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Full text of "Die evangelische Christenheit und die Juden unter dem Gesichtspunkte der Mission geschichtlich betrachtet"

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Upsala  Univ.  Bibliotek 


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in  2011  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/dieevangelischec01lero 


Die 


evangelische  Christenheit 

und  die  Juden 

unter  dem  Gesichtspunkte  der  Mission 


geschichtlich  betrachtet. 


Von 

Lic.  J.  F.  A.  de  le  Roi, 


Erster  Band- 


Karlsruhe  und  Leipzig. 
Verlag    von    II.    Reuthe 
1884. 


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Die 

evangelische  Christenheit 

und  die  Juden 

in  der  Zeit  der  Herrschaft  christlicher  Lebensanschauungen 
unter  den  Völkern. 

Von  der  Reformation 
bis  zur  Mitte  des  18.  Jahrhunderts. 

Von 

Lic.  J.  F.  A.  de  le  Roi, 

Pastor. 


Karlsruhe  und  Leipzig. 

Verlag    von     II.     R  e  u  t  h  e  r. 
1884. 


Vorwor  t. 


JUas  Vorhandensein  einer  Judenfrage  ist  in  den  letzten 
Jahren  unter  allen  den  christlichen  Völkern,  in  deren  Mitte  eine 
grössere  Anzahl  von  Juden  wohnt,  wieder  als  eine  überaus  ernste 
Thatsache  empfunden  und  erfahren  worden.  Die  Meinung,  dass 
es  der  Neuzeit  fast  gelungen  sei,  jene  Frage,  welche  die  früheren 
Jahrhunderte  ja  freilich  ungemein  lebhaft  beschäftigte,  zu  lösen, 
wird  allmählig  aufgegeben.  Alle  Einsichtigen  unter  den  Christen 
nicht  bloss,  sondern  auch  unter  den  Juden  bekennen  es  jetzt, 
dass  es  falsch  war,  wenn  man  geglaubt  hatte,  nur  diese  oder 
jene  einzelne  Person  habe  die  alte  Frage  auf  künstliche  Weise 
für  kurze  Zeit  wieder  ins  Leben  gerufen.  Denn  man  muss  sich 
ja  gewaltsam  die  Augen  verschliessen,  wenn  man  es  nicht  sehen 
will,  dass  thatsächlich  die  christliche  Bevölkerung  besonders  von 
Deutschland  und  Oesterreich  -  Ungarn ,  Russland  und  Rumänien, 
in  deren  Gebieten  etwa  fünf  Siebentel  der  gesammten  Juden- 
schaft angesiedelt  sind,  überwiegend  in  einem  Kampfverhältniss 
mit  den  Juden  steht,  das  in  steigendem  Maasse  die  Art  eines  un- 
versöhnlichen Krieges  anzunehmen  droht. 

Aber  ist  denn  nicht  Kampf  die  Lösung  zwischen  der  Syna- 
goge und  der  Kirche,  zwischen  den  Juden  und  den  Gemein- 
schaften, welche  in  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  die  Gestalt 
christlicher  Völker  angenommen  haben,  von  Anfang  gewesen? 
Das  Christenthum  und  die  christliche  Gemeinde  ringen  sich  ja  in 


VI 

ihrem  Ursprünge  nur  unter  den  heftigsten  Angriffen  der  Juden 
und  der  Synagoge  zum  Dasein  hindurch.  Letztere  wollten  in 
keinem  Falle  dulden,  dass  es  eine  Gemeinde  des  wahrhaftigen 
Gottes  auf  Erden  gebe,  die  nicht  jüdisches  Gepräge  trüge  und 
die  etwas  Höheres  bedeuten  sollte  als  ein  jüdisch  geartetes  Gemein- 
wesen zu  sein.  Dass  nicht  die  Juden,  ihr  Stamm  und  Geschlecht 
an  sich  selbst  die  Gottesgemeinde  auf  Erden  darstellen  sollten, 
sondern  dass  fortan  ihre  Gemeinschaft  an  Jesu  über  ihre  Zu- 
lörigkeit  zu  der  Gemeinde  Gottes  entscheiden  solle,  und  wieder, 
dass  alle,  welche  Unterthanen  Christi  sein  wollten,  in  ganz  der 
nämlichen  Weise  wie  die  Juden,  welche  Jesu  dienten,  die  Gottes- 
gemeinde auf  Erden  bilden  helfen ,  das  war  es ,  wogegen  sich 
das  jüdische  Volk  von  Anfang  an  zum  Kampfe  auf  Leben  und 
Tod  erhob. 

Keines  Menschen  Leben  ist  durch  diese  Thatsache  so 
durchgreifend  bestimmt  worden  als  das  des  Apostel  Paulus, 
welcher  früher  selbst  als  Saulus  in  den  vordersten  Reihen  derer 
gestanden  hatte,  die  sich  mit  vollem  Bewusstsein  und  mit  einem 
zu  allem  entschlossenen  Willen  die  Zerstörung  der  Gemeinde 
Jesu  Christi  zu  einer  ihrer  höchsten  Lebensaufgaben  gemacht  hatten. 
Saulus  hat  es  aber  erfahren,  dass  er  gegen  Gott  streite, 
indem  er  für  die  Synagoge  und  gegen  die  christliche  Gemeinde 
kämpfe,  und  von  da  ab  ist  er  ein  Apostel  Jesu  Christi  geworden. 
Seine  Aufgabe  jedoch,  die  Gemeinde  Jesu  unter  den  Völkern  zu 
erbauen,  konnte  er  von  dem  ersten  Tage  an,  da  er  dieselbe 
aufnahm,  bis  zu  seinem  letzten  Odemzuge  nicht  anders  ausrichten, 
als  so,  dass  er  Schritt  für  Schritt  mit  seinem  eigenen  Volke 
kämpfen  musste.  Sein  Volk,  welches  die  Synagoge  an  Stelle 
der  Kirche  Christi  festhalten  wollte,  Hess  ihm  keine  Ruhe,  son- 
dern die  Eiferer  desselben  hefteten  sich  an  seine  Sohlen  und 
ide,  dass  es  sich  also  verhielt,  machte  die  schmerzlichste  Er- 
fahrung seines  Lebens  aus. 

Derselben  Thatsache   aber    stand    die  Christenheit   in  aller 
Folgezeit   immer  wieder  gegenüber.     Wohl  hat  es  Jahrhunderte 


—     VII 

gegeben,  in  denen  die  Synagoge  der  Hauptsache  nach  auf  die 
Vertheidigung  angewiesen  war,  und  wo  sie  nicht  zum  Angriffe 
auf  die  Weltstellung  der  christlichen  Kirche  und  ihrer  Völker 
übergehen  konnte,  aber  ihre  innere  Stellung  zu  denselben  ist  stets 
die  gleiche  geblieben.  Ein  gewisser  Kriegszustand  blieb  denn 
auch  fortbestehen,  äusserte  sich  in  diesem  Zeiträume  aber  haupt- 
sächlich auf  dem  Gebiete  des    natürlichen  und  socialen  Lebens. 

Das  ist  seit  einem  Jahrhundert  anders  geworden.  Man  hat 
seitdem  den  Versuch  gemacht,  Juden  und  Christen  durch  die 
Mittel  der  modernen  Humanität  miteinander  zu  einer  Volksge- 
nossenschaft zu  verbinden.  Der  Erfolg  dieser  Bemühungen  ist 
gewesen,  dass  viele  einzelne  Juden  und  Christen  einander  näher 
getreten  sind,  und  das  äussere  Leben  der  Juden  in  vielen  Be- 
ziehungen die  Gestalt  der  Völker,  unter  denen  sie  wohnen,  an- 
genommen hat.  Aber  eine  innere  Verbindung  der  grossen  jüdischen 
Masse  mit  ihrer  Umgebung  zu  einer  wirklichen,  geistigen,  socialen 
und  nationalen  Vereinigung  ist  durch  den  philosophischen  und 
politischen  Humanismus  nicht  herbeigeführt  worden.  Seit  der 
neuesten  Zeit  tritt  sogar  überall  das  die  beiden  Theile  Trennende 
wieder  verstärkt  in  den  Vordergrund;  die  Kluft  zwischen  ihnen 
erweitert  sich  ganz  sichtbar  und  wird  eine  immer  bewusstere. 

Unter  den  Juden  ist  man  allmählig  stets  entschlossener 
zum  Angriffe  vorgeschritten;  und  unter  den  wichtigsten  christ- 
lichen Völkern  wächst  die  Erkenntniss,  dass  man  sich  mit  den 
Juden  des  eigenen  Landes  in  einem  Kriege  befindet,  bei  dem 
es  sich  geradeswegs  um  die  Wurzeln  des  gesammten  Daseins 
handelt. 

Der  Krieg  ist  da;  wer  ihn  todtschweigen  will,  thut  damit 
keinem  Theile  einen  Gefallen;  denn  er  hilft  nur  dazu,  dass  der  Brand 
weiter  um  sich  greife,  bis  er  nicht  mehr  gelöscht  werden  kann. 
Und  die  Gefahr  ist  bereits  gross ,  dass  der  gegenwärtige  Streit 
mit  den  Juden  in  einen  blossen  Vernichtungskampf  ausarte.  Wer 
aber  in  diesem  Kampfe  eine  Liebe  fordert,  welche  nicht  mehr  die 
Wahrheit   zum  Siege    führen    will    und    welche   also    ein  blosses 


—      VIII     — 

Trugbild  der  Liebe  ist,  der  gibt  der  Synagoge  gegen  Christum 
und  den  Verfolgern  der  Apostel  gegen  diese  Recht.  Die  Juden- 
frage wird  damit  aber  am  allerwenigsten  gelöst,  sondern  auf  so 
ungerechten  und  innerlich  unwahren  Wegen  nur  tiefer  in  die 
Verwirrung  hinabgeführt.  Die  apostolische  Gemeinde  schon  hat 
dies  erfahren,  in  der  Judenchristen  Privilegien  für  jüdische  An- 
sprüche forderten,  oder,  wie  der  Hebräerbrief  zeigt,  lieber  an  der 
Wahrheit  etwas  nachgeben  und  beide  Augen  den  Juden  gegenüber 
zudrücken  wollten,  als  dass  sie  die  Verbindung  mit  denselben 
auf  das  Spiel  setzten. 

Paulus  hat  mit  den  Vorfahren  der  heutigen  Philosemiten 
ganz  ebenso  gut  wie  mit  den  Vorgängern  des  Antisemitismus, 
die  in  den  Christengemeinden  aus  den  Heiden  ihr  Haupt  zu  er- 
heben begannen,  bereits  zu  ringen  gehabt. 

Klare,  deutliche  Erkenntniss  dessen,  wie  die  Sache  steht, 
thut  uns  Noth.  Es  ist  nicht  anders,  sondern  muss  damit  gerechnet 
werden,  dass,  so  lange  es  eine  Synagoge  neben  der  Kirche  und 
Gemeinde  Jesu  Christi  gibt,  so  lange  es  auch  bei  dem  Kampfe 
zwischen  den  beiden  bleibt;  die  Geschichte  lehrt  es  uns,  und  die 
Schrift  hat  es  im  Voraus  verkündigt. 

Aber  die  Schrift  und  zumal  der  Apostel,  welcher  wie  kein 
anderer  den  Kampf  mit  der  Synagoge  und  den  Juden  gekämpft 
hat,  bezeugen  es  auch,  welcher  Art  dieser  Kampf  sein,  mit 
welchen  Waffen  er  gestritten  werden  und  zu  welchem  Ende  er 
führen  soll. 

Gewiss,  nach  der  Schrift  ist  das  in  der  Synagoge  lebende 
'srael  eine  Gemeinschaft,  welche  sich  der  Wahrheit  gegenüber 
verstockt  hat  und  welche  der  Apostel  Paulus  geradeswegs  Eeinde 
Gottes  nennt,  die  Kirche  dagegen  die  Bekennerin  der  Wahrheit 
und  ihr  Volk  das  heilige  Volk.  Paulus  leugnet  dabei  nicht  eine 
stark  ausgeprägte  Religiosität  bei  vielen  Gliedern  der  Synagoge, 
und  nur  Ungerechtigkeit  will  es  nicht  sehen,  dass  diese  Religio- 
sität auch  bis  heute  noch,  wo  freilich  der  Unglaube  die  herrschende 
Macht    inmitten    der  Judenschaft    zu    werden    droht,    so    manche 


—     IX     - 

bürgerliche  Tugend  in  derselben  lebendig  erhalten  hat.  Aber 
dennoch  hält  alle  diese  Religiosität  der  Juden  den  Apostel  nicht  ab, 
dass  er  sie  im  denkbar  ernstesten  Lichte  betrachtet.  Paulus 
weiss  so  wenig  etwas  die  Juden  Verherrlichendes  zu  sagen,  dass 
nach  seinem  Zeugnisse  vielmehr  bei  ihnen  alles  vom  innersten 
Grunde  aus  anders  werden  muss. 

Jeden  irgendwie  gearteten  jüdischen  Einfluss  weist  er  daher 
schon  an  der  Schwelle  der  christlichen  Gemeinschaft  ab  und 
fordert  von  dieser  zunächst  aufs  entschiedenste  Selbstbe- 
wahrung den  Juden  gegenüber.  Die  christliche  Kirche  und  die 
christliche  Gemeinschaft,  welche  gerade  ihr  Apostel  Paulus  über 
das  rechte  Verhältniss  zu  den  Juden  belehrt,  hätten  sich  denn 
auch  diese  Weisung  desselben  gesagt  sein  lassen  sollen.  Und 
wir  werden  noch  heute  in  der  Judenfrage  nicht  weiter  kommen, 
wenn  wir  nicht  mit  aller  Bestimmtheit  daran  festhalten,'  dass 
sich  die  christliche  Gemeinschaft,  sie  heisse  nun  kirchliche  oder 
weltliche,  von  jedem  jüdischen  Einflüsse  frei  zu  halten  hat. 

Doch  das  ist  freilich  nur  die  eine,  die  negative  Seite  der 
Sache;  aber  der  Apostel,  welcher  mit  der  Synagoge  und  ihrem 
Volke  so  ernst  in  das  Gericht  geht  und  welcher  denselben  es 
nirgends  gestattet,  die  christliche  Gemeinschaft  in  irgend  einer 
Weise  zu  bestimmen,  thut  dies  doch  nur  als  der  Zeuge  des 
Christus,  welcher  will,  dass  allen  Menschen  geholfen  werde.  Mag 
er  von  seinen  Volksgenossen  noch  so  leidenschaftlich  gehasst 
und  verfolgt  werden,  er  weiss  nichts  von  Vergeltung,  sondern 
eben,  weil  er  ein  Diener  Jesu  Christi  ist,  verbindet  sich  bei  ihm 
mit  dem  unbestechlichen  Ernste,  der  die  ganze  Argheit  ihrer 
Sünde  aufdeckt  und  ein  nichts  beschönigendes  Urtheil  über  sie 
ausspricht,  nun  doch  ein  so  mächtiges  Liebeserbarmen,  dass  er 
den  bereits  in  den  Abgrund  Versinkenden  noch  die  Hand  dar- 
reicht und  sie  retten  will. 

Ausser  ihrem  Heilande  hat  nie  ein  Mensch  auf  Erden  die 
Juden  so  heiss  geliebt  als  der  Paulus,  welcher  von  allen  Zeugen 
des  Neuen  Testamentes   am  unerbittlichsten  ihre  Schuld  und  ihr 


Verderben  verkündigt  hat.  Kr  sieht  keinen  einzigen  Juden  anders 
als  zuerst  mit  dem  Gedanken  und  mit  der  Hoffnung  an,  dass 
jener  zu  demselben  Heiland  kommen  könne,  welcher  ihn  selbst, 
den  Verfolger  der  Gemeinde  und  den  Lästerer  Christi  gerettet 
hat  Es  gibt  nicht  eine  Stadt,  da  er  nicht  auf  seinen  Missions- 
reisen zuerst  an  die  Juden,  welche  sie  bewohnen,  herantritt,  um 
ihnen  seine  Friedensbotschaft  zu  verkündigen  und  so  den  ältesten 
Bürgern  des  Gottesreiches  an  erster  Stelle  das  Evangelium  zu 
bringen.  Dem  Apostel  macht  es  gar  nichts  aus ,  wenn  er  eine 
Stadt  nach  der  anderen,  sehr  wenige  ausgenommen,  mit  der  Er- 
fahrung verlassen  muss,  dass  die  grosse  Masse  der  Juden  daselbst 
dem  Evangelium  von  Christo  mit  Feindschaft  entgegengetreten 
ist;  sondern  an  dem  nächsten  Orte  finden  wir  ihn  wieder  unter 
den  Juden,  um  sie  einzuladen,  das  Erbe  anzutreten,  welches  ihren 
Vätern  verheissen  wurde. 

Ein  so  grosser  Ernst  ist  es  dem  Apostel  damit,  dass  der 
Wille  des  Herrn  geschehe,  der  alle  zur  Erkenntniss  der  Wahrheit 
kommen  sehen  will.  Und  ebenso  bleibt  er,  nachdem  er  immer 
wieder  von  der  Synagoge  abgewiesen  worden  ist,  doch  dabei,  dass 
sein  Evangelium  eine  Kraft  Gottes  ist,  die  Juden  zuerst  selig  zu 
machen.  Er  wird  unter  ihrem  Widerstreben  nicht  in  der  Gewissheit 
irre,  dass  sein  Evangelium  trotzdem  eine  viel  grössere  Macht  als 
alle  Hartnäckigkeit  der  Juden  ist.  Und  dies  gibt  ihm  guten  Muth, 
zu  derselben  Zeit,  wo  er  sich  der  Verstockung  der  Juden  voll- 
ständig bewusst  ist,  ihnen  trotzdem  Jesum  Christum  zu  predigen. 
Paulus  hielt  eben  die  Verstockung  bei  keinem  einzelnen  Juden 
seiner  Tage  für  unüberwindlich,  er  hielt  sie  aber  auch  bei  dem 
Volke  selbst  nicht  für  unbesiegbar,  sondern  glaubte  nach  der 
Schrift  an  eine  Zukunft,  in  welcher  das  ganze  Volk  nach  den 
Zeiten  der  Verstockung  seine  Seligkeit  in  Jesu  Christo  suchen 
und  finden  würde.  Der  Ernst  der  Gegenwart  Hess  ihn  an  dem 
Frieden  der  Zukunft  nicht  verzagen,  und  die  Hoffnung  der  Zu- 
kunft Hess  ihn  die  Gegenwart  nicht  in  falschem  Lichte  anschauen. 


—     XI      — 

Paulus  trat  stets  an  die  grosse  Masse  der  Juden  und  an 
ihre  geschlossene  Gemeinschaft  mit  dem  Bewusstsein  heran,  dass 
er  unter  ihnen  etliche  finden  werde,  welche  das  ihnen  dargebotene 
Heil  in  Christo  annehmen  würden.  Sie  waren  ihm  also  nicht 
eine  blosse  Masse  des  Verderbens,  sondern  auch  in  ihrem  gegen- 
wärtigen Zustande  noch  ein  Feld,  auf  dem  sich  die  Arbeit  wohl 
lohnte.  Und  die  in  dem  verdorrenden  Oelbaume  sich  da  und 
dort  noch  zeigenden  Säfte  bestärkten  ihn  in  der  Zuversicht,  dass 
noch  einmal  der  ganze  Baum  frisch  aufblühen  werde.  Er  wollte 
aber  auch,  dass  die  christliche  Gemeinde  die  gleiche  Erkenntniss 
wie  er  selbst  hinsichtlich  Israels  haben  und  die  gleiche  Stellung 
zu  demselben  einnehmen  sollte.  Daher  rief  er  sie ,  wie  dies  be- 
sonders sein  Brief  an  die  Römer  beweist,  zu  lebendigem  Zeugnisse 
vor  der  jüdischen  Masse  ihrer  Tage  und  zu  derselben  Hoffnung, 
welche  ihn  erfüllte  für  das  Volk  auf.  Die  aus  den  Völkern  sich 
sammelnde  Gemeinde  Jesu  sollte  den  im  Zustande  der  Verstockung 
dahinlebenden  Juden  nicht  den  Rücken  kehren,  sondern  an  ihnen 
wie  Paulus  ein  Werk  der  Barmherzigkeit  ausrichten. 

Damit  ergeben  sich  aber  für  die  Christenheit,  mag  sie  nun 
als  kirchliche  oder  mag  sie  als  bürgerliche  Gemeinschaft  in 
Betracht  kommen,  sehr  wichtige  Folgen.  Vor  allem  wird  es  klar, 
dass  es  den  Grundsätzen  des  Apostels  geradeswegs  widerspricht, 
wenn  man  in  der  Christenheit  die  Juden  vergisst  und  ihnen 
gegenüber  die  Hände  in  den  Schoss  legt  oder  sie  gar  in  ihrem 
bürgerlichen  und  religiösen  Leben  misshandelt.  Beides  aber  hat 
das  Mittelalter  nur  zu  reichlich  gethan.  Und  ebenso  beweist  es 
das  Beispiel  und  Zeugniss  des  Apostel  Paulus,  dass  es  der  christ- 
lichen Gemeinschaft,  weiche  nun  die  doppelte  Gestalt  einer  kirch- 
lichen und  einer  bürgerlichen  trägt,  obliegt,  an  den  Juden  eine 
positive  Aufgabe  auszurichten. 

Die  Geschichte  hat  indessen  ihr  Zeugniss  dafür  abgelegt, 
ob  auf  den  Wegen  des  Apostels  oder  auf  anderen  die  Lösung 
der  Judenfrage  kommen  könne.  Mahnend  und  warnend,  ermunternd 
und  ermuthig-end  will  sie  unsere  Lehrmeisterin  sein.     Eben  diesem 


—     XII     — 

wahrhaft  praktischen  und  auf  das  wirkliche  Leben  abzielenden 
Zwecke  will  denn  auch  die  Darstellung  desjenigen  Stückes  Ge- 
schichte dienen,  welche  dieses  Buch  enthält.  Der  Verfasser  hat 
sich  aber  seine  Aufgabe  in  so  bestimmter  Begrenzung  erwählt» 
weil  er  gerade  unter  der  Beschäftigung  mit  dem  Gegenstande 
immer  mehr  der  Ueberzeugung  geworden  ist,  dass  nur  von 
evangelischen  Grundsätzen  aus,  weil  diese  allein  die  Richtschnur 
des  Apostels  hinreichend  innezuhalten  im  Stande  sind,  die  rechte 
Stellung  zu  den  Juden  gewonnen  werden  kann. 

Wie  weit  dies  aber  in  der  evangelischen  Christenheit  bereits 
erreicht  worden  ist,  wie  oft  der  rechte  Weg  betreten  und  wie 
oft  er  wieder  verlassen  ist,  das  werden  die  Jahrhunderte  selbst 
zeigen,  wenn  sie  an  dem  Maasse  des  Apostels  gemessen  werden. 
Was  dann  noch  insbesondere  unsere  Gegenwart  betrifft,  so  wird 
dieselbe,  wenn  sie  zum  Ziele  kommen  will,  sehr  wohl  thun,  wenn 
sie  die  frühere  evangelische  Zeit,  von  welcher  dieser  Band  zunächst 
handelt,  unbefangen  prüft.  Das  abgeschlossen  vorliegende  Zeugniss 
dieses  Zeitraumes  ist  in  der  That  ein  sehr  lehrreiches. 

Und  nun  noch  ein  Wort  über  die  Schrift  selbst.  Ihrer  Ab- 
fassung standen  manche  Schwierigkeiten  im  Wege.  Vor  allem 
war  das  für  dieselbe  nöthige  Material,  welches  ja  viele  Hunderte 
von  Schriften  ausmacht,  zum  Theil  recht  schwer,  wenn  überhaupt 
zu  verschaffen.  Ein  Umstand  war  jedoch  dabei  günstig.  Die 
Breslauer  Stadtbibliothek  ist  im  Besitze  einer  so  reichhaltigen 
Sammlung  von  Schriften,  welche  sich  auf  das  hier  bearbeitete 
Thema  beziehen,  wie  keine  andere  Bibliothek  Deutschlands. 
Allerdings  aber  gilt  dies  nur  für  den  Zeitraum  bis  1750.  Fände 
eine  Ergänzung  der  betreffenden  Literatur  auch  für  die  Folgezeit 
statt,  dann  würde  diese  Bibliothek  vor  allen  anderen  die  Möglichkeit 
bieten,  unser  Thema  in  das  rechte  Licht  zu  stellen.  Dankbar 
aber  erkennt  der  Verfasser  die  grosse  Güte  an,  mit  welcher  der 
Leiter  dieser  Bibliothek,  Herr  Dr.  Markgraf,  und  seine  Assi- 
stenten ihm  behilflich  gewesen  sind,  die  reichen  Schätze,  welche 
unter  ihrer  Verwaltung  stehen,  zu  heben. 


—     XIII     - 

Durch  die  Liberalität  der  Londoner  Judenmissionsgesellschaft, 
in  deren  Diensten  der  Verfasser  bisher  stand,  war  es  diesem  sodann 
gestattet,  sich  eine  Zeitlang  in  Halle  aufzuhalten,  um  die  dortige 
Waisenhausbibliothek,  welche  in  den  Besitz  der  Literatur  des 
Institutum  Judaicum  getreten  ist,  zu  benützen.  Die  Herren 
Direktoren  Kramer,  Adler  und  Fr  icke  haben  dem  Verfasser 
freundlichst  erlaubt,  die  in  der  Waisenhausbibliothek  vorhandenen 
Bücher  und  Manuscripte  einsusehen.  Leider  hat  es  sich  hierbei 
herausgestellt,  dass  dort  nur  ein  verschwindender  Bruchtheil  der- 
selben noch  vorhanden  ist.  Die  Londoner  Gesellschaft  hat  ihrem 
Missionar  aber  auch  die  Bücher  ihrer  eigenen  Bibliothek  gütigst 
zur  Verfügung  gestellt,  und  besonders  für  das  Werk  in  England 
war  den  in  jener  Bibliothek  befindlichen  Büchern  manches  zu 
entnehmen. 

Ein  Zeugniss,  welches  das  Heil  von  Christen  und  Juden 
in  der  Verbindung,  welche  der  die  Völker  recht  lenkende  Gott 
gestiftet  hat,  zu  fördern  trachtet,  will  diese  Schrift  sein;  möchte 
sie  auch  so  aufgenommen  werden. 


■^3~#r; 


Inhalt. 


Einleitendes. 

1.  Zur   Literatur     ........... 

2.  Die  Entwicklungsstufen  in  den  Missionsbeziehungen  der  evangelischen 
C.'hri stenheit  zu  den  Juden  ........ 

I.  Die  reformatorische  Anfangszeit. 

Vom  Beginn  der  Reformation  Ins  zur  Mitte  des   16.  Jahrhunderts 
i.  Zustände  der  Juden  im  Anfange  der  Reformation      .  .  .  . 

2.  Luther       ............ 

3.  Die  anderen  Reformatoren  und  Luthers  unmittelbare  Nachfolger 

4.  Proselyten  der  ersten  Zeit  ........ 

5.  Das  Ergebnis«  der  reformatorischen  Anfangszeit         .... 


Seite. 


9 
20 

44 
59' 


IL  Das  Zeitalter  der  gelehrten  Beziehungen  in  der 
evangelischen  Christenheit  zu  den  Juden. 

Von  der  Mitte  des   16.  bis  zum  Ende  des   17.  Jahrhunderts. 

1.  Die  äusseren  und  inneren  Verhältnisse  der  Juden     . 

2.  Allgemeines  über    die  Stellung    der    christlichen  Umgebung    zu    den 
Juden  in  dieser  Zeit  ........ 

3.  Deutschland       .......... 

a.  Die  talmudische  und  rabbinische  Literatur  im  evangelischen  Deutsch 
land  bis    1700       ......... 


b.  Anderweitige  literarische  und  sonstige  Miss 

c.  Esdras  Edzard       ..... 

d.  Die  Proselyten  dieser  Zeit  in  Deutschland 

4.  Die  Schweiz      ...... 

5.  Frankreich  ...... 

6.  Holland 

a.  Christliche  Missionsbestrebungen  . 

b.  Holländische  Proselyten 


onsbemühun«.Ten 


66 
71 

71 

84 

104 

114 

155 
140 
142 
142 
159- 


XVI 


;.  Grossbritannien  .....■• 

a.  Die  Wiederaufnahme  der  Juden  in  England 

b.  Missionsbemühungen  in  England  .... 

c.  Bekehrungen  in  England       ..... 

8.  Dänemark,  Schleswig  und   Holstein  .... 

9.  Skandinavien  und  die  jetzt  russischen  Ostseeprovinzen 
10.   Amerika    .....•■•• 

1  1 .   Die  Socinianer           ....••• 
12.  Rückblick 


III.  Die  Zeit  des  Vorherrschens  innerer  Beziehungen 
zu  den  Juden. 

Erste   Hälfte  des   18.  Jahrhunderts. 

1.  Zur  Charakterisirung  des  Zeitraums   . 

2.  Jüdische  Zustände     ...... 

3.  Deutschland       ....... 

a.  Philipp  Jakob  Spener  .... 

b.  Literarische  und  anderweitige  Missionsbemühungen  im  Zeil 

c.  Johann  Heinrich  Callenberg 

d.  Die  Vorgeschichte  des  Institutum  Judaicum 

e.  Die  Anfänge  des   Institutum  Judaicum 

f.  Zur  Charakterisirung  der  Mission  des   Institutum 
g.  Die  M'.ssionare  Widmann  und  Manitius 
h.  Stephan  Schultz  ...... 

i.  Zur  weiteren  Geschichte  des  Institutum 

k.  Wirkungen  des  Halle'schen  Institutum  in  diesem  Zeiträume 
1.  Anderweitige  Missionsbemühungen  des  Zeitraumes 
m.  Erüdergemeine      ...... 

n.  Proselyten  in  Deutschland    .... 

4.  Die  Schweiz      ....... 

5.  Holland •  • 

6.  Grossbritannien  ...... 

7.  Dänemark,  Schleswig  und   Holstein  . 

8.  Die  nordischen  Länder      ..... 

9.  Nord-Amerika    ....... 

lo.  Gesammtergebniss  der  älteren  Periode 


Seite. 
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-£3-*-C$f~ 


Einleitendes. 

i.  Zur  Literatur. 

ochriften  über  die  evangelischen  Missionsbeziehungen  zu  den 
Juden  innerhalb  der  gesammten  evangelischen  Kirche  begegnen 
uns  erst  in  jüngster  Zeit.  Wo  man  früher  allgemeinerer  Bestre- 
bungen, welche  auf  die  Bekehrung  der  Juden  abzielten,  gedenkt, 
wird  zumeist  unterschiedslos  alles,  was  im  Gebiete  der  gesammten 
christlichen  Kirche  hierfür  geschehen  ist,  zusammengestellt.  Doch 
ist  man  dabei  wenigstens  bestrebt,  das  einschlagende  Quellen- 
material in  möglichster  Vollständigkeit  zu  sammeln,  und  in  diesem 
Stücke  übertrifft  die  frühere  Zeit  besonders  das  ig.  Jahrhundert 
ganz  ungemein.  Die  Schriften,  welche  nach  der  Mitte  des  vorigen 
Jahrhunderts  den  Quellennachweis  für  unseren  Gegenstand  bieten, 
stehen  in  allen  Beziehungen  hinter  den  gleichartigen  der  älteren 
Zeit  zurück.  Und  so  wird  denn  auch  unsere  Geschichtsdarstellung 
in  diesem  zweiten  Zeitraum  genug  Lücken  zeigen,  zu  deren  Er- 
gänzung die  Kritik  das  Ihrige  beitragen  mag. 

Zunächst  nun  mögen  diejenigen  Quellen  und  Schriften, 
welche  für  die  Kenntniss  der  gesammten  Missionsbemühungen 
bis  zu  ihrer  Zeit  die  erheblichsten  sind,  genannt  werden;  während 
es  vorbehalten  bleibt,  die  wichtigsten  Quellen  und  Schriften  für 
einzelne  Abschnitte  unserer  Geschichte  an  ihrem  Orte  anzuführen. 

An  erster  Stelle  verdienen  da  eine  anerkennende  Erwähnung 
zwei  Schriften  eines  Predigers  zu  Frankfurt  a.  M.  Martin  Diefen- 
bach  „Iudaeus  convertendus  oder  verschiedene  Urtheile  und 
Vorschläge  fürnehmer  Theologen  und  anderer  Gelehrten,  wie  die 
Bekehrung  der  Juden  durch  Gottes  Gnade  zu  suchen  und  zu 
befördern  sei".  1696.  40,  und  „Iudaeus  conversus  oder  Erzählung 
von  einem  bekehrten  Juden  und  Erklärung  der  vorigen  Schrift 
nebst  zweien  Judenpredigten".    Frankfurt  1 709.  4  °.  Beide  Schriften 

J.   F.  A.  de  le  Roi,   Missionsbeziehungen.  I 


—       2       — 

halten,  was  sie  versprechen  und  geben  einerseits  eine  klare  Vor- 
stellung davon,  in  wie  weit  und  auf  welche  Weise  unsere  ältere 
evangelische  Kirche  sich  mit  der  Bekehrung  der  Juden  beschäftigt 
hat,  und  enthalten  anderseits  manche  werthvolle  Mittheilungen 
über  Froselyten  aus  diesem  Zeiträume. 

Johann  Jakob  Schudt,  ein  Schüler  des  Hamburger  Esdras 
Edzard,  Rektor  in  Frankfurt  a.  M.  hat  geschrieben:  Compen- 
dium  historiae  Iudaicae  de  origine,  incrementis  et  rebus  gestis 
Iudaeorum  ad  duetum  Justini  lib.  36  potissimum  ex  gentilium 
scriptoribus  collectum,  quo  res  Iudaeorum  ab  ineptiis,  convieiis 
et  mendaeiis  gentilium  vindicantur.  Frankfurt  1700.  8°.  Besonders 
aber:  „Jüdische  Merkwürdigkeiten,  vorstellend,  was  sich  Curieuses 
und  Denkwürdiges  in  der  neueren  Zeit  bei  einigen  Jahrhunderten 
mit  denen  in  allen  vier  Theilen  der  Welt,  sonderlich  durch  Deutsch- 
land zerstreuten  Juden  zugetragen,  sammt  einer  vollständigen 
Frankfurter  Judenchronik"  4  Thle.  17 14 — 1717.  Frankfurt  und 
Leipzig,  40.  Schudts  Schriften  liefern  eine  ungemeine  Menge, 
wenn  auch  völlig  bunt  durch  einander  geworfener  Nachrichten 
über  die  Juden  und  die  Missionsbemühungen  unter  denselben. 
Sehr  vieles  in  denselben  ist  werthvoll,  anderes  dagegen  kann  die 
geschichtliche  Probe  nicht  bestehen.  In  den  beiden  bedeutenden 
Werken  der  katholischen  Schriftsteller  Giulio  Bartolocci  di 
Celleno,  Bibliotheca  magna  rabbinica,  3  Bände,  Rom  1675 — 93 
und  den  2  Bänden  Fortsetzung  von  D.  J.  C.  Imbonato,  Rom 
1694  werden  auch  protestantische  Autoren  und  jüdische  Prose- 
lyten,  die  zur  evangelischen  Kirche  übergetreten  sind,  berück- 
sichtigt. Was  dieselben  aber  in  unserem  Felde  darbieten,  findet 
.'-ich  auch  bei  dem  nunmehr  zu  nennenden  evangelischen  Schrift- 
steller, der  jene  römischen  Vorgänger  benutzt  hat  und  seinerseits 
weit  mehr  als  alle,  welche  unser  Gebiet  bearbeitet  haben,  auf 
demselben  geleistet  hat :  es  ist  dies  Joh.  Christophorus  Wolf, 
Ilauptpastor  in  Hamburg. 

Wolf  hat  das  wichtigste  Werk  für  unsere  Kenntniss  der 
gesammten  die  Juden  betreffenden  Literatur  und  ebenso  auch 
für  den  von  uns  behandelten  speciellen  Zweig  derselben  gelie- 
fert: die  Bibliotheca  Hebraea  sive  notitia  tum  autorum  Hebr. 
eujuseunque  aetatis  tum  scriptorum,  quae  vel  Hebraice  primum 
exarata  vel  ab  aliis  conversa  sunt,  ad  nostram  aetatem  dedueta. 
4  Theile.  Hamburg  und  Leipzig.  171 5 — 1734.  4°.  Eine  fast  un- 
glaubliche Fülle  von  Gelehrsamkeit   ist  in  diesen  4  Bänden  nie- 


dergelegt.  Und  wenn  man  die  ungeheure  Menge  des  in  denselben 
aufgespeicherten  Materials  in  Betracht  zieht,  wird  man  anerkennen 
müssen,  dass  die  Sammlung  mit  einer  nur  selten  von  irgend  einem 
Schriftsteller  erreichten  Genauigkeit  veranstaltet  ist.  Selbst  auf 
jüdischer  Seite  hat  man  nicht  umhin  gekonnt  anzuerkennen,  dass 
Wolfs  Bibliotheca  alle  ihre  eigenen  Schriften  über  die  jüdische 
Literatur  weit  übertrifft.  Von  vielen  Verfassern  der  durch  Wolf 
angeführten  Schriften  werden  überdem  die  näheren  Lebensum- 
stände berichtet,  und  sehr  oft  auch  wird  eine  kurze  Inhaltsangabe 
ihrer  Werke  gegeben.  In  nicht  wenigen  Fällen  ist  das  Einzige, 
was  wir  jetzt  noch  über  einen  früheren  Autor  erfahren  können, 
für  uns  in  dieser  Bibliotheca  niedergelegt.  In  Folge  der  Wolf- 
schen  Fingerzeige  wären  wir  sogar  im  Stande,  die  früheren  Lei- 
stungen auf  unserem  Missionsgebiete  ziemlich  erschöpfend  dar- 
zustellen, wenn  sich  nicht  die  Beschaffung  vieler  von  ihm  er- 
wähnten Schriften  gegenwärtig  als  eine  Unmöglichkeit  heraus- 
gestellt hätte.  Immerhin  sind  wir  durch  ihn  für  die  frühere  Zeits 
so  gut  daran,  wie  wir  es  auch  nicht  im  Entferntesten  für  die 
heutige  sind. 

Von  Wolfs  grossem  Werke  hat  sogleich  sein  College,  der 
Doktor  und  Professor  der  Theologie  in  Hamburg  Joh.  Albert 
Fabricius  in  seinem  „Delectus  argumentorum  et  syllabus  scrip- 
torum,  qui  veritatem  religionis  Christianae  adversus  Atheos  .  .  . 
Iudaeos  .  .  lucubrationibus  suis  asseruerunt.  Hamburg  1725.  4°.", 
Gebrauch  gemacht,  und  der  die  Missionsarbeit  an  den  Juden  be- 
treffende Theil,  Cap.  31  S.  567  ff.  ist  im  Wesentlichen  nur  ein 
recht  brauchbarer  und  bequemer  Auszug  aus  Wolfs  Werk,  was 
der  Verfasser  übrigens  auch  selbst  ausdrücklich  anerkennt. 

Eine  Berichtigung  der  Fehler  in  Wolfs  Bibliotheca  und 
eine  Ergänzung  derselben,  theils  was  die  vor  1734,  theils  was 
die  nach  diesem  Jahre  erschienene  Literatur  betrifft,  hat  H.  F. 
Köcher  in  seiner  Nova  Bibliotheca  Hebraica,  2  Theile,  Jena 
1783  u.  84,  40  geben  wollen.  Diese  Schrift  ist  aber  in  Wahr- 
heit nur  ein  dürftiger  Anhang  zu  Wolfs  Werk,  völlig  lückenhaft 
und  ganz  ohne  den  Geist  des  grossen  Hamburger  Gelehrten 
geschrieben. 

Eine  neue  Zusammenstellung  der  von  Juden  ausgegangenen 
und  sie  betreffenden  Literatur  hat  von  jüdischer  Seite  her  Dr. 
Julius  Fürst  in  seiner  Bibliotheca  Judaica,  3  Theile,  8°.  Leipzig 
1849 — 63  geliefert.     Die  Arbeit  ist  immerhin  als  Versuch  anzu- 


—     4     — 

erkennen,  aber  in  Genauigkeit  und  Vollständigkeit  mit  der  Wolf- 
schen  auch  nicht  von  ferne  zu  vergleichen  und  zeigt  vielfache 
Spuren  von  Leichtfertigkeit. 

