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Full text of "Die Ethik Henry Homes [microform], ein Beitrag zur Geschichte der englisch-schottischen Moralphilosophie im 18. Jahrhundert"

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MASTER  NEGATIVE 

NO.  93-81551- 


MICROFILMED  1 993 
COLUMBIA  UNIVERSITY  LIBRARIES/NEW  YORK 


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as  part  of  the 
"Foundations  of  Western  Civilization  Preservation  Project" 


/ 


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A  UTHOR: 


NORDEN,  JOSEPH 


TITLE: 


DIE  ETHIK  HENRY 
HOMES,  EIN  BEITRAG 


PLACE: 


HALLE  A.S 


DA  TE: 


1895 


COLUMBIA  UNIVERSITY  LIBRARIES 
PRESERVATION  DEPARTMENT 

BIBLIOGRAPHIC  MICROFORM  TARnFT 


Master  Negative  # 


Original  Material  as  Filmed  -  Existing  Bibliographie  Record 


170 
K123 


Korden,  Joseph,  1870- 

Die  othik  Henry  Hones;  ein  boitrag  zur  2:e- 
schichte  der  englisch-schottischen  nofalphilo- 
sophie  in  18.  Jahrhundert.   Halle  a.  S.  Kaenre- 
ror,  1096. 
. 81  p.      22   cm. 


Restrictions  on  Use: 


Theaio,  Halle. 


1  Anothor  copy« 

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301/587-8202 


Centimeter 

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Die 


Ethik  Henry  Hömes. 

Ein  Beitrag  zur  Geseliieht^  *    ''''    '^ 
der  englisch  -  schottischen  Moralphilosophie 

im  18.  Jahrhundert. 


Inangnral-Dissertation 


zur 


Erlangung  der  philosophischen  Doktorwürde 

der 

hohen  Philosophischen  Fakultät 

der 

Verein  igten  Friedrichs  -  Un  i  v  er  si  tat  Halle  -Witten  berg 

vorgelegt  von 

Joseph  Norden 

aus  Berlin. 


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Halle  a.  S. 

Hofbuchdruckerei  von  C.  A.  Kaemmerer  &  Co. 

1895. 


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Seinen  geliebten  Eltern 


in  kindlicher  Dankbarkeit 


gewidmet 


vom  Verfasser, 


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Einleitung. 

Home    als    Ästhetiker    und    Moralphilosoph.    Seine 
Biographie.    Die  „Essays",  ihre  verschiedenen  Auf- 
lagen und  die  deutsche  Übersetzung.    Veranlassung 
ihrer  Abfassung.     Übersicht. 


Henry  Home  Lord  Kames  (1696—1782)  ist  in  Deutsch- 
land hauptsächlich  durch  seine  ästhetische  Schrift  „Elements 
of  Criticism"  berühmt  geworden.  Dieses  Werk  ward  im 
Jahre  1762  in  London  zum  ersten  Male  herausgegeben  und 
erschien  1788  bereits  in  siebenter  Auflage.  Ebenso  schnell 
verbreitete  sich  die  deutsche  Übersetzung  ,von  Meinhard. 
Die  Historiker  der  Ästhetik  (Zimmermann,  Schasler,  v.  Stein) 
besprechen  Home's  Werk,  und  auch  Hettner»)  widmet 
ihm  einen  Abschnitt.  In  jüngster  Zeit  erschienen  über  die 
Ästhetik  Home 's  zwei  Monographien  2),  m  denen  ein  Ein- 
fluss  der  Home'schen  Lehren  auf  bedeutende  deutsche 
Ästhetiker,  insbesondere  auf  Lessing,  Schiller,  Kant  und 
Fechner,  nachgewiesen  wird. 

1)  H.  Hettner:  Litteraturgeschichte  des  18.  Jahrhunderts.  I,  S.  419  f. 

2)  J.  Wohlgemuth:  Henry  Homes  Ästhetik  und  ihr  Einfluss  auf 
deutsche  Ästhetiker.  Berlin  1893,  -  W.  Neumann:  Die  Bedeutung  Homes 
für  die  Ästhetik  und  sein  Einfluss  auf  die  deutschen  Ästhetiker.  Berlin 
1894.    (Preisgekrönte  Schrift). 


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'.'fGemgeue  ßß^qhtung  hat  die  Ethik  Homes  gefunden. 
Die' • 'Ge'scRiohts^öW ejBer     der    Philosophie     erwähnen    ihn 
grpss^nt6il^:uvr..als. Autor  der  ,,Elements^    Schon  Buhlei) 
bemeficV  Höfne  •  s^i  *' bai  uns  in  Deutschland  weniger  durch 
seine  moralphilosophischen  essays  als  durch  seine  „Elemente 
der  Kritik'^    berühmt   geworden.     Falkenberg«)    begnügt 
sich    mit    der   Bemerkung,    dass    Home    „in    der  Ethik  ein 
Anhänger   Hutchesons"    sei,    um   dann    sogleich   auf    seine 
ästhetischen  Ansichten  einzugehen.   Windelband^)  erwähnt 
ebenfalls  nur  in  aller  Kürze  „Henry  Home,  dessen  Schriften 
eine   entschiedene  Abhängigkeit   von  Shaftesbury  verraten, 
und  der  sich  dem  allgemeinen  Zuge  der  deistischen  Moral- 
und   Religionsphilosophie     mit     anmutiger    Darstellung    an- 
schloss."     Auch  die  Geschichtsschreiber  der  Ethik  berück- 
sichtigen   ihn    wenig    oder    gar    nicht.      JodH)    behandelt 
Home  nicht,  die  Angaben  BlakeysS)  sind  äusserst  dürftig, 
Mackintoshe)   und  Whewell?)   gehen    über   ihn  hinweg. 
Gleichwohl    bedeutet    die   Moralphilosophie  Homes   in 
mehreren    Beziehungen    einen    Fortschritt   über    seine    Vor- 
gänger   hinaus.     Eine   kurze   Darstellung    und  Beleuchtung 
der  Home'schen  Lehren,  die  im  folgenden  versucht  ist,  soll 
dies  klarlegen. 


1)   J.   G.    Buhle:    Geschichte   der   neueren   Philosophie,   Göttiiigen 

1800—1805.    V,  S.  358. 

2  R.  Falkenhcrg:  Geschichte  der  neueren  Philosophie  von  Nikolaus 
von  Kues  bis  zur  Gegenwart,  2.  Auflage,  Leipzig  1892,  S.  195.  Wenn 
Falkenberg  übrigens  Home  einen  Bruder  David  Huiues  nennt,  so  beruht 
dies  auf  einem  Irrtum.  Die  beiden  Denker  standen  zwar  in  einem  engen 
Freundschaftsverhältnis,  sind  aber  nicht  mit  einander  verwandt.  Derselbe  In  - 
tum  findet  sich  bei  Noack:  Fhilosophiegeschichtliches  Lexikon,  Artikel  Home. 

3)  W.  Windelband:  Die  Geschichte  der  neueren  Philosophie,  I,  S.  340. 

4)  F.  Jodl:  Geschichte  der  Ethik  in  der  neueren  Philosophie, 
Stuttgart,  1.  Band  1882,  2.  Band   1889. 

5^  R.  Blakey:  History  of  Moral  Science,  London  1833,  Kap.  20. 
6)  J  Mackintosh:  Dissertation  on  the  Progress  of  Ethical  Philosoph}'. 

London  1830. 

7^  W.  WheweU:   Lectures   of  the  History   of  Moral  Philosoph}    in 

England.    London  1852. 


-    7    - 

Homes  Leben  ist  von  A.  F.  Tytler  Lord  Woodhouselee, 
einem  jüngeren  Zeitgenossen,  mit  grosser  Ausführlichkeit 
beschrieben  worden  i).  Diese  Biographie  ist  von  hohem 
Interesse,  da  sie  nicht  nur  über  die  Lebensschicksale 
unseres  Philosophen  und  über  seine  zahlreichen  juristischen^) 
und  philosophischen  Schriften  genauen  Bericht  giebt,  sondern 
auch  zeigt,  in  wie  regem  Verkehr  er  mit  den  bedeutendsten 
Männern  seiner  Zeit  stand,  mit  Adam  Smith,  David  Hume, 
Thomas  Reid,  James  Beattie,  Adam  Ferguson,  Benjamin 
Franklin  u.  A.  Eine  stattliche  Anzahl  von  Briefen  jener 
Männer  an  tlome  veranschaulicht  diesen  geistigen  Verkehr  3). 

Seine  ethischen  Ansichten  legt  Home  nieder  in  dem 
ersten  Teil  seines  Werkes  „Essays  on  the  principles  of 
morality  and  natural  religion",  das  1751,  also  in  demselben 
Jahre,  wie  Humes  „Enquiry  concerning  the  principles  of 
moral",  in  Edinburgh  erschien.  Der  zweite  Teil  behandelt 
erkenntnistheorethische  und  religionsphilosophische  Pro- 
bleme; er  kommt  daher  für  unsere  Untersuchung  nicht 
in  Betracht.  1774  gab  Home  seine  „Sketches  of  the  History 
of  Man"  heraus;  der  zweite  Abschnitt  des  dritten  Buches 
der  „Skizzen"  trägt  die  Überschrift:  „Principles  and 
progress  of  morality"  und  deckt  sich  mit  den  Ausführungen 
der  „Essays".  Eine  zweite  Auflage  der  „Essays"  erschien 
1758,  sie  enthält  einige  Zusätze  und  Änderungen,  besonders 
in  dem  Versuch  über  Freiheit  und  Notwendigkeit;  nach 
dieser  Auflage  ist  eine  deutsche  Übersetzung  von  Rauten- 


1)  Alexander  Fräser  Tytler:   Demoirs  of  ihe  Life  and  Writings  of 

the  Honourable  Henry  Home  of  Kames ,  containing  Sketches  of  the 

Progress  of  Litterature  and  General  Improvement  in  Scotland  during  the 
greatcr  Part  of  the  eigbteenth  Century,   Edinburgh   1807  (2  Bände,  4«). 

2)  Home  ist  von  Hause  aus  Jurist. 

3)  Besonders  innig  ist  das  Verhältnis  zwischen  Home  und  Hume. 
Letzterer  schätzt  das  Urteil  des  15  Jahre  älteren  Freundes  sehr  hoch. 
In  einem  Briefe  aus  dem  Jahre  1738  (1739  erschien  Humes  „Treatise  on 
human  nature")  bitteter  Home,  wenn  er  nach  London  reise,  einige  Abende 
mit  ihm  zu  verbringen  „and  either  correct  my  judgment,  where  you  diflfer 
from  me,  or  coufirm  it,  where  we  agree."    Tytler,  a.  a.  0.,  I,  S.  90. 


_    8    - 

berg  angefertigt  worden  i).     I^ie  dritte  Auflage  endlich,  in 
welcher  gleichfalls  besonders  der  Versuch  über  die  Freiheit 
eine  Änderung  erfahren  hat,  stammt  aus  dem  Jahre   1779. 
Was  die  Veranlassung  zur  Abfassung  der  essays  be- 
trifft,   so   meint    Tytler,    Home    habe   gefürchtet,    manche 
Lehren    seines  Freundes  Hume,    die  dieser  in  der  „Unter- 
suchung    betreffs    des    menschlichen    Verstandes"    ausge- 
sprochen,  möchten   geeignet   sein,    die  Moralität  zu  unter- 
graben,   und  Home    habe   nun  sein  Buch  geschrieben,    um 
jenem  verderblichen  Einfluss  entgegenzuarbeiten.  Einen  Be- 
weis   für   seine  Behauptung    findet  Tytler   in  einem  Briefe 
Humes  vom  9.  Februar  1748,  in  welchem  er  Home  mitteilt, 
er    werde    die    „Philosophischen    Versuche",      von    deren 
Veröffentlichung  Home  ihm  abgeraten«),  dennoch  drucken 
lassen,    unbekümmert   um   das    Urteil    der    Menge.     Allein 
gegen  diese  Annahme  sprechen  mehrere  Gründe: 

l.     Home  stimmt  in  der  dem  gemeinen  Verstände  am 
meisten    anstössigen    Lehre    von    der    Notwendigkeit    der 
menschlichen  Handlungen    mit  Hume  vollkommen  überein. 
Überhaupt  lässt  es  sich  schwerlich  annehmen,    dass  Home 
mit  Rücksicht  auf  Vorurteile  des  Publikums  den  Druck  des 
„Enquiry''  sollte  widerraten  haben.    Schreibt  er  doch  selbst 
im  Vorbericht  zu  seinen  essays:    „Des  Verfassers  Denkart 
mag    vielleicht    in    einigen  Punkten    für  kühn   und  neu  ge- 
halten   werden.     Aber   Freiheit    des    Denkens   wird    denen 
nicht    missfallen,    die    in    ihren    Untersuchungen    von    der 
Liebe    zur    Wahrheit    geleitet    werden.      Für    diese    allein 
schreibt  er." 


1)  Versuche  über  die  ersten  Gründe  der  Sittlichkeit  und  der 
natürlichen  Religion  in  zwei  Teilen  von  Heinrich  Home,  aus  dem  Englischen 
übersetzt  und  mit  Anmerkungen  begleitet  von  C.  G.  Rautenberg.  Braun- 
schweig 1768.  Dieser  Übersetzung  sind  die  deutschen  Zitate  entnommen; 
die  englischen  beziehen  sich  auf  die  erste  Auflage  (1751). 

\  the  Philophical  Essays,   which   you   dissuaded   me  from 

printing.  (Tytler,  a.  a.  D,  I,  S.  129).  Wie  aus  der  Jahreszahl  des  Briefes 
ersichtlich,  kann  hier  nur  von  dem  „Enquiry  concerning  human  under- 
standing"  die  Rede  sein. 


2.  Der  Inhalt  der  essays  bezeugt,  dass  Home  es 
keinesfalls  auf  die  Kritik  nur  eines  Philosophen  abgesehen, 
sondern  mit  Fleiss  und  Sorgfalt  alle  bedeutenderen  Moral- 
systeme seiner  Zeit  in  seinen  Gesichtskreis  gezogen  und 
der  Beurteilung  unterworfen  hat*). 

3.  Hume  wird  von  Home  in  dem  moralphilosophischen 
Teile  seines  Werkes  als  der  Verfasser  der  Abhandlung 
über  die  menschliche  Natur,  nicht  ein  einziges  Mal  dagegen 
als  der  Autor  des  Enquiry  zitiert. 

4.  Im  7.  Kapitel  des  2.  essay  polemisiert  Home 
gegen  Humes  Erklärung  der  Gerechtigkeit  aus  einer  Über- 
einkunft der  Gesellschaft.  Dieses  Thema  wird  aber  in 
Humes  „Enquiry"  gar  nicht  behandelt. 

Demnach  ist  es  höchst  unwahrscheinlich,  dass  erst 
Humes  „Enquiry"  Home  zur  Niederlegung  seiner  ethischen 
Ansichten  bestimmt  hat.  Will  man  durchaus  annehmen, 
dass  irgend  eine  Schrift  den  Anstoss  zur  Abfassung  der 
essays  gab,  so  möchte  es  doch  weit  eher  Humes  Erstlings- 
werk, „Treatise  on  human  nature,"  gewesen  sein,  in 
welchem  er  —  wie  auch  später  in  der  mit  Ilomes  essays 
gleichzeitig  erschienenen  Untersuchung  über  die  Prinzipien 
der  Moral  —  die  Gerechtigkeit  für  eine  Erfindung  der 
der  Menschen  erklärt  hatte,  was  den  entschiedensten 
Widerspruch  Homes  hervorrief.  Erregte  gleich  das  Werk, 
wie  Hume  in  seiner  Selbstbiographie  mitteilt,  bei  dem 
grossen  Publikum  nicht  einmal  in  soweit  die  Aufmerksamkeit, 
„dass    die    Frommen    sich    darüber    ereifert    hätten2)",    so 


( 


1)  Auch  in  dem  zweiten  (dem  erkennt nistheorethischen)  Teile  der 
essays  ist  die  Polemik  gegen  Berkeleys  Idealismus  genau  so  eingehend  wie 
die  gegen  Humes  Erklärung  der  Kausalität. 

2)  Dies  lag  an  der  Mangelhaftigkeit  des  Stils.  Hume  selbst  gestand 
später,  dass  er  das  Buch  zu  früh  veröffentlicht  habe.  Vielleicht  hatte 
Home  auch  an  dem  Stil  des  „Enquiry"  noch  manches  auszusetzen  und 
widerriet  deshalb  den  Druck  desselben.  So  würde  sich  die  oben  erwähnte 
Briefstelle,  die  Tytler  zum  Beweise  seiner  Annahme  heranzieht,  sehr  ein- 
fach erklären. 


—     10     — 

konnte    doch  einem  Manne  wie  Home  die  hohe  Tragweite 
der  Hume'schen  Gedanken  nicht  entgehen. 

Aber   bedurfte   es    denn    bei  einem  Manne,    der,  wie 
die  meisten  englischen  und  schottischen  Philosophen,  mitten 
im  Leben   stand,    überhaupt    erst    eines    ethischen  Werkes, 
um  ihn  zur  Abfassung  einer  Gegenschrift  oder  Ergänzungs- 
schrift   anzuspornen?    Nennt  doch  Home  einmal  die  Ethik 
die„mistress-science**  im  Gegensatze  zu  allen  übrigen  Wissens- 
zweigen ,    den  „hand-maids".    (S.  34).     Und    so   finden    wir 
auch  wirklich  den  27  jährigen  Jüngling  bereits  mit  ethischen 
Problemen    beschäftigt,    lange  bevor  seine  erste  juristische 
Schrift    erschien,     und     als    Hume     noch    ein    Knabe    von 
12  Jahren  war.     Er  richtet  nämlich   1723  ein  Schreiben  an 
den   berühmten  Geistlichen  Samuel  Clarke,    dem  er  einige 
seiner  Ansichten   vorlegt»).     War   so  das  Interesse  für  die 
Handlungen    der  Menschen  von  Anfang  an  in  Home  rege, 
so    w^urde  es  noch  durch  den  Umstand  gesteigert,  dass  er 
ein    Zeitgenosse     der     Deisten     und     ein     Anhänger     ihrer 
Denkungsart   war.     Mit   grossem  Recht  sagt  Hettner:  „Es 
war  weder  der  Zufall  noch  auch,  wie  man  es  meist  zu  be- 
trachten   pflegt,    allein    die  Unfähigkeit    zum    eigentlichen 
metaphysischen  Philosophieren,  es  war  im  vollen  Sinne  des 
Wortes  eine  geschichtliche  Notwendigkeit,  dass  jetzt  nach 
dem    Sieg    des    Deismus    die   Moralphilosophie    immer    ent- 
schiedener   in    den  Vordergrund    trat    und    zuletzt   zur  fast 
ausschliessenden  Herrschaft  gelangte2).''  Im  ganzen  Mittel- 
alter   hatte    die    Religion     die    Basis    der    Ethik    gebildet. 
Diese  Basis  erlitt  jetzt  Tag  für  Tag  die  gewaltigsten  An- 
griffe.    Wenn   sie    ihnen   erliegen    würde,    was    sollte  dann 
aus  der  Moral  werden?    Würde  dann  auch  sie  untergehen 
oder    auf    einer    solideren   Grundlage    neu    sich    erheben? 
Diese  ernste  Frage  aufgeworfen,  nach  allen  Seiten  erwogen 
und  beantwortet  zu  haben,  ist  das  bleibende  Verdienst  der 


1)  Siehe  Tytler,  a.  a.  0.,  I,  Appendix  No.  2.    Über  den  Inhalt  dieses 
Briefes  weiter  unten,  S.  31  f. 

2)  Hettner,  a.  a.  ü.,  S.  3.91. 


i 


—  11   — 

englischen  und  schottischen  Moralisten  des  vorigen  Jahr- 
hunderts, und  zu  ihnen,  die  mit  offenem  Blick  und  un- 
erschrockenem Mute,  frei  von  Autoritätsglauben  und  un- 
bekümmert um  das  Urteil  der  Kirche,  unumwunden  aus- 
sprachen, was  sie  für  wahr  und  richtig  erkannt,  zu 
ihnen  gehört  unser  Home  *). 

Der  erste,  für  unsere  Darstellung  allein  in  Betracht 
kommende  Teil  der  Essays  besteht  aus  drei  Versuchen. 
Der  erste  Versuch  zeigt  an  der  Hand  eines  Problems  der 
Ästhetik,  nämlich  der  Frage  nach  der  Ursache  des  Ver- 
gnügens an  tragischen  Gegenständen,  dass  der  Mensch  ein 
geselliges  Wesen  (a  social  being)  ist,  dass  seine  uneigen- 
nützigen Triebe  gerade  so  ursprünglich  wie  die  selbstischen 
und  nicht  etwa  erst  aus  diesen  abgeleitet  sind.  Der  zweite 
Versuch  handelt  in  neun  Kapiteln  von  der  Grundlage  und 
den  Triebfedern  des  Sittengesetzes 2).  Der  dritte  Versuch 
endlich  ist  dem  Problem  der  Willensfreiheit  gewidmet. 

Wir  gehen  nunmehr  zur  Darstellung  der  in  diesen 
drei  essays  niedergelegten  Anschauungen  über  und  zwar 
nach  folgenden  Geschichtspunkten: 

1.  Kap.  Die  Grundlage  der  Moral.  (2.  Versuch,  Kap. 
l   bis  4  und  Kap.  6). 

2.  Kap.  Theorie  der  Affekte.  (1.  Versuch;  2.  Ver- 
such, Kap.  5  und  7). 


1)  Es  würde  hier  zu  weit  führen,  von  den  Anfeindungen  zu  berichten, 
welche  die  Essays  vorzüglich  wegen  des  in  ihnen  gelehrten  Determinismus 
erlitten,  von  den  Gegenschriften,  von  der  Petition  an  den  geistlichen 
Gerichtshof  Schottlands,  Home  und  Hume  zur  Verantwortung  zu  ziehen, 
von  der  Ablehnung  der  Petition,  von  Homes  Schrift  zur  Verteidigung  seiner 
Anschauungen  etc.  Tytler  teilt  dies  alles  ausführlich  mit,  a*  a.  0.,  I, 
Kap.  5. 

2)  Of  the  Foundation  and  Principles  of  the  Law  of  Nature".  Das 
Wort  „principle"  gebraucht  Home  am  häufigsten  in  der  Bedeutung  „Neigung" 
„Affekt",  „Triebfeder",  seltener  steht  es  für  „Grundsatz".  Mit  „law  of 
nature"  bezeichnet  er  das  Sittengesetz,  indem  er  dieses  aus  der  Natur 
des  Menschen  entspringen  lässt.  Auch  Shaftesbury  nennt  die  sozialen 
Aftekte  „natürliche"  mit  der  deutlichen  Absicht,  die  nahe  und  ursprüngliche 
Beziehung  dieser  Meigungen  zur  i^lenschennatur  aufzuzeigen. 


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—     12     — 

3.  Kap.     Die  Hauptgesetze  der  Moral.     (2.  Versuch, 

Kap.  8). 

4.  Kap,     Die  Entwickelung    der    sittlichen    Anschau- 
ungen.    (2.  Versuch,  Kap.  9). 

5.  Kap.     Die  Freiheit  des  Willens.     (3.  Versuch). 


Erstes  Kapitel. 
Die  Grundlage  der  Moral. 

Die  sittlichen  Kräfte  der  allgemeinen  Menschennatur  als 
Grundlage  des  Sittengesetzes.  Homes  teleologische  Welt- 
anschauung. Der  moral  sense  in  seinem  Verhältnis  zu  der 
Loke'schen  Erkenntnistheorie.  Kritik  der  Moralsysteme 
von  Shaftesbury,  Hutcheson,  Hume  und  Smith.  Der  moral 
sense  als  Gewissen;  Butler,  Home  und  Kant.  Die  Haupt- 
und  Hülfstugenden ;  Home  und  Kant.  Polemik  gegen  die 
heteronomen  Systeme.     Polemik   gegen  die  Vernunftmoral 

von  Clarke  und  Wollaston. 

In  der  Einleitung  zum  zweiten  Essay  klagt  Home 
darüber,  dass  zwar  in  der  Naturwissenschaft  und  in  der 
Logik  die  induktive  Methode  nach  dem  Vorgange  be- 
deutender Forscher  immer  mehr  Platz  greife,  die  Ethik 
dagegen  nach  wie  vor  ein  Tummelplatz  für  metaphysische 
Spekulationen  bleibe.  ,,Täglich  schreibt  man  dem  Menschen 
Regeln  des  Verhaltens  vor,  ohne  im  geringsten  darauf  zu 
sehen,  ob  sie  auch  aus  der  menschlichen  Natur  entspringen 
oder  ihr  gemäss  sind."  (S.  33).  So  erhebt  der  eine  Sitten- 
lehrer den  Menschen  zu  den  Engeln  und  stellt  Anforderungen 
an  ihn,  die  er  nicht  imstande  ist  zu  erfüllen,  ein  anderer 
wiederum  erniedrigt  ihn  und  reicht  ihm  ein  Gesetzbuch 
dar,  „das  den  unvernünftigen  Tieren  angemessen  wäre  als 
vernünftigen  Wesen".  (S.  34).  Beides  ist  von  schlimmen 
Folgen:  Einer  unausführbaren  Aufgabe  gegenüber  ver- 
zweifelt  der   Mensch   und    legt   sie   bei   Seite;    verkleinert 


^      13     - 

man  andererseits  den  Abstand  zwischen  Mensch  und  Tier, 
so  verstärkt  man  die  Macht  der  Leidenschaften.  Home 
verspricht,  seine  Schlüsse  an  ihrem  wahren  Probierstein, 
dem  der  Erfahrung,  zu  prüfen. 

Was  ist  nun  vor  allem  die  wahre  Grundlage  des 
Sittengesetzes,  die  so  viele  Philosophen  zu  bestimmen  sich 
bemüht  haben,  bei  welchem  Bestreben  sie  aber  zu  so  gänz- 
lich von  einander  verschiedenen  Resultaten  gelangt  sind? 
Es  ist,  um  es  gleich  vorauszuschicken,  die  allgemein 
menschliche  Natur  (the  common  nature  of  man).  Dies 
Resultat  ergiebt  sich  Home  aus  folgender  Betrachtung:  Es 
giebt  keine  engere  Verbindung  als  die  zwischen  einem  Wesen 
und  seinen  Handlungen;  denn  es  ist  die  Verbindung  zwischen 
Ursache  und  Wirkung.  Nun  gehört  aber  jedes  Wesen  zu  einer 
bestimmten  Klasse,  und  die  verschiedenen  Klassen  der 
Geschöpfe  unterscheiden  sich  nicht  nur  durch  ihre  Gestalt, 
sondern  auch  durch  ihre  innere  Einrichtung,  wie  dies  aus 
dem  einer  jeglichen  Gattung  eigentümlichen  Verhalten  er- 
kannt wird.  Handelt  nun  das  einzelne  Geschöpf  der  gemein- 
schaftlichen Natur  seiner  Gattung  gemäss,  tritt  die  aus 
seiner  Zugehörigkeit  zu  dieser  bestimmten  Gattung  zu  er- 
wartende Aktion  ein,  so  erweckt  dies  in  uns  das  Gefühl 
der  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit,  und  wir  nennen  die 
Handlung  regelmässig  und  gut.  Weicht  sie  dagegen  von 
der  gemeinschaftlichen  Natur  der  Gattung  ab,  so  mag  sie 
noch  so  sehr  mit  der  besonderen  Einrichtung  dieses  Wesens 
übereinstimmen,  das  hindert  uns  nicht,  die  That  für  eine 
ordnungswidrige  (disorderly)  und  ungereimte  (whimsical) 
zu  halten,  gerade  so,  wie  wir  einen  Menschen  mit  zwei 
Köpfen  oder  vier  Händen  eine  Missgeburt  nennen,  wie  ge- 
schickt auch  immer  ein  solcher  Mensch  seine  überzähligen 
Gliedmassen  zu  gebrauchen  versteht. 

Jetzt  wissen  wir,  dass  wir  die  Grundlage  des  Sittenge- 
setzes in  der  Natur  des  Menschen  zu  suchen  haben  und 
zwar  nicht  in  der  besonderen  Natur  eines  jeden  Einzelnen, 
sondern  in  der  gemeinschaftlichen  Natur  der  Gattung.    Es 


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14     — 


15 


gilt  also,  die  Natur  des  Menschen  als  solchen  zu  unter- 
suchen, die  sittlichen  Kräfte  in  derselben  aufzudecken,  um 
hiernach  seine  sittlichen  Aufgaben  zu  bestimmen. 

