmuth in der Stadt zu
Theil geworden war, wie bei der tröſtlichen Ausſicht,
welche ihm ebenfalls die Gunſt der Gräfin für ſeine
fernere Amtsführung durch die Anweſenheit ſeines
jungen Gehilfen bereitet hatte.
Seine Ergebung, ſeine Geduld und Dankbarkeit
rührten und beſchämten Hulda, aber ſie konnte bei dem
beſten Willen ihr Herz nicht dazu bringen, ſie zu
theilen. Sie konnte die Mauern des Schloſſes nicht
vor ſich aufſteigen ſehen, ohne ſich daran zu erinnern,
was ſie dort erlebt hatte, und wie es dunkler und
dunkler wurde, überwältigte ſie die Erinnerung an
jene ſturmdurchtobte Herbſtnacht, in welcher ſie dieſes
Weges auch gefahren war, in des Geliebten Arm, den
Kopf an ſeiner Bruſt, in berauſchenden Glückesträu⸗
men, aus denen das Entſetzen über der Mutter Tod
ſie aufgeſchreckt hatte. Alles, was ſie ſeitdem erlebt,
erlitten, was in den letzten Tagen in der Stadt er⸗
hebend, aufregend und beunruhigend an ſie heran⸗
getreten war, zog wie Wolkengebilde, die der Sturm⸗
wind jagt, deutlich und doch raſtlos durch ihren Sinn.
83
Ihr Sollen und Müſſen, ihr Wünſchen und Wollen
ſtanden wider einander. Das nahm ihr den Glauben
an das Gute in ihrem Herzen. Sie fühlte ſich zer⸗
riſſen und verwirrt, unzufrieden mit ſich ſelbſt, ver⸗
zweifelnd an ſich ſelbſt, und ohne einen Strahl von
Hoffnung, von Befürchtungen aller Art bedrängt. Das
iſt ſonſt nur des Alters Stimmung, wenn es ſich zu
beſcheiden nicht vermag, und Hulda kam ſich auch mit
ihren achtzehn Jahren alt, und fertig mit dem Leben
vor, nach deſſen Glück ſie doch ſo ſehr verlangte.
Es war ſchon völlig dunkel, als der Wagen durch
das ſtille Dorf fuhr. Nur die Hunde ſchlugen an
wie in jener wilden Herbſtnacht des verwichenen Jahres.
Vor den Fenſtern waren die Strohmatten nieder⸗
gelaſſen, wo man ſolche hatte, die Läden geſchloſſen.
Der Schulz des Dorfes trat, wie er den Wagen kom⸗
men hörte, an die halbgeöffnete Thüre und rief dem
Paſtor ſein treuherziges Willkommen durch die Nacht zu.
Durch die kleinen Scheiben des Pfarrhauſes ſchim⸗
merte ihnen das Licht entgegen, als der Kutſcher vor
dem Gitter des Gärtchens ſtille hielt. Der Küſter,
der ſeinen Herrn Pfarrer ſchon den ganzen Nachmittag
erwartet hatte, war der Erſte an dem Wagen, der
Adjunktus folgte ihm auf dem Fuße. Ernſt und be⸗
ſcheiden, wie es ſeine Art war, bot er Hulda die Hand.
Er half dem Pfarrer behutſam aus dem Wagen, er
ging vorſichtig neben ihm her, auch ſein Willkomm
kam vom Herzen.
Auf dem Tiſche brannten die beiden Lichter, das
Feuer kniſterte in dem alten grünen Kachelofen. Die
6 *
34
Wärme that dem Pfarrer und auch Hulda nach der
langen kalten Tagfahrt wohl, und der Pfarrer fetzte
ſich mit Behagen in den Lehnſtuhl, den der Küſter
ihm an den Ofen herangerückt hatte. Der Thüre
gegenüber hing der Schattenriß der Mutter ſo wie
ſonſt. Der Adjunktus hatte einen ſchönen Kranz von
friſchem Moos und Tannengrün darum gewunden.
Man ſah, hier hatte guter Wille den Empfang be⸗
reitet, und es erſchreckte Hulda, daß es ſie nicht mehr
erfreute. Ihr hatte vor dem nahen Zuſammenleben
mit dem fremden jungen Manne gebangt, nun kam
er ihnen ſo gutwillig entgegen, und doch laſtete
eine wahre Angſt auf ihr. Das Haus war ihr nie
ſo klein, die Stube nie ſo eng und niedrig vorgekom⸗
men, als heute, da ſie dieſelbe durch mehrere Monate
nicht geſehen und betreten hatte. Es umfing ſie wie
die Mauern eines Kerkers. Sie hätte fort mögen,
hinaus, zurück in Nacht und Dunkel, den Weg zurück,
zurück und hin zu ihm, von dem ſie nicht abzulaſſen
vermochte, wie fern er ihr auch war, wie wenig ſie
ihm galt.
Es war gut, daß die häuslichen Verrichtungen
ſie zwangen, raſch das Zimmer zu verlaſſen, daß ſie
ihre Augen ungeſehen trocknen konnte, und daß die
Einrichtung des ins Stocken gerathenen Haushaltes
ſie an dieſem Abende und durch viele Tage ganz in
Anſpruch nahm. Die heilende Gewohnheit konnte ſich
während deſſen wieder beſänftigend über die Wunde
legen, die bei jedem neuen Anlaß blutend aufſprang,
Hulda konnte wieder lernen, ihr Geſchick gelaſſen zu
85
ertragen. Nur ſich aufzurichten war ſie nicht im
Stande.
Das Beiſammenleben mit dem Adjunktus ge⸗
ſtaltete ſich inzwiſchen gut und leicht. Weil er in
ſeiner Gewiſſenhaftigkeit es ſich zum Vorwurf machte,
daß er auf üble Nachrede hin ungünſtig von Hulda
gedacht hatte, kam er ihr mit erhöhter Achtſamkeit ent⸗
gegen. Er fand ſie ernſt und ſtill, er ſah ſie dienſt⸗
fertig und fleißig, ihre vorſorgende Hingebung für
ihren Vater blieb ſich immer gleich; und da ſie ihrer⸗
ſeits bemerkte, daß der Pfarrer die Hilfe und die Ge⸗
ſellſchaft des jungen Mannes als ein Glück erachtete,
war ſie bemüht, demſelben durch Freundlichkeit zu ver⸗
gelten, was er dem Vater war und leiſtete. Selbſt
der Zuſchuß, den die Gräfin dem Paſtor um des Ad-
junktus wegen in ſeinen Einnahmen und in den ihm
zuſtehenden Lieferungen bewilligt hatte, kam der haus⸗
haltenden Tochter wohl zu ſtatten, und beide Männer
erkannten es ihr dankbar an, wie ſie mit Wenigem
viel zu ſchaffen, wie ſie durch Anmuth allem Gelei⸗
ſteten und Geſchafften höheren Werth zu geben wußte.
Der Adjunktus, den ſeine geringen Mittel immer
zur Zurückgezogenheit genöthigt, hatte wenig unter
Menſchen gelebt, noch weniger Verkehr mit jungen
Frauenzimmern gehabt. Die ruhige Sicherheit, die völlige
Unbefangenheit, mit welcher Hulda ihm begegnete,
hatten deshalb für ihn einen fremdartigen Zauber.
Die gute Schulung, welche ihren natürlichen Anlagen
in der Geſellſchaft des Schloſſes und durch die Kenney
zu Theil geworden war, ihre Kenntniſſe und ihre
85
Bildung hoben ſie weit hinaus über die wenigen jungen
Frauenzimmer, welche er bisher gekannt, über die
Töchter der Geiſtlichen und Gutsbeſitzer, denen er nach
Uebernahme ſeiner jetzigen Stellung ſeine Aufwartung
zu machen gehabt hatte. Und da er ohne Schweſter
in ſeinem Elternhaus erwachſen war, gingen ihm in
dem täglichen Beiſammenſein mit Hulda neue Freuden⸗
en uf, 235
Alles was ſie that und wie ſie's that, Alles, was
er mit ihr gemeinſam unternehmen konnte, ward ihm
zum Genuß. Es freute ihn, wenn er den Vorleſer
des Pfarrers machen durfte, denn Hulda ſaß an ihrer
Näharbeit ihm gegenüber. Es machte ihn glücklich,
wenn er neben dem Greiſe am Sonntag in die Kirche
und zur Kanzel ging, denn Hulda ging mit ihnen.
Es erhob ihn, wenn er ſtatt des Pfarrers die Sonn⸗
tagspredigt halten konnte, denn Hulda's Augen hingen
in andächtigem Sinnen an den ſeinen, und liehen ihm
Worte und gaben ihm Bilder und eine Wärme, die
er früher nicht beſeſſen hatte, und von denen er nicht
ſagen konnte, woher ſie ihm gekommen waren. —
Gott iſt mit mir! dachte er, wenn Der und Jener
ihm zu hören gab, daß er gut gepredigt habe und daß
man den Herrn Paſtor gar nicht mehr vermiſſe, wenn
der Adjunktus auf der Kanzel ſtehe. Nur Mamſell
Ulrike hatte ihm dies nie geſagt, und ſie kam auch
nicht mehr ſo oft zur Kirche als im Winter, obſchon
die Kälte und die Näſſe nachgelaſſen hatten und die
Sonne ſchon an manchen Tagen ſo warm hernieder⸗
ſchien, daß der Schnee und das Eis davor geſchmolzen
87
waren. Bisweilen krümelten wohl noch weiße Stera⸗
chen nieder, aber der Himmel war doch ſchon wieder
blau, und man freute ſich an dem ſonnendurchleuch⸗
teten Geglitzer in der Luft.
Die Oſtern waren da, man wußte in der Pfarre
ſelbſt nicht wie. Die Tage waren leiſe dahingeſchwun⸗
den, es war für Hulda an ihnen nichts Beſonderes zu
verzeichnen geweſen, einer hatte dem anderen geglichen.
Wo aber die Tage ſich nicht von einander unterſchei⸗
den, da iſt der Rückblick in die Vergangenheit und
das Zeitmaß für dieſelbe ungewiß und ſchwankend.
Sie konnte es bisweilen gar nicht faſſen, daß noch
nicht zwei Jahre vergangen waren, ſeit ſie Emanuels
Bild zuerſt erblickt, noch nicht fünfzehn Monate, ſeit
ſie ihn zuletzt geſehen hatte. Oftmals mußte ſie ſich
fragen, wie lange es denn her ſei, daß ſie bei Gabrielen
geweſen war? Sie hatte Mühe, ſich daran zu erinnern,
daß es eine Zeit gegeben, in der ſie nicht an Emanuel
gedacht, in der ſie ſeinen Ring nicht an der Hand
getragen hatte. Weil ihre Liebe ihr Alles war, ſchien
ſie ihr ohne Anfang wie das All, und fühlte ſie die⸗
ſelbe in ſich ohne Ende wie die Ewigkeit. Was konnten
daneben die Tage und Wochen für ſie noch bedeuten?
Sie liebte — und die Tage floſſen ſtill an ihr vorüber.
Am Oſterſonntag wollte der Pfarrer ſelbſt die
Kanzel beſteigen, denn je mehr ſeine Kräfte nachließen,
umſomehr hielt er darauf, an den großen Feiertagen
noch ſelber zu der Gemeinde zu ſprechen, weil er doch
nicht wiſſen konnte, ob es ihm in dem nächſten Jahre
noch gegönnt ſein werde. Die Taufe aber ſollte nach⸗
88
her der Adjunkt abhalten, denn es waren alle die
Kinder aus den eingepfarrten Dörfern in die chriſtliche
Gemeinde aufzunehmen, welche während der kälteſten
Zeit geboren worden waren, und die man eben des⸗
halb nicht hatte zur Kirche tragen können.
Eine halbe Stunde vor dem erſten Läuten, wäh⸗
rend der Vater in ſeiner Stube noch ſeine Predigt im
Geiſte wiederholte, trat Hulda vor die Thüre hinaus,
um die Blumenſtöcke, die ſie ſeit langer Zeit zum
erſtenmale wieder hatte hinaus 1 5 und in der freien
Luft begießen können, in das Zimmer und auf das
Fenſterbrett zurückzutragen, wo ſie hübſch ausſahen
zwiſchen den friſch gewaſchenen Gardinen.
Der Adjunktus ging langſam in den kleinen
Wegen hin und her; bald bückte er ſich zur Erde und
ſuchte Etwas auf den Beeten, dann muſterte er die
erreichbaren Aeſte der vier Tannen und die Sträuche
in dem Garten. Er hielt ein paar Schneeglöckchen und
einige Weidenzweige in der Hand, an denen die erſten
ſilbergrauen Blüthenkätzchen ſchimmerten, die das Land⸗
volk in der Gegend Palmen nennt. Als er Hulda vor
die Thüre kommen ſah, trat er an ſie heran.
„Es iſt heute ein rechtes Auferſtehungswetter,“
ſagte er. „Die erſten Palmen ſind heraus, in dem
e e regt es ſich, und ſogar ein paar
Schneeglöckchen ſind ſchon hervorgekommen.“ Er reichte
ihr die Zweige und die Blumen hin, ſie ſprach ihre
Freude daran aus und ſtrich leiſe, wie ein ſpie⸗
lend Kind, mit den weichen Weidenkätzchen über ihre
Wangen.
89
„Ich trug Bedenken,“ meinte er darauf, „die
Blümchen abzubrechen und Ihnen die Luſt des Fin⸗
dens zu entziehen; aber ich habe meiner Mutter immer
am Oſtertage einen wenn auch noch ſo kleinen Strauß
geſucht, und ſo wollte ich auch Ihnen einen bringen.
Es hat ſie immer ſo gefreut!“
„Oh, es freut mich auch, und ich danke Ihnen;
es freut mich wirklich ſehr!“ entgegnete ſie ihm.
„Sie ſehen ſo ſelten aus, als ob Sie Etwas
freute!“ ſagte er.
„Hab' ich denn zu immer neuer Sorge nicht
täglich neuen Grund?“ verſetzte ſie. „Mein Vater iſt
ſo ſchwach!“
„Aber Gott iſt mächtig und gnädig!“ gab er ihr
zur Antwort.
„Ach, für den S geſchehen keine un
mehr, der hat zu tragen, hat ſich zu beſcheiden —
„Und zu vertrauen und zu hoffen!“ fügte er
hinzu.
Sie ſchüttelte das Haupt. „Was mich bedroht,
das weiß ich. Und hoffen? —“ Sie brach in ihrer
Rede ab. Er ſtand verlegen vor ihr, nicht wiſſend,
ob er reden oder ſchweigen ſolle. Er hätte ihr ſagen
mögen, daß er durch den Amtmann von ihren Er⸗
lebniſſen unterrichtet ſei, aber er ſelber dachte ſo un⸗
gerne an dieſelben und mit ſolcher Abneigung an
Baron Emanuel, daß er ſie vollends nicht an ihn
erinnern mochte.
„Ich glaube,“ hub er endlich an, „Ihnen fehlt
die feſte, zuverſichtliche Ergebung in den Willen Gottes,
90
die mir Ihren Vater ſo verehrungswürdig und zu
einem ſo erhebenden Beiſpiele macht.“
Das war es aber gar nicht geweſen, was er ihr
hatte ſagen wollen, und es ſchien ihr auch nicht zu
gefallen, denn ſie entgegnete ihm mit einem gewiſſen
Trotze gegen ſeine Mahnung: „Gott hat dieſe Er⸗
gebung nun einmal nicht in mein Herz gelegt!“
Der Ausruf erſchreckte ihn, denn er wähnte,
daß ſie ſeine Gläubigkeit damit verſpotten wolle, und
ohne die ruhige Ueberlegung, die ihm ſonſt nicht fehlte,
rief er: „Ach, hätten Sie Ihr Vaterhaus doch nie
verlaſſen!“ | |
Der Wunſch kam ſo voll aus feinem Herzen, die
Lebhaftigkeit, mit welcher er ihn ausſprach, wich durch⸗
aus von ſeiner ſonſtigen gehaltenen Weiſe ab. Hulda
ſah ihn befremdet an. Wie ihr Blick aber den ſeinen
traf, konnte er es nicht ertragen, und in einer Ver⸗
wirrung, die ihm das Blut zu Kopfe trieb, ſagte er:
„Vergeben Sie mir die Anmaßung!“
Aber auch Hulda wurde verwirrt und roth, denn
ſo wie der Adjunkt jetzt vor ihr ſtand, ſo hatte auch
ſie einſt faſſungslos und ihrer ſelbſt nicht mächtig da⸗
geſtanden vor Emanuel, und ſie wußte, was das zu
bedeuten hatte. Eine ganze Menge kleiner Vorgänge
zwiſchen ihr und dem Adjunktus: Worte, Mienen, die
in all den letzten Wochen an ihr unbeachtet vorüber⸗
gegangen waren, drängten ſich nun plötzlich wie die
kleinen Theilchen in einem Kaleidoſkop mit einemmale
zu einer feſten, beſtimmten Geſtaltung zuſammen, die
ſie nicht mißkennen konnte und vor der ſie wie vor
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91
einer heiligen Enthüllung demüthig das Auge ſenkte.
Indeß ihre Wahrhaftigkeit ließ ihr keine Wahl, und
mit raſcher Selbſtüberwindung fragte ſie: „Was ſoll
ich Ihnen verzeihen? Daß Sie Theil an mir und
meinem Schickſale nehmen, oder daß auch Sie er⸗
fahren haben, was hier in der Gegend gewiß vielfach
beſprochen worden iſt?“ Sie ſtockte, weil es ihr hart
ankam, vor einem Anderen laut werden zu laſſen,
was ſie ſich ſelber an jedem Tage wiederholte, aber
die Bewegung, die ſie in den Zügen des Adjunktus
las, trieb ſie vorwärts und half ihr über ihre mäadchen-
hafte Schüchternheit hinweg.
„Es iſt wahr,“ ſagte ſie, „ich bin nicht glücklich,
und vielleicht haben Sie recht, daß es mir beſſer ge⸗
weſen wäre, ich hätte unſer Pfarrhaus nie verlaſſen.
Aber glauben Sie mir“ — und ihre Sprache zitterte
in ſchönem, vollem Klange und ihre Stimme wurde
belebt wie fie das ſagte — „es gibt ein Unglück, das
doch beglückender als manches Glück iſt, ein Unglück,
das man mit allen ſeinen Schmerzen liebt. Ja! wenn
ich ſelbſt mir ein anderes, ſogenanntes ruhiges Geſchick
durch Vergeſſen meines Leids erkaufen könnte, ich
müßte wie der ritterliche König ſagen: „Mieux aime
mon martyre!“ denn es iſt mein Leben und mein
Sein!“
Sie wendete ſich raſch von ihm und ging in
das Haus zurück. Sie mochte nicht, daß er es ge-
wahrte wie ihre Augen ſich mit Thränen füllten, noch
weniger mochte ſie ihn anſehen. Er blieb geſenkten
Hauptes ſtehen wie angebannt. Wäre ſein Ebenbild,
92
ſein Doppelgänger vor ihm emporgeſtiegen, er ſelbſt
und doch nicht er ſelbſt, und ihm ſo fremd, wie er
ſich in ſeinem ganzen Empfinden in dieſem Augen⸗
blicke war, ſo fremd wie Alles um ihn her ihm jetzt
mit einemmale erſchien — es würde ihn nicht mehr
erſchüttert haben als der Blick, den er in ſein Herz
und in Hulda's Herz gethan hatte.
Die Kirchenglocke ſchreckte ihn empor. Sie klang
ihm mißtönig und dumpf, als wäre ſie geborſten, und
er hatte ſie doch ſonſt ſo gern gehört. Er konnte es
nicht aushalten in der freien Natur. Der Tag und
die Sonne, Baum und Strauch, es ſah ihn Alles mit
klaren Augen klug und forſchend an. Es war nicht
zum Ertragen. Es drängte ihn in die Enge, in die
Einſamkeit zurück, er mußte allein ſein und ſich ſam⸗
meln. Wie ſollte er die Taufe heute vollziehen? wie
konnte er vor der Gemeinde von der heiligen Gemein⸗
ſchaft der ganzen Chriſtenheit in einer Stunde ſpre⸗
chen, in der er ſich wie ausgeſtoßen und von Gott
verlaſſen fühlte. Er eilte in ſeine Stube, er wollte
nachdenken, was eigentlich geſchehen war, er wollte ſich
ſammeln, er faltete in ſeiner Pein die Hände zum
Gebet, aber es war Alles vergebens. Er konnte den
Weg nicht finden, auf dem er ſonſt dem Herrn ge
naht war, die Himmelsthüre war ihm wie verſchloſſen,
und wie er auch mit ſich rang und ſich aufzuraffen
und emporzuſchwingen ſtrebte, wie er es verſuchte, ſich
zu demüthigen und zu beſcheiden, es gelang ihm nicht.
Die unſeligen Worte: „Mieux aime mon martyre!“
ſchwirrten ihm mit ihrem fremden Klange unheimlich
W
93
vor dem Ohr. Er hörte, er ſah ſie, ſie ſtanden wie
mit Flammenſchrift in ſeinem Innern, ſie verſengten
ihm Bruft und Hirn, daß ſelbſt die Thränen ihm
davor verſiegten, daß er nicht weinen konnte — und
er hatte doch ſolches Mitleid mit ihr und auch mit ſich!
Darüber ward es Zeit, zur Kirche zu gehen. Er
hatte den Pfarrer ſeit deſſen Rückkehr immer hin⸗
geleitet, er mochte ihm auch heute nicht fehlen. Der
Vater in der Mitte, Hulda an ſeiner Rechten, der
Adjunkt zu feiner Linken, ſo ſchritten fie durch das
Gärtchen und über die Dorfgaſſe und den Kirchhof,
durch die Kirche bis in die Sakriſtei. So war es alle
die Sonntage geweſen, ſo war's auch diesmal anzu⸗
ſehen, und doch ſo anders.
Hulda ſprach von dem ſchönen Wetter, und wie
gut es dem Vater thun werde, und wie gut es für
die Täuflinge ſei. Der Adjunkt hörte es und hörte es
nicht. Es lag eine Welt zwiſchen ihm und ihr, der
er doch zu eigen war mit ſeiner ganzen Seele.
„Kann ich hier bleiben? Darf ich hier bleiben?
und wie wär es denn möglich, daß ich ginge, fort-
ginge von ihr?“ — Das waren die einzigen Gedanken,
die er feſtzuhalten vermochte.
Er hörte es, wie der Pfarrer von der Kreuzigung
ſprach, die Jeder in ſeinem Innern an ſeinen böſen
Neigungen vollziehen müſſe zu ſeiner eigenen Erlöſung,
um dann ſeine Auferſtehung und neue Menſchwerdung
unter dem Beiſtande Deſſen zu feiern, der ſich an
das Kreuz ſchlagen laſſen zur Erlöſung der Menſch⸗
heit. Bisher hatte der Adjunkt, wie er glaubte, redlich
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an ſich gearbeitet. Er hatte ſeine Seele rein erhalten,
ſein Gewiſſen frei bewahrt und nichts Höheres gekannt,
als lehrend in ſeinem Amte ſeinen Glauben zu be—
kennen. Was ihn davon hätte abziehen können, würde
er als Sünde erachtet und niederzukämpfen geſtrebt
haben. Aber heute war es ihm unmöglich, ihr Bild
aus ſeiner Seele zu verſcheuchen, das ihn von der
andächtigen Theilnahme an dem Gottesdienſte abzog.
Er liebte ſie, wie ſie ihr Leiden liebte, er verſtand ſie
bis in ihr tiefſtes Herz, ſeine Augen hingen an ihr,
und während der Küſter von der Orgel die feierlichen
Klänge des Schlußliedes herniederſchallen machte,
während das troſtreiche Lied: „Auferſteh'n, ja auf⸗
erſtehen wirſt du mein Leib nach kurzer Ruh'! Un⸗
ſterblich Leben wird der dich ſchuf dir geben!“ mit
ſeinem Hallelujah, von gläubigen Herzen geſungen,
durch die kleine Kirche ſchallte, ſtimmten nur die
Lippen des jungen Geiſtlichen in den verheißungs⸗
vollen Hymnus ein, denn Hulda's: „Mieux aime
mon martyre!“ hatte ſein ganzes Weſen hingenommen.
Zerſtreut und mit ſich ſelbſt zerfallen, trat er
nach der beendeten Oſterfeier vor den Altar, um die
Taufhandlung zu vollziehen. Es waren anſehnliche
Familien um den Altar verſammelt, denn auch der
Amtsrath, der die benachbarte königliche Domäne ver⸗
waltete, ließ ſeine Zwillingsknaben taufen, die ſchon
zwei Monate alt waren, und die Eltern waren alſo
Beide mit zur Kirche gekommen. Der Amtmann und
Mamſell Ulrike ſtanden bei ihnen Gevatter, ein paar
hübſche Gutsbeſitzers⸗Töchter hielten die Knaben über
4 4 dA 5
nnn
95
die Taufe; und auch für die minder vornehmen Täuf⸗
linge mangelte es nicht an anſehnlichen Pathen, denn
der Aermſte und Geringſte will ſeinem Kinde, dem
er vielleicht ſonſt Nichts zu bieten hat, doch gerne einen
angeſehenen Pathen und einen ſchönen Namen für den
Weg durch's Leben zugute kommen laſſen. Hulda
fehlte unter den Taufzeugen natürlich auch heute nicht,
denn die Armen im Dorfe wußten, was ſie an ihr
hatten. Aber ihre Anweſenheit machte dem Adjunktus
ſeinen Zuſtand vollends unerträglich.
Weil er ſie nicht anſehen wollte und ſeine Blicke
ſich doch immer zu ihr wendeten, erſchien er unruhig.
Seine Sprache war haſtig und abgebrochen, er ver⸗
wirrte ſich in ſeiner Rede. Es war nicht allein
Mamſell Ulrike, welche die Bemerkung machte, daß
der Adjunktus heute völlig wie verwandelt ſei, und daß
man noch keine ſo ſchlechte Rede und keinen ſolchen
ſchlechten Vortrag von ihm vernommen habe; aber es
war allein Ulrike, die ſeinen Blicken gefolgt war, und
die mit der ſcharfen Beobachtungskraft der Abneigung
die Urſache ſeiner Faſſungsloſigkeit vermuthete.
Der kalte Schweiß ſtand ihm auf der Stirne.
Es überlief ihn, als er von dem Altare in die
Sakriſtei kam, während der Amtsrath mit der Frau
zu ihm hereintrat. Sie wollten, wie üblich, ſich bei
ihm bedanken und ihm ſagen, daß der Wagen gleich
vor der Pfarre vorfahren werde, um ihn abzuholen,
denn es war große Taufgeſellſchaft in dem Domänen⸗
Amtshauſe und der Adjunktus hatte die Einladung zu
derſelben angenommen, während der Pfarrer um ſeiner
0
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Geſundheit willen ſie für ſich und ſeine Tochter ab⸗
gelehnt hatte. Man trug nach der Anweſenheit der
Letzteren auch kein beſonderes Verlangen, weder die
Amtsräthin, noch ihre beiden Nichten, die Gutsbeſitzers⸗
Töchter. Um ſo erſtaunter war man jedoch, als auch
der Adjunktus ſich entſchuldigte, und auf ihn nicht zu
rechnen bat. Er ſei nicht wohl und könne alſo leider
nicht dabei ſein, erklärte er. Dagegen war Nichts zu
ſagen und auch Nichts zu machen. Man bedauerte es,
man gab ihm guten Rath, denn er ſah wirklich übel
aus. Dann ſtieg man in die Wagen und fuhr davon.
Mamſell Ulrike und die beiden Mädchen fuhren
mit der Amtsräthin. „Es kann mir leid thun,“ ſagte
dieſe, „daß der Adjunktus krank iſt, aber auf der
anderen Seite iſt es doch beruhigend. Denn ſolch
eine Rede! Es war wirklich als hätte er nur Fiſcher
und Einlieger vor ſich gehabt und nicht gebildete
Menſchen, die eine gute Predigt werth ſind und zu
ſchätzen wiſſen, und die ſich von ſolch feierlichem Tage
doch auch für das Gemüth Etwas zur Erinnerung mit⸗
zunehmen wünſchen. Ich habe mir von allen meinen
Kindern aus den Taufreden etwas aufgeſchrieben und
es oft recht mit Erbauung durchgeleſen — aber heute!
Es war nicht aus, nicht ein! Der Adjunktus ſah auch
gleich von Anfang ſehr erbärmlich aus. Wenn ihm
nur nicht das Fieber in den Gliedern ſteckt, es iſt die
Jahreszeit dazu.“
Mamſell Ulrike lächelte. Die Amtsräthin fragte,
was das bedeuten ſolle.
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„In den Gliedern wird ihm wohl Nichts ſtecken,“
warf Ulrike hin, „aber was ihm im Sinne ſteckt und
was ihn heute ſo zerſtreut hat, darüber bin ich nicht
im Zweifel. Ich habe geſehen, wo ſeine Augen hin⸗
gegangen find, und da werden feine Gedanken ver⸗
muthlich auch geweſen fein. Es iſt immer wieder
daſſelbe alte Lied!“
Die drei Anderen verſtanden ſie nicht gleich und
wurden neugierig; die Mamſell wich aus. Das machte
die Anderen dringlicher. Sie ſpielte die Zurückhaltende.
„Was iſt denn darüber viel zu ſagen,“ meinte ſie
endlich, „es iſt ja immer die nämliche Geſchichte. So⸗
wie nur ein junger Mann in ihre Nähe kommt, wirft
ſie ihre Netze aus, und es gelingt ihr jedesmal. Man
ſollte wirklich ſagen, daß es nicht mit rechten Dingen
zugeht.“ Sie hatte keinen Namen ausgeſprochen, aber
jetzt wußten die Amtsräthin und auch die Mädchen
nur zu gut, was und wen Ulrike meinte.
„Der Adjunkt iſt ſchon der Vierte!“ ſagte ſie
„Der Vierte?“ fragte die jüngſte der beiden
Schweſtern. |
Freilich,“ bekräftigte Ulrike, „mit dem Bruder
unſerer Frau Gräfin hat es angefangen, dann kam
Seine Durchlaucht an die Reihe, und dann Seiner
Durchlaucht Sekretär, ein anſtändiger und hübſcher
junger Menſch. Und ſelbſt den armen Herrn Adjunktus,
der gewiß an Nichts weniger gedacht hat, als an
Frauenzimmer ihrer Art, hat ſie nun auch ſchon in
ihr Garn gelockt. Es iſt nur zu hoffen, daß er ſich
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 7
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herauszieht wie der Herr Baron und daß ſie wieder
einmal das Nachſehen hat.“
„Es iſt ſchrecklich,“ meinte die Amtsräthin, „wirk—
lich eine Schande, und obenein für eine Pfarrers⸗
tochter und ſo braver Leute Kind!“
„Was ſie nur dabei denken muß?“ ſagte die eine
Schweſter.
„Und was ſoll denn aus ihr werden, wenn ihr
Vater einmal ſtirbt?“ warf die Andere ein.
„Hier kann ſie natürlich nicht mehr bleiben,“ be⸗
merkte die Amtsräthin, „hier iſt viel zu viel von ihr
geſprochen worden!“
„Oh, man wird noch mehr zu ſprechen haben
und noch mancherlei erleben. Mir iſt es nur um den
armen jungen Menſchen leid, den ſie um ſein An⸗
ſehen und um die Stelle bringen wird!“ verſicherte
Mamſell Ulrike, und brach plötzlich ab, da man auf
dem halben Wege eine kleine Weile anhielt, die Pferde
verſchnaufen zu laſſen.
Der Amtsrath und der Amtmann traten an den
Schlag heran, zu ſehen, wie die vier Frauenzimmer
ſich die Zeit vertrieben. Sie fanden ſie alle Viere
munter und vergnügt; und ſie hatten doch ſo eben über
eine Abweſende, die ſich nicht vertheidigen konnte, er⸗
barmungslos Gericht gehalten und eine moraliſche
Hinrichtung vollzogen.
Sie fuhren in aller Seelenruhe weiter, von Hulda
war nicht mehr die Rede. Wer hatte denn an ſolchen
ſchönen, vergnügten Feſt⸗ und Feiertagen auch Luſt und
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Zeit, ſich mit ſo unangenehmen Dingen und Ver⸗
hältniſſen noch einmal zu befaſſen?
Mochten ſie in der Pfarre zuſehen, wie ſie ſelber
mit ſich fertig wurden, und mochte dann der Ad—
junktus die Erfahrung machen, wer es redlicher mit
ihm gemeint hatte, die alte treue Freundin, der ſeine
Zukunft ſo am Herzen lag, oder Hulda, die nur daran
dachte, ſich einen Mann zu ſchaffen und ſich zu ver⸗
ſorgen.
Neunkes Capitel.
—ͤ —
Redlich meinen! Wer hat ſich nicht ſchon im
Leben einmal auf ſeine redliche Meinung geſtützt, wenn
er, um ſeinen Willen durchzuſetzen, einem Anderen
Gewalt angethan hatte? Wer hat ſich nicht einmal
mit ſeiner redlichen Meinung beruhigt, wenn er durch
den unberechtigten Eingriff in fremde Verhältniſſe ein
Unheil angerichtet, das leichter heraufzubeſchwören als
wieder gut zu machen war?
Auch die Gräfin berief ſich auf ihre redliche
Meinung, als die Entfernung, in welcher der Bruder
ſich von ihr hielt, ihr zu lange währte und zu ſchmerz⸗
lich wurde; es wollte ihr jedoch nicht recht gelingen,
ihn dadurch zu verſöhnen. Emanuel beantwortete ihre
Briefe Anfangs gar nicht. Er vermißte offenbar den
Zuſammenhang mit ſeiner Schweſter nicht, der Brief⸗
wechſel mit Konradine ſchien ihn ſchadlos dafür zu
halten.
„Wenn ich nur nicht mehr von den ſogenannten
guten Abſichten, von redlicher Meinung und ehrlichem
Rathe, von reiferer Einſicht und von ruhigerer Be⸗
101
trachtung reden hören müßte; von all jenen faden-
ſcheinigen Mäntelchen, in welche die Selbſtſucht ſich
verhüllt, wenn es ihr darum zu thun iſt, fremden
Willen zu unterdrücken, um den ihren durchzuſetzen,“
ſchrieb er einmal ſeiner Freundin, die unausgeſetzt in
ihrem Stift verweilte. „Aber wir verhalten uns
ſolcher ſeeliſchen Verkleidung gegenüber wie zu den
Vermummungen auf einer Familien⸗Maskerade. Wir
wiſſen, wer hinter dieſen Masken ſteckt, wir wiſſen,
wie wir das Geſagte zu nehmen und zu deuten haben;
wir ſind indeß viel zu wohlerzogen, um in Zweifel zu
ziehen, was man uns glauben machen will, und geſell⸗
ſchaftlich zu gut geſchult, um Diejenigen zu erkennen,
die ſich in ihrer Verkleidung wohlgefallen. Darüber
geht nur leider der Abend, geht uns das Leben hin!
Wir ſtreifen an einander vorüber, ohne eigentlichen in⸗
neren Erwerb, und müſſen ſchließlich froh ſein, wenn wir
ohne peinliche Berührung bleiben, wenn wir nicht in
aller Eile erfahren haben, was nicht erfahren zu
haben, was vergeſſen zu können, wir ſehnlich wünſchen
müſſen.“
Er ſchrieb Konradinen nicht, worauf oder auf
wen ſich dieſe Betrachtung eigentlich beziehe, und
Konradine ihrerſeits übte mit feinem Verſtändniſſe
aus, was er über die Wohlerzogenheit geäußert hatte,
die in ſolchen Fällen nicht erräth, was man nicht
ausdrücklich errathen haben will. Sie nahm den
Satz ſo allgemein, wie er ihn hingeſtellt hatte, um
aber der Erörterung doch näher zu kommen, bezog ſie
ihn auf ſich, auf ihr perſönliches Geſchick und ihre
102
Handlungsweiſe, und fie wußte es am beften, wie viel
Grund ſie dazu hatte.
„Es muthet mich eigenartig an,“ gab ſie ihm
zur Antwort, „von Ihnen ſo deutlich ausgeſprochen
und wiederholt zu ſehen, was ich an mir ſelbſt erleidend
und ausübend erfahren habe. Ich ziehe mir daraus
den Schluß, daß Herrſchſucht und Gewaltthätigkeit nebſt
dem Glauben jedes Einzelnen an ſeine ganz beſondere
Weisheit zu den Angeborenheiten des Menſchen ge—
hören, gegen die er ſelbſt ſich zu wehren hat, und
gegen welche auch die Anderen ſich zu verwahren haben,
da des Menſchen Wohlgefallen an ſich ſelbſt ihn doch
meiſt behindert, ordentliche, wirklich durchgreifende Er⸗
ziehungsverſuche mit ſich vorzunehmen. Mit welchen
Maſſen von reiferer Einſicht und ruhigerer Erwägung
bin ich überhäuft worden, als man mich glauben machen
wollte, daß mir nichts allzu Ungerechtes, nichts Grau⸗
ſames widerfahren ſei. Man wollte vermuthlich mit der
Aſche der Weisheit, die man über mich zu ſchütten für
angemeſſen hielt, das Feuer erſticken, das in meiner
Seele brannte, und das doch nicht eher ſich zu be—
ruhigen begann, bis es die eigentliche Lebenskraft ver⸗
zehrt hatte, aus der es ſeine Nahrung zog. Und doch!
— Kaum hatte ich die Erfahrung gemacht, mit welcher
leichtfertigen Selbſtgewißheit man es unternommen,
über meine Empfindungen und über die meiner Natur
nothwendigen Glücksbedingungen munter abzuurtheilen,
ſo that ich Ihnen gegenüber ganz genau daſſelbe. Ich
habe es Ihnen nicht verborgen, daß ich jene Verbindung,
an welche Sie damals dachten, für Sie als eine Un⸗
103
möglichkeit betrachtete. Auch heute noch glaube ich,
daß wir Alle, ich und meine Mutter und die Gräfin,
die wir damals mit ſo viel Sorge auf die Entwicklung
blickten, welche Ihre Herzens-Idylle nehmen würde,
Sie und Ihr wahres Weſen und Ihr Bedürfen richtiger
beurtheilt haben, als Sie ſelbſt. Wenn Sie alſo nicht
auch mich mit den Anderen ſammt und ſonders zu
den unheilbar Verblendeten und Unverbeſſerlichen zählen,
und mit denſelben verwerfen und verdammen wollen,
fo müſſen Sie ſich entſchließen, falls Sie mir ver⸗
zeihen, dies auch bis zu einem gewiſſen Grade gegen
die Anderen, und gegen die Menſchen im Allgemeinen
in Ausübung zu bringen. Sie müſſen es über ſich
gewinnen mit und unter der unvollkommenen großen
Menge weiter fortzuleben, wie es eben geht, und wie
ich es auch in meinen jetzigen Verhältniſſen zu thun
nöthig habe. Dabei aber mache ich zu meinem Er⸗
ſtaunen die Erfahrung, wie leicht man Herrſchaft ge⸗
winnen kann, wenn man ſich mit der Maſſe auf die
gleiche Stufe ſtellt, ſtatt ſie von der Höhe aus leiten
zu wollen, auf die man ſich erhoben hat oder erhoben
zu haben glaubt.“
Sie erwähnte dann noch flüchtig, daß die Ge⸗
ſundheit der Aebtiſſin ſich nicht beſſere, daß dieſelbe fie
in ihr beſonderes Vertrauen gezogen habe, ihr manche
Theile der Verwaltung und der Verhandlungen zu
ordnen überlaſſe, in denen fie mit den Behörden viel-
fach zu verkehren habe, und daß dieſe Art von ge⸗
ſchäftlicher Thätigkeit ſie, als ein ihr Neues, unterhalte
und auch unterrichte. „Aber auch in allem dieſem
104
Thun,“ ſo ſchloß ſie ihren Brief, „liegt wiederum die
Freude an dem Einfluſſe, an der Macht, mit einem
Worte die Freude an der Herrſchaft verbunden. Da
es mir nicht zu Theil ward, eines geliebten Mannes
und eines Fürſten Frau zu werden, ſo male ich es
mir jetzt mit wachſender Vorliebe immer beſtimmter
aus, wie es mich kleiden würde, als Aebtiſſin ein
ſolches weibliches Gemeinweſen zu beherrſchen und zu
regieren; denn aus dem Grabe der Liebe feht nur zu
oft der Ehrgeiz ſiegreich auf.“
Für Emanuel waren die Tage, an welchen er
die Briefe ſeiner Freundin erwarten durfte, eigentliche
Feſttage. a kühne Freimuth, mit welchem ſie ſich
ſelber preisgab, ihre Fähigkeit ſich unparteiiſch zu be⸗
trachten, flößten ihm Achtung ein; und was er am
meiſten an ihr bewunderte, das war die Entſchloſſen⸗
heit, mit welcher ſie ſich über ihre getäuſchte Hoffnung
zu erheben und mit ihrem Herzen fertig zu werden
trachtete. Das war mehr, als er jelber vermochte.
Konradine gefiel ihm aus der Ferne faſt noch mehr,
als wenn er ſich in ihrer Geſellſchaft befand. Denn
wenn ſie vor ihm ihre Anſichten mündlich ausſprach,
trat ſie damit häufig der Vorſtellung zu nahe, welche
er von dem Weſen ſchöner Weiblichkeit als Ideal in
ſeinem Herzen trug, während er, wenn ſie ihm ſchrieb,
ſich rein und voll an ihrer Eigenartigkeit zu erfreuen
vermochte. Er wurde es nicht müde, es ſich und ihr
zu wiederholen, daß er in ihr gefunden habe und be⸗
ſitze, was er ſtets erſehnt und was für ihn auch ſicher
das Angemeſſene ſei: einen verſtändnißvollen Freund
105
mit einem Frauenherzen; die tieffte Zufammengehörtgfeit,
ohne daß man auf dieſelbe Anſprüche an eine Aus⸗
ſchließlichkeit begründe, welche zu erfüllen beſchwerlich
fallen könnte, und endlich einen Vertrauten, deſſen
man ſich vollkommen ſicher wiſſe.
Auch waren ſeine Offenheit und ſein Vertrauen
zu ihr ganz unbegrenzt. Weil ſie bei jedem Anlaſſe
ihre Karten rückhaltlos auf den Tiſch warf, hielt er
es bei ſeiner Geradheit für unmöglich, daß ſie — mit
jener Taſchenſpielerkunſt, in welcher alle Herrſchſüchtigen
und insbeſondere ein großer Theil der Frauen Meiſter
ſind — die letzte entſcheidende Karte in der Hand für
ſich zurück behielt. Konradine hatte ihm unumwunden
ausgeſprochen, daß auch fie ſchon zum öfteren ge⸗
nöthigt geweſen ſei, ſich über ihre Handlungen mit
ihrer redlichen Abſicht und mit ihrer guten Meinung
zu beruhigen; indeß ſie hatte es doch nicht für an—
gemeſſen gehalten, ihm mitzutheilen, in welch innige
Verbindung ſie mit ſeiner Schweſter getreten war, ſeit
er ſich von derſelben ferne hielt.
Die Gräfin hatte Konradinen, als dieſe ihr für
die gaſtliche Aufnahme in ihrem Schloſſe Dank ge⸗
ſagt, lebhafte Theilnahme an ihrem Schickſale aus⸗
geſprochen und ihr dann aus freiem Antriebe aber⸗
mals geſchrieben, nachdem Konradine in das Stift
eingetreten war. Bis zu jenem Zeitpunkte hatte kein
brieflicher Verkehr zwiſchen ihnen Beiden ſtattgefunden,
der von Konradinens Seite über einen gelegentlichen
Glückwunſch, von Seiten der Gräfin über einen
freundlichen Dank hinausgegangen wäre. Das be=
106
fliffene Entgegenkommen der jo bedeutend älteren und
einflußreichen Frau hatte Konradine in ihrer damaligen
Gemüthsverfaſſung angenehm berührt, wenn ſchon ſie
es ſofort auf ſeine richtigen Beweggründe zurückzu⸗
führen verſtanden hatte. Aber ſie hatte in jenen
Tagen einer Beſchäftigung und neuer Antriebe bedurft,
und die Verbindung mit der Gräfin hatte ihr ſolche
dargeboten. Anfangs hatte die Gräfin nur nebenher
bemerkt, daß ſie ſeit einiger Zeit ohne direkte Nach⸗
richten von ihrem Bruder ſei, dann hatte ſie an⸗
gedeutet, daß eine Spannung zwiſchen ihnen obwalte,
über deren Gründe Konradine ſich nicht im Unklaren
befinden könne, da ſie eben in den Tagen, in welchen
das Zerwürfniß zwiſchen der Gräfin und ihrem Bruder
platzgegriffen, ſich in der Geſellſchaft des Letzteren be⸗
funden, und, wie die Gräfin von der Baronin zu ihrer
beſonderen Genugthuung vernommen, eine wirkliche
Freundſchaft für denſelben gewonnen habe.
So war man raſchen und leichten Schrittes von bei⸗
den Seiten vorwärts gegangen, bis Konradine, die der
Gräfin fortdauernd ihr Wohlgefallen an ihren neuen
Lebensverhältniſſen ausgeſprochen hatte, ſich endlich dazu
erboten, den Freund unmerklich und allmälig zu einer
Ausſöhnung mit der Schweſter hinzuführen. Daß
eine ſolche nur zu ermöglichen ſei, wenn man Emanuel
überzeugen könne, daß er Hulda überſchätzt habe, daß
ihre vermeintliche Liebe für ihn nur eine flüchtige,
leicht von ihr verſchmerzte Aufwallung, und ſie durch⸗
aus nicht im Stande geweſen ſei, ſeine wirkliche Be⸗
deutung zu ermeſſen, darüber waren beide Frauen
107
einig, ohne daß darüber eine Silbe zwiſchen ihnen
gewechſelt worden war. Sie handelten dabei, die
Eine wie die Andere, in der redlichſten Meinung, nach
der beſten Abſicht; nur daß Jede von Ihnen noch
Vorausſichten und Plane hegte, welche über den nächſten
Zweck, über die Ausſöhnung der Entzweiten hinaus⸗
ging, und eben in dieſen Planen wichen die beiden
neu befreundeten Frauen weit von einander ab.
Die Gräfin, welche ihren Bruder in ſeinem tiefſten
Weſen kannte, wußte es, daß er den ſpäten, zerſtörten
Jugendtraum von Liebe, nicht leicht vergeſſen werde.
Er hatte es vor Konradinen auch nicht Hehl, daß ſein
Herz noch blute, und daß es ihn ewig ſchmerzen
werde, ſich eben in dieſem Mädchen getäuſcht zu haben,
an deſſen Liebe er mit einer fataliſtiſchen Zuverſicht
geglaubt. Von ſeiner Schweſter ſprach er in den
Briefen an Konradine nur ſehr ſelten. Die Stifts⸗
dame hingegen erwähnte der Gräfin, ſo oft ſich ein
ſchicklicher Anlaß dazu darbot und ſie that es immer
mit warmer Anerkennung ihrer großen und ſeltenen
Eigenſchaften, die es dem Bruder doch beklagenswerth
machen müßten, von der bewährten und älteſten Freun⸗
din nun getrennt zu ſein. Sie machte dieſe Bemer⸗
kung niemals, ohne dabei hervorzuheben, wie uneigen⸗
nützig ſie in dem Wunſche ſei, die Geſchwiſter ausgeſöhnt
zu wiſſen, da ſie fraglos eine Einbuße dadurch erleiden
werde, und weil Emanuel dadurch genöthigt wird ſich
über den Charakter ſeiner Schweſter und über die
Beſchwerden, welche er gegen ſie hatte, auszulaſſen
gewöhnte er ſich allmälig wieder daran, ſich wenigſtens
=
108
in feinen Briefen wieder mit der Schweſter zu be—
ſchäftigen. Wenn er ſie anklagte, vertheidigte Konradine
ſie, aber ſie hob dabei Fehler an ihr hervor, welche
die Gräfin nicht beſaß, ſo daß der Bruder es als ſeine
Pflicht erachtete, dieſelbe dagegen in Schutz zu nehmen;
und war er dabei aus alter Gewohnheit und in wirk—
licher Schätzung ihrer Verdienſte, wider ſeinen Willen
ihr Lobredner geworden, ſo begrüßte die Freundin dies
mit ſolcher Herzlichkeit als ein gutes Zeichen, daß
Emanuel dadurch veranlaßt ward, nur um ſo größer
von Konradinens edler Uneigennützigkeit zu denken.
Mehr als anderthalb Jahre hatte dieſer Brief-
wechſel zu beiderſeitiger Befriedigung bereits gewährt
und er war mit der Länge der Zeit nur immer inniger
geworden. Aber das geſchriebene Wort hat, um richtig
zu wirken, oft einer Verſtärkung, ja einer gewiſſen
Uebertreibung nöthig, damit erſetzt und ausgeglichen
werde, was Ton und Blick, Stimme und Geberde dem
lebendigen Worte zugute kommen laſſen. Jeder Brief⸗
wechſel führt deshalb, wenn er lange und ohne erneute
perſönliche Berührung fortgeſetzt wird, die Gefahr einer
Ueberſpannung mit ſich, und wird daneben leicht abſtrakt,
beſonders wenn die Schreibenden, in Zurückgezogen—
heit lebend, wenig Wechſelndes und Aeußerliches zu
berichten, alſo nur von ihrem Denken und Empfinden,
von ihren Studien und Betrachtungen zu melden
haben.
Emanuel bemerkte dieſes vornehmlich, ſo weit es
ihn betraf, und ward ſich dadurch ſeiner Abgeſchieden⸗
heit als eines Nachtheiles bewußt. Freilich hatte er
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109
auch vordem immer einen großen Theil des Jahres
in der Schweiz auf ſeinem Landſitze zugebracht, aber
ſein Aufenthalt am ee war ihm durch die Anweſen⸗
heit der Schweſter und ihrer Familie belebt und ver⸗
ſchönt worden, und er hatte ſie dann wieder in ihrer
jeweiligen Heimath aufgeſucht, oder man war einmal
an drittem Orte nach Verabredung zuſammengetroffen,
wenn Emanuel ſich von ſeiner Reiſeluſt weiter hatte
in die Ferne locken laſſen. Jetzt fehlte ihm zum Reiſen
aller Antrieb.
Er hatte die Welt geſehen, ſoweit ſie ihm für
ſeine Intereſſen Anziehendes 1 er hatte die
Länder und die Orte, welche ihm lieb geworden
waren, zum großen Theile wiederholt beſucht. Die
Schweſter und die Nichte aufzuſuchen, fühlte er ſich
nicht geſtimmt; anmuthigen Erlebniſſen zu begegnen,
wie die Jugend ſie bei dem Antritte jeder Reiſe ihrer
wartend glaubt, hatte er niemals erwartet, kam ihm
jetzt noch weniger als früher in den Sinn; und weil
er ſich das Liebesglück, das ihm ein paar Stunden
lang geleuchtet, aus Mangel an Entſchloſſenheit und
an Vertrauen nicht dauernd anzueignen verſtanden
hatte, hielt er ſich vom Geſchicke verabſäumt und für
ebenſo unglücklich, als er es Hulda hatte werden machen.