Reiches  Material  für  das  18.  Jahrhundert  bieten  die  Wei- 
mar'schen  Acta  historiae  ecclesiae  nostri  temporis  1734 — 1758, 
20  Bände.  Nova  acta  1758 — 1774,  12  Bände.  Acta  nostri  tem- 
poris 177-I — 1790,  13  Bände,  wenigstens  in  ihren  früheren  Jahr- 
gängen. 

Die  allgemeinen  Werke  über  Kirchengeschichte,  sowohl  in 
der  früheren  als  in  der  neueren  Zeit,  enthalten  nur  Weniges  über 
unsern  Gegenstand.  Eine  rühmliche  Ausnahme  bildet  in  dieser 
Beziehung  die  Geschichte  der  Protestantischen  Theologie  von 
G.  Frank  in  Wien,  Theil  2,  Leipzig  1865,  welcher  wenigstens 
einen  kurzen  Abschnitt  (S.  290 — 295)  über  das  Verhältniss  von 
Protestantismus  und  Judenthum  in  der  Zeit  von  1648 — 1750  ent- 
hält. Die  literarischen  Bemühungen  dieses  Zeitraumes  um  die 
Bekehrung  der  Juden  werden  hier  besprochen,  allerdings  aber 
nur  das  Einseitige  in  denselben  hervorgehoben. 

Sonst  widmen  nicht  einmal  die  Werke  über  die  Geschichte 
der  Juden  den  Missionsbemühungen  unter  denselben  die  genü- 
gende Aufmerksamkeit.  Zwar  Jaques  Basnage,  Histoire  des 
Juifs,  Amsterdam  1707,  12°.  5  Bände,  richtet  auf  dieselben  sein 
Augenmerk,  verfährt  aber  hierbei  höchst  unkritisch.  D.  Sieg- 
m  und  Jacob  Baumgarten 's  Geschichte  der  Religionsparteien, 
herausgegeben  von  Dr.  Joh.  S  a  1.  Semler,  Halle  1766,  und  die 
durch  beide  Theologen  erfolgte  Uebersetzung  der  Allgemeinen 
Weithistorie,  die  in  England  durch  eine  Gesellschaft  von  Gelehr- 
ten angefertigt  worden  ist,  Theil  9  11.  10,  Halle  1750,  65,  streifen 
nur  unsern  Gegenstand,  der  übrigens  Semler  auch  höchst  un- 
sympathisch ist.  Die  Geschichte  der  jüdischen  Religion  von 
D.  Fr.  Büschnig,  Berlin,  3  Theile,  1779,  erweitert  ebenso  un- 
sere Kenntnisse  nicht,  obwohl  er  ein  Interesse  an  der  Juden- 
mission bekundet  und  die  diesbezüglichen  Bestrebungen  seiner 
Zeit  ausdrücklich  erwähnt. 

Die  beiden  Schriften,  welche  dänische  Verfasser  haben, 
Jüdische  Geschichte  von  Baron  Ludwig  Holberg,  deutsch  von 
G.  A.  Detharding,  2  Theile,  Altona  und  Flensburg  1747,  und 
Jüdische  Geschichte  von  D.  Christian  Bastholm,  deutsch  von 
Joh.  Fried r.  Marcus,  3  Bände,  Pirna  1785,  sind  ebenfalls  für 
uns  ohne  Bedeutung,  wenngleich  sich  die  Verfasser  zu  der  Noth- 


—     5     — 

wendigkeit  der  Bekehrung  der  Juden  bekennen.  Bei  neueren 
christlichen  Darstellern  der  Geschichte  der  Juden  findet  die 
Mission  gewöhnlich  nur  eine  kurze  Abfertigung,  so  besonders  in 
der  Culturgeschichte  des  Judenthums  von  Dr.  Otto  Henne- 
Arn  Rhyn,  Jena  1880. 

Die  jüdischen  Geschichtsschreiber  wie  Jost,  Stern,  Graetz, 
D.  Cassel,  Back  u.  s.  w.  gehen  einfach  bei  den  Missionsbe- 
mühungen vorüber  und  verrathen  höchstens  in  Parenthesen,  dass 
sie  dieselben  verachten  oder  hassen. 

In  unserem  Jahrhundert  findet  die  Mission  zuerst  Beach- 
tung in  The  History  of  the  Jews  from  the  destruction  of  Jerusa- 
lem to  the  present  time  von  Hannah  Adams,  Boston,  Amerika, 
London  1  SiS,  deutsch,  Leipzig  1819,  2  Theile.  Die  Geschichte 
der  evangelischen  Mission  von  J.  Wiggers,  Hamburg  1845  ent- 
hält nur  kurze  Notizen  über  die  Judenmission.  Die  erste  eigent- 
liche Bearbeitung  hat  dieselbe  in  einem  Buche  von  B.  H.  Steger, 
ev.  Pfarrer  in  Nürnberg  „Die  evangelische  Judenmissiom'  Hof  * 
1847  und  neue  Ausgabe  Halle  1857  gefunden.  Mehr  als  eine 
Anweisung  für  künftige  Arbeiten  kann  jedoch  diese  Schrift  nicht 
genannt  werden.  Ganz  skizzenhaft  ist  die  „Evangelische  Mission 
unter  Israel"  des  Missionar  J.  A.  Hausmeister  zu  Strassburg, 
zuerst  1834  herausgegeben  und  nach  seinem  Tode  in  neuer 
Auflage  von  D.  E.  Fink,  Basel  1861.  Das  Handbuch  der  Mis- 
sionsgeschichte von  Pf.  Blumhardt,  3.  Aufl.,  Calw  1S63,  ent- 
hält einen  ganz  kurzen  Ueberblick  über  die  bedeutendsten  Er- 
eignisse auf  dem  Gebiete  der  Judenmission,  will  aber  auch  nur 
die  Dienste  eines  Auszuges  leisten.  Zur  ersten  Orientirung  auf 
dem  Gebiete  hilft  ein  Artikel  des  Dr.  G.  F.  He  mann  in  Basel 
über  die  Mission  unter  den  Juden  in  der  2.  Aufl.  von  Herzogs 
Real-Encyclopädie  18S2,   10,   102  ff. 

Weitaus  die  bedeutendste  Leistung  aber  ist  die  Schrift  des 
Dr.  Chr.  K.  Kaikar  in  Kopenhagen,  die  unter  dem  Titel  „Mio- 
sionen iblandt  Jöderne"  1868  in  Kopenhagen  dänisch  erschienen 
ist  und  dann  unter  dem  Titel  „Israel  und  die  Kirche"  eine 
deutsche  Uebersetzung  durch  AI.  Michelsen,  1869,  Hamburg, 
erfahren  hat.  Diesem  seinem  Buche  hat  Dr.  Kaikar  in  der 
2.  Aufl.,  die  bisher  nur  dänisch  vorliegt,  den  Titel  „Israel  og 
Kerken",  Kopenhagen  1SS1,  gegeben.  Die  zweite  Auflage,  welche 
im  Folgenden  immer  citirt  sein  wird,  hat  fast -den  doppelten 
Umfang  der  ersten  und  ist  in  jeder  Beziehung  eine  wesentliche 


_     6     — 

Verbesserung  der  früheren.  In  der  neuen  Auflage  geht  Dr.  Kai- 
kar besonders  ausführlich  auf  die  religiösen  Zustände  der  heu- 
tigen Juden  ein  und  zeichnet  damit  den  Untergrund,  auf  dem 
das  Missionswerk  geschieht.  Sein  Hauptaugenmerk  ist  sonst  auf 
die  einzelnen  Proselyten,  welche  besondere  Erwähnung  verdienen, 
gerichtet,  und  verfolgt  er  die  Missionsarbeit  besonders  nach  dieser 
Richtung  hin.  Er  hat  aber  auch  das  Verdienst,  die  ungemeinen 
Schwierigkeiten,  welche  schon  der  blossen  Beschaffung  des  Ma- 
terials im  Wege  standen,  nicht  gescheut  und  vieles  gesammelt 
zu  haben,  was  vor  ihm  völlig  zerstreut  und  unbekannt  war.  Er 
zuerst  auch  hat  auf  die  wichtigsten  der  zu  benutzenden  Quellen 
hingewiesen.  Seine  Arbeit  gilt  der  gesammten  christlichen  Juden- 
mission und  nicht  der  evangelischen  allein  und  ist  in  allen  ihren 
Theilen  mit  Nüchternheit  und  Gerechtigkeit  geschrieben. 

Der  Geist ,  welcher  in  seinem  Buche  weht ,  verdient  aber 
doppelte  Anerkennung,  weil  der  Verfasser  selbst  Proselyt  ist  und 
die  Gefahren,  denen  viele  Schriftsteller,  die  Proselyten  sind,  erlegen 
sind,  durchaus  vermieden  hat.  Vielen  getauften  Juden,  besonders 
der  vorigen  Jahrhunderte,  fehlt  es  an  der  herzlichen  Theilnahme  für 
ihre  Volksgenossen,  während  nicht  wenige  in  diesem  Jahrhundert 
eine  überaus  bedenkliche  Verherrlichung  ihres  Stammes  treiben. 
Bei  Kaikar  hingegen  verbinden  sich  Gerechtigkeit  und  Liebe, 
die  grösste  Wahrhaftigkeit  und  hoher  christlicher  Ernst  mit 
einander,  so  dass  seine  Geschichtsdarstellung  nirgends  tendentiös 
gefärbt  ist. 

1S71  erschien  eine  „Kurze  Geschichte  der  Lutherischen 
Mission"  in  Vorträgen  von  Prof.  G.  Plitt  in  Erlangen.  Vortrag 
2,  10  und  18  beschäftigen  sich  mit  der  lutherischen  Judenmission 
und  behandeln  dieselbe  bis  zum  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts. 
Der  Werth  dieser  Schrift  besteht  darin,  dass  sie  zum  rechten 
Verständniss  der  lutherischen  Missionsarbeit  der  früheren  Zeit 
führt;  auf  Vollständigkeit  erhebt  sie  keinen  Anspruch. 

Die  von  Pastor  R.  Härting  zuerst  herausgegebenen  „Blätter 
für  Mission",  Leipzig  (J.  Klinkhardt),  enthalten  seit  1870  auch 
Beiträge  zur  Geschichte  der  gesammten  evangelischen  Juden- 
mission. Manches  Brauchbare  findet  sich  ferner  in  „Israel  and  the 
Gentiles"  von  Isaak  da  Costa,  London  1850;  nur  weniges, 
das  hierher  gehört,  enthält  Mi  Im  an,  History  of  the  Jews,  Lon- 
don  1863. 


—     7 

Für  verschiedene  Partieen  aus  dem  gesammten  Gebiete  der 
evangelischen  Missionsgeschichte  findet  man  werthvolle  Beiträge 
in  einigen  Missionszeitschriften,  wenngleich  mehrere  derselben 
zu  unkritisch  verfahren,  als  dass  man  sie  ohne  weiteres  als 
Quellen  benutzen  könnte.  Auf  dieselben  wird  später  zurück- 
zukommen sein. 

Viel  treffliches  Material  bietet  die  Vierteljahrsschrift  von 
Prof.  D.  Delitzsch  „Saat  auf  Hoffnung"  seit  1863,  zuerst  in 
Leipzig  und  dann  in  Erlangen  erschienen  (Deichert).  Ebenso 
findet  sich  nicht  weniges  in  „Dibre  Emeth"  oder  „Stimmen  der 
Wahrheit"  von  J.  C.  Hartmann  seit  1 845  herausgegeben,  später 
von  J.  F.  A.  de  le  Roi,  Breslau  (Dülfer).  Beiträge  zur  all- 
gemeinen Missionsgeschichte  liefern  endlich  sonst  die  Zeitschriften: 
The  Jewish  Expositor,  Missionsblatt  der  Londoner  Gesellschaft 
für  Israel,  18 16 — 1831,  an  dessen  Stelle  The  Jewish  Intelligence, 
London,  traten.  Der  Friedensbote  von  P.  Schwarz,  Berlin,  seit 
1863,  Blatt  der  Berliner  Missionsgesellschaft,  sodann  das  Missions-v 
blatt  des  Rheinisch- Westfälischen  Vereins  für  Israel,  Barmen,  seit 
1843,  und  die  Vierteljahrszeitschrift  von  R.  Vormbaum  „Die 
Mission  unter  Israel",  1863 — 1875,  Cöln  sind  gleichfalls  zu  erwähnen. 

2.    Die   Entwickelungsstufen   in   den   Missions- 
beziehungen der  evangelischen  Christenheit 
zu  den  Juden. 

Ueberblicken  wir  das  gesammte  religiöse  Verhältniss  zwi- 
schen der  evangelischen  Christenheit  und  den  Juden,  so  lassen 
sich  hinsichtlich  desselben  zwei  Perioden,  eine  ältere  und  eine 
neuere,  unterscheiden.  Die  ältere  können  wir  als  die  der  Herr- 
schaft der  christlichen  Lebensanschauung  unter  den  evangelischen 
Völkern  bezeichnen,  die  neuere  als  die  des  Zwiespalts  der  christ- 
lichen Lebensanschauung  unter  denselben.  Durch  scharfe  Grenzen 
sind  dieselben  freilich  von  einander  nicht  geschieden,  sondern 
•  sie  gehen  nur  allmählig  und  im  Kampfe  verschiedener  Richtungen 
in  einander  über.  Eben  dasselbe  gilt  auch  für  die  einzelnen 
Abschnitte,  welche  uns  in  einem  jeden  der  beiden  Zeiträume 
entgegentreten.  Solche  Zeiträume  sind  nichts  desto  weniger 
thatsächlich  vorhanden  und  werden  durch  die  Herrschaft  der  in 
ihnen  an  erster  Stelle  bestimmenden  geistigen  Anschauungen  und 
Mächte  gebildet. 


—    s    — 

Der  vorliegende  Band  nun  handelt 

Von    den    Missionsbeziehungen    der   evangelischen 
Christenheit  zu   den  Juden   unter  der  Herrschaft  der 
christlichen  Lebensanschauung.     Vom  Beginn  der  Re- 
formation bis  zur  Mitte  des   18.  Jahrhunderts. 
Innerhalb  dieses  Zeitraumes  unterscheiden  wir 

I.  Die  reformatorische  Anfangszeit,  vom  Beginn  der 

Reformation  bis  zur  Mitte  des  1 6.  Jahrhunderts. 
II.  Die  Zeit  der  gelehrten  Beziehungen  zu  den  Juden, 
von  der  Mitte  des  1 6.  bis  zum  Ende  des  1 7.  Jahr- 
hunderts. 
III.  Die  Zeit  des  Vorherrschens  innerer  Beziehungen 
zu  den  Juden,  die  erste  Hälfte  des  18.  Jahrhun- 
derts. 


I. 

Die  reformatorische  Anfangszeit. 

Vom  Beginn  der  Reformation  bis  zur  Mitte  des  1 6.  Jahr- 
hunderts. 

i.  Zustände  unter  den  Juden  im  Anfange  der 
Reformation. 

Die  Reformation  fand  die  Juden  nicht  mehr  in  allen  den 
Wohnsitzen  vor,  welche  sie  im  früheren  Mittelalter  eingenommen 
hatten.  Viele  Staaten  hatten  sie  inzwischen  aus  ihren  Gebieten 
vertrieben. 

In  Spanien  und  Portugal  lebten  nur  noch  jene  Juden,  welche, 
der  Verbannung  zu  entgehen,  sich  hatten  taufen  lassen,  die  aber 
als  Neuchristen  der  Kirche  verdächtig  waren,  und  von  denen  in  der 
That  auch  viele  im  Geheimen  weiter  am  Judenthum  festhielten. 

Frankreich  duldete  Juden  nur  in  einzelnen  Städten,  wie 
Toulouse  und  Marseille,  und  in  den  Landestheilen,  welche  der 
französischen  Krone  nicht  unmittelbar  unterworfen  waren,  wie  in 
der  Dauphine  und  Arelat ;  ebenso  waren  dieselben  in  den  päpst- 
lichen Gebieten  von  Avignon  gelitten. 

Ganz  Italien  gewährte  ihnen  den  Aufenthalt,  ausser  dem 
neapolitanischen  Gebiet  und  der  Lombardei.  In  Rom,  Venedig, 
Modena,  Toscana,  Parma,  Genua,  Piemont  und  Savoyen  waren 
sie  theilweise  ziemlich  zahlreich  angesiedelt.  Aus  der  eigentlichen 
Schweiz  waren  sie  vertrieben. 

Deutschland  barg  eine  bedeutende  Anzahl  von  Juden.  Doch 
gab  es  eine  grosse  Reihe  von  Landschaften,  Fürstenthümern, 
Grafschaften  und  einzelnen  Städten,  welche  ihnen  die  Nieder- 
lassung; in  ihrer  Mitte  verweigerten. 


—       10      — 

England,  Holland,  Schweden,  Norwegen  und  Dänemark 
duldeten  sie  nicht,  ebenso  nicht  das  eigentliche  Russland.  In 
Oesterreich-Ungarn  durften  sie  nicht  überall  wohnen,  waren  aber 
hierselbst  sehr  stark  vertreten.  Kein  Land  jedoch  zählte  so  viele 
Juden  als  das  Königreich  Polen,  wohin  sich  der  Hauptstrom  der 
aus  Deutschland  vertriebenen  Juden  gewandt  hatte. 

Die  Türkei  Hess  dieselben  in  ihren  Gebieten  wohnen,  und 
viele  der  aus  Spanien,  Portugal  und  Italien  Verbannten  siedelten 
sich  in  den  Ländern  des  Sultans  an.  Von  den  letzteren  hatten 
sich  grosse  Schaaren  an  der  Nordküste  Afrikas  niedergelassen. 
L'eberall  in  Nordafrika  bis  nach  Aegypten  hin  traf  man  Juden  an, 
in  Abessinien  waren  die  Falaschas  von  alter  Zeit  her  sesshaft. 
Die  Asiatische  Türkei  und  Jerusalem  bargen  gleichfalls  eine 
Anzahl  derselben.  Auch  in  Persien  und  Arabien  kamen  sie  vor, 
und  zerstreut  in  den  asiatischen  Chanaten,  ja  selbst  in  China 
und  Ostindien,  welches  letztere  schwarze  und  weisse  Juden  besass, 
während  einzelne  nun  auch  nach  Amerika  überzusiedeln  begannen. 

In  den  eigentlichen  Heidenländern  verkümmerten  die  Juden 
vollständig.  Unter  den  Muhammedanern  Asiens  und  Afrikas  lebten 
sie  in  grosser  Erniedrigung  und  auch  in  der  Türkei  waren  sie 
im  Allgemeinen  noch  verachteter  als  die  Christen.  Ueberall  hier 
blieben  sie  von  der  übrigen  Bevölkerung  streng  abgeschieden, 
und  das  Gleiche  war  in  den  christlichen  Ländern  der  Fall. 

Dass  es  selbst  zwischen  den  christlichen  Völkern,  welche 
damals  noch  ganz  allgemein  das  Christenthum  als  die  Grund- 
lage ihres  gesammten  Lebens  anerkannten,  und  den  Juden  nicht 
zu  einer  näheren  politischen  Verbindung  kam,  ist  erklärlich.  Denn 
die  Juden  bildeten,  obwohl  inmitten  der  Christen  wohnend,  über- 
all doch  eine  religiöse,  sociale  und  nationale  Besonderheit ;  und 
das  war  das  unvermeidliche  Ergebniss  dessen,  dass  beide  bis  in 
die  tiefste  Wurzel  ihres  Wesens  von  einander  verschieden  waren. 
Die  christlichen  Völker  waren  sich  dieser  Thatsache  eben  so 
sehr  bewusst,  als  die  Juden  ;  denn  auch  die  letzteren  erkannten 
es  damals  ganz  überwiegend  an,  dass  die  Grundverschiedenheit 
beider  Theile,  trotz  ihres  Zusammenwohnens,  kein  einheitliches 
Nationalleben  möglich  mache. 

Die  Versuche  in  Portugal  und  Spanien,  ein  gemeinsames 
Nationalleben  herbeizuführen,  waren  aufs  Furchtbarste  geschei- 
tert, und  die  mit  der  Reformation  beginnende  neue  Zeit  liess 
sich,  wenigstens  früher,  dies  gesagt  sein. 


—     II     — 

Gastweise  also  nur  lebten  und  wollten  zumeist  die  Juden 
der  Zerstreuung  unter  den  christlichen  Völkern  leben.  Sie  er- 
flehten es  in  ihren  Gottesdiensten  fortwährend,  dass  es  ihnen  noch 
in  ihren  Tagen  gewährt  werden  möge,  nach  Jerusalem  zurück- 
zukehren, und  riefen  am  Neujahrstage  geradeswegs  einander  zu : 
„nächstes  Jahr  in  Jerusalem!"  Unrein  war  nach  ihrer  Ueberzeu- 
gung  ihre  ganze  Umgebung,  und  die  Völker  als  solche  waren 
jedesfalls,  wie  es  Dr.  F.  Weber  in  seinem  System  der  altsyna- 
gogalen  Palästinensischen  Theologie  nachgewiesen  hat,  in  ihren 
Augen  Empörer  gegen  den  einzig  wahren  Gott,  den  Gott  des 
Volkes  Israel,  der  jene  denn  auch  in  der  künftigen  Zeit  durch 
den  Messias  seinem  Volke  Israel  unterwerfen  werde  (§§  17 — 19, 
S.  61   ff.). 

Dabei  brachte  die  Juden  ihre  so  lange  anhaltende  Ver- 
bannung durchaus  nicht  zur  Selbsterkenntniss,  sondern  steigerte 
in  ihnen  nur  den  Sinn  der  Selbstgerechtigkeit;  und  sie  wurden, 
je  mehr  sich  das  Christenthum  befestigte  und  ausbreitete,  durch- 
aus nicht  milder,  sondern  der  Regel  nach  nur  feindseliger  in 
ihrer  Stellung  zu  demselben.  Die  innere  Spannung  wuchs  mit 
der  Länge  der  Zeit  anstatt  abzunehmen.  Machten  sie  doch  im 
Allgemeinen  nicht  einmal  einen  Unterschied  zwischen  Christen- 
thum und  Heidenthum,  und  der  Uebertritt  eines  der  Ihrigen  zur 
christlichen  Kirche  erschien  ihnen  geradeswegs  als  ein  Abfall 
zum  Götzendienst. 

Ueberdem  bekämpfte  eine  grosse  Anzahl  meist  namenloser 
Schriften  das  Christenthum,  und  das  oft  in  der  bittersten  und 
schnödesten  Weise.  Schriften  wie  das  Xizzachon  des  Rabbi 
Lippmann,  Mühlhausen,  aus  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts, 
herausgegeben  von  Hackspan  1644,  und  die  schon  von  Luther 
erwähnten  Tholedoth  Jeschu,  welche  das  Leben  Jesu  in  unnathig- 
ster  Weise  darstellen,  wurden  von  den  Juden  begierig  gelesen 
und  erweiterten   die   schon   bestehende  Kluft  noch  immer  mehr. 

So  hatte  denn  auch  das  gesammte  religiöse,  nationale  und 
geistige  Leben  der  Völker,  mochten  dieselben  Heiden,  Muham- 
medaner  oder  Christen  sein,  für  die  Juden  einen  ihnen  durchaus 
fremden  Inhalt ;  und  thätige  Betheiligung  an  demselben  erschien 
den  allermeisten  unter  ihnen  zum  Mindesten  als  etwas,  das  ausser- 
halb ihres  Gesichtskreises  läge.  Was  ihre  Umgebung  an  reli- 
giösen, staatlichen,  geistigen  und  gesellschaftlichen  Gedanken,  an 
innerster  Freude  und   innerstem  Leide  bewegte,  blieb  ihrem  Her- 


zen,  Geist  und  Gemüth  fremd.  Nur  soweit  es  der  Verkehr  mit 
jenen  unbedingt  forderte,  gingen  sie  auf  das  Leben  derselben  ein ; 
aber  selbst  wenn  sie  der  Notwendigkeit  gehorchten,  die  Sprache 
der  andern  zu  sprechen,  verwandelten  sie  dieselbe  gern  in  einen 
ihnen  allein  eigenthümlichen  Dialekt.  Eine  Beschäftigung  der 
Ihrigen  mit  dem,  was  das  geistige  Leben  der  Völker  ausmachte, 
wurde  je  länger  je  mehr  von  den  andern  Juden  mit  dem  geheimen 
Verdachte  angesehen,  dass  ein  Abfall  vom  Glauben  beabsichtigt 
werde.  Das  Loos,  welches  die  Juden  der  pyrenäischen  Halbinsel 
getroffen  hatte,  die  im  Gegensatze  zu  ihren  übrigen  Volksgenossen 
die  wissenschaftlichen  Bestrebungen  der  dortigen  Christen  und 
Muhammedaner  zu  den  ihrigen  gemacht  hatten  und  auch  sonst 
mit  denselben  in  die  engste  Verbindung  getreten  waren,  während 
sie  doch  an  allen  jüdischen  Gebräuchen  durchaus  festhielten  und 
sich  mit  ihren  Nachbarn  durchaus  nicht  ehelich  vermischten, 
schreckte  nun  die  Judenschaft  aller  Orten  doppelt  ab,  dieselbe 
gefährliche  Bahn  zu  betreten.  Ja  gerade  jetzt  begann  jene  Periode, 
wo  sich  die  Juden  noch  strenger  als  jemals  vorher  gegen  jeden 
nichtjüdischen  Einfluss  abschlössen,  und  wo  das  Ansehen  der 
polnischen  Rabbinen,  welche  die  Meister  in  der  Kunst  ihr  Volk 
zu  isoliren  waren,  eine  erdrückende  Gewalt  fast  über  die  ge- 
sammte  europäische  Judenschaft  ausübte. 

Der  Grundsatz  kam  jetzt  zu  fast  allgemeiner  Geltung,  dass 
Israel  ein  Volk  sei,  welches  ausschliesslich  den  zahllosen  Be- 
stimmungen, die  sein  Gesetzbuch,  der  Talmud  und  dessen  rabbi- 
nische  Ausleger,  aufgestellt  hatten,  zu  leben  habe.  Die  Ausübung 
dieses  Gesetzes  sollte  den  eigentlichen  Inhalt  ihres  Daseins  aus- 
machen. Und  da  eben  dasselbe  alles  und  jedes,  Materielles  wie 
Geistiges,  Aeusseres  und  Inneres  bis  in  das  Kleinste  hinein  unter 
seine  Anordnungen  stellt,  so  nahm  es  auch  thatsächlich  alles 
Denken,  ja  fast  jeden  Odemzug  des  Israeliten  für  sich  in  An- 
spruch. Gerade  jetzt  beherrschte  dieses  Gesetz  die  Gemüther 
mit  unbedingter  Autorität  und  war  der  Stolz  des  gesammten 
jüdischen  Stammes. 

Die  Folge  dessen  war,  dass  immerhin  das  jüdische  Leben 
einen  geistigen  Inhalt  erhielt  und  nicht  in  rohe  Barbarei  ver- 
sinken  konnte.  Es  war  mit  religiösen  Gedanken  ganz  erfüllt ; 
und  da  die  Synagoge  den  Zusammenhang  mit  dem  Alten 
Testamente  wenigstens  äusserlich  bewahrte,  so  konnte  es  nicht 
anders  geschehen,  als  dass  sich  auch  manche  schöne  Wirkungen 


—     13     — 

hiervon  überall  im  jüdischen  Leben  zeigten.  Das  Gefühl  für  die 
Grösse  und  Erhabenheit  Gottes  blieb  den  Gemüthern  tief  ein- 
geprägt. Das  Bewusstsein,  dass  der  menschliche  Wille  unter 
dem  göttlichen  stehe,  war  in  vielen  Juden  ein  sehr  lebendiges,  und 
manche  jüdische  Tugend,  wie  die  Stammes-  und  Verwandtenliebe, 
die  Keuschheit  im  ehelichen  Leben,  der  Wohlthätigkeitssinn  und 
die  Massigkeit  waren  Früchte,  welche  aus  dem  Samen  des  gött- 
lichen Wortes,  der  doch  auch  noch  immer  unter  ihnen  ausge- 
streut wurde,  erwuchsen. 

Nur  dass  eben  der  unaufhörlich  noch  viel  reichlicher  aus- 
gestreute Unkrautsame  der  eigenen  Weisheit  und  des  eigenen 
Willens  dem  Gewissens-,  Herzens-  und  Geistesboden  die  besten 
Kräfte  raubte,  und  auch  die  edelsten  Pflanzen  daher  verkümmer- 
ten. Das  ist  die  unheilvolle  Bedeutung  des  Talmud  und  des 
Rabbinismus  für  die  Juden,  und  die  Tyrannei  desselben  hat  ihr 
gesammtes  Leben  verunstaltet.  Sie  fühlten  dies  zu  Zeiten  auch 
wohl  selbst,  aber  konnten  die  Stricke  desselben  nicht  zerreissen, 
da  sie  den  besseren  Ersatz  der  rabbinischen  Religion  nicht  an- 
nehmen wollten.  Sie  wollten  ein  religiöses  Volk  sein,  und  da 
sie  das  nicht  auf  den  Wegen  der  Propheten  und  Apostel  wer- 
den mochten,  haben  sie  mit  einer  Pünktlichkeit  und  Aengstlich- 
keit  wie,  von  der  Periode  des  Anfangs  abgesehen,  sonst  nie  die 
talmudischen  Satzungen  beobachtet. 

Hinter  den  Talmudmauern  führten  sie,  für  sich  abgeschlos- 
sen, ihr  ganzes  Leben;  nur  denselben  Boden  theilten  sie  mit  den 
Völkern,  unter  welche  sie  zerstreut  waren,  und  nur  die  gleiche 
Luft  athmeten  sie  mit  ihnen ;  sonst  waren  sie  daselbst  Fremde, 
für  die  es  keine  Brücke  zu  ihrer  Umgebung  hin  gab.  Die  Völker 
aber  waren  die  Herren  eines  jeden  Landes,  das  Juden  in  sich 
barg,  und  sie  Hessen  die  Juden  dies  oft  hart  und  schmählich 
genug  fühlen.  Die  Juden  hingegen  sahen  auf  ihre  Gebieter  mit 
unendlicher  Verachtung  herab  und  trugen,  wo  jedes  innere  Band 
fehlte,  zum  Schaden  für  beide  Theile,  nur  ein  lebhaftes  Verlangen 
nach  den  Gütern  der  Völker. 

Die  Ueberzeugung  der  Nationen ,  dass  sie  ihr  gesammtes 
Leben  als  ein  christliches  führen  müssten,  trat  nicht  minder 
jedem  Versuche,  eine  wirkliche  Gemeinschaft  zwischen  beiden 
Theilen  herzustellen,  entgegen.  Nur  wenn  sie  ihren  höchsten 
Gedanken,  an  ihrer  Stelle  und  mit  ihrem  nationalen  Leben  das 
Reich  Gottes    erbauen    helfen    zu    müssen,    aufopferten,   konnten 


—     14     — 

sie  den  Juden  das  allgemeine  gleiche  Staatsbürgerrecht  gewähren. 
Hiergegen  aber  sträubte  sich  ihr  innerstes  Denken  und  Fühlen. 
Und  sie  hatten  mit  dem  Grundsatze  ganz  recht,  dass  für  die 
Juden,  unter  denen  eine  bis  in  die  letzten  Wurzeln  herab  ver- 
schiedene Lebensauffassung  herrschte,  auch  eine  andere  Lebens- 
ordnung als  für  die  christlichen  Nationen  gelten  müsse.  Sie 
fehlten  darin  durchaus  nicht,  dass  sie  das  Besondere  und  Anders- 
geartete auch  als  Besonderes  und  Anderes  behandeln  wollten, 
sondern  ihr  Fehler  war  es  vielmehr,  dass  sie  das  Verhältniss  zu 
den  Juden  in  einer  Weise  gestalteten,  welche  dem  christlichen 
Lebensgesetze  widersprach. 

Die  höchste  Anerkennung  verdient  es,  dass  die  christlichen 
Völker  die  Schuld,  welche  die  Juden  mit  ihrem  Verharren  bei 
der  durch  ihre  Väter  geschehenen  Verwerfung  Christi  auf  sich 
luden,  wahr  und  tief  empfanden  und  erkannten ;  aber  dem  Evan- 
gelium folgten  sie  damit  nicht,  dass  sie  ganz  überwiegend  bei 
dem  Gedanken  des  Gerichtes,  welches  auf  dem  Volke  liegt, 
stehen  blieben,  und  die  Erbarmung  gar  zu  wenig  in  sich  wecken 
liessen,  die  doch  bei  Gott  für  das  jüdische  Volk  fortbesteht,  und 
die  nach  seinem  Willen  und  Beispiele  auch  von  den  christlichen 
Gemeinschaften  geübt  werden  soll. 

In  Deutschland  zog  ausserdem  die  eigenthümliche  Vorstel- 
lung von  der  Kammerknechtschaft  der  Juden  ihre  besonderen 
Folgen.  Die  Kaiser  des  heiligen  Römischen  Reiches  deutscher 
Nation  betrachteten  sich  als  die  Nachfolger  der  römischen  Cä- 
saren. Die  Juden  aber ,  so  war  die  Vorstellung,  seien  in  den 
Tagen  des  Titus  dem  Kaiser  verfallen,  und  dieser  habe  sie,  als 
er  sie  aus  Gnaden  leben  Hess,  für  alle  Zeiten  mit  ihren  Nach- 
kommen zu  seinen  Knechten  gemacht.  Da  sie  seitdem  mithin 
sein  Eigenthum  seien,  so  könne  er  und  können  seine  Rechts- 
nachfolger mit  den  Juden  thun,  was  ihnen  beliebe.  Niemand 
sonst  habe  ein  Recht  über  die  Juden  als  der  Kaiser,  und  Juden 
zu  halten  sei  ein  Privilegium,  das  allein  von  diesem  Herrscher 
erworben  werden  könne,  durch  Karl  IV.  aber  1349  allerdings 
an  viele  der  staatlichen  Gemeinwesen  des  Reiches  übertragen 
worden  sei. 

Bei  dieser  Auffassung  ihrer  Stellung  fanden  die  Juden  nun 
freilich  ihren  Schutz  an  dem  Kaiser  und  den  Obrigkeiten,  welche 
das  Judenprivilegium  besassen ,  anderseits  aber  war  diese  Vor- 
stellung eine  überaus  bedenkliche;  denn  die  Juden  standen  so  vor 


—     15     — 

den  Augen  der  Regierenden  und  Regierten  als  dem  Rechte  nach 
verurtheilte  Verbrecher  da,  welche  man  im  Wesentlichen  nur  aus 
Rücksichten  äusseren  Vortheils  leben  Hess,  und  die  man  haupt- 
sächlich als  eine  ergiebige  Einnahmequelle  betrachtete.  Der  Er- 
kenntniss,  dass  man  den  Juden  gegenüber  eine  tiefer  begründete 
Pflicht  habe,  trat  das  Verhältniss  der  Kammerknechtschaft  in 
den  Zeiten  vor  der  Reformation  immer  wieder  störend  entgegen. 

Für  die  Kirche  allerdings  bestand  diese  Vorstellung  nicht, 
sondern  dieselbe  erkannte  in  den  Juden  Ungläubige,  die  aber, 
so  unentschuldbar  auch  ihre  Verstockung  und  ihr  Trotz  seien, 
von  der  Erlangung  des  Heiles  nicht  ausgeschlossen  bleiben  soll- 
ten. Die  römische  Kirche  lehrte  überdem  eine  endliche  Bekeh- 
rung der  Juden.  Und  der  Einfluss  der  Kirche  Hess  in  den  christ- 
lichen Völkern  das  Bewusstsein  nicht  völlig  ersterben,  dass  ihnen 
auch  in  den  Juden  Menschen  gegenüberstünden,  die  zu  Höherem 
berufen  wären,  und  dass  eben  desshalb  ein  besseres  Loos  für  sie 
zu  erstreben  sei.  Aber  die  mittelalterliche  Kirche  that  im  All- 
gemeinen überaus  wenig  dafür,  dass  dieser  besseren  Erkenntniss 
eine  praktische  Folge  im  Leben  gegeben  würde. 

Wohl  hatten  die  Päpste  und  manche  edle  Priester,  wie 
z.  B.  Bernhard  von  Clairveaux  des  Oefteren  ihre  Stimme 
erhoben,  wenn  jene  entsetzlichen  Judenverfolgungen  ausbrachen, 
oder  die  Juden  mit  Gewalt  zum  Christenthum  bekehrt  werden 
sollten.  Man  hatte  zu  Zeiten  auch,  wie  in  England,  Spanien  und 
Süd-Frankreich,  besonders  aber  unter  den  Dominikanern,  die 
Juden  mit  Waffen  des  Geistes  zu  überwinden  gesucht;  aber  eine 
anhaltende  Arbeit  zum  Heile  der  Juden  hat  die  gesammte  Kirche 
des  Mittelalters  nicht  gethan,  die  römische  wie  die  griechische 
Kirche  haben  hier  vielmehr  ihre  Pflicht  gröblich  vernachlässigt. 

So  gestaltete  sich  die  Stellung  zu  den  Juden  haupt- 
sächlich nach  den  Erfahrungen  des  alltäglichen  und  natür- 
lichen Lebens.  Das  Gefühl  der  bestehenden  Trennung  behielt 
völlig  die  Oberhand  und  Hess  es  nicht  dazu  kommen,  dass  man 
eine  ernste  Arbeit  für  die  Besserung  des  ganzen  Verhältnisses 
zu  den  Juden  aufgenommen  hätte.  Immer  mehr  war  man  damit 
zufrieden,  gegen  den  schädlichen  Einfluss  der  Juden  Repressiv- 
massregeln zu  ergreifen  oder  sie,  wenn  man  sich  nicht  anders 
zu  helfen  wusste,  ganz  zu  vertreiben;  im  Uebrigen  aber  überliess 
man  sie  sich  selbst. 


—     16     — 

Das  Verhältniss  der  christlichen  Völker  und  der  Kirche 
des  Mittelalters  zu  den  Juden  war  schliesslich  in  der  Hauptsache 
ein  rein  negatives,  und  in  beiden  erlosch  immer  mehr  der  Trieb, 
ein  positives  Ziel  an  denselben  erreichen  zu  wollen.  Selbst  die 
Versuche  hierzu  wurden  für  gewöhnlich  bald  wieder  aufgegeben, 
und  der  leitende  Gesichtspunkt  war  im  Grunde  vielmehr  der, 
dafür  zu  sorgen,  dass  dieses  schädliche  Glied  für  die  menschliche 
Gesellschaft  möglichst  unschädlich  gemacht  würde. 

Hierin  etwas  zu  erreichen,  war  aber  um  so  schwerer,  als 
die  Juden  der  Regel  nach  die  grosse  Masse  der  Christen  des 
Mittelalters  an  Ausbildung  der  geistigen  Fähigkeiten  weit  über- 
ragten. Das  Studium  des  Talmud  brachte  den  Juden  zwar  ein 
durchaus  einseitiges  Wissen  und  führte  sie  aus  der  Geisteswelt 
ihrer  Umgebung  völlig  heraus,  aber  es  forderte  doch  von  einem 
jeden,  der  sich  mit  demselben  beschäftigte,  eine  ungemeine  An- 
spannung seiner  Geisteskräfte.  Und  so  hatten  es  denn  die 
christlichen  Volksmengen  in  ihrem  Kampfe  mit  den  Juden  der 
Regel  nach  mit  Widersachern  zu  thun,  die  ihnen  an  Geistes- 
gewandtheit überlegen  waren. 

Es  nützte  desshalb  auch  nichts,  wenn  man  immer  erfinde- 
rischer in  Massregeln  wurde,  welche  den  jüdischen  Einfluss  ein- 
dämmen sollten.  Dieselben  hatten  allein  die  Folge,  dass  die  Juden 
desto  schlauer  zu  Werke  gingen,  und  sich  ein  Verhältniss  zwi- 
schen beiden  Theilen  ausbildete,  welches  nur  ein  fortdauernder 
Kriegszustand  genannt  werden  kann.  Die  Sache  stellte  sich  für 
die  grosse  Masse  der  christlichen  Bevölkerung  aber  um  so 
schlimmer,  als  es  die  Juden  nur  zu  oft  verstanden,  die  Macht- 
haber und  Obrigkeiten  durch  den  Einfluss  ihres  Geldes  auf  ihre 
Seite  zu  bringen. 