Freilich  darf  ich  die  sittlichen  Aufgaben  und  Zwecke 
nur  dann  aus  den  im  Menschen  ruhenden  sittlichen  Kräften 
bestimmen ,  wenn  ich  von  der  Zweckmässigkeit  in  der 
Natur  überhaupt  und  somit  auch  in  der  Menschennatur  im 
Besondern  überzeugt  bin;  und  diese  Überzeugung  spricht 
denn  auch  Home  deutlich  aus,  wenn  er  sagt:  „Wir  tragen 
kein  Bedenkrn  zu  behaupten,  dass  eine  Art  der  Dinge,  die 
diese  oder  jene  Natur  hat,  auch  für  diesen  oder  jenen 
Endzweck  gemacht  ist.''  (S.  37).  Man  hat  Home  die 
häufige  Bezugnahme  auf  Endursachen  (final  causes)  zum 
Vorwurt  gemacht  und  ihm  das  Wort  Bacons  entgegenge- 
halten, welches  das  Aufsuchen  von  Endursachen  bezeichnet 
als  eine  „inquisitio  sterilis  et  tanquam  virgo  Deo  consecrata, 
quae  nihil  parit."  Schon  Tytler*)  aber  nimmt  unsern 
Philosophen  in  Schutz:  Bacon  habe  nur  behauptet,  die 
Endursachen  dürfen  nicht  an  die  Stelle  der  physikalischen 
Ursachen  treten,  was  allerdings  der  wissenschaftlichen 
Forschung  Schaden  bringen  würde.  Allein  nach  Auf- 
suchung der  physikalischen  Ursachen  ist  es  nicht  nur  nicht 
schädlich,  sondern  sogar  förderlich,  Endursachen  zu  ent- 
decken. Home  verweilt  zwar  mit  Vorliebe  bei  teleolo- 
gischen Betrachtungen,  verfällt  dabei  aber  nicht  in  den 
oben  gerügten  Fehler*^).  Wir  haben  somit  keinen  Grund, 
über  Homes  teleologische  Auseinandersetzungen  den  Stab 
zu  brechen.  Mag  auch  die  naive  Ausdrucksweise  uns  zu- 
weilen etwas  seltsam  anmuten,  der  Grundgedanke  ist  doch 
wahr  und  wertvoll.  Denn  der  Einführung  des  Zwecks- 
begriffes in  die  Natur  verdanken  wir  es,  dass  „die  innere 
Bestimmung   des  Menschen    tiefer   erkannt    wurde  und  die 


1)  a.  a.  0.,  I,  Appendix  No.  3. 

2)  So  widmet  er  z.  B.  im  3.  Buch  der  „Sketches  of  the  History 
of  Man"  zwar  den  ., final  causes"  des  Sittengesetzes  ein  hcsondcres  Kapitel, 
aber  erst,  nachdem   ohne  Rücksicht   auf  sie  die  Gesetze  aufgestellt  sind. 


Begriffe    des  Organischen   und  Ethischen    sich   gegenseitig 
vertieften  und  aufhellten»).*' 

Wenn  wir  unser  Augenmerk  auf  unser  Verhältnis  zu 
unserer  Umgebung    richten,    so  bemerken  wir,    dass  nichts 
in   der  Welt   uns  gleichgültig  lässt,   sondern  alles  uns  ent- 
weder Freude  oder  Schmerz  bereitet.    Diese  Empfindungen 
haben   verschiedene   Grade,   die    von    dem   Gesichtspunkte 
abhangen,    von    dem    aus  wir  die  Gegenstände  betrachten. 
Manche   Dinge    erfreuen    oder    schmerzen    uns    durch   ihr 
blosses  Vorhandensein;  der  Anblick  einer  schattigen  Eiche 
gefällt,  der  eines  missgestalteten  Geschöpfes  missfällt  ohne 
weiteres,    und  wir  nennen  erstere  schön,  letzteres  hässlich. 
Dieser    Art    von  Schönheit    und     Hässlichkeit    weist  Home 
die    niedrigste   Stufe    an.     Eine    höhere   Stufe    scheint    ihm 
diejenige    Schönheit    (resp.    Hässlichkeit)    zu    sein,    die  wir 
einein    Gegenstande    zuschreiben    mit   Rücksicht   auf  seine 
Tauglichkeit    (resp.  Untauglichkeit)  zu   irgend  einem   End- 
zweck,   sei    dieser    selbst    nun    gut    oder  schlecht.     Diese 
Art   der  Schönheit  findet  sich  bei  den  Werken  der  Kunst 
und  des  Verstandes  (Beispiele:  Ein  zum  Wohnen  bequemes 
Gebäude;     ein    wohlgeordneter    Staat^).      Ziehen    wir    den 
Endzweck  selbst,   dem  der  Gegenstand  dient,  in  Betracht, 
so    erhalten    wir    eine    dritte,    wiederum    höhere    Art    von 
Schönheit   und    Hässlichkeit,    je   nachdem   der  Gegenstand 
das  Mittel  zu  einem  nützlichen  oder  schädlichen  Endzweck 
ist.     (Z.  B.:   Ein    schön  gebautes  Schiff  gefallt  beim  ersten 
Anblick    [erster  Grad],    es    gefällt    noch    mehr  durch  seine 
Tauglichkeit   zur  sicheren  Beförderung  [zweiter  Grad],    es 
es   gefällt    schliesslich    am    meisten   durch  die  Nützlichkeit 

1)  A.  Trendelenburg:  Logische  Untersuchungen,  3.  Auflage,  Leipzig 

1870,  II,  S.  40. 

2)  Im  3.  Kap.  der  „Elements  ot  Criticism*'  nennt  Home  die  erstere 
Stufe  „intrinsic  beauty*'  (Schönheit  an  und  für  sich),  die  letztere  „relative 
beauty"  (Zweckniässigkeitsschönheit).  Über  die  Ähnlichkeit  dieser  Unter- 
ßcheidung  mit  der  Kantischen  von  „freier  und  anhängender  Schönheil**, 
sowie  über  die  Verschiedenheit  der  Schlussfolgeiungen  der  beiden  Ästhetiker 
vgl.  die  oben  (S.  5)  genannten  Monographien  über  Homes  Ästhetik. 


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—     16     - 

dieses  Zweckes,  den  Verkehr  zu  erleichtern  und  Bequem- 
lichkeilen mancher  Art  den  Menschen  zu  verschaffen 
[dritter  Grad]). 

Die  beiden  letzten  Arten  von  Schönheit  und  Häss- 
lichkeit  schliessen  die  Empfindung  der  Billigung  (appro- 
bation)  und  Missbilligung  (dissapprobation)  in  sich,  denn 
„billigen,  loben*'  heisst:  etwas  in  Ansehung  des  Endzweckes 
gut,  „mJssbilligen,  tadeln":  etwas  in  Ansehung  des  End- 
zweckes schlecht  finden.  Auf  die  erste  »Stufe  dfer  Schönheit 
finden  demgemäss  jene  Ausdrücke  keine  Anwendung. 

Die  drei  oben  geschilderten  Arten  der  Schönheit  und 
Hässlichkeit  kommen  allen  Dingen  zu,  lebendigen  und  leb- 
losen. Nun  giebt  es  aber  noch  eine  vierte,  von  den 
übrigen  grundverschiedene  Stufe,  die  sich  nur  bei  den 
Menschen  findet.  Betrachtet  man  nämlich  die  Handlungen 
der  Menschen  als  hervorgegangen  aus  Absicht,  Über- 
legung und  Wahl  (Intention,  deliberation  and  choice), 
so  unterscheiden  wir  sie  nicht  nur  als  schöne  oder  häss- 
liche  in  den  vorhin  erwähnten  Bedeutungen,  sondern  wir 
trennen  sie  noch  genauer  in  schickliche,  rechte  und 
angemessene  (fit,  right  and  meet  to  be  done)  und  in 
unschickliche,  unrechte  und  unangentessene 
Handlungen  (unfit,  unmeet  and  uwrong  to  be  done). 

Diese  Unterscheidungen  beruhen  auf  einfachen  Ge- 
fühlen, die  einer  weiteren  Erklärung  nicht  fähig  sind  (simple 
feelings,  capable  of  no  definition).  Aber  sie  bedürfen 
solcher  auch  nicht,  ein  Jeder  findet  sie  bei  scharfer  Selbst- 
beobachtung in  seinem  Innern.  Eine  Handlung,  aus  über- 
legter Absicht  hervorgegangen  betrachtet ,  wird  in  einem 
ganz  besonderen  Sinne  als  schön  oder  hässlich  bezeichnet. 
Daher  geben  wir  dieser  vierten  Stufe  der  Schönheit  auch 
einen  besonderen  Namen,  wir  nennen  sie  moralische 
Schönheit  (resp.  Hässlichkeit),  wir  sprechen  von  der 
Sittlichkeit  oder  Unsittlichkeit  der  menschlichen 
Handlungen,    und    die  Kraft    oder    das  Vermögen,    durch 


*■' 


—     17    — 

welches     wir    diesen    Unterschied    unter    den    Handlungen 
wahrnehmen,  heisst  das  „moralische  Gefühl"  (moral  sense). 

Das  die  moralische  Schönheit  eine  spezifisch  andere 
ist  als  die  übrigen  drei  (ästhetischen)  Stufen  derselben, 
bezeugt  der  Umstand,  dass  wir  einen  Künstler,  dessen 
Werk  uns  gefällt,  wegen  seiner  Geschicklichkeit  loben, 
niemals  aber  wegen  seines  Charakters. 

Wir  sehen,  wie  Home  darauf  dringt,  die  „moralische 
Schönheit"  von  der  ästhetischen  zu  trennen.  Der  Wert- 
unterschied zwischen  dem  Sittlichen  und  allen  übrigen 
Lebensgebieten  ist  von  ihm  klarer  erkannt  worden  als  von 
seinen  Vorgängern,  wie  wir  weiter  aus  seiner  Polemik 
gegen  dieselben  erkennen  werden.  Vorher  nur  noch  einige, 
Worte   zur    Charakterisierung    des    „moralischen    Gefühls" 

Die  Meinung  ist  verbreitet,  als  ob  Hutcheson,  der 
zuerst  die  Lehre  vom  „moralischen  Sinn"  aufstellte,  und 
diejenigen ,  welche  diesen  Begriff  von  ihm  annahmen  und 
weiter  ausbildeten,  der  Erkenntnistheorie  Lockes  untreu 
geworden  seien,  indem  sie  wieder  eine  „angeborene  Idee" 
in  die  Philosophie  eingeführt  hätten »).  Allein  es  ist  keines- 
wegs die  Meinung  jener  Denker,  dass  die  Empfindungen 
des  moralischen  Sinns  angeboren  seien.  Nichts  anders  / 
haben  sie  im  Sinn  als  zu  zeigen,  dass  die  moralischen  Ge-  r 
fühle  dem  Menschen  natürlich  und  kein  künstliches j 
Produkt  der  Erziehung  und  der  Gesellschaft  sind.  Da  nun 
Locke  selbst  im  Allgemeinen  einen  natürlichen,  ur- 
sprünglichen Sinn  annimmt  ~  von  einem  besonderen 
ästhetischen  und  moralischen  Sinne  findet  sich  nichts  bei 
ihm  ~,  so  bezeichnet  Zart 2)  umgekehrt  die  Annahme  des 
moral sensegeradezu  als  „eineSpezialisierungderLocke'schen 
Psychologie,  welche  bei  genauerer  Untersuchung  der  .  .  . 
moralischen  Erscheinungen  notwendig  schien".  Als  Be- 
weis  für   die  Richtigkeit   seiner  Auffassung   führt  er  noch 

1)  So  z.  B.  Windelband,  a.  a.  0.,  I,  S.  265. 

2)  G.  Zart:  Einfluss  der  englischen  Pliilosophen  seit  Bacon  auf  die 
deutsche  Philosophie  des  18.  Jahrhunderts.     Berlin  1881.    S.  93. 


—     18 


19 


den  Umstand  an,  dass  Butler  die  moralische  Anlage  mit 
dem  Ausdruck  „Reflexion"  bezeichnet.  Hutcheson  erklärt 
ausdrücklich,  dass  angeborene  praktische  Urteile  nirgends 
nachweisbar  seien ;  der  moral  sense  ist  ihm  nicht  mehr  und 
nicht  weniger  als  „die  Einrichtung  unserer  Natur,  von  be- 
stimmten Gegenständen  mit  einem  wohlthuenden  oder 
widrigen  Gefühl  affiziert  zu  werden"  i).  Es  ist  daher  nicht 
zuzugeben,  dass  die  Vertreter  des  moral  sense  mit  ihrer 
Annahme  den  Boden  der  Locke'schen  Erkenntnistheorie 
verlassen  hätten. 

Wie  bedeutend  aber  auch  immer  der  Fortschritt  der 
Moralisten  war,  welche,  die  Fesseln  der  Theologie  und  der 
Scholastik  abstreifend,  die  Sittlichkeit  nicht  in  abstrakten 
Begriffen,  sondern  in  den  Gefühlen  des  menschlichen 
Herzens  suchten  und  auffanden,  mit  wie  grossem  Recht 
auch  Meiners2)  den  Shaftesbury  als  den  ersten  Hochpriester 
bezeichnet,  der  den  lange  verschlossenen  Tempel  der 
menschlichen  Natur  wieder  geöffnet,  der  ohne  Verleumdung 
und  Lobrednerei  den  Menschen  so  erkannt  und  geschildert, 
wie  ihn  die  Gottheit  hervorgebracht:  ein  Fehler  lag  dieser 
psychologischen  Begründung  der  Ethik  sehr  nahe,  ein 
Fehler,  der  Kant  so  bedenklich  erschien,  dass  er  den  un- 
natürlichen Versuch  unternahm,  die  Psychologie  gänzlich 
aus  der  Ethik  zu  verbannen.  Wir  vermissen  nämlich  bei 
den  Vertretern  der  Gefühlsmoral  zumeist  das  imperativische 
Moment.  Entweder  zeigen  sie  uns,  dass  es  klug  und  vor- 
teilhaft sei,  sittlich  zu  handeln,  oder  sie  erklären,  dass 
es  schön  sei,  und  sie  versichern,  dass  wir  durch  sittliches 
Handeln  uns  die  Liebe  unseres  Mitmenschen  erwerben. 
Dass  es  aber  eine  strikte  Pflicht  giebt,  der  wir  ohne 
Widerspruch  unbedingt  gehorchen  müssen,  diese  Lehre 
suchen  wir  bei  ihnen  vergebens. 

1)  Siehe  E.  v.  Hart  manu:   Phänomenologie  des  sittlichen  Bewusst- 
seins,  Berlin  1879.  S.  164  f. 

2)  Siehe  C.  Meiners:  Allgemeine  kritische  (Tcschichte  der  altem  und 
neueren  Ethik  oder  Lebenswissenschaft,  Göttingen  1800.    S.  278. 


Home  hat  den  hier  gerügten  Mangel  deutlich  erkannt, 
und  er  deckt  ihn  unbarmherzig  auf,  wiewohl  es  nach 
seiner  Ansicht  eine  unangenehme  Arbeit  ist,  Schriftsteller 
zu  kritisieren,  „die  die  Sache  der  Tugend  befördert  haben.*' 
Shaftesbury,  so  führt  er  aus,  habe  überzeugend  dar- 
gethan,  dass  die  Tugend  ein  Glück,  das  Laster  ein  Un- 
glück für  uns  sei,  dass  sie  aber  unsere  Pflicht  ist,  habe  er 
nicht  bewiesen.  Wenn  also  jemand  die  ethischen  Vor- 
schriften missachtet,  so  könne  er  nach  Shaftesbury  nur  für 
thöricht,  niemals  aber  für  boshaft  gehalten  werden. 

Ist   es   bei  Shaftesbury's  System    die   eudämonistische 
Färbung,  welche  Home  bemängelt,  so  setzt  er  an  Hutcheson 
aus,  dass    er   die  Sittlichkeit    der  Handlungen  auf  die  Be- 
schaffenheit derselben  gründet,  die  dem,  der  sie  vollbringt, 
Beifall  und  Liebe  erwirbt.    Diese  Begründung  nennt  Home 
unvollkommen;    denn    ein    Mensch,     welcher   Niemandem 
Schaden   zufügt    und    sein  gegebenes  Versprechen  treulich 
erfüllt,  ist  sittlich,  ohne  dass  wir  ihn  deshalb  gerade  lieben. 
Unsere  Liebe    erwirbt   er  sich  erst  durch  grossmütige  und 
wohlthätige    Handlungen.      Hauptsächlich    aber,    bemerkt 
Home,  verdient  der  Umstand  Erwähnung,  dass,  wenn  man 
den  Beifall  zum  Grunde   der  Sittlichkeit   macht,   die   Aus- 
drücke  „Recht,   Verbindlichkeit,   Pflicht,  Sollen,    Müssen'' 
(right,  Obligation,  duty,  ought,  should)  keine  unterscheidende 
Bedeutung  haben.     Beifall  (approbation)  kommt,  wie  oben 
gezeigt  wurde,  nicht  nur  moralischen  Handlungen,  sondern 
auch    Gegenständen    der    Kunst    und    des    Verstandes    zu, 
wenn  sie  mit  Hinsicht  auf  den  Endzweck  betrachtet  werden. 
Indem    so   Hutcheson    die  Grenze    zwischen  Ästhetik    und 
Ethik    verwischt,    lässt  er    es    an  einer  befriedigenden  Er- 
klärung des  Pflichtbegriffs  fehlen. 

David  Hume  lässt  in  seinem  „Treatise  on  human 
nature"  die  Sittlichkeit  einer  Handlung  in  dem  Beifall  be- 
stehen,  den  wir  derselben  zollen,  wenn  wir  durch  Über- 
legung erkennen,  dass  sie  dem  Wohle  der  Gesellschaft 
dient.     Abgesehen  davon,  dass  dies  eine  zu  schwache   Be- 


—     20     - 

gründung  ist,  um  die  Leidenschaften  zu  zügeln,  lässt 
auch  diese  Theorie  die  Ausdrücke  „Pflicht,  Schuldigkeit  etc." 
unerklärt. 

In  der  dritten  Auflage  der  Essays  geht  Home  auch 
auf  das  Sympathieprinzip  des  Adam  Smith  ein^).  Nach 
Smith  beruht  die  Sittlichkeit  darauf,  dass  wir  uns  in  die 
Lage  des  Andern  versetzen.  Hiergegen  macht  Home  be- 
sonders geltend,  dass  dann  die  mit  der  grössten  Einbildungs- 
kraft begabten  Menschen  am  meisten,  und  diejenigen, 
welche  nur  im  geringen  Masse  diese  Eigenschaft  besitzen, 
am  wenigsten  von  ihren  moralischen  Pflichten  durchdrungen 
sein  müssten,  was  der  Erfahrung  widerspricht. 

Nunmehr  ist  es  an  Home,  eine  festere  und  stichhaltigere 
Grundlage  für  die  Ethik  zu  finden.  Zu  diesem  Zwecke 
nimmt  er  eine  scharfe  Analyse  des  moralischen  Gefühls 
vor.  Dieses  Gefühl  hatten  wir  oben  als  das  Vermögen 
erkannt,  durch  welches  wir  die  menschlichen  Handlungen 
als  schicklich,  recht,  angemessen  oder  als  unschicklich, 
unrecht,  unangemessen  bezeichnen.  Diese  Ausdrücke 
kommen  den  menschlichen  Handlungen  zu  im  Gegensatz 
zu  den  Gegenständen  der  Kunst.  Aber  auch  zwischen  den 
menschlichen  Handlungen  selbst  macht  das  moralische  Ge- 
fühl einen  Unterschied,  indem  es  die  Ausübung  mancher 
Handlungen  als  schicklich  empfiehlt,  andere  hingegen 
als  notwendig  fordert.  Bei  einer  Gattung  von 
Handlungen  —  die  genauere  Untersuchung  ergiebt,  dass 
es  die  Werke  des  Wohlwollens  und  der  Menschenliebe 
sind  —  haben  wir  die  Empfindung,  dass  es  schicklich  und 
angemessen  ist ,  sie  auszuführen ;  unterlassen  wir  sie  aber 
so  sind  wir  uns  keines  Unrechts  bewusst.  Anders  bei  der 
zweiten  Gattung  —  es  sind  die  Handlungen  der  Ge- 
rechtigkeit, Wahrhaftigkeit  und  Treue  -  :  hier  fordert  das 
moralische  Gefühl    die  Ausführung    oder   die  Unterlassung 


1)  Adam   Smith's  „Thcory  of  moral   scntiments"    erschien   London 
1759,  ein  Jahr  nach  der  2.  Auflage  der  Essays. 


^f 


) 


—     21     — 

von  Handlungen  als  eine  strikte  Pflicht ,  der  wir  unter 
keinen  Umständen  uns  entziehen  können ,  „wir  sind  uns 
einer  Notwendigkeit  bewusst,  die  uns  zu  ihrer  Ausübung 
verbindet  und  zwingt,  nicht  anders,  als  wenn  wir  durch 
eine  äusserliche  Gewalt  getrieben  würden."     (S.  49). 

Das    moralische   Gefühl    hat    demnach   ein   doppeltes 
Amt.  Indem  es  die  Handlungen  unterscheidet  als  solche, 
die  unumgängliche  Pflicht    sind,     oder  solche,  die    ausser 
den  Grenzen  der  strikten  Pflicht  liegen  und  unserer  Willkür 
überlassen    bleiben,   schafft  es  zwei  Stufen  von  Tugenden: 
die  Haupt-  und  Hülf stugenden  (primary  and  secondary 
virtues).  In  der  ersteren  Funktion  berührt  sich  das  moralische 
Gefühl   doch    in   so   fern   mit  dem    ästhetischen,   als  es  die 
Hülfstugenden  in  ihrer  Erhabenheit  und  Schönheit  uns  vor 
Augen  führt;    in  der  andern  Funktion  aber  tritt  es  in  der 
Gestalt    eines    mächtigen    und    unbeugsamen  Gesetzes    auf, 
Gehorsam  fordernd  ohne  Bedingung  und  ohne  Widerspruch, 
den    zügellosen  Leidenschaften    ein   gewaltiges  „Halt"!  zu- 
rufend und  dem  Gemüte  das  „Du  sollst"  mit  aller  Strenge 
einschärfend.       In     dieser     zweiten     Funktion    heisst     das 
moralische   Gefühl    „Gewissen"   (conscience),   und   es  be- 
thätigt  sich  auf  doppelte  Weise:  Es  hält  dem  Schwankenden 
seine  Pflicht  vor  Augen,  mahnt  ihn  an  die  Ausführung  oder 
Unterlassung  der  That  (mahnendes  Gewissen);  nach  Über- 
tretung  einer   Pflicht    aber   quält    es   den   Menschen    durch 
die  Empfindung   der  Selbsterniedrigung,  durch  das  Gefühl 
von  verdienter  Strafe  und  durch  die  Furcht  vor  derselben 
(strafendes  Gewissen). 

Dass  das  moralische  Gefühl  diesen  Unterschied 
zwischen  pflichtmässigen  und  verdienstlichen  Handlungen 
macht,  das  ist  eine  einfache  Thatsache  des  Bewusstseins, 
die  eine  weitere  Zergliederung  und  Erklärung  nicht  zulässt. 
„Wir  können  keinen  andern  Beweis  davon  geben,  als  dass 
wir  uns  auf  eines  Jeden  eigene  Empfindung  berufen.  Man 
lege  nur  alle  Vorurteile  bei  Seite  und  gebe  auf  das  genau 
Acht,    was    in    der    Seele    vorgeht.      Mehr    fordere    ich 


—    22 


nicht*'.  (S.  48  f.).  In  allen  Sprachen  finden  sich  auf  der 
einen  Seite  die  Ausdrücke  „Pflicht,  Schuldigkeit,  Müssen, 
Sollen",  auf  der  andern  Seite  die  Bezeichnungen  „Edelmut, 
Wohlwollen,  Güte*';  und  da  die  Sprache  der  Ausdruck 
unserer  Gefühle  ist ,  so  sind  diese  Bezeichnungen  ein 
deutlicher  Beweis  für  das  Vorhandensein  des  moralischen 
Gefühls  in  der  angeführten  doppelten  Form. 

In  diesen  Ausführungen  verdienen  zwei  Punkte  be- 
sondere Beachtung: 

1)  Die  scharfe  Hervorhebung  der  Funktion  des  Ge- 
wissens, 

2)  die  Trennung  von  Haupt-  und  Hülfstugenden, 

In  dem  ersten  Punkte  hat  Home  in  Butler  einen  Vor- 
gänger; die  Haupt-  und  Hülfstugenden  hat  Home,  wie  es 
scheint,  zum  erstenmal  einander  gegenübergestellt. 

Home  bezeichnet  Butler  als  denjenigen  Philosophen, 
der  den  wahren  Grund  der  sittlichen  Verpflichtung  tiefer 
erkannt  habe,  als  irgend  ein  Anderer.  Joseph  Butler, 
Bischof  in  London,  ein  um  vier  Jahre  älterer  Zeitgenosse 
Homes,  hat  in  seinen  „Predigten"  seine  ethischen  An- 
schauungen niedergelegt  ^).  Ein  Schüler  Shaftesbury's, 
nimmt  er  dessen  „Reflexionsaft'ekte"  in  seine  Lehre  auf. 
Während  diese  Affekte  aber  bei  Shaftesbury  den  selbstischen 
und  den  geselligen  Trieben  nebengeordnet  sind  und  die 
Sittlichkeit  in  der  harmonischen  Entfaltung  aller  dieserTriebe 
besteht,  weist  Butler  den  Reflexionsaffekten  eine  höhere 
Aufgabe  zu:  sie  sind  den  übrigen  Trieben  übergeordnet 
und  haben  die  Befugnis,  dieselben  zu  überwachen  und  ihre 
Befriedigung  entweder  zu  gestatten  oder  zu  untersagen. 
Er  giebt  den  Reflexionsaffekten  den  Namen  „Gewissen". 
Diese  wichtigen  Bemerkungen  Butlers  sind  vielfach  über- 
sehen worden.  Mackintosh^)  schreibt  dies  seinem  un- 
genügenden Stil  zu.    Niemals,  meint  er,  sei  ein  so  grosser 


1)  J.  Butler:   Fifteen   sermons  upon  human  nature,  or  man  consi- 
dered  as  a  moral  agent.  London  1726. 

2)  a.  a.  0 ,  Abschnitt  über  Butler. 


23      — 


Denker  ein  so  schlechter  Schriftsteller  gewesen;  daher 
habe  er  wohl  so  wenige  Nachfolger  aufzuweisen.  Es  gereicht 
Home  zur  Ehre,  zu  diesen  Wenigen  zu  gehören  und  mit 
allem  Nachdruck  auf  die  Bedeutsamkeit  der  Butler'schen 
Lehre  hingewiesen  zu  haben.  Er  ist  der  Ansicht,  dass 
Butler  wohl  mehr  Licht  über  das  „Gewissen"  verbreitet 
hätte,  wenn  der  Gegenstand  von  ihm,  statt  in  der  Vorrede, 
in  den  Predigten  selbst  behandelt  worden  wäre;  so  aber 
seien  seine  Ausführungen  zu  dunkel.  Zwei  Punkte  besonders 
sind  hervorzuheben,  durch  welche  sich  Homes  Lehre  vom 
Gewissen  von  der  Butlers  unterscheidet : 

1)  Nach  Home  ist  das  Gewissen  weder  eine  bei- 
geordnete noch  auch  eine  übergeordnete  Triebfeder,  sondern 
der  Führer  und  Lenker  der  Triebfedern.  Das 
moralische  Gefühl  findet  Affekte  vor,  and  seine  Aufgabe 
ist  es ,  diese  Affekte  durch  Zustimmung  zu  verstärken  oder 
durch  Versagung  der  Zustimmung  einzudämmen ;  es  selbst 
aber  ist  kein  Affekt  i).  2)  Die  Herrschaft  des  Gewissens 
besteht  keineswegs  allein  in  einer  Handlung  der  Überlegung 
(reflection),  sondern  sie  entspringt  aus  einer  unmittelbaren 
Empfindung,  die  sich  unserer  bemächtigt,  sobald  der 
Gegenstand  sich  darstellt.  Bei  der  ethischen  Schätzung- 
redet ja  gewiss  die  Vernunft  mit,  allein  um  mit  v.  Hart- 
mann zu  sprechen,  immer  „hat  die  Empfindung  den  Vor- 
rang, und  das  Urteil  spaziert  nur  als  der  hülfreiche  Diener 
hinterdrein  2).'* 

Zart 3)  schätzt  das  Verdienst  Homes  um  die  Lehre 
von  der  Unbeugsamkeit  des  Pflichtgebotes  so  hoch,  dass 
er  keinen  Anstand  nimmt,  ihn  mit  den  Namen  eines 
„englischen  Kant"  auszuzeichnen.  Er  nennt  Homes  An- 
schauung ,,eine  Vorandeutung  und  Vorbereitung  eines 
späteren  wStandpunktes,  die  in  Form  der  Vorahnung  auftritt." 