Gericht und Strafe erwuchſen in ſeiner Bruſt ihm aus
der eigenen Natur, und mitten in ſeiner Liebebedürftig⸗
keit und Liebefähigkeit war er ſich nicht bewußt, wie
viel Eitelkeit und Selbſtſucht ſich verbargen in ſeinem
Zweifel an ſich ſelbſt, wie in este Zweifel an
Hulda's Liebe.
110
Schon während des Winters, als Konradinens
Mutter, bei ihrem Wanderleben zu einem längeren
Verweilen an den Genfer See gekommen war, hatte
er gegen Konradine in ſeinen Briefen zum öfteren den
Wunſch geäußert, ſie möge dieſen Anlaß benützen,
um ihm die Gunſt eines Wiederſehens zu gewähren.
Auch die Mutter hatte ſich ſeinem Vorſchlage an⸗
geſchloſſen, aber Konradine hatte zu kommen abgelehnt.
Der kurze Beſuch, den die Mutter ihr einmal im
Stifte abgeſtattet, hatte es Konradinen klar bewieſen,
daß die Baronin in ihrem Lebensgenuſſe durch die Ab⸗
weſenheit der Tochter eher gefördert als beeinträchtigt
werde, und Konradinen war inzwiſchen ihre Unab-
hängigkeit ſo ſehr zur Gewohnheit und zu einem Be—
dürfniſſe geworden, daß ſie es ſich nicht mehr auf⸗
erlegen mochte, ſich in die wechſelvollen Stimmungen
und Einfälle der Mutter einzupaſſen, oder es ſich mit
jener ſogenannten Freiheit genügen zu laſſen, welche
ihr zu gewähren die Mutter ſich immer gerne ge⸗
rühmt hatte.
Daneben hielt auch in der That ihr Ehrgeiz,
über den ſie zu ſcherzen und zu ſpotten liebte, weil ſie
ihn dadurch am leichteſten der tadelnden Beobachtung
entzog, ſie in dem Stifte feſt. Die Zeit, welche ſie
in demſelben zugebracht, und das Ende ihres dreißig—
ſten Jahres waren bei ihrer Eigenartigkeit zu einem
beſonderen Lebensabſchnitte geworden, weil ſie ſich darin
gefiel, es als einen ſolchen zu betrachten. Ihr leb⸗
hafter Geiſt hatte ſich mit derſelben Entſchiedenheit
111
und Sicherheit in die neue Laufbahn hineinbegeben,
mit welcher ſie ſich auf der verlaſſenen bewegt hatte.
Sehr frühzeitig in die Geſellſchaft eingetreten,
lebhaft umworben, hatte ſie, nach Frauenweiſe, die
glänzende und bevorzugte Stellung, zu welcher ſie ſich
berechtigt gefühlt, aus der Hand eines geliebten Man⸗
nes zu empfangen erwartet. Aber was ihr der Eine
dargeboten, hatte ihrem heißen Herzen nicht genügt,
die Verhältniſſe des Anderen hatten ihrem Ehrgeize
nicht entſprochen, bis ihr dann in des Prinzen Liebe
jenes Glück gewinkt hatte, das ſie in ihren kühnſten
Hoffnungen für ſich erſehnt. Als dieſe Hoffnung ſie
betrogen und der erſte wilde Sturm ſchmerzlicher
Leidenſchaft ſich in der Tage Lauf geſänftigt, da hatte
ſie, wie Einer, dem eine Feuersbrunſt ſein Haus zer⸗
ſtört, ruhig zu überſchauen getrachtet, was ihr aus
dem Untergange zu retten gelungen, und was damit
noch zu beginnen ſei. Liebesglück und Leid waren in
wildem Andrange raſch wie ein Flammenſtrom über
fie dahingerollt und hatten in ihrem Herzen viel zer⸗
ſtört. Nur der Zorn über des Prinzen Untreue war
unvermindert noch in ihr lebendig, wie ſehr ſie es
auch verſtand, nach außen hin die Handlungsweiſe des
Treuloſen erklärend zu rechtfertigen, um die Beleidigung,
welche ſie erfahren hatte, weniger groß erſcheinen zu
laſſen.
Indeß eben an der Stärke und Gleichmäßigkeit
dieſes Zornes konnte ſie es für und für ermeſſen,
wie ſtark ihre Liebe und was der Prinz ihr geweſen
ſei, und wie wenig ſie ihn vergeſſen habe. All ihr
112
Thun und Treiben bezog ſich nach wie vor auf ihn.
Sie wollte ſich faſſen, damit er ſie nicht untröſtlich
über ſeinen Treubruch glaube. Sie wünſchte ſich eine
bevorzugte Stellung zu erwerben, um ihm zu beweiſen,
daß es nicht der Glanz einer ſolchen geweſen ſei, um
deſſen willen ſie ihn geliebt habe; und wenn ſte, wie
ſie es jetzt im Sinne hatte, ehelos verblieb, ſo konnte
ſie keine Lebenslage für ſich finden, die ausgezeichneter
und ihrer Selbſtſtändigkeit nach bedeutender geweſen
wäre, als die der Aebtiſſin des reichſten Fräuleinſtiftes
im Lande, eine Stellung, welche einzunehmen ſelbſt
Töchter des regierenden Hauſes nicht unter ihrer Würde
erachtet hatten.
Die Aebtiſſin des Stiftes war betagt und kränkelte,
aber ſie war in jedem Betrachte eine ausgezeichnete
Frau und hatte von der erſten Stunde an, die geiſtige
Bedeutung Konradinens zu würdigen, den Umgang
mit ihr zu ſchätzen gewußt. Ihre Thätigkeit, ihre
Klugheit und Ueberredungsgabe zeigten ſich der viel⸗
erfahrenen Aebtiſſin ebenfalls als brauchbar, und ſie
hatte nach Art der Herrſchenden, auch dieſe Eigen⸗
ſchaften Konradinens für ſich nützlich zu machen und
praktiſch zu entwickeln verſtanden; ſo daß ſie in ihren
vertrauten Mittheilungen an die Behörden auf das
Fräulein von Wildenau als auf die geeigneteſte Nach⸗
folgerin für ſich hingewieſen, und die Ermächtigung
erlangt hatte, Konradinen während der Badereiſe,
welche die Aebtiſſin zu machen genöthigt war, mit ihrer
Stellvertretung zu betrauen. Das hatte den Bedürf⸗
niſſen Konradinens ganz und gar entſprochen. Es hatte
113
fie beſchäftigt, hatte fie zerſtreut und von ſich ſelber ab⸗
gezogen. Es hatte ſie den Reiz der Herrſchaft und der
Macht auch in beſchränktem Maßſtabe empfinden, und
ſie inne werden laſſen, was es mit dem alten Aus⸗
ſpruche auf ſich habe, daß es befriedigender ſei, im
engeren Kreiſe der Erſte, als der Zweite in einem
weiteren zu ſein. Ihr Ehrgeiz hatte damit ein ganz
beſtimmtes Ziel gewonnen, und ſie hielt es vor ſich
ſelber aufrecht, daß ſie nach dieſem Ziele zu ſtreben
habe, daß ſie es erreichen könne und erreichen müſſe.
Gegen alles Erwarten war jedoch die Aebtiſſin
von ihrer Reiſe ſehr gekräftigt in das Stift zurück⸗
gekehrt und hatte die Fäden der Verwaltung wieder
in die eigenen Hände genommen. Konradine fand
ſich dadurch, trotz des fortdauernden Vertrauens
ihrer älteren Freundin zu einer verhältnißmäßigen
Unthätigkeit verdammt, und die Tage des ſinken⸗
den Sommers erſchienen ihr ſehr lang und leer
und öde. Sie war nun über zwei Jahre nicht
aus dem Stifte fortgekommen, die ſämmtlichen Damen
hatten es während dieſes Zeitraumes zu verſchiedenen⸗
malen auf längere oder kürzere Zeit verlaſſen. Kon⸗
radine ging alſo mit ſich zu Rathe, ob es nicht an⸗
gemeſſen für fie ſei, es durch eine zeitweilige Entfernung
der Aebtiſſin recht fühlbar zu machen, welche Geſell—
ſchaft und welche Stütze ſie in ihrer jüngeren Freun⸗
din beſitze; während es ebenſo zweckmäßig erſchien,
wenn Konradine ſich wieder einmal mit denjenigen
ihr geneigten Perſonen in lebendigen Verkehr brachte,
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 8
114
deren Einfluß für fie im betreffenden Falle wichtig
und von Entſcheidung ſein konnte. Sie hatte es auch
keineswegs nöthig, fi) aus der Welt, in der fie ge—
glänzt hatte und gefeiert worden war, zurückzuziehen.
Ihr Stiftskreuz verlieh ihr den Titel und die Unab⸗
hängigkeit einer verheiratheten Frau, es ermächtigte ſie
zu einer Freiheit des Handelns und Bewegens, welche
ſie ohne dasſelbe in ihren Lebenskreiſen nicht beſeſſen
hatte, ſo lange ſie ſich unvermählt unter dem Schutze
ihrer Mutter befunden. Dazu durfte ſie mit ziem⸗
licher Gewißheit darauf rechnen, weder in Deutſchland,
noch am Genferſee eben jetzt mit dem Prinzen zu⸗
ſammenzutreffen, den der ſehr bedenkliche Geſundheits⸗
zuſtand ſeiner jungen Gattin auf deren italieniſcher
Beſitzung feſthielt; und während Emanuel's Bitten ſich
erneuerten, brachte endlich der Vorſatz der Gräfin,
ihren Bruder ohneweiters aufzuſuchen, um ſo die
Ausſöhnung herbeizuführen, die ſie in jedem Betrachte
wünſchte, Konradine zu dem Entſchluſſe, das Stift
für eine Weile wieder mit dem Leben in der Welt zu
vertauſchen. |
Zehntes Capitel.
— —
In noch weit größerer Unentſchloſſenheit als die
mit allen Mitteln zu freier Entſcheidung ausgeſtattete
Stiftsdame hatte der arme Adjunktus den Sommer
hingebracht. Sein Gemüth war ſeit dem Oſtermor⸗
gen, an welchem ihm ſo unerwartet die Erkenntniß
gekommen war, daß er Hulda liebe, nicht mehr zu
dem Frieden gelangt, in welchem er bis dahin ſich
glücklich gefühlt und eine Gnade Gottes zu erkennen
geglaubt hatte. Das war nun Alles, Alles mit einem⸗
male hin, und Alles anders.
Er hatte ſeit jenem Tage ſeine ganze Amts⸗
führung, die ihm doch ein Heiligthum und eine Herzens⸗
ſache war, nur noch wie eine mechaniſche Aufgabe zu
erfüllen vermocht. Wenn er von der Kanzel oder dem
Altar zu der Gemeinde ſprach, ſuchten ſeine Augen
Hulda, hing ſein Blick an ihr. Er hielt es ſich ver⸗
gebens vor, daß er nicht würdig ſei, mit ſo getheiltem
Sinne das Wort des Herrn zu verkünden. Er ſagte
ſich, daß er nicht an dieſer Stätte bleiben, an ihr nicht
8*
116
erfolgreich als Seelſorger wirken könne, wenn es ihm
nicht gelinge, Hulda's Neigung und ihre Hand zu ge⸗
winnen, und jo die verlorene innere Einheit und den
Frieden ſeiner Seele wieder herzuſtellen. Aber wenn
er einmal am Abende im ernſten Sinnen und Ge⸗
bet die Kraft errungen zu haben glaubte, deren er be⸗
durfte, um ſich von Hulda loszureißen, ſo machte am
Morgen ſein erſtes Zuſammentreffen mit ihr, alle f ſeine
guten Vorſätze zunichte.
Wenn ſie ihm in ihrer ruhigen Freundlichkeit
wie jedem Anderen den „guten Tag“ bot, wenn er
die Genauigkeit bemerkte, mit der ſie auch auf ſeine
geringen Bedürfniſſe Bedacht nahm, und vollends
wenn er mit ihr für den hinſterbenden Vater Sorge
tragen, ihn pflegen, ihm das Schwinden des Augen⸗
lichtes minder fühlbar machen und ſich dafür Hulda's
warmer Dankbarkeit erfreuen durfte, kam ihm ſein
Fortgehen ganz unmöglich, kam es ihm undenkbar vor,
daß keine Hoffnung für ihn vorhanden ſein, daß ſeine
treue Hingebung Hulda's Freundſchaft nicht verdienen, b
ſeine reine Liebe von der ihren nicht endlich erwidert
werden ſollte.
Er ſchalt ſich ungeduldig, wenn er ſich ent⸗
muthigt und hoffnungslos fühlte, er wollte um ſie
dienen ſieben Jahre und länger. Er ſagte ſich, daß
Gottes Fügung ihn ja eben auf dieſen Platz geführt,
und daß es alſo Gottes Zulaſſung ſei, wenn er ſich
hier erproben müſſe. Er hielt es für ſeine Pflicht,
neben dem Greiſe auszuharren, dem man ihn zum
Beiſtande gegeben, und zu dem er jetzt in ein herz⸗
117
liches Verhältniß getreten war. Dann wieder, wenn
der Gedanke des Fortgehens durch einen neuen An⸗
laß wieder in ihm lebendig wurde, überlegte er, wie
er dem Pfarrer für ſein Scheiden doch unmöglich die
wahren Gründe angeben könne, wie dasſelbe dem
kranken Greiſe ſchwer fallen, wie das Zuſammenleben
mit einem neuen fremden Gehilfen demſelben pein⸗
lich werden würde. Und wenn all dieſe Rückſichts⸗
nahmen ihm doch nicht ausreichend genug erſchienen,
ſein Bewußtſein zu beſchwichtigen, wenn er ſich es
eingeſtehen mußte, wie er ſich nicht die volle Wahr—
heit ſage, ſo hielt er denn auch vor ſich ſelber ſchließ⸗
lich mit dem Bekenntniſſe nicht zurück, daß er Hulda
nicht allein zu laſſen vermöge in der ſchweren Stunde,
die immer näher an ſie heranrückte, daß er bleiben
müſſe um ihretwillen, damit doch Jemand in ihrer
Nähe ſei, der ſie liebe, der ſie würdige, wie ſie es
verdiene, der ſie beſchützen könne gegen das neidiſche
Uebelwollen, von dem er ſie, und nicht allein durch
Mamſell Ulrikens gefliſſentliche Andeutungen, umgeben
und verunglimpft wußte.
In ſolchen Augenblicken fühlte er ſich glücklich,
fühlte er ſich wie verwandelt, und er war dies auch,
mehr als er's ſelber glaubte. Die Amtsführung hatte
ſein Selbſtgefühl gehoben, die Nothwendigkeit, Andere
auch in den Angelegenheiten zu berathen, in denen
ihre weltlichen Intereſſen betheiligt waren, hatte unter
des Amtmannes Anleitung ſeinen Blick zu erweitern
angefangen. Er durfte ſich nicht mehr ſo wie früher
ausſchließlich mit ſeinem Seelenheile befaſſen, er hat
—
118
ſeiner inneren Demüthigung wie feiner äußeren De⸗
muth eine Grenze zu ſetzen, weil er in der Lage war,
Anerkennung und Verehrung für ſich fordern zu
müſſen; und was ſein Amt an ihm begonnen hatte,
den Bann jener frömmelnden Kirchlichkeit zu durch⸗
brechen, in welchem er nach der in gewiſſen Regionen
herrſchenden Strömung von ſeinen Lehrern und Vor⸗
bildern gehalten worden war, das war die Liebe nahe
daran, zu vollenden, die ſein Mannesgefühl erweckte
und es in die Schranken rief.
So war man bis in die Zeit der Roggen⸗Ernte
hingekommen, als eine geſchäftliche Anfrage den Ad⸗
junktus in das Amt zu gehen nöthigte. Es war ſchon
gegen den Abend hin, doch ſtand die Sonne noch hoch
am Himmel, denn die Sommertage ſind lang in jenen
Gegenden, und es war noch immer drückend heiß.
Nur der feuchte Hauch, der vom Meere kam, erfriſchte
die Luft, und das ſanfte, gleichmäßige Anſchlagen der
breiten Wellen wirkte angenehm auf die Einbil⸗
dungskraft.
Dem Adjunktus, der immer in den engen Straßen
der alten Stadt gelebt und das Meer nicht gekannt
hatte, bis er in dieſes Pfarrhaus gekommen, war der
Eindruck immer noch ein überwältigender. Er blieb
deshalb auch, als er das Haus verlaſſen wollte, unter
der Thüre ſtehen, auf das in goldigem Feuer fluthende
Meer hinausſchauend, bis er, von dem funkelnden und
flimmernden Glanze geblendet, die Augen mit der
Hand bedecken mußte. Wie er dann emporblickte, ſah
er Hulda auf der Bank unter dem Hollunderbuſche
ee
Wine
119
ſitzen, von welcher ſie durch das niedrige Fenſter das
Zimmer ihres Vaters überblicken konnte. Der Pfarrer
ruhte ſchlummernd in dem alten Lehnſtuhle, es regte
ſich kein Blatt. Nur die Käfer hörte man ſummen
und die Bienen, die von des Küſters Stöcken in das
Pfarrgärtchen herüberflogen.
Um nicht mit einer lauten Anfrage die Ruhe des
Schlafenden zu ſtören, ging der Adjunkt zu Hulda in
den Garten. Er erkundigte ſich, ob ſie im Amte Et⸗
was zu beſtellen habe. Sie verneinte das, bat ihn aber,
dem Amtmann ihre Grüße auszurichten, wobei ſie be⸗
merkte, er werde einen angenehmen Spaziergang und
beſonders einen ſchönen Rückweg haben. a
„Es iſt heute recht ein Tag, wie er im Liede be⸗
ſchrieben wird, ſagte ſie:
Sommer iſt es, ſonnig iſt es,
In der Welt wie wonnig iſt es,
Trägt die Erd' ihr Feierkleid!
Grün iſt Alles weit und breit;
Mit Gezwitſcher und mit Jubel
Schwingt ſich in die Luft die Lerche;
Fichte ſchwankt und Birke wiegt ſich,
Auf der Wieſe duften Kräuter,
Früchte prangen im Gezweig!
Nur die Zeit des Vogelſanges iſt ſchon vorüber,
und trotz der Wärme werden die Sonnen⸗Untergänge
ſchon herbſtlich. Sie ſind dann aber gerade bei uns ſo
majeſtätiſch, daß ſie nirgends herrlicher ſein können.
Sie müſſen nicht zu lange im Amte verweilen, wenn
Sie das Schauſpiel recht genießen wollen!“
120
Trotz dieſer Mahnung blieb er zögernd neben ihr
ſtehen. Er brauche nicht eben heute nach dem Schloſſe
zu gehen, ſagte er.
„Dann würden Sie ſich um den Anblick des
Sonnen⸗Unterganges bringen,“ bedeutete ſie ihm, „denn
er ſieht ſich, wenn man von dem Schloſſe hinunter⸗
kommt, weit ſchöner an, als hier von unſerm Hauſe!“
War das guter Wille für ihn oder eine Weiſung
ſich zu entfernen? Er wußte es nicht. Sie hatte ſeit
dem Oſtertage jedes längere Alleinſein mit ihm vor⸗
ſichtig gemieden, aber der ſchöne, heiße Sommertag,
der die Blumen auf den beiden Beeten und Hulda's
beide Roſenſtöcke ihren ganzen Duft ausſtrömen machte,
ſchloß auch ihm das Herz auf. Er ſehnte ſich danach mit
ihr zu ſprechen und ein freundlich Wort von ihr zu hö⸗
ren, und weil ihm nicht gleich einfiel, was er jagen -
könne, wollte er wiſſen, von wem die Verſe wären,
die ſie angeführt habe.
„Wer weiß das?“ entgegnete Hulda, „das müſſen
Sie die Sonne und die Luft und die Wellen fragen.
Das Lied iſt hier irgendwo irgendeinmal an der See
zuſammen mit ſeiner Melodie entſtanden und hat wie
der Kiefernſamen, den die Luft verſtreut, irgendwo
Wurzel geſchlagen und ſich erhalten, bis dann Andere
gekommen find und gemerkt haben, daß da ein hüb⸗
ſches Bäumchen ſtehe. Es iſt eines unſerer Volkslieder,
wie wir deren viele haben!“
„Der Herr Pfarrer hat mir, als er einmal von
der hieſigen Volkspoeſie mit mir geſprochen, angedeu⸗
tet, daß er für den Bruder der Frau Gräfin viele
Be
5 ee: =
x Ze —
. ˙ . ˙ . un a
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IB
2
121
dieſer Lieder zuſammengeſtellt und überſetzt habe, und
daß Ihre verſtorbene Frau Mutter und auch Sie die
Lieder früher viel geſungen haben!“
„Ja früher!“
„Und Sie ſingen ſie jetzt nicht mehr?“ fragte er
mit einem Tone, der den Wunſch, ſie zu hören, in
ſich ſchloß.
„Sie ſind meiſt traurig,“ gab ſie ihm zur Ant⸗
wort, „aber mein Vater liebte ſie früher ſehr, und ich
liebte ſie auch, denn wir hatten ſie von der Mutter.
Jetzt verlangt mein Vater nicht mehr nach ihnen, und
für mich iſt das recht gut.“
Er ſchwieg, denn er errieth, daß ſich Erinnerun⸗
gen an jene Lieder für ſie knüpfen mußten, die ſie viel⸗
leicht im Beiſein Dritter nicht aufzuwecken wünſchte.
Hulda ſtand auf und mahnte ihn an das Fortgehen.
Sie folgte ihm an die Pforte des Gitters, von der
man weit hinaus ſah über das Meer, und wie ſie es
in feiner Herrlichkeit vor Augen hatte, ſagte ſie, die
Luft mit Wonne einathmend: „Der Abend iſt wirklich
von einer ſeltenen Herrlichkeit.“ Dabei flog ein Aus⸗
druck des Entzückens und der Freude über ihr eben noch
ſo ſchwermüthiges Antlitz, daß der junge Mann ſie noch
niemals ſo ſchön geſehen zu haben glaubte, und weil
es ihn danach verlangte, ſie noch länger in dieſer hei—
teren Schönheit vor ſich zu ſehen, bat er: „Gehen Sie
eine Strecke mit mir, oder“, fügte er, ſich beſinnend,
raſch hinzu, „gehen Sie ſpazieren und laſſen Sie mich
bei dem Herrn Pfarrer bleiben, denn daß Sie ſich
122
freuen, daß Sie heiter find, iſt ja viel mehr werth, als
der ſchönſte Sonnen⸗ Untergang.“
Seine Empfindung hatte ihn fortgeriſſen, Hulda
war davon gerührt. „Sie ſind ſehr gut!“ ſagte ſie,
„ſehr gut! Könnte ich Ihnen danken, wie ſie es ver⸗
dienen!“
Aber wie ſie ihn anſah, wie ſie die beglückte
Ueberraſchung wahrnahm, die aus ſeinen Augen leuch⸗
tete, bereute ſie die ſoeben geſprochenen Worte, und ſich
nach dem Hauſe wendend, ſagte ſie, daß ſie nach dem
Vater ſehen müſſe und daß es für ihn ſelber die höchſte
Zeit zum Gehen ſei. Sie brachte jedoch die Hoffnung,
die in ſeinem Herzen aufgeflammt war, damit nicht
zum Erlöſchen. Er blieb ſtehen und ſah ihr zärtlich
nach. Mit einemmale konnte er ſich nicht länger halten.
Er folgte ihr mit raſchen Schritten, und ihre Hand
ergreifend, ſagte er in einem Tone, in dem ſein gan⸗
zes Wünſchen hörbar war: „Ach gewiß, Sie werden
die Lieder ſchon noch einmal ſingen!“ und ihre Hand
ſchüchtern an ſeine Lippen drückend, eilte er von dan⸗
nen, ehe ſie ihm die Antwort geben konnte. — Was
hätte ſie ihm auch ſagen ſollen? Wie hätte ſie ihm
wehe thun ſollen in dieſem Augenblicke? Sie dachte
gut von ihm, ſie hatte ihn ſchätzen gelernt und er that
ihr leid. Aber was konnte ihm das helfen und was
half es ihr?
Er ging während deſſen rüſtig und gehobenen Sin⸗
nes ſeines Weges. Er konnte den Hut nicht auf dem
Haupte dulden, er mußte den Rock aufknöpfen, den er
anſtandshalber ſonſt ſtets geſchloſſen zu tragen pflegte.
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123
Sein Herz war ihm ſo voll, fo weit, er athmete fo
viel mächtiger und freier, er war noch nie ſo glücklich
geweſen. Die Welt, in die ſein Schöpfer ihn hinein⸗
geſetzt, war ihm nie herrlicher, und ſein und ihr Schöpfer
ihm nie größer, mächtiger, anbetungswerther erſchienen,
als in dieſer Stunde, in der er zum erſtenmale voll
zu empfinden glaubte, wie viel Glück der Herr dem
Menſchen zu genießen vergönne. Er beſann ſich mit
Freude auf Alles, was heute zwiſchen ihm und Hulda
ſich ereignet hatte. Er erinnerte ſich jedes Wortes, das
ſie und er geſagt; er war entzückt von dem, was er
in ſeinen Gedanken ihr Vertrauen und ihre Güte nannte,
und er war auch ſehr zufrieden mit feiner eigenen ra⸗
ſchen Kühnheit, die er ſich nicht zugetraut hatte. Er
war im Schloßhofe und im Amte, ehe er es gedacht.
Eilftes Capitel.
Die Ernte war im vollem Gange, die ſchwerbe—
ladenen Wagen ſchwankten langſam zu dem einen Thore
des weiten Hofes hinein, während man noch dabei war,
andere die abgeſchirrt vor den Scheunen ſtanden, ab⸗
zuladen, und leere Wagen raſch durch das entgegenge- a
ſetzte Hofthor ſchon wieder nach dem Felde fuhren.
Denn der ganze Roggen ſollte heute noch herein. Man .
wollte die lange Helligkeit benützen, damit nicht etwa
ein Gewitterregen, deſſen man in dieſer Jahreszeit und
bei ſolcher Hitze wohl gewärtig ſein mußte, die reiche
Gottesgabe ſchädige. Deshalb brach man auch die
ſonſtige feſte Tageseintheilung. Der Amtmann ließ
auf ſeine Koſten um die gewohnte Feierſtunde einen
Imbiß unter die Leute austheilen, und es ſollte da=
nach fortgearbeitet werden, bis man mit dem Einbrin⸗
gen ganz und gar zu Stande wäre.
Wie der Amtmann den jungen Geiſtlichen ſo hei⸗
teren Schrittes und baarhäuptig über den Hof und
nach der Rampe kommen ſah, auf der er ſelber unter
125
dem Schatten der Linden ſeine vorläufige Mahlzeit ein⸗
nahm, rief er ihn freundlich an.
„Wahrhaftig, Herr Adjunktus!“ ſagte er, indem
er ihm treuherzig die Hand ſchüttelte und ihn zum
Sitzen nöthigte, „wahrhaftig, Herr Adjunktus! Sie
gehen hier auf wie Weizenteig. Die Luft hier bei uns
an der See ſchlägt Ihnen an. Sie ſind gar nicht
mehr derſelbe. Sie ſehen aus, daß man Ihnen gleich
ein Pferd unter den Leib geben und einen rechtſchaffe⸗
nen Landwirth aus Ihnen machen könnte. So ſind
Sie mein Mann! Und nun ſetzen Sie ſich und laſſen
es ſich mit uns ſchmecken. Geſtern haben wir auch Be⸗
ſuch gehabt. Aber Sie ſehen“ — er wies auf die
herankommenden Wagen hin — „im nächſten Winter
verhungern wir noch nicht, wenn auch noch ein gut
Theil Gäſte kommen.“
Der Adjunkt ließ ſich nicht nöthigen, und es gab
kein Lob und keine Anerkennung in der Welt, die ihm
in ſeiner gegenwärtigen Stimmung hätten willkommener
fein können, als das Zugeſtändniß, daß er ein Mann ſei,
der ſich neben Anderen ſehen laſſen dürfe. Auch die
Mamſell, die inzwiſchen herausgekommen war, rühmte
ſein gutes Ausſehen, erwähnte ebenfalls des geſtrigen
unerwarteten Beſuches, aber da der Amtmann ſich er⸗
kundigte, was den Adjunktus zu ihm geführt habe,
begann dieſer von ſeinem Anſuchen zu berichten, und
die Mamſell konnte mit ihrer Erzählung nicht ſofort
heraus. Wie man nun bei Speiſe und Trank die
kleine Geſchäftsangelegenheit raſch abgefertigt hatte —
denn gegenüber dem reichen Gottesſegen, den man ein⸗
126
brachte, bewilligte der Amtmann ohne Zaudern die
kleinen Ausbeſſerungen an der Kirche und an dem
Pfarrhauſe, welche der Adjunkt im Auftrage des Paſtors
zu fordern gekommen war — ſo erkundigte ſich der
Amtmann denn auch nach dem Pfarrer und nach Hulda.
Der Adjunkt gab ihm Beſcheid. Er ſagte, daß
es ſich mit dem Pfarrer offenbar zu Ende neige, daß
die Tochter von einer unermüdlichen Beharrlichkeit in
ſeiner Pflege ſei. Als er aber im beſten Zuge war,
nach ſeiner innerſten Meinung und ſeines Herzens Be—
dürfniß ihr Lob weiter auszuſprechen, ſtieg ihm das
Blut in das Geſicht. Ulrike wendete das Auge nicht
von ihm, das machte ihn verwirrt, und zu ſeinem Un⸗
glück wurde der Amtmann eben abgerufen. Das kam
Ulriken eben recht.
Denn der Bruder hatte die Rampe noch nicht ver⸗
laſſen, als Ulrike ſich des Worts bemächtigte. Es freue
ſie, ſprach fie, daß es ihm hier Orts gefalle und daß
ihm ſeine Stelle nicht zu ſchlecht ſei. Sie könne ihn
auch verſichern, daß die Gemeinde ihn gern zum Nach⸗
folger des Paſtors haben möchte. Bei der Oſtertaufe
hätten die Leute, hätten die Amtsräthin und auch ſie
ſelber ſich allerdings nicht recht aus ſeiner Predigt ver⸗
nehmen können, aber die Einſegnung und die Pfingſt⸗
predigten, die wären ihnen wieder ſehr zu Herzen
gegangen und, ſie wären Alle überzeugt, wenn er ein⸗
mal völlig freie Hand haben und ſonſt auch, wie es
ihm zukäme, freigeſtellt und Herr auf der Kanzel und
im Pfarrhauſe ſein würde, ſo würde Alles noch viel
127
beſſer werden. Die Leute würden dann auch weiter
Nichts zu reden und zu ſagen haben.
Der Adjunkt entgegnete, er ſchätze ſich glücklich,
wenn es ihm gelinge, dem geiſtigen Bedürfen der Ge-
meinde zu entſprechen, und weit entfernt, mit ſeiner
gegenwärtigen Lage unzufrieden zu ſein, wünſche er
ſehnlich, Gott möge dem Pfarrer ſeine Lebenszeit noch
länger friſten, als man es zu hoffen wage.
„Ach!“ rief Ulrike, „um den Pfarrer iſt es ja auch
nicht, gegen den Herren Pfarrer hat man Nichts ein⸗
zuwenden. Ich ſagte das auch geſtern der Frau Ba⸗
ronin. Ihr Gehalt iſt nur zu gering für einen jungen
Mann wie Sie, und überhaupt iſt unſere Pfarre keine
von den guten hierzulande. Cin paar Meilen weiter
hinein ſehen die Pfarrhäuſer ganz anders aus, und
auch die Einkünfte ſind anders, und die Pfarrerstöch—
ter rechtſchaffen und gut erzogen.“
Der Amtmann, der inzwiſchen zurückgekommen
war, hatte nur die letzten Worte noch gehört. Aber
er merkte an dem Geſichte des jungen Mannes, mehr
noch an der Schweſter plötzlichem Abbrechen, daß ſie
Etwas vorgehabt habe, was fortzuſetzen ihr in ſeinem
Beiſein nicht gerathen ſchien. Er fragte alſo, wovon
die Rede geweſen ſei. Ulrike ſagte, ſie hätten davon
geſprochen, daß die Pfarre viel zu ſchlecht bezahlt ſei,
als daß ein junger Mann in jetzigen Zeiten daran den⸗
ken könnte, ſein Leben in derſelben zuzubringen.
„Wobei ich mir aber zu bemerken erlauben muß,“
fiel der Adjunkt ihr in das Wort, „daß es die Mamſell
Schweſter geweſen iſt, die das behauptet hat, nicht ich.“
128
Ulrike fuhr auf. Es lag die offenbarſte widerſetz⸗
liche Anklage in ſeinem Tone. Das hatte er früher me
gewagt. Die Sache ſtand alſo ſchlimmer, als ſie bis
dahin geglaubt, war weiter gediehen, als ſie bis dahin
gewußt hatte. Indeſſen der Bruder ließ ihr nicht die
Zeit, die Bosheit auszuſprechen, die ihr auf den Lippen
ſchwebte, denn er ſagte mit ſeiner ruhigen Wahrhaftig⸗
keit: „Das iſt mir lieb, mein werther Herr Adjunkt!
Und ſo wie die Frau Gräfin die Stelle um Ihres
Eintretens willen neuerdings dotirt hat, und auch
wenn unſer armer Paſtor das Zeitliche geſegnet haben
wird, dotirt laſſen wird —
Ja!“ rief Ulrike, ihrer ſelbſt nicht länger mächtig, 5
9 0 in die Rede fallend, „wenn die Hulda in der
Pfarre bleibt. Aber der Herr Adjunkt ſieht mir nicht
aus wie Einer, der ſich, wie das früher die Herrſchaf—
ten ſo im Brauch hatten, verſorgen laſſen wird, weil
man ein Frauenzimmer abfinden oder aus dem Wege
haben will!“
„Reitet Dich denn wieder einmal heut der Teufel!“
rief der Amtmann, indem er zornig mit der Hand auf
den Tiſch ſchlug, daß die Teller und die Gläſer
klirrten. „Das einzige Frauenzimmer, das hier im
Wege iſt—“
Der Adjunkt ließ ihn nicht in ſeinem Zorne zu
Ende ſprechen. Es war ihm heiß und kalt geworden
bei den Worten der Mamſell, aber der gehobene und
befreite Sinn, den er ſchon dieſen ganzen Nachmittag in
129
ſich gefühlt hatte, gab ihm auch jetzt die Kraft, feine
ſonſtige zaghafte Schüchternheit zu überwinden, und mit
einer Sicherheit, die in ſeiner Liebe und ſeinem Ver⸗
trauen zu der Reinheit des von ihm geliebten Mäd⸗
chens ihren Urſprung hatte, ſagte er: „Zürnen Sie der
Mamſell Schweſter nicht, Herr Amtmann! Sie hat
ganz Recht. Ich würde gewiß der Letzte ſein, unter
Bedingungen, die ſie vorausſetzt, ein Amt zu übernehmen
— auch das einträglichſte und allerhöchſte nicht; aber
wenn die Frau Gräfin mir in dem Falle, der denn ein⸗
mal doch eintreten muß, die Pfarre anvertrauen wollte,
würde ich es als ein großes Glück für mich erachten,
eine Frau zu finden, ſo gut und ſo von Herzen brav wie
Mamſell Hulda.“
Ulrike ſtand wie vom Donner gerührt, ihre Lip⸗
pen waren weiß geworden und zitterten, daß ſie nicht
ſprechen konnte. Der Adjunkt ſchlug im Schrecken über
ſeine ihm bis dahin fremde männliche Entſchloſſenheit
die Augen nieder, ſie waren ihm ganz feucht geworden.
Der Amtmann jedoch reichte ihm die kräftige Hand
hinüber und rief mit voller Stimme: „Bravo, Herr
Adjunkt! Schlagen Sie ein; es ſoll ein Wort ſein!
Denn es war ein Wort, wie es ſich für einen honet⸗
ten Menſchen gegenüber ſolchem Altenweiber⸗Gewäſche
ziemt. Kommen Sie! Ich muß fort, und ein Stück
Weges gehen wir noch zuſammen. Unterdeſſen hat die
Alte Zeit, ſich auszutoben und, wenn ſie will, auch
auszuweinen und Gott und die Menſchheit wieder ein⸗
mal zu verwünſchen.“
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 9
130
Er ſtand damit auf, nahm die langſchirmige Mütze
und den ſchweren Stock zur Hand und, ſich auf den
Arm des jungen Mannes ſtützend — was ein großes
Zeichen ſeiner Freundſchaft war — machte er ſich mit
ihm auf den Weg.
Dicht vor dem Hofthore trafen ſie den Knecht, der
zweimal in der Woche die Briefe und die Zeitungen
von der Poſt zu holen hatte. Der Amtmann blieb
ſtehen und ließ ſich die Poſttaſche vom Pferde herunter⸗
reichen, zu der er den Schlüſſel an ſeinem Bunde trug.
Er ſchloß ſie auf, ſah den Eingang nach, ſchickte die
Taſche in das Amt hinauf und behielt, nur einen der
Briefe bei ſich, deſſen Aufſchrift die Hand der jungen
Fürſtin zeigte. Den nahm er mit ſich und brach ihn
gleich im Gehen auf. Aber kaum hatte er die erſten
Zeilen geleſen, als er ſtehen blieb, um ihn mit einer
ſichtlichen Bewegung zu Ende zu leſen.
„Wie das manchmal doch im Leben kommt,“ ſagte
er, als er das Schreiben durchgeleſen hatte und in die
Taſche ſteckte, „man ſollte manchmal ſagen, die alten
Sprichworte hätten einen prophetiſchen Verſtand. Es.
iſt wirklich, als könnte ein Unglück nicht allein kom⸗
men.“ Er ſchüttelte nachdenklich den Kopf. — „Sp
geht Einer nach dem Andern hin. Sie hat uns na⸗
mentlich in jungen Jahren manchmal mit ihrem ſüß⸗
lichen Gequengel hier unſere liebe Noth gemacht, aber
eine anſtändige und rechtſchaffene Perſon iſt ſie 5
ſen. Der Frau Gräfin wird es nahe gehen —
Der Adjunktus mußte ihn unterbrechen, er 1
nicht, von wem der Amtmann ſprach.
131
„Ja ſo,“ rief dieſer, „ich dachte, ich hätte es Ih⸗
nen geſagt. Die engliſche Miß, die alte Kenney iſt
auf dem Schloſſe des Fürſten geſtorben, und die Frau
Fürſtin ſchreibt's mir ſelber mit der Anweiſung, es in
der Pfarre mitzutheilen. Sie iſt nur ein paar Tage
krank geweſen und hat ein ſanftes Ende gehabt. Das
lernt man als ein Glück betrachten, wenn man ſelber
nicht mehr weit davon iſt. Sie war ein hübſches
Frauenzimmer, als ſie jung war, und zuerſt hierherkam.“
Der Amtmann war offenbar mehr ergriffen, als
er es zu zeigen für angemeſſen fand, denn die Natur
ſtand wieder einmal als die unerbittliche Gläubigerin
vor ihm, die Keinem ſeine Zahlung an ſie ſchenkt,
wenn fie fie dem Einzelnen auch mitunter länger ſtun-⸗
det. Der Adjunkt bemerkte, dieſer Todesfall werde in
der Pfarre, namentlich bei Hulda, viel Betrübniß
erregen.
„Das glaube ich wohl,“ verſetzte kurzweg der
Amtmann, der ohnehin bei traurigen Gedanken nicht
zu verweilen liebte, „aber dagegen iſt nun einmal
Nichts zu machen, und wer weiß, wozu es für ſie
gut iſt.“
Der Adjunkt fragte, ob der Amtmann von Hulda
ſpreche und wie er das verſtehe.
„Ich meine, gut für das Mädchen ee auch für
Sie, mein Beſter!“ entgegnete der Amtmann, „denn
wie ich heute Sie und Ihre Abſichten, die mir ſehr
wohl gefallen, habe kennen lernen, dürfen und müſſen
wir einander reinen Wein einſchenken. Sie wiſſen es
9 *
132
vermuthlich, daß mich der Paſtor gebeten hat, die
Vormundſchaft über das Mädchen zu übernehmen, wenn
er die Augen ſchließen wird.“
Der Adjunkt verneinte das.
„Die Sache verſtand ſich im Grunde von ſelbſt,“
fuhr der Amtmann fort, „ſie haben ja ſonſt Niemand.
Von des Paſtors Seite ſind keine Blutsverwandte da,
und wenn von der Mutter Seite etwa Jemand leben
ſollte, ſo ſind das arme Leute auf den freiherrlichen
Gütern, von denen weiter nicht die Rede ſein kann.
Auf die Engländerin aber wird ſich Hulda wohl ver⸗
laſſen haben, denn nachdem ſich der Handel mit dem.
Baron zerſchlagen — dem ich nie vergeben werde, wie
er ſich gegen das Mädchen gehen laſſen, das zu heirathen
er ernſtlich wohl nie gedacht hat — ſeitdem hat die Miß,
Gott habe ſie ſelig, der armen Hulda allerhand Zeug
in den Kopf geſetzt, daß ſie nach England gehen ſolle,
wie die Miß ihrerzeit nach Deutſchland gegangen ſei,
daß die Miß dort für ſie ein Unterkommen ſuchen
wolle, und was derart noch mehr geweſen iſt.“ Er
ſchwieg eine Weile, dann fuhr er fort: „Das hat dem
Mädchen doch im Sinne herumgeſpukt, und meine
Schweſter, die den Mund nun einmal nicht halten
kann, hat mit ihren Erzählungen von all dem Geklat⸗
ſche, das leider über das arme Kind zumeiſt durch
meiner Schweſter ewiges Gerede hier im Schwange
iſt, das Uebrige gethan. Hulda hat es einmal unum⸗
wunden gegen mich geäußert, ſie wiſſe, daß ſie hier
nicht bleiben könne und fie wolle auch nicht hier blei⸗
ben, ſondern wenn es einmal ſein müſſe, ſehen, wie
133
und wo ſie fich anderweit in der Welt ihr Brod ver:
dienen könne.“
Der Adjunkt hatte ernſthaft zugehört, die Mit⸗
theilung dünkte ihm entmuthigend, denn Hulda hatte
nach derſelben nicht an ihn gedacht. Der Amtmann errieth,
was in dem jungen Manne vorging, und ſchlug ihn
auf die Schulter. „Munter, munter, Herr Adjunktus,
und unverzagt! Was ſolch ein Mädchenkopf auf ſei⸗
nen Schultern denkt, das iſt ſo ernſthaft nicht zu neh⸗
men, das ändert ſich, wenn man ihn nach einer andern
Seite hinlenkt, an welcher ihm etwas Beſſeres winkt.
Und jetzt ſind wir ja unſerer Zwei zum Hinlenken, und
zwei Männer!“ fügte er hinzu.
Sie waren unterdeſſen an den Platz gekommen,
an welchem ihre Wege auseinandergingen. Zur Rech⸗
ten dehnte ſich die weite Fläche des neuen Stoppel⸗
feldes aus, auf dem die Arbeit noch in vollem Gange
war, zur Linken ſtieg die ſtrahlende Sonne langſam
in das blaue fluthende Meer ie Der Amtmann
blieb ſtehen.
„Bringen Sie es denen in der Pfarre glimpflich
vor, daß die arme Kenney todt iſt!“ ſagte er. „Der
Paſtor hat ſie auch lange gekannt, und wie man ſich
auch auf die Ewigkeit getröſten mag — ſehen Sie
ſich einmal um — wenn es ſo ſchön iſt hienieden, da
iſt das Fortmüſſen doch eine ganz verdammte Sache.
Aber darum Nichts für ungut! Wenn es dazu kommt,
wird's auch abzumachen ſein wie ein ander Stück
Arbeit.“
134
Der Adjunkt, gegen deſſen Anſchauungen ſolche
Worte ſchwer verſtießen und den ſie ſehr verletzten,
war heute nicht in der Verfaſſung, ſich dagegen auf—
zulehnen. Er dachte nur daran, wie er Hulda die
Trauerbotſchaft überbringen, wie ſie und der Vater
dieſelbe aufnehmen würden, und weil er ſich heute vor
Ulriken und dem Amtmanne über ſeine Wünſche und
Abſichten ausgeſprochen und für dieſelben des Letztern
Zuſtimmung erhalten hatte, fühlte er ſich nur noch
mehr an Hulda gebunden, ihr gleichſam verlobt und
für ſie zu ſorgen verpflichtet. Seine innere Freudig⸗
keit, ſein Vertrauen zu ſich ſogen daraus neue Nahrung —
und er war noch in dem Alter, in welchem die Todes
fälle greiſer Menſchen ihn nicht eben tief berührten.
Als er ſich mit herzlichem Dankesworte von dem
Amtmanne getrennt hatte, rief dieſer ihn noch einmal
zurück. „Erzählen Sie doch in der Pfarre, daß geſtern
die Frau von Wildenau bei uns geweſen iſt und bei
uns gefrühſtückt hat!“ ſagte er. |
Der Adjunktus fragte, wer das ſei? — Das werde
er zu Hauſe ſchon erfahren, entgegnete der Amtmann,
der nun Eile hatte. „Sie ging nach Rußland,“ fügte
er indeſſen doch hinzu, „weil ſie zum Oktober neue
Pacht⸗Kontrakte abzuſchließen hat; und ſie beſtätigte,
was ich ſchon auf dem Markte in der Stadt gehört
hatte, daß es mit dem älteſten Bruder der Frau Gräfin,
mit dem Majoratsherrn, wirklich ſchlecht ſteht. Das
war denn Waſſer auf Ulrikens Mühle.“
Der Adjunktus wollte wiſſen, inwiefern?
135
„Hat ſie Ihnen denn nie von dem ſogenannten
Falkenhorſter Pergamente und von dem alten Aber⸗
glauben geredet, der ſich daran knüpft?
Der Adjunkt verneinte es. „Nun, da hat ſie ſich
vor Ihnen eben in Acht genommen,“ meinte der Amt⸗
mann, „denn es iſt ſonſt eines von ihren Stecken⸗
pferden, die Geſchichte zu erzählen, daß die Falkenhorſt's
von den Unterirdiſchen, von den kleinen Leuten verflucht
ſind und ausſterben müſſen, wonach denn die Güter
an unſere gräfliche Familie fallen würden.“
Die ganz harmloſe Bemerkung machte auf den
jungen Geiſtlichen einen traurigen Eindruck. „Daß
ich mit ſolchen Elementen hier zu kämpfen hätte,“ rief
er, „daran habe ich nie gedacht.“ ae
„Sa,“ verſetzte der Amtmann, „das ſteckt hier jo
dazwiſchen doch noch in den Köpfen, und ich rathe
Ihnen, rühren Sie nicht an dem Aberglauben, da
kommt die Narrheit am eheſten in's Vergeſſen. Aber
mit dem Ausſterben der Freiherren von Falkenhorſt
kann es Ernſt werden, wenn ſich der Baron nicht doch
noch zu heirathen entſchließt. Es wird aber wohl nicht um⸗
ſonſt ſein, daß unſere Gräfin, wie geſtern die Frau
Baronin uns erzählte, in den nächſten Wochen mit
dem Fräulein Konradine zu Baron Emanuel in die
Schweiz geht. Die Beiden hatten ſich hier im Schloſſe
ſchon gern, und wer weiß, ob Sie, Herr Adjunkt, ſich
nicht bei der ſchönen Stiftsdame dafür zu bedanken
haben, wenn die Hulda, wie ich es wünſche, einmal
Ihre Frau wird.“
136
Er hatte den Kopf bei den Worten ſchon nach der
andern Seite hingewendet, um dem auf dem Erntefelde
befindlichen Wirthſchafter einen Wink zu geben, und
während er mit ſeinem noch immer raſchen ſtampfen⸗
den Schritte in das Feld zurückkehrte, ging der junge
Geiſtliche wie ein verwandelter Menſch dem ſtillen
Pfarrdorfe zu. 8
Mit dem ausgeſprochenen Vorſatze, ſich zu ver—
heirathen, war der Adjunkt in einen neuen Abſchnitt
ſeines Lebens eingetreten. Er hatte wohl früher auch
daran gedacht, aber es hatte Alles noch in weiter Ferne
in ungewiſſem Lichte vor ihm gelegen, und deshalb
keinen weſentlichen Einfluß auf ſeine Entwicklung aus⸗
geübt. Das Entfernte kann das Begehren wecken, die
Richtung und das Beſtreben beſtimmen, den Ehrgeiz
ſpornen, eine wirkliche Umgeſtaltung bringt es nicht
hervor. Erſt das feſtgeſtaltete, nahegerückte Ziel, erſt
ein beſtimmtes Vorhaben, das uns beſtimmte Pflichten
und mit ihnen beſtimmte Sorgen auferlegt, zwingt den
Jüngling das traumhafte Wünſchen von ſich abzuſchüt⸗
teln, mit entſchiedenem Schritte, mit wachem Auge in
die Wirklichkeit einzutreten und den Platz in derſelben
zu beſetzen und zu behaupten, in dem er Herr ſein,
ſein Haus errichten, ſeine Familie begründen ſoll Der
Vorſatz, ſich zu verheirathen, iſt für den ernſthaften
Jüngling der plötzliche Uebergang in das Mannesalter,
der eigentliche Eintritt in das bürgerliche Leben, der
Anfang jener gefeſteten Geſittung, die ihn mit der
Allgemeinheit, mit dem Staate, in eine für ihn ſelber
137
nothwendige und dem Allgemeinen förderliche Verbin⸗
dung bringt.
Es waren völlig neue Gedanken und ganz ver⸗
änderte Empfindungen, mit denen der Adjunktus durch
den Abend hinging. Er war ernſthafter, ſorgenvoller,
als er ſich jemals gefühlt hatte, und trug doch eine
Freudigkeit und eine Zuverſicht in ſich, die ihn beglück⸗
ten. Während er ſein Auge auf das Nächſte gerichtet
hatte, blickte er darüber hinweg weit in ſeine Zukunft
hinein. Er fühlte, daß er hier feſte Wurzeln in der
Erdenwelt zu ſchlagen habe, daß er fortan mehr als
zuvor nach dem Diesſeitigen zu trachten habe, und ſein
Herz ward dadurch nur feſter in dem Glauben und Ver⸗
trauen auf die Güte und Allweisheit deſſen, deſſen Reich
auf Erden zu verbreiten, die Aufgabe ſeines Lebens war.
Mit einer Freude, die einer Anbetung des Schöpfers
glich, genoß er die Herrlichkeit des Abends und des
Sonnenunterganges, welche Hulda ihm vorausgeſagt.
Er hätte fie jo gerne bei ſich gehabt, ihr ſchönes Ant—
litz gern in der Verklärung dieſes Lichtes leuchten ſehen.
Der Weg von dem Schloſſe nach der Pfarre, der ihm
ſonſt nie weit erſchienen war, kam ihm heute gar zu
lang vor. Er ſehnte ſich nach Hauſe zu kommen, und
bangte doch davor, die Nachrichten die er mitzutheilen
hatte, den Seinen — das Herz ſchwoll ihm auf,
als er ſie innerlich ſo nannte — den Seinen zu über⸗
bringen: dem Mädchen, das er liebte, ſeiner künftigen
Gattin, dem Greiſe, der nun auch ſein Vater werden
ſollte. Er war an irdiſchem Beſitz noch ganz ſo
arm als wie bisher, und kam ſich doch mit einemmale
138
reich vor, weil er die beiden theuren Menſchen als ſein
Eigenthum betrachtete, weil er beſchloſſen hatte, für ſie
ſorgend einzuſtehen.
