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DIE ETYMOLOGIE.
Eine akademische Rede
Dr. Rudolf Thurneysen,
0. Professor der vergleichenden Sprachwissenschaft
an der UniversiUt Freiburg i. Br.
Freiburg i. B.
Speyer & Kaerner.
1905.
Die Rede ist bei der öffentlichen Feier der Übergabe des
Prorektorats der Universität Freiburg i Br. am 11. Mai 1904
gehalten und — ohne die Zitate — als üniversitätsprogramm
gedruckt worden.
R. Th.
Druck von A. Bonz' Erben in Stuttgart
Hochansehnliche Versammlung!
Das Szepter unserer Universität, das Jahr um Jahr
aus der Hand einer Fakultät in die der andern gleitet,
und das mir heute die Ehre verleiht zu Ihnen zu sprechen,
ist nur eines der vielen äußeren Zeichen, die uns an die
Einheit unserer üniversitas litterarum erinnern. Ist sie
in ihrer mannigfaltigen Zusammensetzung doch nur ein
einzelner Konventikel jener großen geistigen Genossenschaft,
der Gelehrtenrepublik, die dadurch zur Einheit verknüpft
wird, daß sie sich vom Leben der Tat großenteils ab-
gewandt und, nicht ohne Opfer, dem d'eoQriTixög ßiog, dem
Leben des Forschens und Sinnens, hingegeben hat, um
dem einen großen Ziel nachzujagen, das in das menschliche
Herz als eines seiner Ideale gelegt worden ist, der Er-
kenntnis der Wahrheit. Diesen hohen Namen der Wahr-
heit hat aber ein einzelner Wissenszweig mit kecker Hand
an sich gerissen und wie sein spezielles Abzeichen vor die
Stirn geheftet ; eine einzige Disziplin nennt sich Etytaologie,
<iie Lehre vom Wahren. Gleichzeitig mit der Sprachwissen-
schaft, der theoretischen Beschäftigung mit der Sprache
überhaupt, geboren, ist sie bis heute der Teil der Linguistik,
der in erster Linie das Interesse weiterer Kreise zu erregen
pflegt. Fragen nach der Bedeutung der Namen, nach der
^72967
••• • • •
:4 —
Herkunft der Wörter sind es, deren der Sprachforscher
jeden Augenblick gewärtig sein muß. So kann sie sich
nicht beklagen, wenn man ihr von Zeit zu Zeit mit dem
Lichte der Wahrheit, zu der sie sich dem Namen nach
bekennt, ins eigene Antlitz leuchtet, wenn sie ernstlich ge-
prüft wird, ob sie wirklich hält, was sie kühnlich behauptet.
Denn wem wäre nicht bekannt, wie häufig sie doch auch
Flitter für Gold geboten hat? wie die Etymologie gleich-
sam als geistreiches Spiel zu allen Zeiten gerade Dilettanten
mächtig angezogen hat? Rätselraten ist unterhaltend, zumal
wenn dabei ein scheinbar wissenschaftliches Resultat er-
reicht wird, das sich mit wenig Worten, also ohne Mühe
anderen mitteilen läßt.
Was hat denn dieser Wissenszweig wirklich erreicht?
welche Aufgaben übernommen und auch gelöst?
Das Schöne stammet her vom Schonen,
Drum will es zart behandelt sein,
singt der Dichter und gibt uns damit ein gutes Beispiel
einer zu allen Zeiten beliebten Anwendung der Etymologie.
Sie soll irgend einen wissenschaftlichen oder moralischen
Lehrsatz begründen helfen. Allein allzu ernst ist es damit
meist nicht gemeint. Hätte man den Verfasser jener Verse
darauf aufmerksam gemacht, daß seine Etymologie verkehrt
ist, daß das Schöne nicht vom Schonen stammt, er würde
darum seine Ansicht über die Behandlung des Schönen
nicht geändert haben. Und wenn man dem Mystiker Jakob
Böhme alle seine gewalttätigen Wortdeutungen, die er zur
Stütze seiner theosophischen Phantasien aufstellt, durch-
gestrichen hätte, er würde darum kein Iota seines Systems.
aufgegeben haben. Es handelt sich hier noch um keine
wissenschaftliche Anwendung der Etymologie; denn die
würde verlangen, daß die Widerlegung des Vordersatzes
auch den Nachsatz als haltlos erwiese. Es sind nur Lichter,
die der Maler dem schon fertigen Gemälde aufsetzt. Doch
eben dieser Gebrauch hat den göttlichen Plato veranlaßt,
der Sache auf den Grund zu gehen, den Versuch einer
Probe zu machen, ob ^virklich aus der Etymologie wahre
Erkenntnis zu schöpfen sei, ob die Bezeichnungen der Dinge
etwas von ihrem Wesen kund tun. Sein Dialog Kratylos
verneint diese Ansicht nicht geradezu. Manche Wörter
scheinen ihm aus solchen hergeleitet, die tatsächlich von
dem Wesen des zu Bezeichnenden Wahres aussagen. Die
nicht aus anderen Wörtern gebildeten Urwörter — denkt
er — mögen wohl direkt durch den Charakter ihrer Laute
die Art des Benannten verdeutlichen. Aber wie etwa im
Buchstabennamen ß^^ra zwar das b den Laut richtig be-
zeichne, aber alles Weitere nur wie zum Schmucke daran
gehängt sei, so bleibe man überhaupt bei allen Wörtern
stets im Ungewissen, was an ihnen zur wahren Bezeichnung
gehöre, was nur als Beiwerk zu betrachten und daher bei
der Deutung beiseite zu lassen sei. Zur sicheren Erkennt-
nis der Dinge können daher die Wörter nicht dienen.
Also wie ein Goldsucher, der eine Mine verläßt, nicht
weil sie kein Edelmetall enthält, sondern nur zu wenig, als
daß es die Arbeit und die Kosten der Läuterung lohnte,
so wandte sich der Philosoph von der Wortforschung ab.
Kein Wunder, daß Spätere — es waren die Stoiker —
mit neuer Zuversicht den vom Meister weggeworfenen Grab-
spaten wieder aufnahmen. Nicht ohne Grund vermutet
man, daß eben sie den Ausdruck hvfioÄoyia geschaffen
haben, aus halb poetischem Sprachgut; denn längst war
das alte Adjektiv hvfiog ,wahr* in der gewöhnlichen Rede
durch dÄfjd^^g ersetzt. Homer, der wiederholt die Redens-
art irvfiov oder hvfia Xiyeiv ,die Wahrheit sprechen' ge-
braucht, mag unmittelbar zu der Wortbildung angeregt
haben. Sie will nach einer antiken Definition eine Er-
klärung der Wörter bezeichnen, durch die das Wahre, das
sie enthalten, deutlich zutage tritt.
So begann denn das Schürfen nach dem Etymon, dem
Stammwort, von dem irgend ein Ausdruck sich herleitet,
um das Wahre aufzudecken, das der Name vom Ding aus-
sagt. Hat man nun auch gezeigt, daß diese Etymologie
in das Gesamtsystem der Stoa sehr wohl passte, indem
ihnen das Sprechen — weil allen Menschen gemeinsam —
als etwas nicht vom Menschen Erdachtes und Erklügeltes,
sondern von der Natur selbst Gegebenes erschien, so daß
zwischen dieser natürlichen Sprache und den äußeren Natur-
objekten, die sie bezeichnet, bestimmte, erkennbare Ver-
hältnisse zu erwarten seien, so war sie doch kein not-
wendiges Glied des Systems. Namentlich die einzelne
Wortdeutung konnte angenommen oder verworfen werden,
ohne daß es für das Ganze in Betracht kam. So mußte
dieser Wissenschaft der heilige Ernst fehlen, der allein
Dauerndes schafft, und wir brauchen schon aus diesem
Grunde nicht zu trauern, daß diese Literatur bis auf ver-
sprengte Partikeln für uns verloren ist. War so die Ety-
mologie wieder mehr zu einer angenehmen Beigabe der
ernsten philosophischen Forschung herabgesunken, so hat
dieser Zustand bis in die Neuzeit fortgedauert, ))is Locke
— 7 —
und Leibniz ihre Erkenntnistheorien, ihre Lehren von der
Entstehung der Begriffe auf die Etymologie und namentlich
auf den durch sie aufgedeckten Bedeutungswandel der
Wörter zu gründen suchten und so auch diesen Teil der
Sprachwissenschaft der engen Verschwisterung mit der
Psychologie entgegenführten, die sich in unserer Zeit
vollzieht.