Das  Uebel  wurde  überdem  dadurch  noch  besonders  ver- 
mehrt, dass  man  die  Juden  auf  ihren  falschen  Bahnen  immer 
weiter  vorwärts  drängte.  Freilich  das  sociale  Denken  und  Stre- 
ben der  Juden  war  schon  lange  ein  durchaus  krankhaftes  ge- 
wesen und  ist  es  nicht  erst  durch  eine  falsche  Behandlung  seitens 
ihrer  Umgebung  geworden.  Die  Missgestaltung  des  wirtschaft- 
lichen Lebens  der  Juden  unter  den  Muhammedanern,  Slaven  und 
Magyaren,  welche  die  grösste  Zahl  aller  Juden  unter  sich  auf- 
genommen haben  und  die  ihnen  alle  wirtschaftliche  Freiheit 
Hessen,  hat  dies  deutlich   genug   gezeigt.     Auch   in  Deutschland 


haben  die  Juden  bis  zu  den  Kreuzzügen  durchaus  nicht  sociale 
Beschränkungen  wie  hernach  in  der  Wahl  ihres  Berufes  erfahren, 
aber  hier  wie  im  Römer-Reiche  sich  trotzdem  ganz  überwiegend 
schon  damals  dem  Handel  zugewandt.  Nur  nothgedrungen,  oder 
so  lange  ihnen  das  Halten  nichtjüdischer  Sklaven  gestattet  war, 
trieben  sie  Ackerbau  und  Handwerke.  Es  fehlte  ihnen  an  innerer 
Ruhe  und  Lust  zu  diesen  einfacheren  Berufsarten,  und  die  Hand- 
werke zumal  wurden  als  Beschäftigungen  angesehen,  die  sich 
eigentlich  für  die  Glieder  des  Gottesvolkes  nicht  ziemten  und 
die  vielmehr  die  Völker  für  sie  zu  verrichten  hätten. 

Aber  statt  nun  durch  die  Zucht  einer  heilsamen  und  ernsten 
Gesetzgebung  diesen  ungesunden  Zuständen  unter  den  Juden 
entgegenzutreten,  Hessen  die  Völker  die  Juden  in  ihrer  Mitte 
entweder  gewähren  oder  verfestigten  sie  noch  in  ihrer  falschen 
Lebensrichtung.  In  Spanien  hatte  man  sich  dieselben  so  über 
den  Kopf  wachsen  lassen,  dass  ihnen  fast  das  ganze  Land  ver- 
schuldet war,  und  der  Landmann  gewissermassen  nur  noch  als 
Leibeigener  für  sie  den  Boden  bestellte.  Ebenso  ist  das  wirth- 
schaftliche  Elend  der  polnischen  Länder  ganz  besonders  auch 
dadurch  herbeigeführt  worden,  dass  die  von  Natur  mit  sehr  ge- 
ringen wirtschaftlichen  Tugenden  ausgestattete  slavische  Bevöl- 
kerung der  rücksichtslosen  Ausbeutungsgier  der  unter  ihnen 
wohnenden  Juden  preisgegeben  wurde  und  so  allmählig  in  ein 
vollständiges  Siechthum  gerieth.  Andere  christliche  Völker  da- 
gegen, und  besonders  die  deutschen,  zogen  den  Kreis  der  wirth- 
schaftlichen  Thätigkeit  der  Juden  nach  und  nach  immer  enger 
und  verwandelten  sie  in  eine  Kaste,  welche  zuletzt  auf  die  von 
den  Christen  verachteten  Thätigkeiten  des  Trödels,  Geldverleihens 
und  Wuchers  beschränkt  wurde.  Dieses  ebenso  unchristliche 
als  thörichte  Beginnen  konnte  daher  auch  nur  dazu  beitragen, 
die  Juden  selbst  zu  verschlechtern  und  das  Verhältniss  zu  ihrer 
Umgebung  aufs  Unheilvollste  zu  verschlimmern. 

Diejenigen,  welche  sie  nicht  als  eine  Geldquelle  betrach- 
teten, sahen  gemeinhin  auf  sie  mit  Hass  oder  Verachtung  herab. 
Die  besondere  Kleidung,  welche  sie  anfangs  zu  ihrem  Schutze 
tragen  sollten,  wurde  hernach  ein  Mittel  sie  herabzuwürdigen. 
Man  belegte  ihren  Eintritt  in  die  Städte  mit  Zöllen ,  und  die 
Tarife  führten  sie  hierbei  unter  den  Thieren  auf.  Man  gab  sie 
den  Quälereien,  der  körperlichen  und  moralischen  Misshandlung 
von  Hoch  und  Niedrig  preis ;  man  verwandelte  unaufhörlich  ihre 

J.  F.  A.  de  le  Roi,   Missionsbeziehungen.  2 


—     1 8     — 

Steuern,  und  nachdem  man  ihnen  das  abscheuliche  Privilegium 
des  Wuchers  verliehen  hatte,  pressten  ihnen  oft,  wenn  die  Er- 
regung des  Volkes  zu  gross  wurde,  die  Fürsten  das  so  gewon- 
nene  Blutgeld  aus. 

Kein  Wunder,  dass  die  Juden  unter  der  Maske  der  Demuth 
die  Christen  zumeist  hassten  oder  verachteten.  Ein  wirkliches 
Herz  hat  ja  auch  das  Mittelalter  im  Ganzen  und  Grossen  für  die  Ju- 
den nie  gehabt.  Die  Judenfreundschaft  Reuchlins  und  der  Huma- 
nisten überhaupt  am  Ende  des  Mittelalters  war  nur  eine  scheinbare. 
Sie  vertheidigten  gegen  Pfefferkoni  und  seinen  Anhang  zwar  den 
Talmud  und  die  jüdische  Literatur,  aber  aus  einem  rein  selbstsüch- 
tigen literarischen  Interesse.  Die  Juden  selbst  verachteten  sie 
thatsächlich  oder  spielten  sie  nur  gegen  die  Mönche  aus.  Der 
Humanismus  hat  denn  auch  für  das  Wohl  der  Juden  nicht  die  Hand 
gerührt  und  am  Wenigsten   eine  neue  Zeit  für  sie  herbeigeführt. 

Dieser  Mangel  an  einem  positiven  Werke  an  den  Juden 
war  aber  um  so  weniger  entschuldbar,  als  man  es  unter  den 
christlichen  Nationen  vielfach  erkannte,  dass  die  Juden  nicht 
durch  einen  Zufall  unter  ihnen  wohnten,  und  ebenso,  dass  die 
unaufhörlichen  Reibungen  und  Zusammenstösse  mit  denselben 
doch  auch  auf  sehr  ernste  Schäden  in  dem  eigenen  christlichen 
Volksleben  hinwiesen.  Man  hatte  in  der  That  ein  lebhaftes 
Gefühl  dafür,  dass  man  in  den  Juden  ein  warnendes  Beispiel 
des  Ungehorsams  gegen  die  göttliche  Offenbarung  erblicken 
solle,  und  die  Sage  vom  ewigen  Juden  fasste  man  später  in 
diesem  Sinne  auf.  Jenes  Verhängniss,  welches  der  Prophet 
Sacharjah  (8,  13)  im  Voraus  ankündigen  muss,  dass  die  Juden 
der  Zerstreuung  ein  Fluch  unter  den  Nationen  sein  würden, 
erfüllte  sich  ja  auch  nur  zu  sichtbar  überall,  wo  die  Völker  ihren 
christlichen  Lebensgesetzen  untreu  wurden.  Und  in  der  ganzen 
christlichen  Völkerzeit  sind  die  Juden  geradeswegs  eines  der 
vorzüglichsten  Werkzeuge  in  den  Händen  des  heiligen  Gottes 
geworden,  um  besonders  die  hervorragendsten  christlichen  Völker 
und  Staaten,  welche  ihre  Aufgabe  vergassen,  von  Innen  heraus 
auflösen  zu  helfen.  Die  geistige  wie  die  materielle  Zersetzung 
eines  christlichen  Staats-  und  Volkslebens,  das  sich  dem  ihm 
geltenden  Willen  Gottes  entzieht,  vollzieht  sich  in  mehreren  der 
bedeutendsten  Fälle  ganz  besonders  auch  durch  die  Juden.  Das 
Anwachsen  jüdischen  Einflusses  in  einem  christlichen  Volke  ist 
stets  eines  der  sichersten  Anzeichen  für  den  Verfall  seines  Christ- 


—     19     — 

liehen  Volks-  und  Staatswesens.  Spanien  ist  hiefür  in  der  vorrefor- 
matorischen  Zeit  das  schlagendste  Beispiel. 

Wo  dann  aber  diese  Zersetzung  stattfand,  kam  es  nun 
darauf  an,  mit  welchen  Mitteln  ihr  begegnet  wurde.  Dass  z.  B. 
Spanien  die  ihm  in  seinen  Juden  geltende  Frage  fast  lediglich 
mit  ihrer  Vertreibung  beantwortete,  und  dass  es  bei  aller  Er- 
kenntniss  von  dem  Werthe  des  Christenthums  für  sein  nationales 
Leben  viel  zu  wenig  eine  innere  religiöse  Neubelebung  seines 
Volkes  und  in  der  Hauptsache  vielmehr  nur  eine  scharf  aus- 
geprägte und  politisch  gefärbte  Kirchlichkeit  desselben  erstrebt 
hat,  ist  für  das  Land  und  Volk  gleich  verhängnissvoll  geworden. 
Durch  den  Entschluss,  den  es  noch  in  letzter  Stunde  fasste,  ein 
christliches  Land  bleiben  zu  wollen,  ist  Spanien  allerdings  ge- 
rettet worden.  Weil  es  sich  aber  die  eigentliche  Lehre  seiner 
Geschichte  zu  wenig  zur  Frage  nach  seinem  wirklichen,  inneren 
Lebensgehalt  und  zu  einer  Erneuerung  im  Geiste  gereichen  liess, 
vermochte  es  sich  auch  zu  einem  dauerhaften  Lebensaufschwunge 
nicht  zu  erheben  und  verfiel  in  steigendem  Masse  dem  inneren 
Marasmus. 

Das  römisch-  und  griechisch-katholische  Mittelalter  hatte 
also,  um  zu  einem  Gesammturtheile  zu  schreiten,  den  Ernst  und 
die  Tragweite  der  Judenfrage  im  Allgemeinen  wohl  klarer  und 
tiefer  als  unsere  Gegenwart  erfasst,  aber  die  Lösung  derselben 
ganz  überwiegend  nur  auf  negativem  Wege  zu  finden  gesucht. 
Die  Nothwendigkeit,  das  Christenthum  als  die  unersetzbare  Grund- 
lage seines  gesammten  Lebens  festzuhalten,  hatte  es  den  Juden 
gegenüber  bestimmt  erkannt;  dagegen  die  innere  Wahrheit  seines 
christlichen  Lebens  angesichts  der  Erfahrungen  mit  den  Juden 
zu  prüfen,  hatte  es  sich  zu  wenig  angelegen  sein  lassen,  sondern 
diese  Frage  mehr  gewaltsam  bei  Seite  geschoben.  Der  Blick 
der  mittelalterlichen  Kirche  und  des  mittelalterlichen  Staates  haf- 
teten ernst  an  dem  schmerzlichen  Bilde,  das  ihm  die  Juden  boten, 
aber  bei  weitem  nicht  ernst  genug  an  sich  selbst,  und  auf  die 
Weisungen  des  Gotteswortes  hinsichtlich  der  Juden  aeüteten  sie 
noch  weniger;  die  Schrift  trat  eben  überall  hinter  der  Kirchen- 
lehre in  den  Hintergrund. 

So  blieb  denn  in  der  That  hier  fast  noch  alles  zu  thun, 
und  auch  vor  diese  Aufgabe  sahen  sich  die  Kirche  und  der  Staat 
der  Reformation  gestellt.  Sie  hatten  in  den  Juden,  welche  unter 
den  christlichen  Völkern  wohnten,  ein  Erbe  empfangen,  an  dem 


20       — 

durch  christliche  und  jüdische  Schuld  Jahrhunderte  lang  ein- 
gewurzelte Schäden  hafteten.  Was  von  Geschlecht  zu  Geschlecht 
gesündigt  worden  war,  konnte  nicht  an  einem  Tage  gebessert 
werden ;  und  sollte  überhaupt  geholfen  werden ,  so  musste  das 
Uebel  unter  vieler  Geduld  in  seiner  Wurzel  aufgesucht  werden, 
damit  man  von  hier  aus  die  Heilung  versuchte.  Die  Arbeit, 
welche  die  Reformation  überkam,  war  also  eine  ungeheure  und 
um  so  schwieriger,  als  sie  ja  nur  in  gewissen  Grenzen  dieselbe 
aufzunehmen  im  Stande  war ;  denn  neben  ihr  bestanden  die  alten 
Mächte  fort,  und  die  Juden  kamen  allein  in  ihrer  kleineren  Zahl 
unter  den  Einfluss  der  neuen  Kirche.  Nur  an  ihrem  Theile  also  wur- 
den die  Kirchen  und  Völker  der  Reformation  zu  einem  Werke  an 
den  Juden  berufen;  und  dies  wird  im  Auge  behalten  werden 
müssen,  wenn  man  ein  gerechtes  Urtheil  über  das,  was  der  Pro- 
testantismus auf  diesem  Gebiete  geleistet  hat,  fällen  will.  Ob 
aber  die  Reformation  im  Anfange  und  ob  der  Protestantismus 
in  seiner  weiteren  Folge  ihre  Aufgabe,  in  solcher  Beschränkung 
gedacht,  auch  erkannt  und  ob  sie  für  die  Ausführung  derselben 
wenigstens  die  ersten  Grundlagen  gelegt  haben,  wird  nun  das 
Weitere  zu  zeigen  haben. 

2.  Luther. 

Luthers  Schriften:  i)  Dass  Jesus  Christus  ein  geborener  Jude 
sei,  L.  Werke  Altenburger  Ausgabe  Tom.  II.  pag.  314  ff. ;  2)  Vom 
Sehern  Hamphoras,  Tom.  VIII.  pag.  277  ff.;  3)  Von  den  Juden 
und  ihren  Lügen,  Tom.  VIII.  pag.  208 ;  4)  Wider  die  Sabbather, 
Tom.  VII.  pag.  32  ff. ;  diese  4  Schriften  hat  auch  N  i  c  o  1  a  u  s 
Seinecker.  Leipzig  1577.  in  besonderem  Abdruck  zusammen- 
gestellt herausgegeben.  Sodann  besonders  Luthers  Tischreden, 
Tit.  75,  pag.  588  ff.  Joh.  Mathesius  bietet  einen  kurzen  Aus- 
zug von  Luthers  Aussprüchen,  die  Juden  betreffend,  in  seiner 
14.  Predigt  pag.  154  ff.  über  Luthers  Leben  dar.  1565.  L.  Fi- 
scher, D.  M.  L.  von  den  Juden  und  ihren  Lügen.  Leipzig  1838. 
Einen  neueren  Auszug  aus  Luthers  Aeusserungen  über  die 
Juden  bringt  „Luther  und  die  Juden",  Leipzig  1881  (bei  Froh- 
berg). G.  Plitt  behandelt  in  seiner  Kurzen  Geschichte  der  Lu- 
therischen Mission,  Erlangen  1871,  im  zweiten  Vortrage  Luthers 
Stellung  zur  Judenmission,  S.  13  if.;  ebenso  Pr.  Fr.  Delitzsch 
in  „Saat  auf  Hoffnung",  Joh.  1870  und  H.  Crem  er  in  einer  Bro- 


21 


chüre,  ohne   Jahreszahl   herausgegeben   von    der  Rheinisch-West- 
fälischen Missionsgesellschaft. 


D.  Franz  Delitzsch  erwähnt  in  seinem  Buche:  Wissen- 
schaft, Kunst,  Judenthum,  S.  134  eine  Sage,  welche  sich  in  den 
Slavenländern  von  Mund  zu  Mund  vererbt  habe:  „Die  Zeit  des 
Vespergebetes,  zu  dem  sich  die  Juden  in  der  Synagoge  zu  Safed 
in  Ober-Galiläa  versammelten,  war  vorüber;  und  einer  der  Lurjas 
blieb  nachdenklich  und  unbeweglich  mit  niedergesenktem  Blick 
an  dem  Orte  stehen,  wo  er  sein  Gebet  verrichtet  hatte.  Er  zog 
in  dieser  Stellung  die  Aufmerksamkeit  der  Gemeinde  auf  sich. 
Man  fand  sich  endlich  gedrungen,  sein  schweigsames  und  nach 
verflossener  Gebetszeit  auffälliges  Sinnen  zu  unterbrechen  und 
frag  ihn:  „Rabbi,  was  ist  dir?"  Da  erwachte  er  wie  aus  tiefem 
Traume,  aus  prophetischem  Gesichte,  hub  an  und  sprach:  ,Um  diese 
Zeit  ist  im  fernen  Abendlande  ein  Mann  geboren  worden,  der  Welt 
zum  Heile,  uns  zum  Heile,  eine  Morgenröthe  ist  uns  aufgegangen.' 
Es  war  der  10.  November  1483,   der  Tag    der  Geburt  Luthers." 

Die  Sage  legt  selbst  unter  den  Juden  des  Ostens  ihr  Zeug- 
niss  von  Luther  und  seiner  Bedeutung  für  die  ganze  Welt,  die 
Juden  miteingeschlossen,  ab.  Noch  deutlicher  aber  ist  die  Trag- 
weite der  Reformation  manchen  Juden,  welche  sich  der  neueren 
Cultur  erschlossen  haben ,  zum  Bewusstsein  gekommen.  Dr. 
J.  Stern  schreibt  in  seiner  Geschichte  des  Judenthums,  neue 
Ausgabe  (1870)  S.  50:  „Der  Ausgangspunkt  für  die  cultur-  und 
religionsgeschichtliche  Reformepoche  des  Judenthums  ist  zunächst 
nicht  in  diesem,  sondern  im  Christenthum  oder  vielmehr  in  der 
Christenheit  zu  suchen,  und  zwar  ist  die  Reformation  jener  Aus- 
gangspunkt."    In  der  That  verhält  es  sich  auch  so. 

Die  Umwandlung,  welche  die  Reformation  Luthers  in  dem 
gesammten  Leben  der  Christenheit  herbeiführte,  gestattete  es 
schliesslich  auch  nicht,  dass  die  Juden  in  ihrem  früheren  Zustande 
beharrten  oder  gelassen  wurden,  sondern  zog  dieselben  nach  und 
nach  in  den  Kreis  ihrer  Wirkungen  hinein.  Denn  schienen  die- 
selben gleich  anfangs  die  jüdische  Welt  nicht  tiefer  beeinflussen 
zu  wollen,  so  machten  sie  sich  doch  auch  für  dieselbe  und  in  der- 
selben immer  nachhaltiger  fühlbar,  bis  sie  schliesslich  der  Ab- 
sperrung der  Juden  von  ihrer  Umgebung  allerwärts  ein  Ziel  setzten. 

Mit  der  Reformation  war  eben  eine  neue  Geistesmacht  in 
das  Leben   der  christlichen  Völker  eingedrungen,  welche  es  den 


Christen  nicht  länger  gestattete,  in  der  früheren  Weise  bei  den 
Juden  vorüberzugehen;  während  sie  in  den  jüdischen  Gemüthern 
das  Princip  der  Selbstisolirung  nach  und  nach  erschütterte,  und 
es  ihnen  selbst  wünschenswerth  erscheinen  Hess,  eine  grundsätz- 
liche Neuordnung  ihres  Verhältnisses  zu  ihrer  Umgebung  zu  er- 
reichen. 

Einen  Abschluss  des  Bisherigen  erstrebte  und  erhoffte  auch 
Luther  für  die  Juden  im  Anfange  seines  Wirkens  ausdrücklich 
und  mit  vollem  Bewusstsein.  Freilich  hat  er  nie  daran  gedacht, 
dass  ihnen  in  einem  christlichen  Volks-  und  Gemeinwesen  eine 
Stellung  der  Art  eingeräumt  würde,  wie  sie  nun  durch  die  moder- 
nen Verfassungen,  welche  das  Religionsbekenntniss  ihrer  Bürger 
ausser  Acht  lassen,  festgesetzt  worden  ist;  aber  eine  positive 
Neuordnung  ihres  ganzen  Verhältnisses  zu  ihrer  christlichen  Um- 
gebung gehörte  zu  seinen  frühesten  reformatorischen  Gedanken. 

Der  Druck  des  päpstlichen  Systemes  hatte  auf  Luther  selbst 
so  schwer  gelegen,  dass  er  es  den  Juden  tief  nachfühlte,  wie 
sehr  sie  unter  den  Folgen  und  Wirkungen,  welche  dasselbe  für 
ihre  ganze  Stellung  inmitten  der  katholischen  Völker  gehabt 
hatte,  seufzten.  Von  Hause  aus  war  er  daher  für  sie  mit  herz- 
licher Theilnahme  erfüllt  und  anfangs  war  er  der  guten  Zuver- 
sicht, dass  die  evangelische  Freiheit,  welche  das  Papstjoch  von 
den  Völkern  nahm,  auch  viele  von  ihnen  anlocken  würde. 

In  der  Auslegung  des  Lobgesanges  der  Maria  1521  schrieb 
er:  „Darum  sollten  wir  die  Juden  nicht  so  unfreundlich  behan- 
deln, denn  es  sind  noch  Christen  unter  ihnen  zukünftig  und  täg- 
lich werden.  Dazu  haben  sie  allein  und  nicht  wir  Heiden  solche 
Zusagungen,  dass  allezeit  in  Abrahams  Samen  sollen  Christen 
sein,  die  den  gebenedeiten  Samen  erkennen.  Unser  Ding  steht 
auf  lauter  Gnaden,  ohne  Zusagen  Gottes,  wer  weiss  wie  und 
wann.  Wenn  wir  christlich  lebten  und  sie  mit  Güte  zu  Christo 
brächten,  wäre  wohl  die  rechte  Maass.  Wer  wollte  Christ  werden, 
so  man  siehet  Christen  so  unchristlich  mit  Menschen  umgehn? 
Nicht  also,  liebe  Christen;  man  sage  ihnen  gütlich  die  Wahrheit; 
wollen  sie  nicht,  lass  sie  fahren.  Wie  viele  sind  Christen,  die 
Christum  nicht  achten,  hören  sein  Wort  auch  nicht  und  sind  ärger 
denn  Heiden  und  Juden,  und  wir  lassen  sie  doch  mit  Frieden 
gehn,  ja  fallen  ihnen  zu  Fuss,  ja  beten  sie  schier  für  Abgötter  an!" 

In  der  Predigt  zum  Stefanstage  1521,  die  erst  die  1547er 
Ausgabe  in  ihr   Gegentheil  verwandelt  hat,  bekennt  er  vor  der 


Gemeinde:  „So  ist  es  nun  gewiss,  dass  die  Juden  noch  werden 
sagen  zu  Christo:  gelobt  sei,  der  da  kommt  im  Namen  des 
Herrn!  Das  hat  auch  Mose  verkündigt,  5  Mose  9,  30.  31,  item 
Hosea  3,  4.  5  und  Azarjas  2  Chron.  15,  2 — 5.  Diese  Sprüche 
mögen  nicht  verstanden  werden,  denn  von  den  jetzigen  Juden- 
Sie  sind  ja  zuvor  noch  nie  keinmal  ohne  Fürsten,  ohne  Propheten, 
ohne  Priester,  ohne  Lehrer  und  Gesetz  gewesen.  St.  Paulus, 
Rom.  11,  25.  26,  stimmet  auch  hierher  und  spricht:  Blindheit 
u.  s.  w.  Gott  gebe,  dass  die  Zeit  nahe  bei  sei,  als  wir  hoffen. 
Amen." 

Luther  hoffte  also  damals  ganz  bestimmt  eine  allgemeine 
und  nahe  Bekehrung  des  jüdischen  Volkes. 

Den  lebendigsten  Beweis  seines  Herzensinteresse  für  die 
Juden  aber  legte  er  in  der  zwei  Jahre  später,  1523  erschienenen 
Schrift  ab:  „Dass  Jesus  Christus  ein  geborener  Jude  sei." 

Seine  Gegner  hatten  ihn  beschuldigt,  dass  er  die  Jungfrau- 
schaft der  Maria   und   die  Abstammung  Jesu    vom  Samen  Abra- s 
hams  leugne.     Diese  Lüge  wollte  er  in  einer  besonderen  Schrift 
öffentlich  abweisen.     „Ich  habe  aber  gedacht,  daneben  auch  etwas 

nützliches    zu    schreiben Darum    will    ich    aus    der  Schrift 

erzählen,  die  Ursach  zu  glauben,  dass  Christus  ein  Jude  sei 
von  einer  Jungfrau  geboren,  ob  ich  vielleicht  auch  der  Juden 
etliche  möchte  zum  Christenglauben  reizen  .  .  .  Denn  die  Päpste, 
Bischöfe,  Sophisten  und  Mönche  haben  mit  den  Juden  gehandelt, 
als  wären  es  Hunde  und  nicht  Menschen,  haben  nichts  mehr 
könnt  thun,  denn  sie  schelten  und  ihr  Gut  nehmen.  Wenn 
man  sie  getauft  hat,  kein  christlich  Lehre  noch  Leben  hat  man 
ihnen  beweiset,  sondern  nur  der  Päpsterei  und  Möncherei  unter- 
worfen ....  Ich  hab's  selbst  gehört  von  frommen  getauften 
Juden,  dass  wenn  sie  nicht  bei  unserer  Zeit  das  Evangelium 
gehört  hätten,  sie  wären  ihr  Leben  lang  Juden  unter  dem  Christen- 
mantel geblieben  ....  Ich  hoffe,  wenn  man  mit  den  Juden 
freundlich  handelt  und  aus  der  h.  Schrift  sie  säuberlich  unter- 
weiset, es  sollten  ihrer  viel  rechte  Christen  werden  und  wieder 
zu  ihrer  Väter,  der  Propheten  und  Patriarchen  Glauben  treten. 
Davon  sie  nur  weiter  geschreckt  werden,  wenn  man  ihr  Ding 
verwirft  und  so  gar  nichts  will  sein  lassen  und  handelt  nur  mit 
Hochmuth  und  Verachtung  gegen  sie.  Wenn  die  Apostel,  die 
auch  Juden  waren,  also  hätten  mit  uns  Heiden  gehandelt  wie  wir 


Heiden  mit  den  Juden,  es  wären  nie  kein  Christen  unter  den 
Heiden  worden.  Haben  sie  denn  mit  uns  Heiden  so  brüderlich 
gehandelt,  so  sollen  wir  wiederum  brüderlich  mit  den  Juden 
handeln,  ob  wir  etliche  bekehren  möchten." 

Danach  spricht  er  über  den  Vorzug,  den  die  Juden  nach 
dem  Fleische  vor  den  Heiden  gehabt  haben,  und  behandelt  als- 
dann einige  der  hauptsächlichsten  Verheissungen  des  Alten 
Testaments.  Hierbei  will  er  feststellen,  dass  allerdings  die 
Mutter  Jesu  eine  Jungfrau,  und  er  selbst  ein  wahrhaftiger  Jude 
war,  bemüht  sich  aber  zugleich  durch  die  a.  t.  Sprüche  die  Juden 
zu  überzeugen,  dass  Jesus  der  rechte  Messias  ist,  und  sucht  ihre 
Einwendungen  hiergegen  zu  widerlegen.  Das  thut  er,  wenn  gleich 
seine  zu  diesem  Zwecke  angeführten  Beweise  verschieden  an 
Werth  sind,  in  ebenso  herzgewinnender  als  eindringlicher  Weise, 
wendet  sich  auch  an  ihr  nationales  Gefühl  und  will  mit  ihnen  Schritt 
für  Schritt  vorwärts  gehen,  um  sie  nicht  durch  Uebereilen  zurück- 
zustossen.  Daher  schreibt  er:  „Ob  aber  die  Juden  würde  ärgern, 
dass  wir  unsern  Jesum  einen  Menschen  und  doch  wahren  Gott  be- 
kennen, wollen  wir  mit  der  Zeit  bessern.  Aber  es  ist  zum  Anfang 
zu  hart,  lass  sie  zuvor  Milch  saugen  und  zum  Ersten  diesen  Men- 
schen Jesum  für  den  rechten  Messias  erkennen.  Danach  sollen 
sie  Wein  trinken  und  auch  lernen,  wie  er  wahrhaftiger  Gott  sei; 
denn  sie  sind  zu  tief  und  zu  lange  verführt,  dass  man  muss 
säuberlich  mit  ihnen  umgehen,  als  denen  es  ist  allzusehr  eingebildet 
worden,  dass  Gott  nicht  möge  Mensch  sein.  Darum  ist  meine 
Bitte  und  Rath,  dass  man  säuberlich  mit  ihnen  umginge  und  aus 
der  Schrift  sie  unterrichtete,  so  müssten  ihrer  etliche  herbeikom- 
men. Aber  nun  wir  sie  nur  mit  Gewalt  treiben  und  gehn  mit 
Lügen  bei  diesen  um,  geben  ihnen  Schuld,  sie  müssen  Christen- 
blut haben,  dass  sie  stinken,  und  weiss  nicht,  was  des  Narren- 
werkes mehr  ist,  dass  man  sie  gleich  für  Feinde  hält;  was  sollten 
wir  Gutes  bei  ihnen  hoffen?  Item,  dass  man  ihnen  verbeut  unter 
uns  zu  arbeiten,  hantieren  und  andere  menschliche  Gemeinschaft 
haben,  damit  man  sie  zu  wuchern  treibt,  wie  sollt  sie  das  bessern? 
Will  man  ihnen  helfen,  so  muss  man  nicht  des  Papstes,  sondern 
christlicher  Liebe  Gesetz  an  ihnen  üben  und  sie  freundlich  an- 
nehmen, mit  lassen  werben  und  arbeiten,  dass  sie  Ursache  und 
Raum  gewinnen,  bei  und  um  uns  zu  sein,  unsere  christlich  Lehre 
und  Leben  zu  hören  und  zu  sehen.  Ob  etliche  halsstarrig  sind, 
was    lic«t   daran?     Sind  wir  doch  auch  nicht  alle   eute  Christen. 


Hier  will  ich's  diesmal  lassen  bleiben,  bis  ich  sehe,  was  ich  ge- 
wirkt habe." 

Positive  Arbeit  also  will  Luther  an  den  Juden  in  grosser 
Geduld  gethan  wissen.  Er  fordert,  dass  die  unchristliche  Behand- 
lung derselben  aufhöre,  dafür  aber  die  heilige  Schrift  ihnen  nahe 
gebracht  und  ihr  sociales  Leben  in  neue  Bahnen  hineingeführt 
werde.  Wenn  dies  geschähe,  das  glaubt  er  damals  gewiss,  würde 
sich  auch  eine  nähere  Verbindung  zwischen  Juden  und  Christen 
herstellen  lassen,  und  die  in  der  Christenheit  waltenden  Lebens- 
kräfte, besonders  aber  das  ihnen  bezeugte  Gotteswort,  würden 
auch  auf  Herz  und  Gemüth,  auf  Denken  und  Streben  der  Juden 
einen  heilsamen  Einfluss  ausüben. 

Wie  sehr  es  aber  Luther  am  Herzen  lag,  mit  dieser  Schrift 
unter  den  Juden  Gutes  zu  wirken,  bewies  er  auch  dadurch,  dass 
er  dieselbe  mit  einem  Briefe  an  den  Proselyten  Bernard  (Wit. 
VII,  163),  der  sich  früher  in  der  römischen  Kirche  hatte  taufen 
lassen,  dann  sich  aber  der  Reformation  anschloss,  zur  Stärkung 
seines  eigenen  Glaubens  und  damit  er  diese  Schrift  weiter  unter 
den  Juden  bekannt  machte,  gesandt  hat. 

Dieses  Zeugniss  Luthers  ging  denn  auch  vielen  zu  Herzen; 
der  deutlichste  Beweis  hierfür  ist,  dass  die  genannte  Schrift  7  Auf- 
lagen erlebte.  Auf  den  Vorschlag  eines  Bürgers  zu  Augsburg, 
des  Andreas  Rem,  welcher  sie  in  allen  Ländern  verbreitet  wissen 
wollte,  übersetzte  sie  auch  Justus  Jonas   1524  ins  Lateinische. 

Noch  in  demselben  Jahre  1524  erhob  Luther  von  Neuem 
•der  Juden  halber  in  ähnlicher  Weise  seine  Stimme.  Er  erklärt 
nämlich  in  seiner  Schrift  „Vom  Brauch  christlicher  Freiheit": 
„Der  Freiheit  wollte  ich  brauchen,  wenn  mir  ein  Jude  vorkäme, 
der  nicht  vergiftet  noch  verstockt  wäre,  den  ich  wollte  zu  Christo 
bringen.  Wiewohl  es  ein  nöthiger  Artikel  ist  zu  glauben,  dass 
Christus  Gottes  Sohn  sei,  dennoch  wollte  ich  davon  zum  Ersten 
schweigen  und  mich  also  gegen  ihn  lenken  und  schicken,  dass 
er  zuvor  eine  Liebe  zum  Herrn  Christo  gewinne,  und  sagen,  dass 
er  ein  Mensch  wäre  als  ein  anderer,  von  Gott  gesandt,  und  was 
Gott  durch  ihn  zur  Wohlthat  der  Menschen  gethan  habe.  Wenn 
ich  ihm  nun  dies  ins  Herz  brächte,  wollte  ich  ihn  auch  wohl 
weiter  bringen,  dass  er  glaube,  dass  Christus  Gott  wäre.  Also 
wollte  ich  mit  ihm  handeln,  dass  ich  ihn  freundlich  herzubrächte 
an  Christum  zu  glauben." 


—       26      — 

Ebenso  forderte  er  Predigten  für  die  Juden.  In  den  Tisch- 
gesprächen erklärt  er  ausdrücklich:  „Das  Papstthum  hat  mit 
seinen  Götzen  und  Greueln  den  Juden  viel  unzählige  Aergernisse 
gemacht.  Ich  glaube,  wenn  die  Juden  unsere  Predigten,  wie  wir 
die  Sprüche  im  Alten  Testamente  handeln,  hörten,  dass  ihrer 
viele  gewonnen  würden.  Mit  Disputiren  macht  man  sie  nur 
zorniger  und  halsstarriger;  denn  sie  sind  allzu  stolz  und  vermessen. 
•Wenn  einer  oder  zween  Rabbinen  und  Obersten  von  jenen  abfielen, 
da  sollte  sich  ein  Fallen  anheben,  denn  sie  sind  des  Wartens 
müde."  Er  scheute  sich  denn  auch  später  nicht,  zum  Zwecke 
der  Bibelübersetzung  mit  gelehrten  Juden  in  Verbindung  zu  treten; 
musste  bei  dieser  Gelegenheit  jedoch,  wie  er  dies  in  einem  1 53 7 
an  Bugenhagen  gerichteten  Briefe  bezeugt,  die  Wahrnehmung 
machen,  dass  man  bei  ihnen  nur  für  Grammatik  etwas,  nichts 
dagegen  für  Etymologie  und  Auslegung  lernen  könne. 

Jedesfalls  bot  Luther  in  der  früheren  Zeit  den  Juden  freund- 
lich und  treu  die  Hand  und  wirkte  in  der  gleichen  Richtung 
auch  auf  weite  Kreise  ein.  Denn  freilich  seine  Mahnungen  und 
sein  Vorgehen  verfehlten  ihres  Eindruckes  nicht.  Seinem  Einflüsse 
vor  allen  muss  es  auch  nach  dem  Zeugnisse  des  Rabb.  Dr.  S. 
Stern  (Gesch.  des  Judenthums.  Neue  Ausgabe  S.  51)  zuge- 
schrieben werden,  wenn  der  Augsburger  Reichstag  1530  die 
Verordnung  erliess,  „dass  man  die  Juden,  ihr  Leib  und  Leben, 
in  Städten  und  Dörfern,  auf  dem  Felde,  auf  Strassen  oder  auf 
dem  Wasser  beschirmen;  dass  man  auch  die  vorgenannten  Juden 
und  Jüdinnen  mit  keinerlei  weiteren  Zöllen  oder  Sachen  beschwere, 
auch  nicht  ihre  Weiber  und  Kinder  zur  Taufe  drängen  solle",  und 
dass  derselbe  Reichstag  die  Aufhebung  ihres  Wucherprivilegiums 
erklärte,  „wofür  sie  sich  mit  ziemlicher  Handtierung  und  Hand- 
arbeit ernähren  sollten"  (Schudt  II.,  180).  1539  1S^  dann  dieser 
Erlass  erneuert  worden,  leider  jedoch  nicht  ins  Leben  getreten. 

Aber  freilich  die  Juden  selbst  ermuthigten  den  Reformator 
und  die  Evangelischen  in  den  Bestrebungen,  welche  auf  ihr  Bestes 
abzielten,  nicht  und  wollten  in  keine  innere  Verbindung  mit  den 
Führern  der  neuen  Bewegung  in  der  christlichen  Kirche  oder 
mit  dieser  erneuerten  Kirche  selbst  treten.  Sie  erkannten  wohl, 
dass  der  Geist,  der  ihnen  aus  der  Mitte  der  Evangelischen  her 
entgegenwehte,  in  vieler  Beziehung  ein  anderer  Geist  als  der  in 
der  römischen  Kirche  war,  und  dass  ihnen  von  dort  her  eine 
freundliche    Gesinnung    entgegenkam.      Sie    lasen    auch    fleissig 


—     27     — 

Luthers  und  die  evangelischen  Schriften  überhaupt,  was  Luther 
selbst  in  den  Tischgesprächen  erwähnt.  Eine  Schrift  von  Caspar 
Güttel,  Prediger  zu  Eisleben  aus  dem  Jahre  1529  „Von  den 
Strafen  und  Plagen,  die  etwa  Gott  über  die  Juden  und  Christen 
hat  verhangen,  eine  kurze,  liebliche  Unterredung,  dass  Christus 
wahrer  Gott  und  Mensch  sei",  erwähnt,  „dass  etliche  Schriften 
Luthers  zu  Jerusalem  wären  öffentlich  gekauft  und  von  den  Juden 
mit  Verwunderung  gelesen  worden."  Aber  ihre  Verwunderung 
kam  durchaus  nicht  daher,  dass  sie  sich  etwa,  wie  so  grosse 
Schaaren  der  Christen,  auch  im  Herzen  und  Gewissen  von  dem 
mächtigen  Schriftzeugnisse  Luthers  getroffen  gefühlt  hätten,  son- 
dern bezog  sich  vielmehr  darauf,  dass  es  ein  römischer  Christ 
gewagt  hatte,  gegen  die  päpstliche  Geistesknechtung  aufzustebn. 
Nirgends  in  der  That,  und  auch  nicht,  nachdem  Luther  in  jenen 
früher  erwähnten  Zeugnissen  seine  Stimme  so  mächtig  erhoben 
hatte,  um  die  Christenheit  zu  ermahnen,  dass  sie  eine  andere 
Stellung  zu  den  Juden  einnehmen  möchte,  finden  wir  eine  Spur' 
davon,  dass  sich  unter  der  grossen  Masse  der  Juden  eine  Be- 
wegung gezeigt  hätte,  welche  man  irgendwie  eine  gegen  das 
Christenthum  freundlichere  oder  friedlichere  nennen  dürfte. 