1)  Siehe  weiter  unten,  S.  31. 

2)  E.  V.  Hartmann   a.  a.  0.,  S.  lli. 

3)  Zart,  a.  a.  0.,  S.  230. 


—     24     — 

Grossen  Wert  legt  Home  auf  die  Unterscheidung  der 
primären  und  sekundären  Tugenden.  Bereits  in  dem  oben  ^) 
erwähnden  Briefe  an  Clarke  —  28  Jahre  vor  dem  Er- 
scheinen der  Essays  —  neigt  er  stark  zu  dieser  Ansicht. 
Die  Begriffe  „Grossmut,  Güte,  Selbstsucht"  hätten  gar  nicht 
gebildet  werden  können,  gäbe  es  nicht  eine  Reihe  von 
Thaten,  denen  der  Charakter  der  strengen  Verbindlichkeit 
fehlt.  Man  nennt  einen  Menschen,  der  seine  Schulden  be- 
zahlt, nicht  grossmütig ;  und  ebensowenig  heisst  der,  welcher 
sie  nicht  bezahlt,  selbstsüchtig,  sondern  schlecht.  In  den 
Essays  widmet  Home  der  Behandlung  der  beiden  Tugend- 
gattungen ein  besonderes  Kapitel.  Er  weist  darauf  hin, 
dass  die  Haupttugenden  diejenigen  sind,  ohne  welche  ein 
Zusammenleben  der  Menschen  undenkbar  wäre,  die  Hülfs- 
tugenden  dagegen  diejenigen,  ohne  welche  die  Gesellschaft 
bestehen  könnte,  wenn  gleich  minder  vollkommen.  Es  ist 
daher,  vom  teleologischen  Standpunkte  aus  betrachtet,  eine 
treffliche  Einrichtung  unserer  Natur,  dass  das  moralische 
Gefühl,  während  es  die  Hülfstugenden  nur  anpreist,  die 
Haupttugenden  geradezu  fordert  und  ihre  Übertretung  mit 
Gewissensbissen  straft.  Aber  werden  da  die  Hülfstugenden 
nicht  Gefahr  laufen,  vernachlässigt  zu  werden?  Auch  dies 
wird  durch  die  Einrichtung  unserer  Natur  verhindert. 
Sind  auch  keine  Strafen  auf  die  Verletzung  der  Hülfs- 
tugenden gesetzt,  so  wird  doch  ihre  Erfüllung  belohnt, 
und  zwar  „durch  das  Bewusstsein  unseres  inneren  Wertes 
und  durch  den  Ruhm  und  den  Beifall  der  Welt".    (S.  55). 

Diese  Trennung  der  Pflichten  in  solche  von  enger 
und  solche  von  weiter  Verbindlichkeit  finden  wir  bei  Wolff 
und  seiner  Schule,  sowie  bei  den  Eklektikern  (z.  B.  Sulzer) 
wieder;  von  ihnen  hat  sie  sodann  Kant  entlehnt 2).  Auch 
bei  Kant  sind  die  „vollkommenen"  oder  „unnachlasslichen*' 
Pflichten  diejenigen,   ohne  die  das  menschliche  Geschlecht 


1)  S.  10. 

2)  Vgl.  Hegler,  die  Psychologie  in  Kants  Ethik.    Freihurg  i.  B.,  1891. 


-      25     — 

nicht  bestehen  könnte,  während  die  „unvollkommenen"  oder 
„verdienstlichen"  Pflichten  für  die  Gesellschaft  weniger 
wesentlich  sindO-  Bei  ersteren  erkennen  wir,  dass  ihre 
Verletzung  eine  Maxime  wäre,  die  unmöglich  ein  alige- 
meines Gesetz  werden  kann,  und  diese  Einsicht  lehrt  uns 
unsere  Schuldigkeit  zu  erfüllen.  Wie  aber  bei  den  unvoll- 
kommenen Pflichten?  Eine  Maxime,  zu  dem  Wohle  des 
Nächsten  nichts  beizutragen,  könnte  wohl  als  allgemeines 
Gesetz  bestehen ;  ein  logischer  Widerspruch  kann  hier  nicht 
gefunden  werden.  Aber,  so  fährt  Kant  fort,  höchst  merk- 
würdigerweise  in  die  egoistische  Moral  verfallend,  die  er 
sonst  so  verpönt:  der  Mensch  kann  nicht  wollen,  dass 
eine  solche  Maxime  allgemeingültig  werde ,  „indem  der 
Fälle  sich  doch  manche  ereignen  können,  wo  er  Anderer 
Liebe  und  Teilnehmung  bedarf,  und  wo  er  durch  ein 
solches  aus  seinem  eigenen  Willen  entsprungenes  Natur- 
gesetz sich  selbst  alle  Hoffnung  des  Beistandes,  den  er 
sich  wünscht,  rauben  würde  2)." 

Dass  dies  keine  ethische  Begründung  der  Pflichten 
zweiten  Grades  ist,  muss  Jeder  zugeben;  die  Pflichten  des 
Wohlwollens  und  der  Menschenliebe  sind  hier  auf  den 
nakten  Egoismus  gegründet.  Wie  viel  mehr  befriedigt  uns 
da  die  Begründung  Homes,  dass  die  Erfüllung  der  Pflichten 
des  Wohlwollens  belohnt  wird  durch  das  freudige  Bewusst- 
sein, sich  über  das  Durchschnittsmass  des  Verlangten  er- 
hoben zu  haben.  Hiergegen  könnte  höchstens  noch  ein- 
gewandt werden,  der  sittliche  Mensch  solle  niemals  glauben, 
mehr  als  seine  Pflicht  gethan  zu  haben.  Dies  ist  in  so 
fern  gewiss  richtig,  als  man  in  der  Erfüllung  der  wesent- 
lichen und  der  verdienstlichen  Pflichten  gleichen  Eifer 
zeigen  soll.  Im  Bewusstsein  aber  ist  der  Unterschied  der 
Grade  nicht  zu  verkennen.  Wir  müssen  Home  zugeben, 
„dass  kein  Mensch  so  vorteilhaft  von  sich  selbst  denkt,  weil 


1)  Kant:  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten,  ed.  Kirchmann 


M 


S.  44  flf. 


S.  266. 


2)  ebend.  S.  47. 


—     26     — 

er   eine  gerechte,   als    weil    er    eine   edelmütige    Handlung 
verrichtet".     (S.  54). 

Eine  andere  Frage  wäre  die,  wo  denn  die  Grenze  ist, 
welche  die  verdienstlichen  Handlungen  von  den  strengen 
Pflichten  sondert;  doch  davon  später  i). 

In  einem  Punkt  nun  ist  Home  mit  allen  Moralphilosophen, 
an  denen  er  bis  jetzt  Kritik  geübt  hat,  einig:  Sie  alle 
haben  die  unschätzbare  Bedeutung  der  Gefühle 
erkannt,  sie  alle  haben  die  Moral  in  enger  Verbindung 
mit  der  Psychologie  behandelt.  Mit  dieser  Überein- 
stimmung ist  eine  zweite  unvermeidHch  verknüpft:  alle 
jene  Moralsysteme  sind  autonom.  Denn  ist  die  Sittlich- 
keit uns  ins  Herz  geschrieben,  geben  unsere  Gefühle  Auf- 
schluss  über  den  Unterschied  von  gut  und  böse,  so  bedarf 
es  keines  von  aussen  kommenden  Gesetzes;  es  wäre  zweck- 
los, wenn  es  geböte,  wozu  ohnehin  die  Natur  uns  antreibt, 
es  wäre  sinnlos,  wenn  es  geböte,  was  unserer  Natur  wider- 
spricht. 

Zu  allen  Zeiten  hat  es  Vertreter  der  heteronomen 
Moral  gegeben.  Ihre  Lehre  gipfelt  in  der  Behauptung, 
dass  erst  der  Ausspruch  und  der  Wille  Gottes  einen 
Unterschied  zwischen  Tugend  und  Laster  hervorbringe. 
Home  nennt  in  seiner  Polemik  keine  besonderen  Vertreter 
jener  Pseudomoral,  sondern  bekämpft  sie  im  Allgemeinen 
und  zwar  mit  dem  bekannten  Argument,  dass  wir  niemals 
dem  göttlichen  Wesen  die  Prädikate  der  Güte  und  der 
Heiligkeit,  der  Liebe  und  der  Gerechtigkeit  beilegen 
könnten,  wenn  wir  nicht  vorher  eine  Erkenntnis  von  dem 
Unterschiede  zwischen  Tugend  und  Laster  besässen.  Wenn 
die  Vertreter  der  heteronomen  Moral  mit  ihrem  Satze 
nichts  anderes  sagen  wollten,  als  dass  wir  von  dem  Schöpfer 
eine  Anlage  zur  Sittlichkeit  empfangen  haben  und  dass  in 
sofern   die  Sittlichkeit  von  ihm  abhängt,   so  Hesse  sich  da- 


2)  S.  71. 


-     27      ^ 

gegen  nichts  einwenden.  Ein  anderes  ist  es  aber,  zu  be- 
haupten, die  Entfaltung  der  sittlichen  Anlagen  ist  dem 
göttlichen  Willen  gemäss,  ein  anderes,  anzunehmen,  der 
Mensch  sei  von  Natur  gegen  Tugend  und  Laster  gleich- 
gültig und  zu  ersterer  nur  durch  den  willkürlichen  Befehl 
eines  Oberherrn  verpflichtet. 

Nun  giebt  es  aber  noch  eine  andere  Reihe  von  Denkern, 
die  zwar  die  Sittlichkeit  auf  autonomer  Grundlage  errichten, 
gleichwohl  aber  Home  als  auf  einem  ganz  falschen  Wege 
befindlich  erscheinen:  es  sind  die  Intellektualisten,  die  die 
Vernunft  an  die  Stelle  des  Gefühls  setzen.  Die  bekanntesten 
Lehrer  der  Verstandesmoral  in  der  ersten  Hälfte  des 
vorigen  Jahrhunderts  sind  Samuel  Clarke^)  und  William 
Wollaston.  Clarke  lehrt:  Aus  der  ewigen  und  unwandel- 
baren Natur  der  Dinge  ergeben  sich  Gesetze  für  unser 
Verhalten  gegen  dieselben.  Die  Pflanze  ist  ein  vegetatives 
Wesen:  es  ist  schicklich,  sie  als  ein  solches  zu  betrachten» 
d.  h.  ihr  Wachstum  zu  befördern.  Das  Tier  ist  ein 
empfindendes  Wesen:  es  ist  schicklich,  es  als  ein  solches 
zu  betrachten,  d.  h.  ihm  keinen  Schmerz  zuzufügen,  etc. 
So  entspringt  auch  die  Pfiicht  des  Gehorsams  gegen  Gott 
aus  seiner  Eigenschaft  als  Herrscher  der  Menschen. 

Das  erste,  was  Home  gegen  obige  Sätze  geltend  macht, 
ist  ihre  Ungeeigenetheit,  den  Menschen  als  Richtschnur  zu 

2)  Clarkes  Lehre,  dass  aus  den  ewigen  und  notwendigen  unter- 
schieden der  Dinge  moralische  Verpflichtungen  der  Menschen  gegen  die 
Dinge  erwachsen,  wird  allgemein  als  ein  Moralprincip  der  Vernunft  auf- 
gefassr.  E.  v.  Hartniann  (a.  a.  0.,  S.  131  ff.)  ist  meines  Wissens  der 
Einzige,  welcher  sie  ein  ästhetisches  Moralprincip  nennt.  Wiewohl, 
meint  er,  Clarke  seiu  Princip  als  fitness  of  things  (aptitudo  rerum)  be- 
zeichnet, so  werde  jene  Angemessenheit  doch  erläutert  „als  geziemende  Ein- 
ordnung in  die  Harmonie  des  Universums".  In  der  weiteren  Ausführung 
des  Clarke'schen  Systems  nähert  sich  aber  auch  v.  Hartmann  wieder  der 
gewöhnlichen  Auffassung,  wenn  er  gesteht,  „dass  der  Einblick  in  die 
universelle  Harmonie  derjenige  Punkt  ist,  wo  die  ästhetische  Betrachtung 
am  unmittelbarsten  an  die  rationalistische  streift"  (S.  132)  und  wenn  er 
an  Clarke  rühmt,  „dass  er  sich  eine  Beschränkung  auf  die  ästhetische  Seite 
der  Betrachtung  nirgends  ausdrücklich  auferlegt  hat".    (S.  133). 


—     28     - 

dienen.  Derartige  Schlüsse  sind  dunkel  und  der  grossen 
Menge  unverständlich.  Die  Vernunft  ist  „ein  schwaches 
Prinzipium''  (a  weak  principle).  „Für  den  grossen  Haufen 
der  Menschen,  der  wenig  Fähigkeit  hat,  abstrakte  Schlüsse 
durchzudenken,  muss  es  allemal  ein  schwaches  Prinzipium 
sein,  wie  viel  Kraft  es  auch  immer  bei  den  Gelehrten  und 
Tiefsinnigen  haben  mag."     (S.  74). 

Dieser  Einwand,  bemerkt  Home,  ist  unter  der  Vor- 
aussetzung erhoben,  dass  die  Schlüsse  wenigstens  richtig 
sind;  dies  ist  aber  nicht  einmal  der  Fall.  Wenn  Clarke 
behauptet,  dass,  weil  Gott  unser  Oberherr  ist,  es  schicklich 
sei,  ihm  zu  dienen,  so  fragt  Home  mit  vollem  Recht,  auf 
welchem  Grundsatz  der  Vernunft  denn  dieser  Schluss  be- 
ruht. Es  Hesse  sich  —  bei  Nichtberücksichtigung  des 
moralischen  Gefühls  —  recht  wohl  denken,  dass  der  Mensch 
gegen  seinen  Schöpfer  sich  auflehnt;  ein  logischer  Wider- 
spruch lässt  sich  hier  schlechterdings  nicht  auffinden^). 
Clarke  begeht  hier  eine  petitio  principii,  indem  er  das, 
was  er  beweisen  will,  die  moralische  Verbindlichkeit,  ohne 
sein  Wissen  schon  als  gegeben  voraussetzt.  Sein  Irrtum 
besteht  darin,  „dass  er  das  Gesetz,  das  in  unser  Herz  ge- 
schrieben ist,  übersieht,  und  sich  die  eitle  Einbildung  macht, 
dass  sein  metaphysisches  Argument  richtig  ist,  weil  es  sich 
trifft,  dass  die  Folge,  die  er  daraus  herleitet,  richtig  ist." 
(S.  73). 

Endlich  macht  Home  noch  gegen  Clarkes  Lehre 
geltend,  dass  sie  der  „Analogie  der  Natur'^  widerspricht. 
Wenn  die  Erhaltung  der  Individuen  durch  den  Trieb  >)  der 

1)  Genau  so  argumentiert  Jodl  (a.  a.  0.,  II,  S.  18)  gegen  Kants 
Grundgesetz  der  praktischen  Vernunft.  „Ist  es  ein  logischer  Widerspruch, 
der  verhindert,  dass  die  Maxime,  auf  der  gewisse  unsittliche  Handlungen 
beruhen,  als  allgemeines  Naturgesetz  nicht  einmal  gedacht,  geschweige 
denn  gewollt  werden  kann?  Sicherlich  nicht;  dass  es  kein  Depositum,  kein 
Eigentum,  keine  gegenseitige  Unterstützung  gebe,  lässt  sich  ohne  jeden 
Widerspruch  vollkommen  klar  vorstellen." 

2)  Über  die  Triebe  siehe  nächstes  Kapitel. 


—      29     — 

Selbsterhaltung,  die  Fortpflanzung  der  Gattung  durch  den 
Geschlechtstrieb  gefördert  wird,  so  ist  der  Analogieschluss 
berechtigt,  dass  die  Pflichten  gegen  unsere  Nebenmenschen 
gewiss    nicht   der  „kalten  Vernunft"  allein  überlassen  sind- 

Nicht  minder  scharf  ist  Homes  Polemik  gegen 
Wollaston,  der  in  seinem  „wunderlichen"  (whimsical) 
Systeme  alle  Laster  auf  die  Lüge  zurückführt;  aus  der 
Unsittlichkeit  der  Lüge  ergiebt  sich  ihm  dann  die  Un- 
sittlichkeit  aller  Laster.  Stehlen  z.  B.  ist  verwerflich,  denn 
ich  behaupte  damit,  dass  fremdes  Eigentum  meins  ist;  des- 
gleichen ist  der  Ehebruch  unsittlich,  denn  ich  stelle  damit 
die  Behauptung  auf,  dass  meines  Nächsten  Weib  mir  ge- 
hört. Treflend  weisst  nun  Home  auf  die  Unnatürlichkeit 
hin,  mit  welcher  Wollaston  allen  so  verschiedenen  Lastern 
den  gleichen  Stempel  aufzudrücken  sich  bemüht.  Sodann 
wirft  er  ihm  dieselbe  petitio  principii  vor,  die  er  bei  Clarke 
aufgedeckt  hat.  Warum,  fragt  Home,  ist  Diebstahl  eine 
Lüge?  Doch  wohl,  weil  der  Dieb  den  Unterschied  zwischen 
,,Mein"  und  „Dein"  verwischt.  Was  bedeutet  aber:  „Dies 
ist  mein?"  Nichts  anderes  als:  Ich  habe  ein  Recht  auf 
den  alleinigen  Besitz,  und  es  ist  daher  unrecht,  wenn  ein 
Anderer  es  mir  raubt.  Die  Begriffe  von  „recht"  und 
„unrecht'^  sind  hier  also  schon  vorausgesetzt.  Was  nun 
vom  Diebstahl  gesagt  ist,  lässt  sich  ebenso  auf  die  anderen 
Laster  anwenden,  die  Wollaston  in  das  Gewand  der  Lüge 
kleidet. 

Schliesslich  aber  dürfte  man  doch  von  Wollaston  er- 
warten, dass  er  nun  wenigstens  die  Unsittlichkeit  der  Lüge 
erweise.  Dies  aber  hat  er  keineswegs  gethan,  sondern  es 
der  Überzeugung  eines  Jeden  überlassen.  Mit  demselben 
Rechte  jedoch  hätte  er  dann  auch  die  übrigen  Laster 
unserer  mneren  Überzeugung  überlassen  können. 

Der  scharf  ablehnende  Standpunkt,  den  Home  gegen- 
über der  Vernunftmoral  einnimmt,  kann  nicht  kürzer  und 
schärfer  gekennzeichnet  werden,  als  durch  einen  Ausspruch 
in    den    „Sketches:"    „To    maintain    that   the    qualities   of 


30     — 


—    31 


right  and  wrong  are  discoverable  by  reason,  is  no  less 
absurd  than  that  tnith  and  falsehood  are  discoverable  by 
the  moral  sense  i)".  („Die  Behauptung,  die  Eigenschaften 
von  recht  und  unreclit  könnten  von  der  Vernunft  entdeckt 
Virerden,  ist  nicht  weniger  absurd,  als  die,  dass  Wahrheit 
und  Irrtum  durch  das  moralische  Gefühl  entdeckt  werden 
können"). 


Zweites  Kapitel. 
Theorie  der  Affekte. 
Das  V^erhältnis  des  moral  sense  zu  den  Affekten.  Kritik 
des  extremen  Altruismus.  Die  Sorge  für  das  Gesammt- 
wohl.  Der  Grund  des  V^ergnügens  an  tragischen  Gegen- 
ständen und  Kritik  des  absoluten  Egoismus.  Tabelle  der 
Affekte.  Eingehende  Polemik  gegen  Humes  Theorie  von 
der  Gerechtigkeit  als  einer  künstlichen  Tugend;  Nachweis 
der     Ursprünglichkeit      des     Eigentumsgefühls     und     des 

Gerechtigkeitstriebes. 

Wir  haben  jetzt  die  wahre  Grundlage  der  Sittlichkeit 
deutlich  erkannt.  Indem  wir  die  menschliche  Natur  sorg- 
fältig untersuchten  und  unsere  Augen  den  Thatsachen  der 
Erfahrung  nicht  verschlossen,  fanden  wir,  dass  der  Mensch 
eine  Anlage  zur  sittlichen  Lebensführung  besitzt,  dass  ein 
ethisches  Gefühl  in  sein  Herz  gepflanzt  ist,  um  seines  er- 
habenen Amtes  zu  walten,  zu  loben  und  zn  tadeln,  zu 
gewähren  und  zu  versagen.  Soll  das  moralische  Gefühl 
aber  seine  Funktionen  ausüben  können,  so  muss  es  Material 
vorfinden,  so  muss  etwas  vorhanden  sein,  was  zu  loben 
oder  zu  tadeln,  zu  gewähren  oder  zu  versagen  ist.  Dieses 
Material  liefern  die  Affekte  und  Leidenschaften.  Der 
Mensch  geht  nie  gleichgültig  an  der  Aussenwelt  vorüber, 
Alles    und  Jedes   macht   einen  Eindruck  nach  irgend  einer 

2)  Sketches  of  the  History  of  Man.  Edinbnrgh  1788.  ^2.  Auflage) 
IV,  S.  189. 


Richtung  auf  ihn;  er  liebt  und  hasst,  er  hofft  und  fürchtet, 
er  wünscht  und  verabscheut.  Mächtig  und  stark  ist  das 
Getriebe  der  Leidenschaften ,  jede  Begierde  verlangt  ihr 
Recht  und  will  den  Sieg  über  die  andern  erringen.  An 
diesem  Punkte  nun  tritt  das  moralische  Gefühl  sein  Amt 
an;  „um  zu  verhüten,  dass  wir  nicht  zu  weit  gehen  oder 
eine  falsche  Direktion  nehmen,  ist  das  Gewissen  gleichsam 
beim  Steuerruder  gesetzt"  (S.  59).  Das  moralische  Gefühl 
selbst  ist  keine  Triebfeder,  seine  Aufgabe  ist  es  vielmehr, 
die  Triebfedern  der  Handlungen  ethisch  zu  beleuchten  und 
von  diesem  Gesichtspunkte  aus  den  Stempel  des  Schönen 
und  Unschönen,  des  Rechts  und  Unrechts  ihnen  aufzudrücken. 
Schon  oben  bei  der  Kritik  Butlers  hat  Home  die  vSonderstellung 
des  moral  sense  scharf  hervorgehoben,  und  er  wird  nicht 
müde,  sie  immer  und  immer  von  neuem  zu  betonen.  In 
der  That  ist  auch  jene  Bemerkung  für  Homes  System 
von  hoher  Bedeutung.  Gegenüber  jenen  Denkern,  welche 
die  Tugend  als  schön  oder  als  nützlich  hinstellen ,  hatte 
er  im  Namen  der  Pflicht  kräftig  seine  Stimme  erhoben 
und  den  in  der  Theologie  so  fruchtbaren  Begriff  des  Ge- 
botes für  die  Philosophie  verwertet.  Diese  Lehre  hatte 
aber  eine  gefährliche  Kehrseite:  Sollte  sie  ihre  Wirkung 
nicht  verfehlen,  so  musste  sich  Home  von  einem  „starren 
Rigorismus"  nicht  minder  fernhalten,  als  er  es  von  einer 
sentimentalen  Lobeserhebung  der  Tugend  that.  Er  durfte 
nicht  lehren:  „Du  kannst,  denn  du  sollst",  sondern  um- 
gekehrt musste  die  Formel  lauten:  „Du  sollst,  denn  du 
kannst".  Du  kannst,  du  hast  in  deiner  Natur  eine  An- 
lage zum  Edlen  und  Tugendhaften,  drum  sollst  du  auch 
tugendhaft  sein.  Der  moral  sense  ist  kein  Affekt,  der  die 
anderen  aufzuheben  vermöchte,  denn  er  ist  überhaupt  kein 
Affekt.  Er  steht  nicht  den  Neigungen  als  eine  Neigung 
entgegen,  sondern  er  steht  über  ihnen  allen,  mischt  sich 
in  ihren  Kampf  und  verhilft  den  höheren  zum  Sieg  über 
die  niederen,  den  sittlichen  über  die  unsittlichen,  den 
sozialen  über  die  selbstischen.     „Man  kann  also  ohne  Be- 


I 


32     - 


denken  den  Ausspruch  thun,  dass  keine  Handlung  unsere 
Pflicht  ist,  zu  weicher  wir  nicht  durch  einen  natürlichen 
Bewegungsgrund  oder  Prinzipium  gereizt  werden'*  (S.  60). 
Man  darf  diese  Worte  nicht  so  verstehen,  als  ob  Home 
die  Erfüllung  der  sittlichen  Gebote  stets  für  leicht  hält. 
Die  Leichtigheit  oder  Schwierigkeit  des  Sieges  der  sittlichen 
Motive  hängt  ganz  von  der  geistigen  und  sittlichen  Stufe 
ab,  auf  welcher  der  Einzelne  und  die  Gesellschaft  stehen  J). 
Nur  das  will  Home  sagen,  dass  es  überhaupt  Triebe  und 
Neigungen  im  Menschen  giebt,  die  zur  Ausübung  der 
ethischen  Vorschriften  tendieren,  mögen  diese  Triebe  unter 
gewissen  Umständen  auch  noch  so  schwach  ausgebildet 
sein. 

Wenn  wir  diese  Wahrheit,  dass  die  Sittengesetze  stets 
mit  den  Trieben  und  Affekten  der  menschlichen  Natur 
rechnen  müssen,  im  Auge  behalten,  anstatt  ohne  Rücksicht 
auf  die  Erfahrungsthatsachen  „Systeme  zu  machen",  so 
werden  wir  vor  den  Einseitigkeiten  bewahrt  bleiben,  in  die 
so  viele  Moralisten  verfallen  sind.  Diese  Einseitigkeiten 
sind  nach  Home  zweierlei  Art:  Entweder  übersehen  jene 
Philosophen  die  mächtigen  selbstischen  Triebe  und  fordern 
ein  gleiches  Wohlwollen  gegen  Alle,  oder  aber  sie  ver- 
kennen die  Ursprünglichkeit  der  sozialen  Affekte  und 
lehren  einen  extremen  Egoismus.  Beide  Lehrmeinungen 
werden    von   Home    einer    gründlichen    Kritik    unterzogen. 

Was  zunächst  das  System  des  allgemeinen  Wohlwollens 
angeht,  so  ist  zu  untersuchen,  ob  in  irgend  einer  Weise 
ein  Affekt  (principle)  des  allgemeinen  Wohlwollens  der 
menschlichen  Natur  eigentümlich  ist.  Wenn  wir  unsere 
Natur  genau  beobachten,  so  zeigt  sich,  dass  wir  zwar  einen 
Trieb  besitzen,  das  Elend  uns  gänzlich  fern  stehender 
Personen  zu  mindern  und  ihr  Unglück  zu  erleichtern; 
handelt  es  sich  aber  darum,  positives  Glück  zu  befördern 
und  Liebesdienste  zu  erweisen ,  da  beschränkt  sich  unsere 


1)  Worüber  weiter  (Kap.  4)  ausführlicher  zu  handeln  ist. 


33     ~ 


Teilnahme  auf  einen  mehr  oder  minder  engen  Kreis. 
Unsere  Liebe  wenden  wir  vor  allen  den  nächsten  Ver- 
wandten und  Freunden  zu,  in  geringerem  Grade  schon 
den  Nachbarn  und  Bekannten,  und  mit  Zunahme  der  Ent- 
fernung nimmt  das  Wohlwollen  immer  mehr  ab,  um  endlich 
ganz  zu  verschwinden.  Wenn  demnach  Shaftesbury  und 
Hutcheson  ein  gleiches  Wohlwollen  gegen  alle  Menschen 
fordern,  so  können  sie  ihre  Forderung  nicht  auf  die 
menschliche  Natur  gründen. 