Im Altertum nahm zunächst die jugendlich aufblühende
Philologie der Philosophie unsere Wissenschaft aus der
Hand. Hier, biöi der Erklärung literarischer Denkmäler
längst vergangener Jahrhunderte, hat die Etymologie als
Wegweiser nach der möglichen Bedeutung veralteter oder
dialektisch verschiedener Wörter sich oft nützlich erwiesen,
und sie hat dieses bescheidene Plätzchen als Dienerin der
allgemeinen Interpretationskunst zu allen Zeiten und in
allen Literaturen treulich ausgefüllt, ja bei günstiger Ge-
legenheit, z. B. bei der Entzifferung der persischen Keilin-
schriften, mehr als nur Handlangerdienste geleistet.
Von Philosophie und Philologie freundlich geleitet,
trat sie nun als selbständiger Teil in die Tcxvrj ygafifiatixi^,
die Sprachlehre ein, — wo sie leider Gelegenheit zu einem
höchst unheilvollen Einfluß finden sollte, als man sie zur
Aufseherin über die Rechtschreibung bestellte. Von Griechen
und Römern meist nur in unsicheren Fällen als Schieds-
richterin angerufen, hat sie dagegen in der neueren Zeit
die Aufgabe der Orthographie, einfache Regeln für die
Umsetzung der gesprochenen Sprache in die geschriebene
aufzustellen, aufs äußerste erschwert, indem sie die un-
praktische Forderung erhob, daß zugleich die Herkunft
und. der Zusammenhang der Wörter durch die Schrift zum
— 8 —
Ausdruck kommen müsse. Erst wenige moderne Schreib-
Systeme haben den lästigen Pedanten ganz von sich ab-
zuschütteln gewagt, wozu leider das deutsche nicht gehört.
Doch hat die Etymologie durch die Verbindung mit
der Grammatik viel an Methode gewonnen. Die meisten
Wörter unserer indogermanischen Sprachen lassen sich in
zwei oder mehr Teile zerlegen, die innerhalb des Wort-
ganzen verschiedene Funktion üben. Ein Wort wie ,Woh-
nung^ ist durch die Lautreihe ,Wohn-* nach Laut und
Bedeutung mit den Verbalformen ,wohne, wohnst, wohnen',
mit den Adjektiven ,wohnhaft, wohnlich*, mit dem Sub-
stantiv ,Bewohner* und andern verknüpft, während die
Endung ,-ung* es anderseits mit ,Kleidung, Nahrung,
Schonung* und ähnlichen in eine Reihe stellt. Die erstere
Gruppe kann dann weiter auf einen Zusammenhang mit
, gewohnt, gewöhnen^ führen, die zweite weist auf ähnliche
Lautgruppen wie englisch ,-ing* in dwell-ing usw. hin.
Indem die Grammatiker die Wörter nach ihrer gram-
matischen Funktion zusammenstellten, wurden sie auf den
Bedeutungsunterschied der Anfangssilben, der sogenannten
Wurzeln, von den Endsilben, den Suffixen oder Formanten,
wie man sie neuestens genannt hat, fast von selbst geführt.
Wer ihre Lehren beherzigte, war in der Folge vor Ety-
mologien bewahrt, wie etwa der im Mittelalter beliebten
von ,Dominicus* als ,Domini custos* oder ,a Domino custo-
ditusS durch die der Wortausgang ohne Rücksicht auf alle
andern Wörter erklärt wird, die gleichfalls auf -cus oder
-icus endigen, also durch die Deutung mit umfaßt werden
müßten. Bisher hatte man aber allgemein so etymologisiert.
In der Zerlegung des Einzelworts war freilich die griechisch-
— 9 —
römische Grammatik längst überflügelt durch die indische.
Durch den klaren Bau ihrer Sprache begünstigt, haben
die Inder mit bewundernswerter Präzision die Trennung
ihrer Wortkörper in einzelne Glieder vorgenommen, zu dem
praktischen Zweck, durch Regeln über die Synthese dieser
Elemente in knappster Fassung den Wort- und Formen-
bestand ihrer Kunstsprache, des Sanskrit, möglichst voll-
ständig dem Schüler zu übermitteln. Diese Wortzerlegung
in Wurzeln und wortbildende Bestandteile galt lange ge-
radezu für eine Hauptaufgabe der Etymologie. So konnte
dieser Ausdruck in England zu der Bedeutung Wortlehre
im allgemeinen gelangen, allerdings wohl unterstützt durch
die seit dem 17. Jahrhundert auftretende falsche Über-
setzung von Etymologie als , Gebrauch richtiger Wörter*.
Der Engländer teilt daher oder teilte wenigstens bis vor
kurzem die ganze Grammatik in die drei Hauptteile : Ortho-
graphie oder Lehre von den Buchstaben und Lauten, Etymo-
logie, die Lehre vom einzelnen Wort, sowohl was Stamm-
bildung als Flexion anbelangt, und Syntax, die Funktion
der Wörter im Satze. Gewöhnlich aber gab sich ander-
wärts der Etymologe, insofern ihn die Herkunft und die
Verwandtschaft der Wörter beschäftigte, nur mit. der so-
genannten Wurzel ab. Der Jesuitenpater Besnier, der im
17. Jahrhundert eine Einleitung zu dem etymologischen
Wörterbuch der französischen Sprache des gelehrten Menage
schrieb, rühmt es ausdrücklich als Vorzug des wahren Etymo-
logen, daß er die wurzelhaften Wortbestandteile von den
übrigen gleichsam zufälligen zu scheiden wisse; denn über
letztere sich den Kopf zu zerbrechen, wäre ,unnütz und
lächerlich*.
— 10 —
Ein Jahrhundert später dachte man freilich anders.
Hatte man doch entdeckt, daß manche der letzteren Ele-
mente ursprünglich selbständige Wörter, also einst selber
wurzelhaft gewesen sind. Das romanische Futurum, ita-
lienisch prendrö, französisch prendrai — ein beliebtes
Musterbeispiel — ist deutlich aus dem Infinitiv prendere,
prendre und ho, ai ,ich habe* zusammengesetzt. Also
wird man, so wurde mit falscher Generalisierung geschlossen,
wohl ^ alle Endungen unserer Sprachen auf solche selb-
ständige Wörter zurückführen müssen. Auf diese Vermutung
führte auch die Bedeutung mancher Sprachbestandteile.
Wie kann ein scheinbar einheitliches Wort wie das latei-
nische Futurum i b o eine so komplizierte Vorstellung wie
,icli werde gehen*, also außer dem Begriff ,gehen' auch
die Beziehung auf den Sprechenden und auf die Zukunft
ausdrücken? So fragte um die Wende des 18. zum 19. Jahr-
hundert der Engländer Hörne Tooke. Offenbar nur darum,
weil drei verschiedene Wörter zu einem verschmolzen sind:
i bezeichnet den Begriff ,gehen* wie in i-re i-mus, o
die Beziehung auf den Sprechenden — es mag aus einem
Pronomen der ersten Person verkürzt sein — ; in b werden
wir dann den Rest eines Verbums wie griech. ßo'öXofiai
,ich will' zu sehen haben, so daß, wie der Engländer das
Futurum durch ,he will go* ausdrückt, so auch die Vor-
fahren der Römer dafür ,gehen will ich' gesagt haben.
Ich darf wohl an der Hand dieses Beispiels daran
erinnern, worin das Trügerische eines solchen Schlusses
besteht. Futura wie ibo, amabo sind speziell lateinisch ;
nicht nur in keiner andern indogermanischen Sprache findet
sich direkt Vergleichbares, auch innerhalb der altitalischen
— 11 -
Dialekte steht das Lateinische nebst dem nahe zugehörigen
Faliskischen mit dieser Bildung allein. Vermutlich ist es
eine Neubildung, erwachsen auf dem Boden des Imperfekts
ibam, amabam, dem man als gemeinitalisch ein höheres
Altet- zuschreiben darf. Beim häufigsten aller Verben, dem
Verbum ,seinS unterschied sich das Futurum vom Imperfekt
nur durch die Endungen: ero, eris, erit neben eram,
eras, erat. Nach diesem Muster konnten die Lateiner
neben die schon bestehenden Imperfekte amabam, ibam
neue Futura amabo, ibo stellen. Ist das richtig, so er-
gibt sich als prinzipiell falsch, speziell in dem b die Be-
zeichnung des Futurums zu suchen, das ja auch im prä-
teritalen Imperfekt sich findet, und das dem Muster ero
fehlt. Das Irrtümliche des Verfahrens beruhte darauf, daß
jene erste Periode der historischen Spracherklärung noch
nicht erkannt hatte, wie viel häufiger als durch Zusammen-
setzung neue Formen durch solche Proportions- oder Ana-
logiebildungen entstehen.