Vielmehr  hatten  nicht  wenige  Juden  einen  Zusammenbruch 
des  Christenthums  als  die  Folge  der  neuen  Bewegung  erhofft 
und  gewähnt,  dass  ihre  Zeit  nunmehr  gekommen  sei,  und  die 
Reformatoren  mit  ihren  Anhängern  ihre  Bundesgenossen  werden 
würden.  Es  ging  jetzt  selbst  eine  merkwürdige  Bewegung  durch 
die  Judenschaft  in  vielen  Theilen  Deutschlands,  welche  gerades- 
wegs  darauf  abzielte,  die  Christen  zu  jüdischen  Glaubensanschau- 
ungen zu  bekehren.  Als  sie  dann  aber  merkten,  dass  Luthers 
Angriffe  auf  das  Papstthum  durchaus  nicht  auch  dem  Christen- 
thum und  dem  Evangelium  galten,  sondern  dass  Luther  und  seine 
Glaubensgenossen  noch  viel  mehr  als  die  Römischen  für  das 
Evangelium  auftraten,  verwandelte  sich  sehr  schnell  ihre  Stim- 
mung gegen  die  Reformatoren  und  die  neue  Kirche.  Nicht  grössere 
Gunst,  sondern  erhöhte  Feindschaft  erfuhr  bald  die  Reformation 
jüdischerseits.  Schreibt  doch  Luther  bereits  unter  dem  1 8.  Januar 
1525  an  Amsdorf:  „Es  ist  hier  ein  fremder  Jude,  aus  Polen  ge- 
schickt, um  den  Preis  von  2000  Goldgulden  mich  zu  vergiften, 
mir  von  Freunden  durch  einen  Brief  verrathen.  Er  ist  Doktor 
der  Medizin,  alles  zu  wagen  und  zu  thun  bereit,  von  unglaub- 
licher   Schlauheit    und    Beweglichkeit,    den    ich    in  dieser  Stunde 


zu  ergreifen  befohlen  habe;  was  noch  geschehen  wird,  weiss 
ich  nicht." 

Und  in  jener  Stelle  der  Tischreden,  wo  Luther  bezeugt,  dass 
zu  dieser  Zeit  auch  die  Juden  evangelische  Schriften  und  Bücher 
läsen,  fügt  er  hinzu,  dass  sie  es  thäten,  „um  aus  denselben  wider 
uns  zu  streiten." 

Erfahrungen  dieser  Art  machten  ihn  bedenklich.  Er  wollte 
die  Gründe  eines  solchen  Verhaltens  der  Juden  gegen  ihren  wohl- 
meinendsten Freund  erkennen.  So  las  er  denn  jetzt  fleissig  ihre 
Schriften,  und  zwar,  wie  er  in  den  Tischgesprächen  selbst  angibt, 
wenigstens  zum  Theil  in  hebräischer  Sprache;  wie  er  denn  auch 
wünschte,  dass  die  gelehrten  Christen  den  Talmud  lesen  möchten, 
um  die  Juden  aus  ihren  eigenen  heiligen  Büchern  zu  überführen. 
Bei  der  Lektüre  ihrer  Gebete  war  er  „über  ihre  grosse  Vermes- 
senheit und  Hoffahrt  verwundert."  „Da  ist  keine  Erkenntniss  der 
Schrift,  sondern  eitel  Rühmen  über  todte  Privilegien,  die  nun  ver- 
loschen sind.  Sie  verstehn  nichts  von  Gottes  Gnade  noch  von 
der  Gerechtigkeit  des  Glaubens,  sondern  wollen  heilig  sein  von 
Natur  und  aus  dem  Geblüte,  gleichwie  die  Heiden  aus  dem  Willen 
des  Fleisches." 

Je  weiter  er  sich  dann  mit  den  Juden  beschäftigte,  desto 
ernster  trat  ihm  das  Geheimniss  der  Verstockung  des  Volkes  in 
der  gegenwärtigen  Kirchenzeit  entgegen;  und  je  tiefer  er  selbst 
das  Wesen  der  Sünde  überhaupt  erfahren  hatte,  desto  mehr  er- 
füllte ihn  die  Thatsache  der  Verstockung  der  Juden  mit  Schrecken 
und  Schaudern.  In  der  1527  verfassten  Auslegung  des  109. 
Psalm,  die  er  der  Königin  von  Ungarn  übersandte,  schreibt  Lu- 
ther daher  auch  bereits,  nachdem  er  schon  in  der  Erklärung- 
früherer  Verse  die  Juden  wiederholt  der  Hartnäckigkeit  und  Ver- 
stocktheit beschuldigt  hatte,  zu  Vers  19:  „Nicht  dass  gar  kein 
Jude  nimmermehr  zum  Glauben  kommen  mag,  denn  es  müssen 
noch  etliche  Brocken  über  bleiben  und  etliche  einzelne  bekehrt 
werden.  Sondern  das  Judenthum,  welches  wir  das  jüdische  Volk 
heissen ,  wird  nicht  bekehrt.  Es  wird  auch  das  Evangelium 
nicht  über  sie  gepredigt,  auf  dass  der  heilige  Geist  Raum  bei 
ihnen  finde,  sondern  wo  sie  beisammen  sind  und  ihre  Schulen 
sind,  da  bleiben  sie  bei  ihrem  Fluch  und  Gift,  dass  sie  Christum 
verfluchen  und  ihren  Gift  für  Segen  halten  müssen.  Aber 
nichts  desto  weniger  springen  zu  Zeiten  etliche  von  den  Haufen 


—     29     — 

ab,    auf  dass    Gott   dennoch   des  Samens  Abrahams  Gott  bliebe 
und  sie  nicht  gar  Verstösse,  wie  St.  Paulus  spricht,  Römer  n." 

Freilich  das  Herz  rang  noch  mit  Luther  vielfach  darum, 
dass  er  diese  Verstockung  des  jüdischen  Volkes  nicht  als  eine 
endgültige  ansehen  möchte,  und  noch  mehr,  welche  Folgen  er 
der  Erkenntniss  von  der  nun  einmal  auf  ihnen  lastenden  Ver- 
stockung geben  solle;  aber  je  länger  desto  mehr  erlosch  in  ihm 
alle  Hoffnung  für  die  Juden.  Immer  mehr  arbeitete  sich  die 
Ueberzeugung  in  ihm  durch,  dass  die  Christenheit  die  Last  des 
Fluches,  welchen  das  Volk  als  Gottes  hartnäckigster  Feind  auf 
sich  geladen  habe,  nicht  erleichtern  dürfe ;  und  doch  trotz  dessen 
wollte  er  immer  noch  nicht  den  Versuch,  sie  von  ihrem  Irrwege 
zurückzuführen,  aufgeben. 

Ein  Brief  desselben  an  den  Juden  Jesel  in  Rosheim  aus 
dem  Jahre  1537  (Altenb.  VI.,  11 14)  iässt  nach  verschiedenen 
Seiten  hin  am  Besten  die  Anschauungen  und  Ueberzeugungen 
erkennen,  die  sich  bei  Luther  hinsichtlich  der  Juden  allmählig 
herausgebildet  hatten.  Jesei  hatte  ihn  um  seine  Fürsprache  bei 
dem  Kurfürsten  von  Sachsen  gebeten.  Luther  antwortete  ihm . 
„Mein  lieber  Jesel.  Ich  wollte  gern  gegen  meinen  gnädigsten 
Herrn  für  euch  handeln  beides  mit  Wort  und  Schrift,  wie  ich 
auch  durch  meine  Schriften  der  Judenschaft  gar  viel  gedient  habe. 
Aber  dieweil  die  Euren  solches  meines  Dienstes  so  schändlich 
missbrauchen  und  solche  Dinge  fürnehmen,  die  von  uns  Christen 
nicht  zu  leiden  sind,  haben  sie  sich  selbst  damit  genommen  alle 
Förderung,  die  ich  sonst  bei  Fürsten  und  Herren  hätte  thun 
können.  Denn  mein  Herz  ja  gewesen  ist  und  noch,  dass  man  die 
Juden  sollte  freundlich  halten,  der  Meinung,  ob  Gott  sie  wollte 
dermaleinst  gnädiglich  ansehn  und  zu  ihrem  Messias  bringen, 
und  nicht  der  Meinung,  dass  sie  sollten  durch  meine  Gunst 
und  Förderung  in  ihrem  Irrthum  gestärkt  und  ärger  werden.  Da- 
von auch,  so  mir  Gott  Raum  und  Zeit  gibt,  will  ein  Büchlein 
schreiben,  ob  ich  etliche  könnte  aus  meinem  väterlichen  Stamm 
der  Patriarchen  und  Propheten  gewinnen  und  zu  eurem  verheis- 
senen  Messias  bringen;  wiewohl  es  ganz  fremd  ist,  dass  wir  euch 
sollen  locken  und  reizen  zu  eurem  natürlichen  Herrn  und  Könige, 
wie  denn  vorhin  eure  Vorfahren,  da  Jerusalem  noch  stund,  die 
Heiden  gereizt  und  gelockt  haben  zu  dem  rechten  Gott.  Sollt 
ihr  nicht  billig  denken,  dass  wir  Heiden  wohl  so  hoffährtig  und 
ekel   wären,   weil   ohne    das  Juden  und  Heiden  sich   feind  einan- 


30 

der  gewesen  sind,  dass  wir  freilich  euren  besten  König  nicht 
würden  anbeten,  geschweige  denn  einen  solchen  verdammten  ge- 
kreuzigten Juden,  wo  nicht  hierinnen  wäre  die  Gewalt  und  Macht 
des  rechten  Gottes,  der  solches  uns  hoftahrtigen  Heiden,  euren 
Feinden,  gar  mächtiglich  ans  Herz  brächte.  Denn  ihr  Juden  würdet 
ja  nimmermehr  einen  gehenkten  oder  geradbrechten  Heiden  nach 
seinem  Tode  für  einen  Herrn  anbeten,  das  wisset  ihr.  Darum 
wollt  ja  nicht  uns  Christen  für  Narren  und  Gäuche  halten,  und 
doch  euch  einmal  besinnen,  dass  euch  Gott  dermaleinst  aus  dem 
Elend,  so  nun  über  1500  Jahr  lang  gewähret,  helfe;  was  nicht 
geschehen  wird,  ihr  nehmet  denn  euren  Vettern  und  Herrn,  den 
lieben  gekreuzigten  Jesus  an;  denn  ich  habe  eure  Rabbinos  auch 
o-elesen  und  wäre  es  darinnen,  so  wäre  ich  so  hörnern  und  so 
steinern  nicht,  es  hätte  mich  auch  bewogen.  Aber  sie  können 
nichts  mehr  denn  schreien,  es  sei  ein  gekreuzigter,  verdammter 
Jude;  so  doch  alle  eure  Vorfahren  keinen  Heiligen  noch  Pro- 
pheten unverdammt,  ungesteinigt,  ungemartert  haben  gelassen, 
welche  allzumal  auch  müssten  verdammt  sein,  wenn  eure  Meinung 
darinnen  sollte  recht  sein,  dass  Jesus  von  Nazareth  von  euch 
Juden  gekreuzigt  und  verdammt  sei ;  denn  ihr's  zuvor  gethan  und 
allewege  mehr  gethan.  Leset,  wie  ihr  mit  eurem  Könige  David 
seid  umgegangen,  ja  mit  allen  heiligen  Propheten  und  Leuten 
und  haltet  uns  Heiden  nicht  so  gar  für  Hunde.  Denn  ihr  sehet, 
dass  euer  Gefängniss  so  lange  will  währen,  und  findet  doch  uns 
Heiden,  welche  ihr  für  eure  grössten  Feinde  haltet,  günstig  und 
willig  zu  rathen  und  zu  helfen,  ohne  dass  wir's  nicht  leiden  kön- 
nen, dass  ihr  euer  Fleisch  und  Blut,  der  euch  kein  Leid  gethan 
hat,  Jesum  von  Nazareth  verflucht  und  lästert  und  wenn  ihr 
könntet  alle  die  Seinen  um  alles  brächtet,  was  sie  sind  und  was 
sie  haben.  Ich  will  euch  ein  Prophet  sein,  wiewohl  ein  Heide, 
wie  Bileam  gewesen  ist,  es  soll  nicht  gehn,  als  ihr  hoffet;  denn 
die  Zeit  von  Daniel  bestimmt  ist  lange  aus,  und  wenn  ihr  es 
gleich  noch  so  wunderlich  dreht  und  aus  dem  Texte  machet, 
was  ihr  wollt,  so  ist  das  Werk  fürhanden. 

Solches  wollet  von  mir  freundlich  annehmen  zu  einer  Ver- 
mahnung. Denn  ich  um  des  gekreuzigten  Juden  willen,  den  mir 
Niemand  nehmen  soll,  euch  Juden  allen  gern  das  Beste  thun  wollte, 
ausgenommen,  dass  ihr  meiner  Gunst  nicht  zu  eurer  VerStockung 
brauchen    sollt.     Das   wisset    gar   eben;    darum  möget  ihr  euren 


—     3i     — 

Brief  an  meinen  gnädigen  Herrn  durch  andere  fürbringen.  Hier- 
mit Gott  befohlen." 

Es  ist  also  nichts  falscher  und  ungerechter,  als  Luthers 
strenges  Verhalten  gegen  die  Juden  aus  einem  blos  fleischlichen 
Zorne  desselben  oder  aus  seiner  Leidenschaftlichkeit  herleiten  zu 
wollen.  So  gewiss  er  seiner  zum  Zorn  geneigten  Natur  auch 
den  Juden  gegenüber  freien  Lauf  Hess,  so  waren  es  doch  an 
erster  Stelle  durchaus  tiefernste  Erwägungen  und  Ueberzeugungen, 
welche  ihn  in  jene  Stellung  hineindrängten,  die  er  hernach  den 
Juden  gegenüber  einnahm.  Er  fühlte  sich  innerlich  verpflichtet, 
ihnen  so  entgegenzutreten,  wie  er  es  that;  er  folgte  hierin  nur 
einem  Gewissenstriebe,  fand  aber  durchaus  kein  Wohlgefallen 
daran,  ihnen  hart  zu  begegnen.  Luther  wusste  sich  berufen,  auch 
der  Prophet  der  Juden  in  seinen  Tagen  zu  sein,  und  daher  an 
sie  selber,  wie  auch  ihrethalben  an  die  Christen  diejenige  Bot- 
schaft auszurichten,  welche  ihm  Gott  für  dieselben  übergeben 
hatte.  Er  hatte  anfangs  die  Pflicht  gefühlt,  als  der  Prophet  des 
Herrn,  die  Juden,  welche  so  lange  verirrt  umhergingen  und  durch 
die  Schuld  der  päpstlichen  Kirche  und  ihrer  Völker  in  ihrem 
Irrthum  noch  befestigt  worden  waren,  freundlich  mit  dem  Evan- 
gelio  zu  locken.  Er  hatte  die  Menschenweisheit  zu  Hause  ge- 
lassen und  all  das  Götzendienerische  abgestreift,  das  sie  an  der 
alten  Kirche  mit  Recht  ärgerte.  Mit  herzlicher  wahrer  Theil- 
nahme  trat  er  ihnen  dann  entgegen  und  bat  sie,  zu  dem  Jesus 
Vertrauen  zu  fassen,  der  es  ihm  geboten  habe,  ihnen  die  Pforten 
zu  einer  neuen  Zeit  zu  öffnen,  in  der  sie  es  besser  haben  sollten. 
Als  sie  aber  auf  diese  Stimme  nicht  hörten  und  den  Zeugen  des 
Evangeliums  theilweise  fast  noch  feindlicher  als  der  alten  Kirche 
begegneten ,  sah  er  sich  gezwungen ,  den  andern  Theil  seines 
Prophetenamtes  zu  erfüllen  und  es  ihnen  zu  bezeugen,  dass  sie 
nun  das  Gericht  ihrer  Sünde  tragen  müssten,  die  Christen  aber 
aufzufordern,  dass  sie  die  Juden  ihre  Verstockung  fühlen  Hessen. 
Würde  er  anders  gehandelt  haben,  das  sprach  er  öfters  aus,  dann 
würde  er  die  Verantwortung  dafür  vor  Gott  nicht  haben. tragen 
können  und  ebenso  sehr  an  den  Juden  als  an  dem  christlichen 
Volke  gesündigt  haben. 

Auf  diese  Weise  wurde  sein  Zeugniss  an  und  über  die 
Juden  je  länger  desto  mehr  zu  einem  Zeugnisse  wider  sie, 
und  Anlass  zu  einem  solchen  gaben  sie  ihm  ja  allerdings 
reichlich. 


An  Justus  Jonas  schreibt  er  unter  dem  iS.  Oktober  1535, 
dass  er  von  einem  Juden,  für  den  er  in  Wittenberg  gesammelt 
habe,  betrogen  worden  sei.  1538  theilt  ein  Freund  Luthers  dem- 
selben mit,  dass  Juden  etliche  Christen  verführt  hätten,  sich  be- 
schneiden zu  lassen  und  zu  glauben,  der  Messias  sei  noch  nicht 
gekommen,  das  Gesetz  der  Juden  aber  müsse  ewig  bleiben  und 
auch  von  allen  Völkern  angenommen  werden.  Unter  den  Christen 
1  Mähren  besonders  hätten  Juden  mit  solchen  Lehren  Eingang 
cfunden,  und  nenne  man  diese  Judenchristen  daselbst  Sabbather. 
Er  bäte  desshalb  den  Reformator  um  Verhaltungsmaassregeln  und 
um  Anweisungen,  wie  er  die  Juden  widerlegen  solle.  Luther 
antwortete  demselben  in  einem  Briefe  „Wider  die  Sabbather",  in 
welchem  er  dem  Freunde  die  gewünschte  Anweisung  gab,  welche 
nach  der  Schrift  aufs  Trefflichste  den  Beweis  führt,  dass  der 
Messias  gekommen  und  die  Zerstreuung  der  Juden  gerade  die 
Strafe  seiner  Verwerfung  ist,  alle  Einwürfe  hiergegen  aber  nieder- 
schlägt. 

Zu  Erfahrungen  solcher  Art  kamen  andere.  Er  selbst  be- 
richtet in  seiner  Schrift  „Von  den  Juden  und  ihren  Lügen"  und 
in  den  Tischgesprächen  von  drei  gelehrten  Juden,  unter  denen  sich 
Ic  zwei  Rabbinen  Schamarja  und  Jacob  befanden,  die  ihn  um 
Geleitsbriefe  baten.  Luther  willfahrtete  ihrem  Wunsche,  muss 
aber  erzählen:  „Sie  kamen  zu  mir  in  der  Hoffnung,  sie  würden 
einen  neuen  Juden  an  mir  finden,  weil  wir  hier  zu  Wittenberg 
anfingen  hebräisch  zu  lesen,  gaben  auch  für,  weil  wir  Christen 
begünsten  ihre  Bücher  zu  lesen,  sollt's  bald  besser  werden.  Da 
ich  nun  mit  ihnen  disputirt,  thaten  sie  ihrer  Art  nach,  gaben 
mir  ihre  Glossen;  da  ich  sie  aber  zum  Text  zwang,  entfielen  sie 
mir  aus  dem  Text  und  sprachen,  sie  müssten  ihren  Rabbinen 
glauben,  wie  wir  dem  Papst  und  Doktoren  u.  s.  w.  Nun  hatte 
ich  Barmherzigkeit  mit  ihnen,  gab  ihnen  eine  Fürbitte  an  die 
Geleitsleute,  dass  sie  um  Christi  willen  sie  sollten  frei  ziehen 
lassen.  Ich  erfuhr  aber  hernach,  wie  sie  mir  den  Christum  hatten 
einen  Thola  genennet,  das  ist  einen  erhenkten  Schacher.  Darum 
will  ich  mit  keinem  Juden  mehr  zu  thun  haben;  sie  sind,  wie 
St.  Paulus  sagt,  dem  Zorn  übergeben;  je  mehr  man  ihnen  helfen 
will,  je  härter  und  ärger  sie  werden.     Lass  sie  fahren." 

Ueberdem  erkannte  er  immer  deutlicher,  dass  den  Christen 
von  den  Juden  sehr  ernste  Gefahren  drohten,  und  dies  veranlasste 
ihn    im  Jahre  1543    die   beiden   überaus    scharfen   Sendschreiben 


—     33     ~ 

erscheinen  zu  lassen:  „Von  den  Juden  und  ihren  Lügen"  und 
„Vom  Sehern  Hamphoras  und  vom  Geschlecht  Christi".  Luther 
theilte  in  der  ersten  mit,  dass  die  Versuche  von  Juden,  Christen 
an  sich  zu  locken  und  etliche  sogar,  wie  er  dies  in  den  Tisch- 
gesprächen erwähnt,  zur  Beschneidung  zu  bewegen,  auch  nach 
seinem  Schreiben  „Wider  die  Sabbather"  nicht  aufgehört  hätten. 
Desshalb  müsse  er  seinen  Vorsatz,  nichts  mehr  von  den  Juden 
und  wider  die  Juden  zu  schreiben,  brechen;  denn  er  habe  frei- 
lich jenen  Vorsatz  gefasst,  weil  es  ihm  im  Herzen  weh  that, 
immer  wieder  das  Gericht  über  sie  predigen  zu  müssen.  Jetzt 
greife  er  noch  einmal  zur  Feder  „damit  ich  unter  denen  erfunden 
werde,  die  solchem  giftigen  Fürnehmen  der  Juden  Widerstand 
gethan  und  die  Christen  gewarnt  haben,  sich  für  den  Juden 
zu  hüten". 

Dann  erklärt  er:  „Ich  gehe  nicht  damit  um,  dass  ich  die 
Juden  bekehren  wollte,  das  ist  unmöglich",  denn  Gott  selbst  habe 
unter  seinen  1400jährigen  Gerichten  „an  ihnen  nichts  ausgerichtet . . 
sie  sind  schlägefaul".  „Disputire  nicht  viel  mit  Juden  von  den 
Artikeln  unseres  Glaubens;  sie  sind  von  Jugend  auf  also  erzogen 
mit  Gift  und  Groll  wider  unsern  Herrn,  dass  da  ist  keine  Hoff- 
nung, bis  sie  dahin  kommen,  dass  sie  durch  ihr  Elend  zuletzt 
mürb  und  gezwungen  werden  zu  bekennen,  dass  Messias  sei  ge- 
kommen .  .  .  Wir  reden  jetzt  nicht  mit  den  Juden,  sondern  von 
den  Juden  und  ihrem  Thun,  das  unsere  Deutschen  auch  wissen 
mögen."  Dann  weist  er  nach,  worauf  sie  pochen:  auf  ihre  Ab- 
stammung, die  Beschneidung,  das  Gesetz  und  Kanaan  und  geht 
auf  die  Messiaslehre  näher  ein.  „Es  ist  nicht  zu  sagen  noch  zu 
begreifen,  welch  ein  störriger,  ungezähmter,  verzweifelter  Hoch- 
muth  in  dem  Volke  steckt,  durch  dieses  Vortheil  in  ihnen  er- 
wachsen, dass  Gott  selbst  mit  ihnen  geredet  hat.  Kein  Prophet 
hat  dafür  können  aufkommen  noch  bestehen  wider  sie,  Moses 
selbst  nicht  .  .  .  Strafte  Gott  oder  schlug  er  sie  mit  seinem 
Wort  durch  die  Propheten,  so  schlugen  sie  ihn  aufs  Maul  und 
tödteten  seine  Propheten". 

Die  Rabbinen  insbesondere  haben  es  dahin  gebracht,  dass 
nun  auch  der  gemeine  Mann  unter  den  Juden  von  der  Wahrheit 
abgewandt  ist,  und  sie  martern  die  Schrift  so,  dass  sie  mit  allen 
ihren  Weissagungen  nichts  von  Christo  sagen  darf.  Der  Talmud 
hat  ihr  ganzes  Denken  und  Leben  verdorben.  „Summa,  sie  essen, 
sie  trinken,  sie  schlafen,  sie  wachen,  sie  stehen,    sie  gehen,    sie 

J.  F.  A.  d  e    le   Roi,    Missionsbeziehungen.  3 


—     34     — 

ziehen  sich  an  oder  aus,  sie  fasten,  sie  baden,  sie  beten,  sie 
loben  und  alles,  was  sie  leben  oder  thun,  ist  mit  rabbinischen 
unfläthigen  Aufsätzen  und  Missglauben  also  beschmeisst,  dass 
Moses  nicht  wohl  mehr  kenntlich  bei  ihnen  ist." 

Aber  die  Juden  gehn  noch  weiter  und  haben  Christum  und 
Maria  gelästert;  Beispiele  solcher  Lästerungen  bringt  Luther  aus 
den  jüdischen  Schriften  reichlich  herbei.  Ueberdem  „lassen  sie 
uns  arbeiten  im  Nasenschweiss,  sitzen  sie  dieweil  hinter  dem 
Ofen,  faullenzen  .  .  .  haben  uns  und  unsere  Güter  gefangen  durch 
ihren  verfluchten  Wucher,  sind  also  unsere  Herren,  wir  ihre 
Knechte".  „So  ist  unsere  Schuld,  dass  wir  das  unschuldige  Blut 
nicht  rächen,  sie  nicht  todtschlagen,  sondern  für  alle  ihren  Mord 
Fluchen,  Lästern,  Lügen,  Schänden  frei  bei  uns  sitzen  lassen,  ihre 
Schulen,  Leiber,  Häuser  und  Gut  schützen  und  schirmen,  damit 
wir  sie  faul  und  sicher  machen  und  helfen,  dass  sie  getrost  unser 
Geld  und  Gut  uns  aussaugen,  dafür  unser  spotten,  uns  anspeien, 
ob  sie  zuletzt  könnten  unser  mächtig  werden." 

Luther  glaubte  jetzt,  was  er  früher  entschieden  abgewiesen 
hatte,  dass  die  Juden  Brunnen  vergiftet,  heimlich  gemordet,  Kinder 
gestohlen  und  Blut  der  Christen  getrunken  hätten.  „Das  ist's, 
dass  ein  Christ  nächst  dem  Teufel  keinen  giftigeren,  bittereren 
Feind  habe,  denn  einen  Juden." 

„Aus  diesem  allen  sehen  wir  Christen,  welch  ein  schreck- 
licher Zorn  Gottes  über  dieses  Volk  gegangen  und  ohne  Auf- 
hören geht,  welch  ein  Feuer  und  Gluth  brennt  da,  und  was  die 
gewinnen,  so  Christo  und  seinen  Christen  fluchen  oder  Feind 
sind.  O  lieben  Christen,  lasst  uns  solch  greulich  Exempel  zu 
Herzen  nehmen,  wie  St.  Paulus  Römer  1 1  sagt  und  Gott  fürchten, 
dass  wir  nicht  auch  zuletzt  in  solchen  und  ärgeren  Zorn  verfallen, 
sondern  sein  göttlich  Wort  ehren  und  die  Zeit  der  Gnade  nicht 
versäumen,  wie  es  bereits  der  Mahommet  und  Papst  versäumt 
haben  und  nicht  viel  besser  denn  die  Juden  worden  sind." 

„Was  wollen  wir  Christen  nun  thun  mit  diesem  verworfenen, 
verdammten  Volk  der  Juden?  Zu  leiden  ist's  uns  nicht,  nach- 
dem sie  bei  uns  sind,  und  wir  solch  Lügen,  Lästern,  und  Fluchen 
von  ihnen  wissen,  damit  wir  uns  nicht  theilhaftig  machen  aller 
ihrer  Lügen,  Flüche  und  Lästerungen.  So  können  wir  das  un- 
löschliche  Feuer  des  göttlichen  Zornes,  wie  die  Propheten  sagen, 
nicht  löschen  noch  die  Juden  bekehren.  Wir  müssen  mit  Gebet 
und  Gottesfurcht  eine  scharfe  Barmherzigkeit  üben,  ob  wir  doch 


—     35     — 

etliche  aus  der  Flammen  und  Gluth  erretten  könnten.  Rächen 
dürfen  wir  uns  nicht.  Sie  haben  die  Rache  am  Halse  tausendmal 
ärger,  denn  wir  ihnen  wünschen  mögen.  Ich  will  meinen  treuen 
Rath  geben. 

Erstlich,  dass  man  ihre  Synagogen  oder  Schulen  mit  Feuer 
anstecke  .  .  .  Denn  was  wir  bisher  aus  Unwissenheit  geduldet 
(ich  hab's  selber  nicht  gewusst)  wird  uns  Gott  verzeihen.  Nun 
wir's  aber  wissen,  und  sollten  darüber  den  Juden  ein  solch  Haus 
schützen  und  schirmen,  darin  sie  Christum  und  uns  belügen,  lästern, 
fluchen,  anspeien  und  schänden,  das  wäre  so  viel  als  thäten  wir's 
selbst."  Luther  beruft  sich  hierbei  auf  die  Gebote  des  Alten 
Testaments. 

„Zum  andern,  dass  man  ihre  Häuser  desgleichen  zerbreche 
und  zerstöre,  denn  sie  treiben  eben  dasselbe  darinnen,  das  sie 
in  den  Schulen  treiben.  Dafür  mag  man  sie  etwa  unter  ein  Dach 
oder  Stall  thun,  wie  die  Zigeuner,  auf  dass  sie  wissen,  sie  seien 
nicht  Herren  in  unserm  Lande,  wie  sie  rühmen,  sondern  elend 
und  gefangen.  .  .  . 

Zum  dritten,  dass  man  ihnen  nehme  alle  Betbüchlein  und 
Talmudisten  .  .  .  Zum  vierten,  dass  man  ihren  Rabbinen  bei 
Leib  und  Leben  verbiete  hinfort  zu  lehren  .  .  .  Zum  fünften, 
dass  man  den  Juden  das  Geleit  und  Strasse  ganz  und  gar  auf- 
hebe .  .  .  Zum  sechsten,  dass  man  ihnen  das  Wuchern  verbiete 
und  nehme  ihnen  alle  Barschaft  und  Kleinod  an  Silber  und  Gold 
und  lege  es  beiseit  zu  verwahren.  Und  ist  die  Ursach:  alles, 
was  sie  haben,  haben  sie  uns  gestohlen  und  geraubt  durch  ihren 
Wucher,  weil  sie  sonst  keine  andere  Nahrung  haben.  Solch 
Geld  sollte  man  dazu  brauchen  und  nicht  anders:  wo  ein  Jude 
sich  ernstlich  bekehret,  dass  man  ihm  davon  für  die  Hand  gebe, 
hundert,  zwei,  drei  Gulden  nach  Gelegenheit  der  Person,  damit 
er  eine  Nahrung  für  sein  armes  Weib  und  Kindlein  anfahen 
möge,  und  die  Alten  und  Gebrechlichen  damit  unterhalte  .  .  . 

Zum  siebenten  soll  man  den  jungen  starken  Juden  und 
Jüdinnen  in  die  Hand  geben  Flegel,  Axt,  Karste,  Spaten,  Rocken, 
Spindel  und  lassen  sie  ihr  Brot  verdienen  im  Schweiss  der  Nasen, 
wie  Adams  Kindern  aufgelegt  ist." 

Wenn  sie  aber  den  Christen  alsdann  noch  Schaden  thun 
sollten,  so  räth  er  sie  aus  dem  Lande  zu  vertreiben.  Besonders 
erhebt  er  noch  seine  Stimme  gegen  die  Herrschaften,  welche  den 
Juden   für    Geld    das   Privilegium    des  Wuchers    geben,   weil   sie 


-      3ö     - 

damit  ihre  Untcrthanen  berauben;  die  Pfarrer  aber  ermahnt  er, 
die  Gemeinden  vor  den  Juden  zu  warnen,  „dass  sie  sich  für  den 
Juden  hüten  und  sie  meiden,  wo  sie  können,  nicht  dass  sie  jenen 
viel  fluchen  oder  persönlich  leid  thun  sollten". 

„Ich  habe  das  Meine  gethan,  ein  Jeglicher  sehe,  wie  er  das 
Seine  thue;  ich  bin  entschuldigt",  fügt  er  hinzu.  Sauer  genug 
aber  ist  es  ihm  angekommen,  so  schreiben  zu  müssen.  Denn 
„es  ist  der  Zorn  Gottes  über  sie  kommen;  daran  ich  nicht  gern 
denke  und  mir  das  Buch  nicht  fröhlich  zu  schreiben  gewest  ist, 
also  dass  ich  habe  müssen,  jetzt  mit  Zorn  jetzt  mit  Spott  wider 
die  Juden,  den  schrecklichen  Blick  aus  meinen  Augen  reissen, 
und  mir  weh  thut,  dass  ich  ihre  schrecklichen  Lästerworte  habe 
müssen  nennen  von  unserm  Herrn  und  seiner  lieben  Mutter,  die 
wir  Christen  gar  ungern  hören,  und  verstehen  wollen,  was  St. 
Paulus  meint  Römer  10,  dass  ihm  sein  Herz  weh  thue,  wenn  er 
an  sie  gedenkt,  welches  ich  achte  auch  einem  jeglichen  Christen 
geschehen,  der  mit  Ernst  daran  denkt,  nicht  des  zeitlichen  Un- 
glücks und  Elends  halber,  darüber  sie,  die  Juden  klagen,  sondern 
dass  sie  dahin  gegeben  sind  zu  lästern,  fluchen,  verspeien  .  .  . 
Ach  Gott,  himmlischer  Vater,  wende  dich  und  lass  des  Zornes 
über  sie  genug  gewest  und  ein  Ende  sein  um  deines  lieben  Sohnes 
willen.     Amen." 

Den  Christen  aber,  welche  in  Gefahr  sind,  sich  von  den 
Juden  verführen  zu  lassen,  zeigt  er  dann  aus  dem  Alten  Testament, 
dass  Christus  der  wahre  Messias  sei,  aber  freilich  nicht  ein  welt- 
licher König,  wie  ihn  die  Juden  begehren.  „Denn  was  wäre  mir 
solches  alles  nütze,  und  bliebe  gleichwohl  die  greuliche  Last  und 
Plage  aller  Menschen,  der  Tod,  auf  mir,  für  dem  ich  nicht  sicher, 
alle  Augenblicke  mich  für  ihn  fürchten,  für  der  Hölle  und  Gottes 
Zorn  zittern  und  beben  müsste,  und  des  alles  kein  Ende  wissen, 
sondern  ewiglich  gewarten  sollte." 

Darauf  preist  er  den  Messias  der  Christen,  welcher  eine 
ewige  Gerechtigkeit  bringt,  die  Missethat  versiegelt,  der  Ueber- 
tretung  steuert  und  die  Sünde  versöhnt.  Der  Schluss  aber  lautet: 
„Christus,  unser  lieber  Herr  bekehre  die  Juden  barmherziglich 
und  erhalte  uns  in  seiner  Erkenntniss,  welche  das  ewige  Leben 
ist,  fest  und  unbeweglich.     Amen." 

In  demselben  Jahre  1 543  erschien  dann  noch  die  versprochene 
Schrift  „Vom  Sehern  Hamphoras  und  vom  Geschlecht  Christi", 
in  welcher  er  den  Christen  zeigen  will    „was    ein  Jude   sei,    und 


37 

die  Christen  vor  ihnen  als  vor  dem  Teufel  selbst  zu  warnen  .  . 
denn  ein  Jude  oder  jüdisch  Herz  ist  so  stock-stein-teufelhart,  das 
mit  keiner  Weise  zu  bewegen  ist.  Wenn  Moses  käme  mit  allen 
Propheten  und  thäten  alle  Wunderwerke  für  ihren  Augen,  dass 
sie  sollten  ihren  harten  Sinn  fahren  lassen,  so  wäre  es  doch  um- 
sonst .  .  Wenn  sie  auch  über  diese  1500  Jahr  noch  1500  Jahr 
sollten  im  Elend  sein,  dennoch  muss  Gott  ein  Lügner,  sie  aber 
wahrhaftig  sein.  Summa,  es  sind  junge  Teufel  zur  Hölle  ver- 
dammt; ist  aber  noch  etwas  menschliches  in  ihnen,  dem  mag 
solch  Schreiben  zu  nutz  und  gut  kommen.  Vom  ganzen  Haufen 
mag  hoffen,  wer  will,  ich  habe  da  keine  Hoffnung:  .  .  „Denn  dass 
etliche  aus  der  Epistel  zum  Römern  am  n.Cap.  solchen  Wahn 
schöpfen,  als  sollten  alle  Juden  bekehret  werden  am  Ende  der 
Welt,  ist  nichts;  St.  Paulus  meinet  gar  viel  ein  anderes." 

Luther  verdeutscht  dann  zuerst  das  elfte  Capitel  im  ersten 
Theil  des  Buches  Purcheti,  in  welchem  derselbe  die  jüdischen  Läster- 
erzählungen über  die  Zaubereien,  die  Christus  unter  Anwendung  des  ' 
vierbuchstabigen  Namens  Gottes  Jehovah  getrieben  habe,  mittheilt. 
Durch  cabbalistische  Träume  und  Zaubereien  steckten  sie  auch 
viele  einfache  Christen,  ja  selbst  Dorfpfarrer,  Küster  und  Edelfrauen 
an,  wie  dies  Luther  und  seine  Genossen  bei  der  Kirchenvisitation 
erfahren  hatten.  Sah  sich  doch  auch  später  1545  Luther  ge- 
nöthigt,  den  Kurfürsten  Joachim  von  Brandenburg,  welcher  sich 
durch  Juden  zur  Alchymie  hatte  verleiten  lassen  und  dem  Propst, 
der  ihn  deswegen  strafte,  zürnte,  brieflich  zu  warnen. 

Im  zweiten  Theil  aber  weist  er  die  jüdischen  Angriffe  auf 
die  zwei  verschiedenen  Stammbäume  Christi  bei  Matthäus  und 
Lukas  ab  und  erklärt  dann  zuletzt:  „Hie  will  ich's  lassen  und 
mit  den  Juden  nicht  mehr  zu  thun  haben,  noch  weiter  von  ihnen 
oder  wider  sie  schreiben;  sie  haben's  genug.  Welche  sich  be- 
kehren wollen,  da  gebe  Gott  seine  Gnade  zu,  dass  sie  (doch 
etliche)  mit  uns  erkennen  und  loben  Gott  den  Vater,  unsern 
Schöpfer,  sammt  unserm  Herrn  Jesu  Christo  und  dem  heiligen 
Geist  in  Ewigkeit.     Amen." 

Aber  so  sehr  es  ihm  widerstrebte  gegen  die  Juden  aufzu- 
treten, sah  er  sich  doch  noch  einmal  hiezu  veranlasst;  und  zwar 
ist  das  letzte  öffentliche  Zeugniss,  das  Luther  überhaupt  gethan 
hat,  die  an  dem  Sonntage  vor  seinem  Tode  von  ihm  in  Eisleben 
gegen  die  Juden  gehaltene  Predigt.  Unter  dem  Titel:  „Luthers 
Vermahnung  wider  die  Juden",  ist  sie  seinen  Werken  einverleibt 


-     38     - 

(Altenb.  VIII,  531).  Luther  ermahnt  in  dieser  Predigt  seine  Zu- 
hörer zu  zwei  Dingen:  vor  allem  dem  Evangelio  treu  zu  bleiben, 
und  sodann  dem  verderblichen  Einflüsse  der  Juden  zu  widerstehen. 
„Nun  wollen  wir  christlich  mit  ihnen  handeln  und  bieten  ihnen 
erstlich  den  christlichen  Glauben  an,  dass  sie  den  Messias  wollen 
annehmen,  der  doch  ihr  Vetter  ist  und  von  ihrem  Fleisch  und 
Blut  geboren  und  rechter  Abrahams  Same,  dessen  sie  sich 
rühmen  .  .  Das  sollt  man  ihnen  erstlich  anbieten,  dass  sie  sich 
zu  dem  Messias  bekehren  wollen  und  taufen  lassen,  dass  man 
sehe,  dass  es  ihnen  ein  rechter  Ernst  ist.  Wenn  nicht,  so  wollen 
wir  sie  nicht  leiden  .  .  .  Denn  soll  ich  den  bei  mir  leiden,  der 
meinen  Herrn  Christum  lästert  und  verflucht,  so  mache  ich  mich 
fremder  Sünde  theilhaftig,  so  ich  doch  an  meiner  eigenen  Sünde 
genug  habe.  Wo  sie  sich  aber  bekehren,  ihren  Wucher  lassen 
und  mit  Ernst  Christum  annehmen,  so  wollen  wir  sie  gern  als 
unsere  Brüder  halten.  Das  habe  ich  als  ein  Landeskind  euch  zur 
Warnung  sollen  sagen  zur  Letzte,  dass  ihr  euch  fremder  Sünde 
nicht  theilhaftig  machet." 