Hier     machen    wir    nun    eine    wichtige    Bemerkung. 
Während    wir    näniHch    keine  Neigung    in    uns    verspüren, 
den   einzelnen    uns   unbekannten  Menschen  Liebe  zu  er- 
weisen,  so   ist   das   menschliche    Geschlecht,   als   Ganzes 
genommen,    ein    Gegenstand,    dem    wir    unsere    Zuneigung 
zuwenden.      Wir    lieben     und    schätzen    unsere    Religion, 
unser  Vaterland,  unsere  Regierung,  das  ganze  Menschen- 
geschlecht, und  hegen  eifrige  Teilnahme  für  alle  Gesammt- 
interessen.     „Ein   glückliches   Kunststück"    (a    happy   con- 
trivance)   hat   hier    die    Natur   zustande  gebracht,   um  den 
Mangel  der  Gewogenheit  gegen  entfernte  Personen  zu  er- 
setzen.   Die  einzelnen  Menschen,  aus  denen  das  Volk,  die 
Religionsgenossenschaft,    die   Menschheit    besteht,    können 
keine  Zuneigung  in  uns  wachrufen,  sie  stehen  ans  zu  fern. 
„Wenn     sie    aber    unter    einem    allgemeinen    Namen    zu- 
sammengefasst  werden,  so  können  sie  unser  Herz  erwärmen 
und     erweitern."      (S.     64).      In    andere    Worte    geklf»idet 
würde  diese  feinsinnige  Bemerkung  Homes  lauten:  Es  liegt 
in   der  Natur    des   Menschen,    Ideale    zn   bilden,    deren 
Verwirklichung    er  anstrebt    mit  allen  Kräften,  die  ihm  zu 
Gebote    stehen,    und    mit    aller   Begeisterung,    der   er   nur 
fähig    ist.     Würde    ein    gleiches  Wohlwollen    gegen  alle  in 
uns  liegen,  so  würden  unsere  Aufmerksamkeit  und  Zuneigung 
zu    sehr    geteilt    und    infolge    dessen    geschwächt    werden. 
„Die  Seele    würde  durch  die  Menge  der  Objekte,   die  alle 
einen    gleichen  Einfluss    haben,   so  zerstreut  werden,    dass 
sie  in  Ewigkeit  nicht  wissen  würde,  wo  sie  anfangen  sollte." 


34    — 


—    35    — 


(ebend.).     In    dem    oben    erläuterten  Sinne   jedoch,   in    der 
Sorge   für    Angelegenheiten,    die   der  Gesammtheit   zugute 
kommen  und  ihr  Wohl  befördern,  giebt  Home  mit  Freuden 
zu,  dass  es  ein   „Prinzipium  des  allgemeinen   Wohlwollens" 
giebt;    unterscheidet    sich    doch    gerade    durch  die  Bildung 
und    Verfolgung   idealer   Bestrebungen    die  Menschennatur 
von  der  tierischen.    Dies  ist  aber  etwas  wesentlich  Anderes 
als    die  Behauptung,    dass   jede   auf   das  eigene  Selbst  be- 
zügliche Handlung,  oder  gar  die,  dass  jede  Handlung,  welche 
nicht  Allen  gleichmässig  zugute  komme,  sittlich  wertlos  sei. 
Wir  gehen  nun  zu  Homes  Kritik  des  reinen  Egoismus 
über.      Zu    diesem    Zwecke   müssen    wir   den   bisher   über- 
gangenen  ersten  Versuch  heranziehen,    der  das  bereits  im 
Altertum   aufgeworfene   Problem   des  Vergnügens   an    tra- 
gischen Gegenständen    behandelt.     (Of   our    attachment    to 
objects    of   distress).      Home    bekämft    dort    zunächst    den 
französischen  Ästhetiker  Dubos').     Die  Polemik  erweitert 
sich    sodann    aber  zu  einer  Kritik  des  extremen  Egoismus, 
und    so   hat   dieser  Gegenstand    mit  Recht   seine  Stelle    in 
den  Essays  erhalten  2). 

Dubos  hatte  die  Frage  nach  dem  Grund  unseres 
Vergnügens  an  traurigen  Darstellungen  dahin  beantwortet, 
dass  der  Mensch,  zum  handelnden  Wesen  geschaffen,  auf 
jede  Art  und  Weise  die  Unthätigkeit  zu  fliehen  strebt  und 
daher  Gegenstände  aufsucht,  die  seine  Leidenschaften 
erregen,  ungeachtet  des  Schmerzes,  der  diese  oft  be- 
gleitet. 

Home  macht  zunächst  gegen  obige  Theorie  einige 
Einwendungen.  Wie  kommt  es,  fragt  er  u.  a.,  dass  nicht 
nur  gelang  weilte,  sondern  alle  Menschen  das  gleiche  Ver- 
gnügen an  Tragödien  empfinden.^  Dann  aber  behauptet 
Home  weiter,  die  Theorie  beruhe  auf  einer  falschen  Vor- 


1)  Jean  Baptiste  Dubos,  Reflexions  critiques   sur  la  poesie,  la  pein- 
ture  et  la  musique.    Paris  1719. 

2)  Die  Ausführungen,  die  nicht  streng  zu  unserem  Thema  gehören, 
werden  hier  füglich  übergangen. 


aussetzung,  dass  nämlich  der  Mensch  bei  allen  Handlungen 
nichts    anderes    im  Auge    habe  als  Streben  nach  Lust  und 
Vermeiden  von  Unlust.     In  diesem  Glauben  stimmt  Dubos 
nach  Home    mit  Locke    überein,  und    so  wenden  sich  nun 
die    folgenden    Bemerkungen    gegen    jene    Denker,    sowie 
überhaupt   gegen   alle  Vertreter   des  reinen  Egoismus  und 
der   damit   in  engster  Verbindung  stehenden  hedonistischen 
Anschauung.     Ist  der  Mensch  von  Natur  aus  vollkommener 
Egoist,    so  wird  freilich  sein  ganzes  Sinnen  und  Trachten 
auf  Erjagen  der  Lust   und  Fliehen  vor  dem  Schmerze  ge- 
richtet  sein,  und  alles,  was  er  für  Andere  thut,  wird  nur 
in  so  fern  einen  Wert  für  ihn  haben,  als  es  ihn  selbst  be- 
friedigt.    Es  hat  an  Vertretern  dieser  Anschauung  nie  ge- 
fehlt; Mandeville    hat    sich,  wie   wir   wissen,  in  seiner  be- 
rühmten   „Bienenfabel"    nicht    einmal    gescheut,  die  Laster 
des  Einzelnen    als    notwendig    und    vorteilhaft    für   die  Ge- 
sammtheit   hinzustellen.     Es    giebt  keine  selbstlosen  Hand- 
lungen :  Wohlwollen,  Liebe,   Neigung,  Mitleid,  das  ist  alles 
eitel  Lug  und  Trug,  Schein  und  Heuchelei.     Diese  Lehre 
bekämpft  Home   aufs   äusserste,  nicht   aber,  indem    er  die 
Sittlichkeit  ihrer  Urheber   anzweifelt  -  -   eine  nur  zu  oft  ge- 
übte   Kampfmethode    —    sondern    indem    er  vorurteilslos, 
in  die  Tiefen  der  menschlichen  Natur  taucht,  um  aus  ihnen 
die  Wahrheit  an  das  Licht  zu  fördern:    Die  selbstischen 
und    die   selbstlosen,    die    individuellen    uud    die 
sozialen    Affekte    sind    gleich    ursprünglich,    nicht 
erst  sind  die  altruistischen  aus  den  egoistischen  entstanden 
und  aus  ihnen  zu  erklären. 

Wenn  wir  nämlich  unsere  Natur  mit  Aufmerksamkeit 
untersuchen,  so  stossen  wir  auf  einen  doppelten  Gegensatz 
der  Gefühle  in  Bezug  auf  äussere  Gegenstände.  Wir 
unterscheiden  einerseits  „angenehme  Gefühle**  (Lustgefühle, 
pleasant  impressions)  und  „unangenehme  Gefühle"  (Unlust- 
gefühle,  painful  impressions),  andererseits  solche,  die  mit 
„Zuneigung"  (Verlangen,  desire)  und  solche,  die  mit  „Ab- 
neigung" (Widerwillen,  aversion)  verbunden  sind.     „In  der 


-    36    — 


Kindheit  sind  Begierde  und  Leidenschaft  die  einzigen  Trieb- 
federn unserer  Thätigkeit.  Aber  in  dem  Fortgang  des 
Lebens  wenn  wir  die  Gegenstände  um  uns  unterscheiden 
lernen,  die  angenehme  oder  unangenehme  Empfindungen 
wirken ,  erlangen  wir  andere  Triebfedern"  (S  9)  I  ust 
und  Unlust  sind  also  etwas  Sekundäres,  das  Primäre  sind 
die  instinktiven  Triebe,  die  schon  vor  aller  Einwirkung  der 
vernünftigen  Überlegung  vorhanden  sind,  und  „da  die  Ver- 
nunft auf  keine  Art  einen  Einfluss  darein  hat,  so  macht  auch 
die  Absicht.  Unglück  zu  vermeiden  und  Glück  zu  erlangen 

(fc..  10).    Die  Triebe  erregen  also  den  Willen  unbekümmert 

um  Vorteil   oder  xNachteil ,  um  Lust  oder  Schmerz.       Das 

.st  wahr",  setzt  Home  hinzu,  „dass  die  Befriedigung  unserer 

Begierden    und  Leidenschaften    angenehm  ist."     Wenn  die 

rriebe    ihr  Ziel    erreichen,  so   tritt    als  Begleiterscheinung 

Lust,    verfehlen    sie    ihr  Ziel,    Unlust   ein.     „Allein    diese 

Dmge  müssen  mit  dem  unmittelbaren  Antriebe,  der  aus  der 

Beg^rde    oder   Leidenschaft    entspringt,     nicht    vermischt 
werden"  (ebend). 

Die  Erfahrung  lehrt,  dass  wir  zuweilen  sogar  die  Nei- 
gung haben,  Gefühlen  der  Unlust  nachzuhängen.     Hat  ein 
Fremder  mich  beleidigt,  so  trachte  ich  danach,  Vergeltung 
zu   üben.     Ist  der  Beleidiger  indes  mein  Freund ,  so  ist  es 
mir  unmöglich,  ihm  ein  Leid  zuzufügen;  das  Einzige,  was 
ich  Wünsche,  ist,  dass  er  sein  Unrecht  erkenne.    Zu  diesem 
Zwecke   verzehre   ich    mich  in  Unmut,  gehe  mürrisch  und 
verdriesshch  einher  und  verbittere  mir  so  selbst  das  Leben. 
Em   von   seinem  Geliebten  verlassenes  Mädchen  wirft  sich 
oft  einem  Unwürdigen  in  die  Arme  und  stürzt  sich  so  selbst 
ins  Elend      In  beiden  Fällen,  meint  Home,  ist  es  der  sym- 
pathetische Trieb,  der  das  Rachegefühl  von  dem  Beleidiger 
auf   den  Gekränkten   ableitet.     Deutlicher   noch    wirkt  der 
Trieb  der  Sympathie  bei  der  Trauer  um  einen  gestorbenen 
Freund    oder  Anverwandten.     Vergeblich    sucht    man  den 
Leidtragenden  zu  trösten,  er  weist  jedes  Trostwort  zurück 


-     37    - 


Wiederum    ist   es    die  Sympathie,    welche  bewirkt,  dass  er 
jede  Gelegenheit  meidet,  seinem  Schmerz  Erleichterung  zu 
verschaßen.     „Bei    dieser  Art   der  Leidenschaft  ist  allemal 
ein  Verlangen ,  ihnen  nachzuhängen  ,   sowohl  wenn  sie  uns 
Schmerz,    als   wenn   sie   uns  Vergnügen  machen".     (S.  17). 
So    ist    das   Gefühl    des  Mitleids,    das    uns    antreibt,    Un- 
glücklichen zu  helfen,  stets  mit  Unlustmomenten  verknüpft, 
die    aus    dem  Anblick    des  Elends    entstehen.     Wie   wollen 
Locke  und  die  anderen  Denker,  welche  die  Hypothese  der 
vSelbstliebe    aufgestellt    haben,    eine  solche  Erscheinung  er- 
klären ?   In    der   That  haben    sie    zu   dem   Paradoxon   ihre 
Zuflucht  nehmen  müssen,  dass  wir  den  geselligen  Neigungen 
lediglich     zu     unserer    eigenen     Befriedigung     nachhängen. 
Aber   sieht   man    nicht  deutlich,    dass  die  Erklärung  unbe- 
friedigt lässt,  dass  hier  nur  ein  aufgestellter  Satz  verteidigt 
werden  soll?  Es  sollen  nun  einmal  alle  Affekte  aus  einem 
Prinzip    erklärt    werden ,    und  da  wird  ohne  Bedenken  der 
Natur   Gewalt    augethan,    „und   es  ist  sonderbar  zu  sehen, 
wie  sie  ein  jedes  gesellige  Prinzipium  drehen  und  martern, 
um    ihm    den  Schein   des  Eigennutzes    zu  geben".     (S.  89). 
Allein    alle  V^ersuche,    die    sympathischen   Triebe  aus  dem 
Egoismus    abzuleiten,    sind   misslungen    und   mussten    miss- 
lingen,    da  eben  Wohlwollen,  Edelmut,  Dankbarkeit,  Mit- 
leid,     Liebe     und    Freundschaft     als     qualitativ    von    der 
Selbstliebe  verschieden  deutlich  empfunden  werden. 

Nachdem  Home  jetzt  die  Ursprünglichkeit  der  al- 
truistischen Gefühle  erwiesen  hat,  ist  es  ihm  ein  Leichtes, 
das  Problem  des  Vergnügens  an  Tragödien  zu  lösen.  Die 
menschliche  Natur  drängt  zur  Bethätigung  ihrer  Affekte, 
einerlei,  ob  dadurch  Lust  oder  Unlust  entsteht.  Der 
Mensch  sehnt  sich  danach,  mit  dem  Unglücklichen  zu 
leiden,  mit  dem  Glücklichen  sich  zu  freuen,  den  Trefflichen 
zu  loben,  den  Bösewicht  zu  verdammen,  dem  Wohlthäter 
Dank  zu  bezeugen  und  an  dem  Widersacher  rächende 
Vergeltung  zu  üben.  Er  weiss,  dass  diese  seine  Neigungen 
im  Trauerspiel  Gelegenheit  finden,    sich  zu  entfalten,   und 


-    38    - 


—    39    - 


dies   zieht  ihn   ins   Theater.     Honies  Theorie   ist    dieselbe, 
die    einst    Aristoteles    aufgestellt    hat,    mit    dem    einzigen 
Unterschiede,  dass  Aristoteles  nur  von  Furcht  und  Mitleid 
spricht,  während  nach  Home  die  Tragödie  „Freundschaft 
Besorgnis    für  die  Tugendhaften,  Abscheu  an  den  Laster- 
haften, Mitleid,  Hoffnung,  Furcht  und  das  ganze  Gefolge 
der  geselligen  Leidenschaften"  erweckt  und  ausbildet.  (S.  15). 
Home   vergisst    auch    hier  nicht,   auf  die  teleologische  Be- 
deutung     der     psychologischen     Thatsache     hinzuweisen. 
Menschen,    die   vom    Glück    begünstigt   sind    und  Kummer 
und  Elend    nicht    kennen,   laufen    Gefahr,   hartherzig   und 
und  unempfindlich  zu  werden.     „Denn  so  wie  die  Leiden- 
schaften stärker  werden,  wenn  man  sie  übt,  so  werden  sie 
schwächer,  wenn  es  ihnen  an  Übung  fehlt".     (S.  20).     Da 
ersetzt    nun    die   Bühne    das    wirkliche  Leben,    indem    sie 
fingierte  Gegenstände    des  Mitleids    darbietet    und    so    die 
Affekte  in  Übung  und  Bethätigung  erhält»). 

So  hat  Home  denn,  nachgewiesen,  dass  weder  der 
einseitige  Egoismus  noch  auch  der  einseitige  Altruismus  in 
der  menschlichen  Natur  gegründet  ist.  Treffend  sagt  sein 
Freund  David  Hume  einmal  in  seinen  „Prinzipien  der 
Moral"  von  jenen  Theorien:  „Alle  derartigen  Versuche 
haben  sich  bisher  als  fruchtlos  erwiesen  und  scheinen  nur 
aus  jener  Liebe  zur  Einfachheit  herzurühren,  welche  in 
der  Philosophie  die  Quelle  vieler  falschen  Schlüsse  gewesen 
ist«)."  ^ 

Home  stellt  nunmehr  die  Triebe  auf,  die,  wie  er  sagt, 
dem   Menschen  als  solchem  zukommen  und  die  allgemeine 

1)  Es  sei  hier  auf  Paulsens  lichtvolle  Kritik  des  Hedonismiis  hin- 
gowieseu;  er  stellt  iiim  die  „energistische«  Auffassung  gegenüber  die  mit 
der  oben  dargelegten  Lehre  Heines  viek»  Berührungspunkte  hat  Auch 
die  Frage  nach  der  Ursache  des  Vergnügens  an  tragischen  Gegenständen 
erklart  er  m  derselben  Weise  wie  Home.  (Paulsen :  System  der  Ethik 
3.  Aufl.  1894,  I,  S.  224-259).  ' 

2)  D.  Hume:    Eine   Untersuchung  über  die   Prinzipien   der   Moral 
Deutsch  von  Masaryk.  Wien  1883.  S.  137. 


menschliche  Natur  ausmachen.  Sie  zerfallen  in  Triebe, 
die  sich  auf  die  eigene  Person  und  solche,  die  sich  auf 
Andere  beziehen  (selbstische  und  soziale  Affekte). 

Zu  den  selbstischen  Affekten  gehört: 

1)  Der  Trieb  der  Selbste rhal tu ng  (die  Liebe  zum 
Leben,  self-preservation),  der  stärkste  unter  allen  Trieben. 
Der  Schmerz  ist  sein  Beaufsichtiger,  er  warnt  vor  allem, 
was  dem  Leben  gefahrdrohend  ist,  und  lehrt,  das  Ver- 
gnügen der  Erhaltung  hintanzusetzen. 

2)  Der  Trieb  der  Selbstliebe  (das  Verlangen  nach 
Glückseligkeit,  self-love).  Er  ist  stärker  als  irgend  einer 
der  sozialen  Triebe,  was  sich  aus  den  eingeschränkten 
Fähigkeiten  des  Menschen  ergiebt,  der  „mehr  V^ermögen, 
Einsicht  und  Gelegenheit  hat,  seine  eigene  Wohlfahrt,  als 
die  Wohlfahrt  Anderer  zu  befördern".     (S.  67  f.)- 

Zu  den  sozialen  Affekten  gehört: 

1)  Der  Trieb  zur  Gerechtigkeit. 

2)  Der  Trieb  zur  Wahrheit. 

4)  Der  Trieb  zur  Treue,  zur  Erfüllung  gegebener 
Versprechungen  und  eingegangener  Bedingungen. 

4)  Der  Trieb  zur  Dankbarkeit. 

5)  Der  Trieb  des  Wohlwollens,  der  Menschenliebe, 
der  sich  äussert 

a)  als  Mitleid  (compassion)  oder  als  Trieb,  Un- 
glücklichen zu  helfen; 

b)  als  Trieb,  das  Glück  Anderer  zu  befördern. 
Letzterer    äussert    sich    stärker    oder   schwächer,    je 

nach    der    Nähe     und    Grösse     der    Objekte,    auf    die    er 
gerichtet  ist. 

Nach  diesen  allgemeinen  Trieben  werden  die  Haupt- 
gesetze der  Ethik  aufzustellen  sein,  indem  die  Aussage 
des  moralischen  Gefühls  über  jene  Affekte  zu  Rate  gezogen 
wird.  Die  besondern  Begierden  und  Leidenschaften,  wie 
Ehrgeiz ,  Habsucht ,  Neid  etc. ,  die  zu  dem  allgemeinen 
Triebe  der  Selbstliebe  gehören,  dürfen  zwar  in  einer  Sitten- 
lehre   nicht    übergangen    werden;    Home    aber    will  keine 


_ 


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vollständige  Sittenlehre,  sondern  nur  die    Hauptgesetze 
der  Moral  geben. 

Bevor  er  indessen  daran  geht,  dieselbe  aufzustellen, 
nimmt  er  noch  einen  Kampf  mit  einem  mächtigen  Gegner 
auf,  mit  David  Ilume.  Hume  setzt  in  seiner  schon  mehr- 
fach erwähnten  Erstlingsschrift  „A  treatise  of  human 
nature"  auseinander,  dass  die  moralischen  Unterschiede 
nicht  von  der  Vernunft,  sondern  von  dem  „moralischen 
Geftihle"  (moral  sense)  abz\ileiten  sind  >)•  So  weit  stimmt 
er  demnach  mit  Home  überein.  Dann  aber  2)  wirft  er  die 
Frage  auf,  ob  die  Gerechtigkeit  eine  natürliche  oder  eine 
künstliche  Tugend  sei  (whether  a  natural  or  artificial  virtue), 
und  gelangt  zu  dem  merkwürdigen  Resultat,  dass  die 
Tugenden  der  Gerechtigkeit  und  der  Treue,  im  Gegensatz 
zu  den  übrigen  Tugenden,  nicht  natürlich  seien;  im  so- 
genannten Naturstaat  (state  of  nature)  gäbe  es  die  Begriffe 
„Eigentum"  und  „Gerechtigkeit"  überhaupt  nicht;  erst  die 
Gesellschaft  habe  sie  künstlich  erzeugt. 

Ein  derartiges  Paradoxon  forderte  den  Widerspruch 
geradezu  heraus.  Bekannt  ist  die  Entgegnung  von  Adam 
Smith,  der  in  seiner  „Theory  of  moral  sentiments"  die 
Natürlichkeit  der  Gerechtigkeit  Hume  gegenüber  verteidigt, 
indem  er  sie  aus  dem  Vergeltungstriebe  ableitet.  Allein 
Smith  ist  nicht,  wie  man  gewöhnlich  annimmt,  der  erste, 
welcher  Hume  in  diesem  Punkte  entgegentrat,  sondern  vor 
ihm  hat  bereits  Home  auf  die  Schwächen  der  Humeschen 
Theorie  hingewiesen  und  ihrer  Widerlegung,  in  Anbetracht 
der  Berühmtheit  ihres  Urhebers,  das  ganze  siebente  Kapitel 
seines  zweiten  essay  gewidmet. 

Soweit  wir  die  Geschichte  des  Menschen  zurückver- 
folgen können,  behauptet  Home,  finden  wir  ihn  mit  dem 
Gefühl  von  Eigentum  begabt.  Der  Jäger  hält  das  von  ihm 
erlegte  Wild  für  sein  Eigentum,  der  Fischer  ist  sich  bewusst, 

1)  D.  Hume:   A  treatise   of  humiin    natiire,    ed.  Green   and   Grose 
1874,  II,  S.  233  if. 

2)  abend.  S.  252  ft. 


_     41     — 


dass    der  Inhalt  seines  Netzes  ihm  gehört,  der  Hirt  macht 
Anspruch    auf  den    vollen    und   ungestörten    Besitz    seiner 
Herde    und     der    von    ihr    gewonnenen    Erzeugnisse,    der 
Ackerbauer    lebt    der  Überzeugung,    das   die  Früchte    des 
von   ihm    bebauten  Feldes   die   seinigen   sind.     Das  Gefühl 
des  Eigentums   ist   dem  Menschen    als    solchem    natürlich, 
denn    es    korrespondiert    dem  Selbsterhaltungstrieb,   dessen 
Existenz    doch    wohl    von   Jedem    zugegeben    wird.      Der 
Trieb    der   Selbsterhaltung    äussert    sich    in    verschiedenen 
Formen;    eine  derselben  ist  der  Trieb  zum  Sammeln,  zum 
Sparen,     zum    Aufhäufen     von    Vorräten    und    Schätzen. 
Diese  Form  des  Selbsterhaltungstriebes,  der  Sammeltrieb 
(einen  besondern  Namen  hat  die  Sprache  dafür  nicht  gebildet ; 
wenn    er    abnorm   auftritt,   so   heisst  er  „Geiz"),   setzt  das 
Gefühl  vom  Eigentum  als  selbstverständlich  voraus.     Wozu 
das    Aufhäufen   und   Sammeln,    wenn    Jeder   auf  das   Ge- 
sammelte   das    gleiche    Anrecht    hat,    wie    der    Sammler? 
Wozu  arbeite  ich  im  Schweisse  meines  Angesichts,  um  mir 
Unterhalt   zu   verschaffen,    wenn   ich   nicht  weiss,  dass  ich 
ihn    mir   verschaffe,   und    wenn    nicht   auch  jeder  Andere 
weiss,    dass  das   Erworbene   mein   alleiniges  Eigentum  ist, 
über  das  ich  nach  freier  Willkür  verfügen  kann?  „Zwischen 
einem    jeden   Menschen    und   den    Früchten   seiner   Arbeit 
entsteht  ein  Verhältnis,  und  dies  ist  eben  das,  was  wir  ein 
Eigentum  nennen:    ein  Verhältnis,  welches  er  selbst  erkennt 
und  jeder  Andere  gleichfalls  erkennt".    (S.  79  f).     In  allen 
Sprachen    sind    die    Ausdrücke    „Mein"    und    „Dein''    ge- 
bräuchlich,   selbst  Wilde   kennen  sie  und  Kindern  sind  sie 
geläutig.     Was    mir    gehört,    davon    weiss    ich,   dass  kein 
Anderer    ein  Anrecht    darauf    hat,    und   nimmt    er  es  mir 
dennoch ,  so  empfinde  ich  dies  als  einen  Eingriff  in  meine 
Rechtssphäre,  als  einen  Verstoss  gegen    die  Gerechtigkeit. 
Und  nicht  nur   ich  empfinde  so,  sondern  auch  Jener,    der 
den  Verstoss  begeht,  weiss,  dass  er  nicht  nur  das  Staats- 
gesetz  missachtet,   welches    einen   solchen  Übergriff  ver- 
bietet, sondern  auch  dem    Moralgesetz   zuwiderhandelt. 


—     42     — 

Auch  der  unbeteiligte  Zuschauer  betrachtet  eine  solche  That 
als  den  Anforderungen  der  Sittlichkeit  zuwiderlaufend.  Mithin 
ist  es  einleuchtend,  dass  das  Gefühl  vom  Eigentum  ursprüng- 
lich ist  und  nicht  erst  der  Gesellschaft  sein  Dasein  verdankt. 
Mit  dieser  Widerlegung  jedoch  giebt  Home  sich  noch 
nicht    zufrieden,    er  geht    weiter    und  stellt  nun  seinerseits 
die  Behauptung    auf,    dass    ohne    das    Vorhandensein    des 
Eigentums-     und    des  Gerechtigkeitsgefühls    sich    nie    eine 
Gesellschaft  hätte  bilden  können.    Gab  es  vor  Einrichtung 
der  Staatsverfassung  kein  Gefühl  für  Besitz  und  Eigentum, 
so  muss   notwendigerweise   der   ursprüngliche  Zustand  der 
Menschen  der  eines  bellum  omnium  contra  omnes  gewesen 
sein.     Hobbes,    der    in    der    Auffassung    der    Gerechtigkeit 
mit    Hume    derselben  Meinung    ist,     vertritt    in    der    That 
diese    Ansicht;    aber   auch  Hume    muss    die  Folgerung  zu- 
geben.   Herrschte  nun  aber  im  Naturstaat  der  Krieg  Aller 
gegen  Alle,   waren    dem  Naturmenschen  die  Gerechtigkeit 
und   ihr    Objekt,    das  Eigentum,    unbekannte  Begriffe,  so 
fordert   Home    von    Hume    die  Erklärung,    „durch    weiche 
überwiegende   Kraft,   durch    welches    Wunderwerk   Leute, 
die  so  beschaffen    waren,   jemals  so  weit  kamen,  dass  sie 
sich    in    eine    Gesellschaft     vereinigten".      „Wir    können", 
fährt    er   fort,   „zuversichtlich   den    Ausspruch    thun,    dass 
eine    so  ausserordentliche  Veränderung    in    der  Natur    des 
Menschen  durch  natürliche  Mittel  nie  habe  können  erreicht 
werden*,  (S.  81)  i),  während  andererseits  bei  Annahme  der 
Urspiünglichkeit  jener  Gefühle   das  Entstehen  der  Staaten 

1)  Sigwart  (Vorfragen  der  Ethik,  Freiburg  i.  B.  1886,  S.  44)  macht 
eben  dasselbe  Argnment  gegen  die  Verfechter  des  absoluten  Egoismus 
geltend.  „Wenn  gesagt  wird,  dass  die  Natur  dem  Menschen  den  nakten 
Egoismus  eingepflanzt  habe  und  die  Geschichte  allein  die  sittliche  Ge- 
sinnung hervorbringe  (z.  B.  Jhcring,  Zweck  im  Recht,  II,  S.  115),  so  ist 
damit  ein  Gegensatz  zwischen  Natur  und  Geschichte  aufgestellt,  der  die 
Geschichte  selbst  unerklärlich  zu  machen  droht.  Die  Geschichte  des 
Menschen  kann  doch  nur  die  Entwicklung  seiner  Natur  sein; 
wären  in  dieser  nur  selbstsüchtige  Motive  angelegt,  so  könnte  auch  die 
Geschichte  keine  anderen  zeigen". 


-     43     — 

leicht  erklärlich  ist.  Zuerst  nämlich  vereinigten  sich  Wenige 
zum  gegenseitigen  Beistand  und  Schutz  gegen  diejenigen, 
welche  ihren  Besitz  bedrohten,  die  kleinen  Gemeinschaften 
vergrösserten  sich  allmählich,  und  mit  ihnen  wurden  auch 
ihre  Einrichtungen,  Bestimmungen  uud  Gesetze  mannig- 
faltiger und  komplizierter. 