Es war aber ein Glück, daß eben diese Auffassung^
die wir heute als teilweise irrig erkennen, die Aufmerk-
samkeit jener Zeit vor allem auf die nicht wurzelhaften
Bestandteile der Wörter lenkte. Denn sie führte Franz
Bopp dazu, die unsichere Wurzeletymologie beiseite liegen
lassend, gerade an diesen wortbildenden Elementen die
Zusammengehörigkeit aller der Sprachen zu erweisen, die
wir die indogermanischen zu nennen pflegen, und so auch
der etymologischen Forschung ungeahnt reiches neues
Material zuzuführen, an dem sie ihre Grundsätze erst
eigentlich herausbilden und prüfend bewähren konnte.
Ihre Grundsätze! Was hatte die Etymologie bisher
— 12 —
für Grundsätze gehabt? Die Besonneneren verlangten,
daß die verglichenen Wörter sich nach Laut und Bedeutung
nahe stehen, daß man in unsichereren Fällen nur solche
Lautentsprechungen annehme, die man in irgend welchen
evidenten beobachtet habe. Es wäre, so scheint uns jetzt,
für die Romanen ein Leichtes gewesen, aus dem Verhältnis
ihrer AVörter zu den lateinischen weit festere Regeln zu
gewinnen. Aber da fehlte der unmittelbare Antrieb. Die
meisten ihrer Sprachbestandteile ließen sich mit Leichtig-
keit auf ihren römischen Ausgangspunkt zurückführen ; die
paar zweifelhaften Fälle genügten nicht, eine solche neue
Wissenschaft hervorzurufen. Anders auf dem germanischen
Gebiet. Obgleich auch hier viele Sprachen in ähnlichen
verwandtschaftlichen Beziehungen neben einander liegen
wie die romanischen Dialekte, so fehlt doch eine Grund-
sprache, in der die Einigung ohne weiteres gegeben wäre.
Wer ihre Übereinstimmung trotz äußerer Verschiedenheit
im einzelnen nachweisen will, muß daher die lautlichen
Verhältnisse, die zwischen ihnen herrschen, genauer präzi-
sieren. So ist es kein Zufall, daß gerade hier die Grund-
lage für eine gesunde Etymologie in der regelmäßigen
Lautentsprechung aufgedeckt wurde. Eine aufsteigende
Linie führt von dem Niederländer ten Kate im Anfang
des 18. Jahrhunderts über den Dänen Rask zu Jakob
Grimm, dessen Resultate, in einzelnen Stücken schon über
das rein Germanische hinausgreifend, von der jugendlichen
allgemeinindogermanischen Sprachwissenschaft bald freudig
adoptiert und höchst fruchtbar gemacht wurden.
Daß die Wörter in ihren Lauten — oder Buchstaben,
wie man von der geschriebenen Sprache ausgehend meist
— 13 —
sagte, — - sich ändern, war natürlich längst bemerkt worden»
Bequemlichkeit und Lässigkeit der Menschen oder auch
das Streben nach Wohlklang, euphonische Gründe, pflegten
hauptsächlich dafür verantwortlich gemacht zu werden.
Wie sonderbar die Entdeckung, daß lange Reihen von
Sprachlauten mit der Präzision preußischer Grenadiere
alle genau dieselbe Bewegung vollziehen. Ohne jede Rück-
sicht auf die Bedeutung kann man darauf rechnen, daß
jedem anlautenden z des Hochdeutschen etwa in englischen
verwandten AVörtern ein t entspricht : zehn — t e n , zwei
— two, Zahn — tooth, Zeichen — token, zu — ta
und so fort, und wenn man sich ans Latein wendet, findet
man fast ebenso regelmäßig ein d: decem, duo, dens»
Sollte Bequemlichkeit ein t an die Stelle des älteren d^
ein z an die Stelle von t gesetzt haben? Oder sollte da&
z den hochdeutschen Stämmen so schön geklungen haben^
daß es alle ihre Mitglieder aus ästhetischen Gründen dem
t vorzogen? Konnte dieser Änderung überhaupt irgend
eine Absicht, eine menschliche Willenshandlung zugrunde
liegen? Und je mehr alte und neue Sprachen durchforscht
wurden, je genauer man auf die Bedingungen, die Stellungen
des einzelnen Lautes achtete, in denen er sich verändert^
um so massenhafter traten die Beispiele des reihenweisen
Lautwechsels zutage. Wie eine Seuche, wie ein alles durch-
setzender Gährungsstoff scheint die Veränderungstendenz
in das gesamte Material einer Sprachgenossenschaft ein-
zudringen und es nach ein und derselben Richtung hin
umzugestalten. Kein Wunder, daß ein führender Sprach-
forscher die Sprache als einen selbständigen Organismus
auffassen konnte, dessen Lebenserscheinungen, unbeeinflußt
— 14 —
von der menschliclien Willkür, durch eigene Gesetze ge-
regelt würden.
Die Etymologie mochte sich wohl beklagen, eine
Schlange an ihrem Busen genährt zu haben, die ihr über
den Kopf wachse und sie zu ersticken drohe. Waren zu-
nächst diese Beobachtungen des Lautwechsels nur gemacht
worden, um die Vergleichung verwandter Wörter, um die
Etymologie zu stützen, so wurde diese jetzt vielfach nur
noch als Dienerin benutzt, Material für jene herbeizuschaffen.
Trotzdem hatte sie viel durch diese Symbiose gewonnen.
Nicht nur erhob die Festlegung des regelmäßigen Laut-
wandels manche ältere Wortdeutung aus dem Bereich der
bloßen Möglichkeit in das der Sicherheit oder doch Wahr-
scheinlichkeit, man lernte nun auch Wörter miteinander
«inleuchtend verknüpfen, deren Lautgestalt im Lauf der
Jahrhunderte so weit auseinandergegangen war, daß die
ältere etymologische Forschung einen Zusammenhang nie-
mals hätte erraten können. Außerdem gewann jede ein-
zelne Etymologie an Bedeutung und damit an Ernst. Wenn
etwa immer wieder die Frage erörtert wurde, zum Teil
noch erörtert wird, ob griech. dsög und latein. deus, ob
latein. habere und deutsch , haben* etymologisch zusammen-
gehören oder nicht, so handelt es sich nicht nur um diese
zwei Einzelfälle; sondern je nach der Bejahung oder Ver-
neinung erscheinen verschiedene weitere Etymologien als
möglich oder wankt die Beweisführung für eine ganze Reihe
änderer. Ja, die etymologische Forschung war fast auf
dem Sprung, in die Klasse der exakten Wissenschaften
«inzutreten, als die Frage gestellt und von manchen bejaht
werden konnte, ob nicht überhaupt der Lautwandel stets
— 15 —
reihenweise vor sich gehe, stets alle gleichartigen Fälle
durchdringe. Je kleiner durch immer neue Entdeckungen
das Gebiet wurde, auf das sich der sporadische Lautwandel
— so bezeichnete man gewöhnlich den nicht durchgehenden
— beschränkt sah, um so mehr wuchs das Mißtrauen gegen
seine Existenzberechtigung überhaupt. So wagte es eine
Gruppe von Forschern als Axiom auf ihre Fahne zu
schreiben, daß sich der gewöhnliche, das heißt, wie schon
angedeutet, der ohne engern Zusammenhang mit der Be-
deutung der Wörter vor sich gehende Lautwechsel innerhalb
der einzelnen Sprachgenossenschaft nach ausnahmslosen
Gesetzen vollziehe, daß also für jede Abweichung eine Ur-
sache zu suchen sei, die außerhalb der Zone des regulären
Lautwandels liegen müsse. Das letzte Viertel des ver-
gangenen Jahrhunderts hat in der Sprachwissenschaft
großenteils diesem prinzipiellen Streite und dem Versuch
gegolten, diese Ansicht in allen Fällen zur Geltung zu
bringen. Man wird heute aussprechen müssen, daß sie
nicht gesiegt hat. Wohl folgt die große Masse der Sprach-
bestandteile solchen Veränderungsgesetzen, aber ganze
Gruppen von Wörtern sowie einzelne Wildlinge gehen ihre
besonderen Wege.