Alle  diese  Zeugnisse  Luthers  der  Juden  halber  und  an  sie 
kamen  nun  bald  zu  ihrer  Kenntniss,  aber  sie  suchten  dieselben 
nur  aus  den  gemeinsten  Beweggründen  abzuleiten.  Schon  in  der 
1573  in  Basel  erschienenen  Schrift  des  Marcus  Lombardus  (Conrad 
Huser)  wird  dessen  Erwähnung  gethan,  dass  die  Juden  behauptet 
hätten,  Luther  habe  aus  Rache,  weil  ihm  ein  Anlehen  von  einigen 
hundert  Gulden  von  ihnen  verweigert  worden  sei,  gegen  sie  ge- 
schrieben. Und  ebenso  theilt  J.  Alb.  Fabricius  in  seinem 
Centifolium  Lutheranum  1728  mit,  die  Juden  hätten  ausgesprengt, 
dass  Luther  von  den  Frankfurter  Juden  eine  grosse  Summe 
Geldes  erbeten  und  dass  er  ihnen  für  die  Gewährung  derselben 
versprochen  habe,  sie  in  seinen  Schriften  zu  loben.  Sie  hätten 
aber  dieses  Anerbieten  abgeschlagen,  weil  sie  dem  Kaiser  Karl  V. 
die  Treue  hätten  halten  wollen,  und  Luther  habe  dann,  um  Ver- 
geltung zu  üben,  seine  judenfeindlichen  Schriften  erscheinen  lassen. 

Doch  auch  für  Christen  ist  es  überaus  leicht,  bei  diesem 
Auftreten  Luthers  gegen  die  Juden  einfach  nur  von  fleischlichem 
Eifer,  zn  dem  er  sich  ja  allerdings  vielfach  hinreissen  Hess,  zu  reden; 
gerecht  wird  man  aber  hierbei  weder  seiner  Person  noch  seiner 
Aufgabe.  Luther  war  in  der  That  ein  Prophet  Gottes,  wie  er 
selbst  dies  am  Klarsten  wusste,  und  hatte  daher  ebensogut  wie 
die  Propheten    des  Alten   Testamentes    den  Beruf  eines    solchen 


—     39     — 

ganz  und  voll  in  Kirche  und  Staat,  den  herrschenden  Gewalten 
im  kirchlichen  wie  im  politischen  Gemeinwesen  gegenüber, 
hinsichtlich  des  religiösen  wie  des  gesellschaftlichen  Lebens,  hin- 
sichtlich des  eigenen  Volkes  wie  hinsichtlich  anderer  Völker 
auszurichten. 

Darin  hat  denn  auch  Luther  seinen  Prophetenberuf  wahrlich 
nicht  verfehlt,  dass  er  für  die  Juden  nicht  eine  Stellung  wie  die 
es  ist,  welche  die  moderne  Emancipation  für  sie  geschaffen  hat, 
forderte.  Vielmehr  handelte  er  ganz  recht,  wenn  er  Fürsten  und 
Völker  ermahnte,  Gesetze  und  Ordnungen  zu  schaffen,  um  dem 
vorzubeugen,  dass  die  Juden  nicht  das  religiöse  und  sociale 
Leben  ihrer  christlichen  Umgebung  verderbten.  Darin  trat  auch 
jener  richtige  Patriotismus  zu  Tage,  welchen  die  Propheten  Israels 
und  ein  Apostel  Paulus  in  so  hohem  Masse  bekunden:  jener 
Patriotismus,  welcher  eine  heilige  Liebe  zu  dem  Volke  hegt,  dem 
man  nach  Gottes  Willen  angehört.  Luther  wollte  sein  deutsches, 
christliches  Volk,  das  als  christliches  eine  noch  viel  höhere  Auf- 
gabe auszurichten  hatte  als  das  auf  der  alttestamentlichen  Stufe 
befindliche  Israel,  nicht  verderben  lassen,  sondern  alles  aufbieten, 
damit  es  diesem  seinem  hohen  Berufe  lebe.  Als  Patriot  im 
christlichen  Sinne  hat  er  daher  auch  gegen  Rom  und  die  Juden 
einen  unermüdlichen  Kampf  gekämpft;  und  Niemand  vor  wie 
nach  ihm  hat  so  sehr  darum  geeifert,  dass  die  Stellung,  welche 
Gott  dem  deutschen  Volke  in  seinem  Reiche  auf  Erden  ange- 
wiesen hat,  ihm  nicht  verloren  gehe. 

So  ist  es  denn  beides,  ein  echt  christliches  und  echt 
patriotisches  Thun  und  Wirken,  dass  Luther  bis  zu  seinem  letzten 
Odemzuge  die  Judenfrage  im  deutschen  Volke  und  vor  demselben 
unter  das  Licht  des  Evangeliums  zu  stellen  trachtet.  Wenn  er 
dabei  aber  den  Juden  das  Gericht  verkündigen  muss,  so  wird 
ihm  das  nicht  minder  schwer,  als  wenn  dies  die  Propheten  des 
Alten  Testaments  zu  thun  haben.  Er  sagt  mit  voller  Aufrichtig- 
keit in  der  Schrift  „Von  den  Juden  und  ihren  Lügen":  „Es  ist 
der  Zorn  Gottes  über  sie  gekommen,  daran  ich  nicht  gern  ge- 
denke, und  ist  mir  dies  Buch  nicht  fröhlich  zu  schreiben  gewest" 
und  dass  ihm  darüber  „das  Herz  weh  thut". 

Schon  hierdurch  unterscheidet  er  sich  völlig  von  den  moder- 
nen Judenfeinden.  Er  heisst  nicht  aus  pharisäischer  Verliebtheit 
in  die  deutsche  Art  die  Juden  lediglich  abwehren.  Gerade  im 
Gegentheil  wird  er  nicht  müde,  immer  von  Neuem  seine  Deutschen 


—     40     — 

darauf  hinzuweisen,  dass  die  Juden  ihnen  dasjenige  Schicksal 
vor  Augen  stellen  sollten,  welches  sie  selbst  treffen  werde,  wenn 
sie  auch  wie  jene  das  Zeugniss  des  Evangeliums  verachten  würden. 
Er  lässt  sich  nirgends  auch  nur  im  Geringsten  durch  die  Anti- 
pathie gegen  die  Juden  zu  seinem  Auftreten  wider  sie  bestim- 
men; selbst  bei  dem  äussersten  Spott  und  Hohn  zeigt  sich  hier- 
von bei  ihm  nichts,  sondern  er  glaubt,  Spott,  Hohn  und  harte 
Rede  gegen  sie  als  Waffen  gegen  die  Feinde  Gottes  gebrauchen 
zu  müssen;  und  eben  lediglich  darum,  weil  sie  Feinde  Gottes 
und  seiner  Gemeinde  sind,  schlägt  er  alle  jene  scharfen  Maass- 
regeln gegen  sie  vor. 

Ihm  ist  das  Schicksal  der  Juden  auch  nicht  gleichgiltig 
gewesen,  sondern  er  fühlte  es  vielmehr  wie  einen  Brand  in  seinem 
Herzen,  dass  auf  sie  das  Feuer  des  göttlichen  Zornes  gefallen 
ist.  Daher  hätte  er  ihnen  gern  geholfen  und  glaubte,  dass  „durch 
eine  scharfe  Barmherzigkeit"  vielleicht  noch  einzelne  aus  dem 
Feuer  gerettet  werden  könnten.  Um  das  Wohl  so  manches 
Proselyten  war  er  treulich  besorgt  und  die  Taufe  von  Juden 
wollte  er  besonders  feierlich  gestaltet  wissen,  wie  dies  sein  Brief 
an  P.  Gnesius  zu  Ichtershausen  1531  über  die  Form  der  Taufe 
einer  Jüdin  beweist. 

Mit  seinem  ganzen  Herzen,  welches  für  die  Ehre  des 
heiligen  Gottes  und  für  die  Erhaltung  seiner  Gemeinde  glühte, 
ja  welches  selbst  die  aus  der  Mitte  seiner  Gegner  in  herzlicher 
Fürsorge  umfasste,  welche  sich  retten  lassen  wollten,  schrieb  und 
redete  Luther  wider  die  Juden.  Nach  allen  diesen  Seiten  hin 
bleibt  er  denn  auch  für  uns  eine  beständige  Mahnung;  und  die 
Judenfrage  unserer  Tage  hätte  nicht  die  gegenwärtige  drohende 
Gestalt  angenommen,  wenn  sich  zumal  die  evangelische  Christen- 
heit mehr  von  jenem  Eifer  Luthers  um  die  Ehre  des  heiligen 
Gottes  in  ihrem  ganzen  Leben  bewahrt  hätte.  Dann  wäre  es 
nicht  zu  jener  falschen  Vereinigung  und  Verbindung  zwischen 
Juden  und  Christen  gekommen,  welche  beiden  Theilen  zum  Ver- 
derben gerathen  ist.  Und  die  Thatsache  besonders,  dass  Luthers 
letztes  öffentliches  Wort  eine  Vermahnung  an  seine  Christen  und 
lieben  Landsleute  war,  sich  vor  dem  Verderben  zu  hüten,  das 
durch  die  Juden  in  ihrer  Mitte  auf  ihr  ganzes  Leben  auszugehen 
drohte,  sollte  uns  beständig  in  Erinnerung  bleiben.  In  jenen 
Zeugnissen  liegt  ein  Vermächtniss  des  Propheten  Gottes  an 
unser  Volk  vor;  und  ein  Zufall  ist  es  nicht  gewesen,  dass  Luthers 


—    41    — 

letzte  Mahnung  an  unser  Volk  dahin  ging,  das  Evangelium  sich 
zu  bewahren  und  sich  vor  den  Juden  zu  hüten. 

Eins  jedoch  ist  für  Luthers  Stellung  zu  den  Juden  verhäng- 
nissvoll geworden.  Er  hat  den  Unterschied  zwischen  Verstockung 
und  Sünde  wider  den  heiligen  Geist  nicht  erkannt,  sondern  jene 
bei  den  Juden  betrachtet,  als  wäre  sie  bereits  die  andere.  Die 
Verstockung  aber,  obwohl  der  allergefährlichste  unter  den  sünd- 
lichen Zuständen,  ist  nicht  in  jedem  Falle  vom  heiligen  Geiste 
unüberwindlich,  sondern  auch  die  Verstockung  lässt  noch  der 
Hoffnung  Raum;  und  gerade  der  Apostel,  welcher  von  Israel 
schreibt,  es  ist  verstockt,  hält  trotzdem  noch  an  der  Errettung 
desselben  in  der  endlichen  Znkunft  fest.  Luther  betrachtete 
hernach  das  jüdische  Volk  als  eine  Masse  des  Verderbens,  aus 
welcher  nur  einzelne  gerettet  werden  könnten.  Es  sei  der  Sünde 
des  Teufels  verfallen,  und  dessen  Gericht  stehe  ihm  daher  auch 
nur  bevor.  Darum,  obwohl  in  dem  Gedanken  an  ein  solches 
Verhängniss  seine  ganze  Natur  erbebte,  denn  er  hatte  ein  tief 
und  zartfühlendes  Herz,  meinte  er  zuletzt  auch,  es  sei  frevelhaft, 
dieses  Feuer  löschen  zu  wollen.  Für  den  Teufel  solle  es  nach 
Gottes  Willen  nur  Verdammniss  geben,  und  so  müssten  sich  auch 
die  Christen  für  die  Juden  in  einen  solchen  Ausgang  der  Dinge 
schicken,  so  sehr  sie  darüber  das  Entsetzen  ergreifen  möchte. 
Luther  erkannte  eben  nur  den  einen  der  beiden  Gottesgedanken, 
welcher  das  Leben  der  Juden,  die  dem  Heile  in  Christo  widerstreben, 
beherrschte,  den  des  Gerichtes  über  dieselben;  für  den  andern 
dagegen,  den  der  göttlichen  Geduld  und  Gnade  öffnete  er  in  der 
späteren  Zeit  sein  Herz  immer  weniger.  Die  Heiligkeit  Gottes 
fühlte  er  in  ihrer  ganzen  Erhabenheit  und  Unantastbarkeit  und 
hatte  auch  in  die  Tiefen  der  Gnade  wie  kein  anderer  seit  der 
Apostel  Tagen  hineingeblickt.  Aber  hier  finden  wir  bei  ihm 
eine  Grenze  und  Schranke.  Ohne  Busse  kann  die  Gnade  ihr 
Werk  nicht  thun,  und  versagte  Busse  ist  eine  Feindschaft  wider 
Gott,  darin  hatte  er  freilich  Recht.  Aber  dass  die  Gluth  der 
Gnade  auch  ein  in  der  Unbussfertigkeit  zu  Stein  gewordenes 
Herz  noch  einmal  schmelzen  könnte,  wollte  er  nicht  glauben. 
Ihm  blieb  an  der  Gnade  die  Seite  der  Geduld  verborgen,  und 
so  hat  er  denn  auch  diese  christliche  Tugend  in  sich  selbst  gar 
wenig  pflanzen  lassen.  Er  verlor  thatsächlich  den  Juden  gegen- 
über jene  heilige  Geduld,  welche  Gott  doch  selbst  die  Gefässe 
des  Zornes  noch  tragen  lässt,  und  den  Glauben  an  die  Allmacht 


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der  Gnade,  die  er  sonst  allen  Sündern  so  hell  und  klar  verkündigt 
hatte.  Eine  positive  Arbeit  wollte  er  daher  auch  an  ihnen  nicht 
mehr  gethan  wissen,  da  Gott  über  sie  entschieden  habe,  und 
man  ihm  also  nicht  in  seinen  Arm  fallen  dürfe;  den  einzelnen 
allein  müsse  es  überlassen  bleiben  „von  dem  grossen  Haufen 
abzuspringen  und  sich  in  die  Arche  der  Kirche  zu  flüchten". 

Der  Luther  des  Anfanges  gleicht  mithin  dem  Luther  des 
Endes  sehr  wenig,  und  ausreichende  Anweisungen,  welches  Ver- 
hältniss  sie  zu  den  Juden  einnehmen  sollten,  empfingen  die  christ- 
lichen Völker  von  ihm  nicht.  Er  überbot  schliesslich  noch  den 
schmerzlichen  Fehler  des  Mittelalters.  Denn  er  verfiel  nicht 
bloss  in  den  alttestamentlichen  und  römischen  Standpunkt, 
welcher  die  falsche  Religion  mit  Gewalt  unterdrücken  wollte, 
zurück,  sondern  ging  zum  Theil  noch  weiter  als  die  Päpste, 
welche  die  Juden  wenigstens  nicht  vor  die  Wahl  gestellt  sehen 
wollten,  entweder  das  Christenthum  anzunehmen  oder  ihre  Wohn- 
sitze unter  den  Christen  zu  verlassen.  In  dieser  Beziehung  hat 
Luther  das  Verständniss  für  die  Judenfrage  und  die  Behandlung 
derselben  eher  verwirrt  als  gefördert. 

Trotz  alledem  bleibt  es  nun  aber  doch  dabei,  dass  Luther 
für  die  Juden  die  höchste  Bedeutung  gewonnen  hat,  und  dass 
auch  die  Christenheit  durch  ihn  zu  einer  anderen  Stellung  den- 
selben gegenüher  geführt  worden  ist.  Die  Prinzipien,  welche  er 
in  das  allgemeine  Leben  der  christlichen  Völker  und  der  ganzen 
Welt  hineingeführt  hat  und  die  auch  in  seinen  ersten  die  Juden 
angehenden  Zeugnissen  reiner  ausgesprochen  wurden,  waren 
Lebensmächte,  welche  sich  selbst  durch  die  Einseitigkeiten  und 
Fehler  Luthers  nicht  fesseln  Hessen.  Sie  waren  und  sind  mit 
keiner  einzelnen  Person  unauflöslich  verbunden  und  entfalteten 
sich  auch  über  die  Grenzen  hinaus,  die  ihnen  etwa  ihr  erster 
Verkündiger  stecken  wollte.  Sie  drangen  in  das  gesammte  Leben 
ein  und  prägten  ihm  immer  sichtbarer  ihre  Gestalt  auf.  Noch 
in  der  atheistischen  Verzerrung,  welche  Luthers  Gedanken  in  der 
französischen  Revolution  erhielten,  erkennt  man  die  reformato- 
rischen Grundsätze  und  ihr  unveräusserliches  Recht  wieder. 

Insbesondere  aber  wurde  auch  dadurch,  dass  Luther  und 
die  Reformation  die  Bibel  in  die  Hände  des  evangelischen  Volkes 
gelegt  hatten,  dieses  selbst  fortwährend  auf  das  Schriftzeugniss 
hinsichtlich  der  Juden  und  auf  die  Pflicht,  welche  ihnen  das  gött- 
liche   Wort    denselben    gegenüber   auferlegte,    hingewiesen.     Die 


—     43     — 

evangelische  Christenheit  sah  unter  ihrem  fleissigen  Gebrauch  der 
Schrift  unaufhörlich  ihre  Augen  auf  die  Juden  gerichtet,  und  hat, 
so  lange  sie  überhaupt  der  Bibel  die  ihr  gebührende  Stellung 
Hess,  sich  beständig  an  dieselbe  erinnert  gesehen.  Während  die 
römischen  Christen  vollständig  durch  die  Stellung  ihrer  Autori- 
täten zu  den  Juden  bestimmt  werden,  ist  das  Verhältniss  im 
Protestantismus  ein  anderes  gewesen.  Das  abgeschlossene  und 
auch  in  seinem  Zeugniss  hinsichtlich  der  Juden  sich  immer  gleich 
bleibende  Gotteswort  in  der  Bibel  hat  hier,  allen  Zeitansichten 
und  allen  Strömungen  in  der  Kirche  zum  Trotz,  unmittelbar  zu 
den  Herzen  und  Gewissen  zu  reden  vermocht.  Eben  daher  fühlte 
sich  aber  die  evangelische  Christenheit  selbst  stets  an  die  Juden 
gemahnt.  Es  ist  denn  auch  gar  kein  Vergleich,  in  wie  viel 
höherem  Grade  das  protestantische  als  das  römisch-  oder  grie- 
chisch-katholische Volk  den  Juden  seine  Aufmerksamkeit  geschenkt 
hat.  Die  in  der  evangelischen  Kirche  und  in  der  evangelischen 
Welt  wirklich  gelesene  Bibel  gestattet  es  denselben  nun  einmal 
nicht,  bei  den  Juden  vorüberzugehen,  sondern  die  Schrift  knüpfte 
immer  wieder  neue  Verbindungen  zwischen  den  beiden  Theilen, 
auch  wenn  der  natürliche  Zug  der  Herzen  dem  noch  so  sehr 
zuwider  war. 

Seit  der  Reformation  war  es  daher  nicht  mehr  möglich, 
dass  die  frühere  Isolirung  zwischen  der  Christenheit  und  den 
Juden  in  derselben  Weise  und  in  dem  gleichen  Maasse  wie  früher 
fortbestand;  die  Bibel  inmitten  der  evangelischen  Welt  Hess  es 
nicht  dazu  kommen.  Von  jetzt  ab  war  ein  Band  vorhanden,  das 
immer  wieder  die  Getrennten  mit  einander  zu  verbinden  suchte. 
Ein  Neues  musste  allmählig  eintreten,  wenn  die  Schrift  nicht  ein 
todtes  Ding  in  der  evangelischen  Kirche  wurde.  In  demselben 
Grade,  als  die  Schrift  in  ihr  lebendiger  hervortrat,  war  dann  auch 
die  Verbindung  mit  den  Juden  eine  lebhaftere ;  und  in  demselben 
Grade,  als  die  Schrift  zurücktrat,  traten  für  sie  die  Juden  in 
den  Hintergrund. 

Auch  jene  völlige  Umwandlung,  welche  die  Verhältnisse  der 
Juden  durch  die  französische  Revolution  erfahren  haben,  hat  ihren 
ersten  Anstoss  durch  die  Reformation  Luthers  erhalten;  und  alles  Gute 
in  dem  Humanismus,  den  diese  französische  Bewegung  als  Lebens- 
gesetz erwählt  hat,  ist  nur  ein  mit  vielen  gefährlichen  Irrthümern 
durchsetzter  Ueberbleib  jener  herzlichen  christlichen  Theilnahme 
und  Liebessorge  für  alle  Menschen,    wie  sie    in  Luthers  Schrift, 


—     44     — 

„dass  Jesus  Christus  ein  geborener  Jude  sei"  zu  Tage  tritt.  Aller- 
dings aber  haben  die  Irrthümer  und  Fehler,  welche  wir  in  Luthers 
Stellung  zu  den  Juden  wahrnahmen,  auch  vielfach  nachtheilig 
gewirkt.  Denn  nicht  wenige  glaubten  dem  Reformator  darin  recht 
nachzufolgen,  wenn  sie  auch  seine  Irrwege  gingen,  während  sie 
seine  grossen  Gedanken  in  sich  nicht  aufnahmen.  Im  Schlimmen 
wie  im  Guten  und  Heilsamen  wirkt  denn  auch  thatsächlich  Luthers 
Werk,  Vorgehen  und  Beispiel  in  der  Judenfrage  noch  immer  fort. 

3.  Die  anderen  Reformatoren  und  Luthers  unmittel- 
bare Nachfolger. 

In  den  Ländergebieten  der  reformirten  Kirche  gab  es  im 
Anfange  der  Reformation  entweder  gar  keine  Juden,  oder  sie 
waren  dort  nur  in  spärlicher  Zahl  vorhanden.  Man  trat  desshalb 
in  jenen  Gegenden  mit  den  Juden  nicht  in  so  unmittelbare  und 
lebendige  Berührung.  Dieser  Umstand  erklärt  es  auch  wohl, 
dass  Calvin  und  Zwingli  ihr  Augenmerk  nur  wenig  auf  die  Juden 
richteten.  Calvin  ist  allerdings  wenigstens  einmal  mit  einem 
öffentlichen  Zeugniss  an  die  Juden  herangetreten,  das  hernach 
aus  seinen  Briefen  (358)  der  Baseler  Buxtorf  als  Schlusswort 
zur  Synagoga  Judaica  oder  Judenschule  1605,  erste  Aufl.,  weiter 
verbreitet  hat.  Calvin  antwortet  hier  auf  Fragen  eines  Juden, 
welcher  Widersprüche  des  Christenthums  mit  den  Lehren  des 
Alten  Testamentes  nachzuweisen  sucht.  Die  Antworten,  welche 
er  seinem  Gegner  aus  dem  Alten  Testament  selbst  heraus  ertheilt, 
sind  ebenso  klare  als  entscheidende.  Aber  freilich  zeigen  die- 
selben auch,  dass  jener  Reformator  nicht  die  mindeste  Theilnahme 
für  die  Juden  empfand,  denn  er  weist  sie  lediglich  in  scharfem 
und  hartem  Tone  ab.  Luther,  auch  wenn  er  voll  Zornes  an  und 
wider  die  Juden  schreibt,  thut  es  unter  innerster  Bewegung  seines 
Herzens  um  des  Gerichtes  willen,  das  sie  auf  sich  selbst  herab- 
geladen haben.  Calvin  dagegen  ist  es  lediglich  um  eine  schneidige 
Zurückweisung  ihrer  Angriffe  zu  thun. 

Sehr  viel  wohlthuender  dagegen  werden  wir  durch  Th.  Beza, 
den  Freund  und  Mitarbeiter  Calvins  in  Genf  berührt,  der  eine  ganz 
andere  Stellung  zu  den  Juden  einnahm  und  seinen  Bemerkungen 
zu  Römer  II,  18  ein  Gebet  hinzufügte,  von  dem  er  selbst  sagt, 
dass  er  es  täglich  für  die  Bekehrung  der  Juden  bete.  In  leb- 
haftere Beziehung   zu    den  Juden   trat  Martin  Bucer.     Man   hat 


—    45     — 

demselben  sogar,  weil  er  in  seiner  metaphrasis  et  enarratio  des 
Römerbriefes  anerkennt,  dass  Israel  noch  einmal  werde  bekehrt 
werden,  jüdischer  Meinungen  beschuldigt  und  von  ihm  behauptet, 
er  sei  jüdischer  Abkunft;  aber  diese  letztere  Behauptung  ist  ohne 
Grund,  denn  er  war  der  Sohn  eines  Schlettstädter  Bürgers  aus 
einer  altchristlichen  Familie,  und  jüdische  Meinungen  oder  Nei- 
gungen sind  in  ihm  am  allerwenigsten  zu  entdecken.  Auf  Ver- 
langen Philipps  von  Hessen  hat  er  mit  Melander  und 
anderen  1539  em  »Bedenken,  wie  die  Juden  unter  den  Christen 
zu  halten  seien",  herausgegeben,  das  sehr  scharf  und  streng  lautet. 
Er  rieth  hier  im  Verein  mit  anderen  reformirten  Theologen  den 
Juden  keine  Lästerung  des  Namens  Christi  zu  gestatten,  ihnen  den 
Gebrauch  des  Talmud  zu  verbieten  und  nur  das  Alte  Testament  zu 
gestatten,  die  Erbauung  neuer  Synagogen  zu  verweigern  und  den 
Christen  es  nicht  zu  erlauben,  mit  Juden  zu  disputiren.  Dagegen 
sollten  bestimmte  Prediger  angestellt  werden,  welche  mit  den  Juden 
reden  sollten,  und  letztere  gehalten  sein,  Predigten  derselben  an- 
zuhören. Wuchern  und  jedes  Handelsgeschäft  sei  ihnen  zu  ver- 
bieten, und  dafür  seien  sie  zu  grober  Handarbeit  anzuhalten. 
Helfe  aber  das  alles  nichts,  so  solle  man  sie  wie  tolle  Hunde  aus 
dem  Lande  jagen. 

Zum  ersten  Male  begegnen  wir  hier  im  Gebiete  der  evan- 
gelischen Kirche  dem  Vorschlage,  die  Juden  zur  Anhörung  christ- 
licher Predigten  und  Lehrunterweisungen  zu  zwingen,  und  man 
hat  demselben  hernach  leider  mehrfach  Folge  gegeben. 

Haben  in  diesem  Stücke  reformirte  Theologen  kein  gutes 
Beispiel  gegeben,  so  kommt  ihnen  anderseits  aber  das  Verdienst 
zu,  auf  dem  Judenmissionsgebiete  am  Frühesten  mit  wissenschaft- 
lichen Leistungen  hervorgetreten  zu  sein.  Menrad  Molther  gab 
1532  in  Heidelberg  aus  einem  Manuscript  die  drei  Bücher  des 
Erzbischofs  Julianus  Pomerius  in  Toledo  (689)  de  demon- 
stratione  sextae  aetatis  heraus.*)  Es  wird  hierselbst  die  Behaup- 
tung der  Juden  bekämpft,  dass  der  Messias  erst  nach  6000  Jahren 
erscheinen  werde,  und  aus  Altem  und  Neuem  Testament  bewiesen, 
dass  er  in  der  Zeit  erschienen  sei,  wo  er  allgemein  erwartet  wurde. 

Besonders  anregend  aber  hat  Conrad  Pellican,  der  1556 
als  Professor  des  Hebräischen  in  Zürich  starb,  gewirkt.  Er  hat 
in  der  reformirten  Kirche  recht  eigentlich  den  Eifer  für  die  rab- 


•')  Wolfs  Bibl.  Ilebr.  (\V.  B.  II.)  2,  S.  999. 


-     46     - 

bini sehen  Studien  geweckt.  Als  er  einst  einen  römischen  Theologen 
gegen  eine  Jüdin  zu  Schanden  werden  sah,  beschloss  er  sich  auf 
das  Hebräische  zu  legen  und  hat  dann  dasselbe  durch  einen 
bekehrten  Juden,  Paul  Pfedersheimer,  erlernt.  Seitdem  lenkte 
er  die  Aufmerksamkeit  seiner  Schüler  auf  die  Juden  und  die 
Frucht  dessen  blieb  nicht  aus.  Einem  seiner  Schüler,  Sebastian 
Münster,  hat  Deutschland  die  erste  Ausgabe  der  hebräischen 
Bibel  zu  danken,  Basel  1534,  35.  Er  hat  dieselbe  aber  haupt- 
sächlich im  Missionsinteresse  veranstaltet;  denn  er  Hess  sie  mit 
jüdisch- deutschen  Lettern  drucken  und  fügte  der  mitfolgenden 
lateinischen  Uebersetzung  Anmerkungen  aus  rabbinischen  Com- 
mentaren  hinzu.  Sebastian  Münster  übersetzte  jedoch  auch  das 
Evangelium  Matthäi  und  den  Hebräerbrief  ins  Hebräische  (Basel 
1537),  dieser  Uebertragung  eine  lateinische  und  Anmerkungen 
hinzufügend.  Um  aber  die  Wirkung  der  Lektüre  dieser  neutesta- 
mentlichen  Schriften  für  die  Juden  zu  erhöhen,  schickte  er  dem 
Matthäus-Evangelium  eine  Vorrede  voran.  Diese,  hebräisch  verfasst 
und  gleichzeitig  mit  lateinischer  Uebersetzung  versehen,  enthielt  eine 
kurze  Darlegung  des  christlichen  Glaubens,  und  wurde  demselben 
der  Glaube  der  Juden  seiner  Zeit  gegenüber  gestellt.  Dieser  Dar- 
legung folgt  eine  Bekämpfung  der  jüdischen  Irrthümer  und  der 
verkehrten  Meinungen  der  Juden  über  das  Christenthum.  Das 
Ende  der  Vorrede  aber  bildet  die  sagenhafte  Erzählung  über  die 
Annahme  des  Christenthums  durch  die  Chazaren.  Auch  einen  Kate- 
chismus liess  Sebastian  Münster  unter  dem  Titel  Emunah  Hame- 
schichim,  fides  Christianorum  erscheinen,  von  dem  Wolf  Bibl.  H. 
eine  1582  in  Basel  erschienene  Ausgabe  erwähnt.*)  Die  luthe- 
rischen Theologen  hat  später  besonders  das  Beispiel  von  Seba- 
stian Münster  zu  wissenschaftlicher  Arbeit  auf  dem  Missions- 
gebiete ermuntert. 

Paulus  Fagius  liess  Isna  1542  Precationes  Hebraicae  er- 
scheinen. Den  hebräischen  und  in  lateinischer  Uebersetzung  mit- 
getheilten  jüdischen  Gebeten  stellt  er  christliche  ähnlichen  Inhalts 
in  derselben  Sprache  gegenüber.  Hierauf  folgt  die  Schrift  eines 
älteren  Proselyten:  Sepher  Emunah,  welche  die  Gründe  bespricht, 
durch  die  viele  Juden  vom  Uebertritt  zum  Christenthum  fern 
gehalten  werden,  selbst  wenn  sie  bereits  überzeugt  sind;  wonach 
zuletzt    die   jüdischen   Einwürfe    gegen    das  Christenthum   wider- 


►)  W.  B.  H.  2  S.  1066. 


—     47     — 

legt  werden.  Der  Verfasser  ermahnt  zugleich  ernstlich,  Ge- 
duld gegen  die  Juden  zu  üben  und  in  dem  Bestreben,  sie  auf 
den  rechten  Weg  zurückzuführen,  nicht  müde  zu  werden.  Paulus 
Fagius  hat  auch  Thisbi,  das  hebräische  Werk  von  Elias  Ger- 
manus ins  Lateinische  übersetzt,  und  hat  den  Züricher  Proselyten 
Michael  Adam  in  seiner  1543  erschienenen  ConstanzerUebertragung 
der  5  Bücher  Moses  und  der  5  Megilloth  ins  Deutsche  unterstützt. 
Damit  seine  Uebersetzung  von  den  Juden  gelesen  würde,  Hess 
Fagius  sie  mit  jüdischen  Lettern  drucken. 

Anzeichen  eines  herzlichen  Interesses  an  der  Bekehrung  der 
Juden  begegnen  uns  mehrfach  in  der  frühesten  lutherischen  Kirche. 
Wenceslaus  Link,  Prediger  zu  Altenburg,  übersetzte  im  Jahre 
1524  den  hernach  noch  mehrfach  in  deutscher  Sprache  heraus- 
gegebenen lateinischen  Brief  des  sogenannten  Rabbi  Samuel 
aus  Marokko.  Mit  diesem  Briefe,  welchen  man  damals  all- 
gemein für  das  Zeugniss  eines  Proselyten  hielt,  wollte  er  an  die 
Gewissen  der  Juden  dringen.  Er  selbst  gab  der  Schrift  den 
Titel  „dass  Jesus  von  Nazareth  der  wahre  Messias  sei,  desshalb 
die  Juden  auf  keinen  andern  warten  dürfen".  Bei  Wenceslaus 
Link  tritt  uns  höchst  wohlthuend  der  Sinn  entgegen,  mit  dem 
Luther  anfangs  den  Juden  zu  begegnen  bat.  Er  schreibt  in  der 
Vorrede:  „Lies  es  mit  Fleiss;  denn  es  dir  ohne  Zweifel  nützlich 
sein  wird  vielfältig.  So  wir  nicht  mit  Lästern,  Vermaledeien 
und  anderen  ungeschickten  Weisen,  sondern  mit  gegründeten 
Schriften  gegen  die  Juden  und  andere  Ungläubige  handeln  wür- 
den, möchten  wir  sie  Christo  unserm  Herrn  wohl  gehorsam  und 
unterthan  machen".  Eine  herzliche  Sorge  um  die  Bekehrung  der 
Juden  hat  Link  zur  Feder  greifen  lassen. 

Prediger  Caspar  Güttel  in  Eisleben  schrieb  1529  ein 
Büchlein  „Von  den  Strafen  und  Plagen,  die  etwa  Gott  über  die 
Juden  durch  Jesum  Christum  hat  verhangen,  eine  kurze,  liebliche 
Unterredung,  dass  Christus  wahrer  Gott  und  Mensch  sei".  In 
dieser  Schrift  lässt  er  einen  Christen  und  einen  Juden  mit  ein- 
ander reden.  Der  Jude  beklagt  sich  über  das  üble  Verhalten  so 
vieler  Christen  gegen  die  Juden  und  äussert  seine  Zweifel  hinsichtlich 
der  Gottheit  Christi.  Der  Christ  räumt  das  Recht  zur  Anklage 
gegen  die  Christen  ein,  beweist  aber  dann  die  Gottheit  Christi  aus 
der  Schrift,  besonders  aus  Psalm  2,  und  heisst  endlich  die  Juden 
Luthers  Schrift  „dass  Jesus  Christus  ein  geborener  Jude  sei" 
lesen.     Der  Ton   dieser  Schrift    ist    ein    durchaus    herzlicher  und 


-    As    - 

würdiger  und  ein  Beweis,  welchen  Eindruck  Luthers  erste  Zeug- 
nisse in  der  Sache  der  Juden  auf  viele  gemacht  hatten. 

Hans  Sachs  dichtete  1530  ein  Advents  -  Festspiel  „dass 
Christus  der  wahre  Messias  sei",  in  dem  ein  christlicher  Doktor 
von  einem  jüdischen  Rabbi  darüber  zur  Rede  gestellt  wird,  dass 
er  behaupte,  der  Messias  sei  schon  erschienen.  Adam,  Abraham, 
Jakob,  Moses,  David,  Jesaia,  Jeremia,  Micha,  Daniel  und  Zacharias 
müssen  desshalb  als  Zeugen  dafür  auftreten,  dass  allerdings  der 
Messias  bereits  gekommen  ist.  In  höchst  ansprechender  Weise 
führen  sich  hierbei  jene  alttestamentlichen  Personen  mit  den  be- 
kannten messianischen  Stellen  ein,  welche  die  Schrift  aus  ihrem 
Munde  oder  in  ihren  Büchern  enthält;  worauf  der  jüdische  Rabbi 
den  christlichen  Doktor  um  weitere  Belehrung  bittet.  Alle  diese 
Zeugnisse  der  Theilnahme  für  die  Juden,  welche  eine  Folge  des 
ersten  Aufrufs  Luthers,  sich  derselben  anzunehmen,  sind,  zeichnen 
sich  durch  einen  gemüthvollen,  warmen  Ton  aus. 

Grossen  Eifer  für  die  Bekehrung  der  Juden  bekundete  der 
Braunschweigisch-Lüneburgische  Superintendent  Urbanus  Rhegius. 
Jene  hatten  auch  in  Braunschweig  das  Aufkommen  der  neuen 
Kirche  so  verstanden,  als  sollte  von  nun  an  mit  der  christlichen 
Lehre  überhaupt  gebrochen  werden.  Wie  Luther  öfters  die 
Beweise  dafür  erhielt,  dass  die  Juden  alles  Ernstes  im  Anfange 
der  Reformation  meinten,  dass  nun  ihre  Zeit  gekommen  sei,  und 
die  Welt  ihnen  jetzt  zufallen  werde,  so  auch  Rhegius  in  Braun- 
schweig. Phil.  Jul.  Rehtmeier  berichtet  in  seiner  Kirchenhistorie 
der  Stadt  Braunschweig  (1707):  „Um  1530  mussten  die  Juden  in 
Braunschweig  einen  Eid  schwören,  dass  sie  den  Bürgern  ihre 
Lehre  nicht  vorsagen  noch  sie  mit  Schriften  verführen  und  aller 
Lästerung  Jesu  sich  enthalten  würden".  Urb.  Rhegius  fand  also 
in  seiner  nächsten  Umgebung  genug  Anlass,  denselben  entgegen- 
zutreten; aber  er  that  es  auf  echt  christliche  Weise,  indem  er 
den  Juden  zum  Herzen  und  Gewissen  redete,  um  sie  für  Christum 
zu  gewinnen.  Und  er  war  auch  der  Mann  dazu;  denn  er  be- 
herrschte in  einer  für  seine  Zeit  sehr  anerkennungswerthen  Weise 
das  Hebräische  und  war  auch  mit  der  rabbinischen  Literatur  ver- 
traut. So  richtete  er  denn  im  Jahre  1535  aus  Celle,  seinem 
Wohnorte,  ein  hebräisches  Sendschreiben  an  die  Juden,  welches 
lateinisch  übersetzt  seine  Werke  (3,  92),  Schudts  jüdische  Merk- 
würdigkeiten Thl.  4,  Forts.  3  S.  12  ^.  in  lateinischer  und  deut- 
scher Uebersetzung,  und  Delitzsch  Saat  1872,  Heft  1,  36  enthalten. 


—     A9     — 

Freundlich  bittet  er  hier  die  Juden,  sein  Schreiben  allein 
als  einen  Beweis  seines  Eifers  um  die  göttliche  Wahrheit  gelten 
zu  lassen  und  ihm  auf  dasselbe  Antwort  zu  geben.  Dann  weist 
er  sie  darauf  hin,  wie  gegenwärtig  in  der  Christenheit  das  Gesetz 
und  die  Propheten  fleissig  gelesen  und  alle  Schriften  des  Alten 
Testaments  von  den  Christen  ebenso  wie  von  den  Juden  als  göttliche 
Wahrheit  anerkannt  würden.  Dennoch  verwürfen  die  Juden  den 
Messias,  welchen  die  Propheten  lehrten.  Desshalb  beschwöre  er 
sie,  ihm  den  Grund  dessen  anzugeben.  Er  wolle  ihnen  kurz  zwei 
Fundamente  des  Glaubens  der  Christen  an  Jesus  als  den  Messias 
des  Alten  Testaments  zeigen:  Die  Worte  i  Mose  49  und  Daniel  9. 
Auf  diese  beiden  alttestamentlichen  Zeugnisse  für  die  Messianität 
Jesu  geht  er  näher  ein  und  bittet  die  Juden  darauf  ihm  zu  sagen, 
wer  anders  der  hier  gemeinte  sei.  Aber  sie  möchten  ihre  Mei- 
nung auch  mit  stichhaltigen  Gründen  vortragen  und  nicht  mit 
den  Erdichtungen  des  Buches  Nizzacbon  von  Salomo  Jarchi  ant- 
worten. Wohl  ärgere  sie  der  Gekreuzigte,  aber  sie  sollten  an 
Jesaia  53  denken,  welches  Kapitel  er  ihnen  eindringlich  vorhält; 
und  sollten  sich,  nachdem  sie  so  lange  an  die  Kraft  der  Thier- 
opfer  geglaubt  hätten,  nicht  daran  stossen,  wenn  nun  ein  Heiliger 
Gottes  das  Opfer  für  unsere  Sünden  gebracht  habe.  Mit  beweg- 
lichen Worten  ermahnt  er  sie  darauf,  ihr  Heil  nicht  länger  von 
sich  zu  weisen  und  sich  an  das  Wort  eines  ihrer  alten  Rabbiner 
zu  erinnern,  der  im  Anschluss  an  das  „alles  ist  eitel"  im  Prediger 
Salomonis  bekannte:  „eitel;  ist  das  Gesetz,  bis  dass  Messias  kommt."" 