Es lag noch heller warmer Sonnenſchein über dem
hohen Dache der niedern Kirche, als er an das Dorf kam,
als er ſich dem kleinen Hauſe näherte, das er heute
ſeine liebe Heimat nannte. Er ging haſtiger darauf
zu, er fragte ſich, wie er es dort finden werde, und
das Herz klopfte ihm freudig, als er das geliebte Mäd—
chen noch in dem Garten ſitzen ſah.
Weil der Abend ſo ungewöhnlich ſchön war, hatte
man auf des Pfarrers Wunſch den Lehnſtuhl in das
Gärtchen hinausgetragen und ſo hingeſtellt, daß der
Greis den Untergang der Sonne, ohne von dem Pur—
purglanz des Meeres geblendet zu werden, in dem
herrlichen farbenſchimmernden Gewölk genießen konnte.
Aber da der Adjunkt ihn alſo vor ſich ſah, erſchien
ihm das feine, ſchmale Geſicht des Greiſes noch blei—
cher und durchſichtiger als ſonſt, und es bewegte ihn
tief, als der Paſtor mit freundlichem Tone ſagte:
„Nun Herr Adjunktus! heute haben fie es doch erfah—
ren, wie ſchön es bei uns ſein kann? Da wir Staub⸗
geborene uns in unſerem kindlichen Glauben gar ſo
wichtig vorkommen, meine ich bisweilen, unſer Herr-
gott gönne uns dieſen wundervollen Sommer und ſolch
ein fruchtreiches Jahr, damit ich noch einmal die rechte
Freude daran haben könne.“ Er lächelte dabei ſtill
über ſich ſelber. Der Adjunkt und Hulda wollten im
beweiſen, daß er wohl noch manchen Sommer zu be⸗
grüßen habe, er aber wehrte ihnen mit der Hand, und
139
fragte, ſich von dem Gedankengange abwendend, was
der Adjunktus bei dem Amtmann ausgerichtet habe.
Der junge Mann gab die Auskunft, wie es ſich
gebührte; der Pfarrer war damit wohl zufrieden. Er
lobte den Amtmann, rühmte die Freigebigkeit, welche
die Herrſchaften immer in ſolchen Fällen bewieſen hät⸗
ten, und meinte, es werde wahrſcheinlich nur auf ſei⸗
nen Nachfolger ankommen, ob ein neues Pfarrhaus
errichtet werde oder nicht. Der Herr Graf habe ſchon
vor langen Jahren einmal daran gedacht, die Frau
Gräfin habe auch davon geſprochen, und ſo werde denn
der junge Herr Graf wohl ebenfalls dazu geneigt ſein,
der Kirche und der Pfarre dieſen Vortheil zuzuwenden.
Er für ſein Theil habe nicht danach verlangt, ihm ſei
das Haus zu lieb und als Erinnerungsſtätte auch zu
heilig geweſen. „Für Sie“, ſchloß er, „der Sie ja
wohl nach mir hier das Amt verwalten werden, wird
das ein Anderes ſein. Ihnen wird ein beſſeres Pfarr-
haus wohl erwünſcht dünken, und Hulda hat ſich ja
eine Zeichnung von dieſem lieben alten Haufe gemacht,
die ſie einmal mit ſich nehmen kann.“
Dem Adjunkten fuhr es heiß durch alle Glieder.
„Ich hoffe . . . “rief er, und brach dann plötzlich ab.
Er wagte nicht auszuſprechen, was er dachte, was er
hoffte. Weil aber der Vater und die Tochter ihn bei
ſeinem plötzlichen Verſtummen mit fragendem Blicke
betrachteten, ſagte er: „Ich hoffe nur, daß die Bot-
ſchaft, die ich noch außerdem zu melden habe, nicht
den Werth der guten Nachricht vermindert, die ich bie-
her aus dem Amte mitgebracht habe. Der Herr Amt⸗
3
— ͤùLö38⁵³̃ñͤñ U ¼—ðÜÜdT r. .⁰ʃQ?½⏑00ũ'ũͥsͥ½ ũ⅛%õi ˙ÜOòw W ½ê⁰ũ..m1 ⅛ꝛ]ů ¾ ˙m::̃ꝛ ⅛¼wn. ̃ i ͤ ˙ ⁵ ⁵«.!.am TT ͤů 7
140
mann hat von der Frau Fürſtin Durchlaucht einen Brief
erhalten, der eine Todesnachricht in ſich ſchloß. Die
Erzieherin und Freundin der Frau Gräfin iſt geſtorben,
iſt nach kurzer Krankheit ſanft entſchlafen.“
Hulda that einen leiſen Ausruf des ſchmerzlichen
Erſchreckens, der Vater blieb anſcheinend unbewegt.
„Es iſt Erntezeit,“ ſprach er, „und die Saat iſt reif;
da ſammelt der himmliſche Schnitter in die Scheune,
was aufgehen ſoll als neues Leben und fortbeſtehen un⸗
wandelbar in Ewigkeit. — Wohl ihr, ſie hat über ſtanden!
Er neigte das Haupt ein wenig, faltete die Hände
und blieb ſo ein paar Augenblicke in ſich verſunken
ſitzen. Hulda war an ihn herangetreten und hatte ih⸗
ren Arm um ſeinen Hals gelegt, als wolle ſie ihn
halten, ſo lange er ihr noch gelaſſen ward. Endlich
richtete er ſich wieder auf und that ein paar Fragen.
Der Adjunkt beantwortete ſie nach ſeinem beſten Wiſſen.
Die Frau Fürſtin hat den Todesfall gemeldet, wie ſie
ſagen, bemerkte der Greis, „war denn die Frau Gräfin
bei dem Tode unſerer alten Freundin nicht zugegen?
„Nein! Die Frau Gräfin iſt mit der Stiftsdame
von Wildenau auf dem Wege zu ihrem Bruder nach
der Schweiz,“ bedeutete der Adjunkt.
Mit der Stiftsdame von Wildenau? wiederholte
Hulda, und fuhr unwillkürlich mit der Hand nach ih—
rem Herzen, während ſie ihr Haupt ſenkte, um ihr
Erſchrecken zu verbergen. Eine brennende Eiferſucht,
ein leidenſchaftlicher Schmerz durchzuckte ihre Bruſt.
Es war kein Zweifel, Emanuel ſollte ihr entriſſen wer⸗
den, und er hatte ſich ihr doch anverlobt, er hatte noch
8 \ *
141
im Augenblick des Scheidens es ausgeſprochen, daß
der Ring, der nie von ihrer Hand gekommen war,
ihr ein Pfand des Wiederſehens ſein ſollte. Hatte
Emanuel das vergeſſen? Hatte er Konradine gerufen?
Denn ohne daß er es gefordert hatte, konnte ſie ja
nicht zu ihm gehen? — Er verlangte alſo nach der⸗
ſelben, er liebte Konradine — und was war dann
Huldas Loos? Was hatte dann der Ring an ihrem
Finger ihr noch zu bedeuten?
Der Schmerz, die Eiferſucht erſtickten ihre Stimme.
Sie hätte gerne ſprechen, gerne Etwas ſagen mö—
gen, ſie wußte nur nicht was. Sie ſah es, daß der
Vater ſie mit zärtlicher Sorge betrachtete, daß der
Adjunktus, welchem ihre tiefe Erſchütterung nicht ent⸗
gehen konnte, verlegen vor ihr ſtand, aber es fiel ihr
gar Nichts ein, gar Nichts — und ſagen mußte ſie
doch Etwas.
„Es freut mich,“ brachte ſie endlich mit leiſer und
ſtockender Stimme heraus, „es freut mich, daß die Frau
Gräfin nach ſo langer Trennung mit ihrem Bruder
zuſammenkommen und vermuthlich längere Zeit bei ihm
verweilen wird.“ Sie hatte im Sinne hinzuzufügen,
daß Emanuel ſich auch an dem Wiederſehen mit Kon⸗
radine erfreuen werde; allein die Worte wollten ihr
nicht über die Lippen. Sie ſtockte und fragte dann
raſch: „Woher haben Sie dieſe Neuigkeit?“
Der Adjunkt erzählte, daß Frau von Wildenau
auf der Durchreiſe nach Rußland bei dem Amtmanne
gefrühſtückt und ihm von der Reiſe Konradinens Mit⸗
theilung gemacht habe.
142
Hulda überlief es kalt. „Es wird kühl Vater,“
rief ſie aus, „wollen wir nicht in das Haus
gehen?“ |
Der Greis ſtützte ſich auf die Lehne feines Stuh—
les, und ſich langſam erhebend, ſprach er: „Ja mein
Kind, es will Abend werden. Und wenn die Tage
des Lebens dem Vergehen zuneigen, vermag man ſelbſt
den ſchönſten Abend, den die Natur uns ſchenkt, nicht
bis zu ſeinem Erlöſchen zu genießen. Aber bleiben
Sie noch draußen, junger Freund! Erlaben Sie ſich
an den letzten Strahlen der Sonne, wie ich in jünge⸗
ren Jahren an ſolchen Abenden dieſen Platz niemals
zu verlaſſen pflegte, bis der letzte goldene Streifen an
dem Firmamente von dem lichten Rande, der die See
für unſer Auge begrenzt, nicht mehr zu unterſchei⸗
den war.“ |
Hulda ergriff den Arm ihres Vaters und führte
ihn langſam in die dunkle Stube zu dem alten So⸗
pha, auf welchem er ſo oft an der Seite der Mutter
geſeſſen und ihr vorgeleſen hatte. Wie in den Tagen
ihrer Kindheit ſetzte ſie ſich auf den Schemel zu ihres
Vaters Füßen nieder, ſeine Hand ſtrich, wie damals
auch, ſanft und leicht über ihr weiches Haar. Sie
ſchwiegen Beide, es war dunkel geworden und ſtill in
dem Gemach.
Plötzlich ergriff Hulda des Vaters Hand, küßte
fie mit Inbrunſt, und eilte raſch hinaus. Der Greis
ſeufzte leiſe; ſeiner Tochter ſchwere heißen Thränen
waren auf ſeine Hand gefallen.
1
|
|
l
5
|
|
Zwölftes Capitel.
Konradine hatte das Stift ſehr wohlgemuth ver-
laſſen, um mit der Gräfin verabredeter Maßen auf
ihrem Wege nach der Schweiz zuſammen zu treffen.
Die Frauen hatten einander ſeit mehr als drei
Jahren nicht geſehen, und dieſe Jahre hatten an ihnen
viel gewandelt, hatten ſie durch ihre Erlebniſſe ein⸗
ander näher gerückt, als der bloße Verlauf der Zeit
es vermocht haben würde. Die ſchöne, in ſich ſelbſt
beruhende Stiftsdame von Wildenau war nicht mehr
jene in übermüthiger Heiterkeit ſtrahlende Konradine,
die ſich ſo gefällig zu den Sylveſterſcherzen hergegeben,
welche ihre Mutter in Turin in Scene zu ſetzen be⸗
liebt hatte; und von dem Leben der Gräfin war durch
die Hand des Todes der ſtolze Freudenſchimmer abge—
ſtreift. Beide hatten, Jede auf ihre Weiſe, ſchwere
Leiden durchlebt, Beide neue Stellung im Leben nehmen
müſſen, und wie bevorzugt die Gräfin an Einfluß,
Rang und Reichthum ſich neben der Stiftsdame auch
noch fühlen durfte, Eines hatte dieſe doch vor ihr
voraus, der Lebensweg vor ihr war länger. Ihrem
144
Hoffen war ein weiteres Ziel geſteckt, es konnte ihr
mehr Unerwartetes, mehr ſie ſelbſt Beglückendes begeg—
nen als der Gräfin, deren perſönliches Hoffen abge—
ſchnitten war, ſoferne ſie es nicht auf ihre Kinder
oder auf das Beſtehen und Gedeihen der Geſchlechter
richtete, denen ſie angehörte. Ihr Herz aber war
nicht dazu gemacht, ſich mit ſolchem Hoffen für An⸗
dere, mit Glück aus zweiter Hand wahrhaft befriedigen
zu können, wenn ſchon es ihr ein Bedürfniß war,
für die Ihrigen zu ſorgen und das Anſehen ihres
Hauſes zu befeſtigen. Dafür aber fand ſie in ihren
Kindern nicht die Theilnahme, welche fie erſehnte.
Der junge Graf, welcher der Geſandtſchaft in
London beigegeben war, überließ ihr vertrauensvoll
die Zügel des Regimentes. Er wußte die Verwaltung
des Vermögens in der Mutter Händen wohl geborgen
und war zufrieden, wenn er ſich dem Genuſſe feiner
Jugend überlaſſen durfte. Er war leichtherzig, ohne
eigentlich leichtſinnig zu ſein. Ihm wie ſeiner Schweſter
hatte das Glück ſeit ihrem erſten Athemzuge gelächelt;
Beſitzesfreude hatte als ſolche noch keinen Reiz für
ihn. Der Ehrgeiz war noch nicht in ihm lebendig,
das Vergnügen verlockte ihn noch ganz ausſchließlich,
und in gewiſſem Sinne war es mit der Fürſtin ebenſo.
Ihr Liebes- und Eheglück, die Freude an ihrem
Kinde füllten ihr ganzes Weſen und Verlangen aus,
und der Reichthum des fürſtlichen Hauſes, in das ſie
als Gattin des einzigen Erben eingetreten war, machte
fie für das Erſte noch gleichgiltig gegen eine Vermeh⸗
rung deſſelben, wie gegen das Beſtehen der Geſchlechter,
145
deren Namen ſie nicht mehr trug. Ihr fehlte der
ſtolze Sinn der Mutter, der eigentlich auf das Er⸗
halten des Beſtehenden gerichtete Sinn. Sie nannte
ſich, mit dem Uebermuthe, den erwachſene und ſelbſt⸗
ſtändig gewordene Kinder, oft mit einer wahrhaft kin⸗
diſchen Genugthuung ihren Eltern gegenüber an den
Tag zu legen lieben, im Gegenſatz zu ihrer Mutter
gerne liberal. Sie hatte es der Gräfin wiederholt
verſichert, daß ſie die Verbindung ihres Oheims mit
der ſchönen Pfarrerstochter gern geſehen, und dieſe ro⸗
mantiſche Heirath als eine anmuthige Bereicherung
ihrer ohnehin ſagenreichen, mütterlichen Familien⸗
geſchichte, und keineswegs als ein Unglück erachtet ha⸗
ben würde. g ö
Mit Konradinen war das anders. Sie war um
zehn Jahre älter als die junge Fürſtin, hatte unter
der ſogenannten Führung ihrer Mutter es von Früh
auf nöthig gehabt, für ſich ſelber zu denken und zu
handeln, und auf die äußern Verhältniſſe ſelber Acht
zu haben. Sie hatte daher deren Bedeutung zeitig er⸗
meſſen und würdigen gelernt. Die Gräfin wußte,
daß die Stiftsdame die Vorzüge der Geburt um der
Vorrechte willen, welche ſie verleihen, ſehr hoch an—
ſchlage, und daß ſie ſelber ſich eben deshalb auch in
Bezug auf Emanuel und Hulda mit Konradinen von
Anfang an in vollſtändiger Uebereinſtimmung befunden
habe.
Man war daher auch nicht lange bei einander,
ohne von Emanuel zu ſprechen. Die Gräfin fragte,
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 10
146
ob Konradine dem Baron Nachricht davon gegeben
habe, daß ſie in dem Bade zuſammentreffen, und ihre
Reiſe von demſelben gemeinſam fortſetzen würden.
Konradine verneinte es.
„Aber er weiß, daß Sie kommen? er erwartet
uns?“ fragte die Gräfin weiter.
„Er weiß, daß ich komme, und er erwartet mich!“
entgegnete Konradine. „Er weiß auch, daß ich einmal
an Sie geſchrieben, eine Antwort von Ihnen erhalten,
und daß Sie in derſelben ein tiefes Bedauern über
Ihre Trennung von ihm und die Sehnſucht nach
baldigſter Verſtändigung mit ihm, ausgeſprochen haben.
Ihn mehr wiſſen zu laſſen, habe ich nicht gewagt.“
„Und weshalb nicht?“ fragte die Gräfin mit
einem Anflug von Unzufriedenheit, denn Konradine hatte
dieſer Zurückhaltung in ihren Briefen nie erwähnt.
„Er hätte nicht mehr an die Unabhängigkeit meines
Urtheiles glauben können, hätte er mich unter Ihrem
Einfluſſe vermuthet!“ erwiderte Konradine mit einer
ſo verbindlichen Beſcheidenheit, daß die Gräfin nichts
dagegen einzuwenden vermochte. „Ich wollte ſogar,“
fügte die Stiftsdame hinzu, „wenn es Ihnen jo ge=
nehm iſt, dem Baron erſt wenn wir von hier aufge⸗
brochen ſein werden, die Mittheilung machen, daß wir
auf der Reiſe zufällig zuſammengetroffen wären, daß
ich Ihren Wunſch, ihn wiederzuſehen, lebhafter als
je gefunden hätte, und daß ich es um der Freundſchaft
willen, die ihn und mich verbindet, von ihm fordere,
mir das Glück zu gönnen, in dieſem Werk der Liebe
und des Friedens die Vermittlerin zu machen.
N
€ Au 8
147
Dieſem Briefe folgen wir dann auf dem Fuße, und
wenn auf dieſe Weiſe unſerem Freunde nicht die Zeit
gelaſſen wird, ſich grübelnd die Reihe der von ihm
durchlebten peinlichen und ſchmerzlichen Empfindungen
zu wiederholen, wird das Wiederſehen, wird Ihre
Gegenwart ihn klar erkennen laſſen, was er dieſe
Jahre hindurch entbehrt hat, und daß er dafür auch
in der verläßlichſten Freundſchaft den vollen Erſatz un⸗
möglich finden könne.“
Die Gräfin hatte ihr 1 zugehört und
zögerte zu antworten. Konradine hatte in der Auf⸗
faſſung der Verhältniſſe wie in der Anlage des
Planes mit voller Kenntniß des Barons gehandelt.
Sie hatte das Mißtrauen, welches Emanuel gegen die
ältere Schweſter und gegen deren Neigung, ihren
Willen durchzuſetzen, ſtets gehegt hatte, richtig in Be⸗
tracht gezogen, und es ebenſo richtig erwogen, daß man
ſeinem Hange zu trüber Grübelei nicht Spielraum
laſſen dürfe. Dieſe Klugheit Konradinens gefiel der
Gräfin wohl. Sie fand ſich in derſelben bis zu einem
gewiſſen Grade wieder, aber eben dieſes wollte ihr nicht
in gleichem Grade gefallen.
Es machte ſie ſtutzig, daß die Stiftsdame die
Leitung der Verhältniſſe auf ſolche Weiſe ſelbſt⸗
ſtändig in die Hand genommen hatte. Daß Kon⸗
radine ſie daneben jetzt ſo vorſichtig zu ſchonen
trachtete, daß ſie ſich, während ſie nach dem eigenen
Ermeſſen gehandelt hatte, jetzt den Anſchein gab, ſich
der Gräfin in jedem Betrachte unterzuordnen, das
10*
148
verrieth eine Menſchenkenntniß und Selbſtbeherrſchung,
denen eben in der Freundin ihres Bruders zu begeg—
nen der Gräfin nicht recht erwünſcht war. Sie hatte
nach ihrer früheren Vorſtellung von Konradine, wie
nach der Freimüthigkeit, mit welcher dieſelbe ſich in
ihren Briefen kundgegeben, in ihr eine leicht beſtimm⸗
bare Gefährtin zu finden erwartet; jetzt ſah ſie plötzlich
ein, daß ſie es hier mit einer ſelbſtſtändigen, ihr eben⸗
bürtigen Kraft zu thun habe, und ihr Entſchluß war
ſchnell gefaßt.
„Ich erfahre hier wieder einmal,“ ſagte ſie, „daß
das Auge des Fremden, weil ſein Herz nicht ſo lebhaft
dabei betheiligt iſt, richtiger ſieht, und daß es alſo beſſer
entſcheidet, als das der nächſten Angehörigen; und ich
danke Ihnen, daß Sie mir den Weg zu meinem Bruder
ſo behutſam vorbereitet haben. Emanuel hat ſich nun
lange genug in ſeine Einſamkeit vergraben, dem Be⸗
dauern lange genug darüber nachgehängt, daß ſich
liebliche Träume nicht feſthalten und in Wirklichkeit
verwandeln laſſen. Aber darf man, oder möchte man
ihn anders wollen, wenn man ſich, wie Sie und ich,
ſeiner ſo weichen und ſo anſchmiegenden Neigung zu
erfreuen hat?“
Konradine meinte, die Gräfin thue ſich und ihrem
Bruder Unrecht, wenn ſie die Freundſchaft, welche
der Baron ihr gönne, mit der tiefen Zuſammengehörig⸗
keit vergleiche, die ihn an die Schweſter binde.
Die Gräfin zuckte die Schultern. „Eine Schweſter,
die dem Matronenalter entgegengeht, und eine Freundin,
jung und ſchön wie Sie!“ ſagte ſie lächelnd. „Fra⸗
—
149
gen Sie ſich ſelber, liebe Konradine, wie zwiſchen dieſen
Beiden die Entſcheidung fallen wird — beſonders, da
Sie Nichts von ihm verlangen“
„Ich von ihm? — Nein, gewiß Nichts!“ rief
Konradine betheuernd und mit feſter Ueberzeugung aus.
„Ich hingegen,“ fügte die Gräfin hinzu, „muß
beſtimmte Forderungen an ihn ſtellen. Ich will und
muß ihn an ſeine Pflichten gegen die Familie mahnen,
und werde ihm den falſchen Glauben ſelbſt durch
Thatſachen nicht leicht benehmen können, daß ihn
Niemand je geliebt hat, außer jener Pfarrerstochter, und
daß wir ihn durch unſeren Einfluß auf den Vater
und das Mädchen, um ſein ſogenanntes Glück betrogen
haben. Ich werde Ihrer freundlichen Vermittelung
neben ihm, mehr als ſie glauben, nöthig haben, denn
das Gedächtniß ſeines Herzens hält Neigungen und
Abneigung in gleichem Maße feſt. Sie ſehen alſo,
wie ſehr Sie gegen mich im Vortheile ſind.“
Konradine fand es nicht für angemeſſen, dabei
zu verweilen. „Ich habe,“ ſagte ſie, „mich bisweilen
ſelbſt befragt, ob die Erinnerung an Hulda wirklich
noch ſehr lebhaft in ihm iſt? Ob er nach des Pfarrers
Tode, doch noch daran denken könnte, ſie zu ſeiner Frau
zu machen? Denn das allein hätte man im Grunde zu
befürchten.“
„Ich habe dieſelbe Frage auch erwogen,“ meinte
die Gräfin, „aber über dieſe Beſorgniß hebt mich ein
Brief hinweg, den ich geſtern von unſerer alten Haus⸗
hälterin empfangen habe. Sie wird Ihnen in ihrer
grilligen Wunderlichkeit wohl auch noch erinnerlich ſein.
150
Ich hatte unſeren Amtmann nach dem letzten Willen
meiner guten Kenney angewieſen, das kleine Vermögen,
das ſie bei uns erworben, und das der Amtmann ihr
verwaltet hat, ihrem in Schottland lebenden Neffen
und Erben zu übermachen, und Hulda ein Legat von
einigen hundert Thalern, das die Gute dem Mädchen
zuzuwenden gewünſcht, ſofort auszuzahlen. Vorige
Woche nun meldete mir der Amtmann, daß er dieſe
Aufträge vollzogen habe, und er erwähnt daneben, wie
das kleine Kapital vielleicht in nicht zu ferner Zeit für
Hulda doppelt nützlich werden könne. Er berichtet
dann noch über den Zuſtand des Pfarrers, rühmt den
Stellvertreter, welchen ich ihm halte, und fragt endlich bei
mir an, ob ich geneigt ſein würde, den jungen Mann, der
das Vertrauen der Gemeinde gewonnen habe, nach des
Pfarrers Tode in dem Amte zu beſtätigen, und die
Gehaltsaufbeſſerung, welche ich dem Pfarrer zugeſtanden,
auch ſeinem Nachfolger zu gewähren, wenn dieſer ſich
zu verheirathen wünſchen ſollte.“
Und Sie vermuthen, daß es Hulda iſt, auf welche
der Kandidat ſein Augenmerk gerichtet hat?“
„Es war mir wahrſcheinlich nach des Amtmanns
Mittheilungen. Geſtern aber ſchrieb ſeine Schweſter
an mich wegen einiger Effecten, die meine gute alte
Kenney in dem Schloſſe zurück gelaſſen hat, und die bös⸗
willige Geſchwätzigkeit der alten Mamſell, der ich ſonſt
nicht eben Glauben ſchenke, ſetzt jene angedeutete That⸗
ſache außer allen Zweifel. Im Grunde verſtand ſich
dieſe Sache ſehr von ſelbſt. Eine unglückliche Liebe
für einen Edelmann und eine ſchließliche Heirath mit
*
151
des Vaters Adjunktus, das iſt ſo der gewöhnliche
Hergang in einem Pfarrershauſe auf dem Lande —
und es iſt vielleicht ebenſoviel, vielleicht mehr Poeſie
und Glück in ſolchem engbegrenzten Daſein, als in
unſerm vielbewegten Leben.“
Sie hatte die letzte Bemerkung leicht hingeſprochen,
Konradine nahm ſie ebenſo achtlos auf. Es war eine
der herkömmlichen Betrachtungen, mit welchen die
Reichen und Bevorzugten ſich über das Schickſal ihrer
weniger vom Glück begünſtigten Mitmenſchen abzufinden
wiſſen. Konradine beſchäftigte nur die Nachricht, die
ſie eben erhalten hatte.
„Das iſt ein günſtiges Ereigniß,“ meinte fie.
„Es wird die feinfühlige Gewiſſenhaftigkeit des Barons
beruhigen.“ b
„Würde ich der Sache ſonſt erwähnen? warf die
Gräfin ein. „Vor allen Dingen wird es ihn er⸗
nüchtern, und das iſt um ſo nöthiger, als nach meiner
feſten. Ueberzeugung die Phantaſie meines Bruders
in jener Angelegenheit mehr als ſein Herz bethei⸗
ligt war.“
„Ich habe das Mädchen nur einmal und nur
flüchtig auf dem Krankenlager geſehen, aber ſeine
Schönheit war wirklich ungewöhnlich!“ ſagte Konradine.
„Es war, wie ich glaube, nicht einmal des Mäpd-
chens Schönheit, die Emanuel ſo einnahm, obſchon
ſie ihn gleich Anfangs überraſchte,“ entgegnete die
Gräfin. „Aber Hulda iſt recht eigentlich, was Göthe
mit dem Worte „eine Natur“ bezeichnet hat; und wie
eine Naturkraft hat ſie — ich habe ſie beobachtet,
152
weil ich ſie in unſeren Dienſt zu ziehen dachte —
etwas Ergreifendes, etwas Fortreißendes. Zum Dienen
war ſie alſo nicht gemacht. Es iſt in ihr nichts Ueber⸗
legtes. Alles kommt unwillkürlich, man möchte ſagen
ſtoßweiſe und gewaltſam zur Erſcheinung, und das
reizt und feſſelt. Ich hatte Mühe, es zu hindern, daß
meine Tochter ſie in ihren Haushalt aufnahm. Sie
und der Fürſt waren ebenſo wie mein Bruder von
Hulda eigenommen, und ſelbſt die auch Ihnen wohl⸗
bekannte Gabriele, die ſie im verwichenen Winter in
unſerem Hauſe in der Stadt geſehen hat, fühlte ſich
von ihr angezogen. Sie hat ſogar mit ihr einmal
geleſen, wie die Kenney ſchrieb. Zu derlei hatte Hulda
unverkennbares Geſchick. Wir hatten damals, als das
Abenteuer mit Emanuel ſich in dem Schloſſe entſpann,
merkwürdig genug, auch ein wirkliches dramatiſches
Talent in unſeren Dienſten. Es war des Fürſten
Kammerdiener, der zur Bühne gegangen iſt, weil der
Fürſt ſich genöthigt fand, ihn zu entlaſſen. Man ſagt,
er ſolle auf dem Wege ſein, ein bedeutender Charakter⸗
ſpieler zu werden. Bei uns in dem Schloſſe hat er ſeine
Rolle freilich ſchlecht genug geſpielt. Aber es iſt nicht
Jeder ein guter Diener, der dafür erzogen 1
iſt; man muß dazu geboren ſein.“
Die Unterhaltung war damit von ihrem 110
lichen Urſprung abgekommen und gerieth einen Augen⸗
blick ins Stocken, bis Konradine die Bemerkung machte,
empfindlich werde die Nachricht dem Baron zuerſt
doch ſein.
r
153
„Da er ein Mann iſt, ganz gewiß!“ entgegnete
die Gräfin. Aber man tröſtet ſich über den Verluſt
einer Geliebten, die ſich mit einem Geringeren zu
befriedigen vermag. Ein unbedeutender Nebenbuhler
iſt für die Eitelkeit nie ſchmeichelhaft, am wenigſten,
wenn er begünſtigt wird.“
„Wollen Sie wirklich das ſchmerzliche Mißtrauen,
welches Baron Emanuel leider gegen ſich ſelber hegt,
als die gewöhnliche männliche Eitelkeit bezeichnen?“
fragte Konradine im Tone ſanften Vorwurfes.
Die Gräfin ſah ſie forſchend an. Sie hatte die
Bemerkung gegen die Eitelkeit der Männer als eines
jener Stichworte hingeworfen, mit denen die Frauen
aller Stände, wenn auch auf den verſchiedenſten Wegen
und in den verſchiedenſten Formen, ein Verſtändniß
anzuknüpfen, ein engeres perſönliches Vertrauen ein⸗
zuleiten lieben. Sie hatte dabei erwartet, daß ihre
jüngere Gefährtin ſich durch dieſes Vertrauen, welches
ſich nicht ſcheute, die Schwäche des nächſten Angehö—
rigen einzugeſtehen, geſchmeichelt finden, und daß ſie
ſich, nach den Erfahrungen, welche der Prinz ſie hatte
machen laſſen, veranlaßt fühlen würde, die Anſicht der
Gräfin zu beſtätigen, und bei der Gelegenheit auch von
ſich ſelbſt zu ſprechen. Indeß nicht das Eine, nicht
das Andere traf zu, und die Gräfin mußte ſich ein⸗
geſtehen, daß ſie Konradine nach einem anderen als
dem gewöhnlichen Maßſtabe zu ſchätzen habe. Trotz⸗
dem war ſie ſich über die Beweggründe, aus welchen
Jene handelte, nicht recht klar. War es Vorſicht gegen
ſie? oder war die Freundſchaft der jungen Stiftsdame
154
für den Baron wirklich To lebhaft, daß ihr der leichte
Tadel nicht gefiel, welchen die Schweſter gefliſſentlich
gegen ihn ausgeſprochen hatte? Unmöglich war das
nicht.
Emanuel hatte den Frauen ſtets gefallen, er
hatte ſtets ihr Vertrauen und ihre warme Theilnahme
gewonnen, weil er nie Etwas für ſich zu fordern ge—
ſchienen hatte. Es war daher leicht denkbar, daß
Emanuel ſeiner ſchönen Freundin werther war, als ſie
es ſelber wußte, daß er einen Theil der Lücke aus⸗
füllte, welche die Trennung von dem Fürſten in Kon⸗
radinens Herzen offen gelaſſen hatte. Sie waren
Beide geiſtreich, hatten Beide eben erſt ein Liebesleid
erfahren, als ſie einander nahe getreten waren, und
ein Briefwechſel iſt immer verführeriſch. Schön war
Konradine! Sie dünkte der Gräfin ſogar ſchöner, als
in jenen Tagen, da ſie dieſelbe zuletzt geſehen hatte.
Ihr Ausdruck war ernſter, ihre Haltung ruhiger, ihre
ganze Erſcheinung dadurch edler und bedeutender ge—
worden. Das Geſchlecht, dem ſie entſtammte, war
eines der älteſten deutſchen Geſchlechter, ihr perſön—
liches Vermögen war bedeutend, von dem ihrer Mutter
abgeſehen. Sie war am Hofe wohlgelitten, die Mutter
war nachgerade auch über die Zeit hinaus, in welcher
man irgend eine verdrießliche Thorheit von ihr zu
befürchten hatte, und klug war Konradine, ungewöhn⸗
lich klug. Das aber war nach der Gräfin Meinung
und Erfahrung eine der unerläßlichſten Eigenſchaften
für eine Frau, die, hochgeſtellt, ſich auf einem beach⸗
teten Platze zu bewegen, zu behaupten hatte. Eine
155
Schwiegertochter von Konradinens Selbſtgefühl wünſchte
ſich die Gräfin nicht, eine ſolche Schwägerin konnte
jedoch unter Verhältniſſen dem Intereſſe der Familie
weſentlich von Nutzen ſein. In jedem Falle aber
mußte und durfte man fie für das Erſte ihrem eige-
nen Ermeſſen überlaſſen, denn daß ihr an der Gräfin
Theilnahme gelegen war, das ſah und fühlte dieſe
deutlich.
Konradine hatte den prüfenden Blick der Gräfin
ruhig auf ſich weilen laſſen, nun reichte dieſe ihr die
Hand. „Verzeihen Sie mir, Beſte!“ ſagte ſie, „daß
ich Sie auch nur einen Augenblick lang nicht ſchätzte,
wie ich mußte, daß ich Sie zu jenen Naturen zu zäh⸗
len vermochte, die das Leiden herb macht. Sie hat es
erhoben, und darin beſteht ja der wahre Adelsbrief
des Menſchen, darin vor Allem verräth ſich die Groß—
artigkeit eines Frauenherzens. Laſſen Sie ſich mit
dem Bekenntniſſe genügen, daß ich gelernt habe, Sie
hoch zu halten, und daß es mir viel werth iſt, Sie
zu kennen, wie ich es jetzt thue.“
„Sie machen mich ſtolz, Frau Gräfin, und bes
ſorgt zugleich. Ich würde untröſtlich ſein, Ihre gute
Meinung einzubüßen. Das bürgt Ihnen dafür, wie
ſehr ich danach trachten werde, ſie mir zu erhalten,“
erwiderte ihr Konradine.
Die Frauen drückten einander die Hände, ſie
waren Beide mit ſich und miteinander wohl zufrieden,
man ſprach von anderen Dingen. Erſt mehrere Stun⸗
den ſpäter fragte die Gräfin, ob Konradine dem Baron
vielleicht den Tag ihrer bevorſtehenden Ankunft ſchon
156
gemeldet habe. Sie entgegnete, fie habe dies nicht
gewagt, um der Gräfin die Entſcheidung freizulaſſen.
„Würden Sie Etwas dagegen haben, ihm heute
noch zu ſchreiben? Wären Sie bereit, dem Briefe
dann, wie Sie es vorgeſchlagen haben, bald zu folgen,
und morgen oder übermorgen mit mir in kurzen Tage⸗
reiſen von hier fortzug ehen?“
Konradine ſtellte ſich ihr völlig zur Verfügung.
„Erfreuendes erlangen kann man ja nicht ſchnell ge—
nug!“ ſagte ſie, „und es würde mich ſo glücklich
machen, Sie und den Baron einander wieder gegeben
zu ſehen. Ich ſchreibe unſerem Freunde noch in dieſer
Stunde, und will ihn dabei wiſſen laſſen, was ich
eben heute durch Sie erfahren habe.“
Dreizehntes Capitel.
Es ließ Hulda keine Ruhe, nicht Tag, nicht Nacht.
Die glühende Eiferſucht, die ſchnell und gewaltig wie
ihre Liebe in ihr aufgelodert war, als ſie Konradine
mit dem erſten flüchtigen Blicke geſehen, und die ge⸗
ſchlummert hatte, jo lange fie dieſelbe in dem Stifte
vermuthet, war bei der Nachricht, daß Konradine ihr
Stift verlaſſen habe, um mit Emanuel zuſammenzu⸗
treffen, neu entbrannt.
Wo ſie ging und ſtand, ſah ſie Konradine vor
ſich, wie ſie an jenem Wintertage ſtrahlend in friſcher
Schönheit an ihr Krankenbett herangetreten war. Da⸗
mals hatte ihr Unglück angefangen, an dem Tage war
Emanuel zum erſtenmale mit ihr unzufrieden geweſen,
an dem Tage war der Gedanke in ihr aufgeſtiegen,
daß er eine Andere, daß er Konradine einmal mehr.
lieben könnte als ſie, denn ohne dieſen Gedanken
würde ſie nicht darein gewilligt haben, auf Emanuel
zu verzichten, und ihn ſcheiden zu laſſen, wie ſie es
gethan hatte. |
158
Hundert: und aber hundertmale hatte fie im
Laufe der Jahre ſich jenen Abſchied und die Stunden
und Tage, welche ihm vorangegangen waren, und jene
ungezählten anderen, die ihm gefolgt waren, in das
Gedächtniß zurückgerufen. Sein Verhalten und das
ihre hatte ſie immer auf das Neue erwogen und ab—
gewogen, und je weiter ſie ſich von dem Zeitpunkte
entfernte, um ſo feſter war in ihr die Ueberzeugung
geworden, daß nicht Emanuel die Schuld an ihrer
Trennung trage, ſondern daß fie und fie allein die⸗
jelbe herbeigeführt habe, daß fie allein die Schul-
dige ſei. 5
gemahnt, die Seine zu bleiben, er hatte den Ring
nicht angenommen, mit dem er ſich ihr anverlobt, und
den ſie ihm hatte wieder geben wollen — er trug die
Schuld an ihrem Unglück nicht. Es war ihr ſtets ein
Troſt geweſen, ſich ſagen zu können: es haftet keine
Schuld an ihm! Und wenn ihr dann das Herz doch
allzu ſchwer geworden war bei der Vorſtellung, daß
ſie allein alſo die Schuldige ſei, daß ſie das Glück
geſtört habe, welches er ihr und ſich zu bereiten ge—
hofft hatte, daß ſie ihn nicht erlöſt habe aus der Ver⸗
einſamung, zu der er ſich verdammt geglaubt, ſo hatte
ſie ſich an der Vorſtellung aufgerichtet, daß ſie, ohne
ihre Pflicht gegen den Vater zu verletzen, nicht anders
Er hatte ſie mit fo dringendem Liebesworte daran g
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habe handeln dürfen. Mit dem Troſte der Gläubigen,
Gott habe es anders nicht gewollt, Gott habe ihr dies
Opfer auferlegt, hatte ſie ſich beſchwichtigt, ſo gut es
gehen wollte.
159
Jetzt aber, da Konradine plötzlich wieder zwiſchen
fie und den Geliebten trat, ſtürzte vor ihrer flam⸗
menden Eiferſucht der ganze Bau ihrer religiöſen Er⸗
gebung und Entſagung raſch zuſammen, und wie vom
Sturme getrieben, zogen Entſchlüſſe und Vorſätze wild
durch ihren Sinn. Bald wollte ſie ihm ſchreiben und
ihm ſagen, daß ſie nie aufgehört habe, ihn zu lieben,
auf ihn zu hoffen, an ihn zu glauben — denn der
Ring an ihrem Finger hielt noch feſt, und der Türkis
hatte ſein ſanftes Blau noch nicht geändert, wie er es,
der Sage nach, doch thun ſollte, wenn des Gebers Treue
wankt. Und er hatte ihr ja den Ring als Pfand ge—
laſſen. Aber wenn ſie nun ſchrieb? ihm, der in all
den Jahren ihr kein Lebenszeichen mehr gegeben —
und einen Gruß, ein Wort hätte er doch zu ihr ge=
langen laſſen können, wenn er ihrer noch gedachte,
wenn er ſie noch liebte — wenn ſie ihm ſchrieb und
ihr Brief erſchreckte ihn, ſtatt ihn zu erfreuen? Wie
dann? — Was konnte und ſollte ſie ihm auch ſagen?
— Sollte ſie ihm von ihrer Liebe ſprechen vielleicht
in dem Augenblicke, da er ſich mit Konradine zu ver⸗
binden dachte? — Sollte ſie ihn bitten, auf ſie zu
warten, bis — — ö
Sie fuhr ſich angſtvoll mit den Händen nach
dem Kopfe. Nein! Sie hatte ihm Nichts mehr zu
ſagen, es war zu ſpät, es war Alles vorbei, lang vor⸗
bei. Es war ihr geſchehen, wie der Dichter es geſagt,
wie Gabriele es an jenem unvergeßlichen Morgen
ausgeſprochen hatte:
169
Was du von der Minute ausgeſchlagen,
Bringt keine Ewigkeit zurück.
Es war nicht anders — ſie mußte vergeſſen.
Alles vergeſſen, ihn vergeſſen. Aber konnte ſie das?
Sie trug ja ſeinen Ring am Finger. Sie wachte
in der Nacht auf und fühlte, ob er noch an ſeiner
Stelle ſei. Sie zündete das Licht an, um zu ſehen,
ob ſein Blau noch freundlich ſchimmere. Sie war in
einer fortwährenden Unruhe, ſie war gepeinigt, wie
ſeit lange nicht. Es ging ihr wie dem deutſchen Kaiſer
mit dem Ringe der Geliebten, mit Faſtradens Ring.
Sie konnte nicht von Emanuel laſſen, ſie konnte ihn
nicht vergeſſen, ſo lange ſie den Ring an ihrem Finger
trug. — Und was ſollte aus ihr werden, wenn Sie
Emanuel nicht vergeſſen konnte, auch jetzt immer u
ihn nicht vergeſſen konnte?
Es litt ſie nicht in ihrer Kammer, es litt ſie
nicht im Hauſe, ſie ging hinaus, hinab ans Meer und
ſetzte ſich auf die Bank am Strande, welche die Fiſcher
dort für ihre Frauen aufgeſchlagen hatten. Aber das
Kommen und Gehen der Wellen ſteigerte ihre Qual
— ſie kamen nicht von dorther, wo er weilte, und
keine, keine ging zu ihm. Sie ſtiegen empor und
fielen nieder und zerſchellten, und floſſen dahin —
ungehört und ungeſehen von ihm — wie ihr Schmerz
und ihre Klage und ihr ganzes, ganzes Leben, das
gegenwärtige und das künftige. Sie hätte aufſchreien
mögen in ihrer Pein und Angſt. Sie rief endlich
nach ihm mit ſeinem Namen, aber der Wellenſchlag
verſchlang den Ruf. Nicht einmal der Widerhall gab
161
Antwot, und wie ſie ihn dennoch rief und wieder rief,
kam ein Grauen über ſie. Es war, als fühlte ſie,
wie die leiſen Schwingen des Wahnſinns ſich ihrem
Haupte nahten und näher und näher ſie umdrängten.
So konnte es nicht bleiben, ſo konnte ſie nicht
weiter leben. Es mußte Etwas geſchehen, ſie mußte
Etwas thun, ſie mußte ſich helfen, ſich erretten oder
untergehen; und den Ring von ihrem Finger ſtrei⸗
fend, wollte ſie ihn von ſich ſchleudern, weit hinaus
in das Meer. Aber wie ſie an das Waſſer trat und
die Hand erhob, ging es über ihre Kräfte. Sie ſetzte
ſich nieder und weinte bitterlich.
Als ſie ſich aufrichtete, ſtand der Adjunkt an ihrer
Seite. Das Rauſchen der Wellen hatte ſein Heran⸗
kommen auf dem weichen Sande vollends unhörbar
gemacht. Da er ſie in Thränen vor ſich ſah, wußte
er nicht, was er ihr ſagen ſollte. Er wollte es ent⸗
ſchuldigen, daß er ſie ſtöre, und brachte endlich Nichts
als die Worte heraus: „Sie haben geweint!“ —
aber das Mitleid, das aus ſeinen Mienen ſprach, er⸗
gänzte, was er dabei dachte.
Hulda hatte ſich ſo verlaſſen gefühlt, daß der An⸗
blick eines Menſchen, der Ton einer menſchlichen
Stimme ihr eine Wohlthat waren, und fortgeriſſen
von den ſie überwältigenden Gedanken, ſagte ſie, ebenſo
wie er ihr ganzes Empfinden in einen Satz zuſammen
drängend: „Ich wollte ein Ende machen!“
Er fuhr erſchrocken auf. „Wie darf ein ſolches
Wort von Ihrem Munde kommen!“ rief er, ſeinem
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 11
162
Ohre nicht trauend, mit ſittlicher und zorniger Ent-
rüſtung.
Das brachte ſie zu ſich ſelber und zu einer Faſſung;
und weil ſie fühlte, daß ſie ſolchem Zweifel nicht
Raum in ſeiner Seele laſſen durfte, und weil ihr das
Herz auch gar ſo ſchwer war und ſo voll, daß es ſie
zum Sprechen drängte, ſagte ſie: „Ich hatte nichts
Sündhaftes im Sinne. Ich wollte nur ein e
machen mit mir ſelbſt für alle Zeit.“
Sie wußte nicht, daß ſie in ihrer inneren Ber⸗
wirrung nur die Worte wiederholte, die ſie vorhin
ausgeſprochen hatte, und das machte ihm ihren Zuſtand
nur noch unheimlicher.
„Ich verſtehe Sie nicht!“ ſagte er, „und möchte
Sie doch nicht mißverſtehen, nicht zweifeln müſſen an
Ihnen.“
Die Innigkeit ſeines Tones entging Hulda ſelbſt
in ihrer gegenwärtigen Verſtörtheit nicht, aber ſie ver⸗
mochte mit der Eigenſucht des Schmerzes an Nichts zu
denken, als allein an ſich, und plötzlich von einer neuen
Vorſtellung ergriffen, ſagte ſie: „Nein! Sie ſollen
auch nicht an mir zweifeln müſſen. Ich will offen
gegen Sie ſein, wenn Sie mir verſprechen, daß Sie
mir helfen, daß Sie thun wollen, was ich von Ihnen
fordern werde.“
Er wollte ihr die Zuſage leiſten, er reichte ihr
die Hand, aber ſeine Gewiſſenhaftigkeit war ſtärker als
ſelbſt die Liebe zu ihr, und er hielt zögernd die Hand
zurück. „Was verlangen Sie?“ fragte er.
163
Sein Zögern mißfiel der Aufgeregten, und raſcher
und heftiger, als er ſie jemals hatte ſprechen hören,
ſtieß ſie die Worte hervor: „Ich muß ein Ende machen
mit mir und meiner Liebe! Ich muß den Ring von
mir thun, der mich an ihn bindet! Heute noch ſende
ich ihn zurück; denn es iſt um mich geſchehen,
wenn ich es nicht thue. Beſorgen Sie den Ring zur
Poſt, und heute noch!“
Die Lippen bebten ihr, als ſie das Wort aus⸗
ſprach, und ſelbſt ihre Stimme klang herb und rauh;
aber der Adjunkt ergriff ihre Hände, und fie feſthal⸗
tend, während er ihr voll Liebe in das Antlitz blickte,
rief er: „Ja, das will ich! Und Gott ſei Dank, daß
er Ihnen zu dem Entſchluſſe verholfen hat! Gott ſei
Dank dafür!“
Er wollte noch Etwas ſagen, aber er überwand
ſich und drängte es in ſein Herz zurück. Wie hätte
er von ſeinem Hoffen ſprechen mögen, da ſie das
ihrige begraben mußte? Aber er hing an ihr mit jedem
Tage mehr, er ſorgte ſich um ſie mehr, als er je um
ſich ſelbſt geſorgt, und der Glaube, daß Gott ihn eben
hiehergeſendet habe, um dieſer Einſamen, Verlaſſenen
nach des Vaters Tode ein Troſt und eine Stütze zu
werden, machte, daß er ſich begnadigt vorkam durch
die Sorge und die Liebe, die er in ſich wachſen fühlte.
Ohne miteinander mehr zu ſprechen, kamen ſie
nach Hauſe. Vor der Thüre blieb der Adjunktus
ſtehen. „Wann wollen Sie, daß ich gehe?“ erkun⸗
digte er ſich. |
1
164
„Kann es heut' noch ſein?“ fragte Hulda, die
ſich nicht ſicher fühlte, morgen noch zu vermögen, was
ſie ſich heute abgewonnen hatte.
Der Adjunkt zog die Uhr hervor, die er an einem
ſchlichten ſchwarzen Bändchen trug. „Haben Sie den
Brief bereits geſchrieben?“
„Ich habe meinem Vater zugeſagt, es nie zu
thun!“ gab ſie kurz zur Antwort. 8
„So will ich warten, bis der Ring verpackt iſt!“
ſagte der Adjunkt, und ſie gingen Beide in das Haus;
er, um ſich für den Weg zum Poſtamt anzuſchicken,
ſie, um den Goldreif einzuſiegeln, an dem ihr Herz
und, wie ſie fühlte, auch ihr Schickſal hing.
Sie hielt das Päckchen in der Hand, als ſie wieder
vor die Thüre hinaustrat. Sie hatte den Ring in ein
Käſtchen hineingethan, das ihr noch von der Mutter
kam. Was ſie dabei empfunden, wie ſie gezweifelt
und geſchwankt, wie ſie gezaudert hatte und dann in
die Knie geſunken war, um das Käſtchen zum letzten⸗
male noch an die Lippen zu drücken, das konnte
der Adjunkt nicht wiſſen; aber er las in ihrem bleichen
Antlitze den Kampf, den ſie gekämpft hatte, und er
wagte es doch nicht, ſie mit ermuthigendem Worte auf
die Zukunft zu verweiſen, weil er ſeine Hoffnung auf
dieſelbe baute.
„Verlieren Sie es nicht!“ ſagte Hulda mit jener
Zerſtreutheit, mit welcher man in den ſchmerzlichſten
Augenblicken oftmals gerade das Gleichgiltigſte ſagt,
und ausſpricht, was man nicht gedacht hat.
165
„Verlaſſen Sie ſich auf mich!“ entgegnete er,
ihre Hand ergreifend und zum erſtenmale küſſend;
dann ging er bewegten Herzens raſch davon.
Sie hatte ſeine Worte und ſeine Huldigung kaum
beachtet. Sie ſtand und ſah ihm nach, und mußte
ſich halten, daß ſie ihm nicht folgte, daß ſie ihn nicht
zurückrief. Der Gedanke, daß ſie jetzt freiwillig über
ihr Geſchick entſchieden, daß ſie es ſei, die das letzte
Band zerriſſen habe, welches ſie mit dem geliebten
Manne noch zuſammengehalten bis auf dieſe Stunde,
ſtürmte beängſtigend auf ſie ein. Sie wußte ſich nicht
zu ſagen, ob ſie recht, ob unrecht damit gethan, ob ſie
an ſich, an ihm damit geſündigt habe, nur daß ſie
unglücklich, und daß nun Alles für immerdar zu Ende
ſei, dieſes Bewußtſein lag über ihr und drückte ſie
darnieder.