Suchen wir, uns mit zwei Strichen ein Bild dieser
Einheitlichkeit und Mannigfaltigkeit zu entwerfen! Daß
die Mitglieder einer Sprachgenossenschaft in der Sprache
übereinstimmen, also im Vergleich zu früheren Generationen
die gleichen Veränderungen aufweisen, beruht, wie leicht
zu ersehen, auf ihrem Verkehr untereinander, auf der Aus-
gleichung der individuellen Sprachen. Spaltet sich eine
Sprach genossenschaft etwa durch Auswanderung und wird
— IG —
der Verkehr unterbrochen, so fängt bald auch die Sprache
beider Hälften an zu divergieren; rücken verschiedene
Dialekte als Nachbarn in engem Verkehrskreis zu einander^
so werden sie sich in der Folge der Generationen immer
ähnlicher. Der Ausgleich unter den Sprachgenossen voll-
zieht sich aber vornehmlich in der Kindheit, in der Zeit,
da die Artikulationsweisen noch nicht so fest eingeübt
sind, wo sich die eigene Lauterzeugung noch leichter nach
den Klangbildern richtet und ändert, die das Ohr der
Sprache anderer entnimmt. Von zuerst höchst unvollkom-
menen Nachahmungsversuchen schreitet das Kind, um besser
verstanden, um nicht ausgelacht zu werden, allmälig zur
genauesten Anpassung an die Sprechweise seiner Umgebung
vor und bildet sein Gefühl für diese so fein aus, daß es
wohl schon den Bewohner des Nachbardorfs an minimalen
Unterschieden der Lautgebung erkennt. Freilich, jedem
Individuum gelingt das nicht vollkommen. Wir alle kennen
erwachsene Personen, die etwa das s, das 1 nicht so sprechen
wie ihre Sprachgenossen ; sie gehen, wie man zu sagen
pflegt, mit einem Sprachfehler durchs Leben. Und bei
genauer Untersuchung treten solche individuellen Diskre-
panzen in großer Menge zutage. Diese Abweichungen sind
durchgehend, sie durchdringen das ganze Sprachmaterial
des Betreffenden ohne Rücksicht auf die Bedeutung. Be-
ruhen sie doch darauf, daß er überhaupt nicht imstande
ist, den Laut oder die Lautgruppe richtig zu artikulieren ;
zweitens aber auch darauf, daß er nun immer dasselbe
Äquivalent an seine Stelle setzt. Diese Konsequenz in
der Lautvertretung, die Proportionalität, beobachtet man
schon beim Kinde, sobald es über die erste Stammelperiode
. — 17 —
hinaus ist und eine größere Anzahl von Wörtern nach-
zusprechen beginnt. Wie manche Kinder ersetzen jedes k
oder jedes s durch t oder sprechen umgekehrt kr für jedes
tr und so fort. Nur so sind sie imstande, eine große
Quantität von Wörtern, die für sie einstweilen unaussprech-
bare Laute oder Lautreihen enthalten, verhältnismäßig
leicht zu reproduzieren, indem sie die Proportion, die sich
zufällig in einigen Mustern dieser Art herausgebildet hat,
verallgemeinern. Sie haben gewissermaßen zwei Sprachen
im Ohr, die ihrer Umgebung und ihre eigene, die in be-
stimmten lautlichen Verhältnissen zu einander stehen ; dieses
Verhältnis benützen sie nun jedesmal, wenn sie fremde
Sprache in eigene umsetzen. Solches Proportionalitäts-
gefühl geht sehr weit. Man hat einen zweijährigen Knaben
beobachtet, der sonst ziemlich korrekt sprach, der aber
ausschließlich im Verkehr mit seinem jüngeren Schwesterchen
konsequent r mit j vertauschte, weil dieses in seiner stam-
melnden Sprache in einigen Wörtern das unsprechbare r
durch j ersetzte. So sind wir von Kindheit auf geübt;
uns unsem Mitunterrednern in der Sprache anzupassen
und zu diesem Zwecke die lautlichen Proportionen zu be-
nützen. Das alemannische Kind, das die deutsche Schrift-
sprache erlernt, hat bald heraus, daß jedem geschlossenen
i seines Dialekts ein schriftdeutsches ei zu entsprechen
pflegt: ,site — Seite, fin — fein, Pir — Feier*, und
fast jedes verfällt daher zunächst in den Fehler, für ,Papier*
(papir) schriftdeutsches ,Papeier* einzusetzen. Es wartet
also nicht ab, bis es alle schriftdeutschen Wörter mit dem
Gedächtnis erfaßt hat, sondern bildet proportional frisch
drauf los.
Thnrneysen, Etymologie. o
— 18 — .
Diese Proportionalität ist es nun ja eben, was wir bei
Yergleichung zweier Perioden einer Sprache durchgehenden
Lautwandel nennen, indem eine Artikulation unter der
gleichen Bedingung konsequent durch eine andere ersetzt
erscheint. Daß es sich hier um den gleichen Prozeß
handelt, geht schon daraus hervor, daß öfter in Nachbar-
gebieten derselbe Lautwechsel nicht unter ganz denselben
Bedingungen eintritt; es sind von denen, die ihn im Ver-
kehr adoptiert haben, die ursprünglichen Grenzen der
Proportion nicht genau erfaßt worden, so daß sie in der
Nachahmung die Lautvertausch ung in zu engem oder zu
weitem Umfang vollziehen.
Wohl ist von einigen Seiten bestritten worden, daß
der Lautwandel seinem Ursprung nach wesentlich auf un-
verbesserten Sprachfehlem des Kindes beruhe. Es müsse
mindestens eine gewisse allgemeine, vielleicht physische
Prädisposition der Sprachgenossen hinzutreten; sonst lebe
der Sprachfehler eben nur als individuelle Abnormität
weiter und sterbe mit seinem Träger ab. Das kann nur
dem einleuchten, der die Menschen als gleichwertige Rechen-
pfennige betrachtet. Sie sind das aber in bezug auf die
Sprache natürlich so wenig wie in jeder anderen Beziehung.
Der eine übt mächtigen Einfluß auf seine Umgebung, der
andere läßt siöh leicht selber beeinflussen ; der eine schmiegt
sich willig an fremde Muster und Verhältnisse an, der
andere bleibt starr und konservativ. Man findet Leute,
die zwanzig Jahre in einer fremden Gegend zugebracht
haben, ohne ihre heimatliche Sprechweise hörbar zu modi-
fizieren; auf die Sprache anderer färbt die ihrer Umgebung
schon nach wenigen Monaten deutlich ab. Bei den Kindern
- 19 —
spielt die Gruppenbildung, der Zusammenschluß Vieler um
einflußreiche Einzelne bekanntlich eine fast noch größere
Rolle. Der der Kinderstube entwachsene Junge steht bald
ebensosehr oder mehr als unter dem Einfluß des elterlichen
Hauses unter dem seiner Alters- und Spielgenossen. Dort
sucht er vorzugsweise seine Muster wie für sein ganzes
Gebahren, so auch für seine Sprache. So können sich
Kerne bilden, die gewisse Abweichungen von den älteren
Generationen durch den engen Verkehr unter sich befestigen
und sie auf andere, namentlich jüngere Gruppen, auf die
sie Einfluß gewinnen, übertragen. Es ist mehrfach be-
obachtet, daß solche Sprachänderungen den Altern durch-
aus nicht immer unbemerkt bleiben, daß sie sich ihnen
aber trotz ihrer Mißbilligung machtlos gegenüber sehen.