Wie  natürlich  und  ursprünglich  das  Gefühl  vom  Eigen- 
tum ist,  lässt  sich  übrigens  auch  aus  der  eigenartigen  Zu- 
neigung ermessen ,  die  ein  Jeder  für  seinen  Besitz  hat. 
Eine  Sache  kann  an  und  für  sich  recht  geringen  Wert 
haben;  dadurch  aber,  dass  ich  sie  mein  nenne,  erhält  sie 
für  mich  einen  ideellen  Wert,  so  dass  ich  sie  um  keinen 
Preis  mit  einem  andern  Exemplar  gleichen  oder  selbst 
höheren  Wertes  vertauschen  würde  i). 

Home  hält  es  jedoch  in  dieser  wichtigen  Frage  noch 
nicht  für  zureichend,  den  Grund  der  Lehre  seines  Gegners 
umgestossen  zu  haben;  er  will  ausserdem  einzelne  Punkte 
besonders  beleuchten,  um  so  die  Unzugänglichkeit  der 
Hume'schen  Theorie  noch  deutlicher  zu  erweisen.  Zunächst 
setzt  er  an  Hume  aus,  dass  er  die  —  durch  die  Gesell- 
schaft entstandene  —  Gerechtigkeit  auf  ein  allgemeines 
Gefühl  vom  Gemeinwohl  zurückführt,  was  um  so  aufälliger 
ist,  als  Hume  selbst  an  anderer  Stelle  das  Gemeinwohl  als 
einen  Beweggrund  kennzeichnet,  der  für  die  grosse  Menge 
zu  entfernt  und  zu  hoch  sei,  um  sie  in  ihrem  Handeln 
sonderlich  beeinflussen  zu  können. 

Unverständlich  bleibt  es  Home  ferner,  warum  die 
Sympathie,  die  doch  nach  Hume  der  Grund  aller  andern 
Tugenden  ist,  nicht  auch  Grund  der  Gerechtigkeit  sein 
solle.     So  gut,    wie    die  Sympathie  mich  hindert,  meinem 


1)  Schön  veranschaulicht  dies  Gefühl  Karl  v.  Holtei  in  seinem 
volkstümlichen  ,Mantellied".  Der  Mantel  hat  ein  Menschenalter  lang  die 
Schicksale  des  Wachtmeisters  mit  erlebt,  Freud  und  Leid  mit  ihm  durch- 
gemacht; so  ist  er  sein  Freund  und  Vertrauter  geworden,  von  dem  der 
alte  Krieger  sein  ganzes  Leben  lang  nicht  mehr  lassen  will;  ja  selbst  iu 
das  Grab  soll  sein  bester  Freund  dereinst  ihn  begleiten. 


—     44 


45     - 


Nächsten  das  Leben  zu  nehmen,  kann  sie  mich  auch  davon 
zurückhalten,  ihm  das  zu  rauben,  was  er  seinem  Fleiss  und 
seiner  Anstrengung  verdankt*). 

Nachdem  Ilome  endlich  von  den  der  Gerechtigkeit 
verwandten  Tugenden  der  Wahrhaftigkeit  und  der  Treue, 
deren  Ursprünglichkeit  Ilume  gleichfalls  leugnet,  mit 
Leichtigkeit  gezeigt  hat,  dass  sie  dem  Menschen  nicht 
minder  natürlich  sind  als  das  Gerechtigkeitsgefühl,  beendet 
er  seine  Polemik  gegen  Hume  mit  der  Bemerkung,  dass 
wir  schon  a  priori  nach  der  Analogie  schliessen,  die 
Gerechtigkeit  werde  keine  Sonderstellung  unter  den 
Tugenden  einnehmen,  sie  werde  vielmehr  einer  natürlichen 
Neigung  entspringen,  wie  das  Mitleid,  das  Wohlwollen,  die 
Freundschaft,  die  Liebe  und  die  übrigen  „eigentlich  so 
genannten  geselligen  Neigungen-,  Die  Richtigkeit  dieses 
apriorischen  Analogieschlusses  ergiebt  sich  dann,  wie  wir 
gesehen  haben,  bei  der  näheren   Untersuchung. 

1)  Wundt  in  seiner  „Ethik"  (2.  Aufl.,  Stuttgart  WJ2,  S.  332f)  ist 
der  Ansicht ,  Hume  habe  den  Mangel  der  Gcfühlsmoral  eines  llutcheson 
erkannt,  dass  sie  nämlich  „zwischen  den  sittlichen  und  anderen  natürlichen 
Affekten  keinen  prinzipiellen  Unterschied  anerkennt'*.  Dieser  Mangel 
dürfte  Hume  veranlasst  haben,  „zur  Ergänzung  seiner  Theorie  wesentliche 
Bestandteile  der  bisherigen  Reflexionsethik  sich  anzueignen".  Wenn  jene 
Erwägung  wirklich  Hume  zu  seiner  Theorie  über  die  Gerechtigkeit  ge- 
drängt hat,  so  ist  m.  E.  durch  diese  Annahme  für  die  Erklärung  der 
^Entstehung  sittlicher  Normen  von  verpflichtender  Kraft"  nicht  das  Ge- 
ringste gewonnen.  Denn  die  durch  Reflexion  entstandene  Gerechtigkeit 
hat  nach  Hume  mit  den  natürlichen  Tugenden  das  gemeinsam,  dass  sie, 
wie  jene,  ihren  Ursprung  in  der  Selbstliebe  hat.  Wundt  selbst  erklärt  zur 
SteUe  den  Ursprung  der  Gerechtigkeit  (nach  Hume)  aus  der  Erwägung, 
„dass  wir  durch  eine  Einschränkung  unserer  selbstischen  Triebe  mehr  ge- 
winnen, als  wenn  wir  denselben  trei  die  Zügel  schiessen  lassen". 


Drittes  K  apitel. 

Die  Hauptgesetze  der  Moral. 

Definition  des  Begriffes  „Hauptgesetze'*.  Das  Fehlen  der 
Ptiichten  gegen  sich  selbst.  Ableitung  und  Aufzählung 
der  llauptgesetze.     Die  Verschiedenheit   des  Umfangs  von 

Ethik  und  Recht. 

Das  erste  Kapitel  hat  uns  als  Grundlage  aller  Moral 
das    im    menschlichen    Herzen   wohnende    ethische    (jefühl 
nachgewiesen;    dieses  Gefühl    -    so  sahen  wir  —  hat  den 
Beruf,    die  Affekte  zu    beaufsichtigen  und  zu  leiten.     Von 
den    beiden  Klassen    der  Affekte    aber    erkannten    wir  im 
zweiten  Kapitel ,  dass  die  selbstischen  sowohl,  als  auch  die 
sozialen    in  der  menschlichen  Natur  gegründet  sind;    beide 
sind  gleich  ursprünglich,    eine  Ableitung  der  einen  Klasse 
aus  der  andern  daher  notwendigerweise  irrig.     Wenn  also 
Home   seinem  zweiten  essay  die  Überschrift  gab:    „Of  the 
Foundation  and  Principles  of  the  Law  of  Nature",  so  hat 
er    sich   eigentlich    am  Ende  des  siebenten  Kapitels    seiner 
Aufgabe  entledigt.     Mit  Überraschung  lesen  wir  daher  am 
Anfang    des    achten  Kapitels    den  Satz:    „Unsere    Absicht 
bei    dem  gegenwärtigen   Versuch  war  hauptsächlich,  einen 
kurzen  Abriss  und  einen  flüchtigen  Entwurf  von  den  Haupt- 
gesetzen   der  Natur    zu  machen,    in    sofern    sie    aus    ihrer 
einzigen  wahren  Quelle,  aus  der  menschlichen  Natur,  her- 
geleitet werden,  und  jetzt  sind  wir  so  weit  gekommen,  dass 
wir  diese  Absicht  ausführen  können"  (S.  89.)    Denn  darüber 
kann  kein  Zweifel  obwalten,  dass  es  Home  in  WirkHchkeit 
mehr  auf  die  Erforschung  jener  „einzigen  wahren  Quelle''  der 
Sittengesetze  ankommt,  als  auf  die  Aufstellung  der  Gesetze 
selbst;    er   hätte    andernfalls   nicht   so   grosse   Mühe  darauf 
verwandt,   die    ihm   irrig   scheinenden   Lehren   seiner   Vor- 
gänger   über    die   Grundlage    des   Sittengesetzes   und   über 
die  Natur  der  Affekte   zu   bekämpfen    und  zu   widerlegen, 
um    dann    seinen   Lesern    einen    —   wie   er   selbst   sagt   — 
„kurzen  Abriss"  der  Moralgesetze,  und  nicht  einmal  alier, 


I; 


1 


i 


I 


---    46    -^ 


47     — 


sondern    nur    der   Hauptgesetze    vorzulegen.      Wir  dürfen 
daher  die  oben  zitierten   Worte  Uonies  nicht  urgieren,  um 
so  weniger,  als  er  tbrtfährt:  „Ich  unternehme  diese  Arbeit, 
bloss  um  eine  Probe  von  der  Schlussart  zu  geben,  die  bei 
diesem  Gegenstande  allein  stattfindet;  denn  eine  vollständige 
Abhandlung    ist    weit    über    meine    Kräfte*'   (ebend.).      Die 
letzte  Bemerkung    mag  die  Bescheidenheit   unserem  Philo- 
sophen   in  die  Feder    diktiert    haben;    die  Wahrheit    wird 
wohl  sein,  dass  die  Begründung  der  Ethik  eine  wichtigere 
und  schwierigere  Aufgabe  ist,  als  das  Ableiten  der  Gesetze. 
Ist  doch,  wie  Schopenhauer  sagt,  „in  der  Ethik  weit  mehr, 
als  in  irgend  einer  anderen  Wissenschaft,  das  Wesentliche 
in  den  ersten  Grundsätzen  enthalten;  indem  die  Ableitungen 
hier  so  leicht  sind,  dass  sie  sich  von  selbst  machen')." 

Bevor  Home  die  Hauptgesetze  der  Moral  (the  primary 
laws   of  nature)    aufstellt,    giebt  er,  im  Anschluss  an  seine 
bisherigen  Darlegungen,  eine  Definition  des  Begriffes  .,Sitten- 
gesetze'*    überhaupt.      Da    die    Affekte    Beweggründe    der 
Handlungen     abgeben,     das     moralische    Gefühl    aber    die 
Affekte    reguliert,    sie    stärkend    oder    dämpfend    und   bei 
einer  Kollision    dem    einen    den  Vorzug    vor    dem    andern 
erteilend,    so   lassen  sich  die  Gesetze  der  Moral  definieren 
als  „Regeln  unseres  Verhaltens,  die  auf  natürliche 
Triebe     und     Grundsätze    gebaut,    von    dem    mora- 
lischen     Gefühl     gebilligt     und     von     natürlichen 
Strafenund  Belohnungen  ei  ngeschärftwerden*'i)(S.91). 
Wir    haben    schon    früher    von    den  beiden   Arten  des 
moralischen  Gefühls  gesprochen,  dass  es  einerseits  auftritt 
als     ein     dem     ästhetischen     Beifall     verwandtes     Gefühl, 
welches  Handlungen  lobt  und  anempfiehlt,  andererseits  als 
ein  Gefühl,  das  mit  gewaltiger  Energie  gewisse  Handlungen 

1)  Schopeuhauer,  Reclam- Ausgabe,  Werke,  III.  Grundlage  der 
Moral,  S.  494. 

2)  „niles  of  oiir  condnct  and  behaviour,  founded  on  natural  prin- 
ciples,  approved  of  by  the  moral  sense,  aud  enforced  by  natural  rcAvards 
and  punishments"  (S.  122). 


fordert  oder  verwirft  (Gewissen).  Bei  den  Hauptgesetzen 
der  Moral  haben  wir  es  nur  mit  der  letzten  Art  des  moral 
sense  zu  thun.  Führen  wir  Handlungen  aus,  die  das  Ge- 
wissen unbedingt  fordert,  so  handeln  wirden  Grundgesetzen 
der  Moral,  d.  h.  den  Anforderungen  gemäss,  die  wir  an 
jeden  Menschen  stellen.  Es  scheiden  hier  also  alle  die- 
jenigen moralischen  Vorschriften  aus,  die  etwa  verlangen, 
über  das  Durchschnittsmass  der  Alltagssittlichkeit  hinaus- 
zugehen; denn  diese  gehören  zwar  zu  den  Gesetzen  der 
Moral,  nicht  aber  zu  ihren  Hauptgesetzen. 

Als  eine  Lücke  indessen  muss  es  betrachtet  werden, 
wenn  Home  die  Pflichten  gegen  die  eigene  Person  als 
nicht  zu  seiner  Aufgabe  gehörig  betrachtet.  Bekanntlich 
verwirft  und  verspottet  Schopenhaueri)  die  Annahme  von 
Pflichten  gegen  uns  selbst;  allein  mit  grossem  Unrecht. 
Ist  es  wirklich  nur  erlaubt,  seine  Gesundheit  zu  erhalten, 
oder  nicht  vielmehr  eine  der  wichtigsten  Pflichten?  Ist 
es  nur  gestattet,  mich  zu  vervollkommen,  oder  nicht 
vielmehr  eine  vom  Gewissen  mit  aller  Macht  erhobene 
Forderung?  Herbert  Spencer  hat  in  unserer  Zeit  in 
seinen  „Data  of  Ethics"  über  das  Vorurteil  gegen  die  An- 
nahme der  die  eigene  Person  betreffenden  Pflichten,  dem 
man  noch  hie  und  da  begegnet,  scharfes  Gericht  gehalten. 
Home  teilt  dies  Vorurteil  oflenbar.  Sein  jüngerer  Zeit- 
genosse Adam  Ferguson,  der  seine  „institution  of  moral 
philosophy**  1769  herausgab,  ergänzt  ihn  in  diesem  Punkte, 
indem  er  die  drei  Prinzipien  der  Selbstliebe,  des  Wohl- 
wollens und  der  Vervollkommnung  mit  einander  in  Ver- 
bindung setzt  und  die  Tugend  definiert  als  „fortschreitende 
Entwicklung  des  menschlichen  Wesens  zu  geistiger  Voll- 
kommenheit". 

Nun  aber  zu  unseren  Gesetzen.  Fünf  soziale  Affekte 
haben  wir  oben  kennen  gelernt,  den  Trieb  zur  Gerechtig- 
keit, den  zur  Wahrheit,  den  zur  Treue,  den  zur  Dankbar- 
keit    und    endlich    den    Trieb    des    Wohlwollens,    welcher 


li 


(i 


l)  a.  a.  0„  S.  506  f. 


-^    48    — 


wiederum  entweder  als  Trieb,  Leiden  zu  vermindern  (Mit- 
leid), oder  alc  Trieb,  Glück  zu  vermehren,  sich  kundgiebt. 
Wie  stellt  sich  —  das  ist  jetzt  die  Frage  —  das  moralische 
Gefühl  zu  den  verschiedenen   geselligen  Trieben? 

Was    die    vier  ersten  Triebe  angeht,    so  ist  es  Home 
ein  Leichtes,    zu  zeigen,    dass    hier  das  moralische  Gefühl 
streng    befehlend    oder    verbietend    auftritt.      Es    untersagt 
mit  aller  Schärte  eine  Verletzung  des  Eigentums,  der  Ehre, 
der  Gesundheit  und  des  Lebens  eines  Andern.    (Zwangs- 
gesetz).    Freilich    giebt    es    hier    Ausnahmen,    wie    denn 
überhaupt  die  Forderung  der  Allgemeingültigkeit  der  Moral- 
gesetze    nur     von     denjenigen     Moralisten     erhoben     wird, 
welche  die  Ethik  als  eine  mathematisch-logische  und  nicht 
vielmehr    als    eine    empirische    Wissenschaft   ansehen.     Ein 
Mann  von  der  Denkungsart  eines  Home  muss  notwendiger- 
weise   das    „fiat  iuslitia,  pereat  mundus"  in  der  Ethik  ver- 
werfen,   in    der  Überzeugung,    dass  wir    nicht    leben,    um 
Gesetze   zu    befolgen,   sondern   dass   es  (besetze  giebt,   um 
das    Leben    würdig    zu   gestalten.      Mit    dem    Augenblicke 
daher,  wo  die  Gesetze  aufhören,  ihren  Zweck  zu  erfüllen, 
sind    sie    auch  hinfällig.     Als  Beispiele  hierfür  führt  Home 
folgende    zwei    Fälle    an:     1)  Ein    dem  Hungertode  Naher 
darf  seine  Nahrung  nehmen,  wo  immer  er  sie  findet,  ohne 
vorher    den  Eigentümer   zu  fragen.     2)  Wenn  zwei  Schiff- 
brüchige ein  Brett  ergreifen,  das  nur  Einen  zu  tragen  ver- 
mag,    so    handelt    derjenige,    welcher    es    an    sich    reisst, 
rechtmässig,     wiewohl    sein    Leidensgenosse    dadurch  dem 
sicheren   Tode   entgegengeht;   in  diesem  Falle  haben  Beide 
das    gleiche    Recht,    dem   Triebe    der    Selbsterhaltung    zu 
folgen. 

Wie  die  Gerechtigkeit,  so  wird  auch  die  Wahrhaftig- 
keit von  jedem  normal  entwickelten  Menschen  als  eine 
strenge  Pflicht  empfunden ;  das  Gesetz  der  W^ahrhaftig- 
keit  und  der  Vermeidung  jedweden  Betruges  ist  daher 
ein  Hauptgesetz  der  Sittenlehre.  „Dieses  Gesetz  schliesst 
aber  weder  die  Fabel,  noch  einige  Freiheit  der  Rede  aus. 


—     49 


die  auf  Vergnügen  abzielt"  (S.  95)  Auch  hier  sehen  wir, 
dass  Home  jeden  unangebrachten  Rigorismus  vermeidet. 
Über  die  Notlüge  hat  er  sich  nicht  ausgesprochen;  dass 
er  sie  je  nach  den  Umständen  für  erlaubt  oder  sogar  für 
Pflicht  halten  wird,  dürfte  nach  dem  Obigen  zweifellos 
erscheinen. 

Treue  in  der  Ausführung  der  gegebenen  Ver- 
sprechungen und  Dankbarkeit  gegen  diejenigen,  die  uns 
Gutes  erwiesen  haben  ,  sind  gleichfalls  Triebe ,  welche  die 
mächtige  Unterstützung  des  gebietenden  Gewissens  finden. 
Der  Verräter,  sowie  der  Undankbare  können  sich  vor 
ihrem  Gewissen  nicht  rechtfertigen.  Mit  Fug  zählen  wir 
daher  das  Gesetz  der  Treue  und  das  der  Dankbar- 
keit zu  den  Hauptgesetzen  der  Moral. 

Etwas  verwickelter  gestaltet  sich  die  Sache  bei  dem 
Triebe  des  Wohlwollens.  Handlungen,  die  aus  dem  Triebe, 
Anderer  Glück  zu  befördern,  hervorgehen,  haben  in  den 
Augen  des  Zuschauers,  wie  auch  in  unseren  eigenen,  einen 
höheren  Wert,  als  Handlungen  der  Gerechtigkeit,  der 
Treue  etc.,  und  zwar  aus  dem  Grunde,  weil  hier  das 
moralische  Gefühl  nicht  gebieterisch  auftritt,  sondern  nur 
empfiehlt  und  antreibt,  und  demgemäss  ein  höherer  Grad 
von  Sittlichkeit  erforderlich  ist,  um  jene  leise  Stimme  des 
Innern  nicht  zu  überhören.  Nun  giebt  es  aber  „besondere 
Verbindungen",  vermittelst  welcher  die  Sorge  für  das  Wohl 
Anderer  zur  unumgänglichen  Pflicht  wird.  So  fühlen 
Eltern  die  strenge  Verpflichtung,  für  ihre  Kinder,  denen 
sie  das  Leben  geschenkt,  auch  zu  sorgen  und  sie  zu 
tüchtigen  Gliedein  der  Gesellschaft  zu  erziehen.  Einer 
ähnlichen  Verbindlichkeit,  wenn  auch  schon  in  geringerem 
Grade,  sind  sich  nach  dem  Tode  der  Eltern  die  erwachsenen 
Kinder  gegen  ihre  minderjährigen  Geschwister  bewusst; 
„und  so  verringert  sie  (sc.  die  Verbindlichkeit)  sich  durch 
eine  Reihe  anderer  Verbindungen  stufenweise  und  un- 
merklich, bis  zuletzt  das  Gefühl  von  Pflicht  sich  in  ein 
blosses  Wohlgefallen    verliert,    ohne    dass   man    sich   einer 


il 


-     50     — 

Schuldigkeit  bewusst  ist"  (S.  92).  Eine  scharfe  Grenze 
zwischen  dem,  was  Pflicht  für  Jedermann  ist,  und  dem, 
was  über  die  strenge  Verbindlichkeit  hinausgeht  und  ver- 
dienstlich genannt  wird,  zieht  Home  nicht;  denn  sie  ist 
eben  nicht  vorhanden.  Die  Einteilungen  trägt  ja  erst  der 
Mensch  in  die  Natur  hinein,  dem  Drange  des  schema- 
tisierenden und  kategorisierenden  Verstandes  folgend. 
In  der. Natur  aber  giebt  es  keine  scharf  gezogenen  Grenzen; 
„ihre  Übergänge  sind  sanft  und  gelinde.  Sie  nähert  die 
Dinge  einander  mit  einer  so  feinen  Kunst,  dass  sie  keine 
Lücke  noch  Leere  übrig  lässt"  (ebend.).  Nach  dem  Ge- 
sagten können  wir  also  zwar  kein  Hauptgesetz  der  allge- 
meinen Nächstenliebe  aufstellen,  wohl  aber  ein  Hauptgesetz 
des  Wohlwollens  gegen  die  Personen,  welche  besondere 
Ansprüche  auf  unser  Wohlwollen  haben, gegen  „besondere 
Nächste",  wie  Paulsen»)  sie  nennt. 

In  der  zweiten  Form  hingegen,  in  welcher  der  Trieb 
des  Wohlwollens  auftritt,  nämlich  als  Trieb,  das  Leiden 
der  Menschen  zu  mindern,  ist  er  stets  von  der  Stimme  des 
Gewissens  begleitet,  das  die  dem  Mitleid  entströmenden 
Handlungen  zu  einer  unumstösslichen  Pflicht  erhebt.  „Ver- 
säumen wir  diese  Pflicht,  so  können  wir  dem  Vorwurfe 
des  Gewissens  und  unserem  eigenen  Tadel  nicht  entgehen 
(S.  93).  Hier  ist  es  von  keiner  Bedeutung,  ob  der  Un- 
glückliche unser  Verwandter  oder  ein  uns  Fernstehender 
ist,  unter  allen  Umständen  gilt  das  Gesetz,  das  uns  ver- 
bindet, nach  besten  Kräften  dem  Unglücklichen  zu 
helfen  und  mit  den  uns  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  das 
Elend  in  der  Welt  zu  mindern. 

So  hat  nun  Home  auf  induktivem  Wege,  indem  er 
Umschau  hielt  nach  dem,  was  die  Menschen  selbst  als  ihre 
Hauptpflichten  betrachten,  die  sie  gegen  einander  auszuüben 
haben,  eine  Reihe  von  Hauptgesetzen  gefunden,  von  denen 
er  mit  Recht  fordern  darf,  dass  jeder  Einzelne  sich  ihnen 

1)  a.  a.  0.,  II,  160. 


—     51     — 

widerspruchslos  unterwirft.     Der  Kürze  wegen  kleiden  wir 
sie   in   ein    imperativisches   Gewand,   obschon   Home   selbst 

dies  nicht  gethan  hat. 

Die  Grundgesetze  der  Sittlichkeit  lauten: 

1)  Sei  gerecht;  schade  Niemandem  an  seiner  Person, 
seinen  Gütern,  oder  was  sonst  ihm  lieb  ist. 

2)  Sei  wahr;    sprich  die  Wahrheit,  wo  man  sie  von 

dir  erwartet. 

3)  Sei  treu;  erfülle  die  Verpflichtungen,  die  du 
gegen  einen  Anderen  eingegangen  bist. 

4)  Sei  dankbar  gegen  die,  welche  dich  fördern  und 
für  dein  Wohl  sorgen. 

5)  Sei  hilfreich  gegen  alle  Unglücklichen;  suche  ihr 
Leid  zu  verringern. 

6)  Sei  wohlwollend  gegen  die,  welche  dir  nahe 
stehen;  befördere  ihr  Glück  auf  jede  Weise. 

Den  Schluss  des  Kapitels  über  die  Hauptgesetze  der 
Moral  bildet  ein  kurzer  Überblick  über  den  verschiedenen 
Umfang  der  Gebiete  der  Ethik  und  des  Rechts.  Die 
genaue  Abgrenzung  der  Aufgaben  jener  beiden  Gebiete 
wird  uns  bei  einefn  gewiegten  Rechtsgelehrten  wie  Home, 
der  zu  dem  Amte  eines  Oberrichters  von  Schottland  empor- 
stieg und  seiner  Verdienste  wegen  geadelt  wurde,  nicht 
Wunder  nehmen.  Welches  sind  die  Gründe,  fragt  Home, 
für  den  Umstand,  dass  das  bürgerliche  Gesetz  (the  muni- 
cipal  law)  nur  so  wenige  von  den  oben  aufgezählten  Sitten- 
gesetzen in  seinen  Bereich  zieht?  In  den  Staaten  giebt  es 
kein  Gesetz,  das  den  Undank  bestraft,  keins,  das  Mitleid 
für  Unglückliche  fordert,  keins,  das  die  Treue  gegen 
Freunde  gebietet.  Die  Gründe  dafür,  dass  das  Recht  nur 
einen  Teil  der  Moral  in  sich  schliesst,  sind  folgende: 

L  Das  Sittengesetz  will  das  Herz  läutern,  es  erstreckt 
sich  auf  die  verborgenen  Absichten;  das  bürgerliche  Gesetz 
hingegen,  als  von  menschlicher  Erfindung,  regelt  nur  die 
äusserlichen  Handlungen,  muss  also  naturgemäss  eine 
beschränktere  Sphäre  haben. 


I 


-     52     — 

2.  Das  Sittengesetz  betrachtet  den  Menschen  als 
Menschen  und  dringt  so  in  alle  Lagen  und  Verhältnisse 
des  Lebens  ein;  das  bürgerliche  Gesetz  betrachtet  den 
Menschen  nur  als  Bürger,  als  Mitglied  der  Gesellschaft, 
es  befasst  sich  nur  mit  der  Regelung  von  Thaten,  welche 
in  Beziehung  zu  dem  Bestände  und  der  Wohlfahrt  der 
Gesellschaft  stehen.  Daher  schützen  die  Gesetze  vor  Un- 
gerechtigkeit und  Gewalt;  denn  bei  ihnen  könnte  der  vStaat 
nicht  bestehen.  In  so  weit  die  vSicherheit  des  Gewerbes 
vom  Halten  der  Verträge  und  der  übernommenen  Ver- 
pflichtungen abhängt,  befasst  sich  das  Gesetz  auch  mit 
diesem  Zweig  der  Moral.  Dagegen  greift  das  Recht  nie- 
mals  in  Privatverhältnisse  ein,  die  mit  der  Geseilschaft  in 
keiner  Art  zusammenhängen.  Untreue  in  der  Liebe  und 
in  den  Freundschaftsbündnissen ,  Undankbarkeit  gegen 
Wohlthäter,  Hartherzigkeit  gegen  Bedürftige,  so  unsittlich 
diese  Handlungsweisen  auch  sind,  unterliegen  nicht  der 
Gerichtsbarkeit  des  bürgerlichen  Rechts,  da  sie  an  dem 
Bestände  der  Gesellschaft  nicht  rütteln. 

3.  Die  bürgerlichen  Gesetze  müssen  klar  und  deutlich 
gefasst  sein,  sonst  würde  der  Willkür  der  Richter  Thür 
und  Thor  geöffnet.  Nun  sind  aber  die  Pflichten  des 
Sittengesetzes  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  dehnbar  und  von 
den  jeweiligen  Umständen  abhängig.  Für  das,  was  man 
an  Dankbarkeit  gegen  Wohlthäter,  an  Sorge  für  die  Nach- 
kommen, an  Wohlthätigkeit  von  dem  sitdichen  Menschen 
verlangt,  lässt  sich  schlechterdings  kein  genaues  Mass  fest- 
setzen. Um  nur  ein  Beispiel  zu  erwähnen:  Wo  fängt  die 
Dankbarkeit  an?  Wo  hört  sie  auf?  Wann  nenne  ich 
Jemanden  undankbar?  Worin  zeigt  sich  die  Dankbarkeit? 
Dies  alles  ist  doch  offenbar  in  dem  verschiedenen  Fällen 
verschieden.  Unmöglich  kann  ein  Gesetzeskodex  derartige 
Begriffe  definieren.  In  bestimmte  Regeln  können  hingegen 
wohl  die  Enthaltung  von  gegenseitiger  Gewalt  und  Be- 
leidigung, wie  auch  die  Erfüllung  von  Versprechungen 
gebracht  werden;  auf  diese  Dinge  richtet  daher  das 
bürgerliche  Gesetz  sein  Auge. 