Von  einer  Antwort  des  Juden  auf  dieses  Schreiben  hören 
wir  nicht.  Urbanus  Rhegius  aber  behielt  die  Juden  beständig  im 
Auge,  wie  er  denn  auch  persönlich  mit  ihnen  verkehrte.  1545 
erschien  von  ihm  in  Celle  noch  „Ein  Dialog  von  der  herrlichen, 
trostreichen  Predigt,  die  Christus,  Lukas  23,  von  Jerusalem  bis 
Emmaus  den  zwei  Jüngern  am  Ostertage  aus  Mose  und  allen 
Propheten  gethan  hat."  1606  ist  sodann  diese  Predigt  noch  ein- 
mal besonders  in  Wittenberg  erschienen.  In  diesem  Zwiegespräch 
mit  seiner  Ehefrau,  welche  übrigens  selbst  das  Hebräische  studirt 
hatte,  geht  Urbanus  Rhegius  sehr  ausführlich  auf  alle  messia- 
nischen  Stellen  des  Alten  Testaments  ein,  berücksichtigt  hierbei 
zugleich  die  jüdische  Auslegung  und  bekämpft  die  Auffassung, 
welche  den  Messias  als  einen  weltlichen  Herrscher  betrachtet. 
Ein  Rabbi  in  Hannover  habe  jüngst  zu  seinen  Juden  gesagt,  dass, 
wenn  auch  der  Messias  komme,    er  bei  demselben    gewiss    nicht 

J.  F.  A.  de    le    Roi,   Missionsbeziehungen.  4 


—     50    — 

die  Vergebung  der  Sünde  und  die  Gerechtigkeit  suchen  werde. 
Dasselbe  habe  er  auch  selbst  in  der  Synagoge  zu  Braunschweig 
neulich  predigen  hören.  Um  so  mehr  wolle  er  desshalb  die  Juden 
über  die  Person  und  das  Amt  des  Messias  belehren.  Eben  dies 
thut  er  nun  in  seinem  Dialoge.  Dabei  hält  er  nach  Hosea  und 
Römer,  n  an  der  Hoffnung  der  Bekehrung  der  Juden  fest  und 
erklärt,  weil  Gott  ihnen  noch  einmal  Gnade  erzeigen  wolle,  dürfe 
die  Christenheit  die  Juden  weder  verspotten  noch  sie  von  sich  stossen. 

Keinen  geringen  Eindruck  machte  Johannes  Draconites 
auf  manche  Juden.*)  Derselbe  war  Prediger  und  Professor  an 
einigen  Orten,  wie  in  Erfurt,  Wittenberg,  Marburg,  Rostock,  und 
Herausgeber  der  Gottesverheissungen  in  den  Propheten  und  einer 
Pentaglotte  über  verschiedene  Schriften  des  Alten  Testaments. 
In  der  Vorrede  zu  einem  Berichte  über  eine  an  Salomo  Naph- 
thali  in  Rostock  vollzogenen  Taufe  sagt  er  selbst,  dass  er  bis 
dahin  (um  1555)  bereits  7  Juden  getauft  habe,  die  alle  beständig 
geblieben  seien.  Insbesondere  war  er  der  geistliche  Vater  des 
trefflichen  Proselyten  Johannes  Isaak  Halevi  (Levita).  Draco- 
nites hatte  seine  eigenen  Kenntnisse  im  Hebräischen  einem  zur 
evangelischen  Kirche  übergetretenen  Juden  Bernhard  (Rabbi 
Jakob)  zu  danken.  Bis  an  sein  Lebensende  1566  setzte  er  eifrig 
seine  Missionswirksamkeit  fort. 

Den  Juden  kam  es  in  gewisser  Weise  zu  gute,  dass  die 
Reformation  den  weltlichen  Obrigkeiten  eine  neue  Stellung  ver- 
liehen hatte,  die,  trotz  alles  Bedenklichen,  das  mit  derselben  ver- 
bunden war,  in  ihnen  doch  ein  lebendiges  Bewusstsein  davon, 
dass  sie  in  ihrem  Amte  eine  christliche  Aufgabe  und  Pflicht  zu 
vollziehen  hätten,  erweckte.  Die  Fürsten  gingen  hierin  so  weit, 
dass  sie  geradeswegs  meinten,  dafür  Sorge  tragen  zu  müssen,  dass 
sich  die  Juden  in  ihren  Gebieten  zum  Christenthum  bekehrten. 
Das  erste  Beispiel  dieser  Art  finden  wir  in  der  Ordnung  Philipps 
von  Hessen  „Wie  die  Juden  sollen  gelitten  und  geduldet  werden" 
vom  Jahre  1539  und  1543.  Auch  diese  Judenordnung  nimmt 
auf  die  Thatsache  Rücksicht,  dass  die  Juden  in  den  evangelischen 
Gebieten  eine  gewisse  Rührigkeit,  um  die  Bevölkerung  für  ihren 
Glauben  zu  gewinnen,  entfaltet  hatten.  Denn  es  wird  denselben 
hier  nicht  bloss  die  Lästerung  und  Verspottung  der  christlichen 
Religion  verboten,  sondern  ihnen  auch  streng  eingeschärft,    dass 


")  Saat.     Johanni  79. 


—     5i     — 

sie  mit  keinem  andern  als  mit  den  dazu  verordneten  Predigern 
über  Religion  disputiren  dürften,  zugleich  aber  auch  bestimmt, 
dass  ihnen  besondere  Predigten  gehalten  werden  sollten,  denen 
alle  Juden  von  den  achtjährigen  Kindern  an  beizuwohnen  gehalten 
seien.  Ueber  ihr  Erscheinen  bei  diesen  Predigten  sollten  die 
Amtleute  Buch  führen  und  Anzeige  erstatten.  Von  langem  Be- 
stände ist  aber  diese  Ordnung  nicht  gewesen,  sie  widerstrebte 
ja  auch  dem  Geiste  des  Evangeliums  ebenso  wie  dem  Wesen 
der  reformatorischen  Kirchen.  Aber  ein  Zeugniss  dafür  war  sie 
immerhin,  dass  den  Obrigkeiten,  welche  sie  erliessen,  das  Heil  der 
Juden  ernstlich  am  Herzen  lag.  Und  wiederholen  sich  in  der 
späteren  Zeit  bis  in  die  Mitte  des  iS.  Jahrhunderts  hinein  mehr- 
fach die  Versuche  evangelischer  Obrigkeiten,  den  Juden  in  solcher 
Weise  das  Evangelium  nahe  bringen  zu  lassen,  so  wird  man 
ihnen,  wiewohl  sie  in  diesem  Stücke  fehlgriffen,  doch  die  Aner- 
kennung nicht  versagen  dürfen,  dass  sie  nach  dem  Maasse  ihrer 
christlichen  Erkenntniss  eifrig  bemüht  waren,  ihre  Christenpflicht 
gegen  die  Juden  zu  erfüllen.  Ein  Versuch,  Juden  zum  Uebertritt 
zu  zwingen,  hat  überdem  bei  allen  diesen  Unternehmungen  nie 
stattgefunden. 

4.  Proselyten  der  ersten  Zeit. 

Die  Reformation  hatte,  wie  sehr  bald  zu  Tage  trat,  die 
Stellung  der  grossen  Masse  der  Juden  zum  Christenthum  nicht 
verändert  und  sie  demselben  in  keiner  Weise  näher  geführt. 
Uebertritte  geschahen  daher  zunächst  noch  nicht  eben  häufiger 
als  in  der  früheren  Zeit,  und  hervorragenden  Proselyten  begegnen 
wir  in  der  beginnenden  evangelischen  Kirche  nur  äusserst  selten. 
Der  bekannteste  und  bedeutendste  unter  allen  ist  jedesfalls 
Emmanuel  Tremellius.*) 

Er  war  15 10  in  Ferrara  geboren.  Sein  Vater,  wahrscheinlich 
ein  jüdischer  Arzt  und  trefflicher  Kenner  des  Hebräischen,  liess 
den  Sohn  im  Hebräischen,  Chaldäischen  und  Syrischen  unter- 
richten, welche  Sprachen  derselbe  denn  auch  nachmals  in  hervor- 
raeendem  Maasse  beherrschte.      Das    Elternhaus    aber    stand    in 


*)  Wolf  B.II.  I,  3,  4  N.  1797.  Em.  Trem.  erster  Rektor  des  Zwei- 
brückener  Gymnasiums  von  F.  Butters.  Zweibrücken  1859.  Saat.  Ostern  1865 
S.  25.  ff.  Rhein -Westfäl.  Miss.-Blatt  1858  Nr.  3.  Kaikar,  Israel  2.  Auflage 
H7   ff- 

4* 


52    — 

lebhaftem  Verkehr  mit  vielen  Christen,  und  besonders  gingen  in 
demselben  christliche  Theologen  ein  und  aus,  welche  daselbst 
die  hebräische  Sprache  erlernen  wollten.  Dies  geschah  in  jener 
ersten  Zeit  der  Reformation,  wo  die  Einwirkungen  derselben  auch 
in  Italien  mächtig  empfunden  wurden.  Zumal  der  Hof  der  Her- 
zogin Renata  von  Ferrara  war  der  Sammelpunkt  für  viele,  welche 
der  Reformation  geneigt  waren.  Evangelische  Lehrer  erzogen  ja 
die  Kinder  der  Herzogin,  und  ein  Gespiele  derselben  war  Olym- 
pia Mo  rata.  Von  den  christlichen  Theologen,  welche  einen 
regeren  Verkehr  mit  dem  Vater  des  Tremellius  unterhielten, 
waren  denn  auch  manche  der  neuen  Richtung  zugethan,  und 
durch  sie  empfing  Tremellius  seine  ersten  christlichen  Eindrücke. 
Dieselben  bestimmten  ihn  ohne  Zweifel  zum  Uebertritt,  aber  aller- 
dings zunächst  in  die  katholische  Kirche,  der  ja  auch  jene  Männer 
immer  noch  angehörten. 

Sein  hernachmaliger  Anschluss  an  die  reformirte  Kirche 
war  besonders  eine  Folge  der  innigen  Verbindung  mit  dem  be- 
kannten Augustiner  Petrus  Martyr  Vermilius,  welcher  früher 
wenigstens  auf  das  geistliche  Leben  von  Tremellius  den  grössten 
Einfluss  ausgeübt  zu  haben  scheint.  Der  feurige  Augustiner, 
welcher  den  reformatorischen  Anregungen  folgend  sich  ernstlich 
auf  das  Studium  der  Bibel  warf,  hatte  durch  Em.  Tremellius  eine 
Erweiterung  seiner  hebräischen  Kenntnisse  zu  erlangen  gesucht, 
und  der  Verkehr,  in  welchen  beide  auf  diese  Weise  mit  einander 
traten,  führte  zu  einem  engen  Freundschaftsbunde  zwischen  ihnen. 
Als  Vermilius  daher  eine  gelehrte  Schule  in  Lucca  errichtete, 
berief  er  Em.  Tremellius  an  dieselbe  als  Lehrer  der  hebräischen 
Sprache.  Die  Schule  wurde  bald  von  weit  und  breit  her  durch 
solche  besucht,  welche  der  evangelischen  Lehre  heimlich  zuge- 
than waren;  aber  gerade  dies  reizte  die  Inquisition,  bei  der  be- 
reits von  Neapel  aus  Vermilius  im  Verdacht  stand,  und  die  dess- 
halb  eine  Untersuchung  wegen  Ketzerei  gegen  ihn  eingeleitet 
hatte.  Er  und  einige  seiner  Freunde,  zu  denen  auch  Tremellius 
gehörte,  sollten  sich  also  vor  jenem  geistlichen  Gerichtshofe  stellen. 
Da  sie  aber  wohl  wussten,  was  der  Ausgang  des  Processes  sein 
würde,  floh  Vermilius  mit  18  Gefährten  1542  nach  der  Schweiz 
und  schloss  sich  nun  völlig  der  reformirten  Kirche  an.  Von  dort 
wanderten  sie  nach  Strassburg,  wo  Tremellius  an  Joh.  Sturms 
Schule  Lehrer  des  Hebräischen  wurde  und  in  nähere  Verbindung 
mit  Bucer   trat,    dessen  Vorlesungen   über  den  Epheser-Brief  er 


—     53     — 

auch  1562  herausgab.  Auf  den  Rath  des  letzteren  verheirathete  er 
sich  dort  mit  einer  früheren  Nonne  aus  Metz,  konnte  jedoch  in 
Folge  des  Interims  nur  bis  154 8  in  Strassburg  verbleiben.  Mit 
Vermilius  empfing  er  aber  jetzt  einen  Ruf  von  dem  Erzbischof 
Cranmer,  nach  England  herüberzukommen,  und  beide  Männer 
folgten  demselben.  Im  Inselreiche  aber  standen  sie  Cranmer  bei 
der  Abfassung  und  Einführung  der  Glaubensartikel  und  Liturgie 
bei,  so  dass  die  Reformationsbewegung  in  England  durch  einen 
Proselyten  eine  bedeutsame  Förderung  erfahren  hat. 

Tremellius  wirkte  an  der  Universität  Cambrigde  als  Professor 
und  legte  daselbst  das  Alte  Testament  aus.  In  dieser  Zeit  ver- 
kehrte auch  die  damalige  Prinzessin,  hernachmalige  Königin 
Elisabeth  viel  mit  ihm  und  erhielt  ihm  auch  ihre  Freundschaft, 
als  er  1553  nach  der  Thronbesteigung  der  blutigen  Maria  mit 
den  Gefährten  aus  England  fliehen  musste.  Er  sollte  nun  wieder 
sein  früheres  Amt  in  Strassburg  übernehmen,  aber  unter  der 
Bedingung,  dass  er  die  Augsburgische  Confession  unterschriebe.  ' 
Hierzu  jedoch  konnte  er  sich,  obwohl  er  der  lutherischen  Lehre 
verhältnissmässig  geneigter  war,  nicht  entschliessen.  Dafür  wurde 
ihm  vom  Herzog  Wolf  gang  von  Zweibrücken  während  der 
Jahre  1554 — 58  die  Erziehung  seiner  Kinder  anvertraut,  worauf 
er  das  Rektorat  an  dem  neuen  Gymnasium  zu  Hornbach  über- 
nahm. Der  Herzog  aber  erhielt  ihm  seine  Freundschaft  nicht 
bleibend,  sondern  warf  ihn  sogar  1561  ins  Gefängniss.  Aus  dem- 
selben befreit,  wurde  er  Mitglied  einer  Gesandtschaft  an  den 
Reichsverweser  Anton  von  Navarra  und  an  die  in  Orleans  ver- 
sammelten Stände.  Er  hatte  sich  dieser  Gesandtschaft  ange- 
schlossen, um  für  die  gefangenen  und  unterdrückten  Evangelischen 
in  Metz  Fürsprache  einzulegen,  und  dieselbe  hatte  den  gewünschten 
Erfolg.  Hierauf  wurde  er  Professor  an  der  Universität  Heidelberg 
und  unterstützte  die  Verfasser  des  Heidelberger  Katechismus  so- 
wohl bei  dieser  als  bei  ihren  sonstigen  Arbeiten.  Ueberhaupt 
waren  die  jetzt  folgenden  15  Jahre  die  fruchtbarsten  seiner 
YVirksamkeit. 

Während  der  Heidelberger  Zeit  machte  Tremellius  noch 
einmal  einen  Besuch  in  England.  Dort  war  Parker,  unter  dessen 
Kindern  eines  Tremellius  zum  Pathen  hatte,  nun  wieder  Erzbischof 
von  Canterbury,  und  Königin  Elisabeth  auf  dem  Throne.  Die- 
selbe begrüsste  ihn  ungemein  freundlich  und  hätte  ihren  alten 
Freund  gern  ganz  in  England  zurückbehalten;    aber    es    zog    ihn 


— '   54     — 

nach  Heidelberg  zurück.  Doch  war  hierselbst  nicht  lange  mehr 
seines  Bleibens.  Ludwigs  Sohn  und  Nachfolger  Friedrich  war 
ein  Anhänger  der  lutherischen  Lehre,  und  so  musste  nun  Tremellius 
wieder  von  der  Universität  weichen.  Dafür  aber  berief  ihn  Hein- 
rich de  la  Tour  d'Auvergne,  Vicomte  de  Turenne  an  die 
Akademie,  welche  er  für  den  hugenottischen  Adel  in  Sedan  errichtet 
hatte,  und  dort  blieb  Tremellius,  von  der  Jugend  hoch  geehrt,  bis 
an  sein  Ende. 

Auch  während  der  späteren  Zeit  seines  Lebens  war  er 
schriftstellerisch  fruchtbar  geblieben.  Dem  Volke  seiner  Ab- 
stammung aber  erhielt  er  stets  die  treueste  Anhänglichkeit.  Er 
Hess  im  Jahre  1554  zu  Paris  einen  Katechismus  in  hebräischer 
Sprache  unter  dem  Titel  Chinuch  Bechire  Jah,  Unterweisung  der 
Erwählten  des  Herrn,  erscheinen,  ein  Buch,  das  nach  einer  überaus 
schönen  hebräischen  Vorrede  an  seine  jüdischen  Brüder  die  christ- 
liche Lehre  in  Frage  und  Antwort  nach  den  5  Hauptstücken 
behandelt  und  als  Anhang  allerlei  Gebete  enthält.  Ueberall 
werden  hier  die  Beweise  für  die  Richtigkeit  der  christlichen 
Lehre  aus  dem  Alten  Testament  herbeigebracht  und  darauf  hin- 
gewiesen, wie  das  ganze  Alte  Testament  auf  den  Messias  abge- 
zielt habe.  In  der  diesem  Buche  angehängten  Widmung  an  den 
Herzog  Christoph  von  Würtemberg  betont  Tremellius  besonders, 
dass  es  nöthig  sei,  wenn  man  die  Juden  für  das  Christenthum 
gewinnen  wolle,  sie  in  ihrer  eigenen  Sprache  und  nicht  in  einer 
fremden  anzureden,  und  rechtfertigt  zugleich  mit  dem  Beispiele 
des  Apostel  Paulus  seine  eigene  Liebe  zu  dem  Volke,  dem  er 
entsprossen  ist.  Derselbe  Katechismus  erschien  hebräisch,  griechisch 
und  lateinisch  1591  in  Leyden  und  hebräisch  und  jüdisch  in 
Madras  1544  und  18 19.  Im  Jahre  1820  hat  ihn  die  Londoner 
Gesellschaft  für  Israel  neu  aufgelegt  und  ihn  bis  zum  heutigen 
Tage  vielfach  unter  den  Juden  besonders  des  europäischen  Ostens 
und  Asiens  verbreitet. 

Von  andern  Schriften  des  Tremellius  nennen  wir  eine  latei- 
nische Uebersetzung  und  Erklärung  des  Propheten  Hosea,  eine 
lateinische  Uebersetzung  der  Paraphrase  des  Jonathan  zu  den 
12  kleinen  Propheten  1567  und  die  syrische  Uebersetzung  des 
Neuen  Testamentes  in  hebräischen  Lettern  mit  beigefügter  latei- 
nischer Uebersetzung  1569.  Bei  der  Erklärung  sind  überall  die 
Rabbinen  berücksichtigt.  Auch  gab  er  eine  chaldäische  und 
syrische  Grammatik  heraus  und  gehörte  in  seiner  Zeit  entschieden 


—     55     — 

zu  den  hervorragendsten  Kennern  der  Grammatik  jener  Sprachen, 
nicht  minder  aber  zu  den  bedeutendsten  der  damaligen  Ausleger 
alttestamentlicher  Schriften.  Seine  Werke  wurden  denn  auch  stets 
von  Neuem  in  der  Schweiz,  Holland,  England,  Frankreich  und 
Deutschland  aufgelegt.  Mit  dem  holländischen  Theologen  Franz 
Junius  veranstaltete  er  sodann  eine  neue  lateinische  Uebersetzung 
der  Bibel,  mit  Scholien  versehen,  die  von  1575  an  erschien. 
Nach  dem  Tode  des  Tremellius  gestattete  sich  Franz  Junius 
viele  Veränderungen  in  der  Uebersetzung  sowohl  als  in  den  An- 
merkungen, beides  jedoch  nicht  zum  Vortheile  des  Werkes.  In 
allen  seinen  Schriften  aber  hat  Tremellius  Christen  und  Juden 
gleichmässig  im  Auge  behalten. 

Bis  zuletzt  im  Dienste  der  Kirche  ungemein  thätig,  sollte 
er  doch  kein  ruhiges  Lebensende  geniessen.  Seine  Feinde  Hessen 
ihm  bis  zuletzt  keine  Ruhe,  sondern  brachten  selbst  das  Gerücht 
aus,  er  sei  wieder  Jude  geworden.  Einige  derselben  versagten 
ihm  sogar  auf  dem  Sterbebette  seinen  Wunsch,  sich  mit  ihnen 
auszusöhnen.  Als  dem  Greise  dies  vermeldet  wurde,  rief  er  aus: 
„vivat  Christus,  pereat  Barrabas"  und  so  starb  er  am  9.  Oktober 
1580.  In  seinem  Testamente  vom  31.  Juli  desselben  Jahres  hatte 
er  zuvor  ein  ausführliches  Bekenntniss  seines  Glaubens  nieder- 
gelegt, in  demselben  den  Dank  dafür,  dass  der  Herr  ihn  zur 
Erkenntniss  Christi  gebracht  habe,  ausgesprochen  und  für  die 
Armen  ein  Vermächtniss  ausgesetzt. 

Tremellius  war  ein  friedsamer  Mann,  ein  demüthiger  und 
glaubenstreuer  Christ,  bereit  für  die  von  ihm  erkannte  Wahr- 
heit immer  wieder  alle  Unbill  und  Verfolgung  zu  ertragen  und 
um  derselben  willen  stets  von  Neuem  den  Wanderstab  zu  er- 
greifen. Er  war  auch  ein  fruchtbarer  Theolog,  dem  die  evange- 
lische Kirche  jener  Anfangszeit  in  verschiedenen  Ländern 
mannigfache  Anregung  und  Förderung  zu  verdanken  hat;  ein 
reformirter  Christ,  der  sich  bei  allem  Eifer  für  die  reformirte 
Lehre  doch  nicht  gegen  die  allgemeine  und  gemeinsame  evange- 
lische Wahrheit  in  Einseitigkeit  abschloss,  und  sich  auch  unter 
den  Proselyten  seiner  Zeit  dadurch  auszeichnete,  dass  er  ernster 
als  die  meisten  unter  ihnen  an  der  Bekehrung  seiner  Volksgenossen 
arbeitete.  Die  reformirte  Kirche  des  Anfangs  zählt  ihn  zu  ihren 
wichtigeren  Persönlichkeiten. 

Einen  Mann  von  gleicher  Bedeutung  wie  Tremellius  hat 
die  frühere  lutherische  Kirche  unter    ihren  Proselvten    nicht    auf 


—     5°     — 

zuweisen.  Doch  haben  in  ihr  wie  in  der  reformirten  Schwester- 
kirche verschiedene  Proselyten  dadurch  einen  segensreichen  Ein- 
fluss  ausgeübt,  dass  sie  mehreren  der  bedeutendsten  Theologen 
und  der  Kirche  selbst  eine  weitere  Kenntniss  des  Hebräischen 
vermittelten.  Das  Schriftstudium  der  Reformation  hat  auf  diese 
Weise  durch  ihre  Proselyten  eine  entschiedene  Förderung  erfahren. 

In  der  lutherischen  Kirche  wird  zuerst  ein  Proselyt  Bern- 
hard oder  Bernard  genannt,  der  als  Jude  Rabbi  Jakob  hiess. 
Luther  schickte  an  denselben  im  Jahre  1523,  wie  bereits  erwähnt, 
ein  Exemplar  seines  soeben  erschienenen  Buches  „Dass  Jesus 
Christus  ein  geborener  Jude  sei",  und  sagt  in  dem  Begleitbriefe, 
dass  er  ihm  seine  Schrift  sende,  um  ihn  im  Glauben  zu  stärken, 
zugleich  aber  auch,  um  ihn  zu  bitten,  das  Büchlein  weiter  unter 
Juden  zu  verbreiten,  damit  dieselben  zur  Erkenntniss  Christi  geführt 
würden.  Johann  Draconites  aber  theilt  mit,  dass  Bernhard 
durch  Jeremias  33  bekehrt  worden  sei,  und  dass  er  hernach  ihn 
im  Hebräischen  unterrichtet  habe.  Ein  festes  Amt  oder  gewisses 
Brot  muss  Bernhard  jedoch  nicht  gefunden  haben;  denn  1535 
spricht  Luther  seine  Verwunderung  darüber  aus,  dass  derselbe 
als  ein  gesunder  Mensch  fortwährend  so  arm  bleibe,  nennt  ihn  im 
Uebrigen  einen  guten  Mann. 

Erwähnung  verdient  sodann  Paul  Staffelsteiner.*)  Als 
Jude  hiess  derselbe  Nathan  Aron  und  war  von  priesterlichem 
Geschlecht.  Getauft  wurde  er  mit  mehreren  Kindern  in  seiner 
Vaterstadt  Nürnberg,  seine  Frau  dagegen  folgte  ihm  nicht.  Zu 
Nürnberg  Hess  er  noch  in  seinem  Taufjahre  eine  deutsch  ge- 
schriebene Schrift  erscheinen,  welche  den  Titel  führt  „Kurzer 
Unterricht,  dass  man  einfältig  Christo  nachwandern,  ihm  und 
seinem  Worte  glauben,  und  sich  die  jüdischen  Lehrer,  als  ihre 
Rabbinen  und  Schriftgelehrten  nicht  solle  abwenden  lassen." 
Später  zog  er  nach  Strassburg,  wo  er  an  der  Universität  Vor- 
lesungen über  die  hebräische  Sprache  hielt  und  bis  zu  seinem 
Lebensende  blieb.  Der  Strassburger  Professor  Elias  Schadaeus 
nennt  ihn  in  seiner  Schrift  Mysterium  (1592)  unter  den  Proselyten, 
welche  „die  Kraft  des  Blutes  Christi  in  ihrem  Tode  erfahren 
haben,  während  sich  sonstens  Juden  vor  dem  Tode  fürchten". 
Von  Staffelsteiner  werden    auch  Schriften    genannt,    welche    alle 


*)  W.  B.II.  3,  4  N.  1817  b.     Würfel.     Nachricht  von  der  Judengemeinde 
zu  Nürnberg  zum  Jahre    1536.  Kaikar   143. 


-     57     — 

die  Bekehrung  der  Juden  befördern  wollten:  „Eine  kurze  Unter- 
weisung, dass  man  dem  Herrn  Jesu  Christo  einfältig  nachwandern 
soll"  1536  Nürnberg.  „Wahrhaftige  Widerlegung  der  grossen 
Verfälschung  der  jüdischen  Lehrer  des  22.  Psalm."  Nürnberg 
1536;  eine  deutsche  Rede,  in  welcher  er  beweist,  dass  Jesus 
von  Nazareth  der  wahre  Messias  ist.  Heidelberg  1557,  und  eine 
deutsche  Schrift  über  den  Messias,  in  welcher  er  die  Juden  er- 
mahnt, dem  schlechten  Gedanken,  dass  der  Messias  als  ein  welt- 
licher König  erscheinen  müsse,  zu  entsagen.     Heidelberg   1563. 

Als  Professor  des  Hebräischen  wirkte  auch  an  der  Universität 
Strassburg  der  Proselyt  Petrus  Flegel,*)  der  im  Jahre  156J 
starb;  Näheres  ist  über  denselben  nicht  bekannt. 

Viel  bedeutender  als  die  bisher  Genannten  ist  Johannes 
Isaak  Levita  Germanus.**)  Joh.  Draconites  hat  denselben 
mit  seiner  Frau  und  seinem  Sohne  Stephan  im  Jahre  1546  ge- 
tauft. Nachdem  er  schon  vorher  christliche  Anregungen  em- 
pfangen hatte,  las  Levita,  dadurch  aufmerksam  gemacht,  dass 
durch  Draconites  4  Juden  die  Taufe  empfangen  hatten,  eine  bei 
dieser  Gelegenheit  gehaltene  Predigt  desselben  Theologen.  Hier- 
bei wurde  er  durch  Jesaia  53,  das  er  vorher,  wie  er  selbst  bekannt, 
zwar  ungemein  oft  gelesen,  aber  nie  verstanden  hatte,  überwunden  und 
trat  zum  Christenthume  über.  Er  gab  darauf  denn  auch  die  deutsche 
Auslegung  jenes  Kapitels  von  Draconites  in  hebräischer  Sprache 
heraus,  um  an  der  Bekehrung  seiner  Brüder  zu  arbeiten,  und 
führte  zu  dem  gleichen  Zwecke  mit  den  Juden  des  öfteren  Ge- 
spräche, in  denen  er  ihnen  am  liebsten  jene  Prophetenstelle  zu 
Gemüthe  führte.  Luthers  Tod,  der  in  seinem  Taufjahre  erfolgte, 
besang  er  in  den  Zioniden,  in  welchen  er,  wie  Draconites  sagt, 
„nach  der  Weise  des  den  Josia  unter  Thränen  beklagenden  Jeru- 
salems, sein  Herz  über  den  von  den  Engeln  in  Abrahams  Schooss 
getragenen  Luther  ausschüttete."  Später  wurde  er  Professor  des 
Hebräischen  in  Löwen  und  Köln.  Ungewiss  ist  es,  ob  das  Send- 
schreiben an  die  Wetzlarer  Juden,  in  welchem  dieselben  sich  zu 
bekehren  aufgefordert  werden,  von  ihm  stammt;  denn  dieses 
Schreiben  ist  in  einer  so  gehässigen  Sprache  abgefasst,  dass 
man  in  ihm  Levita  nicht  wieder  erkennen  würde.  Derselbe  war 
ein  fruchtbarer  Schriftsteller.     Geeen    den  Katholiken  Lindanus 


*)  Wolf.  B.H.  IV,  X.   1826  b. 
**)  Wolf  I,  3,  4  X.  816.     Kaikar   143. 


-     58    - 

hat  er  in  einer  Schrift  Defensio  veritatis  Hebraicae  Cöln  1558 
mit  Entschiedenheit  die  Bibel  und  die  Echtheit  des  hebräi- 
schen Textes  vertheidigt,  führte  aber  gegen  seine  Widersacher, 
von  denen  der  eitle  Mann  auch  gerechten  Tadel  nicht  ertragen 
wollte,  stets  eine  zu  scharfe  Sprache.  Von  ihm  stammt  eine 
hebräische  Grammatik,  die  mehrere  Auflagen  erlebte:  Mebo  Imre 
Schofar,  zuerst  Cöln  1553,  die  sowohl  das  Alte  Testament  als 
die  Rabbinen  berücksichtigt.  Ebenso  behandelte  er,  von  anderem 
abgesehen,  das  Buch  Ruth  grammatisch  und  übersetzte  ins  Latei- 
nische und  erklärte  Schriften  von  Maimonides  und  Juda  Aben 
Tibbon.  Sein  Sohn  Stephan,  der  ebenfalls  Professor  in  Löwen 
und  Cöln,  zuletzt  aber  Arzt  war,  gab  eine  lateinische  Uebersetzung 
des  Propheten  Maleachi  heraus  und  bekämpfte  den  Jesuiten 
Johann  von  Münster. 

Zwei  andere  Proselyten  Hessen  es  sich  angelegen  sein,  ihren 
bisherigen  Glaubensgenossen  die  ganze  heilige  Schrift  in  der 
Landessprache  anzubieten,  um  dieselben  auf  diese  Weise  für  das 
Christenthum  zu  gewinnen.  Michael  Adam,  ein  Bürger  von 
Zürich  f  1550.*)  Derselbe  gab  ausser  einer  Uebersetzung  des 
Buches  des  Josephus  über  den  jüdischen  Krieg,  die  in  jüdisch- 
deutscher Sprache  und  mit  hebräischen  Lettern  erschien,  in  der- 
selben Weise  die  5  Bücher  Moses,  die  geschichtlichen  Bücher, 
die  Megilloth  und  Haphthoroth  des  Alten  Testamentes,  Constanz 
1544  heraus.  Bei  seiner  Uebersetzung  und  bei  der  Herausgabe 
der  Schriften  wurde  er  von  Paulus  Fagius  unterstützt.  Eine 
Probe  der  Uebersetzung  liefert  Wolf  B.H.  4  S.  19/)  ff.;  sonst  hat 
Michael  Adam  noch  ein  Gebetbuch  hinterlassen. 

Eine  Uebertragung  der  lutherischen  Uebersetzung  des  Neuen 
Testamentes,  mit  Ausnahme  der  Offenbarung  Johannis,  ins  Jüdisch- 
deutsche mit  rabbinischen  Lettern  in  Folio  lieferte  der  Proselyt 
Johannes  Harz uge  in  Krakau  1540.**)  Einzelne  hebräische  Wörter 
sind  in  dieser  Uebersetzung  beibehalten  und  durchweg  ist  dieselbe 
mit  Parallelstellen  versehen.  Eine  Probe  auch  von  dieser  Ueber- 
setzung findet  sich  bei  Wolf  B.H.  4  S.  205. 

Ob  auch  Matthäus  Hadrianus,  der  in  der  katholischen 
Kirche  getauft  worden  ist,  später  zur  evangelischen  übertrat,  ist 
zweifelhaft.***)     Aus  Spanien  stammend,  lehrte  er  das  Hebräische 

*)  Wolf  B.H.    1,  3.  N.    1410.   2  S.  455.  4  S.    193.     Kaikar   151. 
**)  Wolf  B.H.   I   N.  812.  2  S.  458,  4  S.  204. 
***)  Wolf  B.H.    1,  4  N.   1675.     Kaikar  144. 


—     59    — 

in  Löwen,  schrieb  eine  Einleitung  zur  hebräischen  Sprache  und 
übersetzte  das  Vaterunser,  den  englischen  Gruss  und  das  Salve 
Regina  ins  Hebräische.  Erasmus  nennt  ihn  im  Jahre  1518  in 
einem  Briefe  an  Aegidius  Burlidius  (Ep.  3,  39)  in  der  hebräi- 
schen Literatur  so  erfahren,  dass  dies  Zeitalter  keinen  besitze, 
der  ihm  hierin  verglichen  werden  könne,  und  empfiehlt  ihn  damit 
zur  Aufnahme.  Auch  Wolfgang  Reuchlin  hat  ihn  in  Bruchsal 
15 13  zum  Lehrer  im  Hebräischen  gehabt.  Luther  erwähnt  gleich- 
falls lobend  seine  hebräischen  Kenntnisse.  Später  hat  Hadrian 
auch  in  Wittenberg  Hebräisch  gelehrt,  und  eben  dies  scheint  für 
seinen  Uebertritt  zur  evangelischen  Kirche  zu  sprechen.  Ueber 
seinen  letzten  Aufenthaltsort  und  das  Jahr  seines  Todes  erfahren 
wir  nichts. 

Philipp  Wolf*)  nennt  sich  in  seinem  „Spiegel  der  Juden" 
Danzig  1555  „Doktor  der  Theologie  nach  der  Hebreyer  und 
Chaldeyer  Weis,  erfahren  in  der  Arznei,  ein  geborener  Jude, 
getauft  in  Christo  in  der  löblichen  Stadt  Danzig  1554".  In 
seinem  Buche  führt  er  aus,  dass  die  Patriarchen,  Moses  und  die 
Propheten  in  ihren  Verheissungen  Jesum  Christum  gemeint  hätten, 
und  dass  ebenso  die  Cabbala  ihn  lehre.  Die  täglichen  Gebete 
der  Juden  wurden  von  ihm  verdeutscht  und  Näheres  über  den 
Sehern  Hamphoras  durch  ihn  mitgetheilt.  Die  kleine  Schrift 
macht  einen  wohlthuenden  Eindruck. 

Der  sonst  mehrfach  als  Proselyt  angeführte  und  eine  Zeit 
lang  das  Hebräische  in  Wittenberg  lehrende  Johannes  Böschen- 
stein  bestreitet  es  selbst  jüdischer  Abstammung  zu  sein. 

5.  Das  Ergebniss  der  reformatorischen  Anfangszeit. 

Fassen  wir  das  gesammte  Verhältniss  der  frühesten  evange- 
lischen Kirche  zu  den  Juden  ins  Auge,  so  werden  wir  uns  die 
Thatsache  nicht  verhehlen  können,  dass  ein  entschiedener  Bruch 
mit  der  Vergangenheit  zunächst  noch  nicht  eingetreten  ist.  An 
der  Erkenntniss,  dass  es  hier  auch  zu  etwas  Besserem  als  bisher 
kommen  müsse,  fehlt  es  nicht,  und  es  werden  ebenso  einzelne 
Ansätze  in  dem  Bestreben,  eine  andere  Stellung  zu  den  Juden  zu 
gewinnen,  gemacht;  aber  es  bleibt  bei  Anfängen,  die  zu  keiner 
nachhaltigen  Bewegung  führen;    und   mit   einer  positiven  Neuge- 


*)  Wolf.  B.H.  3  N.   1830  c. 


—     oo     — 

staltung  des  ganzen  Verhältnisses  der  Juden  inmitten  der  Christen- 
heit in  socialer,  politischer  und  religiöser  Beziehung  wird  auch  in 
der  evangelischen  Welt  nicht  begonnen. 

Luther  und  die  evangelische  Kirche  der  Anfangszeit  haben 
ihr  erstes  Entgegenkommen  von  den  Juden  übel  belohnt  gesehen, 
und  das  lähmte  bald  ihre  Missionsthätigkeit  unter  denselben;  ja 
es  erweckte  in  vielen  die  Ueberzeugung,  dass  bei  den  Juden 
überhaupt  nichts  erreicht  werden  könne.  Weil  der  erste  Versuch 
offenbar  misslungen  war,  hatte  man  keine  Zuversicht  zu  weiterem 
Vorwärtsgehen  auf  der  neuen  Bahn.  Man  erkannte  es  klar,  dass 
es  mit  den  Juden  im  Fundamente  überaus  schlimm  stünde,  besass 
aber  zu  wenig  jene  Geduld  der  Liebe,  die  alles  hofft,  auch  wo 
man  noch  nicht  sieht,  und  welche  die  Gerechtigkeit  übt,  gleich- 
viel ob  sie  anerkannt  wird  oder  nicht  anerkannt  wird,  und  welche 
desto  ernster  an  das  Legen  neuer  Fundamente  denkt. 

Nicht  die  evangelische  Kirche  und  das  evangelische  Volk 
im  Allgemeinen,  sondern  nur  einzelne  Personen  hatten  die  Er- 
kenntniss  gewonnen,  dass  die  Christen  eine  Aufgabe  an  den  Juden 
zu  erfüllen  hätten.  Was  also  damals  an  Missionsbemühungen  und 
an  Bestrebungen,  die  Stellung  der  Juden  zu  verbessern,  zu  Tage 
tritt,  ist  das  Ergebniss  der  Erkenntniss  und  des  Beispieles  ein- 
zelner frommer  und  hervorragender  Personen.  Die  Missions- 
thätigkeit jener  ersten  Zeit  ist  Privatsache  und  noch  nicht  die 
Sache  der  evangelischen  Gemeinde  geworden. 

Zur  Entschuldigung  dessen  wird  man  auch  nicht  sagen 
dürfen,  dass  die  eigenen  Aufgaben  der  evangelischen  Kirche  zu 
grosse  gewesen  seien,  als  dass  sie  bereits  ernstlicher  an  die 
Juden  zu  denken  im  Stande  gewesen  wäre.  Luther  hat  gerade 
in  der  Zeit  des  ersten  Entstehens  der  eigenen  Kirche  die  Pflicht 
und  die  Möglichkeit,  zu  eingreifender  positiver  Thätigkeit  an  den 
Juden  zu  schreiten,  klar  genug  erkannt.  Ueberdem  aber  ist  es 
unserem  Reformator  anfangs  nicht  minder  deutlich  zum  Bewusst- 
sein  gekommen,  dass  sich  das  christliche  Volk  selbst  den  grössten 
Schaden  mit  jenem  seinem  Verfahren  gegen  die  Juden  bereitet 
hatte,  bei  dem  es  dieselben  nur  einzuschränken  trachtete  und  sie 
im  Uebrigen  ihrem  natürlichen  Sinne  preisgegeben  bleiben  Hess. 
Seine  spätere  Ueberzeugung,  dass  die  grosse  jüdische  Masse 
rettungslos  dem  teuflischen  Wesen  verfallen  sei,  musste  jedoch 
seine  Stellung  zu  den  Juden  völlig  umwandeln.  Aber  die  frühere 
evangelische  Christenheit  im  Allgemeinen  folgte,  wenn  auch  viele 


—     6i     — 

Luthers  spätere  Ansichten  theilten,  demselben  hierin  nicht.  Desto 
weniger  hat  sie  eine  Rechtfertigung  für  ihr  Gehenlassen  der 
Judenfrage. 