Als ſie in das Haus zurückkam rief der Vater ſie
zu ſich. Sie half ihm von dem Lager, auf dem er
ausgeruht, nach dem alten Lehnſtuhl, und ſetzte ſich,
wie ſie es gewohnt war, auf dem kleinen Schemel zu
ſeinen Füßen nieder. Seit er ſich nicht mehr ſelbſt
beſchäftigen konnte, war ihr Geſpräch und ihr Ge⸗
plauder ihm Bedürfniß, wenn ſie ihm nicht vorlas,
und ihre Liebe hatte, wie eng ihr Lebenskreis auch war,
doch immer Eines oder das Andere gefunden, ihn zu.
unterhalten. Heute fiel ihr Nichts, nicht das Geringſte
ein; ſelbſt ihre Näharbeit zur Hand zu nehmen, war
ſie nicht im Stande. Sie ſaß an ſeiner Seite und
hielt ſeine Hand in der ihrigen. Ihr Schweigen fiel
ihm auf. ;
166
„Du biſt fo Still mein Kind,“ ſagte er.
Und wie vorhin das Kommen des Adjunktus, ſo
löſte jetzt die Stimme ihres Vaters den eiſernen Reif,
der ihr das Herz zuſammenpreßte, denn unfähig eines
anderen Gedankens als des Einen, rief ſie: „Jetzt
hab' ich auf der Welt Nichts mehr als Dich! Nichts,
Nichts mehr, Vater! Ich habe ihm den Ring, ich habe
Emanuel feinen Ring zurückgeſchickt.“
„Da ſei Gott gelobt!“ rief der Greis, und erfaßte
ihre beiden Hände und zog die Tochter an ſein Herz.
Er legte ihr von Thränen überſtrömtes Antlitz an das
ſeine, wie man es mit einem Kinde thut, das man
beſchwichtigen will. — „Komm! komm! mein Kind!
weine Dich aus und ſchäme Dich der Thränen nicht,
da unſer Herr und Meiſter ſie ſich gegönnt hat in
der Stunde der Entmuthigung; aber wie er den Kelch
des Schmerzes geleert in gläubigem Vertrauen auf
ſeines Vaters Beiſtand und auf ſeine Auferſtehung,
ſo ſoll es Jeder von uns thun, ſo thue Du es auch.
Denn auch Du wirſt neu erſtehen nach dieſem Kampf
und Sieg.“
„Ich kann nicht, Vater! ich kann es nicht!“ weh⸗
klagte ſie an ſeinem Herzen.
„Auch nicht, wenn Dir Dein Vater ſagt, daß
Du ihm damit ſein müdes Herz erleichterſt, weil Du
das Wort eingelöſt haſt, das er für Dich verpfändet
hatte?“
Sein milder Zuſpruch machte ſie verſtummen. Er
ließ ihr eine Weile Zeit. Sie kniete immer noch an
ſeiner Seite, er hielt ihre Hände in den ſeinen feſt.
Pi #7
Wr
1, Ahr 8
or 1
167
Als das heftige Schlagen ihres Herzens nachließ, als
er fühlte, daß ihre Thränen ſanfter floſſen, hub er
noch einmal zu ſprechen an. „Du haſt gut gethan,
gut und recht, mein Kind, daß Du den Ring zurück⸗
geſendet haſt, ehe der Baron genöthigt war, ihn von
Dir zu begehren, was über kurz oder lang hätte ge-
ſchehen müſſen. Denn das bevorſtehende Ende ſeines
Bruders legt ihm Pflichten auf, denen er ſich nicht
entziehen darf; und ich glaube, wie Du es wohl auch
geglaubt haſt, daß er ſeine Wahl getroffen hat. Der
Entſchluß, den Du heute unter Gottes Beiſtand gefaßt
und ausgeführt haſt, nimmt mir die letzte ſchwere
Sorge von der Seele. Es hätte mir im Grabe nicht
Ruhe gelaſſen, mein Kind als Ueberläſtige zurüd-
gewieſen zu denken.“
Er hielt inne, Hulda regte ſich nicht. „Der
Sommer iſt zu Ende, der Herbſt kommt heran,“ ſprach
er, „und ſeine fallenden Blätter werden mich bedecken;
aber meine letzten Tage ſind von Gott geſegnet. Deine
Liebe, die Ergebenheit unſeres wackeren jungen Freun⸗
des, des Amtmanns feſte Treue und die immer gleiche
Gunſt unſerer Frau Gräfin erhellen ſie mir und machen
fie mir ſchön. Und auch Du wirft nicht verlaſſen fein!
Der Amtmann hat mir zugeſagt, Dir eine Heimat
bei ſich zu gewähren; auch die Frau Gräfin iſt bereit,
ſich Deiner anzunehmen, Du darfſt ihres Schutzes
jetzt mehr noch als bisher verſichert ſein. Und wer
will und kann es vorausſehen, ob es dem Herrn nicht
gefällt, noch anders über Deine Zukunft zu verfügen,
ob es Dir nicht beſtimmt iſt, in Frieden da weiter zu
168
verweilen, wo ich und Deine Mutter unfer ſtilles Lebens⸗
glück gefunden haben. Alſo getroſt, mein Kind! Auch
wenn ich von Dir gehe! Dein himmliſcher Vater geht
nicht von Dir und ſeine Hand führt Dich und ſein
Auge leuchtet Dir, wenn ſich das meine ſchließt.“
Er hatte ſeine Hände ſegnend auf ihr Haupt ge⸗
legt, ſie weinte ſtill in ſchweigender Ergebung, ſie hatte
nur Einen Wunſch — dem Ende ihres Lebens wie
ihr Vater nahe zu ſein, und von dannen gehen zu
können, ſo wie er. — Was ſollte ſie noch auf der Welt?
Draußen neigte die Sonne ſich in das Meer, in der
niederen Stube ward's ſchon dunkel, aber Vater und
Tochter ſaßen noch beiſammen und ſchwiegen alle
Beide. Es war Nichts mehr zu ſagen, nur hinzu⸗
nehmen in Ergebung, was bevorſtand, früher oder
ſpäter. |
Wie es von dem alten Thurme ſieben Uhr ſchlug
und der Abendſegen eingeläutet ward, richtete der Vater
fih empor.
„Es wird ſpät werden,“ ſagte er, „ehe der Ad—
junkt nach Hauſe kommen kann, und er wird müde
ſein. Denke daran, ihn zu erquicken. Du biſt ihm
heute das doppelt ſchuldig, denn der Weg iſt weit und
er macht ihn Dir zu Liebe. Weiß er, was Du ihm
zur Beſorgung übergeben haſt?“
„Ja! Ich hab' es ihm geſagt,“ entgegnete ſie
leiſe und ging hinaus an ihre Arbeit.
Aber wie ſie nun da ſtand an demſelben Platze,
an welchem ſie an jedem Abende am Herde ſtehend
für den Vater und für den Adjunkt die Abendſuppe
EV N
sei 18
169
kochte, war es ihr unbegreiflich, daß ſie es that, daß
ſie es gethan hatte all' die Zeit, und daß ſie es thun
ſollte fort und fort, auch über ihres Vaters Tod
hinaus. Denn jetzt, als ſie darüber nachſann, wie der
Adjunkt vorhin von ihr geſchieden war, und was ihr
Vater ihr geſagt hatte, konnte ſie nicht mehr darüber
im Unklaren ſein, was ihr Vater hoffte, was der Ad-
junktus wünſchte. Die Röthe der Scham ſtieg ihr
in das Geſicht, als es ihr einfiel, wie dieſer ſich es aus⸗
gedeutet haben konnte, daß ſie eben ihn zum Ver⸗
trauten und zum Träger ihrer heutigen Sendung aus⸗
erſehen hatte, und doch war es nicht ihr Wille, nicht
ihre Abſicht geweſen es zu thun! Ihre Eiferſucht, ein
wilder Zug ihres Herzens, ein ihr ſelber unerklärliches
Gefühl des Müſſens, des Nichtanderskönnens, hatten
ſie zu dem Entſchluſſe getrieben, für den ihr Vater
ſie belobte, und den gefaßt zu haben, ſie jetzt völlig
muth⸗ und rathlos machte.
Es war weit über die gewohnte Zeit des Nacht⸗
eſſens hinaus. Der Vater hatte ſeine Mahlzeit ein⸗
genommen und ſich zur Ruhe begeben. Sie hatte
ihm, wie an jedem Abend, ſeit ſein Augenlicht ver⸗
ſagte, das Capitel aus der Bibel vorgeleſen, das er
ihr bezeichnete, und mit einem Worte der ſegnenden
Liebe hatte er ſie entlaſſen. Nun ſaß ſie in der klei⸗
nen Stube und wartete auf den Adjunktus, denn lange
konnte er nicht mehr von Hauſe ferne bleiben.
In dem Stübchen war es warm und ſtill. Die
Fenſterladen waren offen wie immer, wenn Einer aus
dem Hauſe am Abende noch auswärts weilte. Die
170
Uhr, die hier ſeit Menſchenaltern auf demſelben Flecke
ſtand, rückte mit ruhigem Pendelſchlage Sekunde um
Sekunde vorwärts. Auf dem uralten Meſſingleuchter
brannte ſtill das Licht, wie es ſeit Menſchenaltern hier
gebrannt hatte, und draußen fielen die Wellen mit
dumpfem Schlage wie ſeit Jahrtauſenden auf das
Ufer nieder. Es war hier Alles alt, Alles ſich gleich—
geblieben, es war ein todtes Leben, ein lebendiger
Tod; und in dieſes immer gleiche Daſein hatte auch
ſie unterzutauchen, hatte ſie Alles zu begraben, was
ſie gehofft und erſehnt. Sie mußte Alles vergeſſen,
was durch eine kurze Spanne Zeit hellleuchtend an
ihrem Horizonte vorübergezogen war. Sterben, wie
hier Alles geſtorben war, mußte hier auch ſie mit
ihrem heißen Herzen. — Und lebte ſie denn wirk⸗
lich noch? HR |
Sie hatte das Licht in die Hand genommen und
ging, ein paar Beſorgungen zu machen, aus der Stube
in die Kammer, aus der Kammer in die Küche. —
Es ſah ſie Niemand, denn die Magd war hinaus⸗
gegangen in den Stall, es hörte ſie Niemand und ſie
ſelber hörte ſich nicht. Sie kam ſich wie Einer der
kleinen Leute vor, von denen die Mamſell zu ſprechen
liebte, wie Einer der Unterirdiſchen, die in den alten
Häuſern ihr ſtilles Weſen treiben, ſpukhaft und ge⸗
ſpenſtiſch.
Es war ihr unheimlich in dem Hauſe, ſie war
ſich es ſelbſt. Ein kalter Windhauch ſtrich durch das
offene Kammerfenſter über ſie hin, ſie ſchauerte zu⸗
ſammen. — „Das iſt der Todesengel!“ rief es in ihr,
„r
171
und in dem nächſten Augenblicke ſtand ſie an des
Vaters Bett. Aber er lag ruhig da, ſein warmer
Athem berührte ſie, wie ſie ſich zu ihm niederbeugte,
und ſich zuſammennehmend, verließ ſie ihn, und ſetzte
ſich an ihre Arbeit.
Sie hatte ihr Strickzeug vorgeholt, ein Buch zur
Hand genommen. Die Hände verrichteten mechaniſch
ihren Dienſt, die Augen glitten über die Zeilen und
Seiten hinweg, ſie wendete die Blätter um, und wußte
nicht, was ſie geleſen hatte, denn ſie zählte innerlich
die Tage, die es währen würde, bis der Ring in die
Hände des Barons gelangte. Sie zermarterte ihr Herz
und ihr Gehirn mit der Frage, wo und wie er ihn
empfangen, ob er ihn behalten, was er damit machen,
was er dabei empfinden, ob er zufrieden, ob er traurig
ſein, ob und wie er ihrer dabei denken würde? Ihre
armen Gedanken wirbelten in haltloſem Treiben durch⸗
einander, bis ſie wie durch einen Zauber mit einem⸗
male Konradine vor ſich ſah, die den Ring aus ſeinen
Händen nahm und ihn an ihren Finger ſteckte.
Sie ſprang empor. Hätte fie jetzt Allmacht beſeſſen,
hätte es einen Zauber gegeben, ſicher, fernhin treffend,
wie des kleinen Geiſterkönigs Fluch — ſie mochte nicht
ausdenken, was durch ihr Gehirn ging. Sie ſtarrte
in das Licht, bis die Augen ihr übergingen und ein
weiter vielfarbiger Bogen das kleine Licht umgab. Wie
ſie die Augen trocknete und näher hinſah, hingen in
vielgewundenem Gekräuſel die Hobelſpäne an der Kerze
nieder, die nach des Volkes Glauben eine Leiche in
dem Hauſe künden; und wieder kam, wie ſie ſich auch
172
dagegen wehrte, das Bangen über fie, das Grauen
vor ihrer Einſamkeit. Sie war unfähig es länger zu er⸗
tragen, ſie nahm das Licht und ging mit haſtigem
Schritte hinaus, die Magd zu ſuchen. In dem Augen⸗
blicke trat der Adjunktus in das Haus.
„Ach! Sie ſind es! Das iſt gut!“ rief ſie ihm
entgegen; aber wie der Klang der Worte ihr Ohr be⸗
rührte, wünſchte ſie dieſelben nicht geſprochen zu haben,
denn weil das Kommen des jungen Mannes dem un⸗
heimlichen Alleinſein nun ein Ende machte, hörte ihr
Anruf ſich warm und freudig an, und ſie ſah, wie er
ihn unwillkürlich in ganz anderem Sinne erfaßte und
auf ſich bezog.
„Ihr Auftrag iſt beſorgt,“ ſagte er, indem er die
Mütze und den Ueberrock an den Nagel hing, wäh⸗
rend Hulda mit dem Lichte in der Hand ihm in dem
kleinen dunkeln Vorſaale leuchtete. Die Hausthüre
ſtand offen, es hatte während der letzten Stunde zu
regnen angefangen, der Wind trieb die warme feuchte
Luft vom Meere in das Haus. Die Kleider und das
Haar des jungen Mannes waren naß, und ſich mit
dem Tuche die Stirne trocknend, ſagte er: „Die Luft
iſt noch ſehr warm und ich bin raſch gegangen. Ich
wollte Sie und den Herrn Pfarrer nicht auf mich
warten laſſen. Nun komme ich doch zu ſpät.“
Sein guter, freundlicher Wille war ganz unver⸗
kennbar, Hulda dankte ihm und ſagte, der Vater habe
ſich ſchon zur Ruhe begeben. Der Adjunkt fragte, ob
er ſich denn ſchlecht befunden habe? — „Nicht übler
als ſonſt,“ entgegnete ſie ihm und brach dann ab.
I RER *
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173
So kamen ſie in die Stube. Der Tiſch ſtand
für zwei Perſonen gedeckt, die Magd trug die Suppe
auf. Als der Adjunkt das Tiſchgebet ſprach, das ſonſt
der Vater ſagte, als ſie ſich niederſetzten einander
gegenüber und allein, das Licht mit ſeinem ſtillen
Scheine zwiſchen ihnen und Alles um ſie her ſo ſtill,
fiel ihr Alleinſein Beiden auf. Sie konnten das rechte
Wort für einander nicht finden, denn ſie hatten die
alte Unbefangenheit nicht mehr.
Der Adjunkt blickte ein um das anderemal nach
Hulda's Hand, an der ſie den goldenen Reif getragen
hatte, den er ſo oft mit ſtillem Schmerz betrachtet,
und Hulda griff, ohne es zu wiſſen, immer und immer
wieder nach der Stelle, an welcher der Ring ihr fehlte.
Ihre Gedanken trafen auf die Art zuſammen und
gingen doch weit von einander. Denn ſein Sinn
war feſter als je zuvor an dieſen Platz gebannt, all
ſein Wünſchen war an ihn geknüpft; ſie aber dachte,
während ſie ihm die kleinen, ihr obliegenden Dienſte
der Hausfrau freundlich leiſtete, mit ſchwerem Herzen
in die Ferne, und mit noch bangerer Seele an die
Stunde, in der ſie von hier ſcheiden würde für immer⸗
dar; denn bleiben konnte ſie hier nicht. Und dem Schluſſe
einer langen Gedankenreihe plötzlich Worte gebend,
fragte ſie den Adjunktus, ob er an Ahnungen glaube.
Er wollte wiſſen, wie ſie das verſtehe, was ſie
zu der Frage bringe.
„ Mein Vater hat Abſchied von mir genommen,“
jagte ſie kurz und mit jener ſtillen Gewaltſamkeit, mit
der ſich zu bemeiſtern ihr eigenthümlich war. „Glauben
174
Sie, daß es eine Ahnung feines Endes ift, die ihn
dazu beſtimmt hat?“
„Daß beſonders geſammelten Gemüthern ein Vor⸗
empfinden ihres Heimganges vergönnt tft, hat die Er⸗
fahrung uns an Beiſpielen bethätigt!“ entgegnete ihr
der Adjunkt. „Daß Andere eine ſolche Ahnung thei⸗
len, glaube ich nicht.“
„Nicht?“ wiederholte Hulda. — „Da irren Sie!
Ich habe meiner Mutter Tod empfunden fern von ihr,
und ſie hat mich gerufen, einmal, zweimal, daß ich
aufgeſprungen bin von meinem Sitze. Aber heute? —
Mein Vater ſchläft ſo ruhig! Ich habe an ſeinem
Bette geſtanden, ſeine Athemzüge ſtill gezählt. — Ich
kann es mir nicht denken, kann es nicht glauben, daß
ich ihn ſchon jetzt verlieren ſoll, jo lange die Befürch⸗
tung auch vor mir ſteht. Und nun ich nicht mehr
ganz allein bin, nun Sie da ſind, ſchweigt meine
Angſt auch wieder, und mein Herz iſt ſtill, und ohne
unheilvolles Vorgefühl. Er wird mir noch erhalten
bleiben. Glauben Sie es nicht?“
Sie ſtand von dem Tiſche auf und trat horchend
an die Thüre. Ein paar Minuten blieben ſie ſchwei⸗
gend nebeneinander ſtehen. Es regte ſich in der Kam⸗
mer Nichts. Hulda ging vorſichtig hinein und beugte
ſich zu dem Vater nieder. Sie hörte Nichts. Es fuhr
ein Schrecken durch ihr Herz. Sie neigte ſich, legte
ihre Wange an die ſeine und ſank mit einem Schrei
zuſammen.
Der Pfarrer hatte ſtill geendet. Sanft wie ſein
Leben war ſein Tod geweſen.
Vierzehntes Capitel.
Emanuel hatte die Ankunft ſeiner ſchönen Freundin
ſchon ſeit einigen Tagen erwartet, als ihr Brief in
ſeine Hände gelangte. Ihre Mittheilung, daß ſie mit
der Gräfin zufällig zuſammengetroffen ſei, überraſchte
ihn, ohne ihm jedoch irgend ein Mißtrauen einzu⸗
flößen. Wie ſollte es auch? — Man war auf den
verſchiedenen Reiſen oft genug in gleicher unvorberei⸗
teter Weiſe zuſammengekommen, und da ein heimliches
Planen, wie die beiden Frauen es betrieben, ſeiner
offenen Seele fern lag, kam der Gedanke, daß man
ihn, wenn auch in beſter Abſicht, täuſche, gar nicht in
ihm auf. Ebenſowenig aber konnte es ihn unter den
obwaltenden Verhältniſſen befremden, daß die Gräfin
ſich gegen Konradi ne über ihr Zerwürfniß mit dem
Bruder ausgeſprochen hatte.
Der Wunſch ſeiner Schweſter, ihn wieder zu
ſehen, ihm die Hand zu reichen, war ſehr natürlich.
Sie konnten ja, wer mochte ſagen in wie naher
Zeit? einander an dem Sterbebette ihres Bruders
egenüberſtehen, und dieſer ſelber hatte Emanuel mit
176
dringender Bitte zu einer Ausſöhnung mit der Gräfin
angetrieben, als er gekommen war, den Kranken zu
beſuchen. Er hatte es Emanuel zu bedenken gegeben,
wie dieſer und die Schweſter bald die letzten direkten |
Abkömmlinge ihres edeln Geſchlechtes ſein würden, und
wie er es eben deshalb dem Andenken ſeiner Eltern
und ſeiner Vorfahren ſchuldig ſei, durch Eingehung
einer ebenbürtigen Ehe womöglich den Namen des
alten Geſchlechtes fortzupflanzen, und die Güter bei
den direkten Nachkommen Derjenigen zu erhalten, von
denen ſie durch frühe Heldenthaten unter den Fahnen
des Deutſchen Ordens erworben und gegründet worden
waren.
Es lag in dieſen Erwägungen Vieles, was Emanuel
ſich wohl ſelber vorgehalten hatte. Er war in den
Anſchauungen ſeines Standes hergekommen, er war
welterfahren und verſtändig genug, die Vortheile eines
großen Beſitzes und Vermögens nach Gebühr zu
ſchätzen. Aber Hulda's Leidenſchaft hatte ihn über⸗
raſcht und ſo gewaltig ergriffen, daß vor ihr alle ſeine
Bedenken und Erwägungen überwunden worden waren.
Getrennt von ihr, hatten dieſelben ſich jedoch in dem
Mißmuthe und der Niedergeſchlagenheit ſeines Sinnes
bald wieder geltend gemacht. Die Ermahnungen ſeines
Bruders waren hinzugekommen; indeß weil ihm vor
der Begegnung mit Hulda der Gedanke an die Ehe
nicht geläufig geweſen war, war es immer ihr Bild,
das ihm vor der Seele ſchwebte, wenn er an eine
Gattin für ſich dachte, während doch eben eine Ver⸗
bindung mit ihr den Plänen ſeiner Familie und dem
— —
177
Bortheile feines Stammes entgegen war. Dazu kam,
ſein Unbehagen noch zu erhöhen, das Zerwürfniß mit
der Gräfin und die Scheu des an lange und völlige
Ungebundenheit gewöhnten Mannes vor einer Ent⸗
ſcheidung, die ſeiner freien Entſchließung ein für alle⸗
mal ein Ende machen und ihm, der bisher nur ſich
und ſeinem jeweiligen Belieben nachgekommen war,
Pflichten gegen Andere auferlegen ſollte, denen er ſich
dann nicht mehr entziehen durfte; Pflichten, vor denen
ſein perſönliches Wollen und Wünſchen künftig bis zu
einem gewiſſen Grad zu ſchweigen hatte. Er wurde
es mit Erſtaunen inne, daß trotz der Liebe und Hin⸗
gebung, deren er ſich fähig wußte, wenn ein augen⸗
blicklicher Anreiz ſie in ihm erregte, das ſelbſtſüchtige
Verlangen der Hageſtolzen nach völliger Unabhängig⸗
keit mächtiger in ihm geworden war, als er es ſelber
geglaubt; und daß die Vorſtellung, immer noch Herr
über ſeine Entſchließung zu ſein, ihm die Trennung
von Hulda weniger hart erſcheinen machte, beſonders
da er ſich in ſeines Herzens Tiefe überzeugt hielt, Hulda
liebe ihn und könne ihm nicht fehlen, wenn er früher
oder ſpäter, ihr mit erneuter Werbung nahen wolle.
Ohne daß er ſich Rechenſchaft darüber gab, ge-
fiel es ihm ſich zwiſchen Hulda's Liebe und der Freund⸗
ſchaft Konradinen's immer noch in voller Freiheit be⸗
wegen, und dieſer warmen Freundſchaft genießen zu
können, ohne daß dadurch der Sehnſucht Abbruch ge⸗
ſchah, die ihn in einzelnen Stunden mit ſüßem poeti⸗
ſchem Erinnern zu Hulda zog. Die geiſtige Genuß⸗
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 12
178
ſucht, die geiftige Schwelgerei, zu denen feine Kränk⸗
lichkeit ihn früher lange Jahre hindurch verleitet hatte,
machten ſich jetzt bedenklich geltend; ſie ließen ihn in
Zuſtänden ſchwankend verharren, welche ihm je nach
ſeiner Stimmung trübe und beklagenswerth oder be=
haglich und begehrenswürdig däuchten.
Er hatte mit Freuden Konradinen's Brief em⸗
pfangen. Der friſche, herzliche Ton deſſelben, die
Nachrichten, welche ſie ihm über die Gemüthsverfaſſung
ſeiner Schweſter gab, waren ihm erfreulich und er⸗
wünſcht. Ihre unverkennbare Heiterkeit wirkte an⸗
genehm auf ihn zurück, und die unumwundene Weiſe,
in welcher ſie ihm von der Nothwendigkeit ſeiner Ver⸗
heirathung ſprach, ihm, deſſen Mißtrauen in das Wohl⸗
gefallen, welches er etwa erregen könne, zu einem
Grundzug ſeines Weſens geworden war, der immer
wieder zum Vorſchein kam, ſobald er an die Mög⸗
lichkeit dachte, als ein Bewerber um Frauengunſt auf⸗
zutreten, verſetzte ihn in die allerbeſte Stimmung.
„Ich weiß Alles,“ ſchrieb ſie ihm, „was Sie mir
dagegen einzuwenden für nöthig halten werden, aber
treten Ihre eigenen Erlebniſſe und Erfahrungen nicht
als Beweiſe gegen Ihre melancholiſchen und ſelbſt⸗
quäleriſchen Zweifel auf? Sind Ihnen Liebe und
Freundſchaft nicht in dieſen letzten Jahren von Frauen
entgegengebracht worden, ohne daß Sie dieſelben auch
nur ſuchten? Haben Sie ſich bemüht um Hulda's
Liebe? Haben Sie meine Freundſchaft auch nur be⸗
gehrt? Nein! Beide ſind Ihnen, wie reife Früchte
dem harmlos Vorübergehenden, ſo zu ſagen in die Hand
179
gefallen, und es hat allein in Ihrem Belieben ge⸗
legen, die Hand zu ſchließen und ſie Sich anzueignen,
oder ſie als unerwünſchte Gunſt des Zufalls unbeachtet
auf den Boden gleiten zu laſſen. Daß Sie in meinem
Falle zugegriffen haben, iſt mir ein Glück geworden,
welches ich Ihnen gerne vergelten möchte. Ich habe
durch Ihre Freundſchaft die Kraft gewonnen, ruhig in
meine einſame Zukunft zu blicken, und das Leben über
mich zu nehmen, wie es eben kommen mag. Ihnen
jedoch, dem Manne, dem das Wählen frei ſteht, der
ſein Geſchick nicht hinzunehmen, ſondern es nach ſeinem
Bedürfen frei zu geſtalten hat, Ihnen iſt mehr ver⸗
gönnt als nur die Möglichkeit, ſich mit dem Leben ab⸗
zufinden. Sie können, ja ich hoffe es, Sie werden
glücklich werden; und damit kein ſchmerzliches, kein
ſorgendes Rückwärtsdenken Ihr Gewiſſen beunruhige
und Ihre Entſchließungen hindere, muß ich Sie wie⸗
der einmal daran erinnern, daß die erſte Jugend
anders empfindet als Sie und ich. Die Jugend will
vor Allem ſich ihres Daſeins freuen und das kommt
ihr zu. Dieſes Verlangen iſt ihr Recht, denn in dem⸗
ſelben beruht jene Kraft, die, alles Leiden überwindend,
ſich immer wieder in ein geſundes Gleichgewicht zu⸗
rückbringt. Dieſe Herſtellung hat ſich — und ich ſage
zu Ihrem Glück, mein theurer Freund! nun auch an
dem jungen Mädchen vollſtändig vollzogen, deſſen An⸗
denken Ihnen immer noch jo werth iſt. Die Einfam⸗
keit wird dazu gekommen ſein, die Wandlung zu be⸗
ſchleunigen, und das zur Liebe einmal erregte Herz
verſteht nicht zu darben, ſo lange es jung iſt.“
12*
180
Emanuel hielt inne. Er vermuthete, was dieſer
Einleitung jetzt folgen mußte. Aber es widerſtrebte
ihm, es zu erfahren, und die Hand, in welcher er das
Blatt hielt, bebte leiſe, als er die Worte las: „Der
Amtmann hat an die Gräfin geſchrieben, um von ihr
eine feſte Zuſage wegen der Erhöhung der Pfarr⸗
einkünfte auch nach des Paſtors Tode, den man dem⸗
nächſt erwarten muß, zu fordern. Er berichtet gleich⸗
zeitig über ein kleines Vermächtniß, welches Miß
Kenney Ihrer jungen Freundin hinterlaſſen hat, und
fügt hinzu, daß dieſes Letztere für Hulda doppelt ge⸗
legen komme, da ihre Verheirathung mit dem jungen
Pfarr⸗Adjunktus, dem er beiläufig das ehrenvollſte
Zeugniß ausſtellt, nicht lange auf ſich warten laſſen
werde. Er nennt dies eine günſtige Schickſalswen⸗
dung, und mich dünkt, mein Freund! wir Alle haben
es ſo zu nennen; denn über ein Kurzes wird die
junge ſchöne Pfarrersfrau, und werden auch Sie, an
das kleine Abenteuer jener Tage ſich nur noch wie an
einen ſchönen Traum erinnern, dem Dauer nicht zu
wünſchen geweſen wäre!“
Er las das Alles — es klang ſo einfach, war ſo
natürlich, ſo erklärlich, ſo berechtigt! — Er las es
wieder, es blieb ganz daſſelbe! Und doch glaubte er es
nicht, konnte er's nicht glauben, obſchon er es allein
verſchuldet hatte, was er eben jetzt erlebte und erlitt.
Er ſetzte ſich nieder und ſtützte das Haupt auf
die Hand. Die ganzen Tage und Monate von jenem
ſonnigen Sommerabende, da er ſie zuerſt erblickt, bis
hin zu der ſchmerzlichen Stunde, in der er ſie zuletzt
N
rt 0 AN 4 *
181
geſehen hatte, zogen an ſeinem Geiſte vorüber. Sie
war ſich immer gleich geblieben, immer dem Drange
ihres Herzens ohne weitere Rückſicht folgend. Wie
hatte er es ihr verargen können, wenn dies kindlich
wahre Herz fie antrieb, den erſten und natürlichſten
der Pflichten, der Kindesliebe und dem Gehorſam gegen
ihren Vater nachzukommen? Wie hätte er trachten
ſollen, ſie dieſen Pflichten zu entziehen und ſie in
Widerſpruch mit ſich ſelbſt zu bringen, da doch gerade
die ſchöne Einheit ihres ganzen Weſens ihn zu ihr
gezogen hatte. Er durfte ſich auch nicht darüber
wundern, daß ein jüngerer Bewerber, der in dem
engſten täglichen Beiſammenſein mit ihr verkehrte,
über ihn, den Entfernten, den Sieg davongetragen
hatte. War es ihm doch wie ein unerwartet Glück
erſchienen, daß ſie ſich ihm zugewendet, eben ihm!
Er hielt ſich Alles vor: des Vaters Wunſch, das
Verlangen der Tochter, dem Sterbenden zu willfahren,
der Freunde Ueberredung, der Gewohnheit Macht —
und dennoch, dennoch konnte er es nicht glauben. Eine
Zuverſicht in ſeinem Herzen lehnte ſich gegen alle
Ueberlegungen ſeines Verſtandes auf. Wie er ſich es
auch vorhielt, daß er kein Recht habe, nach ſo langem
Schweigen mit einer Anfrage vielleicht ſtörend in den
mühſam errungenen Frieden ihres Herzens einzugreifen;
es war ihm nicht möglich, es einem Anderen als
Hulda ſelbſt zu glauben, daß ſie ihn vergeſſen habe,
ihn, der ihrer noch mit ſolcher Zärtlichkeit gedachte.
Nie mehr als jetzt in dieſer Stunde beklagte er es,
kein Bild von ihr zu beſitzen, denn zum erſtenmale
182
konnte er in feiner Erinnerung ihr ſchönes Antlitz, ihre
herrliche Geſtalt nicht finden, wie er danach auch rang;
und als müſſe er ſeinem gedrückten Herzen in lautem
Ausdruck eine Befreiung ſchaffen, rief er: „Selbſt ihr
Bild entzieht ſich mir!“
Eine geraume Zeit blieb er an ſeinem Arbeits⸗
tiſche ſitzen. Er hatte angefangen, ihr zu ſchreiben und
das Blatt zerriſſen. Er hatte Konradinen's Brief
zu Ende leſen wollen und ihn unmuthig wieder auf
die Seite gelegt. Er mochte nicht erfahren, was ſie
ihm etwa noch zu melden hatte — es war daran
genug! Aber er mußte es ihr danken, daß ſie es
über ſich genommen hatte, ihm die Mittheilung zu
machen, denn ſie von der Gräfin zu erhalten, würde
ihm härter noch geweſen ſein.
Er war ſehr bewegt, ſehr aufgeregt. Er ſchwankte
von einem Vorſatze zu dem anderen. Er beneidete
Diejenigen, deren Leidenſchaften ſie gewaltig und ohne
allen Rückhalt vorwärtstreiben; und doch war die Em⸗
pfindung, die ihn an Hul da kettete, fo tief, jo wahr!
Doch war es Liebe! — Nur daß ſein unſeliger Zweifel
an ſich ſelbſt und frühe Reflexion die Kraft des raſchen
friſchen Wollens, die Macht der Leidenſchaft in ihm
gebrochen hatten.
In dem Augenblicke aber, in welchem er ſich dieſes
vorhielt, zuckte eine leidenſchaftliche Sehnſucht nach
der Fernen, ein leidenſchaftlicher Schmerz um die ihm
Verlorene durch ſeine Bruſt. „Hulda! Hulda! Es iſt
ja gar nicht möglich!“ rief er und ſprang empor, denn
er fühlte es, er mußte ſie wiederſehen, er mußte ſie
183
und ſich erlöſen, koſte es, was es immer wolle. Noch
in dieſer Stunde mußte er ihr ſchreiben, daß er
kommen, daß er ſeinem Briefe auf dem Fuße folgen
werde, daß ſie keine Entſcheidung über ihre und damit
über ſeine Zukunft treffen dürfe, ehe er ſie nicht ge⸗
ſehen habe.
Mit raſcher Hand, mit leidenſchaftlicher Bewegung
warf er die Zeilen auf das Papier. Er ſagte ihr
Alles, was er in dieſer Stunde fühlte. Er beſchwor
ſie, nach ſo langem traurigem Entſagen jetzt auf Nichts
mehr zu hören, als auf ihr Herz und ihre Liebe; an
Nichts mehr zu denken als an ſein Glück und an das
ihre. Er wendete ſich auch an ihren Vater und hielt
ihm vor, wie hart es geweſen ſei, die Tochter zu dem
Verzichte zu drängen. Er ſchrieb ihm, weil ihm Alles
daran gelegen war, die Zuſtimmung des Pfarrers zu
gewinnen, daß er die Gräfin erwarte, daß er auf dem
Punkte ſtehe, ſich mit ihr auszuſöhnen, daß er zu
Gunſten ihres Sohnes ſchon jetzt auf das Anrecht des
Majorates verzichten wolle. Er that Alles, was er in
ſo manchen Stunden thun wollen, und zögernd unter⸗
laſſen hatte. Er meldete, daß er gleich nach der Ent—
fernung ſeiner Schweſter aufbrechen werde, um die
Geliebte wiederzuſehen, und obſchon er wußte, daß die
Poſt erſt am nächſten Abende nach Norden gehe, trug
er dem Diener auf, den Brief augenblicklich zu be⸗
ſorgen.
Alles, was ihn vorher beſchäftigt hatte, trat davor
zurück. Er dachte an die ihm bevorſtehende Begeg⸗
nung mit der Gräfin, die nach ſo langer Trennung
184
immerhin etwas Peinliches haben mußte, an die An⸗
kunft ſeiner Freundin, auf die er ſich die ganze Zeit
hindurch gefreut hatte. Aber er dachte daran, nur um
es zu berechnen, wie lange dieſe Beſuche etwa währen,
und wann er im Stande ſein würde, ſeine Reiſe in
die Heimat anzutreten. Er verſtand ſich ſelber nicht
in dem trüben Hinbrüten, in welchem er die ganze
Zeit hindurch gelebt hatte; und weil er redlichen Sinnes
zu vergüten wünſchte, wo er ſich einer Schuld bewußt
war, konnte er nicht glauben, daß ihm dieſes nicht
gelingen, daß er nicht ſollte durch erhöhte Liebe ſich
und Hulda für die verlorene Zeit entſchädigen können.
Sich ſchließlich mit der Gräfin zu verſtändigen, ſah
er, da ſie ihm ja entgegenkam, nicht als eben ſchwer
an. Wenn ſie auch lebhaft gewünſcht hatte, das Erbe
ihres Hauſes bei ihren Brüdern und durch dieſe der
Familie erhalten zu ſehen, ſo ſtand doch eben jetzt ihr
Sohn auf dem Punkte, ſich zu verheirathen. Ema⸗
nuel, welchem neben dem ihm in jedem Falle zu⸗
ſtehenden beträchtlichen Allodial⸗Vermögen der Familie,
der Erwerb jener im Norden gelegenen Majoratsgüter
keine Lebensfrage, und der Aufenthalt auf denſelben
Nichts weniger als erwünſcht war, glaubte alſo auf
keine Abneigung bei ſeinen Geſchwiſtern zu ſtoßen,
wenn er ihnen den Vorſchlag machte, den Beſitz des
Majorates gar nicht anzutreten, ſondern es ſofort an
den jungen Grafen übergehen zu laſſen, dem des
Königs Gnade es ſicherlich nicht verweigern konnte,
daß er in dieſem Falle neben ſeinem Namen fortan
Be
185
auch den Namen Derer von Falkenhorſt führte, und in
ſeinem Hauſe fortvererbte.
Er war in dieſen Erwägungen raſchen Schrittes
auf der Teraſſe vor ſeinem Arbeitszimmer umher⸗
gegangen. Als es ſchon zu dunkeln begann, kehrte
der Diener von der Poſt zurück. Er meldete, wie er
in dem Poſtbureau ein Päckchen vorgefunden habe,
das eben mit der Packpoſt für den Herrn Baron an⸗
gekommen ſei, und daß der Poſtmeiſter ihm daſſelbe
der Bequemlichkeit wegen gleich mitgegeben habe.
Emanuel nahm es ihm ab. Der Wiederſchein
von den Bergen gab eben noch Licht genug, das Poſt⸗
zeichen und die kleine, feine Handſchrift zu erkennen.
Er hatte dieſe zierlichen Lettern oft genug geſehen,
wenn er die Volkslieder zur Hand genommen, die ſie
in jenen erſten ahnungsloſen Tagen für ihn abge⸗
ſchrieben. Die Sonderbarkeit der Zufalles überraſchte
ihn. In dem nämlichen Augenblicke, in welchem er ſich
ihr wieder mit voller entſchloſſener Hingebung genähert
hatte, kam ihm die erſte Kunde von ihr ſelbſt. Das
Wahrſcheinlichſte vorausſetzend, glaubte er durch ſie die
Nachricht von dem Tode ihres Vaters zu erhalten, den
Konradine ihm als bevorſtehend gemeldet hatte, und
der Hulda zur Herrin über ihre Zukunft machen
mußte.
Mit raſcher Hand brach er die Siegel auf, zerriß
er die Umwicklung des Päckchens, deſſen geringen Um⸗
fang er ſich nicht erklären konnte, bis er, das Schäch⸗
telchen eröffnend. den Ring in Händen hielt.
186
Er traute ſeinen Augen, feinen Sinnen nicht.
Mit beklommener Haſt wendete er die Blättchen um,
in welche ſie das Kleinod eingewickelt hatte. Vorſichtig
nahm er ſie auseinander, jedes einzelne darauf an⸗
ſehend, ob nicht ein Wort darauf verzeichnet wäre, ihm
zu erklären, was ihm im Grunde nicht unerklärlich
ſein konnte, und was zu verſtehen ihm deshalb doch
nicht weniger ſchwer ankam. Anklagen konnte er ſie
nicht. Er ganz allein trug alle Schuld. Er allein
hatte ſich durch ſeine Schwäche um das Glück gebracht,
deſſen Größe er wie immer, erſt recht zu würdigen
glaubte, da es für ihn verloren war. Aber wie er
auch ſann und grübelte, wie er ſich auch auflehnte
gegen das Ertragen deſſen, das wie ein ſchwerer harter
Schlag auf ihn herniedergefallen war, er kam nicht
hinaus über jenes armſelige: „Alſo doch!“ — über
jenes niederbeugende: „Zu ſpät!“ — die einmal mit
Zorn gegen ſich ſelber, mit widerwilliger Entſagung
auszuſprechen, kaum einem Erdgeborenen erſpart bleibt.
Er ſtand noch immer auf der Terraſſe und ſah
in die Dämmerung hinaus. Er kannte jeden Punkt
der Landſchaft, die eben noch tagerhellt ſich vor ihm
ausgebreitet hatte, und doch vermochte er die Gegen⸗
ſtände nicht mehr zu erkennen. So ging es ihm mit
Hulda. Ihre Seele hatte hell und licht vor ihm ge⸗
legen, er hatte in ihr geleſen wie in einem offenen
Buche, nun fand er ſich nicht mehr in ihr zurecht. Ihr
gerade hatte er eine Treue ohne Wanken zugetraut!
Daß ſie vergeſſen könne, hatte er nicht für möglich
gehalten. Darauf hin hatte er vertraut, und in ver⸗
187
meſſenem Vertrauen geſündigt an ihr, an ſich. Und
jetzt hintreten mit erneuter Werbung, da ſie freien
Entſchluſſes über ſich ſelbſt entſchieden hatte, da ſie
vorausſichtlich in der Liebe zu einem gleichalterigen
Manne glücklich war, vielleicht glücklicher, als ſie mit
ihm geworden ſein würde — ſollte er das thun?
Durfte er es thun, da ſie ihm mit ihrem Schweigen
den Weg anwies, den fie eingehalten zu haben
wünſchte?
Er rief ſeinen Diener und hieß ihn augenblicklich
den Brief zurückholen, den er vorhin zur Poſt be⸗
fördert hatte; aber es war mit dieſem Entſchluß für
ſeine innere Beruhigung noch Nichts geſchehen.
Sein Sinn war bedrückt, ſeine Gedanken und Em⸗
pfindungen wollten ſich nicht klären. Er konnte es
nicht faſſen, daß ſie keine Zeile für ihn geſchrieben,
daß ſie kein Wort mehr für ihn gehabt hatte. Warum
ſagte ſie es ihm nicht, daß ſie ſich über ihr Gefühl
für ihn getäuſcht habe, daß ſie einen Anderen liebe?
Sie beſſer als irgend ein Anderer wußte es, wie
wenig er daran geglaubt hatte, Liebe erwecken zu können,
und ſie wußte es doch auch, wie theuer ſie ihm ge⸗
weſen war, wie herzlich er ſich um ſie geſorgt, ehe er
im entfernteſten daran gedacht hatte, daß ſie ihn lieben,
daß er ſie die Seine nennen könnte.
Er ſah den Wolken zu, die ſchwer und langſam
vom anderen Ufer emporzuſteigen begannen, und hier
einen hellen Stern verhüllten und dort wieder Einen,
bis ſie den ganzen Horizont bedeckten und die Nacht
ſich ſtill und ſchwül und lichtlos über See und Land
188
verbreitete. Es kam ihm endlich vor, als warte er
auf einen Stern; aber wie er ſein Auge auch nach
der Stelle richtete, an welcher der letzte helle Stern
verſchwunden war, er wollte nicht wiederkehren. Es
blieb Alles dunkel.
Er fuhr ſich über die Augen; es war damit vor⸗
bei. „Möchten Dir glücklichere Sterne leuchten!“ rief
er, indem er den kleinen Reif an ſeinen Finger ſteckte.
Er wollte ihn tragen zur Erinnerung an ſie, die
ihn geliebt hatte, an ſie, um die er trauerte, wie man
um die Jugend trauert, die nicht wiederkehren kann.
Und mit der ſchlimmſten aller Qualen, mit dem Be⸗
wußtſein ſich ſelber um ſein Glück gebracht zu haben,
durchwachte er die ſtille, ſchwüle Nacht.
Fünfzehntes Capitel.
Die Ankunft der beiden Frauen war Emanuel
in dieſem Augenblicke durchaus willkommen. Er war
lange einſam geweſen, und hatte eben in ſeiner gegen⸗
wärtigen Stimmung keinen angenehmen Geſellſchafter
an ſich ſelbſt.
Die Gräfin, deren Neigung, auf Andere beſtim⸗
mend einzuwirken, ihm bisher oftmals unbequem ge⸗
weſen war, ſagte ſich, daß er ihr, nach ſeiner Anſicht,
Manches zu verzeihen, habe und hielt ſich deshalb vor⸗
ſichtig in ihren Schranken. Sie fragte ihn um Nichts,
was von ſich auszuſagen er nicht für angemeſſen fand,
aber fie ſprach ihm freimüthig und ohne allen Rück⸗
halt von ſich ſelbſt, von Clariſſens Glück, von dem
Guten, das ſie von ihres Sohnes Heirath für den⸗
ſelben hoffte. Als Emanuel bei dieſem Anlaſſe ihr
ſeine Abſicht kundgab, zu Gunſten des jungen Grafen
auf das Majorat zu verzichten, wenn es durch den Tod
des Bruders an ihn fallen würde, wies ſie dieſe Ge⸗
danken zwar von ſich, jedoch ohne dabei auf ihre frü⸗
heren Plane für ihn zurückzukommen. Sie meinte
190
nur, es mache ihr immer bange, wenn fie Menſchen
in nicht abzuändernder Weiſe über ihre Zukunft ent⸗
ſcheiden ſehe, ſolange dieſelben ſich noch in einem
Lebensalter befänden, das neue Ausſichten vor ihnen,
neue Gedanken in ihnen entwickeln könne. Beſonders
ſolle man nicht derartige Beſchlüſſe faſſen, wenn keine
zwingende Nothwendigkeit es erfordere. Vollends in
ſolchen Fällen aber, wo von dem Erhalten oder Auf⸗
geben von Hab und Gut, oder gar von dem Ver⸗
zichten auf Rechte die Rede ſei, die noch mehr werth
wären als Hab und Gut, da ſei das alte Bauernwort
an ſeinem Platze: Es ſolle Niemand ſeine Stiefel
ausziehen, ehe er ſich niederlege.
Sie ſagte das mit einer heiteren Leichtigkeit, die
ihr doppelt wohl anſtand, weil ſie nur ſelten an ihr
zur Erſcheinung kam. Sie erwähnte dann noch, daß
es bei der ſorgloſen Lebensluſt ihres Sohnes ſogar
Gefahren für ihn haben könne, wenn ſein ohnehin
reichlicher Beſitz in ſolcher Weiſe und ſo viel früher,
als er es irgend zu erwarten berechtigt geweſen wäre,
verdoppelt würde, und ſie gab Emanuel auch zu be⸗
denken, daß er wohl der Mann ſei, große Mittel in
großartiger Weiſe für würdige, ſeinem und des Hauſes
Namen Ehre machende Zwecke, zu verwenden. Es lag
etwas Schönes, etwas durchaus Uneigennütziges in den
Erwägungen und Rathſchlägen der Gräfin, das auf
Emanuel ſeine Wirkung nicht verfehlte. Auch er mußte
ihr darin beipflichten, daß, wie die Verhältniſſe jetzt
lagen, kein Grund zu der Entſagung vorhanden war,
zu welcher er ſich um Hulda's willen vor wenigen
191
Tagen geneigt gefunden hatte. Hulda's oder der
Pfarrerfamilie gedachte die Gräfin nicht mit einem
Worte. Auch Emanuel ſprach nicht von ihnen, weder
mit der Schweſter noch mit ſeiner Freundin, und
Konradine ihrerſeits war herzenskundig genug, fein
Schweigen zu ehren und es ſich zu deuten.
Emanuel wußte ihr das Dank. Ihre ganze Art,
ihr ganzes Weſen waren ihm erfreulich. Daß ſie nicht
in ſeinem Haufe wohnte, ſondern ſich mit ihrer Be-
dienung in einer der am See gelegenen Penſionen
eingerichtet hatte, deren Anzahl in jenen Tagen im
Vergleiche zu heute noch gering war, das erhöhte durch
das jeweilige Entbehren deſſelben den Reiz, welchen
das Beiſammenſein mit ihr ſchon in dem Schloſſe
ſeiner Schweſter für ihn gehabt hatte. Aber der Ver⸗
kehr mit ihr war ihm jetzt noch angenehmer als vor⸗
dem, denn ihr Beruhen in ſich ſelbſt war jetzt voll⸗
kommen, und ihre Stimmung von einer Gleichmäßig⸗
keit, die beruhigend und vertrauengebend wirkte. Selbſt
die edle Einfachheit ihrer Kleidung, der geringe Werth,
den ſie auf alle jene Aeußerlichkeiten und Kleinigkeiten
legte, von denen das Wohl und Wehe der Frauen
ſonſt ſo vielfach abzuhängen ſcheint, die Sicherheit,
mit welcher ſie ſich das Recht zuſprach, nach eigenem
Ermeſſen zu handeln und ſich ſo frei zu zeigen, als
ſie ſich mit ihrem tüchtigen Bewußtſein fühlen durfte,
machten es Emanuel im Verkehre mit ihr bisweilen
ganz vergeſſen, daß ſie noch jung, und daß ſie ſchön
ſei, während das Wohlgefühl, das er in ihrer Nähe
fühlte, doch durch eben dieſe Eigenſchaften weſentlich
192
geſteigert ward. Dazu wieſen die Lebensgewohnheiten
der Gräfin, ihn und die ſchöne Stiftsdame noch be—
ſonders auf einander an.
Die Gräfin hatte ſich während ihres langen Auf⸗
enthalts in Italien von jeder körperlichen Bewegung
faſt völlig entwöhnt. Sie kannte keinen Naturgenuß,
als denjenigen, deſſen ſie von der Terraſſe eines Gar⸗
tens oder in den Polſtern ihres Wagens theilhaftig
werden konnte, und vollends ſich der Stunden des
Morgens zu erfreuen, trug ſie kein Verlangen, wäh⸗
rend das Wachen in der Nacht ihr zu einer Gewohn⸗
heit geworden war. Emanuel hingegen konnte nicht
leben ohne Naturgenuß.
Durch ſeine ganze Jugend hin, in welcher ihn
Rückſicht auf ſeine damals ſehr ſchwankende Geſund⸗
heit, und der auch noch nicht überwundene Schmerz
über die Entſtellung ſeiner Wohlgeſtalt von den Sälen
der Geſellſchaft fern gehalten hatten, war die Natur
ihm eine Zuflucht, und die Quelle geweſen, aus der er
Freude geſchöpft, in der er ſeine Kräfte geſtählt und durch
immer neue Uebung erprobt hatte, bis er ſich im Er⸗
tragen von körperlichen Anſtrengungen mit den Ge⸗
ſunden meſſen durfte. Er genoß ſich ſelber und ſein
Daſein nie in volleren Zügen, als wenn er auf raſchem
Pferde durch die Thäler hinflog, mit ſicherem, rüſti⸗
gem Fuße die Höhen der Berge überſchritt, oder mit
kräftigem Arme die Wellen des Waſſers überwand.