Es entstehen dann Perioden, wo zwei oder mehr Aus-
sprachen in einer Sprachgenossenschaft nebeneinander be-
stehen, so daß wohl auch der einzelne je nach dem augen-
blicklichen Verkehrsobjekt die eine oder andere anwendet,
mindestens aber so, daß auch der, der selber nur eine
a-usübt, die verschiedenen Klangbilder als gleichw^ertig im
Ohre hat und durch das Vernehmen der andern nicht über-
rascht und verletzt wird, bis dann allmählich, in einzelnen
beobachteten Fällen erst nach Verlauf mehrerer Genera-
tionen, die Ausgleichung unter den Sprachgenossen nach
dieser oder jener Richtung eintritt. Daß diese Ausgleichung
eben durch die Proportionalität der Sprachänderungen sehr
erleichtert wird, ist klar.
Doch gibt es, wie schon angedeutet, Gruppen von
Wörtern, die in den verschiedensten Sprachen öfter über
die regelmäßigen hinausgehende lautliche Veränderungen
— 20 —
erleiden. Es sind häufige Wörtchen von leichtestem logi-
schen Gewicht wie Konjunktionen, Präpositionen und andere
Partikeln, Verben von sehr allgemeinem Sinn und Gebrauch
wie jgehen, haben* und sogenannte Hilfszeitwörter; auch
einst bedeutungsvollere Ausdrücke, die aber in formelhaftem
Gehrauch, etwa als Begrüßung oder höfliche Anrede, ihre
eigentliche Bedeutung verloren haben, wie wenn man im
Französischen monsieur (msjö) für mon seigneur
sagt, da wo man den Angeredeten keineswegs als seinen
wirklichen Herrn bezeichnen will. Von vorn herein dürfte
man freilich erwarten, daß der besonders häufige Gebrauch
einer Artikulationsreihe gerade ihre genaueste Reproduktion
erleichtern würde. Doch handelt es sich offenbar um eine
gewisse Nachlässigkeit beim Sprechen, um eine Ersparung
von Kraftaufwand bei der Artikulation. Eine solche kann
allerdings gelegentlich beliebige Sprachbestandteile treffen.
Aber bei bedeutungsvolleren Wörtern vermag die nach-
lässigere Form nicht durchzudringen, falls sie nicht auf
einem gang und gäben, weil proportionalen Lautwechsel
beruht. Sonst erschwert ihr Gebrauch das Verständnis
und zwingt oft zur Wiederholung der Rede. Bei jenen
leichten, häufigen Wörtchen genügt aber gewöhnlich im
Satzzusammenhang eine bloße lautliche Andeutung zur
Erfassung des Sinnes; es kann sich daher die für jeden
Sprechenden bequemere nachlässigere Form durchsetzen. —
Damit ist aber das Prinzip gesprengt, daß der Lautwechsel
von Natur durchgehend und ausnahmslos sei.
Ermöglicht hier die große Häufigkeit ein Ausbrechen
des Wortes aus den allgemeinen lautlichen Schranken, so
kann das gleiche auch durch seine Seltenheit veranlaßt
— 21 —
werden. Denn wäg bedingt die große Stabilität der Sprache,
das Abweisen der mdsten individuellen Abweichungen, als
daß jedem erwachsenen Sprachgenossen das Wort in seiner
gewohnlichen Lautform so vertraut ist, daß eine veränderte
Aussprache desselben ihm unvernünftig und lächerlich vor-^
kommt und er dagegen reagiert? Nun gibt es aber sel^
teuere Wörter, deren Form nicht bei allen Sprachange-
hörigen so fest sitzt, daß sie eine Abweichung sofort be-
merken und 2u verbessern vermögen. Es kann daher irgend
eine verhörte oder falsch reproduzierte Wortform wiederholt
ohne Widerspruch gebraucht, dann von andern nachge-
sprochen und schließlich allgemein werden. Das ist längst
an eindringenden Fremdwörtern beobachtet. Wenn das
italienische tartufole sich im Deutschen zu Kartoffeln
hat umgestalten können, so hängt das nicht etwa mit einer
besonderen Neigung des Deutschen zusammen, t mit k zu
vertauschen, sondern damit, daß die richtige Form, das
im 18. Jahrhundert daneben auftretende ,TartuffelnS zu
wenigen bekannt war, als daß sie sich der zufallig ver-
unstalteten kraftvoll entgegengesetzt hätte. Es tritt aber
immer deutlicher hervor, daß auch bei einheimischen Wörtern
ähnliches vorkommt. Wer z. B. die Namen der Tiere, die
dem Menschen nicht so nahe stehen wie etwa die Haus-
tiere und die nicht aus irgend einem andern Grunde das
allgemeine Interesse zu erregen pflegen, durch sämtliche
Mundarten einer Sprache verfolgt, der findet eine solche
fast endlose Reihe von Variationen jeder Art, daß er wohl
daran verzw^felt, alle in irgend einem Fache der gewöhn-
lichen Lautänderungen unterzubringen. Die Bezeichnungen
dieser Wesen, die, den Naturfreund oder bestimmte Berufs-
— 22 —
klassen ausgenommen, nur selten die Aufmerksamkeit der
Menschen auf sich ziehen, haften oflfenbar im Gedächtnis
mancher Kreise nur sehr schwach und müssen daher allerlei
zunächst individuelle Änderungen erdulden. Derartiges
wird immer mehr zutage treten. Es zeigt sich aber schon
ah diesen Fällen, daß auch außerhalb des regelmäßigen
Lautwechsels liegende Abweichungen einzelner Individuen
allgemein werden können. Solcher vereinzelter Lautwandel
ist übrigens in den Fällen, wo sich schwer eine Proportion
bilden kann, weil es sich um Änderung sehr langer, kom-
plizierter Artikulationsreihen handelt, auch von den strengen
Anhängern der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze anerkannt
worden; sie verstoßen ja freilich gegen kein Lautgesetz.
Es. verbietet sich, hier auf weitere Einzelheiten ein-
zugehen, etwa auf den Fall, wo der Lautwechsel sich darum
gesetzmäßig vollzieht, weil eine Sprache auf eine fremde
Sprachgenossenschaft übertragen wird und diese, dadurch
daß sie ihre alte Artikulationsweise und Intonation bei-
behält, die Laute der neuen Sprache konsequent umge-
staltet — ich erinnere nur an das Hochdeutsche im Munde
der Niederdeutschen — ; oder auf den Fall, daß ein ab-
sichtlich von einem Einzelnen verändertes Wort allgemein
angenommen wird, wie es vielleicht der Kurzbildung Aut
für Automobil beschieden sein wird. Das Gesagte ge-
nügt, um zu zeigen, daß, wenn die Etymologie eine Zeit-
lang hoffen konnte, in der genauen Beobachtung des ge-
setzlichen oder proportionalen Lautwandels ein sicheres
Kriterium und Beweismittel zu erlangen, sie in dieser
Hoffnung getäuscht worden ist, eine so vortreffliche Hilfe
sie auch für die allermeisten Fälle darin gewonnen hat.
— 23 —
Das Bewußtsein ihrer Unsicherheit ist femer noch
gewachsen durch die genaue Verfolgung einer Klasse von
Ausnahmen, die auch die Vertreter der ausnahmslosen
Lautgesetze immer anerkannt haben, ja deren Aufstellung
überhaupt erst gestattete, den Lehrsatz zu formulieren.
Es sind die lautlichen Änderungen der Wörter, die auf
dem Einfluß bedeutungsverwandter beruhen. Wenn das
althochdeutsche Adjektiv guldin in den für unsere Schrift-
sprache maßgebenden Dialekten nach den Regeln des Laut-
wandels als gülden erscheinen müßte, statt dessen aber
heute golden heißt, so ist nicht zweifelhaft, daß durch
den Einfluß des nahe verwandten Substantivs Gold das
o an die Stelle von ü getreten ist, daß es sich also um
einen Lautwechsel handelt, der in erster Linie auf der
Bedeutung des Wortes beruht. In diesem Fall liegt die
Sache besonders klar, weil noch das ältere Neuhochdeutsch
die regelrechte Form gülden tatsächlich kennt. In hundert
andern können wir den Vorgang nur erschließen, weil die
gesetzmäßige Form zu früh von der neugebildeten erstickt
wurde, als daß sie uns eine Spur hinterlassen hätte. Ob
es sich um solche Umbildungen oder aber um wirkliche
Neubildungen in der Sprache handelt, der Prozeß ist meist
ein sehr ähnlicher. Als vor einigen Jahren das Zeitwort
,telephonieren* neu gebildet wurde, wie kam das zustande?