53 


Zu  dieser  Formulierung  des  Unterschiedes  zwischen 
Recht  und  Moral  sei  noch  die  Bemerkung  gestattet,  dass  der 
erste  Unterschied  in  ganz  anderen  Worten  bei  Schopen- 
hauer^) sich  wiederfindet.  Nach  ihm  ist  es  die  Aufgabe 
der  Moral,  dass  Niemand  Unrecht  thue,  die  Aufgabe  des 
positiven  Rechts,  dass  Niemand  Unrecht  leide.  Das 
Gesetz  schreitet  daher  nur  in  den  Fällen  ein,  wo  eine  un- 
gehörige Handlung  begangen  wird;  gewaltthätige  Ge- 
sinnungen jedoch,  durch  welche  Niemand  zu  Schaden 
kommt ,  werden  wohl  von  der  Moral ,  nicht  aber  vom 
positiven  Recht  beanstandet. 


Viertes  Kapitel. 
Die  Entwickelung  der  sittlichen  Anschauungen.     . 

Mangelhafte  Entwickelung  des  moralischen  Gefühls  bei  den 

unzivilisierten    V^ölkern    und   ihre   Gründe.     Die  Bedeutung 

der  Vernunft  und  der  Erziehung  für  die  Sittlichkeit.     Das 

Völkerrecht,  seine  Entstehung  und  Entwickelung. 

„Die  Betrachtung  der  moralischen  Erscheinungen 
unter  dem  Gesichtspunkt  des  Werdens  ....  ist  besonders 
Home  und  Hume  eigentümlich 2)**.  Diesen  beiden  Denkern 
gebührt  das  Verdienst,  den  Gedanken  der  Entwickelung 
in  die  Geschichte  des  Menschengeschlechts  eingeführt  und 
gezeigt  zu  haben,  dass  nicht  nur  das  einzelne  Individuum 
allmählich  aus  dem  Zustande  geistiger  Beschränktheit  zu 
grösserer  Vollkommenheit  sich  emporringt,  sondern  dass 
das  Gleiche  stattfindet  in  dem  grossen  Körper  der  Mensch- 
heit. Die  deutschen  Philosophen  nahmen  diesen  frucht- 
bringenden Gedanken  auf,  ein  Herder  schrieb  seine  „Ideen 
zur  Philosophie  der  Geschichte  der  Menschheit",  ein  Lessing 
„die  Erziehung  des  Menschengeschlechts.** 

1)  Gruudiage  der  Moral,  §  17.     Die  Welt  als  W.  u.  V.  I,  §  62. 

2)  Zart,  a.  a.  ().,  S  93. 


11 


^     54     — 

Das  die  moralischen  Gesetze  keine  starren,  unwandel- 
baren Gebote  sind,  dass  sie  vielmehr  heute  einen  anderen 
Inhalt  haben  als  in  der  grauen  Vorzeit,  und  dass  sie  in 
der  Zukunft  noch  weiter  ausgebildet  werden  können,  dies 
will  uns  Home  im  letzten  (neunten)  Kapitel  seines  zweiten 
essay  zeigen.  Zwar  hat  er  dem  Abschnitt  die  Überschritt 
„Von  dem  Völkerrechte"  (Of  the  Law  of  Nations)  ge- 
geben, aber  diesen  Gegenstand  behandelt  er  erst  am  Schlüsse, 
und  zwar  soll  das  Völkerrecht  tür  die  aufgestellte  Lehre 
von  der  allmählichen  Erweiterung  des  ethischen  Gesichts- 
kreises ein  Beispiel  abgeben.  In  gleichem  Sinne,  und  zwar 
ausführlicher,  bespricht  Home  diese  Lehre  in  den  bereits 
oben  erwähnten  „Skizzen  der  Menschheitsgeschichte', 
(Sketches  of  the  History  of  Man);  die  zweite  Skizze  des 
dritten  Buches  handelt  in  ihrem  zweiten  Teile  von  dem 
„Fortschritt  der  Sittlichkeit"  (Progress  of  Morality). 

In  den  Tagen  der  Vorzeit,  so  beginnt  Home  seine 
Ausführungen,  waren  die  Menschen  roh  und  wild;  ja  sogar 
jetzt  giebt  es  noch,  fern  von  uns,  barbarische  Völker,  denen 
Raub  und  Blutvergiessen  nichts  Ungewöhnliches  ist.  „Aus 
diesem  Anblik  des  ursprünglichen  menschlichen  Zustandes 
sollte  es  fast  scheinen,  dass  moralische  Tugenden  dem 
Menschen  nicht  sowohl  natürlich,  als  vielmehr  vermittelst 
der  Erfahrung  und  des  Exempels  in  einer  wohleingerichteten 
Gesellschaft  erworben  sind,  mit  einem  Worte,  dass  der 
ganze  morahsche  Teil  des  menschlichen  Systems  künstlich 
ist"  (S.  100).  Sollt»^  dies  der  Fall  sein,  so  wäre  dem  ganzen 
Lehrgebäude  Homes  der  Boden  entzogen.  Nicht  die  Natur 
wäre  es  alsdann,  deren  Stimme  uns  zur  Sittlichkeit  ruft, 
sondern  die  Kunst  und  die  Erfindung  nähmen  das  Verdienst 
für  sich  in  Anspruch,  die  Natur  verdrängt  und  erst  so  der 
Sittlichkeit  den  Pfad  geebnet  zu  haben. 

Allein  dem  ist  nicht  so.  Der  Einwand,  den  Home 
bereits  gegen  Humes  Theorie  von  der  bloss  konventionellen 
Bedeutung  der  Gerechtigkeit  und  der  Treue  erhoben  hat, 
trifft    in  erhöhtem  Masse  diejenigen,  welche  das  gesammte 


.-     55     — 

Sittengesetz  für  nichts  anderes  als  eine  Einrichtung  der 
Gesellschaft  erklären.  Denn  „in  der  That  ist  es  augen- 
scheinlich, dass  Erziehung  und  Exempel,  so  stark  auch  ihr 
Eintluss  sonst  sein  mag.  nie  eine  Empfindung  oder  ein  Ge- 
fühl erschaffen  können  Sie  können  die  Pflanzen,  die 
die  Natur  gebildet  hat,  hervortreiben  und  verbessern, 
aber  keine  neue  oder  ursprüngliche  Pflanze  hervor- 
bringen'^ (ebend.).  Würde  demnach  gar  keine  Anlage 
zur  sittlichen  Lebensführung  in  der  menschlichen  Natur 
vorhanden  sein,  so  wäre  es  einer  noch  so  vortrefflich  ein- 
gerichteten Gesellschaft  nimmermehr  gelungen,  die  Moral 
zu  erzeugen. 

Wenn  nun  aber  der  Wilde  nicht  weniger  als  der 
zivilisierte  Mensch  die  Anlage  zur  Tugend  besitzt,  wie  er- 
klärt sich  dann  der  weite  Abstand,  der  sich  betreffs  der 
Sittlichkeitsgefühle  zwischen  ihnen  befindet? 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  wird  unschwer  gefunden, 
wenn  wir  den  ursprünglichen  Zustand  des  Menschen  genauer 
betrachten.  Das  Leben  ist  für  den  Naturmenschen  nichts 
weniger  als  bequem;  die  Erde  ist  unfruchtbar  und  unbebaut, 
die  Mittel  zur  Fristung  des  Daseins  sind  nur  mit  Mühe  zu 
erreichen.  Kein  Wunder,  wenn  unter  den  Einzelnen  ein 
fortwährender  Streit  der  Interessen  herrscht.  Der  Trieb 
der  Selbsterhaltung  erhält  so  täglich  und  stündlich  Nahrung 
auf  Kosten  der  geselligen  Neigungen.  Er  erstarkt  durch 
die  häufigeBethätigung,  während  die  wohlwollenden  Affekte, 
durch  Mangel  an  Übung  geschwächt,  von  ihm  mit  Leichtig- 
keit in  den  Hintergrund  gedrängt  werden.  Diesem  Miss- 
verhältnis der  Stärke  der  verschiedenen  Triebe  gegenüber 
ist  das  moralische  Gefühl  nicht  imstande,  seiner  gebietenden 
Stimme  Achtung  und  Ansehen  zu  verschaffen.  Es  ist  vor- 
handen, aber  es  erlangt  nicht  die  Machtstellung  eines  Be- 
herrschers der  Affekte,  sondern  wird  in  den  meisten  Fällen 
von  dem  Selbsterhaltungstriebe  überstimmt,  der  allgewaltig 
drängt  und  stürmt  und  den  vom  moralischen  Gefühl  be- 
günstigten Trieben  die  Bethätigung  versagt. 


f    !! 


III 


-    56    - 

Die  hauptsächliche  Ursache  jedoch  des  ungesitteten 
Verhaltens  des  unzivilisierten  Menschen  ist  die  noch  un- 
genügende Ausbildung  der  Verstandeskräfte.  (Im  Grunde 
genommen  hängt  ja  damit  auch  die  eben  geschilderte 
Mangelhaftigkeit  der  Gewinnung  der  Nahrungsmittel  zu- 
sammen). Und  hier  ist  nun  der  Ort,  wo  Home  die  hohe 
Bedeutung  der  Vernunft  für  die  Ethik  in  das  rechte  Licht 
setzt.  Hat  es  doch  bis  jetzt  den  Anschein  erweckt,  als 
wisse  er  diese  nicht  zu  schätzen,  wenn  er  in  tadelndem 
Tone  von  denen  sprach,  die  „die  kalte  Vernunft"  an  die 
Stelle  der  Gefühle  und  Empfindungen  setzen  wollen  Allein 
die  folgenden  Ausführungen  werden  deutlich  zeigen,  dass 
Home  kein  einseitiger  Gefühlsethiker  ist.  Was  er  be- 
hauptet und  mit  Recht  behauptet,  ist:  Die  moralischen 
Unterscheidungen  „gut  und  böse,  recht  und  unrecht,  lobens- 
wert und  tadelnswert",  diese  Unterscheidungen  werden 
nicht  von  der  logischen  Vernunft  getroffen,  sondern  von 
einem  moralischen  Gefühl ;  die  Vernunft  lehrt  nur  den  Un- 
terschied zwischen  wahr  und  falsch,  richtig  und  unrichtig, 
nützlich  und  schädlich. 

Wie  das  Kind  in  der  gebildeten  Gesellschaft,  lehrt 
Home,  die  ersten  Eindrücke  von  äusseren  Objekten  erhält 
und  erst  später  durch  Übung  und  durch  den  Einfluss  der 
Erziehung  die  Fertigkeit  erlangt,  „zusammengesetzte  Ideen" 
(complex  ideas)  und  ., abstrakte  Sätze"  (abstract  propositions) 
zu  denken,  so  hat  auch  die  gesammte  Menschheit  eine 
Periode  der  Kindheit.  Die  unzivilisierten  Menschen  ge- 
hörten —  und  soweit  sie  noch  existieren,  gehören  —  dieser 
Kindheitsstufe  an.  Die  Begriffe  vom  gemeinen  Besten, 
von  einem  Staat,  von  einem  \^olk,  von  der  Gesellschaft 
unter  einer  Regierung,  sind  zusammengesetzt,  und  werden 
selbst  von  dem  denkenden  Teil  des  menschlichen  Geschlechtes 
nicht  so  bald  erlangt.  Der  Rohe  und  Ungebildete  kann 
sie  kaum  erlangen,  und  daher  können  sie  auch  kaum  einigen 
Eindruck  auf  ihn  machen*'  (S.  101  f.).  Hier  sehen  wir  die 
Aufgabe  der  V^ernunft  genau  und  präcise  bezeichnet:  Die 
Vernunft   bildet  Begriffe,   zuerst  einfache,   dann  allmählich 


-    57     - 


I 


immer  zusammengesetztere;  das  ist  ihr  mächtiges  Amt. 
Allein  sie  ist  kein  Motiv  zum  Handeln.  Das  sind  vielmehr 
die  Gefühle,  die  sich  der  von  der  Vernunft  neu  erworbenen 
Begriffe  und  Verhältnisse  bemächtigen  und  mit  ihnen 
operieren.  In  diesem  Punkte  herrscht  zwischen  Home  und 
Hume  gänzliche  Übereinstimmung.  Im  ersten  Anhang  zu 
seiner  „Untersuchung  über  die  Prinzipien  der  Moral" ») 
sucht  Hume  den  Anteil  festzustellen,  „welcher  der  Vernunft 
und  welcher  dem  Gefühl  an  allen  Entscheidungen  des 
Lobes  oder  Tadels  zukommt",  und  gelangt  zu  dem  Er- 
gebnis, dass  die  Vernunft  die  Gegenstände  darlegt,  wie  sie 
sich  in  der  Natur  vorfinden,  ohne  etwas  hinzuzufügen  oder 
wegzunehmen,  dass  das  moralische  Gefühl  hingegen,  nach- 
dem alle  Umstände  und  Verhältnisse  ihm  vorgelegt  sind, 
gleichsam  eine  neue  Schöpfung  hervorbringt,  indem  es  die 
Gegenstände  „entweder  vergoldet  oder  befleckt". 

Wir  haben  nach  dem  Gesagten  also  keine  Veran- 
lassung, den  wilden  Völkern  das  moralische  Gefühl  abzu- 
sprechen. Sie  besitzen  es  so  gut  wie  wir.  „Ihr  Fehler 
liegt  vielmehr  in  der  Schwäche  der  allgemeinen  Triebfedern 
der  Handlungen,  welche  auf  Gegenstände  gehen,  die  zu 
sehr  zusammengesetzt  sind,  als  dass  Wilde  sie  leicht  fassen 
könnten"  (S.  103)«).  Sagen  wir  doch  auch  nicht  von  den 
Mitgliedern  der  zivilisierten  Welt,  die  ihren  augenblick- 
lichen Leidenschaften  folgen  und  den  Moralgesetzen  zu- 
widerhandeln,   sie   seien   des   moralischen  Gefühls  gänzlich 


it 


1)  a.  a.  0.,  S.  122«f. 

2)  Nach  Lessing  („Die  Erziehung  des  Menschengeschlechts")  gehört 
die  Lehre  von  der  Erbsünde  zu  jenen  Wahrheiten,  „die  wir  als  Offen- 
barungen so  lange  anstaunen  sollen,  bis  sie  die  Vernunft  aus  ihren  andern 
ausgemachten  Wahrheiten  herleiten  und  mit  ihnen  verbinden  lernen"  (§  72). 
In  die  philosophische  Sprache  übersetzt,  ist  ihm  die  Erbsünde  nichts 
anders  als  die  von  Home  behauptete  anfängliche  Unfähigkeit  des  Menschen, 
sittlich  zu  handeln.  „Wie",  ruft  er  aus,  „wenn  uns  endlich  alles  über- 
führte, dass  der  Mensch  auf  der  ersten  und  niedrigsten  Stufe  seiner  Mensch- 
heit schlechterdings  so  Herr  seiner  Handlungen  nicht  sei,  dass  er  morali- 
schen Gesetzen  folgen  könne**  ?  (§  74). 


1   ;i 


-     58    — 


*l 


ii| 


bar;  dann  wären  sie  ja  unverbesserlich,  dann  gälte  ja  das 
entmutigende  „velle  non  discitur"  Schopenhauers,  das 
Paulsen  bezeichnend  einen  der  „AberglaubensarlikeP'  jenes 
Philosophen  nennt.  Es  ist  vielmehr  die  wissenschaftliche 
Überzeugung  Homes,  dass  vernünftige  Überlegung  und  ver- 
nünftige Erziehung  gewaltige  Eintluss  auf  die  sittliche 
Entwickelung  ausüben.  „Das  moralische  Gefühl,  ob  es 
gleich  in  der  Natur  des  Menschen  eingewurzelt  ist,  kann 
doch  durch  die  Erziehung  und  Bildung  sehr  viel  feiner 
werden.  Es  verbessert  sich,  so  wie  unsere  andern  Kräfte 
und  Fähigkeiten,  stufenweise".  „Jeder  muss  die  grossen 
Vorteile  der  Erziehung  und  Nachahmung  einsehen"  (S.  104). 
Theoretisches  Erkennen,  Sinn  für  Schönheit,  praktische 
Sittlichkeit,  sie  alle  sind  zwar  in  der  Natur  jedes  Menschen 
angelegt.  Aber  wie  weit  alle  diese  Anlagen  zur  Entfaltung 
kommen,  das  hängt  in  hohem  Masse  von  den  äusseren  Um- 
ständen ab,  in  denen  der  Mensch  aufwächst,  von  dem 
Bildungsgrad  der  Eltern,  der  Freunde,  der  Lehrer,  des 
Volkes,  des  Zeitalters.  „Deswegen  können  die  Wirkungen 
des  moralischen  (jefühls  bei  einem  Wilden  überhaupt  gar 
keine  Gleichheit  haben  mit  denen,  die  sich  bei  einer  Person 
äussern,  die  alle  Vorteile  besitzt,  deren  die  menschliche 
Natur  durch  eine  feine  Erziehung  fähig  ist**   (S.  105  f). 

Ein  Beispiel  für  die  fortwährende  Verfeinerung  der 
sittlichen  Anschauungen  sind  die  Gesetze,  welche  die 
einzelnen  Völker  im  Verkehr  mit  einander  beobachten,  das 
Völkerrecht.  Dasselbe  ist  nicht  weniger  natürlich  als  das 
Sittengesetz  innerhalb  der  einzelnen  Gesellschaft.  Wohl 
behaupten  Manche,  es  sei  durch  allgemeine  Einwilligung 
unter  den  Völkern  festgesetzt  worden.  Jedoch,  fragt  Home, 
wann  geschah  denn  dies  und  von  wem  geschah  es?  Auf 
blosser  Übereinkunft  beruhen  solche  Gesetze  nicht;  sondern 
im  Laufe  der  Zeiten  läuterten  sich  die  Anschauungen  über 
Sittlichkeit,  und  so  wurden  sich  die  Völker  immer  grösserer 
Rücksichten  bewusst,  die  sie  gegen  ihnen  gleichgültige 
oder   selbst   feindselige  Nachbarn    auszuüben    haben.     Erst 


-    59    — 

hinterher  erlangen  dann  durch  die  allgemeine  Einwilligung 
diese  Gesetze  eine  neue  Unterstützung;  jedes  Volk  verlässt 
sich  dann  darauf,  dass  das  Nachbarvolk  sie  beobachten 
werde.  Mit  vergifteten  Waffen  zu  kämpfen,  galt  früher 
lür  weniger  tückisch,  als  heute.  Die  Kriegsgefangenen, 
die  -inst  getötet  oder  schmählich  behandelt  wurden,  haben 
heute  keine  Grausamkeiten  zu  befürchten,  da  die  gebildeten 
Nationen  einsehen,  dass  der  einzelne  Gefangene  eigentlich 
kein  Feind  ist,  dass  er,  nur  dem  Kufe  seines  Herrschers 
folgend,  in  den  Kampf  gezogen  ist.  Ja,  die  Sitte  verbreitet 
sich  sogar,  die  Gefangenen  auszuwechseln.  Der  Gesandte 
war  schon  in  alter  Zeit  eine  unverletzliche  Person;  in  der 
neueren  Zeit  jedoch  sind  seine  Rechte  immer  mehr  er- 
weitert worden. 

So  erkennen  wir  beim  Völkerrecht  im  Besondern,  was 
Home  im  Allgemeinen  von  dem  gesamten  Gebiete  der 
Sittlichkeit  behauptet  hat,  eine  fortschreitende  Entwickelung. 
„Das  Naturgesetz,  welches  das  Gesetz  unserer  Natur  ist, 
kann  nicht  allezeit  einerlei  Gestalt  behalten.  Es  muss  sich 
mit  der  menschlichen  Natur  verändern,  und  folglich,  so  wie 
diese  feiner  wird,  von  Stufe  zu  Stufe  auch  feiner  werdend 
(S.  106)1). 


f  1  > 


I 


Fünftes  Kapitel. 
Die  Freiheit  des  Willens. 

Homqs  Vorgänger  in  dieser  Frage.  Hume  und  Home. 
Die  Veränderungen  in  der  2.  und  3.  Auflage.  Die  Gesetz- 
mässigkeit in  Innen-  und  Aussenwelt.  Widerlegung  der 
Einwände  gegen  den  Determinismus.  Home  gegen  Clarke. 
Die     „physische"     und    die    „moralische"    Ursache.      Die 


l)  „The  law  of  nature,  which  is  the  law  of  our  nature,  cannoi  be 
stationary.'  It  must  vary  with  the  nature  of  man,  and  cousequently 
refine  gradually  as  human  nature  refines"  (S.  147). 


—     60    — 

moralische  Notwendigkeit  und  das  liberum  arbitrium.  Die 
Ungereimtheiten  der  indeterministischen  Anschauung.  Deter- 
minismus und  Verantwortlichkeit.  Der  Ursprung  des 
falschen  Freiheitsbegriffs.  Die  Kausalität  und  die  ignava 
ratio.  Die  Theodicee.  Home,  Priestley  und  Schopenhauer. 
Home  und  die  schottische  Schule. 


fi 


Im  fünften  Bande  seiner  „Geschichte  der  neueren 
Philosophie**  handelt  Buhle  ausführlich  über  die  „Geschichte 
des  Streits  über  Materialismus  und  Determinismus  in  Eng- 
land" ^).  In  der  That  war  die  Willensfreiheit  eine  Frage, 
die  im  vorigen  Jahrhundert  mehr  denn  je  die  Gemüter  er- 
regte. Besonders  in  England-Schottland  und  in  Frankreich 
wurde  das  Problem  eifrig  diskutiert,  und  in  Deutschland 
verfolgte  man  den  Streit  mit  grossem  Interesse.  Wenn 
Buhle  gerade  an  der  Hand  zweier  englischer  Philosophen 
(Priestley  und  Price)  denselben  erläutert,  so  begründet  er 
sein  Verfahren  damit,  dass  in  England  die  freie  Forschung 
weder  vom  Hofe  unterdrückt ,  noch  von  der  Geistlichkeit 
verfolgt,  der  Kampf  der  Meinungen  daher  ohne  Gehässig- 
keit geführt  wurde;  in  Frankreich  hingegen  waren  die 
Denker  infolge  der  Unterdrückung  der  wissenschaftlichen 
Ansichten  nicht  unbefangen,  sondern  schrieben  in  gereiztem 
Tone.  ,,Und  so  ward  für  Wahrheit  und  Wissenschaft  durch 
die  französischen  Philosophen  ungleich  weniger  gewonnen 
als  durch  die  britischen" 2). 

Home  nun  gehört  zu  eben  jenen  britischen  Denkern 
des  18.  Jahrhunderts,  welche  die  Willensfreiheit  eingehend 
behandelt  und  das  Problem  nach  allen  Seiten  hin  ruhig 
und  voraussetzungslos  erwogen  haben.  Er  schrieb  nicht 
für  die  Kirche  und  nicht  gegen  sie,  er  schrieb  für  die 
Wahrheit;  und  wenn  es  richtig  ist,  was  Schopenhauer  in 
seiner  Abhandlung  über  die  Freiheit  des  Willens  sagt, 
dass  dieses  Problem  ein  Probierstein  sei,  an  welchem  man 


1)  Buhle,  a.  a.  0„  S.  369—481. 

2)  Buhle,  a.  a.  0.,  S.  374. 


iii 


—     61     — 

die  tief  denkenden  Geister  von  den  oberflächlichen  unter- 
scheiden könne,  indem  jene  stets  dem  Determinismus,  diese 
aber  dem  Indeterminismus  huldigen,  so  würde  unserem 
Home  das  Prädikat  eines  tiefen  Denkers  nicht  versagt 
werden    dürfen ,   denn    er   ist  ausgesprochener  Determinist. 

Schon  im  17.  Jahrhundert  hatte  Thomas  Hobbes  in 
seiner  Schrift:  „Quaestiones  de  libertate,  necessitate  et  casu" 
und  Spinoza  in  seiner  „Ethik"  die  Determination  des  Willens 
gelehrt.  Dann  aber  folgten  Locke  und  Leibniz,  die  ihren 
Standpunkt  in  dieser  Frage  nicht  deutlich  und  scharf 
kennzeichneten,  sei  es,  dass  sie  selbst  vor  den  Konsequenzen 
des  Determinismus  zurückschreckten,  oder  aber,  dass  sie^ 
es  für  angebracht  hielten,  dieselben  ihren  Lesern  zu  ver- 
hüllen M-  So  herrschte  wieder  Unklarheit  über  das  Pro- 
blem, bis  es  im  18.  Jahrhundert  von  David  Hume  in  seinem 
„Treatise  on  human  nature'  (1739—1740)2)  und  nochmals 
in  seinem  „Enquiry  concerninghuman  understanding"(1748)3) 
wieder  aufgenommen  und  zugunsten  des  strengen  Deter- 
minismus entschieden  wurde.  Ihm  folgte  hierin  David 
Hartley  in  seinen  „Observations  on  man,  his  frame,  his  duty 
and  his  expectations"  (1749);  zwei  Jahre  darauf  erschienen 
Homes  „Essays**. 

Merkwürdiger  Weise  beruft  sich  Home  auf  seine  Zeit- 
genossen in  dem  ausführlichen  essay  nicht  ein  einziges  Mal. 
Was  freilich  Hartley  angeht,  so  dürfte  Home  bei  der  Ab- 
fassung des  essay  dessen  Schrift  noch  nicht  gekannt  haben. 
Nicht  dasselbe  gilt  jedoch  von  Hume,  mit  dessen  „Treatise", 
wie  wir  zu  wiederholten  Malen  sahen,  Home  innig  vertraut 
ist,  und  dessen  Urteil  er  so  hoch  schätzt,  dass  die  Ver- 
schvveigung  der  Übereinstimmung  mit  ihm  in  einer  so  be- 
strittenen Frage  uns  im  ersten  Augenblick  Wunder  nimmt. 
Allein  bei  näherer  Betrachtung  zeigt  sich,  dass  der  Deter- 

1)  Man  vergleiche  Locke:  „Versuch  über  den  menschlichen  Ver- 
stand", II,  Kap.  21;  Leibniz:  „Theodicee",  11,  §45—53. 

2)  Book  II,  Part  III,  Sest.  1  und  2. 

3)  Part  Vni,  Sect.  1  und  2. 


* 


» 


Jü 


62     — 


minismus,  wie  ihn  Hume  lehrt,  kein  Vorbild  für  Home  ab- 
zugeben vermochte.  Die  Verbindung  zwischen  Motiv  und 
Handlung  entspricht  der  Verbindung  zwischen  Ursache 
und  Wirkung  in  der  Körperwelt.  Nun  besteht  aber  nach 
Hume  die  in  der  Körperwelt  anzufindende  Kausalität  lediglich 
in  der  Gleichförmigkeit,  mit  welcher  auf  bestimmte  Er- 
scheinungen gewisse  andere  Erscheinungen  folgen,  was  den 
Verstand  veranlasst,  durch  Gewohnheit  von  der  einen  Er- 
scheinung auf  die  andere  zu  schliessen.  Eine  Kraft  da- 
gegen in  der  Ursache  anzunehmen,  mit  weicher  sie  die 
Wirkung  hervorruft,  soll  uns  nichts  berechtigen.  Was  hier 
aber  von  der  Aussenwelt  gesagt  ist,  wird  von  Hume  auch 
auf  die  Vorgänge  in  der  Seele  übertragen.  Wir  kennen 
nur  eine  beständige  Verbindung  zwischen  gewissen  Beweg- 
gründen und  gewissen  Handlungen,  und  der  Verstand  ge- 
wöhnt sich  daran ,  von  den  Beweggründen  auf  die  Hand- 
lungen einen  Schluss  zu  ziehen.  Wir  haben  aber  kein 
Recht,  einem  Motiv  die  Kraft  zuzuschreiben,  eine  bestimmte 
Handlung  hervorzubringen.  Nun  genügt  zwar  Hume  die 
beständige  Verbindung  von  Motiv  und  Handlung  und  der 
Verstandesschluss  von  jenem  auf  diese,  um  die  Determination 
des  Willens  anzunehmen;  er  kommt  also  zu  demselben 
Resultat  wie  Home.  Nichtsdestoweniger  mochte  es  letzterem, 
da  er  die  Gesetzmässigkeit  der  menschlichen  Handlungen 
in  dem  engsten  Zusammenhang  mit  der  Kausalität  in  der 
Körperwelt  behandelte ,  unangebracht  scheinen ,  sich  bei 
der  Notwendigkeit  der  Handlungen  auf  denjenigen  zu  be- 
rufen, dessen  Auffassung  der  Kausalität  er  auf  das  schärfste 
bekämpfte'). 