Nicht  einmal  die  Proselyten  der  neuen  Kirche  fanden  eine 
bessere  Pflege  als  in  der  früheren  Zeit.  Man  unterrichtete  sie 
wohl  mit  aller  Treue,  aber  beschränkte  sich  auch  wesentlich 
hierauf.  Obgleich  sie  durch  ihren  Uebertritt  aus  allen  ihren 
früheren  Verhältnissen  und  Beziehungen  herausgerissen  wurden, 
überliess  man  es  ihnen  doch  gewöhnlich,  selbst  für  ihr  weiteres 
Fortkommen  zu  sorgen.  Denn  sie  in  die  christliche  Gemeinschaft 
einzugliedern  und  sie  für  dieselbe  zu  erziehen,  empfand  man  zu  wenig 
als  Pflicht,  und  der  Trieb  hierzu  fehlte  auch  in  zu  vielen  Fällen. 
Sympathie  und  Antipathie  stritten  selbst  den  Proselyten  gegen- 
über in  den  Gemüthern,  wenn  gleich  die  erstere  offenbar  die 
Oberhand  behielt.  Von  den  meisten  der  uns  bekannt  gewordenen 
Proselyten  aber  empfangen  wir  den  Eindruck,  dass  sie  die  christ- 
liche Wahrheit  lebendig  an  sich  selbst  erfahren  hatten,  und  dass 
ihnen  auch  die  Bekehrung  ihrer  Brüder  am  Herzen  gelegen  war. 

Eins  hat  jedesfalls  die  Kirchenerneuerung  sofort  gethan: 
sie  hat  die  Juden  wieder  im  höheren  Grade  der  Christenheit  in 
Erinnerung  gebracht.  Ebenso  kommt  auch,  was  seitdem  für  die 
Juden  in  religiöser  Beziehung  geschehen  ist,  ganz  überwiegend 
auf  evangelische  Rechnung.  Während  z.  B.  im  16.  Jahrhundert 
noch  die  Erzeugnisse  der  Judenmissionsliteratur  auf  römischer 
Seite  den  evangelischen  an  Zahl  gleich  kommen,  sind  die  evan- 
gelischen den  katholischen  im  1 7.  Jahrhundert  bereits  um  das 
Vierfache  überlegen,  und  doch  wohnte  die  bei  weitem  grössere 
Zahl  von  Juden  in  katholischen  Ländergebieten.  Die  ersten  Wir- 
kungen der  Reformation  auf  die  Juden  und  für  das  Verhältniss 
zwischen  Juden  und  Christen  werden  wir  daher  auch  nicht  als 
das  Bedeutsamste  in  der  neuen  Bewegung  zu  betrachten  haben, 
sondern  die  Befruchtung  eines  grossen  Theiles  der  Christenheit 
mit  Gedanken  und  Trieben,  welche  sich  in  wachsendem  Maasse  als 
eine  tiefgreifende  Macht  an  den  Juden  und  zum  Heile  derselben 
erwiesen  haben. 


IL 

Zeitalter  der  gelehrten  Beziehungen  zu  den 
Juden  in  der  evangel.  Christenheit. 

Von  der  Mitte  des  16.  bis  Ende  des  17.  Jahrhunderts. 

1.  Aeussere   und   innere   Verhältnisse    der  Juden. 

in  dem  ganzen  Zeiträume  bis  zur  französischen  Revolution 
gestalten  sich  die  äusseren  Verhältnisse  der  Juden  zu  ihrer  Um- 
gebung nicht  grundsätzlich  anders,  wenn  gleich  dieselben  mannig- 
fache Veränderungen  im  Einzelnen  erfahren.  Die  Reformation 
brachte  aber  allerdings  nach  und  nach  den  Juden  viele  Erleichte- 
rungen zuwege. 

Eine  Folge  der  Kirchenerneuerung  war  die  zunehmende 
Selbständigkeit  der  einzelnen  deutschen  Staaten  dem  Kaiser  gegen- 
über. Damit  hörten  auch  die  Juden  auf,  Kammerknechte  derselben 
zu  sein,  und  wurden  Unterthanen  der  Fürsten  oder  Städte.  In 
manchen  Fällen  verschlechterte  sich  dadurch  die  Lage  der  Juden, 
denn  sie  waren  nun  zuweilen  öfteren  Gelderpressungen  ausgesetzt; 
in  vielen  anderen  Fällen  dagegen  gewannen  die  Verhältnisse  der 
Juden  hierbei  an  Sicherheit.  Insbesondere  aber  nahmen  evange- 
lische Fürsten  und  Länder  wiederholt  Juden  bei  sich  auf,  die  aus 
katholischen  Gebieten  vertrieben  worden  waren ;  wiewohl  die 
Evangelischen  durchaus  nicht  ganz  allgemein  den  Juden  das 
Wohnen  in  ihren  Gebieten  gestatteten,  und  sogar  Fälle  von  Ver- 
treibung der  Juden  auch  aus  evangelischen  Ländern  und  Herr- 
schaften vorkamen.  Der  grosse  Kurfürst  nahm  1670  die  aus  den 
österreichischen  Erbstaaten  durch  Leopold  verbannten  Juden  auf. 


-     63     - 

Aus  Spanien  und  Portugal  fliehende  Marranen,  die  nur  zum 
Scheine  das  Christenthum  in  jenen  Ländern  angenommen  hatten, 
fanden  um  1590  eine  Zuflucht  in  Holland  und  Hamburg  und 
durften  sich  dort  wieder  öffentlich  zum  Judenthum  bekennen. 
England  erlaubte  eben  solchen  Juden  um  1660  die  Ansiedelung 
im  Königreiche.  Von  den  durch  den  Kosakenaufstand  aus  der 
Ukraine  und  zum  Theil  auch  aus  dem  übrigen  Königreich  Polen 
vertriebenen  Juden  aber  ergossen  sich  seit  1650  ganze  Ströme 
nach  Deutschland,  Holland,  Ungarn  und  Italien. 

Die  portugiesischen  Juden  wurden  in  Holland  und  theilweise 
auch  an  einigen  anderen  Stellen,    in   denen  sie  ein  neues  Unter- 
kommen suchten,  nicht  den  übrigen  gewöhnlichen  Beschränkungen 
*ihrer  Stammesgenossen    unterworfen,    wiewohl    sie    nirgends    das 
volle  und  eigentliche  Bürgerrecht  eines  Landes  erhielten. 

Etwa  von  England  abgesehen,  waren  es  aber  jedesmal 
Gründe  finanz-politischer  Art,  welche  die  Aufnahme  von  Juden 
in  evangelischen  Gegenden,  wo  sie  bisher  nicht  gewohnt  hatten, 
veranlassten.  Die  Steuer,  welche  sie  für  ihre  Handelsgeschäfte  zu 
zahlen  hatten,  erschien  neben  der  allgemeinen  Belebung  des 
Handels  den  betreffenden  Landesherren  oder  Gebieten,  welche 
ihnen  das  Niederlassungsrecht  gewährten,  als  eine  so  erwünschte 
Einnahmequelle,  dass  sie  eben  desshalb  die  Bitte  von  Juden  um 
die  Aufnahme  gewährten  oder  sie  wohl  selbst  herbeiriefen.  Er- 
wägungen höherer  Art  sprachen  jetzt  fast  noch  nirgends  zu 
Gunsten  der  Juden,  sondern  solche  führten  regelmässig  gerade 
zur  Abweisung  oder  Vertreibung  derselben.  Theologen,  Juristen 
und  manche  Fürsten  wollten  aus  religiösen  Gründen  den  Juden 
die  Niederlassung  in  neuen  Gegenden  versagt  wissen,  während 
die  Bürgerschaft  und  der  Kaufmannsstand  aus  Furcht,  geschäftlich 
von  den  vielfach  ja  freilich  wenig  bedenklichen  Juden  überflügelt 
zu  werden,  die  Unterthanen  überhaupt  aber  wegen  des  wucheri- 
schen Treibens  der  Juden  dieselben  von  sich  fernzuhalten  oder 
von  ihnen  befreit  zu  werden  suchten. 

Die  Reformation  hatte  aber  in  der  Christenheit  eine  mächtige 
religiöse  Bewegung  wachgerufen,  welche  auch  der  römischen 
Kirche  zu  Gute  kam.  Als  die  Juden  daher  bemerkten,  dass  ihre 
Hoffnung  auf  eine  Erschütterung  des  Christenthums  durch  die 
Reformation  eine  vergebliche  war,  schlössen  sie  sich  gegen  die 
gesammte  Kirche  und  ihren  Einfluss  desto  strenger  ab.  Die  Zeit, 
welche  jetzt  unter  ihnen  anbrach,  nennt  man  selbst  jüdischerseits 


-     6,     - 

vielfach  das  eigentliche  jüdische  Mittelalter.  Man  befestigte  sich 
nun  mehr  denn  je  in  dem  eigenen  System  und  bildete  es  bis  in 
seine  letzten  Consequenzen  aus.  Die  polnischen  Rabbinen,  welche 
sich  am  peinlichsten  und  entschiedensten  von  der  Berührung  mit 
der  christlichen  Welt  fern  zu  halten  gewusst  hatten,  wurden  jetzt 
die  Lehrer  und  Muster  der  ganzen  Judenschaft  Europas,  ja  zum 
Theil  auch  in  Asien  und  Afrika.  Die  gebildeten  Portugiesen 
übten  fast  keinen  Einfluss  auf  die  übrige  Judenschaft  aus,  son- 
dern geriethen  selbst  je  länger  desto  mehr  unter  das  Joch  jener 
Feinde  aller  christlichen  Kultur;  portugiesische  Juden  waren  es, 
die  einen  Spinoza  in  den  Bann  thaten  und  Uriel  Acosta  zum 
Selbstmorde  trieben. 

Zu  keiner  Zeit  hat  man  sich  unter  den  Juden  sorgfältiger* 
gegen  jede  Verbindung  mit  der  Geisteswelt  der  anderen  Völker 
abgesperrt.  Die  pharisäische  Buchstäbelei  ersann  dagegen  immer 
neue  und  kleinlichere  Bestimmungen,  deren  Beobachtung  und 
Erfüllung  allein  das  jüdische  Leben  ausmachen  sollte.  Ein  Werk 
des  Josef  Karo  f  1575,  der  Schulchan  Aruch  insbesondere, 
welcher  eine  Unzahl  solcher  Verordnungen  für  die  Juden  als 
bleibendes  Gottesgesetz  aufstellte,  fand  die  weiteste  Anerkennung. 
Und  die  Tyrannei  der  Rabbinen  erreichte  einen  solchen  Grad, 
wie  nur  selten  sonst  die  Herrschaft  von  Priestern  in  irgend  einer 
anderen  Religion.  Ein  wildes  und  zerfahrenes  Wesen  drang 
überall  ein;  Zanksucht  und  Geldgier  erfüllten  die  Gemüther,  und 
der  sonst  so  feste  Zusammenhang  zwischen  den  verschiedenen 
Gliedern  der  Judenschaft  drohte  oft  völlig  zu  zerreissen.    ' 

Aber  nur  desto  heiliger  erschien  man  sich  selbst  in  jenem 
wilden  Eifer  und  hatte  für  alle  sittlichen  Schäden  kein  Auge. 
Gewisser  denn  je  waren  die  meisten  Führer  Israels  des  göttlichen 
Wohlgefallens,  und  die  Wirren,  die  langen  und  blutigen  Kriege 
des  Zeitraumes  sah  man  als  sichere  Zeichen  der  Nähe  des 
Messias  an,  der  die  Völker  zu  stürzen  und  Israel  zu  seiner  ver- 
dienten Herrlichkeit  zu  erheben  herbeieile.  Auch  mit  aus  diesem 
Grunde  fand  jener  falsche  Messias  Sabbathai  Zebi  (1626 — 1676) 
aus  Smyrna  einen  ungeheuren  Anhang  in  Asien,  der  Türkei  und 
ganz  Europa.  Selbst  unter  den  gebildeten  Amsterdamer,  Ham- 
burger und  Londoner  Juden  fand  er  und  zum  Theil  fanatisch 
begeisterte  Anhänger.  Nicht  einmal  der  Uebertritt  desselben 
zum  Muhammedanismus  ernüchterte  viele  seiner  Anhänger.  Denn 
auch    Nachfolger     und    Prediger     desselben     sammelten     grosse 


-     65     - 

Schaaren  um  sich.  Das  gelang  einem  Cardorso  aus  Tripolis, 
Mardochai  aus  Eisenstadt,  Nathan  aus  Gaza,  Raphael  Chija 
Chajon  und  seinem  Gehilfen  Löbele  Prossnitz,  Jakob  Querido 
und  Chaim  Zebi  und  anderen. 

In  jener  messianischen  Bewegung  rächte  es  sich  aber  auch, 
dass  der  Talmudismus  und  der  Rabbinismus  die  Religion  haupt- 
sächlich in  ein  banales  Aussenwerk  und  in  einen  tödtenden 
Formendienst  verwandelt  hatten.  In  diesem  Religionshandwerke 
fanden  Gemüth  und  Herz  so  wenig  als  das  tiefere  Sehnen  und 
Ahnen  des  Geistes  ihre  Befriedigung.  Dem  suchte  nun  eben 
eine  Geheimlehre  abzuhelfen,  welche  dem  Christenthum  vieles 
entlehnte  und  scheinbar  selbst  die  Dreieinigkeit  lehrte,  die  aber, 
weil  nicht  von  biblischer  Wahrheit  und  Nüchternheit  getragen,  ihrer- 
seits nun  wieder  in  die  gefährlichste  Schwärmerei  ausartete.  Jetzt 
entstand  zumal  auch  die  Sekte  der  Chassidim  des  Chaim  Malach 
und  Juda  Chasid  in  Polen,  welche  sich  immer  weiter  ausgestaltet 
hat  und  heute  in  den  slavischen  Ländern  dem  Talmudismus 
immer  weitere  Gebiete  aberobert. 

Die  Verfolgungen  der  Juden  aber  als  Rechtfertigung  für 
diese  Zustände  in  ihrem  Inneren  anzuführen,  geht  nicht  an.  Denn 
auch  da,  wo  von  keinem  Drucke  derselben  die  Rede  war,  wie  in 
Holland,  und  wo  sie  volle  Freiheit  hatten,  ihr  bürgerlisches  Leben 
nach  eigener  Wahl  zu  gestalten,  wie  im  türkischen  Reiche,  zeigen 
sich  dieselben  traurigen  Erscheinungen.  Vielmehr  trat  es  jetzt 
ganz  klar  zu  Tage,  dass  die  jüdische  Religion  nicht  die  Kraft 
in  sich  trägt,  ihre  Bekenner  bei  der  äussersten  Glaubenstreue  vor 
dem  Verfall  zu  bewahren,  und  sie  durch  ihre  eigenen  Mittel  aus 
demselben  wieder  zu  erheben.  Nie  war  das  Ideal  einer  Ausge- 
staltung der  jüdischen  Religion  aus  ihren  eigenen  Principien 
heraus  in  so  hohem  Grade  erreicht  worden,  und  niemals  war  die 
Judenschaft  so  tief  gesunken  als  gerade  in  dieser  Zeit  der  höch- 
sten Entwickelung  ihres  Religionssystems.  Zwischen  verknöchert- 
stem  Formendienst,  bei  dem  das  sittliche  Leben  versank,'  und 
mystischem  Taumel  schwankte  die  Judenschaft  hin  und  her  und 
fand  in  ihrer  Religion  nirgends  das  Mittel,  aus  diesen  Zuständen 
herauszukommen. 

Die  Judenschaft  hatte  die  Mahnung  der  Reformation,  die 
ihr  durch  dieselbe  angebotene  Hilfe  anzunehmen,  abgewiesen. 
Der  Gewinn,  den  sie  hiervon  hatte,  war  ein  desto  schnellerer 
innerer    Verfall.     Unaufhaltsam    ging    es    jetzt    in    ihr    abwärts. 

J.   F.  A.  de  le  Roi,   Missionsbeziehungen.  c 


—     66     — 

Lediglich  die  von  aussen,  die  von  der  Christenheit  her  in  sie 
eindringende  Kultur  hat  hernach  wenigstens  das  äussere  Gepräge 
des  Judenthums  verändert  und  der  Judenschaft  neue  Lebenssäfte 
und  Lebenskräfte  zugeführt.  Ohne  die  christliche  Kultur,  die  der 
Judenschaft  als  Retterin  erschien,  drohte  sie  in  tödtliche  Erstarrung 
oder  in  wilden  Wahnsinn  zu  gerathen.  Das  Judenthum  sich 
selbst  überlassen  oder  auf  seine  eigenen  Kräfte  angewiesen,  ver- 
liert in  fortschreitendem  Maasse  seinen  Lebensgehalt  und  artet 
nach  allen  Seiten  hin  aus  —  das  hat  diese  Periode  besonders 
mit  voller  Klarheit  gezeigt. 

2.  Allgemeines  über  die  Stellung  der  christlichen 
Umgebung  zu  den  Juden  in  dieser  Zeit. 

In  der  evangelischen  Kirche  trat  nach  der  reformatorischen 
Anfangszeit  vor  allem  andern  das  Bestreben  hervor,  sich  als  die 
Kirche  der  reinen  Lehre  allseitig  zu  befestigen  und  auszubilden. 
Dieser  eine  Gedanke  und  Trieb  beherrschte  sie  bis  zum  Auf- 
kommen des  Pietismus  ganz  überwiegend,  und  dies  hatte  für  sie 
im  Guten  wie  im  Schlimmen  die  tiefgreifendsten  Folgen.  Jetzt 
erwuchs  sichtbar  ein  sicheres  evangelisches  Gemeinbewusstsein, 
und  so  wurzelte  sich  denn  auch  die  evangelische  Kirche  in  vielen 
ihrer  Gebiete  fest  ein.  Die  ganze  evangelische  Gemeinschaft 
gewann  nunmehr  recht  eigentlich  ihr  bestimmtes  und  unterschei- 
dendes Gepräge;  und  für  die  Erhaltung  wie  für  die  Weiterent- 
faltung und  historische  Stellung  der  evangelischen  Kirche  inmitten 
der  allgemeinen  Christenheit  ist  daher  diese  Zeit  von  der  grössten 
Wichtigkeit  geworden.  Hier  vor  allem  liegt  also  die  Bedeutung 
derselben. 

Anderseits  jedoch  hat  es  diese  Zeit  auch  im  besonderen 
Maasse  verschuldet,  dass  die  evangelische  Kirche  nicht  zu  völligerer 
Entfaltung  und  Entwicklung  gekommen  ist.  Dieselbe  hat  es  in 
zu  hohem  Grade  vergessen,  dass  es  ihre  Aufgabe  gewesen  wäre, 
die  überkommenen  evangelischen  Principien  allseitiger  auszu- 
arbeiten und  auszuwirken,  als  es  der  Anfangszeit  möglich  war. 
Vielmehr  hat  sie  in  grösster  Einseitigkeit  eine  scholastische 
Ausgestaltung  der  reformatorischen  Lehre  für  ihren  Beruf  ge- 
halten. Wohl  hat  sie  auch  und  zwar  besonders  in  den  mittleren 
Gesellschaftsklassen  das  christliche  Leben  auf  ähnliche  Weise 
wie    die    Lehre   in   feste    Ordnungen    zu   bringen   versucht,   aber 


-     67     - 

auch  hierbei  Avar  ihr  Absehen  mehr  auf  genau  abgemessene 
Ordnung  als  auf  die  Erweckung  und  Entfaltung  eines  reicheren 
Geistes-  und  Gemeinschaftslebens  gerichtet.  Die  Kirche,  das 
Volk,  den  Staat,  die  Gesellschaft,  die  Wissenschaft  und  die  Kunst, 
das  öffentliche  und  das  private  Leben  mit  der  neuen  Glaubens- 
und Geistesmacht  innerlich  zu  erfüllen  und  zu  durchdringen,  um 
dieselben  auf  diese  Weise  von  Stufe  zu  Stufe  weiter  zu  führen, 
war  nicht  ein  Ziel,  das  diese  Zeit  erstrebte. 

Die  Wahrheit  der  reinen  Lehre  wollte  die  evangelische 
Kirche,  welche  die  Trägerin  derselben  war,  und  die  Wissenschaft, 
welche  in  ihrem  Dienste  stand,  anerkannt  wissen  und  darthun. 
Wenn  sie  hierin  Eifer  bewiesen  und  Geschicklichkeit  oder  Kraft 
bekundeten,  glaubten  sie  ihre  Pflicht  und  Aufgabe  recht  erfüllt  zu 
haben.  Darüber  hinaus  gingen  ihre  Gedanken  nicht  wesentlich, 
sondern  mit  diesem  Ausschnitte  der  christlichen  Thätigkeit  be- 
gnügte sich  in  der  Hauptsache  die  Zeit  der  sogenannten  Orthodoxie. 
Wie  hätten  sich  also  der  Staat  oder  die  bürgerliche  Gemeinschaft 
höhere  Ziele  stecken  sollen,  wenn  die  Gedanken  der  Kirche  nicht 
weiter  gingen,  und  wie  hätten  diese  sich  auf  etwas  anderes 
richten  sollen,  als  eben  auch  nur  die  bestehende  Ordnung  mög- 
lichst auf  allen  Gebieten  zu  erhalten. 

Man  glaubte  denn  in  der  evangelischen  Kirche  auch  den 
Andersdenkenden,  der  römischen  Kirche  und  dem  Unglauben, 
jeder  Ketzerei  und  überhaupt  jedem  Feinde  gegenüber,  welcher 
die  eigene  Kirche  bedrohte,  vor  allem  die  eigene  Lehre  klar  und 
bestimmt  feststellen  zu  müssen,  um  die  hier  erwachsene  Aufgabe 
recht  erfüllt  zu  haben.  Möglichst  scharf  und  logisch,  am  liebsten 
bis  in  das  kleinste  Detail  hinein  und  gegen  jeden  erdenklichen 
Einwand  die  Richtigkeit  der  evangelischen  Lehre  zu  beweisen 
und  das  Irrthümliche  in  der  anderen  Anschauung  aufzudecken, 
galt  für  den  Weg,  den  man  einzuschlagen  habe,  um  den  Gegner 
zu  entwaffnen  und  so  gewiss  das  erstrebte  Ziel  zu  erreichen. 
Denn  freilich  der  dialektische  und  gelehrte  Triumph  erschien 
dieser  Zeit  zugleich  als  die  Ueberwindung  des  Gegners;  und 
vielfach  glaubte  man  noch  dazu  der  Wahrheit  am  besten  zu 
dienen,  wenn  man  den  Gegner  mit  den  rücksichtslosesten  Worten 
förmlich  zermalmte. 

So  war  jene  Zeit  allerdings  im  Besitze  der  reinen  Lehre 
ihrer  selbst  gewiss  und  fühlte  auch  Muth  und  Freudigkeit  genug, 
sie  vor    aller  Welt    zu    bezeugen.     Denn    wir    würden    allerdings 

5* 


—    68     — 

der  evangelischen  Kirche  dieser  Zeit  nicht  gerecht  werden,  wenn 
wir  es  nicht  anerkennen  wollten,  dass  sie  ein  reger,  obgleich 
sehr  einseitiger  Missionssinn  erfüllte.  Sie  wollte  durchaus  das  Recht 
der  evangelischen  Lehre  vor  aller  Welt  bezeugen  und  diese  auch 
zu  der  Anerkennung  führen,  dass  die  evangelische  Kirche,  oder 
vielmehr  jede  der  verschiedenen  evangelischen  Kirchen  wollte  es 
für  sich  selbst  beweisen,  dass  sie  im  Besitze  der  reinen  Wahr- 
heit sei.  Das  helle  Licht  dieser  Wahrheit  sollte  in  die  Finster- 
niss  der  anderen  hineinscheinen,  und  diese  auf  solche  Weise  ihre 
eigene  Finsterniss  erkennen  lernen. 

Insbesondere  aber  bot  man  eine  ungemeine  Fülle  von  wissen- 
schaftlicher Arbeit  und  Gelehrsamkeit,  die  man  es  sich  mit  der 
allero-rössten  Mühe  zu  erwerben  nicht  hatte  verdriessen  lassen, 
auf,  um  den  Juden  zu  zeigen,  dass  sie  falsche  Wege  gingen,  und 
dass  sie  allein  in  der  evangelischen  Lehre  den  rechten  Weg 
finden  könnten.  Aber  man  fing  dieses 'Werk  vielfach  sehr  ver- 
kehrt an,  und  dies  darum,  weil  über  dem  Eifer,  die  Menschen 
zu  retten,  der  Eifer  für  den  Sieg  der  reinen  Lehre  stand.  Eben 
daher  dachte  man  viel  zu  wenig  darüber  nach,  wie  man  den 
Zusane  zu  den  Herzen  der  Fernstehenden  gewinnen  könne,  und 
fühlte  auch  die  Notwendigkeit  des  persönlichen  Aufsuchens  der 
Verirrten  in  viel  zu  geringem  Grade.  Hatte  man  klar  und  deut- 
lich die  Vorzüge  des  christlichen  Glaubens  vor  dem  jüdischen 
dargestellt,  so  erwog  man  alsdann  die  Frage,  wie  nun  eben  dieser 
Glaube  den  Draussenstehenden  nahe  gebracht  werden  möchte, 
zumeist  mit  sehr  viel  geringerem  Eifer,  Ernst  und  Sorgfalt.  Der 
Missionssinn  jener  Zeit  im  Allgemeinen  war  noch  nicht  jener 
echt  christliche  und  echt  evangelische,  welcher  dem  Menschen 
selbst  vor  allem  in  Treue,  Liebe  und  Geduld  nachgeht. 

Man  unternahm  also  gleichsam  Ringkämpfe  mit  allen,  welche 
entweder  ganz  ausserhalb  der  eigenen  Rechtgläubigkeit  standen 
oder  irgend  wie  von  derselben  abwichen.  Ja,  je  hartnäckiger  der 
Gegner  war,  und  je  mehr  Wissenskraft  und  Gelehrsamkeit  gegen 
denselben  aufgeboten  werden  musste,  desto  lieber  suchte  man  den 
Kampf  auf;  hatte  man  doch  die  Gewissheit,  auch  aus  solchem 
Streite  als  der  Stärkere  hervorzugehen.  Und  gerade  darum  boten 
die  Juden  als  die  ältesten  und  ausgesprochensten  Widersacher 
des  Christenthums  und  ihre  Literatur  mit  ihrem  riesigen  Umfange 
den  Theologen  jener  Zeit  ein  ganz  besonders  anziehendes  Kampf- 
objekt.    Hier    fand    man    in    der   That   einen   Kämpfer  vor,    der 


-     69     - 

Jahrhunderte  hindurch  seine  Waffen  gegen  das  Evangelium 
geschwungen  hatte,  und  mit  ihm  zu  ringen  bot  einen  ganz  beson- 
deren Reiz. 

Aus  dem  allen  erklärt  es  sich  denn  auch,  dass  sich  fast 
die  gesammte  Theologenwelt  jener  Zeit  mit  der  jüdischen  und 
rabbinischen  Literatur  und  dies  in  einem  Umfange  beschäftigte, 
wie  es  nie  vorher  und  nachher  in  der  Christenheit  der  Fall 
gewesen  ist.  Alle  berühmten  Theologen  des  Zeitraumes  schrieben 
Schriften  über,  für  oder  gegen  die  Juden  und  ihre  Literatur.  Fast 
auf  allen  evangelischen  Universitäten  widmete  man  der  Kenntniss 
des  Judenthums  und  seiner  Literatur  das  eingehendste  Studium. 
Die  theologischen  Dissertationsschriften  jener  Zeit  wählen  un- 
gemein häufig  gerade  aus  diesem  Gebiete  ihre  Themata,  und 
Niemand  darf  den  Anspruch  erheben,  in  der  Theologie  gehört  zu 
werden,  der  nicht  in  der  jüdischen  Literatur  zu  Hause  ist. 

Aber  fast  diese  gesammte  Literatur  ist  lateinisch  geschrieben, 
das  doch  nur  ein  sehr  kleiner  Theil  der  damaligen  Juden  ver- 
stand; und  die  grosse  Masse  derselben  wusste  daher,  obwohl  man 
sie  mit  dem  Aufgebot  der  grössten  Kraft  von  der  Falschheit 
ihres  Glaubens,  wie  von  der  Richtigkeit  des  christlichen  zu  über- 
zeugen suchte,  nicht  einmal  von  dem,  was  man  ihrethalben  schrieb 
und  redete,  oder  dass  man  sich  um  ihre  Bekehrung  bemühte. 

Der  gemeine  Mann  unter  den  Evangelischen  aber  konnte 
auch  diese  Schriften  nicht  lesen  und  erfuhr  der  Regel  nach  nur  in 
so  weit  etwas  von  dem,  was  seine  Theologen  und  literarisich  Gebil- 
deten hinsichtlich  der  Juden  beschäftigte,  als  dieselben  ihre 
gelehrten  Anliegen  auch  auf  die  Kanzel  oder  in  die  Schulen 
brachten.  Denn  allerdings  die  gelehrte  Behandlung  der  Juden- 
frage blieb  nicht  auf  die  Bücher  beschränkt,  sondern  wurde  ins- 
besondere durch  die  sonntägliche  Predigt  vielfach  auch  unter  die 
Gemeinde  getragen,  um  dort  gewöhnlich  in  der  Weise  eines 
wissenschaftlichen  und  literarischen  Streites  behandelt  zu  werden. 
Und  so  lag  es  in  der  Natur  der  Sache,  dass  die  Gemeinde  eine 
Förderung  in  der  Erkenntniss,  was  ihr  den  Juden  gegenüber 
obliege,  und  einen  Antrieb,  das  Missionswerk  unter  ihnen  zu  treiben, 
durchaus  nicht  in  irgend  welchem  hinreichenden  Maasse  empfing. 

Möglichste  Beschränkung  der  Juden,  so  weit  das  finanzielle 
Interesse  nicht  anderes  zu  gebieten  schien,  blieb  auch  in  dieser 
Zeit  der  überwiegende  Gesichtspunkt  in  der  Behandlung  der 
Judenfrage.     Theologen  und  Juristen  fassten  dabei  mehr  die  ideale 


Seite  der  Sache  ins  Auge,  während  bei  den  politischen  Macht- 
habern  die  finanzielle  Rücksicht  bald  für  bald  gegen  die  Juden 
sprach.  Aber  allerdings  der  negative  Gesichtspunkt  war  bei  den- 
jenigen, welche  über  das  Verhältniss  der  Christen  und  des  christ- 
lichen Gemeinwesens  zu  den  Juden  nachdachten,  der  vorherrschende. 
Der  Rechtsgelehre  Baptist  Cäsar  in  Frankfurt  a.  M.  z.  B.  beant- 
wortete die  Frage:  „Ob  eine  rechte  christliche  Obrigkeit  mit 
gutem  Gewissen  Juden  halten  und  leiden  möge?"  (Marburg  1621) 
dahin,  dass  er  dies  nur  gestattet  sehen  wolle,  wenn  den  Juden 
der  Talmud  genommen  und  ihren  Rabbinen  das  Lehren  ver- 
boten, alle  Juden  zur  Anhörung  christlicher  Predigten  gezwungen 
und  ihre  Kinder  getauft  würden.  Ist  jener  Gelehrte  darin  aber 
allerdings  weiter  als  die  meisten  seiner  Zeitgenossen  gegangen,  so 
erklärte  man  sich  doch  ziemlich  allgemein  gegen  die  Erbauung  neuer 
Synagogen.  Oefters  wurden  auch  Luthers  strenge  Rathschläge 
wiederholt,  und  der  Hamburger  Dr.  Joh.  Müller  hat  z.  B.  in 
seinem  bekannten,  viel  gelesenen  und  bedeutenden  Werke  Judais- 
mus detectus  die  Frage,  ob  Häuser  an  Juden  vermiethet  werden 
dürften,  nur  unter  vielen  Beschränkungen  bejaht  wissen  wollen. 

Eben  diese  Ansichten  aber  kehren  bei  der  grössten  Zahl 
der  Juristen  und  Theologen  wieder,  und  zwar  ebensowohl  unter 
den  Lutherischen  als  unter  den  Reformirten.  Bei  den  reformirten 
Professoren  Gisbert  Voetius  und  Joh.  Leusden  in  Utrecht  unter 
anderen  finden  sich  um  1660  alle  die  oben  genannten  Vorschläge 
über  die  Beschränkung  der  Juden  wieder.  Und  dabei  waren  es 
zumeist  Männer,  denen  das  geistliche  Wohl  der  Juden  wirklich 
am  Herzen  lag,  welche  Forderungen  dieser  Art  aussprachen 
Der  gemeine  Mann  wusste  daher  im  Allgemeinen  noch  viel 
weniger  die  rechte  Stellung  zu  den  Juden  zu  gewinnen.  Man 
rächte  sich  an  den  Juden  besonders  für  den  von  ihnen  getriebenen 
Wucher  auf  unverantwortliche  Weise.  Von  Gross  und  Klein 
wurden  sie  gequält,  am  Bart  gerauft  und  verhöhnt,  ihnen  Würfel 
um  Paschen  abgefordert  und  sie  selbst  allen  erdenklichen  Placke- 
reien unterworfen.  Der  Leibzoll  und  das  besondere  Abzeichen 
an  den  Kleidern  erhielten  sich  auch  in  den  meisten  protestan- 
tischen Gegenden  noch  diese  ganze  Periode  hindurch.  Ja,  dem 
Geiste  des  Zeitraumes  entsprechend,  sehen  wir  das  Verhältniss 
zwischen  Juden  und  Christen  ganz  systematisch  nach  den  Regeln 
eines  Krieges  ausgestaltet  werden. 


—    71     — 

Geistiger  und  äusserer  Kampf,  das  ist  das  hervorstechendste 
Merkmal  in  dem  Verhältniss  der  miteinander  zusammenwohnenden 
Christen  und  Juden ;  in  dem  ersteren  sind  die  Christen  die  An- 
greifer, in  dem  anderen  die  Vertheidiger.  Man  will  die  feind- 
lichen Juden  allerdings  nicht  bekämpfen,  um  sie  zu  vernichten, 
sondern  um  sie  zugleich  für  das  Reich  Christi  zu  erobern,  aber 
man  fasst  für  gewöhnlich  mit  rauher  Hand  zu,  und  dem  Ernste 
fehlt  gar  zu  sehr  die  Lindigkeit  und  der  Herzenston  der  Erbarmung. 

In  der  Folge  werden  wir  nun  die  Missionsbeziehungen  zu 
den  Juden  in  den  einzelnen  Ländern  und  Völkern  zu  betrachten 
haben. 


3.  Deutschland. 

a.  Die  talmudische   und    rabbinische  Literatur  im   evan- 
gelischen Deutschland  bis   1700. 

Die  allgemeinen  Verhältnisse  der  evangelischen  Kirche 
Deutschlands  haben  während  dieses  Zeitraumes  ein  Missionswerk 
an  den  Juden  mehrfach  ausserordentlich  erschwert.  Der  Kampf 
mit  der  römischen  Kirche,  bei  dem  es  sich  um  Sein  und  Nicht- 
sein handelte,  der  dreissigjährige  Krieg  mit  seinen  maasslosen 
Schrecken  und  Greueln  und  endlich  die  inneren  Kämpfe  der 
evangelischen  Kirchen  untereinander  nahmen  die  Gemüther  und 
das  ganze  Leben  so  sehr  in  Anspruch,  dass  für  eine  Missions- 
arbeit an  den  Juden  kaum  ein  Raum  übrig  zu  bleiben  schien. 
Die  reformatorische  Anfangszeit  bot  in  der  That  denn  auch  noch 
günstigere  Verhältnisse  in  dieser  Beziehung  dar  als  einige  Jahr- 
zehnte dieser  Periode;  sie  war  die  Zeit  des  siegreichen  Vor- 
dringens der  evangelischen  Kirche.  Die  Entschuldigung,  dass 
der  unerlässlichen  Aufgaben  zu  viele  seien,  als  dass  man  für  die 
Juden  Kraft  und  Zeit  übrig  habe,  hätte  jetzt,  wo  man  recht  eigentlich 
um  das  Dasein  zu  ringen  hatte,  eher  als  damals  ein  Recht  gehabt. 

Während  der  Zeit  des  dreissigj ährigen  Krieges  geschah 
denn  auch  auf  dem  Judenmissionsgebiete  sehr  wenig,  und  erst» 
als  man  sich  wieder  von  demselben  zu  erholen  begann,  lenkten 
die  Theologen  von  Neuem  die  Aufmerksamkeit  der  Gemeinden  auf 
die  Juden,  die  leider  in  jenen  Kriegsjahren  vielfach  die  Noth  des 
Volkes  ausgebeutet  hatten.  Jetzt,  wo  man  zu  einem  Wieder- 
aufbau des  Zerrissenen  und  zu   innerer  Befestigung   schritt,    trat 


—     72     — 

man  alsbald  auch  an  die  Frage,  wie  man  sich  zu  den  Juden 
stellen  solle,  wieder  heran. 

Und  was  nun  hier  geschehen  ist,  verdient  die  volle  Beach- 
tung. Obwohl  die  eigene  Kirche  noch  aus  tausend  Wunden 
blutete ,  erwachte  doch  bald  nach  dem  dreissigjährigen  Kriege 
ein  überaus  lebhafter  Trieb  in  der  deutsch-evangelischen  Kirche, 
das  gute  Recht  der  eigenen  Sache  auch  vor  den  Juden  zu  ver- 
treten. Das  wird  man  eben  desshalb  als  einen  besonderen  Lebens- 
beweis dieser  Kirche  anerkennen  und  man  wird  ihre  Bemühungen 
auf  dem  Judenmissionsgebiete  mit  Theilnahme  begleiten  müssen. 

Betrachten  wir  dann  aber  die  Art  dieser  Thätigkeit,  so 
werden  wir  das  Urtheil  auszusprechen  haben,  dass  alles,  was  in 
lobender  oder  tadelnder  Weise  vorher  über  diesen  Zeitraum  gesagt 
war,  für  Deutschland  im  besonderen  Maasse  gilt. 

Nirgends  hat  man  sich  so  eifrig  mit  der  jüdischen  Literatur 
beschäftigt  als  hier,  und  besonders  geschah  dies  in  der  zweiten 
Hälfte  des  17.  Jahrhunderts.  Man  hatte  hierbei  theils  ein  gelehrtes, 
theils  ein  apologetisches ,  theils  ein  polemisches  und  theils  ein 
ausgesprochenes  Missionsinteresse. 

Aufs  gründlichste  wurden  in  Deutschland  der  Talmud  und 
die  Rabbinen  durchforscht.  Zur  bequemeren  Erlernung  der  tal- 
mudischen und  rabbinischen  Sprache  verfassten  bedeutende  Theo- 
logen wie  Hackspan  in  Altorf,  Pfeiffer,  Mercerius  und 
Sennert  in  Wittenberg,  Scherzer  und  Starcke  in  Leipzig, 
Burcklin  in  Frankfurt  a.  M. ,  Danz  in  Jena,  Spitz  in  Kiel, 
Scheidius  in  Strassburg,  Cellarius  in  Halle  und  Hankeimann 
in  Hamburg  Lexika  und  Grammatiken. 

Einzelne  Theile  des  Talmud  wurden  ins  Lateinische  über- 
setzt. So  durch  Michael  Neander  in  Sorau,  Ullmann  und  B. 
Scheidius  in  Strassburg,  Esdras  Edzard  in  Hamburg,  Peringer 
und  Wagenseil  in  Altorf,  von  dem  lateinische  und  deutsche 
Uebersetzungen  einzelner  Theile  stammen,  Ludovicus  und  Seb. 
Schmidt  in  Leipzig,  Das  so  v  in  Wittenberg,  J.  Wülfer  in  Nürn- 
berg. Von  H.  Lehmann  erschien  auch  in  Leipzig  eine  deutsche 
L'ebersetzung  der  Sprüche  der  Väter  (Pirke  Aboth). 