Einſam in der Natur dachte er nie daran, daß er
nicht ſchön, daß er nicht mehr dazu gemacht ſei, die Blicke
der Menſchen wie früher freundlich auf ſich zu ziehen und
195
an ſich zu feſſeln. Die Sonne ſchien auf ſein blatter⸗
narbiges Geſicht jo freundlich nieder wie auf die jelt-
ſam zerriſſene Rinde des Baumes; die Luft umfächelte
und nährte ihn ſo friſch, wie ſie die Stämme um⸗
ſpielte, die auch nicht alle gerade in die Höhe wuchſen
und an deren Laub und Schatten man ſich doch er⸗
freute; und das Landvolk, mit dem er bei ſeinem Herum⸗
ſtreifen zuſammentraf, legte nicht den Werth auf die
äußere Wohlgeſtalt des Menſchen, wie die Geſellſchaft,
in welcher er hergekommen war, und wie ſeine eigene
Mutter, deren Bedauern über die Entſtellung des einſt
ſo ſchönen Sohnes damals den Stachel der verletzten
Selbſtgefälligkeit, der Emanuel ohnehin empfindlich
genug war, immer tiefer in das weiche Herz des Jüng⸗
lings gedrückt hatte.
Er liebte und verſtand die Natur in allen ihren
Aeußerungen. Er hatte in der Natur auch die Men⸗
ſchen verſtehen gelernt, die ihr noch nahe ſtanden, und
es traf ſich gut, daß Konradine ſeine Freude an der⸗
ſelben theilte, daß ſie rüſtig war wie er. Das Wander⸗
leben, welches ſie an ihrer Mutter Seite von Kindheit
an geführt, hatte ſie frei von allen hemmenden Ge⸗
wohnheiten werden laſſen. Sie war körperlichen An⸗
ſtrengungen ebenſo wie Emanuel gewachſen, und für
den Augenblick hatte das verhältnißmäßige Stillleben,
das ſie im Stift geführt, ihr Wechſel und Bewegung
doppelt erwünſcht gemacht.
Wie früh man die Morgenſtunde auch feſtgeſetzt
hatte, in welcher Emanuel und ſie zu Pferde ihre
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 13
194
Streifzüge in das Land unternehmen wollten, er fand
ſie immer fertig, immer ſeiner wartend, und in Friſche
ſtrahlend, daß ſie hm wie die Verkörperung des Mor⸗
gens ſelbſt erſchien. Feſt wie in ihrem Sattel, war ſie
in allen Sätteln gerecht und überall an ihrem Platze.
Wenn man das Frühſtück in den Sälen eines Gaſt⸗
hofes oder in dem erſten beſten Bauernhauſe einnahm,
wenn man es Wanderburſchen gleich, auf grünem Raſen
unter Bäumen am Quellenrande verzehrte, es ſchien
jedesmal, als ſei dies gerade die Lage, in welche ſie
hineingehöre, in der ſie ihre anmuthige Selbſtbeſtimmt⸗
heit am vortheilhafteſten entfalten könne. Jeder zu⸗
fälligen Begegnung mit anderen Reiſenden wußte ſie
eine gute Seite und jedem Menſchen das Beſte abzu⸗
gewinnen, das an ihm ſein mochte. Die Bauerfrau
und das Kind am Wege wendeten ſich ihr vertraulich
aufgeſchloſſen zu, weil ſie natürlich und ohne jene kin⸗
diſche Herablaſſung mit ihnen zu verkehren wußte,
hinter welcher die Eitelkeit und der Hochmuth der
ſogenannten Vornehmen und Reichen, ſich ländliche
Feſte zu bereiten lieben, bei denen ſie erſt recht in ihrer
ganzen Lächerlichkeit erſcheinen; und ohne daß fie be⸗
ſonders darauf aus war, oder daß man es bemerkte,
hatte ſie hier einen guten Rath ertheilt, dort eine Lehre
in ſo knapper und beſtimmter Form gegeben, daß ſie
Ausſicht hatte, ſchnell verſtanden und nicht leicht ver⸗
geſſen zu werden.
Als ihr Emanuel einmal ſeine Verwunderung
über dieſe praktiſche Gewandtheit ausſprach, die ſie zum
u \
EN Ar 3
135
„Handeln und Befehlen wie wenig Andere befähige,
räumte ſie ihm ein, daß ſie dieſelbe allerdings beſitze.
„Aber,“ ſagte ſie lachend, „es iſt nicht mein Verdienſt,
daß dieſe Anlage ſich in mir ſo ausgebildet hat. Sie
hat ſich an den entgegengeſetzten Eigenſchaften meiner
Mutter nothwendig entwickeln müſſen. Ich lernte von
Kindesbeinen an, wie die Wilden, meine Umſicht üben,
nich zurechtfinden und mir helfen — und nicht nur mir
allein, denn wir lebten damals immer in einer Art
von Wildniß. Noch ehe ich leſen und ſchreiben konnte,
mußte ich im Gedächtniß behalten, was uns nöthig
war, und in der Heimatloſigkeit, zu welcher meine
Mutter ſich freiwillig verdammte, alle paar Tage ein
neues Zuhauſe für uns zu bereiten, war eine Noth⸗
wendigkeit für mich. Das geht denn ſo allmälig in
des Menſchen Sein und Weſen über, und meine zigeu⸗
neriſche Praxis hat ſeitdem im Stifte mehr Form und
Halt bekommen, ſo daß ich jetzt ſelber Luft an ihr ge⸗
wonnen habe. Ich überraſche mich bisweilen in dieſen
Tagen darauf, wie ich mit Sorgen an die Verwal⸗
tungs⸗Angelegenheiten unſeres Stiftes denke, die unſere
Aebtiſſin mir während ihrer Krankheit und Abweſen⸗
heit überlaſſen hatte. Und es war doch nicht einmal
mein perſönliches Eigenthum, das ich verwalten half,
und um deſſen Erhaltung und Vermehrung ich be=
müht war.“
„Das ſcheint mir zu dem Wohlgefallen an ſolcher
Thätigkeit auch keinesweges nothwendig zu ſein,“ meinte
Emanuel, „fie iſt verlockend an ſich ſelbſt. Wir Alle
13 *
196
find von Kindheit an mehr oder weniger darauf ger
ſtellt, Etwas zu ſchaffen. Wir wollen Etwas hinſtellen,
Etwas vor uns bringen, Etwas werden ſehen. Das
Kind ſchon macht ſich im Garten ein Gärtchen für
den Nachmittag zurecht, der Knabe macht ſich Samm⸗
lungen von Auszügen aus den Büchern, die doch ſein
eigen ſind. Der Jüngling macht ſich ſeine eigenen
Liebeslieder, obſchon unendlich ſchönere vorhanden ſind.
Der Mann, der Herrſcher, dem ſchöne Beſitzungen,
dem ſchöne Schlöſſer als Erbe zufallen, will augen⸗
blicklich in denſelben irgend einen Neubau, eine Aen⸗
derung machen, in denen er ſich ſelbſt und ſein eigenes
Weſen bethätigt und ausſpricht. Er will Etwas hin-
ſtellen, das er als von ihm geſchaffen vor ſich ſieht;
und ich glaube, daß die ſogenannte Freude am Erwerb
und Beſitz ebenſo viel von dieſer Luſt am Schaffen
als am Beſitzen in ſich trägt.“
Konradine nannte das nach ihrem eigenen Erfahren
richtig, aber ſie wollte wiſſen, wie er ſich ſelbſt dazu
verhalte. |
Emanuel ward nachdenklich. „Es iſt das eine
Frage,“ ſagte er, „die weit in das Leben zurückgreift,
und ich habe leider, wenn ich das thue, nicht ſonder⸗
lich viel Gutes von mir zu ſagen, ſondern auf eine
lange Reihe von Unterlaſſungsfünden, auf viel ver⸗
lorene Zeit, auf wenig oder eigentlich auf nichts Ge⸗
leiſtetes zurückzuſehen.“
„Sie thun ſich Unrecht,“ meinte Konradine, „denn
ſeit ich Sie kenne, und wir ſind ja ſehr alte Be⸗
197
* kannte,“ fügte fie mit ihrem reizendſten Lächeln hinzu,
„babe ich Sie immer beſchäftigt, immer mit... .”
„Mit mir und meiner Selbſtbefriedigung beſchäftigt
geſehen,“ fiel er ihr in das Wort. „Wenn Sie offen
gegen mich ſein wollen, werden Sie mir das nicht in
Abrede ſtellen können. Die große Liebe meiner Mutter,
der angeerbte Familienſinn, der die Erhaltung eben
unſerer Familie als etwas Weſentliches anſah, hat auch
auf meine Erhaltung, ſo viel Mühe, Opfer, Achtſam⸗
keit verwendet, daß ich ſchließlich mir ſelber um meiner
ſelbſt willen wichtig vorgekommen bin. Und es iſt doch
im Grunde ſo gar wenig daran gelegen, ob ein Menſch
da iſt oder nicht, wenn er nicht etwas ganz Beſon⸗
deres zu werden verſpricht.“
„Oder wenn er nicht ſo glücklich iſt, daß er in
ſeinem Glücke jenes vollendete Selbſtgenügen dar⸗
ſtellt, um deſſen willen es ſich verlohnt, zu ſein!“ rief
Konradine im Rückblicke auf ſich ſelbſt.
„Bei mir,“ verſetzte Emanuel, „traf weder das
Eine noch das Andere zu. Aber weil man mich ſo
wichtig nahm, wurde ich mir wichtig, und weil man
ſich ſo gar viel Mühe damit gab, mich zu befriedigen,
gewöhnte ich mich daran zu glauben, daß ich den An⸗
ſpruch auf eine beſondere Befriedigung, auf ein beſon⸗
deres Glück zu machen hätte. Man erzog mich auf
dieſe Weiſe förmlich zum Egoiſten, und ich war doch
von der Natur mit meinem weichen, liebebegehrenden
Herzen nicht darauf angelegt. Es gelang deshalb nicht
einmal, mich zu einem völligen Egoiſten heranzubil⸗
den. Nur unbrauchbar für mich ſelber hat man
198
mich für lange Zeit gemacht. Man umgab mich mit
einer Liebe und einem zuvorkommenden Wohlwollen,
denen in der Welt zu begegnen, unter meinen Alters⸗
genoſſen zu begegnen, ich in meiner Lage nicht erwarten
durfte. Von den Kreiſen der jungen Männer hielt
meine damals üble Geſundheit mich zurück, die weib⸗
liche Jugend wendete ſich Männern von gefälligerem
Aeußeren zu. Ich fand mich alſo einſam; und je
weniger ich ſie in mir ſelbſt beſaß, um ſo ſehnſüchtiger
begehrte ich nach Schönheit. Was mir das Leben nicht
gleich bieten wollte, das begann ich in der Kunſt zu
ſuchen. Ich hatte Zeiten, in denen ich meinte, zu ihrer
Ausübung als Maler, als Dichter berufen zu ſein;
aber ich wurde bald inne, daß die Fähigkeit, das
Schöne zu erkennen und ſich an ihm zu freuen, kein
Bürge iſt für die Kraft, es zu erzeugen. Alles, was
ich leiſtete, ging über die Grenze des Dilettantismus
nicht hinaus, und wenn es Andere hie und da auch
freute, mich ſelber befriedigte, mich förderte es nicht.
Mein Mißtrauen gegen mich, meine innere Unzufrieden⸗
heit ſteigerten ſich daran. Ich kam mir geiſtig ſo
wenig begabt, ſo ungenügend wie leiblich vor, und
weil ich dabei doch immer nur an mich ſelber dachte,
verfiel ich nicht darauf, daß vielleicht dennoch Gaben
und Anlagen in mir zu entwickeln wären, die für An⸗
dere nutzbar werden dürften, und deren Anwendung
meinem Daſein in meinen eigenen Augen Werth ver⸗
leihen könne.“
„Und doch meine ich mich zu erinnern,“ bemerkte
Konradine, „daß Sie mannigfache Studien getrieben,
199
die, auf das praktiſche Leben, ſelbſt bei der Bewirth⸗
ſchaftung Ihrer Güter, angewendet, Ihnen und den
Leuten auf denſelben, zu Gute kommen mußten.“
„Freilich!“ entgegnete er, „aber ich entſchloß mich
nicht, Verwalter meiner Güter zu werden, weil ich
das Leben in ſüdlicherem Klima vorzog, und weil der
Beſitz der Güter für mich nur eine zeitweilige Bedeu⸗
tung hatte.“
Konradine wollte wiſſen, was er damit meine.
„Um am Beſitz und vollends an ſeiner Ver⸗
mehrung die eigentliche Beſitzesfreude zu finden, muß
man entweder große koſtſpielige Bedürfniſſe, oder Men⸗
ſchen haben, denen man den Beſitz zu vererben wünſcht.
Das Beides trifft bei mir nicht zu. Ich habe mehr,
als ich für die Befriedigung meiner Gewohnheiten be-
darf, und Vermögen aufzuhäufen, um mit demſelben
das glänzende Fortbeſtehen eines beſtimmten Geſchlechtes
oder, wie in unſerem Falle, vielleicht nur das Fort-
beſtehen eines beſtimmten Namens, und für den Haupt⸗
träger dieſes Namens, die Aufrechterhaltung eines Vor⸗
urtheiles zu verewigen, welches die Freiheit ſeines
Handelns beſchränkt, dazu bin ich nicht Ariſtokrat genug.
Vielleicht bin ich auch ſogar dazu noch zu ſelbſtſüchtig
geweſen.“
Er hielt eine Weile inne, Konradine ſchwieg.
Es war das erſtemal, daß Emanuel ſich ſo offen und
weitläufig über ſich ſelber ausließ, und ſie hütete ſich
um ſo ſorglicher, ihn zu unterbrechen, als ſie es einſt
ſelbſt erfahren hatte, wie wohlthuend es unter Ver⸗
hältniſſen ſein kann, einmal vor einem Theilnehmen⸗
200
den dasjenige auszuſprechen, was man mit ſchmerz⸗
lichem Brüten lang in ſich verſchloſſen hatte.
„Ich glaube, das lange Alleinſein hier auf Ihrer
Villa iſt Ihnen nicht gut geweſen, lieber Freund,“
ſagte ſie endlich, um ſeine Mittheilungen wieder in
Fluß zu bringen. „Sie find dadurch in ſich ver—
ſunken, und das hat für gewiſſenhafte Menſchen im⸗
mer ſein Bedenkliches. Man nimmt es in ſolcher
Selbſtbetrachtung mit ſich und ſeinen Schwächen dann
meiſt zu genau. Durch das Mitkroſkop betrachtet, hat
Jeder Etwas von einem Ungeheuer an ſich. Muß doch
ſelbſt unſer Herrgott Gnade oft für Recht an uns
ergehen laſſen, um uns aufnehmen zu können in
ſein Reich.“
„Sie ſcherzen, Konradine, das ſteht Ihnen ſehr
wohl an,“ entgegnete er ihr, „und ich freue mich, daß
Sie dazu wieder fähig ſind. Aber ſelbſt auf die Ge⸗
fahr hin, Ihnen in Ihrer heutigen Stimmung ſchwer⸗
fällig zu ſcheinen, kann ich heut' nicht ſcherzen.“
Sie fühlte den Fehler, den ſie gemacht hatte,
lenkte ſofort wieder ein, und Emanuel ließ ſich das
gefallen. „Ich finde im Gegentheil,“ hub er danach
an, „daß Jeder von uns es nöthig hat, bisweilen mit
ſich ſelber allein zu ſein, um, wie die Schrift es nennt,
in ſich zu gehen, und Abrechnung, mit ſich zu halten.
Ich habe das gerade in den Tagen vor Ihrer Ankunft
zu thun Anlaß gehabt; und da ich mir auf die Weiſe
klarer in meiner eigentlichen Weſenheit geworden bin,
hoffe ich, fortan mein Leben zweckmäßiger zu geſtalten
und zu nützen.“
201
„Und was hat Ihnen eben jetzt den Anlaß ges
boten zu ſolcher Selbſtbetrachtung?“ fragte ſie.
| „Die Nachricht, welche ich zuerſt durch Sie erhalten
habe und die ſich mir nachher als eine richtige be=
ſtätigt hat!“ ſagte er, und machte eine neue Pauſe.
Dann, als wünſche er darüber keine weitere Erörterung,
fuhr er fort: „Auch eine Erwägung, die meine
Schweſter mir vorgehalten, hat mich zu Betrachtungen
veranlaßt, welche Einfluß auf die Geſtaltung meiner
Zukunft haben werden. Ich habe bisher mich für un⸗
ſelbſtiſch gehalten, weil ich keinen beſonderen Werth
auf Geld und Gut gelegt, weil ich keine Neigung ver⸗
ſpürt habe, den Beſitz des Majorates anzutreten, ſtatt
mir zu ſagen, daß eben darin meine Luſt an hin⸗
träumendem, müßigem Selbſtgenügen ſich am ent⸗
ſchiedenſten kundgegeben hat. Der Beſitz hat aber
nicht nur Bedeutung durch das, was er für unſere
eigene Befriedigung möglich macht, ſondern auch durch
jenes Andere, was wir mit demſelben für Andere,
für Einzelne oder Viele leiſten können; und ich habe
in dieſer Nacht, die mir in mannigfachem Sinnen
hingegangen iſt, den Vorſatz gefaßt, wenn — wie es
leider in naher Zeit vorauszuſetzen iſt — die Majorats⸗
güter an mich fallen, ſie nicht an den Sohn meiner
Schweſter abzutreten, ſondern hinzugehen, ihre Ver⸗
waltung zu übernehmen, auf ihnen und an ihren
Eingeſeſſenen zu fördern, was der Förderung bedürftig
iſt, und ſomit zu verſuchen, ob ich nicht im Leiſten
und Schaffen die Zeit einbringen kann, die ich in
202
müßiger Sehnſucht nach einem für mich nicht zu
erreichenden Glücke habe an mir vorübergehen laſſen.“
Konradine hatte nicht erwartet, daß feine Ge—
danken und Entſchlüſſe eben dieſe Wendung nehmen
könnten, aber ſie vermochte ſich zu erklären, wie er
auf dieſen Weg gekommen war, und die ſchlichte ernſte
Redlichkeit, mit welcher er ſich ſelbſt beurtheilte, flößte
ihr eine erneute Achtung vor ihm ein. Es war darin
Nichts von jener ſelbſtgefälligen Reue, die ſich ſchön⸗
redneriſch kundgiebt, um ſich mit der Verſicherung
tröſten zu laſſen, daß ſie gar Nichts zu bereuen habe,
ſondern daß ſie ſich bewundern und fremder Bewun⸗
derung ſicher ſein dürfe. Es war die einfache Erkenntniß
eines begangenen Fehlers und der Vorſatz, ihn durch
eine richtigere Handlungsweiſe auszugleichen. Dagegen
war kein beſchönigender Einſpruch zu erheben, und
Konradine dachte an einen ſolchen umſoweniger, als
die Abſichten Emanuel's auf das Beſte mit den Wün⸗
ſchen der Gräfin zuſammenſtimmten. Nur ein Be⸗
denken hegte ſie, und dieſes bezog ſich auf die Geſund⸗
heit des Barons. Sie meinte, daß er dem nordiſchen
Winter auf die Dauer nicht würde widerſtehen können.
Emanuel ließ das nicht gelten. „Sie haben es
ja erlebt, wie gut ich ihn ertrug, als Sie mir dort
erſchienen,“ ſagte er. „Meine Geſundheit iſt ſeit
Jahren feſt genug und wird immer beſſer, je weniger
ich Rückſicht auf ſie nehme. Was ich ertragen konnte,
weil Liebe und Sorge für ein beſtimmtes Weſen mich
achtlos auf mich ſelber machten, das werde ich ebenſo
ertragen können, wenn die Zuneigung und die Sorge
203
für eine ganze Gemeinſchaft mich an den Norden
feſſeln. Wenn ich auch der Jugend und der Schön—
heit auf die Dauer nicht eben liebenswerth erſcheinen
kann, ſo meine ich, es ſolle mir gelingen, mir da oben
unter den Leuten, die uns lange kennen, lange lieben,
eine dauernde Zuneigung zu verdienen. — Im Grunde
find wir ja Alle, Jeder nach feiner Weiſe auf Ent-
ſagung angewieſen; und Sie felber lehren mich,
wie man in derſelben wachſen und ſich erheben kann.
Will des Frühlingstages ſchöne Sonne uns nicht
leuchten und erwärmen, ſo muß ein tüchtiges Reiſig⸗
feuer uns am Abend ſchadlos halten. Und auch das
kann ſchön ſein, kann zum Glücke werden,“ fügte er
hinzu, „wenn Freunde wie Sie es nicht verſchmähen,
ſich bisweilen an unſeren Heerd zu ſetzen und ſich
mit uns an ſeiner Gluth zu freuen.“
Er hielt bei den Worten Konradinen ſeine Rechte
hin, ſie ſchlug herzlich ein, ſie ſchüttelten einander die
Hände recht als Freunde, und Konradine meinte die
urſprüngliche Schönheit ſeines Antlitzes nie ſo klar
erkannt zu haben als in dem Augenblicke, da ein
ſchwermüthiges Lächeln ſanft über ſeine Züge glitt.
Hulda's erwähnte er mit keiner Sylbe weiter,
auch die Frauen vermieden es. Aber ſie bemerkten
Beide, daß er einen Ring, von dem alten Familien⸗
ringe nur durch die bedeutungsvolle Farbe des Steines
unterſchieden, an ſeiner Hand trug, und ſie wußten
ſich zu ſagen, was ihm dieſer Ring bedeute.
Sechszehntes Capitel
—
Man hatte den Greis zur Ruhe beſtattet. Die
Kirchenglocken, die ihm ſo oft das Herz erhoben, wenn
ſie ihn gerufen, des Herrn Wort vor der Gemeinde
zu verkünden, tönten noch durch die Luft und gaben
ihm das letzte irdiſche Geleite. Der Todtengräber
ſchüttete die Erde über den ſchlichten Sarg, der Küſter
und die Schuljugend, die Frauen und die Männer aus
dem Dorfe gingen ſchweigend von dem Kirchhofe heim,
und wo Zwei bei einander waren, ſprachen ſie von
ihrem ſeligen Herrn Paſtor, der ihnen ein getreuer
Hirt und Führer, ein treuer Berather und Seelſorger
geweſen war, durch all' die langen Jahre und in mancher
ſchweren Zeit. Es tröſtete ſie aber Alle, daß er doch
in ſeinem Bette geſtorben war, daß er ein ſchönes
chriſtliches Begräbniß bekommen habe, und nicht ſo
elend umgekommen und zu Grunde gegangen ſei wie
die arme ſelige Frau Paſtorin. Nun war Paſtor's
Hulda ganz allein.
*
5
205
Im Pfarrhauſe ftanden die Fenſter in der Kam⸗
mer offen. Das Zimmer, die Flur und die Schwelle,
bis hinaus durch das Gärtchen und hin bis an das
Kirchhofsgitter, hatte man den Weg mit Sand und mit
gehacktem Tannengrün beitreut. In der Wohnſtube
ſaß der Amtmann auf dem Sopha und ſprach ge—
dämpften Tones mit dem Pfarr-Adjunkten, der noch
den Talar anhatte.
Mamſell Ulrike, die gleich herübergekommen
war, als man im Amte die Todesnachricht erhalten,
und die in der Pfarre geblieben war, weil man doch
das Mädchen mit dem jungen Manne nicht allein dort
laſſen konnte, Mamſell Ulrike hantierte mit Hilfe der
Küſterin eifrig in der Kammer umher, aus welcher
man den Greis hinweggetragen hatte. Sie war nun
ſchon drei ganze Tage von ihrer Wirthſchaft fort und
mußte ſorgen, daß man hier bald fertig ward, denn
noch lange vom Hauſe wegzubleiben, hatte ſie nicht Zeit.
Hulda hörte nicht, was der Amtmann und der
Adjunkt beſprachen, ſie bemerkte es auch nicht, wie und
was Ulrike in der Kammer ſchaffte. Sie ſtand am
Tenfter und ſah hinüber nach der Stelle, an der fie
ihren Vater eingeſenkt hatten. So hatten ſie einſt
dageſtanden, der Vater und die Mutter und auch ſie,
als die Kunde von dem Tod des Grafen in das Dorf ge—
kommen war, und damals war es geweſen, daß ſie
zuerft der Nothwendigkeit gedacht hatte, einmal erleben
zu müſſen, was ſie heute erlebte.
„Unſer Leben fährt dahin wie ein Traum und
wie ein Rauch!“ hatte der Vater damals ausgerufen,
206
und Schöne, erhebende Worte Hatte er daran geknüpft.
Sie erinnerte ſich ihrer wohl. Er war ſchon damals
matt und ſchwach geweſen. Sie wußte es noch ganz
genau, wie die Mutter ihn ängſtlich angeſehen, wie ſie
fie dann an ihre Bruſt gedrückt, und wie die Vorſtel⸗
lung ſie darauf ergriffen hatte, daß ſie einmal mit der
Mutter werde von dem Hauſe ſcheiden müſſen, ſich
eine neue Heimat aufzuſuchen. — Mit der Mutter!
— Und jetzt war ſie allein, ganz verlaſſen und allein
— verlaſſen auch von ihm!
„Wenn er es wüßte!“ rief es in ihrem Herzen
und laut aufweinend wider ihren Willen, ſank fie auf.
den Stuhl am Fenſter nieder und verbarg ihr Antlitz
in den Händen.
Dem Amtmanne ging es nahe, wie er das ſah
und hörte. Es war ihm überhaupt ſehr weich um's
Herz, und der ſchwarze Anzug, den er nur bei großen
Gelegenheiten trug und der ihm ſchon ſeit langen
Jahren viel zu eng geworden war, machte ſein ge⸗
rührtes Unbehagen noch weit ärger.
„Nimm Dich zuſammen, Kind,“ rief er Hulda
freundlich zu, „komm' her, genieße Etwas, es hilft ja
Nichts, in das Grab kannſt Du Dich doch nicht legen,
und es blos zu denken iſt eine Sünde! Sieh nicht
dort hinüber, komm' her! Ich bin hier und der Herr
Adjunkt iſt hier; und er und ich, wir meinen es gut
mit Dir! Komm' her, mein Kind!
„Ich fühl' das ja, lieber Onkel, und ich dank
es Ihnen! Und auch Ihnen danke ich für alle die
Güte, die Sie mir erwieſen haben, und — für die
207
Thränen,“ fügte fie hinzu, indem fie dem Adjunktus
ihre Hand gab, „die Sie auf meines lieben Vaters
Grab geweint haben. Die werd' ich Ihnen nicht ver⸗
geſſen!“ |
„War er mir denn nicht ein Vater? Waren wir
denn nicht verbunden durch die Liebe, die wir für ihn
hegten, durch die Sorge, die wir um ihn trugen?“
ſagte der Adjunkt. „Ach, es wird auch für mich ſehr
einſam ſein hier in dem Hauſe, und ſehr traurig,
wenn Sie von hier gehen!“
Sie ſah ihn an, ſein ernſtes Auge ſprach noch
mehr als zu ſagen dieſe Stunde zuließ; und ſcheu
und ſchüchtern zog ſie ihre Hand zurück, während
Ulrike, welche die letzten Worte auch vernommen hatte, g
aus der Kammer in das Zimmer trat.
„Es iſt Rath für Alles! Es wird auch für Sie
ſchon Rath ſein, Herr Adjunktus,“ meinte Ulrike und
ſah mit ihren ſcharfen Augen um ſich her, als könne
ſie auch mit den Augen noch in aller Eile Etwas
ſchaffen oder thun. „Aber die Hauptſache iſt,“ fuhr
ſie fort, „daß die Hulda von hier forkommt, und daß
ich in meine Wirthſchaft komme, in der viel nachzu⸗
holen iſt und wo ſie mit Hand anlegen kann. Das
wird ihr gut thun, ganz gewiß; das thut Jedem gut,
denn leben hilft leben! Und wenn ſie nur erſt eine
Nacht in ihrer alten Stube bei uns geſchlafen haben
wird, ſo können wir ja ab und zu auch hier wieder
nachſehen kommen, und dann wird es ſich ja ſpäter
finden, wie es mit ihr wird und wo ſie hin ſoll.“
208
Sie hatte das auf ihre Weiſe gut gemeint und
ſich alle die Tage hindurch auch gutwillig gezeigt, denn
große Unglücksfälle hatten auf ſie immer eine erhebende
und für den Augenblick auch ihre Geſinnung reinigende
Wirkung, nur daß die Erhebung und Veredlung nicht
eben lange währten und daß ſelbſt ihrer Milde noch
immer genug Schärfe und Herbigkeit innewohnten,
um die Schmerzesäußerung zurückzudrängen und die
Thränen gefrieren und verſiegen zu machen, die zu
ſtillen ſie gekommen, und die zu trocknen ihr nicht ge⸗
geben war. Aber ſie wußte ſich damit Etwas und
rühmte es von ſich, daß man in ihrer Gegenwart ſich
auf das Weinen und Klagen nicht verlege, weil ſie
herzhaft ſei und kräftig, und alſo die Menſchen auch
gleich auf herzhafte und kräftige Gedanken bringe.
Hulda hatte ſchon am Abende vorher das für ſie
Nöthige zuſammenpacken müſſen. Die Trauerkleider,
die ſie nach der Mutter Tod getragen, waren noch
zur Hand geweſen, und mehr bedurfte ſie ja für das
Erſte nicht. Des Amtmanns Wagen ſtand und war⸗
tete, die Pferde wurden ungeduldig. Mamſell Ulrike
hing ſich das ſchwarze Tuch um, welches ſie immer
umlegte, wenn ſie zu Leichen fuhr. Der Amtmann war
auch aufgeſtanden, Hulda's kleines Köfferchen hatte der
C hriſtian hinten feſt auf dem Wagen aufgeknebelt.
„Nun können wir wohl fort!“ ſagte der Amt⸗
mann, indem er ſeine Uhr herauszog.
Hulda ſetzte ihren Hut auf und nahm das Körb⸗
chen in die Hand, in das ſie noch die letzten Stücke
eingepackt hatte. Ulrike ging an den Tiſch, auf dem
e
209
die Kuchen und der Wein ftanden, die fie aus dem
Amte zum Begräbniß hatte kommen laſſen und ſah,
wie viel davon noch übrig war. „Verſchließen Sie
das doch, Herr Adjunktus!“ rieth ſie, „auch den
Kaffee und den Zucker. Im Uebrigen wird die Frau
Küſterin ſchon für Sie ſorgen, ich hab' ihr Alles über⸗
geben und angewieſen; und wenn Sie dazwiſchen
herüberkommen wollen, das Wetter iſt ja noch immer
ſchön, ſo kommen Sie nur. Ein Platz am Tiſch iſt
immer da.“
Der Adjunkt dankte ihr, aber ſeine Seele war
nicht dabei. Er allein ermaß, was in dem armen
Mädchen vorging. Auch er hatte einen Verluſt er⸗
litten in dem Greiſe, deſſen milde, menſchenfreund⸗
liche Geſinnung dem jüngeren Amtsgenoſſen aufklärend
und erziehend zu Hilfe gekommen war, deſſen ſchlichte,
tiefe Frömmigkeit ihn aus den Feſſeln einer überſtrengen
Kirchlichkeit zu befreien und ihn dem Leben in werk⸗
thätiger Duldung zuzuwenden begonnen hatte; und
auch er erlebte ein Scheiden in dieſer Stunde, das
ihm durch das Herz ſchnitt. Er war es ſo gewohnt,
Hulda zu ſehen, auf ihr Gehen und Kommen im
Hauſe zu achten, wenn er in ſeinem Erkerſtübchen ſaß;
ihre Stimme zu hören, wenn er in das Zimmer zu ebener
Erde eintrat. Nun ſollte er das entbehren! Nun
ſollte er ſie gehen laſſen und nicht wiſſen, ob ſie
wiederkehren, zu ihm wiederkehren würde, um nicht
wieder von ihm fortzugehen? Er ſtand neben ihr und
ſah ſie an, und folgte ihrem ſchwermüthigen Blicke,
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 14
210
der ſich im Scheiden zögernd noch an jeden Platz,
an jede Ecke und an jedes Möbel heftete.
„Sie werden es ja nicht vergeſſen!“ ſagte er
endlich. |
„Wie könnte ich?“ gab ſie ihm zur Antwort.
„Vergeſſen Sie auch mich nicht,“ bat er. „Den⸗
ken Sie bisweilen meiner, ich werde hier für Alles
ſorgen!“ |
„Sie kommen auch wohl bald in das Amt hin=
über!“ entgegnete ſie ihm, und er hörte an ihrem
Tone, daß ſie darauf hoffte. Er war ja der Einzige,
mit dem ſie von dem Vater reden konnte, wie es ihr
um das Herz war. Er und er allein hatte mit ihr
die Sorge um den Greis getheilt, ſeit ſie wieder in
dem Pfarrhauſe weilten, und er allein wußte auch,
daß für ſie nun Alles aus und zu Ende war, ſeit ſie
den Ring zurückgeſendet hatte. Sie reichten einander
und drückten einander die Hände. Ulrike ſaß ſchon
feſt in ihrem Wagen, der Amtmann ſtand an dem
Schlage. Der Adjunkt geleitete das von ihm geliebte
Mädchen ſtill hinaus und half ihm einſteigen, denn
die Augen Hulda's ſchwammen in Thränen.
Chriſtian, der auf dem Bocke ſaß, merkte davon
Nichts. Er ſchwang die Peitſche in dem unvergleich-
lichen, weithin ſchallenden Doppelſchlag, an dem ihn
in der ganzen Gegend Jedermann erkannte, die Brau⸗
nen zogen luſtig an, weil es endlich nun nach Hauſe
ging. Die Küſterin und die Magd weinten ihre bit⸗
teren Thränen. Im Dorfe traten die Leute unter die
Thüre. Es trocknete ſich Mancher ſtill die Augen ab.
211
Sie grüßten von rechts und grüßten von links, ſagen
that Keiner Etwas.
Der Adjunkt konnte es nicht mit anſehen, daß ſie
von dannen fuhr. Er ging in das Haus zurück und
in ſein Erkerſtübchen. Da hatte er ſie nie geſehen,
da konnte er verweilen ohne ſie. Er ſetzte ſich hin
und ſah auf das Meer hinaus und überdachte, was er
hier erlebt hatte. Und wie er ſaß und ſann, da fühlte
er plötzlich, daß ſeine Gedanken wieder bei ihr waren,
und mit Sehnſucht vorwärts blickend, rief er: „Möge
ihr Eingang einſt geſegnet ſein, wenn der Herr, der
mir gnädig geweſen iſt bis auf dieſe Stunde, ihr Herz
alſo lenkt, daß ſie wiederkehrt in dieſes liebe Haus!“
Er blieb den ganzen Abend ſtill bei ſeinen Büchern
ſitzen, und war zufrieden, daß ihn Niemand ſtörte, daß
er traurig ſein durfte nach Herzensluſt.
14*
Hiebenzehntes Capitel.
—
Das Stübchen, welches Hulda in dem Amte inne⸗
gehabt hatte, ehe man ſie zu Miß Kenney hinüber⸗
genommen, ward wieder für ſie aufgethan; man
ſchaffte ihre Sachen ſchnell hinein. Sie ſollte ſich nur
Alles gleich zurechte machen, ſagte die Mamſell, danach
ſolle ſie dann zu ihr kommen, und ſie wollten weiter
zuſehen. |
Das Einrichten war bald beſorgt. Sie war leicht
damit fertig, denn ſie war ſo unglücklich, daß ſie auf
ihr äußeres Behagen keinen Werth legte und Nichts
empfand, als daß ſie eben lebte und leben mußte.
Dazu hatte Hulda ſeit der Mutter Tod allein ihr
Haus verſorgt, und weil ſie in dieſem Augenblicke
keinen eigenen Wunſch und kein Verlangen hatte, war
ihr jede Arbeit recht und lieb, welche ihr dazu ver⸗
half, an jedem Tage die Stunden deſſelben zu über⸗
winden.
Mamſell Ulrike ſah das gern. Sie fand, daß
dem Mädchen die Arbeit jetzt ganz anders als vordem
von Händen gehe, nur daß Hulda gar ſo ſtill war,
213
das gefiel ihr nicht und gefiel ihr mit jedem neuen
Tage weniger. Sie mochte nun einmal keine Men⸗
ſchen um ſich haben, die nicht bei ihrer Arbeit redeten,
ſie mißtraute Denen ſogar ein- für allemal, die ſo
ſchweigend und in ſich verſunken herumgehen konnten,
denn ſie wußte das aus eigener Erfahrung: gute,
offenherzige Menſchen haben immer das Herz auf
ihrer Zunge ſo wie ſie. Was hatte Hulda denn auch
zu verſchweigen? Daß ſie traurig war, das ſah man,
das konnte ſie auch einem Jeden ſagen. Sie war in⸗
deſſen, wer weiß wie lang, auf ihres Vaters Ende vor—
bereitet geweſen, und es war ein großes Glück zu
nennen, daß er endlich noch entſchlafen war, ehe ſein
Augenlicht ihn ganz verlaſſen hatte. Um den Baron
konnte ſie ſich jetzt doch auch nicht mehr ſo härmen,
da er ſie vergeſſen hatte und auf dem Punkte ſtand,
ſich eine Frau zu nehmen, wie ſie ihm gebührte.
Hulda konnte es jetzt ja deutlich ſehen, daß es ihm
nie Ernſt geweſen war mit ihr. Wenn ſie ſich aber
etwa Hoffnungen auf den Herrn Adjunktus machen
ſollte, ſo war das wieder einzig ihre Schuld. Der
Adjunktus konnte doch unmöglich daran denken, ſie,
über die hierorts und rundherum ſoviel geredet mor-
den war, zur Frau zu nehmen. Das lag ja Alles
auf der Hand, das mußte Jeder ſehen, wie Mamſell
Ulrike meinte. Und weil ſie, wie ſie gleichfalls meinte,
ein ganz redliches Gemüth war, ohne Falſch und ohne
Hinterliſt, ſo brauchte ſie auch kein Blatt vor ihren
Mund zu nehmen, und durfte unumwunden ſagen,
was ſie dachte.
214
Kein Tag verging deshalb, an welchem fie das
Hulda nicht erklärte. Sie waren niemals bei einander,
ohne daß die Mamſell ihr vorhielt, wie es nun genug
des Trauerns wäre, und wie ſie ſich tapfer aus dem
Sinne ſchlagen müſſe, was nicht zu ändern ſei. Ein
trauriges Geſicht und einen ſtummen Menſchen um
ſich und neben ſich zu haben, das gehe ihr gegen die
Natur. Vorwärts! das ſei die richtige Parole für
Alt und Jung, für Mann und Weib. Vorwärts mit
Courage! damit komme man auch vorwärts.
„Vorwärts! — Vorwärts!“ Hulda hörte das in
einemfort, es war zuletzt das Einzige, was ſie von
Ulrikens Reden hörte, was ſie ſich ſelber ſagte und als
Nothwendigkeit erkannte. Denn dauernd in der quäle⸗
riſchen Nähe der ihr abgeneigten und raſtloſen Mamſell
zu bleiben, daran konnte ſie ebenſowenig denken, als
an eine Ehe mit dem Pfarr⸗Adjunkten, wenn ihr dieſer
ſeine Hand antragen ſollte. Ihr Herz und ihr Ge—
wiſſen lehnten ſich gleichmäßig dagegen auf.
„Aber was denn ſonſt?“ fragte ſie ſich oftmals.
Was thun? Was beginnen in der Welt, die ihr ſo
fremd und eben deshalb ſo troſtlos leer und weit erſchien.
Sie ging in mancher nächtlichen Stunde, die ſie
bang durchwachte, alle ihre Möglichkeiten durch. Sie
hatte mancherlei Kenntniſſe erworben; der Vater ſo⸗
wohl als Miß Kenney hatten ihr oftmals wiederholt,
daß ſie im Stande ſei, als Lehrerin in guten Familien
ihren Platz mit Ehren auszufüllen. Aber ſolch eine
Stellung fand ſich ja nicht gleich, und — darüber
hatte ſie ſich auf die Länge nicht verblenden können —
215
hier in ihrer Heimat Stand ihr ein Vorurtheil im
Wege, dem ſie nicht entgegenzutreten wußte. Man
hatte ſie verdächtigt, ihr guter Name war angegriffen,
und wenn ihr Bewußtſein ſie auch freiſprach, ſie hatte
in den letzten Jahren durch die lächelnden Mienen,
durch die thörichten Fragen und die unvernünftigen
Anſpielungen der wenigen Frauenzimmer, mit denen
ſie zuſammengekommen war, ſchon genug gelitten. Sie
ahnte es ſeit lange, daß Ulrike ganz allein dieſe
Zweifel an ihrer Sittlichkeit erregt haben konnte, und
ſie mochte nicht in einer Umgebung bleiben, in wel⸗
cher ſie ſich gegen ein heimliches Uebelwollen unab⸗
weislich zu vertheidigen hatte. Aber wohin? an wen
ſich wenden? von wem den Rath begehren, den Bei⸗
ſtand fordern, deren ſie ſo ſehr benöthigt war. Sie
ſtand immer wieder vor derſelben bangen Frage.
Sie dachte daran, daß die Gräfin es zu ver⸗
ſchiedenenmalen den verſtorbenen Eltern zugeſagt hatte,
ſich ihrer anzunehmen. Die Gräfin hatte es auch dem
Amtmann, als dieſer ihr des Pfarrers Tod gemeldet,
ausdrücklich wiederholt, daß ſie ihre Hand von Hulda
nicht abzuziehen denke, daß dieſelbe ihre Wünſche nur
auszuſprechen habe, und daß ſie gerne bereit ſei, ſich
für ſie um ein Unterkommen zu bemühen, wenn Hulda
vielleicht die verſtändige Abſicht hegen ſollte, im Aus⸗
lande als Gouvernante ſich eine Stellung zu erwerben.
Aber in des armen Mädchens Seele erweckte dieſes
Anerbieten Nichts als einen Mißton. Denn eben von
der Gräfin irgend einen Beiſtand zu begehren, dazu
hätte ſie in der größten Noth ſich kaum entſchloſſen.
216
Sie wußte, was die Gräfin damit meinte,
wenn ſie ſie auf das Ausland hin verwies, und doch
durfte man ſich, wie Hulda meinte, wohl darauf ver-
laſſen, daß ſie Ehrgefühl genug beſaß, ſich von dem
Manne fern zu halten, der ihr zu begegnen nicht mehr
wünſchen konnte. Sie hatte ihm ja unaufgefordert
das Liebespfand zurückgeſendet, mit dem er ſich ihr
einſtmals anverlobt.
Sie kannte ſich oft ſelbſt nicht wieder, wenn ſie
in ihrer Einſamkeit mit ſich zu Rathe ging. Sie
wußte nicht, weshalb ſie nicht mehr zu vertrauen, nicht
mehr mit ſo gutem Glauben um ſich her zu blicken
vermochte. Sie erſchrak vor ſich ſelbſt, wenn fie ge=
wahrte, wie ſcheu ſie geworden war, ſeit ihres Vaters
Haus und Anſehen ſie nicht mehr beſchützten. Sie er⸗
ſchien ſich hier unter den Menſchen, neben denen ſie
herangewachſen war, wie verlaſſen, wie fremd und aus⸗
geſtoßen; und während dieſe Gefühle ſie ängſtigten
und quälten, kam es ihr wie die einzige Rettung vor,
von hier fortzugehen, an einen anderen Ort, an wel⸗
chem ſie zwar noch fremder, noch verlaſſener ſein mußte,
aber an dem ſie nicht wie hier, immer nur an ſich zu den⸗
ken hatte, immer nur das Gleiche ſah und hörte, immer
wieder in ſich ſelbſt zurückgewieſen ward. Glück, das
gab es für ſie nirgends. Was alſo konnte ſie für ſich
begehren, als ihr Unglück und womöglich Alles zu
vergeſſen, was ihr Herz bedrückte, ihren Sinn ver⸗
düſterte. Aber — wohin? Und was beginnen und
wem ſich anvertrauen? |
217
Der Fürſt und die Fürſtin hatten fich ihr im
Schloſſe vorzugsweiſe geneigt erwieſen. Clariſſe war
überhaupt ihr Ideal. In den wenigen glücklichen Tagen,
welche nach Hulda's Krankheit bis zu der Abreiſe des
Barons vergangen waren, hatte die Geneſende ſich der
Hoffnung hingegeben, die junge Fürſtin werde nicht,
wie die Gräfin, ſich ihrer Verbindung mit Emanuel
entgegenſtellen, ſie werde ihr es gönnen, von ihm ge⸗
liebt zu werden, ſie werde ihr helfen, ſich auf dem
Platze zu behaupten, auf den er ſie zu ſtellen dachte.
Ihr Vertrauen in Clariſſen's Herzensgüte war ſehr
groß. Erfahren mußte die Fürſtin es jetzt durch ihre
Mutter ohne Frage haben, daß der Pfarrer hingegan⸗
gen war, und doch hatte ſie Hulda kein Zeichen ihrer
Theilnahme gegönnt. Freilich, der Fürſtin Leben war
ſo bewegt und reich. Es gingen in dem beſtändigen
Wechſel ihres Aufenthaltes ſo viele Menſchen raſch an
ihr vorüber, und ſie war ſo glücklich. Sie konnte es
ja nicht ermeſſen, welch ein Segen dem Einſamen,
der ſich verlaſſen fühlt, ein Wort des Troſtes werden
könne. Sie mochte der armen Pfarrerstochter vielleicht
vergeſſen haben, ſie konnte auch, wie ſo mancher Andere,
irre an ihr geworden ſein, wenn Etwas von den ver⸗
dächtigenden Gerüchten zu ihr gedrungen war, welche
der gewiſſenloſe Michael im Schloſſe verbreitet hatte;
und von Clariſſe zurückgewieſen, von der Schwelle
fortgeſchickt zu werden, die ſie einſt als Angehörige
des Hauſes frohen Herzens zu betreten gehofft hatte,
vor dieſer bitteren Möglichkeit wollte ſie ſich wenigſtens
bewahren. g
218
Wie fie nun immer länger auf dieſen Vorſtel⸗
lungen verweilte, traten alle die kleinen Kränkungen,
welche ſie in den beiden letzten Jahren von ihren
wenigen Bekannten erfahren hatte, in ihrer Erinne—
rung ſchärfer und deutlicher hervor, und jene Ver—
zagtheit, welche faſt noch ſchlimmer iſt als das Unglück
ſelbſt, bemächtigte ſich ihrer. Sie fing an, ſich ihres
Unglückes zu ſchämen. Sie ſchämte ſich endlich ſogar
ihrer Liebe und der Hoffnungen, welche ſie dereinſt
auf ſie gebaut hatte. Sie konnte es nicht aushalten,
wenn man ſie anſah, weil ſie meinte, man wolle ſich
überzeugen, wie ſie ſich in die Zerſtörung aller ihrer
Lebensausſichten zu ſchicken wiſſe. Sie mochte dem
Adjunkten nicht mehr begegnen, ſo dankbar ſie ſich ihm
verpflichtet fühlte, denn ſie konnte ihm nicht lohnen,
wie er es wünſchte. Kurz Alles, was ſie ſah und
hörte und was ſie hier umgab, ward ihr zur Pein,
und das Verlangen, zu vergeſſen und vergeſſen zu
werden, und an einen Ort zu kommen, an dem Nie⸗
mand von ihr wußte, wurde immer überwältigender
in ihr.
Darüber ſchwanden die Wochen hin und im Amte
fing es an, recht luſtig herzugehen. Da die Herr⸗
ſchaften wieder fort waren, hielt der Amtmann
mit den Gutsbeſitzern und den Freunden aus der
Nachbarſchaft die großen Jagden ab; nach einer Ernte,
wie man ſie in dieſem Jahre hierzulande gehabt hatte,
brauchte man nicht ängſtlich zu berechnen, ſondern
konnte etwas daraufgehen laſſen. Es gab der Gäſte
und der Arbeit viel im Hauſe, und es war eine Reihe
219
von Tagen hingegangen, ehe Hulda an den Amtmann
die Bitte richten konnte, er möge mit ihr einmal nach
dem Pfarrhauſe hinüberfahren, wo ſie ſeit des Vaters
Tode nicht wieder hingekommen war.
Der Amtmann, der ſie nach wie vor gern in ſeiner
Nähe hatte, war an dem Morgen beſonders gut auf-
gelegt, und wie er denn überhaupt mit ihr zu ſcherzen
liebte, ſagte er: „Hält es die Woche über nicht mehr
vor? Wir ſind heut' erſt am Donnerſtag und Sonn⸗
tags war ja der Herr Adjunktus hier. Aber mir iſt
es nicht zuwider. Fuhrwerk iſt frei und ich hab' auch
eben Zeit.“ Damit ſtand er auf, um den Kutſcher.
herbeizuſchaffen. Hulda trat ihm in den Weg.
„Onkel,“ ſagte ſie verlegen, „Sie wiſſen es wohl,
das habe ich nicht gemeint. Um den Adjunktus war
mir es nicht, aber alle meine Sachen ſind noch in der
Pfarre.“
„Und Du willſt nach dem Deinen ſehen! Das
iſt recht, mein Schatz!“ fiel der Amtmann ihr in das
Wort, „das wird dem Adjunktus wohl von Dir ge—
fallen.“
„Ich dachte nicht an das Nachſehen, Onkel; ich
wollte mir nur von dort herüberholen, was ich für
die kalten Tage brauche, und vielleicht ein paar Bücher,
und den Nähtiſch von der Mutter, wenn es ſein kann,“
entgegnete ſie ihm, um ihn abzulenken von dem Scherze,
der nicht nach ihrem Sinne war. Aber hinter dieſem
Scherze verbarg ſich bei dem treuen Freunde ſein
voller, gutgemeinter Ernſt, und ihr auf die Schulter
klopfend, ſagte er: „Deine Kleider und Deinen Mantel
220
und die Bücher, Die wollen wir Dir holen, Schatz!
Das Uebrige, das laß Du nur in Gottes Namen ſte⸗
hen. Das hat dageſtanden alle die Jahre lang und
wird mit Gottes Hilfe auch die kommenden Jahre
dorten ſtehen, wenn ich es auch nicht in Abrede ſtellen
will, daß ich und Du — denn Du haſt ja jetzt Dein
eigen Geld von Mamſell Kenney her — daß ich und
Du nicht hie und da ein neues Stück, eine Wiege
oder ſo Etwas, dazwiſchenſtellen werden. Ihr kommt
von Vaters Seite aus dem Hauſe her, und es iſt gut
und ſchön, daß ſich auch wieder Einer zu Dir gefun⸗
den hat, dem das alte Haus in das Herz gewachſen
iſt, und neben dem Du dort ſicher und in Frieden ſitzen
wirft Dein Lebenlang, wie Dein Vater und Deine
Mutter dort gewaltet und gelebt haben bis an ihr ſelig
Ende.“
Er war, ohne ihr Zeit zu einer Antwort zu laſſen,
nach dem Fenſter gegangen, um mit dem Eulenpfiff,
den Jeder anf dem Gute kannte, das Zeichen zu geben,
daß der Hofmann kommen ſollte, dem es oblag, den
Leuten die Befehle des Amtmanns zu übermitteln.