Einerseits knüpfte es natürlich an das Substantiv ,Telephon'
an, andererseits richtete es sich wohl zunächst nach ,tele-
graphieren* in seinem Verhältnis zu ,Telegraph* und viel-
leicht noch nach andern Verben auf ,-ieren*. Es gilt so
für die allermeisten Neu- oder Umbildungen die Regel,
daß sie mindestens zwei, oft mehr Erzeuger unter dem
— 24: —
bisherigen Wortmaterial haben, und der Etymologe hätte
eigentlich die Aufgabe, ihnen allen nachzugehen. Praktisch
zieht er sich gewöhnlich, wo das Wort sich anderwärts
nicht vollständig wiederfindet, auf die Verwandtschaft der
wurzelhafteti Bestandteile zutück und überläßt die Ver-
knüpfung und Erklärung der wortbildenden Elemente, in
unserm Beispiel der Endung ,ierenS der Grammatik im
engem Sinne. Allein auch die Wurzelsilben nehmen an
der Umbildung gerade so teil wie die Formanten. Unter
dem gemeinsamen Einfluß von ,PlammeS ,flammen* und
von ,8chimmern* und etwa auch ,glimmernS das neben
,glimmen* vorkommt, ist das neuhochdeutsche Verbum »flim-
mern' geschaffen worden, und die Bezeichnung des weib-
lichen Rehs als ,Bicke* ist wahrscheinlich aus einer Kreuzung
von ,Reh* und ,ZickeS dem Namen des jungen Rehs, er-
wachsen. Das lautliche Element, das nun die bedeutungs-
verwandten Wörter ,Reh* und ,Ricke* miteinander verbindet,
also was man sonst AVurzel nennt, reduziert sich somit hier
auf ein bloßes R. Ahnliche Wortpaare oder -reihen finden
sich nun in alter und junger Zeit in allen Sprachen, so
etwa im deutschen ,glänzenS ,gleißen* und ,glitzernS ,glim-
men', auch ,glühen* oder in ,speienS ,SpeichelS ,spützenS
,spucken*, wo die Wurzel auf gl- oder sp- beschränkt
scheint. Die ältere Etymologie glaubte sich in derartigen
Fällen ursprünglicheren, kurzem Formen von Wurzeln, die
ihr ja größtenteils als Reste selbständiger Wörter einer
früheren Sprachperiode galten, gegenüber zu sehen und
zerlegte nach solchen Mustern wohl auch andere lautreiche
Wurzeln in kürzere Urwurzeln und Elemente, die sie als
formantisch ansah. Namentlich in den 60er und 70er
— 25 —
Jahren des 19. Jahrhunderts war diese Methode in ver-
schiedener Ausdehnung beliebt; sie ist aber bis heute nicht
ganz erloschen, obschon eine große Menge von Beispielen
den gewöhnlichen Ursprung solcher scheinbarer Urelemente
klargelegt hat.
In derartigen Fällen ist auch der sonst auf die Wurzeln
sich beschränkende Etymologe genötigt, den zwei oder mehr
Ausgangspunkten des Wortes nachzugehen. Und da diese
erzeugenden Wörter selber wieder durch Kreuzung ver-
schiedener älterer geschaffen sein können, so erhellt ohne
weiteres, daß er dann eine annehmbare Erklärung meist
nur bei solchen Sprachgebilden zu geben vermag, die in
einer gut bekannten Periode der Sprache zustande gekommen
sind. Wie viele von uns könnten ihre sämtlichen Ahnen
nach der Vater- und Mutterseite auch nur bis zur fünften
Generation sicher erkunden? Auch bei eifrigem Nach-
forschen würden wir bald auf verlorene oder verbrannte
Kirchenbücher stoßen, die den Faden abreißen lassen.
Ebenso sind viele Vorfahren der einzelnen Wörter spurlos
verschollen und ihre Verwandten in andern Sprachen kaum
mehr vermutungsweise zu erkennen.
So hat die Etymologie, die eine Zeitlang an der Hand
starr formulierter Regeln und durch Beschränkung auf
gewisse Bestandteile des Worts fast untrügliche Wege zu
wandeln vermeinte, ihren Charakter wieder etwas verändert.
Sie ist, man möchte sagen, menschlicher, sie ist weniger
mechanisch geworden. Jeder Fall will individuell be^
handelt sein, jedes Wort nach dem Milieu beurteilt werden,
in dem es sich bewegt. Da das aber nur in historischen
Perioden möglich ist, hat die etymologische Forschung eine
— 26 -^
deutliche Schwenkung nach der Neuzeit hin vollzogen.
Bichtete sie früher ihr Augenmerk wohl vorzüglich auf die
ältesten Bestandteile der Sprache und ließ sie etwa junge
Lehnwörter ganz beiseite liegen, so hat sie neuerdings ge-
rade solches von auswärts einströmendes Sprachgut mit
Vorliebe unter die Lupe genommen. Nicht den älteren
Sprachbestand festzulegen, sondern den Ursprung und da&
allmähliche Anwachsen des gesamten Wortmaterials einer
bestimmten Periode zu bestimmen, ist ihr Vorwurf. Hier
hat sie schon die schönsten Früchte gezeitigt, indem sie
sich in den Dienst der kulturgeschichtlichen Forschung^
gestellt hat, teils ihre Ergebnisse reich illustrierend, teils
ihr neue Wege weisend und eröffnend. Welche historische
Bedeutung hat doch schon ein einzelner Nachweis wie der^
daß das lateinische Wort poena von den Griechen ent-
lehnt ist!
Aber gewiß, auf das entlehnte oder sonstwie nur kultur-
geschichtlich wichtige Material kann sie sich nicht be-
schränken. Man verlangt von ihr, daß sie den Ursprung
aller Sprachbestandteile aufhelle. Was heißt das ? Offen-
bar nicht sowohl, daß sie die ältere äußere Gestalt der
Wörter erkunde, daß sie die lautlichen Änderungen angebe,
die sie erlitten haben. Die Allgemeinheit fragt in erster
Linie nach der geistigen Seite, nach der Bedeutung des.
Wortes. Im engen Anschluß an die Antike findet man
gelegentlich noch in modernen etymologischen Wörter-
büchern die Angabe, sie wollen den ,eigentlichen Sinn* der
Wörter aufdecken. Das bedeutet nicht etwa, daß sie von
ihrer eigentlichen und uneigentlichen Bedeutung, der ge-
wöhnlichen und der übertragenen Verwendung zu handeln
— 21 —
gedenken. Man sieht bald, daß sie vielmehr zeigen wollen,
durch welchen Bedeutungswandel die Wörter oder Wort-
elemente ihren augenblicklichen Sinn erhalten haben. Der
Etymologe des Neuhochdeutschen hat seine Aufgabe für
sein Publikum befriedigend erfüllt, wenn er z. B. nach-
gewiesen hat, daß ,der Schrecken* in älterer Zeit ,das
Aufspringen, Auffahren* bedeutete, daß also die Bezeich-
nung der äußeren Begleiterscheinung auf das innere Gefühl
des Erschreckens übertragen wurde. Und wenn er darüber
hinausgeht, etwa nach Verwandten des Wortes in andern
Sprachen sucht, so ist das gewissermaßen eine freiwillige
Beigabe, falls er nicht etwa dieses Wort nebenbei auch
dazu benützen will, um den Zusammenhang der verschie-
denen Sprachen zu erhärten. Denn wie das Verbum
,schrecken* zu seiner früheren Bedeutung gekommen ist,
steht mit der Erklärung des Neuhochdeutschen in keinem
engern Zusammenhang. Oft freilich muß er über die eine
Sprache hinausgehen, um den letzten entscheidenden Be-
deutungswandel zu erhaschen, und hie und da führt selbst
die Sprachvergleichung nicht zu diesem Ziel, wenn nämlich
eine Bedeutung sich seit Urzeiten ohne wesentliche Ände-
rung bewahrt hat. Verben wie , essen' und , sitzen* bedeuten
auch in den verwandten Sprachen dasselbe, wie z. B. la-
teinisch edere und sedere zeigen, und haben das ohne
Zweifel schon in der urindogermanischen Zeit getan. Da
bleibt als die eigentliche, lösbare Aufgabe des Etymologen,
wenigstens die Ausdrücke zu erklären, die eine merkliche
Bedeutungsverschiebung aufweisen, wie etwa , setzen* in
,über einen Graben setzen*, ,das Entsetzen* und ähnliche.