Home  hat  den  ziemlich  umfangreichen  Versuch  über 
die  Freiheit  nicht  in  einzelne  Kapitel  eingeteilt.  Es  lassen 
sich  indessen  deutlich  drei  Teile  unterscheiden,  welche 
folgende  Fragen  behandeln: 


1)  Im  zweiten  Teile  der  „Essays'*  enthält  der  vierte  Versuch  „Von 
uuseru)  Begriff  von  der  Kraft"  ^Of  our  idea  of  power)  eine  eingehende 
Kritik  des  Hume'schen  Skeptizismus. 


63      — 


1.  Sind  die  menschHchen  Handlungen  gesetzmässig  oder 
willkürlich? 

2.  Ist  zur  Erklärung  der  Verantwortlichkeit  und  der  Reue 
die  Annahme  eines  liberum  arbitrium  notwendig? 

3.  Ist  zur  Erklärung  der  Thätigkeit  des  Menschen  die 
Annahme  der  Zufälligkeit  in  den  Begebenheiten  er- 
forderlich ? 

Beachtenswert  ist  es  nun,  dass  Home  im  Laufe  der 
Jahre  seine  Anschauung  geändert  und  sich  erst  allmählich 
zu  einem  konsequenten  Determinismus  hindurchgerungen 
hat.  Es  ist  nicht  ihm  allein  so  ergangen;  auch  Spinoza, 
Hardey,  Priestley  und  Voltaire  konnten  sich,  wie  Schopen- 
hauer berichtet,  nur  mit  Mühe  von  der  vulgären  Willens- 
freiheit losreissen.  Wir  können  es  Flome  daher  wohl  nach- 
fühlen, wenn  er  in  der  Vorrede  zur  dritten  Auflage  seiner 
essays  dem  Leser  zuruft:  „And  now,  rejoice  with  me,  my 
good  reader,  in  being  at  last  relieved  from  so  many  dis- 
tressing  errors". 

In  den  drei  Auflagen  vs^erden  die  obigen  Fragen 
folgendermassen  beantwortet: 

1.  Auflage  (1751). 

1.  Die  menschlichen  Handlungen  sind  gesetzmässig  und 
notwendig. 

2.  Wir  fühlen  uns  nur  bei  Annahme  der  Willensfreiheit 
verantwortlich.  Aus  diesem  Grunde  ist  uns  ein  natür- 
liches, gleichwohl  trügerisches  Gefühl  von  Freiheit 
eingepflanzt.  ^- 

3.  Nur  bei  Annahme  der  Zufälligkeit  in  den  Begeben- 
heiten bleiben  wir  vor  der  ignava  ratio  der  Stoiker 
bewahrt.  Uns  ist  daher  ein  natürliches,  gleichwohl 
trügerisches  Gefühl  von  Zufälligkeit  eingepflanzt. 

2.  Auflage  (1758). 

1.  Die  menschlichen  Handlungen  sind  gesetzmässig  und 
notwendig  (Also  wie  1.  Auflage). 


1)  Schopenhauer,  a.  a.  0.  Freiheit  des  Willens,  S.  456  ff. 


^■jCÄ. 


—     64     ~ 

2.  Eine  Freiheit,  gegen  Motive  zu  handeln,  wird  von  dem 
Bewusstsein  der  Verantwortlichkeit  nicht  vorausgesetzt, 
sondern  nur  die  Freiheit,  nach  eigenem  Ermessen  ohne 
äussern  Zwang  zu  handeln.  Wir  haben  auch  kein 
natürliches  Gefühl  von  der  Freiheit  der  Willkür  (Ver- 
änderte Auffassung), 

3.  Dagegen  entgehen  wir  der  ignava  ratio  nur  durch  An- 
nahme der  Zufälligkeit.  Ein  natürliches,  freilich 
trügerisches  Gefühl  von  Zufälligkeit  spornt  uns  zur 
Thätigkeit  an  (Also  wie   1.  Auflage). 

3.  Auflage  (1779). 

1.  Die  menschlichen  Handlungen  sind  gesetzmässig  und 
notwendig  (Wie  schon   1.  und  2.   Auflage). 

2.  Die  Verantwortlichkeit  setzt  nur  Freiheit  von  äusserem 
Zwang  voraus  (Wie  2.  Auflage). 

3.  Unser  Wirken  und  Schaffen  setzt  durchaus  keine  Zu- 
fälligkeit in  den  Begebenheiten,  es  setzt  im  Gegenteil 
Gesetzmässigkeit  voraus.  Wir  haben  auch  kein  natür- 
liches Gefühl  von  Zufälligkeit  (Veränderte  Auffassung). 

Aus  dieser  Übersicht  ersehen  wir,  dass  die  Gesetz- 
mässigkeit der  Handlungen  bei  Home  von  vorn  herein  fest 
stand.  Das  liberum  arbitrium  indifl'erentiae  glaubt  er  in 
der  1.  Auflage  zur  Erklärung  der  Verantwortlichkeit  nicht 
entbehren  zu  können;  in  der  2.  Auflage  lässt  er  es  fallen. 
Dagegen  hält  er  in  dieser  Auflage  die  Empfindung  vom 
Zufall  noch  fest,  jene  „falsche'^  und  ,,betrügliche„  Em- 
pfindung, wie  er  sie  „in  Ermangelung  eines  geschickten 
Ausdrucks"  nennt,  durch  die  allein  wir  zur  Thätigkeit  an- 
gespornt weiden.  Endlich  in  der  dritten  Auflage  sagt  er 
sich  auch  von  dieser  letzten  Konzession  an  indeterministische 
Anschauungen  los.  Unsere  Darstellung  folgt  demgemäss 
der  Schlussansicht  unseres  Philosophen  ^). 

1)  Es  ist  mir  nicht  gelungen,  in  den  Besitz  der  dritten  Auflage  zu 
gelangen.  Ich  hätte  also  die  „Zufälligkeit'*  entweder  überhaupt  nicht, 
oder  nach  der  zweiten  Auflage  darstellen  müssen,  wenn  nicht  Uomes 
„Sketches*'    und   Tytler,    sein   Biograph ,    das    Fehlende   ergänzt   hätten. 


~     65     - 

„Dass  sich  nichts  ohne  Ursache  zutragen  kann,  ist 
ein  Grundsatz,  der  von  allen  Menschen  angenommen  wird, 
von  den  ungelehrten  und  unwissenden  sowohl,  als  von  den 
gelehrten.  (S.  111).  Die  Ursache  einer  Begebenheit  mag 
uns  noch  so  unbekannt  sein,  eins  steht  uns  ausser 
Zweifel,  nämlich,  dass  eine  solche  vorhanden  ist.  Schon 
die  Kinder  sind  danach  bestrebt,  die  Ursachen  der  Dinge 
zu  erfahren,  welche  sie  um  sich  herum  wahrnehmen.  Der 
Mann  aus  dem  Volke  nimmt,  wenn  er  sich  eine  Erscheinung 
nicht  zu  erklären  vermag,  lieber  zu  unsichtbaren  Mächten 
seine  Zuflucht,  als  dass  er  eine  ursachlose  Begebenheit 
annähme. 

Gleichwohl  haben  wir  neben  diesem  ausgeprägten  Be- 
wusstsein von  der  Gesetzmässigkeit  der  Begebenheiten  in 
gewissen    Fällen    eine  Empfindung    von    Zufälligkeit      Von 

Dass  die  oben  geschilderte  Änderung  sich  in  der  3.  Auflage  findet,  ent- 
nahm ich  aus  der  Vorrede  zu  ihr,  welche  Tytler  (a.  a.  0..  S.  164  f.  Fuss- 
note)  mitteilt.  Home  sagt  daselbst  u.  a. :  „In  the  Essay  of  Liberty  and 
Necessity,  our  notions  of  chancc  and  contingency  are  held  to  be  delusive 
and  consequently  that  so  far  we  are  led  by  our  uature  to  deviate  from 
trath.  £t  is  a  harsh  doctrine,  that  we  should  be  so  led  astray  in  any 
instance.  As  that  doctrine  never  sat  easy  upon  me,  I  discovered  it  also 
to  be  erroneous;  and  the  error  is  corrected  in  the  present  edition,  where 
I  hopc  it  is  made  clcarly  out,  that  the  notion  we  have  of  chance  and 
contingency  is  entirely  conformable  the  neccssary  chain  of  causcs  and 
effects".  —  Wie  aber  Home  die  „Möglichkeit"  und  „Zufälligkeit"  mit 
der  „notwendigen  Kette  von  Ursachen  und  Wirkungen"  in  Einklang 
brachte,  hahe  ich  den  „Sketches '  entnommen.  Im  Jahre  1789  —  9  Jahre 
nach  Homes  Tode  —  erschienen  sie  zu  Edinburgh  in  zweiter  Auflage, 
„considerably  enlarged  by  the  last  additions  and  corrections  ot  the  author." 
Wie  schon  erwähnt,  behandelt  die  zweite  Skizze  des  dritten  Buches  die 
Prinzipien  und  den  Fortschritt  der  Sittlichkeit.  Der  erste  Teil  zerfällt 
wiederum  in  acht  „Sektionen",  deren  letzte  den  Titel  fuhrt:  „Liberty  and 
Nee  ssity  with  respect  to  Morality".  Dieser  Sektion  ist  ein  Anhang  bei- 
gegeben,  betitelt  „üpon  chance  and  contingency''  (Vol.  IV,  120—127). 
Es  unterliegt  wohl  keinem  Zweifel ,  dass  der  Inhalt  jenes  Anhangs  sieh 
mit  der  Darstellung  der  „Zufälligkeit"  in  der  (drei  Jahre  vor  Homes  Tod 
erschienen)  dritten  Auflage  der  essays  deckt,  da  dort  in  der  That  der  Zu 
lall  mit  der  Notwendigkeit  in  Einklang  gebracht  ist. 


66 


-     67 


\ 


ii 


manchen  künftigen  Ereignissen  glauben  wir  wahrzunehmen, 
dass  sie  in  den  vorhergenden  Ursachen  nicht  fest  genug 
gei^ründet  sind,  um  sich  notwendiger  Weise  zutragen  zu 
müssen.  Während  z.  B.  der  Tod  eine  Tliatsache  ist,  deren 
schliessliches  Eintreffen  wir  nach  den  (besetzen  der  Natur 
als  gewiss  und  notwendig  betrachten,  scheint  uns  doch 
die    besondere    Stunde    unseres    Todes    etwas    Zufälliges 

zu  sein. 

Richten  wir  unser  Augenmerk  auf  die  Handlungen 
derMenschen,  so  begegnen  wir  einem  ähnlichen  scheinbaren 
Widerspruch.  Allgemein  wird  zugestanden,  dass  wir  nach 
Motiven  handeln.  „Dass  ein  Geiziger  jede  bequeme  Ge- 
legenheit ergreifen  werde,  sich  zu  bereichern,  daran  wird 
ebenso  wenig  gezweifelt,  als  dass  nach  Regen  und  Sonnen- 
schein die  Pflanzen  wachsen  werden**  (S.  113).  Der  Be- 
weggrund des  Gewinns  wirkt  auf  seinen  Willen  genau  so 
sicher,  als  die  Wärme  und  die  Nässe  auf  den  Erdboden. 
Wir  können  mit  den  Beweggründen  eines  Menschen  un- 
bekannt und  so  ausser  Stande  sein,  seine  Handlungsweise 
vorauszubestimmen;  dass  aber  irgend  welche  Motive  auf 
ihn    einwirken,    ziehen    wir    keinen  Augenblick  in  Zweifel. 

Nichtsdestoweniger  glauben  wir  zuweilen,  die  Hand- 
lungen in  anderem  Lichte  zu  sehen  Hat  Jemand  ein  Un- 
recht begangen,  sofort  tadeln  wir  ihn  und  fordern,  dass 
er  anders  hätte  handeln  sollen,  gleich  als  ob  jene  That 
frei  gewesen  wäre  von  allen  äusseren  Beweggründen,  die 
sie  doch  mit  Notwendigkeit  hervorbrachten. 

Wie  sind  diese  Widersprüche  -  denn  solche  scheinen 
es  zu  sein  —  zu  erklären  und  zu  lösen?  Hierzu  bedarf 
es  zweifelsohne  einer  gründlichen  und  unparteiischen  Unter- 
suchung darüber,  „was  wir  von  der  Zufälligkeit  in  den 
Begebenheiten  und  von  der  Freiheit  oder  Notwendigkeit 
in  den  menschlichen  Handlungen  zu  halten  haben'*  (S.  115). 


1.     Die    Notwendigkeit    der   menschlichen 

Handlungen. 

In  der  Körperwelt  schreiten  alle  Dinge  in  einer  fest- 
gesetzten und  bestimmten  Folge  von  Ursachen  und  Wir- 
kungen fort.  Die  kleinsten  Bewegungen ,  die  geringsten 
Veränderungen  sind  das  Resultat  feststehender  Gesetze, 
jeder  Zufall,  jede  Freiheil  ist  hier  ausgeschlossen. 

In  der  „moralischen  Welt"  scheint  beim  ersten  An- 
blick nicht  die  gleiche  Gesetzmässigkeit  stattzufinden. 
Der  Mensch  handelt  nicht  nach  mechanischen  Gesetzen, 
er  fängt  selbständig  die  Bewegungen  an  und  handelt  nach 
freier  Wahl.  Seinen  Leidenschaften  braucht  er  nicht  blind- 
lings zu  folgen,  sondern  kann  Motive  der  vernünftigen 
Überlegung  auf  sein  Gemüt  einwirken  lassen.  In  so  fern 
ist  der  Mensch  frei;  er  erleidet  keinen  äusseren  Zwang, 
er  steht  nicht  unter  einer  physischen  Notwendigkeit.  Aber 
Freiheit  von  Zwang  ist  nicht  Ursachlosigkeit.  Innere  Not- 
wendigkeit -  moralische  Notwendigkeit,  wie  Home  sie 
nennt  -  kommt  einer  jeden  Handlung  zu ;  Beweggründe, 
sie  seien  nun  schwach  oder  stark,  wirken  allemal  auf  den 
Willen  ein  und  besti  nmen  ihn  zu  Thaten.  Je  stärker  der 
Beweggrund,  um  so  sicherer  der  Eintritt  der  Handlung. 
„Wir  erwarten  solche  Handlung,  einem  solchen  Bewegungs- 
grunde zur  Folge,  ebenso  zuverlässig,  als  wir  erwarten, 
dass  ein  Stein  zur  Erde  sinken  wird,  wenn  man  ihn  aus 
der  Hand  fallen  lässt**  (S.  117  f.)-  Sind  in  der  Seele 
mehrere  Beweggründe,  die  nach  verschiedenen  Seiten  hin 
wirken,  so  mag  sie  kurze  oder  auch  längere  Zeit  hin  und 
her  schwanken,  endlich  aber  wird  sie  demjenigen  folgen, 
welcher  der  stärkste  ist.  „Hieran  kann  man  ebensowenig 
zweifeln,  als  daran,  dass  in  einer  Wage  das  grösste  Gewicht 
die  Schale  niederziehen  muss'-   (S.   Il8). 

Der  Einwand  jedoch,  dass  die  Menschen  oft  sehr 
unvernünftig  handeln  und  sich  von  augenblicklichen  Ein- 
fällen und  Launen  bestimmen  lassen,  ist  ganz  hinfällig. 
Das    den  Willen  bestimmende  Motiv    mag  vernünftig  oder 


i 


i|i 


—     68      - 

wunderlich  sein,  unter  allen  Umständen  ist  sein  Einfluss 
gesetzmässig  und  notwendig.  Wenn  beispielsweise  ein 
träger  Mensch  allen  Motiven  der  Tugend  und  der  Vernunft 
widersteht  und  die  Hände  in  den  Schoss  legt,  so  ist  die 
Ursache  seines  Entschlusses  eben  ein  solches  Motiv, 
das  jene  anderen  an  Stärke  übertrifft,  nämlich  die  Liebe 
zur  Unthätigkeit  und  zum  Müssiggang.  Dieses  Motiv  ist 
ebenso  wirksam,  ihn  an  einen  Stuhl  zu  fesseln ,  wie  es  die 
Liebe  zur  Ehre  und  zum  Erwerb  bei  dem  Strebsamen  ist, 
ihn  zur  Thätigkeit  zu  reizen. 

Aber,  wendet  der  Verfechter  der  indeterministischen 
Lehre  nun  ein,  ich  kann  doch,  wenn  ich  will,  ein  geringeres 
Gut  dem  grösseren  vorziehen!  Hier  liegt  eine  Anzahl 
Äpfel  vor  mir,  das  Motiv  des  Genusses  drängt  mich  dahin, 
einen  möglichst  guten  zu  wählen,  ich  nehme  aber  gleich- 
wohl den  schlechtesten,  und  zwar  ohne  Ursache,  bloss  weil 
ich  es  so  will.  Allein,  entgegnet  Home,  wer  sieht  hier 
nicht,  ,.dass  das  Verlangen,  zu  zeigen,  dass  er  gegen  Be- 
wegungsgründe  handeln  kann,  in  diesem  Fall  selbst  der 
Bewegungsgrund     zu     dem     wunderhchen    Vorzuge     ist?*' 

(S.  120)0. 

iTüi^se  Bemerkung   scheint   von  Home   zum   ersten  Male  gemacht 
worden  zu  sein.    Bei  Hume  findet  sie  sich  in  einer  der  Anmerkungen  zum 
Enquiry"   die   Anmerkungen   aber   stammen    erst   aus  dem  Jahre  177U, 
wo  Home  mehrere  seiner  einzelnen  edierten  Werke  zusammendrucken  lie^ss. 
Man    bedenkt    nicht,"    so    heisst    es   in  jener  Note,    „dass   hier  (sc  bei 
einer  scheinhar  den  Motiven  zum  Trotz  ausgeführten  That)  der  phantastische 
Wunsch,    die   Freiheit    darzulegen,    der   Beweggrund   des   Handelns   ist 
(Hume,   Untersuchung   über  d.  menschl.  Verstand,   ed.  Kirchmann,   S   9^. 
Fassnote).    Sodann  finden  wir  die  gleiche  Bemerkung  wieder  in  Pnestleys 
Schrift  über  den  Determinismus:    „The  doctrine  of  philosophical  necessity 
iUustrated"  (1777).     Endlich  sei  an  Schopenhauers  Beispiel  von  dem  ü.he- 
gatten   erinnert,   der   n  ch   gethaner   Arbeit,   a  len  Lockungen   zum   Ver- 
Lügen widerstehend,    zu  seiner  Gattin  heimkehrt,  und  zwar,  wie  er  mein  , 
fedighch.   weil  er  es  nun  einmal  will.     Wenn  ich  ihm  nun  beweisen  will 
fährt  Schopenhauer    fort,   dass  er  infolge  eines   zwingenden  Motivs   nicht 
anders  handeln  konnte,  kann  es  zwar  leicht  geschehen,  dass  er,  um  mich 
zu  widerlegen,  das  Haus  verlässt.    „Dann  wäre  aber  gerade  mein  Leugnen 
und  dessen  Wirkung  auf  seinen  Widerspruchsgeist  das  ihn  dazu  nötigende 
Motiv  gewesen*-  (Schopenhauer,  a.  a.  0.,  S.  422). 


—    69     - 

Nach  diesen  Ausführungen  wendet  sich  Home  gegen 
Clarke,  welcher  den  notwendigen  Einfluss  der  Motive  auf 
den  Willen  zugiebt,  dennoch  aber  die  Willensfreiheit  auf- 
recht erhalten  zu  können  glaubt  mit  der  Begründung, 
dass  doch  nicht  die  Motive  direkt  die  Bewegungen  des 
Menschen  verursachen,  sondern  der  Mensch  selbst.  Nun, 
erwidert  Home,  das  behauptet  ja  Niemand,  dass  etwa  das 
Vergnügen  eines  Spaziergangs  die  Bewegungen  eines 
Menschen  hervorruft.  Das  Vergnügen  verursacht  zunächst 
nur  den  Entschluss,  ins  Freie  zu  gehen.  Der  Entschluss 
aber  ist  wiederum  eine  Ursache,  die  mit  Notwendigkeit 
die  Handlung  des  Spaziergangs  bewirkt,  und  so  hat  Clarke 
mit  seinem  Argument  nichts  gewonnen;  Motiv,  Wille  und 
Handlung  stehen  in  einer  unzertrennlichen  Verbindung. 
Wenn  Clarke  aber  weiter  behauptet:  „Eine  moralische  Not- 
wendigkeit ist  überall  gar  keine  Notwendigkeit,  da  sie  mit 
der  höchsten  Freiheit  bestehen  kann",  so  muss  er,  wenn 
das  Argument  überhaupt  einen  Sinn  haben  soll,  das  zweite 
Mal  das  Wort  „Notwendigkeit"  im  Sinne  „Zwang"  ge- 
braucht haben,  und  dann  würde  er  etwas  Selbstverständ- 
liches und  Unbestrittenes  aussagen;  hingegen  hätte  er  so 
für  die  Ursachlosigkeit  des  Willens  nichts  bewiesen.  Ist 
die  Stelle  aber  wörtlich  zu  nehmen,  dann  hat  sie  nicht  mehr 
Sinn  als  die  Behauptung,  die  physische  Notwendigkeit  sei 
gar  keine  Notwendigkeit,  weil  sie  keine  moralische  ist. 

„Eine  grosse  Quelle  der  Verwirrung  bei  dieser  Unter- 
suchung scheint  die  zu  sein,  dass  man  Notwendigkeit  und 
Zwang  nicht  unterscheidet"  (S.  122).  Diese  beiden  Begriffe 
müssen  streng  von  einander  gesondert  werden.  Ein  Ge- 
fangener, der  zu  entkommen  wünscht,  bleibt  in  seinem 
Kerker  aus  Zwang,  weil  die  Thüren  bewacht  werden. 
Sind  die  Aufseher  unachtsam,  so  entflieht  er.  Diese  Flucht 
ist  freilich  kein  Zwang,  aber  sie  ist  darum  nicht  minder 
notwendig,  d.  h.  sie  ist  eine  ebenso  gewisse  und  unfehlbare 
t'olge  der  Umstände,  in  denen  der  Gefangene  sich  befindet, 
als   sein   früheres  Verbleiben  im  Kerker.     In  diesem  Sinne 


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! 


I 

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^     70    - 

sind  sämtliche  Handlungen  notwendig,  gewiss  und  unver- 
meidlich;  mit  vollkommener  Gesetzmässigkeit  erfolgen  sie 
aus  dem  überwiegenden  Beweggrunde. 

Die  Notwendigkeit  der  Handlungen  wird  uns  ein- 
leuchtend, sobald  wir  über  die  Umstände  nachdenken,  unter 
welchen  Handlungen  überhaupt  eintreten.  Wann  wird  denn 
eine  That  unternommen?  Doch  nur,  wenn  ich  einen  Erfolg, 
einen  Endzweck  im  Auge  habe.  Den  Endzweck  strebe 
ich  an,  er  ist  Gegenstand  meiner  Begierde,  und  die  Hand- 
lung ist  das  Mittel,  ihn  zu  erreichen.  So  innig  hängen 
Motiv  und  Handlung  zusammen.  Dem  Menschen  eine  der 
moralischen  Notwendigkeit  entgegengesetzte  Freiheit  zu- 
sprechen,  würde  also  dasselbe  sein,  wie  ihm  ein  Vermögen 
zusprechen,  seiner  Begierde  zuwider,  oder  mit  anderen 
Worten:  jedem  Endzweck,  jeder  Absicht  zuwider  zu 
handeln.  Ein  solches  Vermögen  aber  verträgt  sich  nicht 
mit  einer  vernünftigen  Natur. 

Selbst    bei    scheinbar    gleichgültigen    Entscheidungen 
liegt  keine   Willkür   vor.      Die   Gegenstände,   unter   denen 
ich  eine  Wahl  zu  treffen  habe,  mögen  einander  so  gleichen, 
dass   ich   den  Grund   für   meine  schliessliche  Entscheidung 
nicht  anzugeben  vermag.     Daraus  folgt  aber  noch  nicht, 
dass    ein  Grund    nicht    vorhanden  ist.     In  solchen  Fällen 
können  „mancherlei  Umstände,  die  aus  kleinen  unbemerkten 
Besonderheiten  der  Phantasie,  der  Gewohnheit,  der  nähern 
Stelle  u.  s.  w.  entspringen",  die  Entscheidung  beeinflussen. 
Und   sehr   tretTend   fügt  Home   hinzu:  Hier    „ist   selbst  die 
unangenehme   Verlegenheit,   die   man    empfindet,    und    die 
Mühe,    die  man  sich  giebt,  einen  Grund  der  Wahl  aufzu- 
suchen,    ein  Beweis,  dass  es  unnatürlich  ist,  ganz  willkür- 
lieh    zu  handeln,   und  dass  unsere  Einrichtung  es  mit  sich 
bringt,    durch    Bewegungsgründe    bestimmt     zu     werden" 
(S.  125)1). 

1)  Das  ist  ja  auch  der  Sinn  unseres  Sprüchworts:  „Wer  die  Wahl 
hat,  hat  die  Qual".  -  Merkwürdig  ist  es  übrigens,  dass  Home  das  typische 
Beispiel  von  Buridans  Esel  nicht  zur  Erläuterung  herbeizieht. 


' 


-      71     - 

Da  nun  aber  einmal  die  Lehre  von  der  Gesetzmässig- 
keit der  Handlungen  „in  einigen  besonderen  Stücken  den 
gewöhnlichen  Begriffen  des  menschlichen  Verstandes  wider- 
spricht" und  der  Mann  aus  dem  Volke  sie  gemeiniglich 
so  versteht,  als  werde  ihm  hiermit  das  Privilegium  der 
Selbstbestimmung  entrissen,  so  hält  Home  es  für  angebracht, 
in  kurzen  Worten  den  Unterschied  zwischen  einer  „phy- 
sischen" und  einer  „moralischen"  Ursache  auszuführen. 
Er  besteht  in  folgenden  Punkten: 

1)  Bei  der  physischen  Ursache  verhält  sich  der  Mensch 
ganz  passiv ;  es  wird  auf  ihn  gewirkt,  er  selbst  wirkt  nicht. 
Die  moralische  Ursache  treibt  den  Menschen  an,  selbst  zu 

wirken. 

2)  Die  physische  Ursache  wirkt  fast  stets  gegen  die 
Neigung  des  Menschen.  (Ausnahme  z.  B.:  Ein  heftiger 
Sturm  treibt  das  Schiff,  das  durch  ihn  seine  Segel  einge- 
büsst  hat,  in  den  Hafen  hinein).  Die  moralische  Ursache 
ist  allemal  dem  Willen  gemäss;  denn  sie  wirkt  nie  durch 
Zwang  und  Gewalt,  sondern  durch  Begierde  und  Über- 
redung 

3)  Die  physische  Ursache  ist  uns  unangenehm'); 
denn  wir  leiden  ungern  Zwang.  Die  moralische  Ursache 
ist  angenehm,  weil  wir  nach  eigenem  Willen  handeln. 

4)  Die  physische  Ursache,  als  gleichbedeutend  mit 
Zwang,  wird  als  Notwendigkeit  empfunden.  Von  der  Not- 
wendigkeit der  moralischen  Ursache,  welcher  das  Moment 
des  Zwanges  abgeht,  haben  wir  nicht  das  Gleiche  un- 
mittelbare   Bewusstsein;   sie    wird    nur   durch    Nachdenken 

erkannt. 

Die  Thatsache  nun,  dass  der  Mensch  von  der  mora- 
lischen Notwendigkeit  kein  unmittelbares  Bewusstsein  hat, 
ist  der  Grund  jener  Vorurteile,  mit  denen  die  Verteidiger 
der  Freiheit  den  Deterministen  begegnen.  Für  die  allen 
Menschen     bekannte     physische    Notwendigkeit     hat    die 

1)  Eine  Wiederholung  des  vorhergehenden  Unterschiedes,  nur  sub- 
ektiv  betrachtet. 


V 


-  n  - 

Sprache  das  Wort  „Zwang"  gebildet;  eine  Bezeichnung 
für  die  moralische  Notwendigkeit  giebt  es  dagegen  nicht. 
„Daher  kommt  es,  dass  der  grösste  Teil  der  Menschen 
sogleich  unruhig  wird,  wenn  sie  von  Notwendigkeit  reden 
hören,  weil  sie  sich  keine  Begriffe  von  einer  Notwendig- 
keit machen  können,  die  von  der  Art  des  Zwanges  ver- 
schieden ist,  bei  welchem  die  Notwendigkeit  mit  dem 
Willen  streitet'-  (S.  127).  Home  hofft  nun,  durch  eine 
Gegenüberstellung  der  moralischen  Notwendigkeit  und  des 
liberum  arbitrium  indifferentiae  die  Gegner  der  ersteren  zu 
beruhigen  und  auf  seine  Seite  zu  ziehen. 