Wie er aber das Fenſter öffnen wollte, kam des Ober⸗
förſters Wagen in den Hof. Mamſell Ulrike rief nach
Hulda; aus der Fahrt in das Pfarrhaus konnte heute
nun Nichts werden, und dem Mädchen war das lieb
und recht. Es mochte gar nicht daran denken.
Wie eine Laſt, unter der ſie ſich nicht regen konnte,
wie eine ſchwere Angſt waren des Amtmanns gut⸗
gemeinte Worte: „Dort wirſt Du ſitzen Dein Leben⸗
lang“ auf Hulda herniedergefallen. Alle die langen,
—
——
221
bangen Tage, alle die ſchweren Stunden, die fie im
Pfarrhauſe in den letzten Jahren zu durchleben gehabt
hatte, hingen für ihr Empfinden über demſelben wie
der Deckſtein eines Grabgewölbes, der ſich nun auch
über ſie herniederſenken ſollte. Die Ausſicht, ihr ganzes
Leben lang immer und immer an dem kleinen Fenſter
zu ſitzen, an dem ſie geſeſſen von früher Kindheit an,
immer nur die Kirche vor Augen zu haben und den
Kirchhof, und immer Nichts zu hören, als das Wogen
und Rollen der Wellen und den ſchrillen Schrei der
Möwe, die über die Ufer nach dem Meere eilt, das
war ihr entſetzlich. Es ſchnürte ihr das Herz zuſam⸗
men. Es war ihr, als gäbe es hier nicht mehr den
Frühling und nicht den ſommerlichen Sonnenſchein,
an dem ſie ſich doch ſonſt erfreut hatte. Die unbe⸗
ſtimmte Sehnſucht, mit der ſie ſchon in früher Kind⸗
heit dem Fluge der weit hinwandernden Vögel nach⸗
geſehen, bemächtigte ſich ihrer mit neuer und ſtärkerer
Gewalt. Es zog ſie förmlich in die Ferne hinaus
aus der Enge und der Bewegungsloſigkeit, die fie hier
in Feſſeln ſchlagen ſollten. Und das ſollte das Glück
ſein, das größte Glück, auf welches zu rechnen für fie
möglich war? Nimmermehr! Die Lebensluſt und
Lebensfülle in ihrem Innern empörten ſich dagegen.
Es ſtiegen ein Zorn, ein Trotz gegen ihr Schickſal in
ihr auf, wie ſie ſie nie zuvor gefühlt hatte.
„Soll ich dazu jung und ſchön ſein,“ dachte ſie,
und ihre Wangen erglühten vor Scham, wie ſie ſich
Das eingeſtand, „dazu jung und ſchön ſein, um hier
in grauer, träger, freud⸗ und hoffnungsloſer Einſamkeit
222
ein Daſein zu vertrauern? Und ſoll ich Liebe heu—
cheln, einen braven Mann betrügen, einen Meineid
ſchwören, um mir dies traurige Geſchick erſt zu erkau—
fen? — Nimmermehr!“
Sie wendete, ohne zu überlegen, was ſie that,
ihr Antlitz nach dem Spiegel hin, es ſtrahlte ihr in
dem hellen Scheine der Nachmittagsſonne leuchtend
aus demſelben wider. Ihre blonden Flechten ſchim⸗
merten wie Gold. „Ein Käthchen, wie es im Buche
ſteht!“ hatte der Theater⸗Direktor gejagt, al er ſie bei
Gabriele angetroffen hatte.
Sie wußte nicht, wie grade dieſe Worte ihr
eben jetzt mitten in ihrer Traurigkeit in den Sinn
kamen, aber ſie klangen ſo deutlich in ihr wieder, als
hätte ein Anderer ſie in ihrer Nähe ausgeſprochen, und
Alles, was an jenem Morgen geſchehen war, an wel⸗
chem ſie dieſelben von des Direktors Mund vernom⸗
men, wurde mit einmal in ihr lebendig.
Sie ſah Gabriele wieder vor ſich auf der Bühne,
in all ihrer Erhabenheit, getragen von der Bewunde⸗
rung jenes Publikums, das mit athemloſer Freude zu
ihr emporblickte; ſie war wieder bei ihr in dem trau⸗
lichen Gemach, in welchem an dem kalten Winter⸗
morgen die ſchönſten Blumen ſie umgaben. Sie ſah
Briefe ankommen von hier und dort, ſah wieder den
Direktor mit einſchmeichelnder Huldigung als Bittenden
vor der ſelbſtgewiſſen, heiteren Künſtlerin erſcheinen.
Die prächtigen Koſtüme, welche die Kammerfrau durch
das Zimmer trug, die werthvollen Schmuckſachen, die
zierlichen Kleinigkeiten, die auf den Tiſchen umher⸗
223
gelegen hatten: fie erinnerte ſich jedes einzelnen Stückes.
Auch der Verhandlungen, welche zwiſchen dem Diref-
tor und der Künſtlerin gepflogen worden waren, ent-
ſann ſie ſich genau. Gleich damals hatten ihr die
Hindeutung auf die Reiſen, auf den Ortswechſel, die
Gabrielen bevorſtanden, das Herz vor Sehnſucht nach
gleichem Glücke ſchlagen machen; und wie ſie nun wie⸗
der daran dachte, klang ihr des Amtmanns wohl-
gemeintes: „Dort wirſt Du ſitzen Dein Lebenlang,“
immer in dem Pfarrhauſe, immer an derſelben
Stelle, wie der härteſte Bann, der über eines
Menſchen Daſein ausgeſprochen werden konnte, wie
der böſe Fluch einer feindlichen Fee, der das Leben-
dige in Stein verwandelt und zur Unbeweglichkeit
verdammt.
Wer aber zwang ſie denn, ſich ſolchem Fluche
ohne Widerſtand zu unterwerfen? Sie hatte ihrem
Vater gehorſamt, ſo ſchwer ihr es angekommen war.
Ihre Jugend, ihre Liebe, ihre Ausſichten auf das er—
ſehnteſte und neidenswertheſte Glück hatte ſie ihm ſtill
geopfert. Jahre des Schmerzes und der hoffnungsloſen
Trauer hatte ſie durchlebt, von denen nur ſie es wußte,
wie ſchwer die einzelnen Stunden auf ihr gelaſtet und
wie langſam ſie ihr hingegangen waren. Jetzt hatte
ſie nicht Vater und nicht Mutter, jetzt hatte ſie nicht
die geringſte Hoffnung mehr, dem geliebten Manne
zu gehören. Sie war ganz allein, es lebte Niemand,
gegen den ſie Pflichten, der an ſie Rechte hatte. Wes⸗
halb ſollte ſie ſich freiwillig in ein Schickſal fügen,
224
vor dem ihr graute wie vor einem langen, leidens—
vollen Sterben? Nimmermehr!
Gabriele war das einzige Menſchenweſen, vor
dem ſie von ſich und ihrer Liebe frei geſprochen, weil
ihr warmes, verſtändnißvolles Auge ihr das Herz er—
ſchloſſen, weil ihre Güte ihr dazu den Muth gemacht
hatte. Sie hatte kein Wort vergeſſen von Allem, was
die Künſtlerin ihr damals ernſt und wenig tröſtend
zu bedenken gegeben hatte. Es war Alles gekommen,
wie die Welterfahrene es vorausgeſehen. Hulda hatte
jetzt ſelber ihren Weg zu ſuchen, und wie zu einer
jener fernen Leuchten, zu denen der verirrte müde
Wanderer ſeine Blicke wendet, richteten Hulda's Ge⸗
danken ſich auf die berühmte Frau.
Gabriele hatte ihr es ausdrücklich erlaubt, ſich an
ſie zu wenden, wenn ſie jemals auf ihrem Lebenswege
ſich ihres Rathes, ihres Beiſtandes bedürftig fühlen
ſollte. Je länger, je feſter ſie ſich die Vorgänge jenes
Morgens zu vergegenwärtigen ſtrebte, um ſo unwider⸗
ſtehlicher ſetzte ſich in ihr die Ueberzeugung feſt, an
welchen Lebensweg die Künſtlerin für ſie gedacht, zu
welchem Zwecke ſie ihr ihren Beiſtand angeboten
hatte.
Auf das Theater gehen! Schauſpielerin werden!
— Es fuhr blendend und erſchreckend wie ein jähes
Licht durch den Sinn der Pfarrerstochter, und doch
war ihr die Vorſtellung nicht neu. Tag und Nacht
hatte dieſelbe ſie beſchäftigt, als ſie Gabriele geſehen,
und vollends, nachdem fie mit ihr den Romeo ges
leſen, und den unvergeflichen Morgen in ihrem Zim⸗
225
mer zugebracht hatte. Ohne daß fie es gewollt, hatte
ſie ſich danach in den langen, einſamen Tagen im
Pfarrhauſe es ausgemalt, wie es ihr ſein würde, wenn
ſie daſtünde vor den Augen eines ihr huldigenden
Publikums. Mit heimlichem Wohlbehagen hatte ſie
ſich der kleinen Erfolge erinnert, welche ſie bei den
gelegentlichen Darſtellungen im Schloſſe errungen,
und oft genug waren ihr die Worte des Direktors ein⸗
gefallen: „Auf das Theater führen alle Wege, wie
nach Rom!“
Damals hatte der Direktor ihr mißfallen. Sein
ganzes Behaben, die Dreiſtigkeit, mit welcher er ihr
entgegentrat, hatten ſie verletzt; indeß, das war im
Grunde ihre Schuld geweſen und nicht die ſeine. Was
hatte er ihr denn gethan? Ihre Aehnlichkeit mit Ga⸗
briele war ihm aufgefallen. Weil er ſie bei Gabrielen
fand, hatte er ſie für eine junge Schauſpielerin ge⸗
halten und ſie darauf angeſehen, welche Bedeutung
und welchen Werth ſie für die Bühne haben mochte.
Er hatte ihr Aeußeres, auf das ſo viel ankam, exa⸗
minirt, wie ihr Vater das geiſtige Vermögen der
Kinder geprüft hatte, welche ihm zum Unterrichte im
Chriſtenthume zugeführt worden waren; und ihres
Aeußeren, ihrer Mittel hatte ſie ſich nicht zu ſchämen.
Sie trat unwillkürlich wieder vor den Spiegel hin,
hob das Haupt ſtolz empor, und das Antlitz, das ſie vor
ſich hatte, ſtrahlte von einer ſiegreichen Selbſtgewißheit.
Ihre Gedanken gingen mit raſchem Fluge vor⸗
wärts, erhoben ſich zu weitgeſteckten, ruhmgekrönten
Zielen, aber mit der Gewiſſenhaftigkeit, a der ſie er⸗
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II.
226
zogen worden war, zwang fie fich, in ihren verlocken—
den Träumen innezuhalten und, rückwärts blickend,
ſich es vorzuſtellen, was jenen Ausſichten und Plänen
entgegenſtand, in denen fie ſich mit freudiger Auf-
regung zu wiegen angefangen hatte.
Sie wußte es, wie die Frauen, denen es be—
ſchieden iſt, in guten, wohlumfriedeten Familienver⸗
hältniſſen ein ruhiges Daſein behaglich hinzubringen,
geneigt ſind, über die dem allgemeinen Urtheile preis⸗
gegebene Bühnenkünſtlerin mit hochmüthiger und kurz⸗
ſichtiger Ungerechtigkeit zu urtheilen. Sie hatte gerade
in Bezug auf Gabriele Härten ausſprechen hören, die
ihr empörend geweſen waren und gegen welche ihr
Vater Gabriele und die Künſtlerinnen im Allgemeinen
in Schutz genommen hatte. Er war überhaupt keiner
von jenen engherzigen Eiferern geweſen, welche das
Theater verurtheilten; er hatte es vielmehr geliebt,
und hatte es als berechtigt anerkannt, daß Frauen ſich
der Bühne widmen, um jene Meiſterwerke darſtellen
zu helfen, an deren Aufführung er ſich noch erfreute,
als ſein Augenlicht erloſch und nur ſeines Geiſtes Auge
noch klar und hell geblieben war.
Sie hatte an den beiden Abenden, an denen ſie
Gabrielen ſpielen geſehen, lebhaft daran gedacht, mit
welch prieſterlicher Freude es die herrliche Frau erfüllen
müſſe, Tauſenden von Menſchen die Verkörperung und
die Vermittlerin der großen Dichterwerke zu ſein. Sie
hatte ſich oftmals im Geiſte die erſten Worte des
Dialoges wiederholt, mit denen Gabriele in der Auf:
führung des „Taſſo“ auf die Bühne getreten war.
227
Jetzt zum erſtenmale ſprach fie dieſelben mit lauter,
voller Stimme vor dem Spiegel für ſich ſelber aus,
und wie der Klang ihr Ohr berührte, ergriff er ſie
mit einer fortreißenden Gewalt und erſchütterte er ihr
das eigene Herz.
„Ja! ſo dazuſtehen auf der hohen Bühne, die
Blicke eines zuſtimmenden, bewundernden Publikums
an ſich zu feſſeln, es zu empfinden, wie in Hunderten
von Herzen das Schöne, das Erhabene, das die eigene
Bruſt mit bebender Begeiſterung erfüllte, wiederklang,
das mußte ein Glück ſein, über das man Alles ver⸗
geſſen konnte — Alles — auch verſchmähte Liebe und
gebrochene Treue. — Und wenn er dann daſäße unter
den Hunderten, die ihr huldigten und Beifall klatſchten,
wenn er ſich dann ſagen müßte: „Und Du haſt ſie
verſchmäht und haſt ſie aufgegeben und vergeſſen,
weil ſie ihre Pflicht gegen ihren armen alten Vater
höher geachtet als ihr eigenes, ach, ſo heiß erſehntes
Glück
Sie konnte nicht weiter, ſie ſchlug die Hände vor
das Geſicht, es wollte ihr das Herz brechen und ſie
mußte bitterlich weinen. Ihr Liebesleid, das ließ ſich
nicht vergeſſen!
Draußen fing es inzwiſchen allgemach ſtill zu
werden an. Der taktmäßige Schlag der Dreſchflegel
verſtummte, und die Dreſcher gingen, mit den ſchweren
Holzſchuhen auf dem Pflaſter des Hofes klappernd,
noch an Hulda's Fenſtern vorüber nach dem Dorfe.
Drüben machten der Hofmann und der Schäfer die
Thüren der Scheunen und der Ställe zu, die Eggen
35*
228
wurden zuſammengeſtellt, die Wagen neben einander
in gerader Linie aufrangirt. Am Brunnen ſcheuerten
und ſpülten die Mägde die Gefäße, deren man in den
Milchkammern bedurfte. Der Hofmann ging an ihnen
vorüber, machte einen Scherz mit der Jüngſten und
Derbſten unter ihnen, dann trat er in das Amt, die
Schlüſſel in der Schreibſtube aufzuhängen. Oben über
Hulda's Zimmer ſtimmte der Wirthſchafter ſeine Flöte,
um wieder eine der Melodien zu verſuchen, die klar
und rein herauszubringen ihm nun einmal nicht ge⸗
lingen wollte. Das war einen Tag ſo wie den an⸗
deren! Und ein Menſchenleben konnte doch lange Jahre
währen und der Tage waren ſo viel in einem Jahre!
Sie lehnte hinträumend am Fenſter. Drüben in
dem Schloſſe ſchimmerte nicht mehr der Kerzenſchein
wie in jenen glücklichen Tagen, die nicht wiederkehren
konnten. Aber durch die kleinen Scheiben ihres Fen⸗
ſters leuchtete das erſte Mondesviertel von dem hellen
Himmel freundlich in ihr Stübchen, und ihm zur
Seite ſchwamm der ſchöne Abendſtern ſanften Glanzes
durch das leichte ſchimmernde Gewölk. Sie konnte
ihre Augen nicht abwenden von den milden, tröſtlichen
Geſtirnen. |
„Die find treu, die werden mit mir gehen!“
ſagte ſie zu ſich ſelbſt; und wie über ihrem Haupte
das ſchwebende Gewölk, jo zogen in kaum merklichem
Entſtehen und Vergehen ihr traumhaft die Gedanken
durch den Sinn, bis der ſchrille Ton von Mamſell
Ulrikens Wirthſchaftsglocke ſie aufſchreckte und an ihre
Arbeit rief.
Achtzehntes Capitel.
Der Oberförſter hatte ſich bereden laſſen, die
Nacht im Amte zuzubringen, weil ihn gerade Nichts
nach Hauſe rief. Er war ein Mann noch in den
beſten Jahren, nicht weit in die Fünfziger hinein, war
kinderlos und hatte vor einigen Monaten ſeine Frau
verloren, ſo daß er froh war, wenn er aus dem leeren
Hauſe fort war, in welchem die Fran ihm an allen
Ecken und Enden fehlte. Er liebte eine gute Schüſſel,
ein gutes Glas, ein freundliches Geſicht; und wenn er
dieſe drei Dinge vor ſich hatte, ging ihm leicht das
Herz auf.
Der Amtmann und die Mamſell ſahen ihn Beide
gern kommen. Er war überhaupt angeſehen in der
Provinz, und da er häufig unterwegs und bald in
dieſem, bald in jenem Hauſe war, wußte er immer
Neues zu erzählen, und zwar von Dingen, von denen
in der Zeitung und in dem Amtsblatte Nichts zu
finden war. Er und der Amtmann waren gute
Freunde von Alters her, er ſtand auch mit Mamſell
Ulrike auf dem beſten Fuße. Er nannte ſie ein kluges,
230
Icharffichtiges Frauenzimmer, und ihre Schrullen und
Launen gingen ihn Nichts an, fie hielt ſich auch vor
ihm in Schranken.
Da er ſeit dem Tode ſeiner Frau öfter in das
Amt gekommen war, wußte Hulda, was für ihn zu
beſchaffen war, und machte ſich daran, es zu beſorgen.
Aber war es, daß die Mamſell heute eine andere Ein⸗
richtung im Sinne hatte oder hatte Hulda ihre Ge⸗
danken nicht genug beiſammen, kurz, ſie machte es
Jener wieder einmal in keinem Punkte recht. Ulrike
warf ihr vor, daß ſie keine Art von Hilfe von ihr
habe, daß ſie Alles ſelbſt bedenken, ſelber leiſten müſſe,
und wenn ſie erſt einmal in das Schelten kam, war
ſie in ihrem Eifer nicht gewohnt, ihre Worte auf die
Goldwage zu legen. Ihr Mißmuth und ihr Zorn
miſchten ſich dann wie Hagel und Regen und fielen
peinlich erkältend auf Jeden nieder, der in ihre
Nähe kam. |
Schon während des Abendeſſens hatte fie Hulda
bald offen, bald verſteckt getadelt, und Hulda hatte
ſchweigend zu verbeſſern geſucht, was der Erzürnten
nicht genehm geweſen war; als aber der Inſpektor und
die Wirthſchafter ſich entfernt hatten und die beiden
Männer ſich auf dem Sopha zu einander ſetzten, um
die Früchte und das Backwerk zu verzehren, die den
Nachtiſch bildeten, und bei einer Bowle ihre Pfeife
vor dem Schlafengehen zu rauchen, kam das Unwetter
von Ulrikens übler Laune ganz zu ſeinem Ausbruche.
Sie fand die Goldreinetten nicht blank genug geputzt,
das Waſſer kochte nicht genug, die Citronenpreſſe war
a —
231
nicht ſauber, der Tabakskaſten und die Fidibus dem
Herrn Oberförſter nicht zur Hand geſtellt. Sie kam
aus dem Verweiſen, aus dem verächtlichen Achſel⸗
zucken, aus dem verzweifelnden Kopfſchütteln gar nicht
mehr heraus. Es machte den Amtmann endlich un⸗
geduldig.
„So gib Dich doch zufrieden und laß ſie doch
in Frieden!“ ſagte er endlich und hieß Hulda ſich mit
ihrer Arbeit an dem Tiſche niederſetzen. Auch der
Oberförſter meinte, es ſei ja Alles gut und recht,
„und“, fügte er hinzu, „wenn Alles zu Allem kommt,
iſt doch ein fröhliches Geſicht noch beſſer anzuſehen,
als der allerſchönſte Apfel.“ Er erhob ſich bei den
Worten, rückte für Hulda einen Stuhl heran, und
zwar an ſeiner Seite, und machte ihr auf dem Tiſche
Platz, damit ſie ihr Nähkörbchen unterbringen könnte.
So aber hatte Ulrike es nicht gemeint.
„Beſtärken Sie ſie nur in dieſem Glauben, Herr
Oberförſter!“ rief ſie höhniſch, „nachher hat Unſereiner
es im Hauſe auszubaden. Unordnung läßt ſich nicht
weglächeln, und freundliche Mienen und vornehme
Manieren helfen in der Wirthſchaft nicht. Da muß
man auf den Kern ſehen. — Ich muß doch wohl am
Beſten wiſſen, was ich an ihr habe.“
„Aber Schweſter! Schweſter!“ zürnte der Amt⸗
mann, dem es verdrießlich war, daß ſie ſich in des
Gaſtes Beiſein in ihrer üblen Weiſe gehen ließ. Hulda
erhob ſich, um das Zimmer zu verlaſſen. Der Ober⸗
förſter hielt ſie bei der Hand zurück.
232
Er wußte von dem Amtmann, wie es Hulda mit
dem Baron ergangen war, er kannte auch das un—
nütze Gerede, mit welchem man die Arme in der Um⸗
gegend verfolgte, und weil er ſah, daß Hulda bei
Mamſell Ulrike keine guten Tage hatte, war es ihm
ein Bedürfniß ihr freundlich zu begegnen. Die gute
Art, mit welcher ſie ihre Obliegenheiten erfüllte, die
Freundlichkeit, mit der ſie dem im Amte geehrten
Gaſte ſtets entgegen kam, hatten ihm immer ein be⸗
ſonderes Vergnügen gemacht. Er fand dazu, wie die
meiſten älteren Männer, große Freude an der Jugend,
und er hatte es Ulriken nie verborgen, daß er, ebenſo
wie ihr Bruder, viel von Hulda halte und die beſte
Meinung von dem Mädchen habe.
Als nun an dem Abende die Mamſell des Ta⸗
delns und des Scheltens gar kein Ende finden konnte,
als ſelbſt des Amtmanns Mahnung ſie nicht zu be⸗
ſchwichtigen vermochte, meinte der Oberförſter ſie mit
einem Scherze zur Vernunft bringen zu können.
„Tante Ulrike! Tante Ulrike!“ warnte er, „ſehen
Sie ſich vor! Heute dürfen Sie Mamſell Hulda
nicht ſo ſchelten, denn heute hat ſie doppelten Suc⸗
curs!“
„Freilich!“ entgegnete Ulrike ſpitz, „darauf ver⸗
läßt ſie ſich ja auch!“
„Und daran thut ſie wohl!“ rief der Oberförſter,
immer noch im wohlgemuthen Scherze. Wenn es
die Tante Ihnen einmal gar zu arg macht, Mamſell
Hulda! ſo gehen Sie ihr davon und kommen Sie zu
233
mir. Solch einen guten Hausgeiſt könnte ich jult ge⸗
brauchen, und mir macht man es ſehr leicht zu Dank!“
Das freundliche Wort des wackeren Mannes war
dem Mädchen nach Ulrikens beleidigender Härte eine
Wohlthat, und die ſchönen ſchwermüthigen Augen auf
ihn richtend, ſagte Hulda: „Man thut ja auch ſo herz⸗
lich gerne, was man kann!“
Der Amtmann, der vor ſeinem Freunde weder
die Schweſter bloßgeben, noch Hulda Unrecht thun
laſſen wollte, meinte: „Du ſollteſt ſie auch wohl ver⸗
miſſen, Schweſter!“
„Ich?“ fragte die Mamſell, in einem Tone und
mit einer Miene, die bitterer und ſpöttiſcher nicht ſein
konnten.
Des Oberförſters gutes Herz empörte ſich gegen
dieſe Härte. Er konnte es nicht mit anſehen, daß man
das Mädchen ohne Anlaß ſchlecht behandelte, und einem
Einfalle, der ihm durch den Kopf ſchoß, raſch, ohne
viel Bedenken Worte gebend, ſagte er: „Ich habe es
im vollen Ernſte gemeint, Mamſell Hulda! Hier zu
bleiben, das halten Sie auf die Länge ja nicht aus,
und bei mir zu Hauſe brauche ich 5 Kommen
Sie zu mir!“
Ulrike traute ihren Ohren nicht. Daß man ſich
unterfangen wollte, ihrer Herrſchſucht und ihrem Ein⸗
fluß auf des Mädchens Schickſal ſo mit einemmale
ein Ziel zu ſtecken, das ſchien ihr eine nicht zu er⸗
tragende Vermeſſenheit zu ſein, und von ihrer zor⸗
nigen Heftigkeit über jede Schicklichkeit und jede Rück⸗
ſicht fortgeriſſen, rief ſie: „Ja freilich, eine junge
234
glatte Haushälterin, das iſt fo recht der Herren Ge—
ſchmack!“
Der Amtmann fuhr haſtig empor, aber der Ober⸗
förſter trat gelaſſen zwiſchen ihn und ſeine Schweſter,
und obſchon er bisher im entfernteſten nicht daran ge⸗
dacht hatte, nahm er Hulda's Hand in die ſeine und
ſagte: „Es ſteht in der Bibel geſchrieben: fie ge-
dachten es böſe mit mir zu machen, und ſiehe da, ſie
haben es gut gemacht! So geht es Ihnen auch,
Mamſell Ulrike! Es könnte ja noch Einer oder der
Andere auf Gedanken wie die Ihren kommen, und ich
meine es ja gut mit Ihnen, liebe Hulda!“ — Er zog
an dem Kragen ſeines grünen Uniformrockes und
knöpfte den Haken auf. Das, was er zu ſagen hatte,
wollte ihm nicht gleich ſo kommen, wie er es wünſchte.
Er war ja kein junger Mann mehr, und ſie konnte
ſeine Tochter ſein; aber heraus mußte es nun doch.
Das Mädchen, wie es ſo daſtand, that ihm leid und
war ihm herzlich lieb. Endlich gab er ſich den nöthigen
Stoß. „Allein bleiben kann ich nicht und will ich
nicht,“ ſagte er, „das hab' ich mir von Anfang an ge⸗
ſagt. Ich brauche eine Frau für das Haus und auch für
mich. Wollten Sie meine Frau werden, ſo ſollte mir es
lieb ſein, und auf mein Wort, zu bereuen ſollten Sie es
nicht haben.“
Er fuhr ſich mit der Hand über das ganze Ge⸗
ſicht, um es nicht merken zu laſſen, daß ihm die Augen
feucht geworden waren; und weil Keiner der Anweſen⸗
den, ja er ſelber nicht, eine ſolche Erklärung vorausgeſehen
hatte, wußten ſie im erſten Augenblicke ſich ſammt und
235
ſonders nicht zu fallen. Der Amtmann ſchlug, ohne
zu ſprechen, dem Freunde mit derbem Schlage auf die
Schulter, als habe er an ſeinem männlich entſchloſſenen
Vorgehen Freude. Ulrike war blaß geworden und
preßte die ohnehin ſchmalen Lippen noch feſter auf⸗
einander, und Hulda, die im erſchreckten Staunen die
Hände wie die Jungfrau auf den Bildern der Ver⸗
kündigung über die Bruſt gefaltet hatte, ſagte mit ge⸗
rührter Stimme leiſe Nichts weiter als: „Lieber Herr
Oberförſter!“
Indeß die drei Worte brachten doch wieder Leben
in ſie Alle, und der Oberförſter, dem das ſchöne
Mädchen nie ſo ſchön wie eben jetzt erſchienen war,
und dem ſein Wohlgefallen an demſelben das Herz
raſcher und wärmer ſchlagen machte, als er es ſeit
lange gewohnt war, rief, Hulda nachſprechend: „Lieber
Herr Oberförſter! Lieber Herr Oberföriter! Was will
das ſagen, Kind? Heißt das ja? Heißt das nein?
Sag' es rund heraus!“ |
Hulda ſah ihn an, wollte ſprechen, ſchwieg aber
dennoch und reichte ihm die Hand. Ihre Lippen
bebten, man ſah, ſie rang einen ſchweren Kampf mit
ſich. Ulrikens Blicke hingen lauernd an jeder ihrer
Mienen. Die bloße Vorſtellung, daß ſie Hulda, des
Pfarrers Tochter, Simonenen's Tochter, als Frau des
Oberförſters vor ſich ſehen, daß ſie dieſem Mädchen,
wo immer ſie es künftig treffen würde, in der Kirche
oder bei Taufen und auf den Gütern in der Nach⸗
barſchaft, den Vortritt laſſen ſolle, brachte ſie ganz
außer ſich.
236
„Alſo ja?“ rief der Oberförſter, und ſchlang ſeine
beiden kräftigen Hände um des Mädchens Rechte.
Aber Hulda ſchüttelte leiſe das Haupt, und die Augen
zu dem ſtattlichen Manne erhebend, ſagte ſie mit
einer Stimme, deren Ton feſter wurde, während ſie
ſprach, und deren Wahrhaftigkeit etwas Ueberwältigen⸗
des hatte: „Ich fühle es ja, wie gut Sie ſind; bis
in das Herz geht es mir, wie gut Sie es mit mir
meinen, und ich werde es Ihnen nie vergeſſen, aber
ich kann nicht, ich kann es nicht, Herr Oberförſter!“
„Natürlich nicht!“ ſtieß Ulrike mit ſchlecht ver⸗
hehlter Genugthuung hervor. „Es iſt ja kein
Baron!“
Der Oberförſter hatte ihre Hand losgelaſſen.
„Das thut mir leid für Sie und mich!“ ſagte er
feſt, aber man hörte es ihm an, daß er die raſch ent⸗
ſtandene Hoffnung ungern ſchwinden ſah und daß es
ihm, dem älteren und angeſehenen Manne, ſehr em⸗
pfindlich war, ſich in ſeines Freundes und Ulrikens
Beiſein alſo abgewieſen und verſchmäht zu ſehen.
Der Amtmann fühlte ihm das nach. Er wollte
begütigen, und da ihm das Anerbieten des Freundes
in jedem Betrachte der Erwägung werth, ja, ſo weit
es äußere Vortheile betraf, der Heirath mit dem künf⸗
tigen Paſtor noch vorziehbar erſchien, denn der Ober⸗
förſter hatte von Hauſe aus ein namhaftes Ver⸗
mögen, ſagte er: „Du haſt ſie überraſcht, mein alter
Freund! Sie konnte ſich ja deſſen nicht verſehen. So
Etwas will doch überlegt ſein, gönne ihr nur Zeit!“
237
Der Oberförſter ſchüttelte abwehrend das Haupt.
„Nein!“ entgegnete er, „laß es ſo gut ſein. So Etwas
muß man ohne viel Beſinnen thun. Hätte ſie zu
mir den Zug und das Vertrauen gehabt, wie ich zu
ihr, ſo wäre es gegangen; ohne das geht es nicht,
denn ich bin alt und ſie iſt jung. Sie muß das
ſelber fühlen, und“ — Ulrikens boshaftes Wort hatte
ihn getroffen und ſeine ſchlimme Wirkung nicht ver⸗
fehlt — „vielleicht findet ſich auch noch ein Beſſerer
für ſie.“ — Er wendete ſich mit dieſen Worten ab,
ſah nach der alten Steh⸗Uhr in der Ecke und meinte,
es ſei ſpät, und Zeit zu Bette zu gehen, denn morgen
müſſe er in aller Frühe fort.
Es war das freilich gegen die Abrede, indeß wie
es nun gekommen war, konnte man ihn zum Bleiben
nicht wohl überreden. Der Amtmann nahm den
Leuchter, ſeinen Gaſt ſelbſt nach ſeinem Zimmer zu ge⸗
leiten, Ulrike nützte auf ihre Weiſe das Alleinſein mit
dem Mädchen. Sie warf es Hulda vor, die älteſten
Freunde des Hauſes durch ihre Gefallſucht dem Hauſe
zu entfremden; ſie that und ſprach, als wären der An⸗
trag und die beabſichtigte Heirath durchaus nach ihrem
Sinne geweſen. Sie fragte, worauf Hulda denn
warte oder was ſie von ſich denke, und prägte es ihr
mit ſchneidendem Spotte ein, wie ſie nun wieder ſich
einen neuen Feind geſchaffen habe, wie der Ober—
förſter ihr das ganz gewiß gedenken werde. Jetzt
dürfe ſie nun vollends nicht mehr darauf rechnen, hier
in dieſer Gegend Aufnahme in einer auch nur halb⸗
wegs angeſehenen Familie zu finden, und daß der
238
Amtmann ſie jetzt nicht hier behalten könnte, wenn er
es ſelbſt wollte, das ſei doch ſonnenklar.
Hulda vertheidigte ſich mit keinem Worte. Sie
ging auf ihr Zimmer und ſchrieb die halbe Nacht.
Dann ſteckte ſie den Brief in die Ledertaſche des
Knechtes, die in der Schreibſtube hing und die der⸗
ſelbe am Morgen mitzunehmen hatte, wenn er bei
Tagesanbruch zum Wochenmarkte in den nächſten
Flecken fuhr.
Wie ſie ſich dann niederlegen wollte, waren die
Sterne und der Mond, die ihr am Abende fo tröft-
lich geweſen waren, lange ſchon am Horizont nieder⸗
geſunken, aber es waren dafür andere ihr ebenſo ver⸗
traute Sternbilder emporgekommen, und ſie ſagte ſich:
„Die gehen ſeit aller Ewigkeit die ihnen von Gott be⸗
ſtimmte, immer gleiche Bahn, der Allweiſe wird auch
mir die meine vorgezeichnet haben. Wenn die Ant⸗
wort auf mein Schreiben ausfällt, wie ich es erwarte,
ſo ſoll mir das ein Zeichen ſein, daß ich auf dem
rechten Wege bin, und ich will ihn dann, mein Ziel
im Auge, in Gottes Namen freudigen Herzens gehen!“
Neun zehntes Capitel.
Der Aufenthalt in der Villa ihres Bruders ſagte
der Gräfin mehr als früher zu. Seit dem Tode ihres
Gatten hatte ihr Lebenskreis ſich doch mehr verengt,
ſie kam allmälig auch in die Jahre, in denen das un⸗
ruhige Geſellſchaftstreiben der großen Welt ihren Reiz
für ſie zu verlieren begann, beſonders weil ſie dort
nichts Weſentliches mehr zu ſuchen oder zu fördern
hatte, denn ihr Ehrgeiz war immer mehr auf ihre
Familien⸗Angelegenheiten als auf eine große perſön⸗
liche Bedeutung gerichtet geweſen. Jetzt war Clariſſe
glänzend verſorgt, ihres Sohnes Laufbahn auf dem
beſten Wege, und ſeine bevorſtehende Heirath ihren
Wünſchen in jeder Beziehung entſprechend. Ihre eigenen
Vermögens ⸗ Angelegenheiten befanden ſich in beſter
Ordnung, ſie hielt es ſich alſo mit Wohlgefallen vor,
daß ſie jetzt keine zwingenden Verpflichtungen mehr
habe und mit Behagen feiern dürfe. Indeß ihre nicht
zur Beſchaulichkeit geneigte Natur ward durch Nichts
ſchneller und leichter ermüdet als eben durch die Ruhe;
ſie mußte, wenn ſie dieſelbe ertragen ſollte, mindeſtens
240
einen Plan haben, deſſen Durchführung ihr nicht
zweifellos erſchien, der ihr das Gefühl des Beſchäftigt—
ſeins, und ſie damit in der Ausſicht auf einen bevor⸗
ſtehenden Erfolg erhielt. Das Alles aber bot ihr dies—
mal das Beiſammenſein mit ihrem Bruder und mit
Konradinen.
Sie fand in ihnen eine ihr in jedem Betrachte
erfreuliche Geſellſchaft, und der Wunſch, dieſe Beiden
mit einander zu verbinden, hielt ſie in einer ihr an⸗
genehmen Spannung. Er erheiterte ſie oder gab ihr
ſorgend zu denken, je nachdem die Ausſicht, ihn erfüllt
zu ſehen, ihr näherzurücken oder fernerzutreten ſchien.
Im Hinblicke auf dieſen Zweck waren ihr die
Mittheilungen, welche ihr der Amtmann über Hulda's
Ausſichten gemacht hatte, ſehr angenehm geweſen, und
ſie hatte, da ſie nach einem Uebereinkommen mit ihrem
Sohne, die Verwaltung jener preußiſchen Familien⸗
güter auch ferner in der Hand behielt, die Ernennung
des Adjunkten zu dem Pfarramte unter den von ihm
gewünſchten Bedingungen ſofort vollziehen wollen.
Aber ihre Erfahrungen hatten ſie zurückhaltend ge⸗
macht.
Sie kannte die Menſchen ebenſogut als Kon⸗
radine; ſie wußte, wie man ſie behandeln müſſe, ſich
ihres Dankes zu verſichern, und war es deshalb nicht
gewohnt, durch zu raſches Handeln und eiliges Ge⸗
währen ihre Gunſtbezeigungen in den Augen Der⸗
jenigen herabzuſetzen, denen ſie zugute kommen ſollten.
Der Adjunktus war in jedem Falle verpflichtet, ſein
Amt bis zu dem Ende des laufenden Halbjahres fortzu⸗
241
führen, und feine feſte Berufung und Ernennung zu
demſelben gewannen bei ſeinen Heirathsplanen für ihn
offenbar an Werth, wenn er ſie einige Zeit lang für
zweifelhaft gehalten und zu erwarten gehabt hatte.
Inzwiſchen wußte die Gräfin des Pfarrers Tochter,
deren ſich anzunehmen ſie für ihre Pflicht erkannte,
in des Amtmannes Haufe wohl geborgen; dem Ad⸗
junktus ging in der Pfarre auch Nichts ab, und ihre
Guts⸗Inſaſſen waren nach des verſtorbenen Pfarrers
wie nach des Amtmannes Anſicht durch den Adjunktus
wohl verſorgt. Sie hatte deshalb, als ſie ihrem Sohne,
den ſeine bevorſtehende Heirath in dieſem Augenblicke
ganz gefangen nahm, einmal von der Angelegenheit
des Pfarr⸗Adjunktus geſchrieben, ſcherzend hinzugefügt,
ſie wolle den jungen Leuten das ſüße Hangen und
Bangen in ſchwebender Pein, nicht allzu ſehr ver⸗
kürzen, da ja für ſolche Leute thatſächlich mit dem Ein⸗
tritte in die Ehe die Lebensmühe beginne und die
Poeſie in der Regel ihr Ende finde.
Der junge Graf hatte die Angelegenheit in ſeinem
Antwortſchreiben gar nicht der Erwähnung werth ge⸗
achtet. Er war ſeit ſeiner Kindheit nicht in Preußen
und auf dem Schloſſe geweſen, des verſtorbenen
Pfarrers erinnerte er ſich dunkel, von deſſen Tochter
hatte er nur gehört, daß ſein Oheim nahe daran ge—
weſen ſei, eine Mißheirath mit ihr einzugehen, jedoch
noch rechtzeitig davon zurückgekommen ſei. Ihn küm⸗
merte alſo das Schickſal dieſes Mädchens ganz und
gar nicht. Für die Beſetzung des Amtes nach beſtem
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 16
242
Ermeſſen zu entſcheiden, war die Sache der Gräfin,
und dieſe hatte keine Veranlaſſung, weder gegen Konra⸗
dinen noch gegen den Baron, der Vorgänge auf den
Gütern beſonders zu gedenken. Kam man einmal zu⸗
fällig auf den letzten Aufenthalt zu ſprechen, den man
im Schloſſe gemacht hatte, ſo ging man wie auf Ver⸗
abredung ſchnell darüber hinweg. Es hatte Jedes von
den Dreien genug gelebt, um ſich zu ſagen, daß man
nicht vorwärts ſchreiten könne, ohne immer und immer
wieder einen Theil der Erinnerungen von ſich abwerfen
zu müſſen, die uns niederbeugen und zurückhalten
würden, wenn wir uns ihnen widerſtandslos über⸗
ließen; und vollends die Gräfin hielt es aufrecht, daß
es ganz unmöglich ſei, allen den Menſchen gerecht zu
werden, mit denen der Lebensweg den Einzelnen in
Berührung bringe. Wie ſie ſich das Recht zuerkenne,
Den und Jenen aufzugeben und zu vergeſſen, der
ſeine Bedeutung für ſie verloren habe, ſo fechte es ſie
ebenfalls keineswegs an, wenn ihr Gleiches wider⸗
fahre. Ja ſie behauptete, es immer als ein Zeichen
von Engherzigkeit und von Mangel an Entwicklungs⸗
fähigkeit betrachtet zu haben, wenn Menſchen an einer
ſogenannten unglücklichen Liebe oder an den erſten Ein⸗
drücken und Verbindungen ihrer Jugend haften ge⸗
blieben wären. Sich eines unveränderten Weſens,
eines Gleichbleibens zu berühmen, heiße Nichts mehr
und Nichts weniger, als ſich für eine gering angelegte
Natur erklären. Jedes Wachſen eines Organismus
bedinge ſchon ſeine Veränderung; je reicher er aber
ſei, umſomehr ſei er der Entwickelung und Wandlung
243
fähig, und dieſelbe ſei ein Bedingniß feines Fort⸗
beſtehens.
N „Sie ſprechen damit,“ ſagte Konradine, „die
Ueberzeugung meiner Mutter aus, nur daß dieſe die
Sache in ihrer Weiſe ausdrückte, wenn ſie behauptete,
es gäbe gar keine Beharrlichkeit, und es könne keinen
Menſchen geben, der verſprechen könne, ſich ſelber oder
einem Anderen treu zu bleiben. Deshalb ſei der Eid
der Treue, den zwei Menſchen einander vor dem Altare
leiſteten, eine Vermeſſenheit und ein Frevel. Und wie
ſie denn in ihrer Lebhaftigkeit leicht weiterzugehen
pflegte, als ſie ſelber wollte, hat ſie mit den Schil⸗
derungen aller der Ehen, die in gutem Glauben an
ein bevorſtehendes Glück geſchloſſen, dies Glück nicht
gewährt, und zu Wortbruch und Untreue Veranlaſſung
gegeben hatten, mir frühzeitig das Zutrauen zerſtört,
mit dem die Jugend eigentlich an das Leben, an die
Menſchen, an Glück und Liebe und an alles Gute
und Beſtehende glauben muß, um ſich zu ihrem eigenen
Heil und zu Anderer Freude harmoniſch zu entwickeln.
Ich habe an der Liebe gezweifelt, ehe ich ſie kannte,
und — vielleicht hat ſie ſich eben deshalb auch an
mir gerächt!“ fügte ſie kurz hinzu.
Nach der geläuterten geſellſchaftlichen Sitte, deren
die Freunde ſich zu rühmen hatten, nahm Keines von
ihnen das hingeworfene Wort weiter auf. Emanuel
jedoch meinte, indem er ſich gegen ſeine Schweſter
wendete, er verſtehe ſie nicht in dem, ihrer ſonſtigen
Geſinnung nach durchaus auffälligen Zugeſtändniß,
16*
244
welches ſie eben heute der Unbeſtändigkeit mache. Er
ſei vielmehr gewiß, daß ſie trotz ihrer Verſicherung
des Gegentheils höchlich betroffen ſein würde, wenn
man ſich die Freiheit nehmen wollte, ihr gegenüber
von dem Rechte der Wandelbarkeit, das ſie ſich ein=
räume, den entſprechenden Gebrauch zu machen.
„Auf die Gefahr hin, Dir meine Beſte, dadurch
wenig entwickelungsfähig zu ſcheinen,“ ſagte er endlich,
„bekenne ich Dir, daß für mich, ſeit ich denken kann,
in dieſer unaufhaltſamen Wandlung alles Beſtehenden
etwas Schmerzliches, etwas Beängſtigendes gelegen
hat, gegen das ich mich nur mit dem Gedanken zu
ſtählen vermochte, daß dieſe Wandlung, ſofern keine
Gewaltthätigkeit ihren folgerechten Lauf verhindert,
oftmals eine Umgeſtaltung zum Beſſeren, ein Fort⸗
ſchritt auf gutem Wege iſt. Ich erinnere mich ſehr
deutlich, wie mich als werdenden Jüngling Schiller's
Wort, daß „Alles im ewigen Wechſel kreiſt“ ergriffen,
und wie mich ſpäter bei reiferer eigener Erfahrung
das Goethe'ſche: „Ach! und in demſelben Fluſſe
ſchwimmſt du nicht zum zweitenmal“, gerührt hat.
Frage ich mein geheimſtes Inneres, ſo trage ich in
demſelben ein tiefes Verlangen nach Dauer, nach Be⸗
ſtändigkeit deſſen, was mir einmal an Dingen, Men⸗
ſchen, Zuſtänden werth geworden iſt. Mit dieſer Em⸗
pfindung hängt denn auch meine Scheu zuſammen,
Gegenden, in denen ich einmal ſehr glücklich geweſen
bin, die mir alſo deshalb in einem idealiſchen Lichte
vorſchweben, oder Perſonen, die ich als beſonders ſchön
gekannt habe, nach längerer Trennung wiederzuſehen.
245
Man verliert in ſolchen Fällen gar zu häufig eine
Vorſtellung, an der man ſich in der Erinnerung
erfreute, und wird in einer ſchmerzlichen Weiſe an die
Wandelbarkeit und Vergänglichkeit gemahnt, mit deren
Erkenntniß für uns auch nur inſofern Etwas ges
wonnen iſt, als ſie uns antreibt, den Augenblick, der
unſer iſt, werkthätiger zu benutzen.“
„Du bleibſt eben der liebenswürdige Schwärmer,“
meinte die Gräfin, „dem das Schickſal, wenn es ihm
gerecht ſein wollte, die Gunſt ewiger Jugend zuerken⸗
nen müßte —“
„Ach,“ rief Konradine mit einer Wärme, die
Emanuel ſehr wohl that, „beſitzt denn unſer Freund
in ſeinem ſchönen, weichen Sinne nicht wirklich jene
Jugend, die uns Anderen abhanden gekommen iſt?“
„Jung bleiben in einer Welt, in welcher Alles
altert, was mit uns jung geweſen tft, das heißt ver⸗
einſamen und gefliſſentlich auf dasjenige verzichten,
was die Jahre uns lehren und bringen!“ warf die
Gräfin ein.
„Was lehren, was bringen ſie uns denn?“ ent⸗
gegnete Konradine. „Selbſt zugegeben, daß ſie uns
klüger machen, was iſt denn damit für unſer Glück
gewonnen? Wir werden durch die Klugheit, die ſie uns
aufdringen, glaubenslos und mißtrauiſch, werden eng⸗
herziger und ſelbſtſüchtiger. Wir lernen rechnen und
berechnen, wägen und erwägen, unſere Vortheile hoch⸗
halten, und kommen mit alledem doch zuletzt nicht
weiter, als an jedem Tage die Befriedigung für dieſen
246
Tag zu ſuchen und fie gelegentlich auch einmal au er⸗
langen.“
„Das iſt nicht eben wenig!“ gab die Gräfin zu
ebenen, „das iſt viel, denn aus Tagen ſetzt das Leben
ſich zuſammen.“
„Gewiß, es iſt nicht wenig,“ gab ihr Konradine
zu, „indeß es iſt nichts Großes, Nichts, das uns er—
freuen kann, ſobald des Tages Befriedigung vorüber
iſt. Es iſt das materielle Wohlbefinden, das auf ſolche
Art erſtrebt und auch erreicht wird. Aber iſt es denn
nicht eine Freude, einmal mitten unter allen Denen,
die nach ſolchem billigen Wohlbefinden trachten, einem
Herzen zu begegnen, das den glaubensvollen Traum
der Jugend in ſich feſtzuhalten wünſcht und ſtrebt?
das ſich nach der unvergänglichen Dauer des von ihm
geliebten Schönen ſehnt, und eine ideale Erinnerung
höher hält und achtet, als das Mitgehen und Mitleben
in einer nüchternen Alltäglichkeit? Ich wollte, ich ver⸗
möchte zu empfinden wie der Baron. Und ich verſichere
Sie, mein Freund, daß ich es in Ihrer Nähe immer
mit einer Art von Beſchämung und Rührung empfinde,
um wie viel Sie jünger und um wie viel Sie eben
deshalb auch vertrauensvoller und beſſer ſind, als ich.“
Emanuel dankte ihr für dieſes Zugeſtändniß, und
die Gräfin erhob keinen Einwand dagegen, weil es
ihr erwünſcht war, die Beiden auf dem Wege eines
ſo guten Einvernehmens anzutreffen. Da ſie ſich je⸗
doch nicht leicht für überwunden zu erklären vermochte,
warf ſie das Bedenken auf, ob ſich in dem gefliſſent⸗
lichen Feſthalten an dem ſchönen Scheine der Erinne⸗
== —
247
rungen nicht ein gewiſſer Selbſtbetrug, ein muthloſes
Zurückſchrecken vor den Bedingungen der harten Wirk⸗
lichkeit verberge, und ob man ſich nicht eben durch jene
Verklärung des nicht mehr Vorhandenen, des Ent⸗
fernten, ungerecht gegen das mehr oder weniger Gute
und Schöne werden laſſe, welches der Augenblick und
die Gegenwart uns zu bieten vermöchten.
„Sich durch die Vergangenheit um den Genuß
und die Schaffensluſt in der Gegenwart, und um die
Hoffnungen für die Zukunft berauben zu laſſen, wäre
gewiß eine große Thorheit,“ entgegnete Emanuel.