Praktisch pflegen allerdings unsere rein etymologischen
— 28 —
Wörterbücher diese Aufgabe der Lexikographie im engern
Sinti zu überlassen und begtiügen sich, die älteste Bedeu-
tung und Form der Wörter oder Wohl gar nur der Wuriseln
nach Möglichkeit festzulegen.
Die psychischen Vorgänge, auf denen der Bedeutungs-
wandel der Wörter beruht, zu rubrizieren und zu Terdeut-
lichen, sind heute Sprachwissenschaft und Psychologie
wetteifernd bemüht. Doch nicht solche allgemeine psycho-
logische Gesetze sind es, was in erster Linie von der Etymo-
logie verlangt wird, sondern die Erklärung des Einzelfalls.
Das führt mich zu der Frage nach ihrer Stellung im Qe-
samtkreise der Wissenschaften.
Bei der Gründung der hiesigen kulturwissenschaftlichen
Gesellschaft ist aus unserm Kreise heraus eine Zweiteilung
aller Forschungszweige in Naturwissenschaften und Kultur-
wissenschaften auf die Art ihrer Begriffsbildung zu gründen
versucht worden. Die Naturwissenschaften, zu denen nach
dieser Definition auch die Geistesvassenschaft , die wir
Psychologie nennen, gehört, wollen das Einzelne unter das
Allgemeine subsummieren. Die einzelne Erscheinung wird
erforscht, nur weil sie ein Beispiel ist für eine ganze Reihe
anderer, die sich mit ihr durch gewisse Gemeinsamkeiten
zu einem Ganzen zusammenschließen. Der Botaniker unter-
sucht Form und Wachstum eines einzelnen Blattes, nicht
weil dieses Individuum sein eigentliches Interesse erregt,
sondern um die Gesetze herauszufinden, nach denen alle
Blätter des Baumes oder der ganzen Gattung oder aller
Pflanzen sich gestalten und wachsen. Anders, so Wurde
damals ausgeführt, der Historiker, der kulturwissenschaft-
liche Forscher. Er geht gerade auf die Darstellung des
— 20 —
Einzelnen, des Individuellen aus, dessen, was nur einmal
dagewesen ist. Er wählt solche Einzelne aus der Menge
aus, die sich durch wertvolle Eigenheiten von ihr unter-
scheiden, und am Individuum ziehen ihn nicht die all^
gemeinen, sondern die ihm ausschließlich eignenden Er-
scheinungen an. Wohin gehört dann die Etymologie?
Man möchte sagen, zu beiden. Denn ohne Zweifel
geht sie wie die menschliche Geschichte auf das Einzelne.
Das einzelne Wort soll sie erklären, soll seine Geschichte
nach Bedeutung und Laut aufhellen; aber jedes für sich^
nicht als typischen Fall. Denn die Gesetze des Bedeutungs-
und Lautwandels sind der Etymologie nur Hilfswissen-
schaften, während sie der allgemeinen Sprachwissenschaft
allerdings wesentlich sind. Anderseits trifft die etymologische
Deutung nicht wie die Historie eine Auswahl unter den
Wortindividuen nach dem Wertvollen. Schon ihre Ge-
schichte zeigt, daß sie von Anfang an auf die Erklärung
aller Sprachbestandteile ohne Ausnahme ausgeht, prinzipiell
selbst dann, wenn sie einsieht, daß dieses Ziel kein voll-
kommen erreichbares ist. Eben diese Doppelstellung der
Etymologie darf ich wohl als Rechtfertigung anführen, daß
ich Sie, verehrte Kollegen, heute gerade von ihr unterhalte,
und ich hoffe nur, daß es ihr nicht ergehe wie der Fleder-
maus, die nach jener Fabel zugleich Vogel und Vierfüßler
sein wollte und deshalb von beiden Seiten abgewiesen
wurde. Die Ursache ihrer Ausnahmestellung ist leicht zu
ersehen. Die Beschränkung des Forschers sei es auf das
verschiedenen Individuen Gemeinsame, sei es auf eine Aus-
wahl von Einzelerscheinungen, ist ja im Grunde nur eine
Resignation; nur die schmerzliche Einsicht, daß es ihm
— 30 -
versagt ist, die Fülle aller möglichen ForschuDgsobjekte
sich geistig anzueignen, führt ihn zur Beschränkung. Bei
der Sprache steht seinem Geiste aber das gesamte Material,
man möchte sagen, von Natur zur Verfügung, richtiger,
weil er es sich schon in den Jahren der Jugend vollkommen
angeeignet hat. Auch die Kenntnis fremder Sprachen,
die die Etymologie verlangt, eignet er sich auf dieser Grund-
lage leicht an. Im Notfall führt ihm schon das Vorsprechen
oder Lesen des fremden Wortes mit der Erklärung seiner
Bedeutung in der eigenen Sprache so viel Wissen zu, als
wenigstens für den etymologischen Genuß hinreicht. Und
wo immer der forschende Mensch den ganzen Stoff auch
im einzelnen beherrscht oder zu beherrschen wähnt, strebt
er sofort nach erschöpfender Erklärung aller Einzelfälle,
War bisher mehr nur von der Art der positiven Lei-
stungen der Etymologie die Rede, so sei mir gestattet noch
«in Gebiet zu berühren, auf dem sie völlig versagt hat.
Seit sie als entwickeltere Wissenschaft besteht, haben Ver-
suche nicht gefehlt, sie zur Rekonstruktion der Ursprache
oder einer Ursprache der Menschheit zu verwenden. Die
meisten derselben pflegen davon auszugehen, die Sprache
müsse ursprünglich in den Lautreihen wde in ihrer Bedeu-
tung sehr einfach gewesen sein und bauen sich daher Ur-
sprachen durch Kürzung und Reduktion der sogenannten
Wurzeln und durch Verallgemeinerung oder Vereinfachung
der Bedeutungen auf. Aber wenn die Anfänge unserer
Sprache ohne Zweifel dürftig waren, einfach in diesem
idealen Sinne waren sie gewiß nicht. Praktische Einfach-
heit pflegt am Ende, nicht am Anfang der kulturellen
Entwicklung zu stehen. Lnmerhin konnte man mittelst
— 31 —
der Etymologie etwas zu erreichen hoffen, so lange, wie
Allgemein in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die
Anschauung herrschte, das Sprachleben habe zwei Perioden,
-eine, in der die Sprache entstehe und sich bilde, eine
zweite, wo sie sich nur noch verändere oder verfalle, wie
man sich wohl ausdrückte. Durch Aufhebung der sekun-
dären Änderungen konnte man also erwarten, wenigstens
einen Teil einer Sprache der ersten Periode, einer Ur-
sprache, wiederherzustellen. Die Etymologie selber hat
diesen Wahn zerstört durch den Nachweis, daß die Periode
der Sprachschaflfung, der Urzeugung von Sprachelementen
nie aufgehört hat und nie aufhören wird. Unter den
Wörtern der neueren Sprachen, deren etymologische Ver-
knüpfung mit älterem Sprachmaterial nicht gelingt, pflegen
einen Hauptbestandteil solche zu bilden, die irgend ein
Geräusch oder eine mit Geräusch verbundene Bewegung
nachahmend bezeichnen. Dadurch ist die Frage, die frühere
Generationen von Plato an viel beschäftigt hat, bejahend
entschieden, ob Urwörter durch sogenannte Onomatopoese
entstanden sind. Aber wenn die Etymologie dazu verhilft,
solche Urwörter oder Sprachelemente, die nicht aus dem
vorhandenen Sprachstoff hergeleitet sind, auszuscheiden,
so zeigt sie gleichzeitig, daß damit noch keine Bestimmung
ihrer Entstehungszeit gegeben ist, indem sie in allen Perioden
der Sprache aus dem Nichts hervortreten. Man kann also
nicht etwa durch ihre Zusammenstellung eine reelle Ur-
sprache wieder zusammenzimmern.