Dass  die  moralische  Notwendigkeit,  als  dem  Willen 
gemäss,  frei  von  Zwang  ist  und  vielmehr  angenehme 
Wirkung  auf  uns  ausübt,  hat  Home  bereits  bemerkt.  Jetzt 
geht  er  noch  einen  Schritt  weiter  und  behauptet,  dass 
Notwendigkeit  und  Annehmlichkeit  unzertrennlich  sind. 
„Eine  Handlung",  so  schliesst  er,  „ist  notwendig,  weil  sie 
durch  die  Begierde  hervorbracht  wird;  sie  ist  zu  gleicher 
Zeit  angenehm,  weil  sie  auf  die  Erfüllung  der  Begierde 
abzielt.  Und  daraus  folgt  deutlich,  dass  das  Vergnügen 
auch  so  viel  grösser  sein  muss,  je  grösser  die  Notwendig- 
keit ist"  (S.  128).  Wie  sieht  es  dagegen  mit  dem  liberum 
arbitrium  aus?  Fassen  wir  es  als  ein  Vermögen,  frei 
von  Motiven  zu  handeln,  so  ist  es  jedenfalls  leer  von 
aller  Lust  und  Neigung.  Verstehen  wir  darunter  aber 
gar  ein  Vermögen,  gegen  alle  Motive  zu  handeln, 
dann  muss  dasselbe  eine  höchst  unangenehme  Wirkung 
ausüben,  es  würde  einen  Widerspruch  in  unserer  Natur  be- 
gründen und  uns  unglücklich  machen. 

Und  doch ,  wenden  die  Indeterministen  ein ,  ziehen 
wir  das  liberum  arbitrium  der  Notwendigkeit  vor;  denn 
wenn  es  uns  auch  keine  Lust  gewährt,  jedenfalls  sind  wir 
dann  doch  nicht  willenlos  der  Gewalt  des  Bösen  anheim- 
gegeben. Die  Freiheit  der  Willkür  setzt  uns  in  den  Stand, 
allen  Motiven  des  Lasters  zu  trotzen  und  ungestört  auf  der 
Bahn    der   Tugend   zu    wandeln.     Die    Einseitigkeit    dieser 


I. 


^ 


—     73     - 

Betrachtungsweise  aufzeigend,  erwidert  Home:  Vorausge- 
setzt, wir  besässen  jene  Freiheit  der  Willkür,  kann  sie 
nicht  ebenso  wohl  den  Motiven  der  Moral  Trotz  bieten? 
Es  wäre  also  reiner  Zufall,  ob  wir  tugendhaft  oder  laster- 
haft handeln.  Überhaupt  wären  wir  mit  jenem  Vermögen 
gänzlich  dem  Zufall  unterworfen:  Wir  könnten  uns  auf 
Niemanden  verlassen.  Versprechungen,  Schwüre,  Gelübde 
wären  sinnlos,  denn  sie  vermögen  nur  den  zu  binden,  der 
durch  Beweggründe  geleitet  wird.  Der  Unterschied  der 
Charaktere  würde  verschwinden;  denn  einen  Charakter 
besitzt  nur  derjenige,  der  feste  und  bestimmte  Gründe  für 
seine  Handlungen  hat.  Die  Gesetze,  Ermahnungen,  Be- 
lohnungen, Drohungen  wären  alle  vergeblich;  denn  wer 
von  Motiven  unabhängig  ist,  kann  nicht  Gegenstand  einer 
vernünftigen  Regierung  sein.  Die  Freiheit  der  Willkür 
würde  den  Menschen  nicht  erheben,  sondern  erniedrigen. 
„So  lange  wir  nicht  aus  dem  Menschen  lieber  ein  wunder- 
liches und  lächerliches,  als  ein  vernünftiges  und  moralisches 
Wesen  machen  wollen,  so  lange  haben  wir  auch  keine 
Ursache  zu  bedauern,  dass  wir  den  Willen  den  Bewegungs- 
gründen notwendig  unterworfen  finden"  (S.  130). 

Das  Ergebnis  seiner  Untersuchung  fasst  Home  in 
die  folgenden  Worte  zusammen :  „Wenn  wir  die  moralische 
und  materialische  Welt  mit  einander  vergleichen,  so  ist  in 
der  einen  sowohl  als  in  der  andern  alles,  was  geschieht, 
das  Resultat  von  feststehenden  Gesetzen.  Nichts  ist  in 
der  ganzen  Welt,  das  eigentlich  zufällig  kann  genannt 
werden,  nichts,  das  sein  kann  oder  nicht  sein  kann,  nichts 
in  der  ganzen  Natur,  das  ungebunden  und  ungewiss  wankt, 
sondern  jede  Bewegung  in  der  materialischen  Welt  und 
jede  EntSchliessung  und  Handlung  in  der  moralischen  Welt 
werden  von  unveränderlichen  Gesetzen  regiert.  So  lange 
diese  Gesetze  in  ihrer  Kraft  bleiben,  kann  nicht  das  kleinste 
Glied  von  der  allgemeinen  Kette  der  Ursachen  und 
Wirkungen  zerbrochen  werden,  noch  irgend  etwas  anders 
sein,  als  es  ist"  (S.  131  f.). 


-     74     - 

2.     Der  Determinismus  und  die 
Verantwortlichkeit. 

Ein  Argument  jedoch  wird  stets  gegen  den  Deter- 
minismus geltend  gemacht,  welches  so  gewichtig  ist,  dass 
es  die  oben  aufgestellte  Lehre  von  Grund  aus  zu  erschüttern 
droht,  und  welches  daher  eine  besondere  Beachtung  von 
Seiten  des  Denkers  erheischt.  Wenn  nämlich  —  so  werfen 
die  Verteidiger  der  Willkür  ein  —  die  Handlungen  not- 
wendig erfolgen,  mit  welchem  Rechte  machen  wir  dann 
die  Menschen  für  ihre  Thaten  verantwortlich,  mit  welchem 
Rechte  spenden  wir  ihnen  Lob  oder  geben  ihnen  unsere 
Missbilligung  zu  erkennen,  mit  welchem  Recht  sprechen 
wir  von  Verdienst  und  Schuld,  aus  welchem  Grunde  endlich 
peinigen  wir  uns  selbst  mit  Qualen  des  Gewissens,  da  ja 
alles  kommen  musste,  wie  es  kam,  und  wir  nicht  die  ge- 
ringste Freiheit  hatten,  anders  zu  handeln?  Das  System 
der  Notwendigkeit  verträgt  sich  nicht  mit  den  Gefühlen 
der  Verantwortlichkeit  und  der  Reue;  und  da  diese  Ge- 
fühle nicht  weggeleugnet  werden  können,  so  ist  eine  Lehre, 
die  sie  aufhebt,  ein  blosses  Hirngespinnst. 

Um  diesem  starken  Einwurf  zu  begegnen,  ist  es  er- 
forderlich, die  Gefühle  der  Billigung  und  Missbilligung  und 
das  Gefühl  der  Reue  einer  sorgfältigen  Untersuchung  zu 
unterziehen.  Zunächst  bemerkt  Home,  dass  eine  Handlung 
jeder  Zeit  gebilligt  wird,  wenn  sie  aus  einem  tugendhaften 
Motiv  entspringt  und  somit  von  der  guten  x\bsicht  des 
Handelnden  Zeugnis  ablegt.  Aber  noch  mehr:  Gerade  die 
Verbindung  zwischen  Motiv  und  tugendhafter  Handlung 
ist  es,  welche  die  Billigung  hervorruft,  und  je  grösser  der 
Einlluss  des  Motivs,  um  so  höher  schätzen  wir  den 
Handelnden.  Wenn  wir  Gott  wegen  seiner  Güte  preisen, 
so  verringert  die  Erwägung,  dass  er  notwendig  gütig 
ist,  so  wenig  unsere  Anerkennung,  dass  sie  dieselbe  viel- 
mehr noch  verstärkt.  Dasselbe  gilt  von  der  Missbilligung: 
Je  grösseren  Einfluss  das  lasterhafte  Motiv  auf  einen 
Menschen  hat,  um  so  verächtlicher  erscheint  er  uns.    Wohl 


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-     75    - 

ist  eine  Freiheit  notwendig,  um  einen  Menschen  zum 
Gegenstand  der  Verantwortung  zu  machen;  allein  die  ge- 
naue Untersuchung  ergiebt,  dass  es  die  Freiheit  vom 
äusseren  Zwang  ist,  nicht  aber  die  Freiheit  von  inneren 
Beweggründen.  „Wenn  wir  nur  das  Einzige  wissen,  dass 
ein  Mensch  die  Freiheit  hat,  zu  handeln,  wie  es  ihm  ge- 
fällt, so  loben  oder  tadeln  wir  ihn  sogleich  wegen  seines 
Verhaltens,  ohne  noch  eine  andere  Bedingung  zu  fordern. 
Wir  verlangen  nicht,  dass  er  auch  das  Vermögen  haben 
soll,  seiner  eigenen  Begierde,  der  Wahl  zuwider  zu  handeln. 
Der  Begriff  von  einem  solchen  Vermögen  ist  in  keiner  von 
unsern  Empfindungen  eingeschlossen."  (S.  135  f.). 

Habe  ich  selbst  eine  unsittliche  Handlung  begangen, 
so  stellt  sich  hinterher  die  Reue  ein.  Das  Gewissen  ruft: 
Du  hättest  anders  handeln  sollen,  es  war  deine  Pflicht, 
anders  zu  handeln.  Was  ist  der  Sinn  jener  inneren  Stimme? 
Durch  die  Gewissensbisse  tadele  ich  mein  Naturell,  mache 
ich  mir  Vorwürfe,  das  ich  das  Motiv  der  Pflicht  von  einem 
lasterhaften  Motiv  habe  verdrängen  lassen.  Gewiss,  ich 
hätte  anders  handeln  können.  Niemand  zwang  mich, 
Schlechtes  zu  thun,  wenn  ich  nur  vor  der  That  die 
Neigung  zum  Andershandeln  gehabt  hätte,  wie  ich  sie 
jetzt  habe.  Der  Mangel  der  Neigung  zur  Pflicht  ist  es, 
den  ich  tadle. 

Nunmehr  giebt  Home  den  gegen  seine  Lehre  ge- 
richteten Einwurf  den  Gegnern  zurück.  Wenn  der  Mensch 
das  liberum  arbitrium  besässe,  wenn  er  allen  guten  Motiven 
zum  Trotz  boshaft  und  allen  schlechten  zum  Trotz  tugend- 
haft sein  könnte,  dann  gerade  wäre  er  kein  Gegenstand 
des  Lobes  oder  des  Tadels.  Waren  es  nicht  die  Motive 
der  Pflicht,  die  mich  antrieben,  dieselbe  zu  erfüllen,  so  ist 
kein  Schluss  auf  meinen  Charakter  berechtigt;  und  auch 
der  Böse  kann  jeden  Tadel  von  sich  abwenden,  indem 
eine  schlechte  Handlung  keinen  Rückschluss  auf  einen 
verderbten  Willen  gestattet.  Ein  mit  dem  liberum  arbitrium 
ausgestatteter  Mensch  gleicht  einem  solchen,  der  zwischen 


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tugendhaften  und  lasterhaften  Motiven  unentschlossen  wankt, 
und  es  wäre  doch  sehr  ungereimt  zu  behaupten,  „dass  eine 
Neigung  zum  Guten  oder  zum  Bösen,  die  so  schwach  wäre, 
dass  sie  dem  Gemüt  die  Freiheit  Hesse,  ihr  zu  widerstehen, 
eines  grösseren  Lobes  oder  Tadels  würdig  wäre,  als  eben 
diese  Neigung,  die  so  stark  wäre,  dass  sie  kein  Vermögen 
zu  widerstehen  übrig  Hesse"  (S.  138). 

So  weit  ist  der  Determinismus  also  davon  entfernt, 
die  Grundlagen  der  Sittlichkeit  zu  erschüttern,  dass  er  um- 
gekehrt eine  Stütze  derselben  ausmacht.  Verantwortlich- 
keit und  Reue  lassen  sich  nur  durch  ihn  erklären.  Durch 
den  Determinismus  sind  wir  in  den  Stand  gesetzt,  von  der 
Handlung  einen  Rückschluss  auf  den  Charakter  des 
Handelnden  zu  machen.  Der  Determinismus  ist  es,  der  zu 
der  Behauptung  berechtigt:  operari  sequitur  esse,  wie 
Schopenhauer  sagt. 

Zum  Schlüsse    wirft  Home    noch  die  Frage  auf,   wie 
denn  der  falsche  Begriff  des  liberum  arbitrium  so  tief  habe 
Wurzel  schlagen  können,  dass  er  aus  dem  Bewusstsein  der 
Menschen  so   schwer  sich  entfernen  lasse.     Zu  dem  schon 
erörterten  Vorurteil ,   als  sei   jener  Begriff  eine  Stütze  der 
Sittlichkeit,  kommen,  wie  Home  richtig  bemerkt,  besonders 
noch  zwei  Umstände  hinzu.    Zunächst  ist  Macht  und  Ver- 
mögen   „eine  Lieblingsidee    des  Menschen",   er  nimmt  da- 
her mit  Freuden  ein  System  an,  das  dieser  Idee  schmeichelt  0- 
Ein  fernerer  Grund  aber  ist  der,  dass  der  nicht  tief  in  das 
Problem  eindringende    Mensch   das  Vermögen,    der  Wahl 
gemäss  zu  handeln,  mit  dem  Vermögen,   zu  wählen,  ver- 
wechselt.    Er  kann    thun,    was    er   wiH,    und  glaubt  nun, 
auch  wollen  zu  können,  was  er  wiU^). 


1)  VgL  E.  von  Hartmann,  a.  a.  0.  S.  448—469,  über  das  liberum 
arbitrium  indifferentiae.  Auch  er  führt  als  einen  der  Gründe  der  Illusion 
den  „Dünkel  der  Menschenwürde**  an. 

2)  Vgl.  Schopenhauer,  a.  a.  0.  S.  393  ö.  „Der  Wille  vor  dem 
Selbstbewusstsein". 


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3.     Die  Kausalität  und  die  ignava  ratio. 

Jetzt   gilt  es  für  Home  noch  den  letzten  Einwand  zu 
beseitigen,    der  gegen  die  Lehre  von  der  allgemeinen  Ge- 
setzmässigkeit  erhoben    wird,    den  Einwand,  welchen  man 
schon    im    Altertum     den   Stoikern     entgegenhielt.      Wenn 
nämlich,    so  wird  behauptet,   alles  in  der  Natur  nach  un- 
veränderlichen Gesetzen  geregelt  ist,  so  hat  unsere  Thätig- 
keit    keinen    Sinn    und    Zweck,    denn    wir    können    ja    zu 
unserem    Wohl    nichts   hinzuthun    und    von    unserem   Leid 
nichts    verringern;   dann    können  wir  nur  ruhig  die  Hände 
in  den  Schoss  legen  und  der  Dinge  warten,  die  da  kommen. 
Dass  wir  arbeiten  und  uns  regen,  ist  ein  Beweis  gegen  die 
allgemeine  Gültigkeit   der  Kausalität.     Allein   dieser  ganze 
Einwand  beruht,  wie  Home  richtig  zeigt,  auf  einer  falschen 
Auffassung   des  Begriffs    „Notwendigkeit".     Wie  wir  oben 
eine  Verwechselung  der  inneren  Gesetzmässigkeit  mit  dem 
Zwang    aufgefunden    haben,    so    entdecken    wir    hier    eine 
Verwirrung    der   Begriffe   „Gesetzmässigkeit"   und  „Unab- 
änderlichkeit". Die  grosse  Menge  indentifiziert  beide  BegriflTe 
und  nennt  daher  alles,  was  nicht  unabänderlich  ist,  zufällig. 
Jedoch    bei    genauer  Analyse  dessen,  was  wir  unter  Zufall 
verstehen,    zeigt   sich,    dass    derselbe  in  keiner  Weise  der 
Gesetzmässigkeit   widerspricht.      Wenn    wir   sagen:    Dieses 
Ereignis   geschah   durch  Zufall    (by  chance),  so  heisst  dies 
nicht:    Der  Zufall   verursachte    es,    sondern:    Wir   kennen 
die  Ursache  nicht.    Das  Kausalitätsgesetz  wird  dabei  keinen 
Augenblick  in  Frage  gestellt.    Die  Zufälligkeit  (contingency) 
des    Witterungswechsels   beruht    lediglich   auf  unserer  Un- 
kenntnis  der  Ursachen   desselben;   das  und  nichts  anderes 
meinen  wir  auch,  wenn  wir  davon  reden.    Zufall  bedeutet 
also  stets  nur  Nicht-Wissen  der  Ursachen,  nie  ihr  Nicht- 
Vorhandensein.     Eine    Weltauffassung,     welche     Aus- 
nahmen  von  dem  Gesetze   der  Kausalität   zulässt,   ist   un- 
wissenschaftlich uud  unphilosophisch. 

Die  Erkenntnis  der  Ausnahmslosigkeit  des  Kausalitäts- 
gesetzes aber  ist  weit  davon  entfernt,  der  ignava  ratio  das 


-    78    - 

Wort  zu  reden.  Gerade  das  Gegenteil  ist  der  Fall.  Wenn 
ich  die  Überzeugung  habe,  dass  alles  in  der  Welt  unter 
dem  gewaltigen  Gesetzt  der  Kausalität  steht,  so  weiss  ich, 
dass  auch  meine  Thaten  Glieder  in  der  Kette  der  Ursachen 
und  Wirkungen  bilden;  und  die  Erkenntnis,  dass  die  Forde- 
rung meines  leiblichen,  geistigen  und  sittlichen  Wohls  zum 
grössten  Teil  in  meine  eigenen  Hände  gelegt  ist,  wird 
nicht  verfehlen,  mich  zum  eitrigen  und  fleissigen  Gebrauch 
aller  meiner  Kräfte  anzuspornen.  Würde  ich  dagegen  a.i- 
nehme>i  -  hier  kehrt  Home  wiederum  den  Spiess  gegen 
seine  Gegner  -.  es  hänge  vom  Zufall  ab,  ob  ich  weise 
werde  oder  thöricht,  tugendhaft  oder  schlecht,  dann  freilich 
wäre  die  ignava  ratio  am  Platze,  dann  wäre  es  verlorene 
Mühe,    mich   anzustrengen    und   an   meiner  Ausbildung   zu 

arbeiten.  .  j-   j      i 

So  sehen  wir  unsern  Philosophen  also  tief  durch- 
drungen von  der  Gesetzmässigkeit  in  der  Körperwelt,  wie 
in  der  Geisteswelt.  Schärfer  als  er  könnte  sie  auch  heute 
kein  Denker  aussprechen.  „Diese  Welt  ist  eine  grosse 
Maschine,  die  aufgewunden  und  in  Gang  gebracht  ist. 
Die  verschiedenen  Triebfedern  und  Räder  wirken  auf  ein- 
ander, ohne  zu  fehlen.  Der  Zeiger  rückt  fort  und  die  Uhr 
schlägt  genau  so,  wie  der  Künstler  es  bestimmt  hat.  Wer 
richtige  Ideen  und  einen  wahren  Geschmack  an  der  Philo- 
sophie hat.  muss  sehen,  dass  dies  die  wirkliche  Theorie 
der  Welt  ist  und  dass  bei  jeder  andern  Theorie  keine  all- 
gemeine Ordnung,  kein  Ganzes,  kein  Plan,  weder  Mittel 
noch  Endzweck  in  der  Regierung  der  Welt  stattfinden" 
(S.  145). 


Am  Schlüsse  des  ersten  Teils  unseres  essay  hat  Home 
auch  das  Problem  der  Theodicee  mit  ganz  kurzen  Worten 
gestreift.  Die  Kürze  ist  berechtigt;  denn  für  die  Ethik 
muss  es  völlig  gleichgültig  bleiben,  welche  Folgerungen 
aus    ihren    Lehren   für   die    Eigenschaften    des    göttlichen 


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Wesens    sich   ergeben.     Ausführlicher   bespricht  Home  die 
Frage    nach    dem    Ursprung    des  Übels    im    zweiten  Teile 
seines  Werkes;   dort   handelt    der    siebente  essay  von  der 
Erkenntnis     Gottes     (Of    our    knowledge    of    the    Deity). 
Home  ist  sich  der  Schwierigkeit  wohl  bewusst,  und  er  ist 
nicht    der    Mann,    der    sich    durch    Winkelzüge    herauszu- 
winden    sucht.       Eins    aber    weist    er    bereits    in    unserm 
essay    mit    Entschiedenheit    zurück,    nämlich    die    Ansicht, 
dass    nur    dem     Determinismus     gegenüber     das    Problem 
sich  erhebe.     Die  Schwierigkeit  „fällt  auf  jede  Hypothese, 
die    wir    annehmen    können,    zuletzt    mit    gleicher    Stärke 
zurück.     Das    moralische    Böse    kann    gar    nicht    da    sein, 
wenn   es    nicht    wenigstens    von  Gott    zugelassen  wird.     In 
Ansehung   der   ersten    Ursache   aber    ist    „zulassen"  soviel 
als   „verursachen"  (Permitting  is  the  same  thing  with  Cau- 
sing),  sintemal  es  nicht  möglich  ist,  dass  sich  gegen  seinen 
Willen    etwas    zutragen    könnte"  (S.  132  f.  Fussnote).     Die 
eingehende    Behandlung    der    Frage    erfolgt    sodann,    wie 
schon  erwähnt,  in  den  Versuchen  über  natürliche  Religion. 
Durch  seinen  trefflichen  essay  über  die  Willensfreiheit 
hat   Home    mächtig   auf  einen  jüngeren    Zeitgenossen   ein- 
gewirkt.    Es  ist  dies  Josef  Priestley,  einer  der  entschieden- 
sten Vorkämpfer   des  Determinismus.     Im  Jahre    1777    er- 
schien  sein  Werk  :  The  doctrine  of  philosophical  necessity 
illustrated,    dem    Schopenhauer    nachrühmt;    „Wen    dieses 
überaus   klar   und   fasslich   geschriebene  Buch   nicht   über- 
zeugt,    dessen    Verstand    muss   durch   Vorurteile    wirklich 
paralysiert  sein"  i).    Priestley  selbst  gesteht  nun,  dass  seine 
Schrift  nicht  erschöpfend   sei.     Er  will  nur  das  erwähnen, 
wo  er  glaubt,    Neues    beizubringen.     Im  Übrigen    verweist 
er  auf  die  Werke  von  Hume,  Hartley  und  Home  (letzteren 
nennt  er  unter  dem  Namen  Lord  Kames).    Die  Argumente 
aber,  die  Priestley  für  das  deterministische  System  herbei- 
bringt,   sind    zum   grossen  Teil    nicht    ganz    neu,   sondern 


1)  Schopenhauer,  a.  a.  0.  S.  457. 


—     80     — 


Ausführungen  dessen,  was  wir  bei  Home  kennen  lernten 
—  das  von  Priestley  neu  Herbeigebrachte  fällt  mehr  in 
das  Gebiet  der  Theologie  — ;  und  so  beruft  er  sich  denn 
auch  zuweilen  bei  seinen  Argumenten,  wie  z.  B.  bei  der 
Erklärung  des  Reuegefühls,  auf  Home.  Da  nun  Schopen- 
hauer Priestley  so  hoch  schätzte,  so  dürfen  wir  wenigstens 
eine  indirekte  Einwirkung  unseres  Home  auf  Schopenhauer 
behaupten,  wodurch  dann  die  frappante  Ähnlichkeit  der 
klassischen  Abhandlung  des  Letzteren  mit  den  Home'schen 
Gedanken  erklärlich  wird.  Dagegen  sind  wir  nicht  be- 
rechtigt anzunehmen,  dass  Schopenhauer  Home  selbst 
kannte ,  da  er  ihn  sonst  bei  der  Aufstellung  seiner  „Vor- 
gänger" sicherlich  nicht  übergangen  hätte. 

Endlich  mag  der  deterministische  Standpunkt  Homes 
uns  noch  über  die  Frage  Aufschluss  geben,  ob  Home  den 
Philosophen  der  sogenannten  schottischen  Schule  zuzu- 
zählen ist,  oder  nicht.  Windelband»)  hält  ihn  mit  Hinsicht 
auf  seinen  Grundsatz,  dass  „unsere  Schlüsse  zuletzt  auf 
Gefühl  und  Empfindung  beruhen",  für  einen  Vorläufer  der 
common -sense- Schule.  Als  ihr  Begründer  gälte  darum 
nicht  er,  sondern  erst  Thomas  Reid,  weil  dieser  durch 
schärferes  Eindringen  in  die  philosophischen  Probleme 
Home  in  den  Schatten  gestellt  habe.  Um  die  Richtigkeit 
dieser  Behauptung  zu  prüfen,  bedürfte  es  zuvor  einer  ein- 
gehenden Beschäftigung  mit  den  erkenntnistheoretischen 
Anschauungen  Homes,  wie  er  sie  in  dem  zweiten  Teil  der 
essays  niedergelegt  hat.  Jedoch,  wenn  wir  auch  ohne 
weiteres  zugeben,  dass  Berührungspunkte  zwischen  Home 
und  Reid  stattfinden,  so  scheint  doch  andrerseits  Homes 
Determinismus  schon  hinzureichen,  um  ihn  nicht  zu  den 
„Schotten"  zu  zählen.  Dugald  Stewart  berichtet  in  seiner 
Biographie  Reids2),  dieser  habe  in  herzlicher  Freundschaft 
mit  Home  gelebt,  „notwithstanding  the  avowed  Opposition 


1)  In  der  Eacyklopädie  von  Ersch  und  Gruber,  Artikel  „Kames". 
2^  D.  Stewart:  Account  of  the  Life  and  Writings  of  Thomas  Keid, 


S.  Ul. 


I 


—    81     — 

of  their  sentiments,  on  some  moral  questions,  to  which  he 
attached  the  greatest  importance".  Zu  diesen  ethischen 
Fragen,  in  denen  die  beiden  Denker  in  so  entschiedenem 
Gegensatz  zu  einander  standen,  gehört  in  erster  Linie  die 
der  Freiheit  des  Willens »).  Der  common  sense  -  Philosoph 
steht  selbstverständlich  auf  Seiten  der  Freiheit  der  Will- 
kür, während  Home  ihm  die  wissenschaftliche  Ansicht 
über  das  Problem  entgegenhält.  Einen  Denker,  der  in 
einer  so  bedeutsamen  Frage  mit  dem  „gesunden  Menschen- 
verstand" im  scharfen  Widerspruch  steht,  dürfen  wir  wohl 
schwerlich  in  die  Reihe  der  common  sense- Philosophen 
stellen;  und  so  haben  die  Historiker  der  Philosophie  mit 
Recht  nicht  Home,  sondern  Reid  den  Begründer  der 
schottischen  Schule  genannt. 

1)  In  einem  Briefe  an  Home  vom  a.  Dezember  1772  beruft  sich 
Reid  betreffs  der  Willensfreiheit  auf  den  „gesunden  Menschenverstand" : 
„The  common  sense  of  mankind  dictates,  that  what  a  man  did  volun- 
tarilj  and  with  intention,  he  had  power  not  to  do*'.  Siehe  Tytler,  a.  a. 
0.  I,  Appendix  S.  44). 


Vita. 


ili 


Natus  sum,  Josephus  Norden,  Hammoniae  a.  d.  XV 
Kai.  Jul.  anni  1870  patre  Mose  matre  Bertha.  Fidei  ad- 
dictus  sum  Judaicae.  Eadem  in  urbe  gymnasium  Johanne- 
um  adü  ibique  litterarum  studiis  me  dedi.  Deinde, 
testimonio  maturitatis  accepto,  anno  1890  Berolinum  me 
contuli  et  numero  civium  Universitatis  Fridericae-Guilelmae 
Berolinensis  adscriptus  sum.  Ibi  per  septem  semestria 
scholas  frequentavi  virorum  doctissimorum : 

Dessoir,      Dillmann,      von      Gizycki,      Lasson, 
Lazarus,      Paulsen,     Pfleiderer,     E.    Schmidt, 

Strack,  Zeller. 

Eodem  tempore  theologica  studia  tractavi  atque  tracto 
in  seminario  illo  rabbinico,  cui  praeest  vir  iUustrissimus 
I.  Hildesheimer,  ibique  scholas  frequentavi,  quas  et  ille 
habet,  et  Barth,  Berliner,  IL  Hildesheimer,  Hoff- 
mann, viri  doctissimi. 

Quibus    Omnibus    viris    optime   de  me   meritis   gratias 

ago  quam  maximas. 


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