„Aber mich dünkt, daß man allem Gewöhnlichen und
Alltäglichen ſehr gerecht ſein und es nach ſeinem
Werthe und ſeiner Bedeutung fortdauernd würdigen
kann, ohne darum die Heilighaltung eines Idealen
aufzugeben. Man kann in dem Thale, in dem man
ſeine Heimat gründet, ſehr zufrieden ſein, und ſchaffen,
und ernten, ſelbſt wenn man auf den Gipfeln der Hoch⸗
gebirge reinere Luft geathmet und weiter hinausgeſchaut
hat in die Herrlichkeit der Welt. Es iſt ein Unterſchied
zwiſchen einem Idealiſten und einem müßig ſchwärme⸗
riſchen Träumer.“
| „Freilich, freilich,“ ſagte die Gräfin mit einem
Anfluge von Ungeduld. Denn durchaus nur auf das
Poſitive geſtellt, konnte ſie ſich nicht lange mit allge⸗
meinen Betrachtungen beſchäftigen, ohne daß ſie dieſes
Allgemeine auf ein Beſonderes, auf ein Perſönliches
bezog. Und ſo fügte ſie denn jenem raſchen, zuſtim⸗
menden Ausrufe auch ſofort die Bemerkung hinzu, daß
trotz alledem der Idealismus ihr immer und vollends,
248
wenn ſie an die Ehe denke, als etwas ſehr Gefähr—
liches erſchienen ſei. Wie will denn ein Ehemann,
es mit Gleichmuth — um nicht zu ſagen mit der
nothwendigen liebenden Ergebung hinnehmen, daß
ſeine Gattin altert, an ihrer Schönheit, an ihrer Fri—
ſche, an ihrem jugendlichen Frohſinne allmälig Ein⸗
buße erleidet, während er in idealiſtiſcher Empfindung
ſich ſelbſt noch immer jung fühlt? Wie könnte eine
Frau es ertragen, wenn irgend eine Jugendliebe in ewig
unwandelbarer Schönheit und Heiterkeit vor dem jungen
Auge ihres Mannes ſchwebte? Und wie müßte es voll⸗
ends auf einen ſolchen Idealiſten wirken, wenn ein
unholder Zufall ihn einmal das einſt geliebte Ideal,
ſeinen Inbegriff der Jugend und der Schönheit, als
eine ſehr alltägliche und gealterte Hausfrau wieder
ſehen ließe?“ |
Sie hatte es damit auf eine leichte Beendigung
der Unterhaltung abgeſehen, aber da es ihr ein- für
allemal an jener Harmloſigkeit gebrach, welche einem
Scherze ſeine Anmuth verleiht, ſo hatte ſich ihrer
Phantaſie ſofort der beſondere Fall ihres Bruders auf⸗
gedrängt, und ſie hatte dies in einer Weiſe kundgegeben,
die weder dieſem noch Konradinen einen Zweifel über
ihre Meinung laſſen konnte. Sie bereuete das auch
ſofort, denn gegen ihre Abſicht und gegen ihr
Erwarten nahm der Baron ihre Andeutungen auf,
und mit jener ſanften Gelaſſenheit, welche einen Grund⸗
zug ſeines Weſens machte, ſagte er: „Ich habe mich
ſelbſt bisweilen gefragt, ob es, wie die Verhältniſſe
ſich nun einmal entwickelt haben, mich freuen
249
könnte, Hulda wieder zu ſehen, und ich habe mir das
verneinen müſſen; nicht etwa, weil ich daran zweifle,
daß ſie ſich gleich, ſich ſelbſt gleich bleiben werde, ſon⸗
dern weil ich dazu noch nicht unſelbſtiſch genug und
noch über unſer und über mein Verſchulden gegen
ſie, und über die Folgen deſſelben für ſie, nicht beru⸗
higt bin.“
„Unſer Verſchulden gegen ſie?“ rief die Gräfin;
„ich bin mir keines ſolchen gegen ſie bewußt:“
„Das wundert mich,“ entgegnete ihr Emanuel,
ohne ſich von ihrer Lebhaftigkeit beirren zu laſſen.
„Ich für meinen Theil erinnere mich ſehr deutlich jenes
Gewitterabendes, bald nach unſerer Ankunft auf dem
Schloſſe, an welchem zwiſchen uns Beiden zum erſten⸗
male die Rede von der Pfarrerfamilie und von deren
Tochter war. Ich hatte Hulda damals eben nur ge⸗
ſehen, aber ihre Schönheit und ihr ſanftes Inſich⸗
beruhen hatten mir die Ueberzeugung gegeben, daß
man dieſes, unter eigenartigen Verhältniſſen eigenartig
aufgewachſene Mädchen, ſeiner eigenen Entwickelung
überlaſſen müſſe. Du aber hatteſt andere Plane für
ſie, Plane, mit deren Ausführung es ſchließlich auf
Deine und Clariſſen's ſpätere Bequemlichkeit hinaus⸗
lief, und denen gegenüber Du meiner warnenden Bitte,
an dieſes Mädchens Daſein nicht zu rühren, dieſe holde
Menſchenblume nicht in fremdes Erdreich zu verpflanzen,
kein Gehör gabſt. Du wieſeſt meine Warnung mit
der Bemerkung ab, daß in der Natur ein- für allemal
das Geringere ſich dem Höheren unterordnen, ihm
dienſtbar ſein müſſe; und ohne auch nur ein ſicheres
250
Urtheil über die Begabung und Bedeutung dieſes Mäd-
chens haben zu können, hielteſt Du Dich deshalb für
berechtigt, den Eltern mit einer entſchiedenen Gewalt—
thätigkeit das freie Selbſtbeſtimmungsrecht über ihre
Tochter aus der Hand zu nehmen.“
Emanuel's Bemerkung erzürnte die Gräfin. „Du
haſt dabei es nur vergeſſen,“ entgegnete ſie, „daß Du
ſelber an jenem Tage mir ausdrücklich ſagteſt, des
Mädchens Anweſenheit im Schloſſe würde Dich er—
freuen. Auch Dir hatte ich ein Vergnügen durch die⸗
ſelbe bereiten wollen. Im Uebrigen hat Hulda bei
uns wie bei der guten Kenney in jedem Betrachte För⸗
derung erfahren. Für ihre Zukunft iſt zudem jetzt
ausreichend geſorgt, man kann in Erinnerung an ihren
Vater auch weiterhin noch Etwas für ſie thun, und da
Du auf das Selbſtbeſtimmungsrecht des Menſchen ſo viel
Gewicht legſt, nun! ſo hat ſie ja durchweg nach ihrem
eigenen Bedürfen über ſich entſchieden, ſowohl damals,
als ſie gegen Deinen Wunſch bei ihrem Vater blieb,
wie er es vollberechtigt von ihr fordern durfte,
als jetzt, wo ſie nach eigenem Ermeſſen ihre Zu⸗
kunft feſtſtellt. Mein Gewiſſen iſt deshalb ſehr
ruhig!“ |
„Ich wollte, ich könnte das auch von mir ſelber
ſagen!“ rief Emanuel.
Die Gräfin zuckte ungeduldig mit den Schultern,
und um der Unterhaltung kurz ein Ende zu machen,
die ihr in Konradinens Beiſein peinlich war, ſagte
ſie: „Du beſtärkſt mich mit Deinen reuevollen Sorgen
nur in meiner Meinung von der Gefährlichkeit des
251
Idealismus. Das Mädchen hat fih einem Manne
ihres Standes jetzt verlobt; was konnte es Beſſeres
erwarten?“ Und ſich von ihrem Platze erhebend, meinte
ſie, ſich mit lächelnder Miene gegen Konradine wen⸗
dend: „Wie doch, ſelbſt ein von Eitelkeit ſonſt freier
Mann, den Gedanken nicht zu faſſen vermag, daß ein
Mädchen ihn vergeſſen und an der Seite eines An⸗
deren glücklich, wahrſcheinlich glücklicher als an der
ſeinen werden könne.“
Emanuel hielt ſich an dieſe letzten Worte, und
mit einem Ernſte, der gegen den leichten Ton der
Gräfin faſt feierlich erklang, rief er: „Gib mir dieſe
Gewißheit, Schweſter, und Du wirſt eine ſchwere
Sorge von mir nehmen. Denn Du haſt Recht, ich
habe mich einer unverzeihlichen, ſelbſtſüchtigen Eitel⸗
keit anzuklagen, wenn ſchon nicht in dem Sinne, in
dem Du es vorausſetzeſt!“
Er ſchwieg einen Augenblick und fuhr dann mit
dem Freimuthe innerſter Wahrhaftigkeit fort: „Mein
Leben lang hatte ich mich nach einer Liebe geſehnt,
wie ſie mir in Hulda, ohne all mein Zuthun, wider
all mein Hoffen entgegenkam, wie ich ſie reiner, ſchöner
gar nicht finden konnte. Aber ſtatt ſie zu hegen, zu
pflegen, zu ſtützen und groß werden zu laſſen in
meines Herzens Obhut, verlangte ich von ihr eine
Probe, die zu beſtehen über ihre Kraft ging, überließ
ich ſie einem Einfluſſe, der heilige, alte, angeborene
Rechte auf ſie geltend machte, und — ich ſtehe nicht
an, auch dieſes auszuſprechen — von Konradinens
Anweſenheit und ihrem Antheil mehr beſchäftigt und
252
geſchmeichelt, als mir zuſtand, von der gewaltigen
Leidenſchaft unſerer Freundin falſche Rückſchlüſſe
machend auf die Liebesſtärke und Charakterkraft des
um ſo viel jüngeren und von ſchwerer Krankheit kaum
geneſenen Mädchens, glaubte ich mich in verblendeter
Eitelkeit nicht genug geliebt, meinte ich, Hulda ſolle
in der Trennung fühlen lernen, was ſie an mir be⸗
ſeſſen habe, und ſich mir früher oder ſpäter in lie⸗
bender Erkenntniß wieder nahen. Daß ſie ſchwieg,
daß ihr gekränktes Herz, ihr Ehrgefühl, und wer will
ſagen, welcher Einfluß ihres in Abhängigkeit um ſeinen
Mannesmuth gebrachten Vaters, ſie zu ſchweigen
zwangen — das einzuſehen war ich aus Eitelkeit zu
blind, zu eigenſinnig. Erſt, da ſie mirs wortlos den
Ring zurückgeſendet hatte, kam mit der vollen Reue
über mein Vergehen gegen ſie, die ganze ſchmerzende
Erkenntniß des Verluſtes über mich, den ich mir ſelber
zugezogen hatte; während doch der Zweifel, ob ſie
wirklich vergeſſen konnte, und ob ſie wirklich glücklich
iſt, mich bis auf dieſe Stunde nicht verläßt.“
„So lege ihr offen dieſe Frage vor!“ rief die
Gräfin, der es immer und überall nur um die Be⸗
friedigung ihrer Angehörigen zu thun war.
„Soll er neue Unruhe, darf er Zwieſpalt in ihre
Seele werfen,“ wendete Konradine ein, die mit tiefer
Theilnahme dem Gange des Geſpräches gefolgt war,
„wenn ſie vielleicht nicht ohne Kampf zum Frieden
gekommen iſt? Oder ſoll er trübe Schatten an dem
Heiligthume eines Glückes heraufbeſchwören, wenn ſich
ihr junges Herz, wirklich geheilt, in froher Liebe einem
er
253
anderen jungen Herzen zugewendet hat? Solche Frage
nach ſo langem Schweigen kann gefährlich, kann min⸗
deſtens ſo unheimlich verwirrend und erſchreckend wir⸗
ken, wie die Erſcheinung eines Todtgeglaubten!“
„Das iſt es! Das iſt es, was ich mir ſage, und
was mich hindert, ihr jene Frage vorzulegen!“ rief
Emanuel mit lebhafter Bewegung aus. „Ich habe
mein Recht an ſie verſcherzt, ich darf mir nicht er⸗
lauben, jetzt mit einer Frage vor ſie hinzutreten, die
neuen Zwieſpalt in ihr Leben bringen könnte. Aber
die Stunde, in welcher ich fie wiederſehen, fie glück⸗
lich auch an eines Anderen Seite wiederſehen würde,
dieſe Stunde würde ein ſchmerzliches Gefühl der Reue
von mir nehmen; und wenn dann auch an ihr der
Lauf der Jahre nicht ohne Spur geblieben wäre, wenn
ſie nicht ausgenommen wäre von dem Geſetze, dem
wir Alle unterliegen — mir, ich ſchäme mich nicht,
es auszuſprechen, mir wird ſie unverändert in der
Seele leben als die leuchtende Göttin der Aehren,
wie ich ſie zuerſt geſchaut, als ein Ideal der unent⸗
weihten, friſchen Jugend, und ich werde es ihr nicht
vergeſſen, daß ſie mich geliebt hat!“
Er ſtand mit dieſen Worten auf und verließ das
Zimmer. Konradine ſah, daß er im Hinausgehen mit
der Hand die Augen trocknete. Auch ihre Augen waren
feucht geworden. Er war ihr nie werther geweſen, ſie
hatte ihn nie höher gehalten und lieber gehabt, als in
dieſem Augenblicke.
„Wie Wenige gibt es, die ihm gleichen!“ ſagte
ſie zur Gräfin.
—
—
en
254
„Ich wollte zu ſeinem Heil und zu dem unferen,
daß er anders wäre!“ entgegnete ihr dieſe, unmuthig
ſeufzend. „Er wird die Menſchen und die Welt nie
kennen lernen wie ſie ſind, und eben dadurch nie zu
jenem mäßigen, aber geſunden und dauernden Be⸗
hagen kommen, das die bedingten irdiſchen Zuſtände
doch allein ermöglichen. Er an leiden und leiden
machen, ſo lange er nach dem Idealen, Abſoluten
ſtrebt; gleichviel ob er es für ſich, für einen An⸗
deren oder für das Allgemeine fordert.“
„Um ſo mehr hat er ſelbſtloſer Liebe, ſelbſtloſer
an nöthig, ihm Wirklichkeit und Ideal auge
gleichend zu vermitteln!“ meinte Konradine.
„So machen Sie ſich ihm zu der Vermittlerin,“
fiel ihr die Gräfin lebhaft ein, „und mein Herz, das
mit weit mehr Liebe an ihm hängt, als Sie es viel⸗
leicht glauben, wird dankbar die Stunde ſegnen, in
der Sie ſich dazu entſchließen.“
Konradine blickte ihr feſt in das Auge. Sie ſah,
daß die Gräfin ſehr bewegt war, und ernſt wie dieſe
entgegnete ſie ihr: „Heute, eben in dieſer Stunde
habe ich es gedacht, daß es ein Großes ſein müßte,
mit einem Manne wie Emanuel in dem Aether jenes
reinen Denkens und Empfindens zu leben, von dem
uns im Getriebe des Alltagslebens kaum ein Hauch
noch übrig bleibt. Aber mit allem meinem Selbſtge⸗
fühle — oder vielleicht um dieſes Selbſtgefühles willen,
und weil ich die Elemente kenne, aus denen es ſich
zuſammenſetzte, habe ich mir ſagen müſſen, dazu ge⸗
hört ein anderes Herz als meines, ein weniger ge⸗
255
trübter Sinn, als der meine. Emanuel, wie ſeine
Zukunft ſich auch geſtalten mag, Emanuel iſt, ſelbſt
wo er irrt und fehlt, uns überlegen. Man muß ihn
ſeine eigenen Wege gehen laſſen!“
„Und wohin werden ſie ihn führen?“ warf die
Gräfin ein.
„Gewiß zu einem ihm gemäßen Ziele.“
„Es liegen jetzt ernſte Pflichten, es liegt gewie-
ſene Arbeit vor ihm!“ erinnerte die Gräfin.
„Wenn er es ſich zutraut, ſie bewältigen zu können,
wird er ſie ergreifen!“
„Und wenn nicht?“
„Nun, dann hat unter den Millionen, die ſich
auf der Erde nach Erwerb begierig und nach Ehre
durſtig, jagend drängen, einmal Jemand eine Aus⸗
nahme davon gemacht, weil ihn ſein Geſchick der Mühe
des Erwerbes enthob, weil ihn frühe Krankheit von
der allgemeinen Rennbahn fernhielt. Und wenn er
unter dieſen beſonderen Bedingungen ſich zu einem
Manne entwickelte, deſſen milder Sinn uns ſtets er⸗
freut, wenn er in ſich den Glauben an das Gute,
an das Große, an das Schöne, das Vertrauen zu den
Menſchen aufrechtzuerhalten wußte, die verloren zu
haben wir Anderen als ein Unglück erkennen, ſollen
wir ihn deshalb nicht als einen Glücklichen bezeichnen?
Sollen wir uns nicht daran erfreuen, daß er iſt, wie
er iſt, und daß wir von ihm beſſer denken dürfen als
von uns?“
„Konradine,“ rief die Gräfin, „ſo ſeheriſch und
ſo gerecht iſt nur die Liebe.“
256
„Ja, die Liebe, die keinen Anſpruch irgend einer
Art für ſich erhebt,“ ſetzte Konradine hinzu, ohne
durch den Ausruf der Gräfin irgendwie beirrt zu
werden, „und ich wollte, theure Frau, auch Sie ließen
ihn gewähren, auch Sie verlangten, erwarteten von
ihm Nichts für die Förderung Ihrer Zwecke. Um wie
viel reiner und inniger würden Sie ſich zu einander
finden!“ |
Die Gräfin umarmte fi. Es war ſchon dunkel
geworden. Emanuel kam, wie es früher oder ſpäter
an jedem Abende geſchah, die Freundin nach ihrer
Wohnung hinüber zu geleiten. Die Gräfin aber fer⸗
tigte noch in derſelben Stunde das Schreiben aus,
das dem Adjunktus unter weſentlich verbeſſerten Be⸗
dingungen die frei gewordene Pfarrerſtelle zuſprach;
und ſie ſchrieb daneben ihrem Amtmanne, daß ſie ſich
der Verlobung Hulda's mit dem Pfarrer aufrichtig er⸗
freue, daß damit der Wunſch des verſtorbenen Pfarrers
in Erfüllung gehe, daß man die Hochzeit je eher je
lieber feiern möge, und daß eine nicht unbeträchtliche
Summe, die zu zahlen fie den Amtmann anwies, als
das Brautgeſchenk der Gräfin für Hulda's Einrichtung
verwendet werden ſolle.
Zwanzigſtes Capitel.
Das offene Ausſprechen hatte gut gewirkt, denn
es hatte fortan die ſcheue Vorſicht, welche Emanuel
und die Gräfin ſeit ihrer Wiedervereinigung gegen
einander beobachtet hatten, unnöthig gemacht. Ein
Jeder wußte jetzt unwiderleglich, was und wie der
Andere dachte, man konnte ſich alſo freier, rückhalt⸗
loſer gehen laſſen, und wie Konradinens Neigung für
den Freund mit jedem Tage an Wärme und an Zärt⸗
lichkeit gewann, ſo hatte auch der Gräfin Antheil an
Konradine ſich erhöht. Sie wußte Weichheit und Hin⸗
gebung in einem ſtarken Frauenherzen wohl zu wür⸗
digen, und da ſie ihren Bruder wirklich liebte, war
es ihr eine Freude, ihn ſelbſt in jenen Eigenſchaften,
welche ihr als Schwächen an ihm erſchienen, von der
ſchönen Stiftsdame verſtanden und gewürdigt zu
finden, die ſie jetzt mit Zuverſicht als ſeine künftige
Gattin anzuſehen begann.
Es hatte ſich zwiſchen den Beiden auch ein ſchönes
Vertrauen herausgebildet. Sie genoſſen mit Be⸗
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 17
258
wußtſein eines freien, beſtändig wachſenden Einver⸗
ſtändniſſes, das eben, weil es zwiſchen Perſonen ver—
ſchiedenen Geſchlechtes ſtattfand, einen erhöhten, be—
lebenden Reiz gewann. Konradine hatte ſich in der
Zurückgezogenheit des Stiftes ernſterem Leſen und
dauernderem Nachdenken hingegeben, ſie fand daher
Freude und zeigte Theilnahme an Emanuel's mannig⸗
fachen Studien, die hinwiederum zu erörternden Ge⸗
ſprächen reichen Anlaß gaben. Während man ſo in
müheloſer Muße, in vornehmer Beſchaulichkeit, nur
mit einander und mit den eigenen Gedanken und
Empfindungen angenehm beſchäftigt, die ganze Herr⸗
lichkeit eines friſchen ſonnigen Spätherbſtes genoß,
floſſen die Stunden unmerklich dahin. Die Zeit, welche
für Konradinens Aufenthalt an dem See beſtimmt ge⸗
weſen war, nahte ihrem Ende, und ohne daß man
es einander eingeſtand, begann man heimlich die Zahl
der Tage nachzurechnen, während deren man ſich dieſes
beglückenden Beiſammenſeins noch verſichert halten
konnte. | |
Aber man meinte noch auf manche ſchöne Stunde
hoffen zu dürfen, als ein Brief des jungen Arztes,
der den Majoratsherrn und deſſen Gattin nach ihrem
gegenwärtigen Aufenthalt im Süden geleitet und dort
ſeine Pflege übernommen hatte, die Geſchwiſter des
Kranken davon in Kenntniß ſetzte, daß ſie nicht ſäumen
dürften, ſich zu demſelben zu verfügen, wenn ſie ihm
das Wiederſehen, nach welchem er verlangte, noch be=
reiten wollten.
259
Man hatte dieſe Kunde an jedem Tage erwarten
müſſen, der bevorſtehende Tod des Majoratsherrn hatte
in allen Planen der Gräfin ſeinen Platz gehabt, man
hatte im Voraus um den drohenden Verluſt des treff⸗
lichen Mannes, des geliebten Bruders oft gelitten und
geklagt, es war Nichts in der Botſchaft, das beſtürzen
oder irgend Jemanden überraſchen konnte. Aber das
Leben ſchreckt immer zuſammen, wenn der Tod an
daſſelbe herantritt, und ſo nothwendig iſt für Jeden
der Glaube wenigſtens an eine verhältnißmäßige Dauer
der Zuſtände, in denen zu exiſtiren ihm leben heißt,
daß man Mühe hat, ihr Ende, mag es in langſamer
Annäherung oder plötzlich über uns hereinbrechen, zu
begreifen, zu ertragen. Die Gräfin war indeß noch
ganz beſonders von der Kunde erſchüttert.
„Es ruht ein eigener Unſtern über den Hochzeits-
feſten meiner Kinder,“ ſagte ſie zu Konradinen, als
dieſe, von Emanuel benachrichtigt, aus ihrer Villa
hinübergekommen war, den Freunden in ſolchem Augen⸗
blicke nicht zu fehlen. „Clariſſens Trauung, die wir
im Kreiſe der ganzen beiderſeitigen Familien zu feiern
gedacht hatten, mußte im Trauerjahre um ihren Vater,
an dem Sterbebette ihres Schwiegervaters vollzogen
werden; und ſelbſt wenn ich darauf verzichten wollte,
der Ceremonie beizuwohnen, wird jetzt meines Sohnes
Hochzeit nothwendig einen Aufſchub erleiden müſſen.
Man kann es nicht darauf ankommen laſſen, daß er
e eben in demſelben Augenblicke den Bund für
das Leben ſchließt, in welchem wir den Bruder aus
17*
260
dem Leben ſcheiden ſehen. Bei der lebhaften Phan⸗
taſie ſeiner Braut, bei ihrem Zuge zu religiöſem My⸗
ſticismus könnte das leicht einen verwirrenden Ein⸗
druck in ihrem Gemüthe zurücklaſſen, und ſie würde
bei all den mehr oder weniger unheilvollen Zufällen,
von denen kein Menſchenſchickſal frei iſt, auf ihren
Hochzeitstag zurückblickend, an eine üble Vorbedeutung
glauben. Davor muß man ſie in jedem Falle be⸗
wahren.“ 5
„Clariſſens Beiſpiel könnte es ihr aber doch be—
weiſen,“ meinte Emanuel, „wie wenig das Glück der
Ehe von den Umſtänden abhängt, unter welchen ſie
eingeſegnet wird.“
„Ja, wenn träumeriſch grübelnde Naturen, wie
die ihre, mit Vernunftgründen zu überzeugen wären,“
entgegnete die Gräfin, „oder wenn mein Sohn und
ſeine Braut einander im Denken und Empfinden ſo
ähnlich wären als Clariſſe und der Fürſt. Aber da
meines Sohnes raſche Lebensluſt, ſeine Gewohnheit,
die Dinge leicht zu nehmen und das Unbequeme von
ſich abzuweiſen, und die Inſichgekehrtheit ſeiner Braut,
ihre Neigung zu fürchtenden Sorgen und bangem,
ahnendem Verbinden des Zufälligen, ſich einander
ſchroff entgegenſtehen, ſo erfordert es die Vorſicht,
Alles zu vermeiden, was das Gemüth des lieben
Mädchens beunruhigen könnte. Denn daß ich es nur
geſtehe, trotz der ungewöhnlichen Gunſt aller äußeren
Glücksbedingungen kann ich mich bisweilen der beun⸗
ruhigenden Frage nicht entſchlagen, wie ſo verſchieden
geartete Naturen, wenn ſie ſich auch zu einander
261
finden konnten, ſich dauernd in einander ſchicken
werden.“
„Vielleicht müheloſer als Du es erwarteſt,“ ver⸗
ſetzte Emanuel, „ſofern ſich nur in Beiden Elemente
finden, die einander ergänzen und ſich an einander
entwickeln können. Wenn Deines Sohnes Frohſinn
und Julia's zur Schwermuth neigendes Gemüth ſich
mit einander in das Gleiche ſetzen, ſo würde daraus,
wenn auch nicht das helle Licht, das über Clariſſens
Haus leuchtet, ſo doch ein ruhiges Chiaroscuro ent⸗
ſtehen, in welchem es ſich wie in einer gemäßigten
Zone behaglich leben läßt, beſonders wenn der Mann
und die Frau, wie dies hier ſicher zu erwarten ſteht,
doch Jedes noch ſeine eigene Welt für ſich in Anſpruch
nehmen werden. Das gibt dann freilich nicht das
allerhöchſte Glück, aber doch jenen mittleren Zuſtand,
in welchem die Mehrzahl der Menſchen ſich ſehr wohl
behagt.“
Die Gräfin, der ähnliche Sorgen nur ſelten zu
kommen pflegten und die es gar nicht beſſer verlangte,
als ſie verſcheucht zu ſehen, ſtimmte ihm ohneweiteres
bei. Auch Konradine meinte, daß ihr völlige Gleich⸗
heit der Charaktere durchaus kein Erforderniß für
das Glück der Ehe zu ſein ſcheine, vorausgeſetzt, daß
nur eine Uebereinſtimmung in den ſittlichen An⸗
ſchauungen und in den Hauptforderungen vorhanden
ſei, welche man an das Leben ſtelle.
„Und daß der Mann ein ganzer Mann, die Frau
in 9 Hingebung ein echtes Weib ſei,“ fügte die
Gräfin hinzu, der es aus Vorliebe für das Her⸗
262
gebrachte gelegentlich wohl begegnen konnte, derartige
Sätze auszusprechen, ſelbſt wenn fie und ihre Eigen—
art als Beweis des Gegentheiles gelten durften. Denn
Niemand beſaß jene ſogenannten echt weiblichen Eigen⸗
ſchaften, auf die ſie hinwies, weniger als gerade ſie,
und doch hatte fie ihren verſtorbenen Gatten ſehr be=
glückt und ihre Ehe hatte als ein Vorbild gelten
dürfen. | |
Auch konnten die beiden Anderen, da ihre Blicke
ſich bei der Gräfin Ausſpruch trafen, das flüchtige
Lächeln ihres Einverſtändniſſes nicht ganz verbergen,
und Konradine bemerkte: „Es fällt mir auf, eben
von Ihnen, theure Frau, den Glauben an die abſolute
Geſchiedenheit der Eigenſchaften in den beiden Ge⸗
ſchlechtern ſo ſcharf hervorheben zu ſehen, da wir doch
fortdauernd von dem Gegentheile die Beiſpiele vor
Augen haben. Ich kenne Frauen, auf welche, neben
jenen Eigenſchaften, die wir als die weiblichen zu be⸗
zeichnen gewohnt ſind, ſich unverkennbar ein großer
Theil der väterlichen Begabung — und oft auch der
väterlichen Züge — fortgeerbt hat. Und ebenſo be⸗
gegnet man ſehr tüchtigen, bedeutenden Männern, aus
deren charaktervollem Antlitz uns ein paar Augen mit
ſo mildem Glanze an ſehen, aus deren breiter Bruſt
uns eine ſo weiche Stimme anſpricht, und in denen
Kraft und Weichheit ſich ſo eigenartig miſchen, daß
man durchaus behaupten darf, es ſei ein Gemüth, eine
Hingebung, ein Liebesbedürfniß und auch eine Liebe⸗
fähigkeit in ihnen vorhanden, wie man ſie herge⸗
brachterweiſe nur den Frauen zuzuſchreiben pflegt.
RT SIT
2 ——
=
263
Warum ſollten derartig angelegte Menſchen ſich nicht
zuſammenfinden, ſich nicht ineinander ſchicken und
einander zu ihrem Heil ergänzen können, ohne daß
auch nur Einer von Beiden jenes vollendete Bild der
Männlichkeit oder Weiblichkeit in ſich darſtellt, das
Sie mit den Worten: „ein ganzer Mann, ein echtes
Weib“ vorhin bezeichnen wollten?“
Die Gräfin hatte ihr achtſam zugehört. Sie
mochte dieſe Anſchauung in Konradinen nicht voraus⸗
geſetzt haben, aber ſie ließ ſie ohne Einwand gelten und
verſetzte, dieſelbe nach der einen Seite bekräftigend:
„Was Sie von der ungleichen Vererbung der Eigen-
ſchaften auf die verſchiedenen Geſchlechter ſagen, an⸗
erkenne ich für meinen Theil unbedingt. Ich habe
mehr von meines Vaters als von der Mutter Natur
in mir. Auch bei Ihnen möchte man das Nämliche
behaupten; während meine Kinder Beide ihrem Groß⸗
vater väterlicherſeits bis in ſeine kleinen Eigenheiten
ähnlich ſind, und meinen Brüdern, vor Allen Emanuel,
die Gemüthsanlagen und die Gemüthstiefe unſerer
Mutter zu Theil geworden ſind. Das ſind Spiele der
Natur, und glücklich genug, wenn ſie zu unſerem Heil
ausſchlagen.“
Sie erhob ſich mit den Worten und verließ die
beiden Anderen, da die Zeit vor der am nächſten
Mittage bevorſtehenden Abreiſe noch von mancherlei
Anforderungen hingenommen war. Konradine trat
auf die Terraſſe hinaus, Emanuel folgte ihr dorthin.
Die Sonne ſtand hoch am Himmel, es war wie
im Sommer hell und warm, nur daß die Luft ſich
264
erquickender und leichter athmen ließ. Die Roſen
blühten noch und hingen in reicher Fülle von den
Zweigen des Laurus und von den Aeſten der Feigen⸗
bäume hinab, zu denen ſie emporgeklettert waren, und
miſchten ſich dort oben mit der zweiten Fruchtreife.
Auch aus dem dunkeln Grün der Cypreſſen, die ſich
an den Seiten der Terraſſe hinzogen, ſahen die
Roſen leuchtend hervor, und nach dieſen hinblickend,
ſagte Emanuel: „Das iſt recht ein Bild der Zuſtände,
in denen wir uns jetzt befinden, Roſen von Cypreſſen
rings umgeben. Und es iſt doch ſchön, dieſes In—
einanderranken von Trauer und Freude, eine die
andere ſänftigend, Troſt verheißend und zur Beſcheidung
mahnend.“
Konradine folgte ſeinem Blicke, und wie ihre
Augen dabei weiterſchweifend die ſchimmernde Fläche
des Sees betrachteten, den die ſchneebedeckten Berge
in ſich umſchloſſen hielten, ſagte ſie: „Daß wir das
Alles morgen nicht mehr ſehen, daß dieſe Schönheit
ſchon nach wenigen Stunden für uns nicht mehr vor⸗
handen ſein wird! — Man kann es kaum glauben
und man denkt es auch nicht gern.“
„Es waren ſanfte, ſchöne Tage, die wir hier verleb⸗
ten, die wir Ihnen hier verdankten,“ entgegnete Emanuel,
„und es geht mir wie Ihnen. Auch ich habe Mühe
mir vorzuſtellen, daß ſie nun vorüber ſind. Wir leben
uns in das Gute, in das, was uns gemäß iſt, ſo leicht
ein. Wie ſpielende Kinder überlaſſen wir uns immer
auf das Neue dem Glauben, auf ſicherem Kahn in
ruhigem Fluſſe immer weiter fortzugleiten; und plötz⸗
265
lich von einer Stromſchnelle gewaltig fortgezogen,
ſchrecken wir empor, weil wir uns weit ab von dem
Ziele finden, dem wir zugeſtrebt haben, und weil wir
wieder einmal die melancholiſche Erfahrung machen,
wie wenig Sicherheit des Glücks es für uns giebt.“
„Das Bild, das Sie brauchen,“ verſetzte Kon⸗
radine, „iſt heute auch für mich und meinen Zuſtand
ſehr bezeichnend. Ich habe am Morgen einen Brief
von unſerer Aebtiſſin empfangen mit einer Nachricht,
die meine innere Ruhe angetaſtet hat, und die meinen
Planen für die Zukunft und meinen Erwartungen
von derſelben wahrſcheinlich ein Ende machen wird.“
Emanuel fragte, was das heißen ſolle.
„Sie wiſſen,“ gab ſie ihm zur Antwort, „daß
vor einigen Wochen eine unſerer jüngeren Damen,
die ſich verlobte, das Stift verlaſſen hat. Heute
meldet mir die Aebtiſſin, daß man, Abſtand nehmend
von der ganzen Reihe der eingeſchriebenen Aſpiran⸗
tinnen, jene Stelle der Prinzeſſin Marianne, der
älteſten Schweſter des Prinzen Friedrich, zugeſprochen
hat, und daß dieſe noch im Laufe des Herbſtes ihren
erſten Aufenthalt bei uns zu nehmen gedenkt.“
„Und Sie ſcheuen die Begegnung mit ihr?“
„Eine Begegnung mit ihr würde ich leicht er⸗
tragen, aber die Ausſicht auf ein langes, dauerndes,
unvermeidliches Zuſammenſein mit ihr, iſt mir nicht
willkommen. Dazu unterliegt es keinem Zweifel, daß
man ihr dieſe Stelle nur angewieſen hat, um ſie
ſpäter zur Aebtiſſin zu ernennen, denn nur in dieſer
Vorausſicht wird ſie dieſelbe angenommen haben.
266
Sich mit uns Anderen dauernd auf gleiche Stufe hin⸗
zuſtellen, iſt ſie viel zu ſtolz und viel zu herriſch.
Damit ſind denn nun die Schritte, welche die Aebtiſſin
bei ihrer letzten Reiſe in meinem Intereſſe gethan hat,
vergeblich geweſen, und die faſt bindenden Zuſagen,
welche ihr höchſtenorts in dem Betracht gegeben worden
ſind, natürlich aufgehoben. Man war ſo weit
gegangen, mich ſchon im Beginne des nächſten Jahres
zu ihrer officiellen Stellvertreterin bei Krankheits⸗
fällen oder ſonſtigen Störungen ernennen zu wollen,
und ſie ſchreibt mir, dies zu thun, ſei man auch jetzt
noch geſonnen. Natürlich! denn man will der
Prinzeſſin für die Zukunft die Mühe und die Arbeit
im voraus von den Schultern nehmen; man möchte
mich ihr zu einem bequemen Beamten machen. Aber
unter den obwaltenden Verhältniſſen paßt dieſe Auf⸗
gabe mir nicht mehr.“
„Haben Sie denn wirklich daran denken können,“
wendete Emanuel ein, „Ihre Zukunft ganz dem
Stifte zu weihen, die Angelegenheiten dieſer kleinen
Frauengemeinde als Ihre Lebensaufgabe über ſich zu
nehmen?“
„Und warum nicht?“ entgegnete ſie ihm. „Ich
habe in unſerem Stifte eine feſte Heimat und eine
dauernde, zuſammenhängende Beſchäftigung gefunden,
zwei Dinge, die ich bis dahin nicht gekannt habe, und
die ich auf unſerem eſthländiſchen Gute nicht finden
würde, ſo lange — und ich hoffe, es wird lange
ſein — ſo lange meine Mutter lebt, die es ihrem
Verwalter überantwortet hat, in den ſie mit Recht
267
Vertrauen ſetzt. Dazu handelt es ſich, wie Sie willen,
bei uns im Stifte nicht nur um die Einkünfte des⸗
ſelben. Es hängen Ortſchaften mit ihren Einwohnern
von dem Stifte ab, es iſt eine kleine Herrſchaft, die
man dort zu leiten hat, für deren Inſaſſen man ver⸗
antwortlich iſt. Ich habe viele von den Leuten, habe
ihre Bedürfniſſe kennen gelernt, konnte perſönlich
manche Hilfe leiſten, mancher Ungerechtigkeit begegnen.
Ich war gerne in dem Stifte und dachte mit Zuver⸗
ſicht an meine Rückkehr in daſſelbe, an den mir lieb
gewordenen Wirkungskreis.“
Sie brach ab, Emanuel ſchwieg ebenfalls; ſo
blieben ſie, ihren Gedanken nachhängend, eine geraume
Weile neben einander ſtehen, bis er leiſe ſeine Hand
auf ihre legte, ihre Achtſamkeit auf ſich zu ziehen. Wie
ſie ihn anſah, fiel ihr der Ausdruck ſeiner Mienen
auf. Sie fragte ihn, was ihn bewege.
„Ich gehe mit mir zu Rathe, ob ich es wagen
darf, Ihnen eine Frage vorzulegen, die ſich mir in
dieſer Stunde aufdrängt!“ gab er ihr zur Antwort.
Dann hielt er inne, und mit einer ſchüchternen Zu⸗
rückhaltung, die ihm bei ſeinem Ernſte ſehr wohl an⸗
ſtand, ſagte er: „Sie beſorgen, die Ihnen lieb ge-
wordene Heimat, den Ihnen gemäßen Wirkungskreis
im Stifte nicht unverändert wiederzufinden. Sie
fürchten, auf dieſelben aus Gründen, die mir ein⸗
leuchten, vielleicht verzichten zu müſſen. Es ſcheint
mir aber, als ob Sie keine weiteren beſonderen Plane
für ſich hätten, als ob Sie nicht danach verlangten,
in die Geſellſchaft der großen Welt zurückzukehren, in
263
welcher Auszeichnungen aller Art Ihnen jetzt noch
weniger als früher fehlen würden, und Sie haben es
mir zu meiner großen Freude ausgeſprochen, daß unſer
Beiſammenſein auch Ihnen lieb geweſen iſt, auch
Ihnen wohl gethan hat.“
Er hielt zögernd inne, und mit einer Stimme,
in welcher das Klopfen ſeines Herzens hörbar wieder:
klang, ſagte er danach: „Ich bin nicht dazu gemacht,
Konradine, einer Frau wie Sie, von Liebe zu ſprechen,
und meine neueſten Erfahrungen würden mir das be—
ſtätigt haben, hätte ich irgendwie im Zweifel darüber
ſein können. Dazu haben Sie einen Mann geliebt,
mit deſſen glänzenden, fortreißenden Eigenſchaften ich
mich in keiner Rückſicht meſſen darf. Aber eine wür⸗
dige Heimat und einen ſegensreichen Wirkungskreis,
die kann ich Ihnen bieten auf den Gütern, die mir
zufallen, und die ich freudiger übernehmen würde, wenn
Sie ſich entſchließen könnten, dort mit mir zu woh⸗
nen; wenn die Gewißheit, einem Manne, der Sie
von Herzen hochhält und Ihren Werth mit liebender
Bewunderung erkennt, das Leben lieb und zum Ge⸗
nuſſe zu machen, Sie ſchadlos halten könnte für jene
Eigenſchaften, die mir fehlen; wenn Sie gewillt
wären, wahr zu machen, was Sie heute ſo tief und
richtig von den ſich ausgleichenden und einander er⸗
gänzenden Elementen in der Ehe ausgeſprochen haben.“
Konradine hatte Nichts weniger als das erwartet,
aber ſeine ernſte Gefaßtheit ergriff ſie, und ihr er⸗
glühendes Antlitz in ihren Händen bergend, rief ſie:
269
„Ach! warum haben Sie mir das gerade heute, gerade
jetzt geſagt!“
| Er trat erſchreckend von ihr fort, aber ſich ges
waltſam faſſend, ſprach er: „Verzeihen Sie es, wenn
es Ihnen widerſtrebt. Es ſoll nicht ausgeſprochen
ſein. Vergeſſen Sie es, wie ich vergeſſen will, daß
ich mehr wünſchte und erſtrebte, als Sie mir ge⸗
währten.“ |
„Soll ich Ihrem Mitleid ſchulden,“ rief fie,
„was Sie mir ohne daſſelbe nicht zu bieten dachten?“
„Welch ein Wort iſt das! Wie mögen Sie fi
und mir alſo wehe thun, wo Sie in ſo hohem Grade
die Gewährende ſind? Nicht die Umſtände, welche
Ihnen vielleicht die Entfernung aus dem Stifte wün⸗
ſchenswerth machen, es ſind die Gedanken, welche Sie
heute als Ihre Ueberzeugung dargelegt, die mich er⸗
muthigt haben, Ihnen mein Wünſchen zu offenbaren,
Ihnen meine Hand zu bieten. Nehmen Sie ſie an.
Auch jenſeits der glänzenden Erwartungen, auf deren
Verwirklichung das Herz der erſten Jugend hofft, iſt
Glück vorhanden, wird es für uns, ich hoffe es voll
Zubverſicht, vorhanden fein können.“
„Und ich ſollte Ihnen, ſollte der Gräfin den
Glauben aufnöthigen, daß ich mit jenen Worten, die
ich heut' Gott weiß wie arglos! ausgeſprochen habe,
Ihrer oder meiner dachte?“
Emanuel fand in ſeiner Seele für dieſe Be⸗
denken weder Urſache noch Wiederhall, aber ſein altes
Mißtrauen in ſich ſelbſt ward vor ihnen rege. Er
beſorgte, Konradine ſuche Gründe für eine Weige⸗
270
rung, und obſchon es ihm ſehr wehe that, ſagte er
ſanft und ruhig: „Ich will Sie nicht bedrängen, will
Ihnen nicht zurückgeben oder auf mich anwenden, was
Sie von Mitleid ſprachen, und was in Ihrem Munde
ſo unberechtigt war. Ueberlegen Sie in aller Ruhe.
Nur das Eine laſſen Sie mich ſagen und das glauben
Sie mir: Ihre Nähe iſt für mich ein großer Segen.
Ihre Neigung gewinnen, zu Ihrer Zufriedenheit bei—
tragen zu können, würde mich glücklich machen; und
wenn Sie, wie ich hoffe, die Wa 1 Verwun⸗
derung der Unbetheiligten —“
Konradine ließ ihn nicht vollenden. „Nicht wei⸗
ter!“ rief ſie; „das hieße wirklich Ihnen zu nahe
thun und mir,“ fuhr ſie fort; „aber ich habe das
verdient mit meinem alten, falſchen Stolz. Laſſen
Sie mich es nicht entgelten. Ich bin ſicher, Sie
fühlen es, wie theuer Sie mir ſind, und was wir
wünſchen und erſtreben, wiſſen wir. Mit voller Zu⸗
verſicht bin ich die Ihre!“ Sie reichte ihm beide
Hände hin, er küßte ihr die Hand, er nannte ſie mit
Zärtlichkeit die Seine, und bewegten Gemüthes, herz⸗
lich einander zugeneigt, voll guten Willens und voll
guten Glaubens an die Zukunft, ſo ſchritten ſie Arm
in Arm dem Hauſe zu, ſich der Gräfin als Verlobte
vorzuſtellen.
Es geſchah der Gräfin ſelten, daß die Freude ſie
überwältigte, wie in dieſer Stunde. Sie nannte Kon⸗
radine ihre Schweſter, ihre Tochter; ſie pries es als
eine große Gunſt des Schickſals, daß der Sonnen⸗
ſchein dieſer freudigen Botſchaft noch die letzten Tage
271
ihres ſterbenden Bruders erhelle, und von der her—
gebrachten Sitte abſehend, ſobald es die Genugthuung
eines der Ihren galt, ſprach ſie den Wunſch aus, daß
die Verlobten Beide ſie auf der Reiſe, die man mor⸗
gen anzutreten hatte, begleiten möchten, um noch den
Segen des Bruders zu empfangen, in deſſen Rechte
Emanuel jetzt eintrat, in deſſen Stammſitz er und
Konradine künftig walten ſollten. Aber Emanuel
wehrte den Vorſchlag von ſich ab.
Seine vorſorgende Zärtlichkeit wünſchte der Braut
die ſchweren Tage zu erſparen, denen er entgegen⸗
ging, und weil es ſeinem feinen Empfinden ohnehin
widerſtrebte, dem hoffnungsloſen Bruder jo reich an
eigenen Hoffnungen zu nahen, ſtimmte er Konradinen
noch entſchiedener darin bei, daß ſie nicht als Verlobte
aufträten, ehe man die Mutter benachrichtigt und ſich
ihrer freilich zweifelloſen Zuſtimmung verſichert hätte.
Auch hielt Konradine es für geboten, auf den von ihr
feſtgeſetzten Tag im Stifte einzutreffen und der Aebtiſſin
eben bei der Ankunft der Prinzeſſin nicht zu fehlen.
Man hatte alſo in den wenigen Stunden, deren
man noch gemeinſam ſicher war, vollauf zu thun, und
erſt am Abende kam man dazu, das nächſte Wieder⸗
ſehen und die nothwendigſten Verabredungen mit ein⸗
ander ſo weit als möglich feſtzuſetzen. Am nächſten
Morgen brachen die Gräfin und der Bruder gen
Süden auf. Vierundzwanzig Stunden ſpäter trat
Konradine in dem Wagen ihres Bräutigams, unter
dem Schutze ſeines Kammerdieners, den er ihr zurück⸗
gelaſſen hatte, ihre Reiſe in das Stift an.
Einundzwanzigſtes Capitel.
Während die Reiſenden ſich noch hellen Wetters
und warmer Mittage erfreuten, wehte der Wind ſchon
wieder rauh und eiſig von dem Meere über das Pfarr⸗
haus und das Schloß hinweg, und trieb unabläſſig
neue Regenwolken über das Land, daß die Wege von
der langen Näſſe bereits wieder faſt grundlos gewor⸗
den waren. Wen nicht eben Geſchäfte dazu nöthigten,
der machte ſich nicht hinaus, um Wagen und Pferde
nicht unnöthig zu ſtrapaziren, ſondern ſaß nach des
Tages Arbeit ſtille in ſeiner warmen Stube an dem
wohlgeheizten Ofen.
Auch der Amtmann kam nicht viel heraus. Die
Kartoffeln waren eingebracht, die Felder neu beſtellt,
und ſeine gewohnten wöchentlichen Fahrten nach der
Oberförſterei hatte er in den letzten Zeiten eingeſtellt;
denn, obſchon der Amtmann es unvernünftig nannte,
war doch von Seiten des Oberförſters gegen ihn eine
Verſtimmung eingetreten. Der Oberförſter ging dem
alten Freunde gerne aus dem Wege, und wenn der
Amtmann auch zu gerecht war, ſeinen Verdruß darüber
275
Hulda zur Laſt zu legen, oder ihr, wie Ulrike es that,
beſtändig vorzuwerfen, daß fie unverantwortlich ges
handelt, als ſie den angeſehenen Mann, des Onkels
Freund, zurückgewieſen habe, ſo ſehnte er doch nun
auch ſeinerſeits den Tag herbei, an welchem die Gräfin
dem Adjunktus die Pfarre verliehen haben würde, da⸗
mit die Sache mit dem Adjunktus und mit Hulda
endlich in das Reine, Hulda aus dem Hauſe, und
zwiſchen ihm und ſeinem Freunde der gewohnte be⸗
hagliche Verkehr wieder in das vernünftige alte Ge⸗
leiſe käme.
Inzwiſchen war es ihm ganz recht und lieb, daß
der Adjunktus immer öfter in das Amt herüberkam.
Er ließ ſich es ſogar bisweilen nicht verdrießen, Abends
für den Rückweg den Einſpänner an ihn zu wenden,
denn der Amtmann kam auch allmälig in die Jahre,
in denen man gerne ſpricht, weil man das Leſen ſatt
hat. Er kannte ſeine alten Lieblingsbücher von An⸗
fang bis zu Ende, die neuen Bücher machten ihm
aber nicht halb ſo viel Vergnügen; und den ganzen
Abend, ſo wie ſonſt, über den Zeitungen zu ſitzen,
war ihm nicht mehr recht. Es war in denſelben ſo
oft vom Volke die Rede, und von Rechten und von
Freiheiten, mit denen nach ſeiner Meinung die Ord—
nung nicht beſtehen konnte, und an die vordem kein
Menſch auch nur gedacht hatte. Die Augen wurden
ihm dabei nur müde, ſie fielen ihm gelegentlich ſogar
zu, und das ärgerte ihn doppelt, wenn die Schweſter,
in deren Unermüdlichkeit und eiſerner Feſtigkeit gar
kein Vergang war, ihn lachend dabei anrief.
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 18
274
Man hätte meinen können, daß Ulrike, wenn
man ſie ſo ſah, ſich von den Kräften friſch erhielt,
die fie die Anderen unnöthig verbrauchen machte; denn
im Spätherbſt, wenn es im Haufe recht viel zu
ſchaffen gab, wenn ſie Alles und Jeden in beſtändiger
Bewegung erhielt, daß weder ſie noch ſonſt Jemand
von Denen, welchen ſie zu befehlen hatte, zur Be⸗
finnung und zu Athen kam, war ſie immer am ge⸗
ſündeſten, und ſie ſagte es oft ſelber, daß ſie ſolches
Arbeiten auf ein Jahr verjünge. Selbſt wenn ſie
endlich einmal ſtille ſaß, mußte ſie noch immer Etwas
thun, und wenn es nichts Anderes war, ſich noch die
Karten legen, um zu wiſſen, was ihr am nächſten
Tage glücken, was mißglücken werde, und ob Gutes
oder Böſes an ihrem Horizonte ſtehe. Es focht ſie
dabei nicht im geringſten an, daß der Bruder es
Narrenspoſſen nannte, daß der Adjunkt ihr freundlich
mahnend zu bedenken gab, wie dem Menſchen nach
Gottes weiſem Rathſchluſſe kein Blick vergönnt ſei in
die Zukunft. Sie ſagte, das ſei Alles gut und ſchön,
aber der Menſch müſſe ja an ſo Vieles glauben, was
auch nicht zu beweiſen und deshalb doch nicht minder
wahr ſei. Was ſie wiſſe, das wiſſe ſie; und wenn
auch das alte Kartenlegen ihr nicht immer ganz und
gar zugetroffen ſei, die Patience, welche Monſieur
Michael ſie gelehrt, die habe ſie noch nie im Stiche
gelaſſen, wenn ſie mit Ja und Nein gefragt habe, und
auf die lebe und ſterbe ſie. |
Der Adjunkt war gerade da, als fie wieder ein⸗
mal, ihre Karten legend, dieſe Behauptung ausſprach.
275
Der Amtmann hatte ihn nach der Kirche mit in das
Amt gebracht und ſich erboten, ihn nach Hauſe zu
ſchicken. Es war nach dem Abendeſſen, und ſie machten
ihre Schachpartie; aber weil des jungen Mannes Theil⸗
nahme auf Hulda gerichtet war, die mit ihrer Arbeit
an Ulrikens Seite ſaß, hörte er auf Alles, was ſie
an dem Tiſch am Ofen ſagten. Er hatte alſo die
letzten Worte auch vernommen, und um auf dieſe Art
wieder eine Unterhaltung mit den Frauen anzuknüpfen,
in die er Hulda hineinzuziehen hoffte, fragte er, wer
der Monſieur Michael geweſen ſei, dem ſie ihre ge⸗
heimnißvoll untrügliche Patience verdanke.
„Habe ich Ihnen denn nie von ihm erzählt? Ein
ganz charmanter junger Menſch, der Geheim⸗Sekretär
des Fürſten Severin.“
„Hat ſich was vom e ehrt: fiel der
Amtmann ihr in die Rede; „er war des Fürſten Kam⸗
merdiener, ein eitler, geriebener, nichtsnutziger Geſell,
den der Fürſt wegjagen mußte, wie ich Ihnen vordem
einmal erzählte. Er iſt dann auch auf ſeinen rechten
Weg gekommen, denn er ſoll unter die Komödianten
gegangen ſein.“
| „Wer hat das gejagt?“ rief Ulrike, die bei ihrer
Verachtung gegen Alles, was dem Theater angehörte,
dieſe Anſchuldigung auf ihrem Günſtling nicht ſitzen
laſſen wollte. 1
„Wer das geſagt hat? Des Poſthalters Sohn,
der ihn hier geſehen hat, wenn Michael des Fürſten
Briefe expedirte, hat es hergeſchrieben. Er hat ihn
ſelber ſpielen ſehen.“
18*
276
„Das iſt freilich ein trauriges Gewerbe und ein
gefährlicher Beruf!“ meinte der Adjunkt. |
„Ich glaub's nicht! Es iſt nicht wahr, daß er
beim Theater iſt!“ behauptete Ulrike.