Um ein etwas anderes, konkretes Beispiel vorzuführen :
Wenn wir in den älteren indogermanischen Sprachen, wie
z, B. im Altgriechischen, eine Partikel /*ij finden, die nicht
— 32 —
die logische Verneinung, sondern das Nicht -Wollen, die
Abwehr eines Geschehens ausdrückt, wem fiele da nicht
eine ähnliche Lautgebung mancher kleiner Kinder ein?
Wollen sie etwas durchaus nicht nehmen, so pressen sie
wohl zunächst die Lippen zusammen, so daß die durch
die Nase entweichende Luft den Laut m erzeugt; darauf
aber, da mit der sich steigernden Erregung der Lungen-
druck zunimmt, wird der Lippenverschluß gesprengt und
es ertönt nun nach dem m ein gedehntes ä. Einen direkten
Zusammenhang zwischen diesem Naturlaut ,mä* und der
abwehrenden Negation anzunehmen, brauchen wir uns heute
durchaus nicht mehr zu scheuen; aber damit wissen wir
noch nicht, in welcher Periode der indogermanischen Grund-
sprache es zum wirklichen Sprachelement, zum Werkzeug
einer bewußten, gewollten Mitteilung geworden ist, ob es
in eine Periode hinaufragt, wo die Sprache, um mich eines
Humboldtschen Ausdrucks zu bedienen, noch im flutenden
Werden lag. Wenn ein bedenklicher Witz fällt, pflegen
wir wohl unser Urteil in den Ausruf ,au!* zu kleiden, indem
wir den seelischen Schmerz, den er uns bereitet, durch die
Laute ausdrücken, die wir von körperlich Leidenden ver-
nehmen. Es ist, wenn man will, ein ürwort, aber ein
Urwort des 19. Jahrhunderts.
Also den lautlichen Bestand einer werdenden Ur-
sprache, wenn wir diesen etwas unklaren Begriff einmal
gelten lassen wollen, können wir nie durch Etymologie
ennitteln; somit versagt diese auch die Auskunft über
den ersten Vorrat an Bedeutungselementen.
Zum Schluß darf ich eines fast komischen Auswuchses
der Etymologie gedenken ; an die Schleppe der prosaischen
— 33 —
Wissensehaft hängt sich eine drollige Phantasiegestalt.
Uns klingen die Verse Uhlands im Ohr :
,Ach Allm!' stöhnt' einst ein Ritter; ihn traf des Mörders Stoß!
, Allmächtiger!* wollt er rufen; man hieß davon das Schloß.'
Diese ziemlich peinliche Etymologie des Namens
Achalm ist nur eines von hundert Beispielen, wie aus Orts-
namen Sagen und Legenden herausgesponnen werden. Es
erregt den Anschein, als ob hier das Volk sich eine Etymo-
logie für sich geschaffen hätte und nun auf seine AVeise
damit schaltete und waltete. Das mag für einige Fälle
zutreffen. Meist aber scheint diese Verwendung der etymo-
logischen Namensdeutung erst im Gefolge der wissenschaft-
lichen oder wissenschaftlich sein wollenden Etymologie auf-
zutauchen, und man vermutet hinter manchen dieser schönen
oder dürren Geschichten mit Recht nicht sowohl den un-
gelehrten Sänger und Erzähler als Urheber, als vielmehr
den Schulmeister oder den Dorfpfarrer. Dem Umfang der
Erscheinung genauer nachzugehen, fehlt mir jedoch nicht
nur die Zeit, sondern auch die Kenntnis.
Aber in diesem Narrenkleid wollen wir die Etymologie
nicht entlassen, ohne unser Auge noch einmal auf ihr
ernsteres Wirken zurückzuwenden. Sie hat — das hat
schon der kurze Überblick gezeigt — mehrfach das nicht
erreicht, was sie sich als Ziel gesteckt hatte, dabei aber
häufig Erfolge gewonnen, die zunächst nicht in ihrem Seh-
feld gelegen hatten. Sie ist darin ein Bild jedes enisten
menschlichen Strebens. Auch manche von Ihnen, liebe
Kommilitonen, werden mit den Studien, die Sie heute be-
treiben, das theoretische oder praktische Ziel vielleicht
Thurneysen, Etymologie. o
— 34 —
nicht erreichen, das sie vornehmlich damit erstreben. Den-
noch werden Sie die Zeit, die Sie auf ernste hingebende
Beschäftigung mit irgend einem Fache verwendet haben,
nie bereuen. Denn solche Arbeit pflegt Früchte zu tragen,
die die ersten Knospen nicht erraten lassen.
Zitate.
S. 4. Und wenn man dem Mystiker Jakob Böhme
usw. Vgl. z. B. : ,Das Wort T e u hat seinen Ursprung von dem
harten Pochen und Tönen, und das Wort fei hat seinen Ursprung
vo^ dem. Falle, also heißt nun Herr Luzifer T e u f e T. J. Böhme,
Morg-enröte im Aufgang, Kap. 14, 26.
S. 5. Aber wie etwa im Buchstabennamen /?i/ra
usw. — Plato, Krat. 393 E.
. S. 6. Homer, der wiederholt usw. — Wevao^iai ;)
€TVf*ov iQioi; K 534, (5 140. WevSea jioÄÄä ÄeyMv iivfioiaiv öjaoI^,
r 203. Nicht wahrscheinlich ist mir Georg Curtius' Vermutung,
das Wort itvfioXoyla gehe auf die ionischen Philosophen zurück
(Grundzüge d. griech. Etymol. *, S. 5).
Ebend. Sie will nach einer antiken Definition
usw. — 'Avamv^ig twv Xi^eiov, dt' f^g tb äAt^d^bg aaq>r^vi^eiai. Bekk.
Ainecd. II 740, zitiert von Steinthal, Geschichte d. Sprachwissen-
schaft bei d. Griechen u. Römern I^ 331. '
S. 9. Etymologie als , Gebrauch richtiger
Wörter*. — Etymology or right wording, Milton, Accedence (1669).
zitiert von Murray, A new English dictionary, s. v.
Ebend. Der Jesuit enpater Besnier usw. — i1,.di-
tach^i: Us lettres Radicales, qui fönt proprement Vessence d'un motj
d'avec Celles que les Grammairiens Orientaux nomment Serviles, qui hnj
soni comme accidentelles, et sur quoy il est inutile et ridicuJe de sc
fättguer Vesprit . . . Dictionaire Etymol. de la Langue Fran^öise,
par M6nage (Ausgabe v. 1694), Pr^face, p. u., ij.
— 35 ~
S. 10. So fragte um die Wende des 18. zum 19. Jahr-
hundert usw. — Hörne Tooke, Ejiea meQoevTa 11-^, 431, zitiert
von Benfey, Gesch. d. Sprachwissensch., S. 309.
S. 17. Man hat einen zweijährigen Knaben be-
obachtet usw. — Grammont, Observations sur le langage des
enfants (M^langes linguistiques, offerts ä A. Meillet, 1902) p. 79.
Ebend. Das alemannische Kind usw. — Über ähn-
liche Erscheinungen im amerikanischen Englisch s. Wheeler, The
Causes ol üniformity in Phonetic Changes, Transactions of the
American Philological Association, 1901.
S. 21. W-er z. B. die Namen der Tiere usw. — Vgl.
vor allem : Rolland, Faune populaire de la France. Auch: Bruinier,
Af/ehter, Zeitschr. f. vergl. Sprachf. 34, 344.
S. 22. in den Fällen, wo sich schwer eine Pro-
portion bilden kann usw. — Ich habe namentlich die Fem-
dissimilationen und Fernassimilationen im Auge, die man irriger
Weise oft, als auf Versprechen beruhend, vom andern Laut-
wandel getrennt hat.
S. 24. die Bezeichnung des weiblichen Rehs
als , Ricke* usw. — Palander, Althochdeutsche Tiemamen,
S. 110.
S. 26. Im engen Anschluß an die Antike usw. —
Z. B. Prellwitz in der Einleitung zu seinem Etymologischen
Wörterbuch der griech. Sprache (1892), S. VI: ,der Versuch, die
eigentliche Bedeutung der Wörter zu ergründen*.
S. 28. Bei der Gründung der hiesigen kultur-
wissenschaftlichen Gesellschaft usw. — H. Rickert,
Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Ein Vortrag (1899).
UNIVEBSITY OP OALIPOBNIA LIBBABY,
BEBKELEY
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