„Lege Dir doch ſeine unfehlbare Patience darauf
mit Ja und Nein, da wirſt Du's ja erfahren!“ meinte
der Amtmann.
„Was nicht ſein kann, das frage ich nicht erſt!“
entgegnete ſie trotzig und legte ihre Karten fort.
„Es ſind ſchon ganz Andere auf die Bretter ge⸗
gangen!“ warf der Amtmann hin.
„Aber kein honneter Menſch!“ ſagte die Mamſell,
ohne daß der Bruder ihr eine Antwort darauf gab,
denn der Adjunktus bot ihm ſchon zum zweitenmale
„ein Schach der Königin“, und er hatte nun an An⸗
deres zu denken als an die Freundſchaften und an die
Grillen ſeiner Schweſter. Kaum aber bemerkte ſie,
daß der Bruder nicht mehr auf ſie achtete, ſo hatte
ſie die Karten wieder in der Hand und fing an ſie
in langen Reihen neben und über einander zu ord⸗
nen: hier eine fortzunehmen, dort eine hinzulegen; und
ſie ſchien es mit Erſtaunen zu gewahren, wie die ſonſt
ſo ungefügen Blätter ſich heute leicht zuſammenbringen
ließen, wie raſch die Aſſe oben lagen und die ganze
Zahlenreihe neben einander ihr entgegenlachte. Sonſt
war ihr das meiſt eine Genugthuung, heute legte ſie
die Karten ſchnell wieder zuſammen, ſteckte ſie in die
Tiſchſchieblade und ging, ohne ein Wort zu ſprechen,
raſch hinaus.
Auch die Anderen hatten ihre Partie beendet, der
Amtmann hatte ſich danach entfernt, um ein paar
RE
N ET
27
Schriftſtücke zuſammenzuſuchen, die der Adjunktus für
den Schulzen des Pfarrdorfes mit hinunternehmen
ſollte. Hulda ſaß noch bei ihrer Näharbeit, die Er⸗
innerung an Michael, die ganze Unterhaltung war ihr
auf das Herz gefallen. Der Adjunktus ſah ihr an,
daß Etwas ſie bedrückte, als er an ſie herantrat und
ſie die Augen zu ihm aufhob.
„Es muß Ihnen manchmal doch recht ſchwer
fallen,“ ſagte der Adjunktus, „die Verkehrtheiten von
Mamſell Ulrike zu ertragen, Sie ſind ſo ſtill gewor⸗
den und ſo abgeſchloſſen.“
Hulda entgegnete, ſie habe ſich wie ihre Mutter
in Ulrike ſchicken lernen, und da dieſelbe gerne ſpreche,
gewöhne man ſich ihr zuzuhören und zu ſchweigen.
„Sie glauben mir es wohl,“ hub er darauf
wieder an, „wie ſehr ich hieher denke, wenn ich zu
Hauſe in Ihre Stuben komme, Ihr Klavier benütze.
Es kommt mir immer wie ein Unrecht, wie eine An⸗
maſſung vor, weil Sie das Alles und obenein die
Ruhe, hier entbehren. In den erſten Wochen nach
Ihrem Fortgehen mochte ich die leeren Räume nicht
betreten, jetzt aber freut es mich, darin zu fein. Die
guten Stunden, die herzerquickenden Geſpräche, die
wir dort mit Ihrem Vater hatten, ſind mir dann in
der Erinnerung ſo lebendig, ſo erhebend!“
Sie hatte ihm bis dahin eben nur das Uner⸗
läßliche geantwortet, denn das Alleinſein mit ihm war
ihr mit jedem Beſuche, den er in dem Amte gemacht
hatte, peinlicher geworden, und das Erlebniß mit dem
Oberförſter hatte ſie noch ſcheuer und noch vorſichtiger
278
werden laſſen; aber dieſe Erinnerung an ihren Vater
traf ſie bei den Gedanken, mit denen ſie ſich heimlich
trug, nur um ſo tiefer, und mit einem Seufzer rief
ſie: „Glauben Sie, ich dächte nicht zurück?“
Die Worte belebten ihn, denn er deutete ſie ſich
in ſeinem Sinne. „Ich weiß es, o, ich weiß es!“
rief er. „Ich meine manchmal, Sie müßten es em⸗
pfinden, wenn ich Sie dort ſuche, wo Sie mir ſo
gegenwärtig ſind; es müßte Sie dorthin ziehen, wie
den jungen Vogel zu dem heimiſchen Neſte —“
Seine Wärme, ſeine wachſende Lebhaftigkeit
machten ſie beſorgt, und ihn gefliſſentlich unter⸗
brechend, um ihn am Weiterſprechen zu verhindern,
ſagte ſie, ohne von ihrer Arbeit aufzuſehen: „Man
merkt es, Sie ſind nicht auf dem Lande groß ge⸗
worden, Sie glauben an die Fabel! Kein flügger
Vogel kehrt in das alte Neſt zurück, wenn Vater und
Mutter es verlaſſen haben.“
„Mamſell Hulda!“ rief er ſchmerzlich, aber die
Rückkehr des Amtmannes hinderte ihn mehr zu ſagen.
Er hatte die Papiere in Empfang zu nehmen, der
Amtmann knüpfte ein paar Bemerkungen daran, die
der Adjunkt ausrichten ſollte. Darüber kam auch die
Mamſell zurück, und da ſie trotz ihrer Engherzigkeit
gern Hilfe leiſtete und ſchenkte, weil ſie ſich dabei ihrer
guten Lage und des Ueberfluſſes, deſſen ſie ſich zu
erfreuen hatte, recht bewußt ward, ſo hatte ſie Back⸗
werk und Honig und einige von ihren ſchönſten Golp-
Reinetten mit herbeigebracht, die ſie, an dem großen
Tiſche ſtehend, dem Adjunktus für die nächſten Tage
279
noch zuſammenpacken wollte. Wie ſie dabei nach dem
Lichte hinüberſah, fiel ihr ein blaues Flämmchen auf,
das an beſonderem Faden an dem Dochte zitterte.
„Aber Herr Adjunktus,“ rief ſie, „Herr Adjunktus,
Ihnen brennt ein Brief, und zwar ein großer! Mor⸗
gen wird er kommen! Sie ſollen ſehen, morgen kommt
die Vokation! Sie ſollen ſehen, das wird zutreffen —“
„Wie Kälte um Lichtmeß!“ fiel ihr der Amt⸗
mann in die Rede, denn morgen iſt Poſttag, die
Vokation hat lange genug auf ſich warten laſſen, und
wenn ſie nun endlich einmal kommt, ſo iſt es das blaue
Wunder! Und die Unfehlbarkeit von des Komödianten
Patience hat ſich wieder neu bewährt.“
Ulrike entgegnete, davon ſei die Rede nicht ge⸗
weſen, aber Briefe kämen morgen, auch für Hulda
einer. Indeß, weder Dieſe noch der Adjunkt machten
eine Bemerkung dazu. Nur wie er ihr im Fortgehen
die Hand zum Abſchied reichte, ſagte er ihr heimlich:
„Ich hoffe, das vom Vogel und vom Neſte haben Sie
nicht auf ſich hezogen!“
Des Amtmanns Zuruf, daß der Wagen vor⸗
gefahren ſei, erſparte ihr die Antwort; und ſeinem
Zweifeln und ſeinem Hoffen überlaſſen, fuhr der Ad⸗
junktus in die Nacht hinaus.
Zweiundzwanzigſtes Capitel.
— —
Am anderen Morgen ſaß der Amtmann ſchon
bei dem zweiten Frühſtück, als der Knecht mit der
Poſttaſche in das Zimmer trat und ſie wie immer
vor dem Herrn auf den Tiſch niederlegte. Der Amt⸗
mann nahm den Schlüſſel zur Hand, und die Taſche
öffnend, ſagte er, wie er in ſie hinein blickte;
„Das iſt ja heute eine ganze Ladung!“
„War auch für die Pfarre Etwas?“ fragte die
Mamſell, die nach ihrer Gewohnheit dem Knechte auf
dem Fuße gefolgt war.
7 05 Mamſell, ein Brief, und noch ein großer
daneben wie ein Schreiben.“
„Habe ich es nicht geſagt,“ rief Ulrike, „die Vo⸗
kation iſt da — und da iſt ja für die Hulda auch
der Brief!“ Sie langte gleich danach, aber der Bru⸗
der bedeutete ihr mit einem Winke, den Brief liegen
zu laſſen, und ordnete mit gelaſſener Pünktlichkeit die
Zeitungen auf die eine, die amtlichen Schreiben und
die Briefe, die an ihn gerichtet waren, auf die andere
Seite. Dann ſah er noch einmal nach, ob ſich viel-
281
leicht für einen der Wirthſchafter oder einen der Leute
in der Taſche ſonſt noch Etwas fände, und erſt nach⸗
dem er ſich überzeugt hatte, daß weiter Nichts darin
ſei, reichte er Hulda, die kein Auge von dem Tiſche
verwendet hatte, ihren Brief hinüber und fragte: „Von
wem kommt denn der?“
„Von Emilie und von der Frau Kaſtellanin!“
antwortete ſie und wendete ſich ab, damit er es nicht
ſehen ſollte, wie ſie roth geworden war.
„Alſo die Freundſchaft dauert fort!“ ſagte der
Amtmann arglos, denn der Kaſtellan des gräflichen
Hauſes in der Stadt war ein alter Diener der Familie,
und der Amtmann wußte, daß Hulda während ihres
dortigen Aufenthaltes mit der Tochter deſſelben, die
gut erzogen war, Verkehr gehalten hatte. „Was ſchrei—
ben ſie Dir denn?“
Hulda war an das andere Fenſter hingetreten und
hatte unbemerkt einen Brief, der in dem Schreiben
ihrer Freundin enthalten geweſen war, in der Taſche
ihres Kleides verborgen, und die Zeilen, welche die
Freundin ihr geſchrieben, raſch durchfliegend, ant⸗
wortete ſie: „Sie laden mich zu ſich ein.“
| „Bei den Wegen? Ja, auf jo Etwas verfallen
ſie in der Stadt, am Ofen und mit dem Steinpflaſter
vor dem Fenſter. Es wird damit zunächſt wohl keine
Eile haben,“ ſagte er und ſtand auf, um ſich mit
ſeinen neu eingegangenen Papieren an den alten
Schreibtiſch hinzuſetzen.
Hulda wollte in dem Augenblicke auch hinaus
gehen, um den zweiten Brief zu leſen, aber Ulrike
282
hielt fie in der Stube feſt. Sie hatte erſt dies, dann
jenes noch von ihr zu fordern, ſie ſchickte ſie hierhin
und dann dorthin, und als ahne ſie es, welche Pein
ſie ihr damit bereite, legte ſie ihr endlich ein großes
Gebinde Wolle auf die Hände, damit ſie es ihr zum
Wickeln halte.
Die arme Hulda zählte in ihrer Ungeduld die
Minuten, die Sekunden; die Wangen flammten ihr
vor Aufregung. Das kümmerte aber Ulrike nicht und
Nichts die alte Uhr. Die Uhr tickte ruhig fort, und
Ulrike wickelte und wickelte und zerrte an den Fäden,
die ſich verſchlungen hatten, und gab Hulda bald einen
Wink und bald ein Zeichen; denn ſprechen durfte ſie
nicht, wenn der Bruder bei der Arbeit ſaß. Darum
aber wollte und mußte ſie gerade in ſolchen Stunden
Jemanden bei ſich haben, der ihr die Langeweile tragen
half. Hulda's Gedanken ſchwärmten während deſſen
aber weit, weit ab von der ſie ermüdenden Arbeit,
an welcher ihre Quälerin ſie feſthielt.
Sie hatte den Brief, den ſie, Rath und Hülfe
ſuchend, in jener Nacht an Gabriele gerichtet, dem be⸗
freundeten jungen Mädchen nach der Stadt geſchickt,
und um ſeine Weiterbeförderung mit der Anweiſung
gebeten, daß man ihr, falls eine Antwort einginge,
dieſelbe auf gleiche Weiſe übermachen möge. Nun war
der Brief in ihrer Hand, ihre Zukunft hing an ſeinem
Inhalt, und ſie konnte nicht erfahren, was er für ſie
brachte, denn ein tückiſcher Dämon ſchien heimlich
immer neues Garn zu ſpinnen. Das Garn nahm gar
kein Ende, und noch lagen ein paar Gebinde auf ihren
283
Händen, als ein Wagen über den gepflaſterten Damm
in den Hof fuhr und vor der Thür des Amtes ſtille
hielt.
Ulrike war bei dem erſten Hufſchlag aufgeſtanden
und, eifrig an dem Knäuel wickelnd, nach dem Fenſter
gegangen. „Habe ich es nicht geſagt!“ rief ſie, „da iſt
Er! Um Nichts iſt er nicht ausgefahren, die Voka⸗
tion iſt da! Der Schulze hat denn auch ein Uebriges
gethan und für den neuen Herrn Pfarrer angeſpannt!“
— und das Fenſter öffnend, rief ſie mit ihrer hellen
Stimme: „Guten Tag, Herr Paſtor! ſchönen guten
Tag! Nun werden es der Herr Pfarrer ja wohl ſelber
in die Hand bekommen haben, daß unſereiner auch
nicht immer als einer von den falſchen Propheten zu
verſpotten iſt!“
Der junge Mann war ſchnell vom Wagen und
im Hauſe. Der Amtmann ging ihm bis an die
Stubenthür entgegen. Er hatte den betreffenden Brief
der Gräfin ebenfalls erhalten, er konnte es ſich alſo den⸗
ken, was den Gaſt zu ſo ungewohnter Stunde zu ihm
führte; aber er ließ es ſich nicht merken. Er gönnte
Jenem die Freude, ſich in ſeiner neuen Würde ſelber
einzuführen und die gute Botſchaft vor dem Mädchen
auszuſprechen, mit dem er ſeine Zukunft zu verbinden
dachte. Auch ließ der Eintretende ſie nicht lange er⸗
warten.
„Verzeihen Sie es mir,“ ſagte er mit heiterer
Lebendigkeit, „daß ich ſchon wieder hier bin, aber es
litt mich nicht allein zu Hauſe. Meine Vokation iſt
angekommen!“
284
„Gratulor, Herr Pfarrer!“ rief der Amtmann.
„Gratulor! es freut mich, daß Sie bei uns bleiben,
freut mich ſehr! und es wird auch manchen Anderen
freuen, denke ich!“ ſetzte er, nach Hulda hinüberſehend,
mit einem nicht mißzuverſtehenden Lächeln raſch hinzu;
aber Hulda ſah es nicht. Sie hatte ſeit des jungen
Mannes Eintritt kaum die Augen aufgeſchlagen, und
der Amtmann meinte es zu wiſſen, wie er ſich das zu
deuten habe. „Schweſter, eine Flaſche Wein! denn
das iſt gute Botſchaft und ſo Gott will, für eine lange
Zei!“ gebot er. i
„Ja, es war eine geſegnete Stunde für mich, in
der es Gott gefiel, mich herzuſenden, möchte mir es
gelingen, ſie unter ſeinem Beiſtande auch für Andere
ſegensreich zu machen!“ ſagte der junge Pfarrherr,
während die Mamſell die Schlüſſel von dem Bunde
hakte, und Hulda anwies, was ſie aus dem Keller und
der Vorrathskammer herbeizuſchaffen habe.“
Dieſe war froh, wenn auch nur für Minuten
fortzukommen, der Angſt und der Verlegenheit, die
auf ihr lagen, für eine Weile zu entgehen. Als ſie
wieder in das Zimmer trat, hatte die eifrige Ulrike
für die beiden Männer das Gedeck ſchon aufgelegt.
Der Amtmann ſaß bereits am Tiſche und ließ ſich gut⸗
müthig, obſchon er es ſelbſt am beſten wußte, von dem
jungen Maune die Begünſtigungen herzählen, welche
ihm von der Gräfin bewilligt worden waren. Als er
aber die Bemerkung machte, daß ſein Glück weit über
ſein Erwarten gehe, ſtand der Amtmann auf, nahm
ſelbſt noch zwei Gläſer aus dem Wandſchrank, füllte
285
ſie ebenfalls, und der Schweſter und Hulda winkend,
ſprach er: „Dazu müſſen doch die Frauenzimmer auch
heran! — Auf Ihr Wohl, Herr Pfarrer! und auf
gute Nachbarſchaft, Herr Pfarrer! und nun in Gottes
Namen vorwärts, dann kann Alles bleiben, wie es
ſteht und liegt. Damit Ihnen aber doch noch einmal
mehr zu Theil werde, als Sie ſich erwartet, ſo will
ich es Ihnen nur gleich heute ſagen, daß ich auch noch
Etwas für Sie in petto habe, aber freilich nicht
direkt für Sie und nicht für Sie allein.“
Der Amtmann gefiel ſich außerordentlich in die⸗
ſem andeutenden Scherze, der nach ſeiner Meinung
gar nicht mißzuverſtehen war und der dem Pfarrer
einen bequemen Eingang zu dem Antrage bieten ſollte,
den er nach des Amtmanns Anſicht zu keiner ſchickli⸗
cheren Stunde machen konnte. Indeß Hulda's Aeuße⸗
rung am verwichenen Abende hatte den Liebenden be—
ſorgt gemacht, und wenn er ſie in ſeines Herzens
Freude ſich auf dem Wege auch wieder aus dem Sinne
geſchlagen und als zufällig und harmlos ausgedeutet
hatte, ſo wachte doch, wie er jetzt Hulda ſo in ſich
verſchloſſen und ſo wortkarg vor ſich ſah, der Zweifel
wieder in ihm auf, und er konnte am wenigſten in
der beiden Alten Beiſein über ſ eine Lippen bringen,
wovon ihm ſein bewegtes Herz doch übervoll war.
Mamſell Ulriken's ſonſt oft unbequeme Neugier
kam ihm jetzt zu Hülfe. Sie wollte wiſſen, was des
Bruders geheimnißvolle Verſprechungen bedeuten ſoll⸗
ten, und der Amtmann ließ ſich diesmal nicht lange
bitten. „Das ſteht Alles in dem Briefe,“ ſagte er,
286
während er für ſich und ſeinen Gaſt auf das Neue
die Gläſer füllte, „und wir können, denke ich, nun ge—
troſt noch einmal anſtoßen auf die Anzeige, die ich
heute von unſerer Frau Gräfin empfangen habe.
Es hat ſeine Richtigkeit gehabt mit den Nachrichten
über das Fräulein und Baron Emannel. Sie haben
ſich verlobt und — —“
„Hab' ich es nicht geſagt,“ fiel Ulrike ein, „gleich
damals, als ſie hier geweſen ſind!“
Der Amtmann hatte die Mittheilung mit reifli⸗
chem Bedacht gemacht. Er meinte, ſie müſſe auf
Hulda's Entſchließung einen guten Einfluß haben;
aber wie er dieſelbe von ihrem Platze aufſtehen, er⸗
bleichen und nach der Thür gehen ſah, ward es ihm
leid, daß er geſprochen hatte, und verdrießlich mit dem
Kopfe ſchüttelnd, rief er: „Hulda, Hulda, was ſind
denn das für Poſſen!“
Indeß ehe er die Worte noch vollendet, war der
junge Pfarrer ſchon an ihrer Seite. Seine Sorge
um das geliebte Mädchen trug über die ſchmerzliche
Eiferſucht den Sieg davon.
„Sie befinden ſich nicht gut, Mamſell Hulda!“
ſagte er, und mit einer Sicherheit, die er ſich noch
einen Augenblick vorher nicht zugetraut hatte, bat er,
fie möge ihm erlauben, ſie zu begleiten. Weil ſie
wußte, daß ſie der Unterredung, die er wünſchte, nicht
entgehen konnte, ſagte ſie es ihm zu. Ulrike wollte
ſich dazwiſchen legen, aber der Bruder bannte ſie mit
einem: „Du ſitzeſt ſtill!“ an ihren Platz, und Hulda
und der Pfarrer verließen das Gemach.
287
Recht nach jenem Sinne war dem Amtmann
dieſe Art und Weiſe nicht, und über den Ausgang
war er nach dem, was er eben jetzt geſehen hatte, auch
nicht mehr ſo zuverſichtlich, als die ganze Zeit zuvor.
Er hatte feft geglaubt, Hulda habe ſich die ganze
Sache mit Baron Emanuel lange aus dem Sinne
geſchlagen, er hatte ihre Weigerung, des Oberförſters
Frau zu werden, ohne alles Weitere auf den Adjunkten
bezogen. Nun ſah er, daß der Spuk noch nicht vor⸗
über war, und obſchon der Pfarrer heute anders auf:
trat, und ſich unter dem Nimbns ſeiner neuen Würde
auch ganz anders als vordem zu fühlen ſchien, war
der Amtmann doch nicht ſicher, ob und wie ſich Jener
aus dem Handel ziehen, und welch' ein Ende es mit
demſelben nehmen werde, wenn er ſelber ſich nicht
dabei ins Mittel legte. Er war ſchon auf dem Wege
nach der Thüre, kehrte aber wieder um. Ulrike lachte
hoͤhniſch.
„Was für Umſtände Ihr mit dem Frauenzimmer
macht, Einer wie der Andere!“ ſagte Ulrike, „und
man ſoll hier ſitzen und abwarten, wozu es ihr be⸗
lieben wird, ſich zu entſchließen!“
Der Amtmann ward auch ungeduldig, nur daß
er es nicht in Worten zeigte. Er ging in der Stube
auf und nieder, ſchüttelte die Pfeife aus, ſtopfte ſie
und zündete ſie wieder an. Von den Beiden war
noch immer Nichts zu hören. Er ſah in ſeinen Büchern
Etwas nach, er ſetzte ſich nieder, indeß er hatte keine
Ruhe. Es war ihm ſelber ſehr daran gelegen, daß
es mit dem Mädchen nun endlich ein vernünftig Ende
288
nahm, es war des Geredes darüber ſchon zu viel ge—
weſen Er begriff nicht, wie die da oben ſo viel Zeit
zu einer Sache brauchen konnten, die doch mit zwei
Worten abzumachen war. Er ſtand wieder auf, trat
an den Barometer heran und klopfte an das Queck-
ſilber.
„Du denkſt wohl,“ ſagte Ulrike, „er ſoll Dir an-
zeigen, was der Prinzeß belieben wird?“
Ehe er ihr darauf die Antwort geben konnte,
hörte man feſte Schritte, die von dem langen Gange
hinunterkamen. Der Amtmann und die Schweſter
wendeten ſich Beide nach der a durch die der
Pfarrer eintrat.
„Allein, Herr Pfarrer?“ fragte der Amtmann
mit ſichtlicher Beſtürzung, während über Ulrikens
Antlitz ein unheimliches Lächeln des Triumphes zuckte.
Des jungen Pfarrherrn ernſtes Antlitz gab die
Antwort, noch ehe er, ſich männlich zuſammenfaſſend,
ſie ausgeſprochen hatte. „Es hat nicht ſein ſollen,“
ſagte er, „es wäre vielleicht zu viel Glück für mich
geweſen!“
„Iſt denn das Mädchen ganz von Sinnen!“ fuhr
der Amtmann zornig auf und wollte nach der Thüre
gehen.
Der Pfarrer hielt ihn davon zurück. „Laſſen Sie
ſie, verehrter Freund! Es trifft ſie kein Tadel und
kein Vorwurf. Gott hat ihr Herz in ſeiner Hand —
er hat es gelenkt. Er weiß am beſten, was ihr
frommt und mir. Nicht ſie, nur mein eigenes Wün⸗
ſchen täuſchte mich. Es war nicht ihre Schuld.“
289
„Schuld hin, Schuld her,“ rief der Amtmann.
„Das ſind ja Alles Redensarten! Ein Frauenzimmer
iſt zum Heirathen auf der Welt und hat in jetzigen
Zeiten ſeinem Herrgott ſehr zu danken, wenn ein
Mann wie Sie ſich zu ihm findet. Mit der Narrheit
muß es doch ein Ende haben, und es ſoll gleich heut',
gleich jetzt ein Ende haben!“ — Und wieder gab er
Ulrike das Zeichen, daß ſie nach Hulda ſchellen ſolle;
indeß Ulrike ſaß in ihrer Ecke und rückte und rührte
ſich nicht. Der Pfarrer aber hatte nach ſeinem Hut
gegriffen und ſchickte ſich zum Aufbruch an. Der
Amtmann durfte ihn nicht halten. Sie wechſelten
noch ein paar Worte; der Amtmann meinte, ſo ein
Mädchenkopf beſinne ſich wohl noch, der Pfarrer
achtete nicht darauf. Er ſehnte ſich danach, allein zu
ſein, denn die Faſſung, die er zeigte, fiel ihm ſchwer.
Der ganze Vorgang hatte nur wenige Minuten ein⸗
genommen, und wie der Pfarrer nun eingeſtiegen
war, wie der Wagen wieder über den gepflafterten
Steindamm dem Hofthor zufuhr, der Amtmann mit
heftigem Schritte in die Stube zurückkam, ſtand Ulrike
auf und ſagte mit kaltblütigem Tone: „Das iſt nun
der Dritte, den ſie aus dem Hauſe bringt.“
„Und es ſoll der Letzte ſein!“ fuhr der Amtmann
auf und zog mit ſolcher Macht die Glocke, die nach
Hulda's Stube ging, daß die Schnur ihm in der
Hand blieb. Er warf ſie in die fernſte Ecke und ſetzte
ſich in den großen Stuhl an ſeinem Schreibtiſch, in
den er ſich immer niederließ, wenn er Jemanden vor⸗
Fanny Lewald, Die Erlöſerin. II. 19
290
zunehmen hatte. Auch Ulrike ſetzte ſich noch einmal
und mit einem Behagen nieder, als wenn ſie im
Theater wäre, und fing die Maſchen an ihrem Strumpfe
zu zählen an.
„Was hat es da oben gegeben zwiſchen Euch?“
rief der Amtmann ihr entgegen, als Hulda bleich und
mit verweinten Augen vor ihn hintrat.
Sie konnte die Worte nicht über die Lippen brin⸗
gen. „Rede!“ fuhr der Amtmann ſie an, „denn Du
haſt ja oben ſicher reden können!“
Hulda hob die Augen zu ihm auf, und ſelbſt in
dem bebenden Schmerze war ihr Geſicht noch ſchön,
als ſie, die Hände flehend nach ihm ausgeſtreckt, die
Bitte ausſprach: „Zwingen Sie mich nicht zu wieder⸗
holen, was mir zu ſagen ſo hart und ſchwer ge—
weſen iſt.“
„Schwer?“ ſpottete Ulrike, „ich denke, Du ſollteſt
nun ſchon Praxis darin haben, anſtändige Männer
vor den Kopf zu ſtoßen, denn das iſt ſchon der Dritte!“
„Still! Wer ſpricht mit Dir?“ herrſchte der
Amtmann, der ſchon wieder mit Hulda Mitleid fühlte,
weil ſie im Grunde doch in der Welt verlaſſen war,
und der ſofort für ſie Partei nahm, wenn der Haß
gegen die Schönheit und die glücklichere Jugend, den
Ulrike von der Mutter auf die Tochter übertragen
hatte, ſich gegen dieſe äußerte. „Steh' nicht ſo da
und weine wie ein Kind,“ fuhr er, ſich an Hulda
wendend, fort, „denn das iſt kindiſch und ich kann's
nicht ausſtehen! Rede, daß man weiß, woran man iſt.
Was ſtellſt Du Dir denn vor?“
291
Sie wußte darauf keine Antwort, das regte ihm
den Zorn ſchnell wieder auf. „Ich ſage nicht wie die
Schweſter,“ ſprach er, „das iſt nun der Dritte, denn
der Michael war ein Taugenichts und Nichts mehr.“
Der Amtmann freute ſich des Stiches, den er Ulriken
damit gab. „Von Baron Emanuel rede ich nicht erſt,
denn damals warſt Du noch ein halbes Kind und das
iſt abgethan; da lebten noch die Eltern, die hatten für
Dich einzuſtehen, nicht ich. Jetzt aber iſt das meine
Sache und ich will in's Klare mit Dir kommen.“ —
Er räusperte ſich, zog an der Pfeife, die ihm aus⸗
gegangen war, ſtellte ſie hinter den Tiſch, ſetzte ſich
wieder, und die Hände über der Bruſt Gera ſagte
er: „Der Oberförſter, der unter den adeligen Fräulein
nur die Hand auszuſtrecken hat, um morgen eine Frau
zu haben, der war Dir zu alt, und kommt uns
nicht mehr in das Haus. Der Pfarrer, dem die Gräfin,
die Dir noch obenein die Ausſteuer geben wollte, eine
ſchöne Stellung zubereitet hat, der iſt Dir auch nicht
recht und wird auch nicht mehr über die Schwelle
kommen wollen, ſo lange Du hier im Hauſe biſt.
Soll ich mir alle meine Freunde von Dir zu Feinden,
ſoll ich mir mein Haus um Deinetwillen zum Ge⸗
ſpött und zum Gerede machen laſſen?“
„Du gehſt uns ja im Grunde gar Nichts an!“
warf Ulrike, die ſich nicht länger halten konnte, ein.
„Ich weiß es, daß ich fort muß!“ ſagte Hulda,
und ſie fügte dann leiſer noch hinzu, „und ich will
auch gerne fort.“
19 *
292
Der Amtmann ſah ſie mit großen Augen an.
„Du willſt fort? Und wo denn hin? Was ſtellſt Du
Dir denn vor?“
Hulda hatte ſich die Stunde, in welcher dieſe
Frage an ſie gerichtet werden und in der ſie dieſelbe
zu beantworten haben würde, ſeit vielen Wochen un⸗
abläſſig durchgedacht, und ſie war immer entſchloſſen
geweſen, ihr Vorhaben offen auszuſprechen. Jetzt aber,
da ſie es thun ſollte, fehlte ihr dazu der Muth. Nach
dem, wie der Amtmann ſich geſtern erſt über den Be⸗
ruf und die Stellung eines Schauſpielers hatte ver⸗
nehmen laſſen, konnte ſie es nicht wagen ihre Abſicht
kundzuthun, am wenigſten, ehe ſie es wußte, was
Gabriele ihr zu thun rieth; und ſie hatte den Brief
eben erſt erbrechen können, als der Amtmann ſie zu
ſich gerufen. Sie ſagte alſo, ſie wolle es verſuchen,
ſich ihr Brot ſelber zu verdienen.
„Und wie denkſt Du das zu machen?“ fragte der
Amtmann ſpöttiſch, der an dem Glauben feſthielt, ein
gebildetes Frauenzimmer könne ſich auf die Dauer
ſelber nicht verſorgen.
„Ich bin ja auferzogen in der Vorausſicht und
Gewißheit, daß ich mir ſelbſt zu helfen haben würde,“
entgegnete ſie mit wachſender Feſtigkeit, weil ihr Ehr⸗
gefühl ſich gegen die ſpottende Nichtachtung ihres bis-
herigen Beſchützers aufzulehnen anfing. „Mein guter
armer Vater und Miß Kenney haben mich darauf
vorbereitet, und —“
„Alſo Du willſt wie die Kenney Lehrmamſell
werden und alte Jungfer!“ unterbrach ſie der Amt⸗
293
mann, dem Gouvernanten und alte Mädchen unter
allen Umſtänden zuwider waren. „Aber wer wird
Dich denn nehmen hier herum, ſelbſt wenn er ein
ſolches Frauenzimmer brauchte, ſobald es erſt aus⸗
kommt, daß Du nun zum zweitenmale Dein Glück
von Dir geſtoßen und die Anträge der angeſehenſten
und bravſten Männer abgewieſen haſt? — Und herum⸗
kommen wird es, verlaſſe Dich darauf, ich kenne meine
Leute!“ ſetzte er hinzu mit einem Seitenblick auf ſeine
Schweſter.
„Ich wollte Sie eben deshalb bitten, mir einen
kleinen Theil der Summe zu geben, welche Miß
Kenney mir hinterlaſſen hat, und mich in die Stadt
zu ſchicken, wo ich der Aufnahme in der Familie des
Kaſtellans gewiß bin, bis ſich irgend eine paſſende
Stellung für mich finden wird!“ entgegnete das
Mädchen, das an Zutrauen in ſich gewann, je härter
und ungerechter es ſich angegriffen fühlte.
„Das alſo iſt der Plan! alſo Alles wohl be—
rechnet, Alles hübſch ausgedacht und überlegt! Und
dazu dem Adjunktus Hoffnungen gemacht und mit
ihm ſchön gethan,“ höhnte ſie Ulrike, und zum erſten⸗
male wies der Amtmann ſie nicht zurück, ſondern in
den Ton der Schweſter einſtimmend, ſagte er bitter:
„Und das Alles um der elenden Liebſchaft willen mit
dem Baron, der ſich mit ſeiner Frau auf ſeinem
Schloſſe kein Haar darum grau werden laſſen wird,
wo und wie Du einmal zu Grunde gehſt.“
Das war mehr, als ſie ertragen konnte. Sie
richtete ſich hoch auf, und obſchon das Blut ihr in den
294
Schläfen hämmerte und ihre Lippen mühſam die
Worte ausſprachen, ſagte ſie: „Ich werde nicht zu
Grunde gehen, Herr Amtmann, auch wenn ſich Nie—
mand um mich kümmert! — Und ich habe — deſſen
iſt Gott mein Zeuge — nie mit Jemandem ſchön ge
than; habe dem Herrn Pfarrer, das hat er ſelber zu—
geſtehen müſſen, mit keinem Wort und keinem Blick
eine falſche Hoffnung angeregt. Ich wußte ſeit lange,
daß ich hier nicht bleiben konnte, und ich bitte Sie,
flehentlich bitte ich Sie, erzeigen Sie mir die Liebe und
ſchicken Sie mich ſobald als möglich fort. Hier müßte
ich zu Grunde gehen!“
Dem Amtmann ſchwollen die Adern auf de
Stirne. Er wollte einen Fluch ausſtoßen, aber er
ſchluckte ihn hinunter, denn er wußte nicht, gegen wen
er ſo erbittert, ſo ergrimmt war, daß der Aerger ihm
an dem Herzen fraß: ob gegen das Mädchen, das
nun einmal nicht in die vernünftige Bahn zu bringen
war, und das er doch ſo gerne in ſeiner Nähe behalten
und unter ſeinen Augen glücklich hätte ſehen mögen,
oder gegen die Härte und den Herzenswahnſinn ſeiner
Schweſter, die dem Mädchen ſein Leben ſo verbittert
hatte, daß es lieber unter Fremde in die weite Welt
gehen, als dieſe Unbill länger tragen wollte.
Er war mit raſchem Schritt vor Hulda hin⸗
getreten, blieb dann ſtehen wie Einer, der ſich ſelber
mißtraut, und maß ſie mit finſterem Blick vom Kopfe
bis zum Fuß. Sie ſah, wie die Unſchuld, wie die
Sanftmuth ſelber aus, er konnte es kaum ertragen.
Er hatte nicht Weib, nicht Kind, und an der Schweſter
295
hatte er keine Freude gehabt, ſo lange ſie zuſammen
lebten. Auf Hulda aber hielt er. Er hatte ſie lieb,
als wäre ſie ſein eigen Kind, und daß ſie das nicht
wußte, daß ſie in die Welt gehen wollte, das verdroß
ihn, das empörte ihn, während er ihr nicht ſagen
konnte, daß ſie bleiben ſolle, denn er ſelber ſah es ein,
ſie mußte für das Erſte fort. — Es war ihm noch
niemals Etwas ſo vollkommen gegen ſeinen Sinn ge⸗
gangen. Er ſollte thun und geſchehen laſſen, was er
nicht wollte, was er für verkehrt hielt. Aber ein Ende
mußte es jetzt haben, ein Ende mußte er mit ihr
machen, ſie mußte erſt einmal fühlen lernen, was ſie
aufgab, probiren, wie es draußen wäre. Sie ſollte
ihren Willen haben. — Und ging es nachher nicht,
nun, ſo ſtand das Schloß ja auf dem alten Flecke
und ſie konnte wieder kommen — zahmer wieder kom⸗
men, als ſie ſich heut' anließ. Deſſen war er ficher.
Mit dieſer Einſicht und mit der Gewißheit kam
ihm auch ſein alter Gleichmuth wieder. Er legte die
Hände auf dem Rücken zuſammen, was er immer
that, wenn er ſich ſo recht auf ſeinen Füßen fühlte,
beſah ſich Hulda noch einmal und ſagte mit gemeſſener
Langſamkeit: „Alſo Du willſt fort und morgen ſchon?“
Sie verſetzte, wenn es ſein könne, bäte ſie darum.
Der Amtmann ging nach dem Kalender, zu ſehen,
was für den Tag notirt war, und ſagte dann: „Es
ſteht Nichts im Wege! Mach' Dich fertig, Du kannſt
fort. Geld kannſt Du bekommen, ſo viel Du für das
Erſte brauchſt, das Uebrige findet ſich nachher. Was
296
in der Pfarre jetzt zu thun iſt, das werde ich beſor—
gen. Um acht Uhr Morgens kannſt Du reiſen.“
Sie dankte ihm leiſe, er ſagte, dazu habe ſie nicht
Urſache, und das ſchnitt ihr in das Herz, denn ſie war
ihm anhänglich von Kindheit an und wußte, daß er
es redlich mit ihr meinte. Er nahm die Mütze, und
wie ſie ihm nach gewohnter Weiſe den Krückſtock aus
der Ecke holen wollte, meinte er: „Laß es gut ſein,
ich kann ihn mir ſchon heute ſelber holen!“ Damit
ging er in den Hof hinaus. d
Sie biß die Zähne zuſammen, denn ſie wollte
nicht weinen, ſie mußte ſich zuſammennehmen lernen.
Ulrike ſagte, „ſie ſolle den Koffer wichſen laſſen,
damit er doch nach Etwas ausſähe; und den Tiſch
beſorgen könne heut' die Magd, ſie wolle nach dem
Ihren ſehen.
Dreiundzwanzigſtes Capitel.
„Nun iſt es geſchehen!“ — Das war Alles, was
Hulda denken konnte, als ſie ſich in ihrer Stube müde
und zerſchlagen niederſetzte. Erwartet hatte ſie es
lange. Sie hatte ſich nothwendig befreien müſſen aus
einer Lage, die in jeder Beziehung unertragbar für ſie
geworden war, aber es war heute Alles ſo mit einem
Schlage über ſie gekommen; und wie die Entſcheidung
nun vor ihr ſtand, ſah Alles um ſie her ſo nackt, ſo
roh, ſo öde aus. Der verklärende Schimmer, der die
Zukunft geheimnißvoll umwoben, war dahin, es war
ganz anders, als ſie es ſich vorgeſtellt hatte.
Jetzt kam es darauf an, was Gabriele ſchrieb.
Sie zog den Brief heraus; ſchon die klare, feſte Hand⸗
ſchrift hatte etwas Tröſtliches für ſie. „Was Sie mir
mittheilen,“ hieß es nach den erſten Zeilen, „hat nichts
Befremdliches für mich. Jeder von uns trägt mehr
oder weniger bewußt ein Verlangen nach einem be⸗
ſonderen Glück, oder nach einer idealen Bethätigung
ſeines Weſens in ſich, und wenn das Erſte uns nicht
winken will, trachten wir danach, die Zweite zu erreichen.
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Das it Ihr Fall, und manche Ihrer Anlagen ſcheinen
Ihrem Vorhaben Erfolg zu verſprechen. Aber der
Weg einer Bühnenkünſtlerin iſt ſchwer und rauh, und
ſelbſt an dem glänzend errungenen Ziel finden ſich der
verletzenden Dornen unter den Kränzen des Triumphes
noch genug. Ob Ihr Talent ausreichend iſt, kann nur
die Probe darthun. Ob Sie den Muth, die nichts⸗
achtende Entſchloſſenheit und das Inſichſelbſtberuhen
beſitzen, ohne welche die theatraliſche Laufbahn nicht
zurückzulegen iſt, darüber können nur Sie ſelbſt ent⸗
ſcheiden. Legen Sie ſich die Frage ernſthaft vor. —
Sind Sie mit ſich einig, ſo melden Sie es dem
Direktor des Theaters, den Sie bei mir an jenem
Morgen ſahen. Ich habe ihm geſchrieben, ihn auf
Ihre Abſicht vorbereitet, ihm meine Meinung über die
Ihnen gemäßen Studien mitgetheilt, und Sie ihm auf
das Nachdrücklichſte empfohlen. Fürchten Sie von
Seiten Ihrer Angehörigen auf Hinderniſſe bei der
Ausführung Ihres Planes zu ſtoßen, ſo müſſen Sie
ſuchen, ihn ohne deren Zuſtimmung zur Ausführung
zu bringen, denn in dieſem Falle, wie in manchem
anderen kann man nicht durchkommen, ohne nach dem
ſonſt übel berufenen Grundſatze zu handeln, daß der
Zweck die Mittel heiligt.“ |
Sie fügte dann noch hinzu, daß fie Zutrauen zu
Hulda's Begabung habe, daß deren überraſchende
Aehnlichkeit mit ihr eine gute Vorbedeutung für ſie
ſein möge, und wie der ganze Brief in einem durch⸗
aus einfachen, geſchäftsmäßigen Tone gehalten war,
ſo ſagte ſie denn auch ganz am Schluſſe, da Hulda
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ſich Rath fordernd an ſie gewendet, ſo verſtände es
ſich von ſelbſt, daß fie von ihr auch die Mittel an⸗
zunehmen habe, ohne welche ſie jene Rathſchläge nicht
befolgen könne. Sie ſende ihr deshalb für alle Fälle
das nöthige Reiſegeld bis nach dem Aufenthaltsorte
des Direktors. Bei dieſem werde ſie eine kleine An⸗
weiſung auf einen dortigen Bankier vorfinden, deren
Ertrag ausreichen dürfte, ſie zu unterhalten, bis der
Direktor ſich überzeugt haben werde, ob ſie für ihn
zu brauchen ſei, und ob ihre Ausbildung überhaupt
eine lohnende zu werden verſpreche. Wenn das ent⸗
ſchieden ſei, ſo möge Hulda ſie davon in Kenntniß
ſetzen, bis dahin wünſche ſie ihr Muth, Geduld
und Glück. ö
Hulda athmete auf, als ſie den Brief zu Ende
geleſen hatte. Er brachte ihr die Ermuthigung, die
Anweiſung, deren ſie bedurft hatte. Man hörte jedem
Worte des Briefes die reife Ueberlegung einer Viel⸗
erfahrenen an. Die Güte, die Großmuth, mit welcher
ſie ſich Hulda's annahm, gingen über ihr Erwarten,
aber auch dieſem Briefe fehlte der helle Schimmer,
der jenen Wintermorgen bei Gabriele für Hulda's
Phantaſie ſo zauberhaft umleuchtet hatte; die Wirk⸗
lichkeit war nicht ſo lichtumfloſſen, ſie war ernſt und
begehrte feſtes, ernſtes Thun.
Eines Ueberlegens bedurfte Hulda nicht. Was
ihr als Kind in unbeſtimmten Bildern verlockend vor⸗
geſchwebt hatte, das zu erreichen ſollte ſie jetzt ſtreben.
Das Glück hatte ſich ihr verſagt, ſie wollte, wie es
Gabriele ſchön genannt, nach einer idealen Bethätigung
300
ihres Weſens trachten. Die ſelbſtgewählte Arbeit ihres
Lebens begann mit dieſem Tage und in dieſer Stunde.
„Die Kindheit, die Heimat, die Jugend und die
Liebe ſind dahin!“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt, „ich muß
abſchließen mit der Vergangenheit, und vorwärts gehen
an mein Ziel!“
Ihre Vorkehrungen für die Abreiſe waren bald
gemacht, ihr Beſitz war ſehr gering. Ihre beſcheidene
Garderobe, die wenigen Bücher und Muſikalien, die
kleinen Andenken an ihre Eltern, die ſie bei ſich hatte,
waren bald eingepackt, die Guitarre in ihrem Kaſten
wohl verwahrt. Es war noch lange bis zum Abend
hin, lang noch bis zum andern Morgen.
Als die Mittagsglocke läutete, ging ſie hinab zum
Eſſen, der Amtmann, die Wirthſchafter kamen an den
Tiſch, Alles lag und ſtand wie ſonſt, nur daß ſie es
nicht mehr auf den Tiſch gebracht hatte wie ſonſt.
Der Amtmann ſprach mit ſeinen Leuten, Mamſell
Ulrike machte, ohne von ihrer Abreiſe zu ſprechen,
allerlei Bemerkungen, die es Hulda fühlen ließen, daß
ſie aus dem Kreiſe dieſes Hauſes ſchon entlaſſen ſei.
Der Amtmann gönnte ihr kein Wort. Die Wirth⸗
ſchafter ſahen neugierig nach ihr hin, ſie wußten es
ſchon, daß ſie dem Pfarrer einen Korb gegeben habe
und daß der Amtmann ſie deshalb länger nicht be⸗
halten wolle.
Am Nachmittage, als ſie ſich zu den gewohnten
Dienſten anſchickte, wies Ulrike ſie zurück. „Das ſei
für ſie Nichts mehr,“ meinte ſie, „eine Stadtdame,
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eine Gouvernante müſſe ihre Hände ſchonen.“ Aber
ſie ſah böſe aus, als ſie das ſagte.
Hulda hatte den ganzen Nachmittag für ſich.
Sie las wieder und wieder Gabrielens Brief, ſie
kramte in den wenigen Papieren, die ſie hatte, und
band die Volkslieder zuſammen, nach denen ſie die
Abſchriften für Emanuel gemacht. Es waren Kor⸗
rekturen von ihres Vaters Hand, und auch von ſeiner
Hand darin, ſie konnte das Auge nicht davon ver-
wenden.
Sie ging an das Fenſter und ſah in die Nacht
hinaus. Wie oft hatte ſie an dem Platze geſtanden
und hinübergeblickt nach ſeinen Zimmern im Schloſſe,
den ſanften Klängen ſeiner Phantaſien lauſchend. Jetzt
war da drüben Alles dunkel, Alles ſtill. Es drang
kein Ton von dort zu ihr, und ſeine Gedanken ſuchten
ſie nicht mehr. Wie ſollten ſie das auch? Was war
ſie noch für ihn in ſeinem Glücke? Er wußte ſich ge⸗
liebt, er war erlöſt! — Erlöſt durch ſie! — Der Fluch
aber war zurückgefallen auf ihr Haupt. Sie war die
Aufgegebene, die Vergeſſene, die Ungeliebte! und hei⸗
matlos und einſam mußte ſie fortan des Lebens neue
Wege gehen.
Sie ſtand noch auf demſelben Flecke, als der
Amtmann zu ihr in die Stube kam. Er brachte ihr
das Geld, das ſie bekommen ſollte, und hieß ſie, es
einzunähen in ihr Kleid.
„Wegen Deiner Möbel und des Vaters Bücher,“
ſagte er, „will ich mit dem Pfarrer ein Abkommen zu
treffen ſuchen. Er kann das Alles brauchen, und rückt
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man den alten Kram von feinem Platz, fo tft er gar
Nichts werth. Was es ergibt, wird für Dich auf-
bewahrt.“ |
Sie verſetzte, fie ſei deswegen ohne Sorge; er
antwortete nicht darauf und ging davon.
Spät, als im Haufe Alles ſchon zur Ruhe war
und ſie noch einſam wachend die Erlebniſſe des Tages
an ſich vorübergehen ließ, kam eine Rührung über ſie.
Sie dachte an den jungen Pfarrer. 5
„Der wird auch noch wachen und wird traurig
ſein!“ ſagte ſie zu ſich ſelbſt, und die Vorſtellung,
daß unter dem Dache, in dem Hauſe, welches ihr Ge—
ſchlecht und ſie ſo lang beſchirmt, man ihrer in Schmerz
und Unmuth denke, drückte ſie wie eine ſchwere Laſt.
Sie konnte ſo nicht fortgehen, nicht ſo von ihm
ſcheiden. Auf dem letzten Blatt Papier, das ihr zur
Hand war, ſchrieb ſie ihm.
„Vergeſſen Sie, daß Sie wünſchten, was zu ge⸗
währen nicht in meiner Macht lag,“ bat ſie ihn. „Ich
habe Sie nie wiſſentlich getäuſcht, ich durfte Sie auch
jetzt nicht täuſchen, ohne eine ſchwere Sünde zu be⸗
gehen. Wir haben wie Geſchwiſter friedliche Tage
unter meines theuern Vaters Schutz verlebt, nur
dieſer erinnern Sie ſich, wenn Sie an mich ge⸗
denken, aber nicht der ſchmerzensvollen Stunde, die
uns trennte. Und wollen Sie mir eine Gunſt ge⸗
währen, ſo behalten Sie zu meines Vaters Angedenken
und zu meinem, das Klavier, mit deſſen Tönen wir
gemeinſam ihn erheitert haben, als wenig andere Er⸗
heiterung ihm mehr vergönnt war. Ich danke Ihnen
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von Herzen für die Liebe, die Sie ihm, für die
Freundſchaft und Treue, die Sie mir erwieſen haben.
Denken Sie ſeiner in Ihrem Gebete und auch meiner.“
Es war ihr leichter um das Herz, als ſie den Brief
geſchrieben hatte. Am Morgen, wie der Wagen kam,
übergab ſie ihn dem Amtmann unverſiegelt. Er las
ihn, da ſie es wünſchte, und hieß ihn gut. Es zuckte
dabei Etwas über ſein Geſicht, was man ſonſt darin
nicht ſah. Er umarmte ſie, wie ſie in den Wagen
ſtieg und ſagte, ſie ſolle nun ihr Heil verſuchen, es
ſei aber noch nicht aller Tage Abend. Sie küßte ihm
die Hand und auch Ulriken, und dankte ihnen für das
Gute, das ſie ihrem Vater und auch ihr gethan hätten.
„Davon iſt keine Rede!“ ſagte Ulrike, die nicht
Abſchied nehmen konnte, und ging in das Haus.
Als der Wagen fort war, und der Amtmann
wieder in die Stube kam, ſaß die Schweſter wei—
nend hinter dem Ofen.
„Du haſt's ja ſo haben wollen!“ ſagte der Amt⸗
mann und ging an ihr vorüber in die Schreiberſtube.
„Sie hat es danach gemacht!“ entgegnete Ulrike,
ſtand auf und trat an das Fenſter.
Der Wagen war ſchon weit hinaus im Felde.
An der Stelle, Hulda kannte ſie ſo genau, da hatte
ſie Emanuel zuerſt geſehen.
Ende des zweiten Bandes.
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Date Due
Library Bureau Cat. No. 1137
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3 5002 03081 3823
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TITLE 5
Die Erlöserin.
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