Lateinische  Uebersetzungen  talmudicher  Traktate  lieferten 
ebenso  Zacharias  Grape  in  Rostock,  Dan.  Schwenten  in  Nürn- 
berg, Heinr.  Opitz,  Josua  Frank  in  Halle. 

Beckmann  in  Frankfurt  a.  O.  schrieb  unter  anderem  über 
cie    Bibelstellen    im   Talmud   1690,    über  Theile    und  Abschnitte 


—     73     — 

aus  der  talmudischen  Literatur  Gabriel  Groddeck  in  Danzig  und 
Laur.  Nor  mann.  Christ.  Theoph.  Unger  in  Herrenlauersitz 
(Schlesien)  hat  Jeschua  Halevi,  Methodologie  des  Talmud  (Hala- 
chot  Olam)  bearbeitet.  Struve  in  Jena  und  Ritmeier  in  Hanau 
haben  Schriften  von  Jac.  Jehuda  Leone  übersetzt;  Saubert  in 
Helmstadt  1655,  Molitor  in  Altona  und  Burklin  in  Frankfurt 
a.  M.  Schriften  von  Salomo  Ibn  Melech  ins  Lateinische,  und 
solche  von  Arje  de  Modena  endlich  Valerius  Grossgebauer 
in  Frankfurt  a.  M. 

Ebenso  verwandte  man  vielen  Fleiss  auf  die  Erklärung  des 
Talmud  und  der  Rabbinen,  und  mit  ungemeiner  Lebhaftigkeit 
wurde  die  Frage  über  den  Nutzen  desselben  verhandelt.  Seltener 
wird  derselbe  vollständig  verworfen.  Seb.  Schmidt  im  feurigen 
Drachengift  1682  und  Grambs  in  Frankfurt  a.  M.  1682  stehen 
mit  ihrem  Rathe,  den  Talmud  zu  verbrennen  oder  ihn  den  Juden 
zu  verbieten,  in  dieser  Zeit  ziemlich  vereinzelt  da.  H.  Muhlius 
dagegen  schrieb  eine,  übrigens  massig  gehaltene  Apologie  des- 
selben, Frankfurt  1689,  und  Zachar.  Grapius  in  seiner  Abhand- 
lung über  die  Idee  des  jerusalemischen  Talmud,  Leipzig  1695, 
vertheidigt  denselben  gegen  den  Vorwurf,  dass  er  ein  Fabelbuch 
sei.  M.  Johann  Heinrich  Wolf  suchte  in  einer  zu  Leipzig  1683 
erschienenen  Schrift  alle  die  thörichten  Fabeln  des  Talmud  als 
blosse  Allegorien  zu  rechtfertigen  und  empfahl  das  talmudische 
Studium  in  jeder  Beziehung.  Als  Konrektor  in  Gera  übersetzte 
er  später  1726  die  13  Glaubensartikel  des  Rabbi  Vital  ins  La- 
teinische und  versah  sie  mit  Bemerkungen. 

Vielfach  empfahl  man  das  talmudische  Studium  zum  besseren 
Verständniss  der  Juden,  zur  Verwerthung  im  christlich -apologe- 
tischen Sinne  gegen  dieselben  und  als  Hilfsmittel  für  die  Erklärung 
des  Alten  wie  des  Neuen  Testamentes.  Auch  Schickhard  in 
Tübingen,  Ben.  Carpzov  in  Leipzig,  Th.  Dassov  und  Scheidius 
empfahlen  das  Studium  der  Rabbinen  und  des  Talmud  für  diesen 
Zweck  ihren  Zeitgenossen.  Ebenso  J.  Cramer  in  Herborn, 
Martin  Geier  in  Leipzig,  Hackspan,  Joh.  Heinr.  Majus  in 
Giessen,  Aug.  Pfeiffer  in  Leipzig  und  Jo.  Andr.  Danz  in  Jena. 

Noch  mehr  vertiefte  man  sich  in  das  Studium  der  bedeu- 
tendsten Rabbinen  des  Mittelalters.  Ihre  Erklärungen  der  Bücher 
des  Alten  Testamentes  wurde  aufs  Sorgfältigste  bei  der  Aus- 
legung derselben  berücksichtigt,  viele  ihrer  Schriften  ins  Latei- 
nische übersetzt  und  eingehender,  oft  polemischer  Prüfung  unter- 


v.'orfen.  Die  grossen  jüdischen  Gelehrten  und  Rabbinen  Mai- 
monides,  Abravanel,  Abraham  Ihn  Esra,  Raschi  und 
Kirne hi  zumal  fanden  häufige  Bearbeiter  auf  den  verschiedensten 
Universitäten  und  unter  nicht  akademischen  Theologen.  So 
Schnell,  Hackspan  und  Wagenseil  in  Altorf,  Wasmuth, 
YVacke  und  Burklin  in  Jena,  Genz,  Scherzer,  Carpzov, 
Abi  cht  und  Christoph  Stämmen  in  Leipzig,  Herrn,  von  der 
Hardt,  Sprecher,  Schramm  und  Hilpert  in  Helmstädt, 
Pfeiffer  und  Geier  in  Wittenberg,  Brandanus  Gebhard,  N. 
Koppe  in  Grcifswald,  Varenius  und  Bohle  in  Rostock,  Uli- 
mann und  Seb.  Schmidt  in  Strassburg,  Storr  in  Tübingen, 
Walter  in  Königsberg,  Mieg  in  Heidelberg,  Chr.  Gräfe  in 
Altenburg,  Joh.  Müller  in  Hamburg,  Molitor  in  Altona,  Croze 
in  Bremen,  Beckmann  in  Frankfurt  a.  O. 

Einzelne Midraschim  übersetzte  Saubert  in  Helmstädt.  Ueber 
den  Schulchan  Aruch,  jenes  Werk,  welches  das  rabbinische 
Judenthum  in  seiner  ausgeprägtesten  Gestalt  darstellt  und  es  aufs 
tiefste  bestimmt,  ja  vollständig  beherrscht  hat,  schreibt  Beck- 
mann. Gegen  Lipmans  Lästerschrift  wider  das  Christenthum, 
„Xizzachon",  erhoben  sich  mehrere  Gelehrte:  Hackspan,  Schnell, 
Wagenseil,  Wacke,  Gerlov  und  Blendinger.  Die  gewaltigste 
aller  jüdischen  Angriffsschriften,  Chisuk  Emunah,  hekämpften 
besonders  Joh.  Müller,  W  a  g  e  n  s  e  i  1 ,  Brandanus  Gebhard 
und  Storr. 

Mehrere  jüdische  Dichter  übersetzte  Ebe  r  t  in  Frankfurt  a.  O. 
Einige  Theologen  hofften  durch  Berufung  auf  die  jüdische  Geheim- 
lehre die  Juden  für  das  Christenthum  zu  gewinnen.  Zumal  Hack- 
span, Ritangel,  ganz  besonders  aber  Knorr  von  Rosenroth, 
Senn  er  t  und  Wachert  Hessen  es  sich  angelegen  sein,  die 
Kabbala  in  diesem  Sinne  auszubeuten.  Die  meisten  Theologen, 
welche  sie  benutzten,  legten  der  jüdischen  Geheimlehre  einen  viel 
zu  hohen  Werth  bei  und  lasen  oft  die  ganze  christliche  Glaubens- 
lehre aus  derselben  heraus.  Einige  verloren  sogar  über  dieser 
Mystik  den  Geschmack  an  dem  einfachen  Evangelium.  Das  gilt 
besonders  von  Rosen roth,  dem  Verfasser  der  Kabbala  denu- 
data,  gestorben  1689  und  von  Abraham  von  Frankenberg, 
gestorben  1652,  der  Peninis  Bechinath  Olam  mit  Anmerkungen 
versah.  Der  schlesische  Pastor  Hilarius  Prache,  der  gleichfalls 
Kenner  der  rabbinischen  Literatur  war  und  Frankenbergs 
Standpunkt  theilte,  hat  dessen  Werk  in  lateinischer  Uebersetzung 


—    75     — 

und  mit  lateinisch-rabbinischen  Anmerkungen  versehen,  1673  her- 
ausgegeben. Im  Kreise  der  Schlesischen  Mystiker,  die  sich 
besonders  an  Jakob  Böhme  anschlössen,  sprach  man  sogar  viel 
von  einem  Seligwerden  der  Juden  ohne  die  Taufe.  So  besonders 
Paul  Kaym.*) 

Natürlich  war  die  Messiaslehre  ein  ganz  besonderer  Gegen- 
stand der  Besprechung  und  wurde  mit  steter  Rücksicht  auf  die 
rabbinischen  Anschauungen,  die  theilweise  abgewehrt  wurden 
theilweise  Zustimmung  fanden,  aus  dem  Alten  Testament  ent- 
wickelt oder  wurde  direkt  aus  der  talmudischen  und  rabbinischen 
Literatur  abgeleitet  und  dann  nach  den  Kategorien  der  üblichen 
Dogmatik  dargestellt.  Viei  Fleiss  und  Mühe  haben  hier  Molther, 
Widmar  in  Marburg,  Helvicus,  Anan  Weber  in  Leipzig, 
Varenius,  Jo.  Micraelius  in  Stettin,  Cellarius,  Haber- 
korn, Sennert,  Frischmuth,  Brandanus  Gebhard  und 
Joh.  von  Lent  aufgewandt. 

Die  grösste  Mühe  gab  man  sich,  die  ganze  christliche  Lehre 
oder  Stücke  derselben  aus  der  jüdischen  Literatur  zu  beweisen. 
Michael  Neander  in  Sorau  schrieb  1567  in  lateinischer  Sprache 
ein  Buch  „Die  Zeugnisse  der  alten  Hebräer,  Rabbinen,  Talmudi- 
sten  und  Cabbalisten  über  Christum,  der  Welt  Jeschua  oder 
Heiland."  Basel.  Johann  Molther  suchte  in  seiner  Schrift: 
„Theologia  et  Chronologia  Judaeorum,  das  ist:  Gründliche  Er- 
zählung der  jüdischen  Fabeln  vom  Messias,  Auferstehung,  dem 
Tode  u.  s.  w.,  daneben  der  irrgläubigen  Juden  Wegweiser. 
Frankfurt  a.  M.  1601"  durch  Citate  aus  der  rabbinischen  Literatur 
die  Juden  für  das  Christenthum  zu  gewinnen.  Ebenso  der 
Giessener  Professor  Christ.  Helwig,  der  vielfach  mit  Juden  ver- 
kehrte und  hebräischen  Unterricht  bei  ihnen  genommen  hatte, 
in  seinem  Elenchus  Judaeorum.  Giessen  1609.  Ueber  die  Drei- 
einigkeitslehre im  Talmud  schrieb  Josua  Arnd,  Wittenberg  1650, 
und  besonders  eifrig  suchte  der  Tübinger  Professor  Schickhardt 
1625  die  Rabbinen  als  Zeugen  des  christlichen  Glaubens  zu 
verwerthen. 

Prof.  Joh.  Förster  in  Wittenberg  dagegen,  Varenius  in 
Rostock  und  M.  Wasmuth  in  Kiel  wollten  von  einem  positiven 
Nutzen   des  Talmud   für    die  christliche  Theologie  nichts  wissen 


*)    G.  Koffmane,   Religiöse    Bewegungen   in    der   evangelischen   Kirche 
Schlesiens  während  des   17.  Jahrhunderts,  S.  38,  45,  47. 


-     76    - 

und  -warnten  davor,  denselben  als  ein  Lehrbuch  des  christlichen 
Glaubens  zu  behandeln.  Hehvig,  obwohl  er  apologetischen  Ge- 
brauch von  der  jüdischen  Literatur  machte,  wies  doch  ander- 
seits darauf  hin,  wie  der  Talmud  das  ganze  Denken  der  Juden 
in  wenig  heilsamer  Weise  beeinflusst  habe.  Frischmuth  in 
Jena  erklärte,  dass  gerade  der  Talmud  das  grösste  Hinderniss 
für  die  Bekehrung  der  Juden  bilde,  weil  er  sie  nicht  zum  Ver- 
ständniss  des  Alten  Testamentes  gelangen  lasse.  Den  gleichen 
schädlichen  Einfluss  des  Talmud  hob  Professor  Dannhauer  zu 
Strassburg  in  seinem  Christophorus  hervor  1638.  Auch  Balthasar 
Baumbach  in:  Quatuor  utilissimi  tractatus,  Nürnberg  1609  und 
Joh.  Müller  im  Judaismus  detectus  rathen  hier  zur  grössten 
Vorsicht,  weil  die  Juden  für  alles  im  Talmud  die  verschieden- 
sten und  einander  widersprechendsten  Erklärungen  und  Aussprüche 
hätten.  Conrad  Fronmüller  rief  durch  seine  zwei  hebräischen 
Briefe  über  die  Widersprüche  der  Rabbinen  unter  einander  eine 
Entgegnung  des  Rabbi  Hanoch  B.  Levi  hervor,  die  dann  jener 
Gelehrte  mit  seinen  beiden  Briefen  veröffentlichte.  Altorf  1679. 
Prof.  Aug.  Pfeiffer  wies  in  seiner  Schrift:  Theologiae  Judaicae 
principia  sublesta,  Leipzig  1687  darauf  hin,  dass  aus  der  wüsten 
Masse  dessen,  was  der  Talmud  enthalte,  nur  immer  weniges  zu 
gebrauchen  sei,  so  dass  nun  auch  das  Studium  desselben  die 
darauf  verwandte  Mühe  nicht  lohne.  Nicht  minder  warnte  der 
berühmte  Professor  Conring  in  Helmstädt  vor  einer  Ueber- 
schätzung  des  Talmud  und  seiner  Literatur. 

Jedesfalls  haben  viele  Professoren  der  damaligen  deutschen 
Universitäten  und  besonders  die  in  Leipzig,  Jena,  Wittenberg, 
Altorf,  Strassburg,  Greifswald,  Rostock  und  Königsberg  ihren 
Studirenden  in  Bezug  auf  das  Studium  des  Talmud  und  der 
Rabbinen  zu  viel  zugemuthet.  Sie  haben  dadurch  im  Wesent- 
lichen auch  nur  die  Neigung,  sich  in  unfruchtbare  Gelehrsamkeit 
zu  verlieren,  gefördert,  und  theilweise  eine  völlig  verkehrte  Vor- 
liebe für  jene  Literatur  die  das  richtige  Urtheil  über  dieselbe 
schliesslich  verlor,  herbeigeführt.  Der  sonst  treffliche  Wagen- 
seil in  Altorf  konnte  sich  selbst  soweit  verirren,  dass  er  in  seiner 
„Hoffnung  der  Erlösung  Israels"  von  der  Mischnah,  dem  eigent- 
lichen Texte  des  Talmud,  zu  sagen  im  Stande  war:  „Das  ist 
ein  gutes  Buch  und  geht  nach  der  Schrift  fast  allen  andern 
Büchern  vor." 


—     77     — 

Auch  Systeme  der  jüdischen  Glaubenslehre  wurden  aus 
der  talmudischen  und  rabbinischen  Literatur  aufgestellt,  oder 
einzelne  jüdische  Lehren  in  ihr  verfolgt,  um  dieselben  an  der 
Schrift  des  Alten  Testamentes  zu  messen  und  sie  theils  zu 
widerlegen,  theils  ihre  Uebereinstimmung  mit  der  christlichen 
Lehre  nachzuweisen.  Auf  diesem  Gebiete  ragen  Helwig, 
Pfeiffer,  Havemann,  Generalsuperintendent  in  Stade,  Joh. 
Müller,  Joh.  Fecht  in  Rostock,  Dannhauer,  Dassov,  Johann 
von  Lent  in  Herborn,  Georg  Calixt  in  Helmstädt,  Majus  und 
Carpzov  hervor. 

Mit  Vorliebe  schlug  man  aber  auch  den  polemischen  Weg  ein. 
Der  jüdische  Glaube  wurde  in  seinen  Selbstwidersprüchen,  in 
seinen  Wiedersprüchen  gegen  die  heilige  Schrift  und  in  seiner 
Nichtigkeit  dargestellt.  Dabei  trat  jedoch  nur  selten  das  Be- 
streben zu  Tage,  die  Juden  durch  Freundlichkeit  zu  gewinnen 
und  in  herzlicher  Weise  den  Versuch  zu  machen,  dass  sie  zu 
anderen  Ueberzeugungen  gelangten.  Die  Sprache  ist  vielmehr 
meistens  eine  grobe.  Ein  besonderer  Fehler  war  es  aber  auch, 
dass  sich  diese  Literatur,  dem  Charakter  der  Zeit  entsprechend, 
vorwiegend  an  den  Verstand  und  in  viel  geringerem  Grade  an 
das  Herz  und  Gewissen  der  Juden  wandte.  Die  Logik  war  in 
der  That  die  Hauptwaffe,  mit  weicher  man  zum  Kampfe  auszog; 
und  doch  ist  die  kalte  Logik  am  wenigsten  dazu  angethan,  auf 
dem  Gebiete  des  innersten  Herzenslebens  zahlreichere  und  wahr- 
haft heilsame  Siege  zu  erstreiten.  Daher  hat  es  jene  Zeit  bei 
allem  Eifer,  welchen  sie  auf  die  Ueberführung  der  Juden  ver- 
wandte, selbst  verschuldet,  dass  die  Frucht  der  grossen  Mühe 
und  Arbeit  nicht  entsprach.  Vor  einem  literarischen  Wirken 
an  den  Juden,  dem  nicht  das  lebendige  mündliche  Zeugniss  an 
dieselben  beständig  zur  Seite  geht,  und  das  nicht  durch  die  Er- 
fahrungen des  persönlichen  Verkehrs  mit  den  Juden  innerlich 
bestimmt  und  erwärmt  wird,  warnen  gerade  die  Erfahrungen 
jener  Zeit. 

Ganze  Systeme  der  Controverse  wurden  von  verschiedenen 
Theologen  aufgestellt.  So  besonders  von  Joh.  Müller  in  seinem 
Judaismus  detectus,  Hamburg  1644.  Dieses  Buch  ist  das  be- 
deutendste polemische  Werk  gegen  die  Juden  in  jener  Zeit  und 
zeugt  von  einer  ungewöhnlichen  Belesenheit  des  Verfassers  in 
der  jüdischen  Literatur,  in  welcher  ihm  aber  allerdings  fast  nur 
die    Schattenseiten    entgegentreten.     Zur    Seite    stellt    sich    das 


-     78     - 

tüchtige  Werk  von  Johann  von  Lent  „Moderna  theologia  Judaica" 
Herborn  1694.  Auch  Abraham  Calov  in  Wittenberg  geht  wider 
die  Juden  im  Interesse  der  Wahrheit  der  christlichen  Religion 
in  der  Schrift  Veritas  religionis  Christianae  adversus  Judaeos 
probata,  Wittenberg  1679  vor.  Seinecker  Hess  sich  überaus 
heftig  gegen  ihre  Lästerungen  aus  (Leipzig  1577),  und  sehr 
scharf  griff  Georg  Nigrinus  im  „Judenfeind"  die  Juden  an, 
Giessen  1570.  Nicht  minder  hart  ist  das  Gericht,  das  Joh. 
Schmidt  im  „Feurigen  Drachengift"  über  sie  abhält.  Coburg 
1682.  Nicolaus  Vedelius  führt  in  „De  deo  Synagogae"  aus, 
dass  die  Juden  nicht  den  rechten  Gott  anbeten.  Auch  D.  J.  F. 
Mayer  wandte  sich  gegen  die  Juden  in  seinem  Museum 
Ministri  ecclesiae  Leipzig  1 703  und  in  seiner  lateinischen  Schrift 
über  den  Götzendienst  der  Juden  und  der  Päpstlichen,  Leipzig 
1673.  Aehnlich  vergleicht  Joh.  Fe  cht  de  ecclesia  Judaica  das 
Judenthum  mit  allen  christlichen  Irrlehren.  Die  jüdische  Theologie 
im  Allgemeinen  bekämpfte  Aug.  Varenius  zu  Rostock  im 
Elenchus  theologiae  Judaicae  1647,  und  ebenso  schrieb  Fried. 
Ulrich  Calixt  de  religione  Judaica.  Helmstädt  1686.  Der 
Leipziger  Professor  D.  Aug.  Pfeiffer  suchte  nachzuweisen,  wie 
haltlos  die  Principien  der  jüdischen  Religion  seien  in  Mataeologiae 
Judaicae  u.  s.  w.,  Leipzig  1687,  während  der  Königsberger  D. 
Christian  Dreier  zu  dem  gleichen  Zwecke  die  Principien  des 
christlichen  Glaubens  denen  des  jüdischen  entgegenstellte:  De 
principiis  fidei  Christianae  contra  Gentiles  et  Judaeos.     1689. 

Von  dem  berühmten  Professor  D.  Jo.  Henr.  Majus  in 
Giessen  stammt  eine  Synopsis  theologiae  Judaicae  veteris  et 
novae  1698.  Von  D.  Jo.  Benedict  Carpzov  eine  Introductio  in 
theologiam  Judaeorum  16S7,  die  als  Einleitung  seiner  Ausgabe 
des  Pugio  fidei  von  Raymundus  Martini  vorausgeschickt  ist. 
Im  Anhange  dieses  Werkes  bringt  er  auch  die  bis  dahin  nur 
als  Manuscript  in  der  Leipziger  Universitätsbibliothek  vorhanden 
gewesene  Geschichte  der  Bekehrung  des  hernachmaligen  Prämon- 
stratensers  Hermann  von  Cöln  zum  Christenthum. 

Das  zusammenfassendste  polemische  Werk  am  Schlüsse 
dieses  Zeitraumes  aber  ist  das  von  Johann  Andreas  Eisen- 
menger,  Professor  der  orientalischen  Sprachen  in  Heidelberg, 
zuerst  Frankfurt  a.  M.  1700.  „Entdecktes  Judenthum  oder 
gründlicher  und  wahi-hafter  Bericht,  welchergestalt  die  verstockten 
Juden    die   hochheilige  Dreieinigkeit,  Gott,  Vater,  Sohn   und  hl. 


79     — 

Geist  erschrecklicher  Weise  lästern,  die  heilige  Mutter  Christi 
verschmähen,  das  Neue  Testament,  die  Evangelisten  und  Apostel, 
die  christliche  Religion  spöttisch  durchziehen  und  die  ganze 
Christenheit  auf  das  äusserste  verachten  und  verfluchen  u.  s.  w." 
2  Theile. 

Dieses  Werk  hat  seine  besondere  Geschichte.*)  Den  Ver- 
fasser desselben  hatte  das  Studium  der  orientalischen  Sprachen 
als  jungen  Mann  nach  Amsterdam  geführt.  Dei  Judenschaft  dieser 
Stadt  fand  er  ebenso  selbstbewusst  als  gegen  das  Christenthum 
feindlich  gestimmt.  Als  er  nun  aber  den  dortigen  Rabbiner 
David  L  i  d  a  mit  eigenen  Ohren  Lästerungen  über  Christum 
aussprechen  hörte  und  Zeuge  davon  wurde,  wie  sich  drei  Christen 
in  jener  Stadt  durch  die  Beschneidung  ins  Judenthum  aufnehmen 
Hessen,  erwachte  sein  christlicher  Unwille  und  Eifer.  Es  trieb 
ihn  im  Gewissen  für  die  Ehre  Christi  gegen  seine  Angreifer  ein- 
zutreten und  andere  Christen  vor  der  Gefahr  des  Abfalles  zum 
judenthum  zu  behüten.  Desshalb  wollte  er  nun  das  Judenthum 
aus  seinen  eigenen  Quellen  studiren  und  so  ausgerüstet  sein 
Zeugniss  sowohl  vor  den  Juden,  als  vor  den  Christen  ablegen. 
Leichtsinnig  wollte  er  das  Werk  nicht  unternehmen,  sondern  der 
Sache  auf  den  Grund  gehen.  Er  durchforschte  desshalb  mit  un- 
gemeinem Fleisse  die  jüdische  Literatur  und  verkehrte  viel  mit 
Juden,  die,  da  sie  den  Zweck  seiner  Studien  nicht  kannten,  ihn 
selbst  auf  viele  Schriften  aufmerksam  machten,  die  ihm  sonst 
entgangen  wären.  Neunzehn  Jahre  arbeitete  er  an  dem  Werke, 
in  welchem  er  die  umfangreichsten  Citate  aus  nicht  weniger  als 
193  jüdischen  Schriftstellern  beibrachte,  die  jedesmal  im  Urtext 
mit  Quellenangabe  und  in  deutscher  Uebersetzung  aufgeführt  werden. 

Mitten  in  seinen  Studien  aber  wurde  Eisenmenger  aus 
Heidelberg  durch  die  Franzosen,  welche  dasselbe  verwüsteten, 
vertrieben  und  fand  mit  seiner  Frau  und  Kind  in  Frankfurt  a.  M., 
wo  ihm  diese  aber  starben,  eine  Zufluchtsstätte.  Dort  erwarb  er 
sich  in  der  bescheidenen  Stellung  eines  Chur  -  Pfälzischen  Regi- 
strators  des  Archivars  sein  Brot,  bis  er  später  nach  Heidelberg 
zurückkehrte  und  1 700  daselbst  eine  Professur  der  orientalischen 
Sprachen  erhielt. 

Im  Jahre  1700  nun  übergab  er  in  Frankfurt  sein  Werk 
dem  Druck.     Die  Juden  erfuhren  dies  und  boten  alles    auf,    um 


*)  Schuclt.     Jüdische  Merkwürdigkeiten   1,  426   ff.  3,    I    ff.  4,  285  ff. 


—  So- 
das Erschienen  des  Buches  zu  verhindern.  Die  Frankfurter  und 
Wiener  Juden  verbanden  sich,  um  es  bei  dem  Kaiser  zu  er- 
wirken, dass  Eisenmengers  Manuscript  nirgends  im  ganzen 
deutschen  Reiche  gedruckt  werden  dürfte.  Sie  scheuten  desshalb 
keine  Kosten  und  nachdem  sie  Tausende  von  Gulden  aufgewandt 
hatten ,  erlangten  sie  es  auch  wirklich ,  dass  vom  Reichshofrath 
ein  Verbot  dieses  Buches  erlassen  wurde.  Noch  war  dasselbe  in 
Frankfurt  nicht  fertig  gedruckt,  als  das  kaiserliche  Verbot  ein- 
traf; doch  wurde  alsdann  wenigstens  die  Vollendung  des  Druckes 
gestattet.  Die  fertige  Auflage  dagegen,  2000  Exemplare,  wurde 
mit  Beschlag  belegt  und  im  Frankfurter  Armenhause  aufbewahrt. 
Nur  etwa  zehn  Stück ,  welche  bereits  vor  der  Beschlagnahme 
ausgegeben  waren,  gelangten  zunächst  in  die  Welt. 

Vergeblich  erklärten  sich  die  eifrig  katholischen  Universi- 
täten Cöln  und  Mainz  und  die  evangelische  Universität  Giessen, 
denen  das  Buch  zur  Begutachtung  vorgelegt  worden  war,  für  die 
Freilassung  und  Ausgabe  desselben,  und  vergeblich  strengte 
Eisenmenger  selbst  einen  Prozess  um  Auslieferung  seines  Buches 
an.  Derselbe  hatte,  um  in  den  Besitz  so  zahlreicher  jüdischer 
Schriften  zu  gelangen,  ausserordentliche  Kosten  aufwenden  müssen ; 
denn  dieselben  hatten  einen  ungemein  hohen  Preis.  Dies  und 
die  Flucht  aus  Heidelberg  hatten  seine  baaren  Mittel  vollständig 
verzehrt,  so  dass  er  sich  in  den  letzten  Jahren  eine  Anleihe  von 
2000  Gulden  aufzunehmen  genöthigt  gesehen  hatte.  Diese  Ver- 
legenheit Eisenmengers  und  die  Ungewissheit,  ob  sie  den  Prozess 
gegen  den  Professor  gewinnen  werden,  bewogen  die  Juden,  dem- 
selben für  den  Fall ,  dass  er  ihnen  sein  Buch  ganz  überliesse, 
12,000  Gulden  zu  bieten.  Eisenmenger,  der  anfangs  höhere 
Zwecke  mit  seinem  Buche  verfolgt  hatte,  war  durch  die  Noth 
schwach  geworden  und  liess  sich  in  einen  Geldhandel  ein,  forderte 
nun  aber  30,000  Gulden  und  hierüber  zerschlug  sich  der  Ver- 
gleich. Bald  darauf  starb  er,  im  Jahre  1704,  ohne  den  Ausgang  des 
Prozesses,  den  seine  Erben  1 742  gewannen,  erlebt  zu  haben.  Dass 
Eisenmenger  jedoch  überhaupt  auf  eine  solche  Verhandlung 
eingehen  konnte,  ist  ein  Beweis  dafür,  dass  wenigstens  unter  den 
Kämpfen  seiner  letzten  Lebensjahre  seine  sittliche  Kraft  gesunken 
war;  und  so  war  es  auch  eine  Vergeltung,  dass  er  selbst  die 
Frucht  so  langer  Arbeit  nicht  ernten  durfte. 

Die  Juden  haben  jedoch  ihren  Zweck  auch  nicht  erreicht. 
Eisenmengers   Erben   wandten    sich    an    Könip"    Friedrich   I.   von 


—     8i     — 

Preussen  und  baten  diesen  darum,  dass  er  ihnen  zu  ihrem  Rechte 
verhülfe.  Der  König  untersuchte  die  ganze  Sache  und  als  er 
dieselbe  nun  genau  kennen  gelernt  hatte,  beschloss  er  selbst  kräftig 
einzuschreiten.  Es  waren  aber  Gründe  sehr  ernster  Art,  welche 
ihn  dazu  bestimmten,  auf  das  Erscheinen  des  Eisenmenger'schen 
Werkes  zu  dringen.  Er  fasste  die  Aufgabe  eines  christlichen 
Regenten  sehr  hoch  auf  und  wusste  sich  als  König  in  hervor- 
ragendem Maasse  zum  Vertheidiger  der  christlichen  Religion 
berufen.  Dem  christlichen  Glauben  aber,  so  fürchtete  er,  werde 
Schaden  erwachsen,  wenn  die  Juden  in  diesem  Falle  die  Ober- 
hand behalten  sollten.  Es  würde  alsdann  so  aussehen,  als  hätten 
sie  das  Recht,  die  christliche  Religion  in  Deutschland  anzugreifen, 
ohne  dass  man  dieselbe  vertheidigen  dürfe,  und  als  sollte  sich 
wohl  der  jüdische  Irrthum  hierselbst  äussern  können,  die  Wider- 
legung desselben  dagegen  verboten  sein,  so  dass  ein  Privilegium 
für  die  Juden  bestünde,  alles  über  und  gegen  das  Christenthum 
zu  sagen  und  zu  schreiben,  während  den  Christen  die  Hände 
gebunden  würden,  wenn  sie  sich  in  ihrer  eigenen  Sache  und  für 
dieselbe  erhöben.  Desshalb  richtete  er  1 705  ein  Schreiben  an  den 
Kaiser  Leopold,  in  welchem  er  von  demselben  die  Herausgabe 
des  Eisenmenger'schen  Buches  erbat;  und  als  dieser  Kaiser  ge- 
storben war,  wiederholte  König  Friedrich  dieselbe  Bitte  bei 
seinem  Nachfolger,  Kaiser  Joseph  im  Jahre  1708. 

Da  der  König  es  jedoch  bereits  erfahren  hatte,  wie  mächtig 
der  Einfluss  des  jüdischen  Geldes  in  Wien  war,  erklärte  er  in 
seinem  zweiten  Schreiben,  dass  er,  falls  ihm  nicht  nachgegeben 
würde,  das  Buch  in  seinem  Königreich  Preussen,  das  heisst 
in  der  jetzigen  Provinz  Ost-Preussen,  welche  nicht  zum  deutschen 
Reiche  gehörte  und  für  die  eben  desshalb  auch  das  kaiserliche 
Verbot  des  Eisenmenger'schen  Buches  nicht  bestand ,  drucken 
lassen  und  die  Eisenmenger'schen  Erben  auf  Kosten  der  Juden 
schadlos  halten  werde.  Einen  Erfolg  hatte  diese  Verwendung 
auch  bei  Kaiser  Joseph  nicht,  und  so  hielt  nun  König  Friedrich 
sein  Wort.  Er  liess  das  Buch  171 1  in  2000  Exemplaren  neu 
auflegen.  Als  Druckort  desselben  wird  Königsberg  in  Preussen 
angegeben,  thatsächlich  ist  es  in  Berlin  gedruckt  worden;  weil 
in  letzterer  Stadt  Friedrich  aber  nicht  Souverain  war,  durfte  das 
Erscheinen  des  Werkes  in  Berlin  nicht  durch  den  Titel  bekannt 
gegeben  werden.     Die  Kosten  des  Druckes  bestritt  übrigens  der 

J.  F.  A.  de    le    Roi,    Mtssionsbeziehungen.  6 


—      82      — 

König  aus  seiner  eigenen  Schatulle  und  überliess  den  grössten 
Theil  der  Auflage  den  Eisenmenger'schen  Erben. 

Das  Eisenmenger'sche  Werk  nun  ist  in  zwei  starken  Quart- 
bänden erschienen  und  stellt  in  zusammen  37  Kapiteln  die  Lehren 
der  Juden  über  den  christlichen  Glauben  und  die  eigenen  jüdischen 
religiösen  Anschauungen,  ihre  Ansichten  über  sich  selbst,  über 
die  Christen  und  über  den  Verkehr  mit  denselben  dar.  Von 
manchen  Missverständnissen  und  falschen  Auflassungen  jüdischer 
Aussprüche ,  die  bei  der  ungeheuren  Fülle  des  Stoffes  fast  un- 
vermeidlich waren,  abgesehen,  gibt  diese  Schrift  in  der  That  nur 
solches  wieder,  was  in  der  jüdischen  Literatur  wirklich  zu  finden 
ist.  Und  nun  hat  sich  ja  freilich  in  derselben  während  der  Jahr- 
hunderte sehr  vieles  gesammelt,  was  den  tiefen  Fall  bekundet,  den 
das  jüdische  Volk  gethan  hat.  Des  Giftes  ist  ausserordentlich 
viel,  welches  sich  im  Judenthum  gehäuft  hat,  und  an  dieser  That- 
sache  ist  trotz  aller  Unschuldserklärungen  der  Juden  in  ihrer 
eigenen  Sache  einmal  nichts  zu  ändern.  Die  Entrüstung ,  mit 
welcher  man  das  Eisenmenger'sche  Buch  als  ein  Werk  blosser 
Verläumdungen  im  jüdischen  Lager  darzustellen  beliebt,  ist  eine 
übel  angebrachte  und  nur  ein  Beweis  dafür,  dass  man  die  eigenen 
Schäden  durchaus  nicht  eingestehen  und  für  das  eigene  Unrecht 
nicht  Busse  thun  will. 

Trotzdem  ist  das  Eisenmenger'sche  Werk  eine  Ungerechtig- 
keit gegen  die  Juden.  Denn  es  sammelt  eben  nur  alles  Arge 
und  Verkehrte  aus  der  jüdischen  Literatur  und  übergeht  das 
Bessere.  Eisenmenger  ist  freilich  durch  die  grosse  Menge  des 
Schlechten ,  das  er  in  dem  unter  den  Juden  für  heilig  aus- 
gegebenen Schriftthum  derselben  fand,  mit  innerem  Abscheu  vor 
dem  jüdischem  Wesen  erfüllt  worden  und  hat  eben  darum  das- 
selbe bekämpfen  wollen.  Aber  in  seinem  Eifer  sah  er  eben  nur 
das  Schlimme  und  hatte  für  das  andere,  das  ihm  doch  auch 
reichlich  entgegengetreten  war,  keine  Augen.  Das  Bild  der 
Juden  wurde  daher  in  seiner  Zeichnung  ein  teuflisches,  und  für 
das  Mitleid  mit  den  Juden  wurde  kaum  noch  Raum  gelassen. 

Das  christliche  Publikum ,  welches  hier  eine  Fülle  von 
gelehrtem  Material  und  von  lauter  Quellenauszügen  vor  sich  er- 
blickte, dessen  Einseitigkeit  es  nicht  zu  durchschauen  vermochte, 
musste  nach  der  Lektüre  des  Buches  mit  dem  tiefsten  Hasse 
gegen  die  Juden  erfüllt  werden  und  daran  völlig  verzagen ,    dass 


-     83     - 

einem  so    teuflischen  Wesen   gegenüber   noch    etwas  Heilsames 
erreicht  werden  könne. 

Eisenmengers  Buch  hat  denn  auch  ganz  überwiegend  schäd- 
lich gewirkt.  Die  Juden  waren  am  wenigsten  bereit,  sich  durch 
diese  gehäuften  Zeugnisse  zum  Nachdenken  über  sich  selbst 
bringen  zu  lassen.  Zu  irgend  welcher  Prüfung,  wie  es  möglich 
sei,  dass  ihr  hochgepriesenes  und  im  Lichte  göttlicher  Wahrheit 
angeschautes  Schriftthum  so  viel  Arges  und  Thörichtes  enthalte, 
Hessen  sie  sich  in  keiner  Weise  bewegen,  sondern  verherrlichten 
dasselbe  nach  wie  vor  als  den  Ausfluss  der  vortrefflichsten, 
edelsten  und  heiligsten  Gesinnung.  Doch  das  haben  die  Juden 
freilich  auch  den  Propheten  und  Aposteln  und  allen  anderen 
gegenüber  gethan,  welche  ihnen  ihren  Spiegel  vorhielten. 

Viel  schlimmer  ist  es,  dass  Eisenmengers  Buch  fort  und 
fort  bis  zum  heutigen  Tage  von  allen  christlichen  Judenfeinden 
ausgebeutet  wird,  um  dem  Judenhasse  stets  neue  Nahrung  zuzu- 
führen. Schon  1714  erschien  in  Cöln  ein  „Judenspiegel",  der  nur 
Auszüge  aus  Eisenmengers  Werk  enthält.  1743  übersetzte  Rev. 
John  Peter  Stehe lin  in  London  einige  Abschnitte  des  Eisen- 
menger'schen  Buches  unter  dem  Titel:  The  Traditions  of  the 
Jews.  In  beiden  Fällen  ist  aber  die  Quelle  nicht  genannt,  aus 
der  man  geschöpft  hat,  das  englische  Werk  nennt  sich  nur  eine 
Uebersetzung  aus  dem  Hochdeutschen.  Rohlings  Talmudjude 
(4.  Aufl.  Münster  1873)  und  zahlreiche  Schriften  ähnlicher  Art 
aus  der  neuesten  Zeit  sind  nur  schlechte  Auszüge  aus  Eisenmenger. 

Ein  besonderer  Mangel  jener  Zeit  aber  war  es,  dass  es 
überhaupt  nur  der  kleinere  Theil  ihrer  umfangreichen  Literatur, 
welche  polemisch  oder  apologetisch  das  jüdische  Schriftthum 
verwerthet,  verstand,  sich  auf  den  jüdischen  Standpunkt  zu 
versetzen  und  so  den  Juden  die  Brücke  zum  Christenthum  hin- 
überzuschlagen. Man  sah  in  manchen  Fällen  in  den  jüdischen 
Kundgebungen  zu  wenig  von  dem,  was  Hoffnung  erwecken 
konnte,  und  in  noch  häufigeren  Hess  man  sich  von  dem  Wort- 
laute jüdischer  Schriften  nach  der  anderen  Richtung  hin  täuschen; 
denn  man  legte  hier  christlich  oder  im  Sinne  der  eigenen  Theo- 
logie aus,  was  bei  den  jüdischen  Schriftstellern  doch  eine  ganz 
andere  Bedeutung  und  durchaus  nicht  jene  Tragweite  hatte,  die 
man  ihm  christlicherseits  gern  gab. 

Die  Bedeutung  des  Studiums  und  der  Verwerthung  der 
talmudischen  und  rabbinischen  Literatur  bestand  aber  darin,  dass 


-     84     - 

man  besonders  an  den  Stätten  der  ernstesten  Geistesarbeit  in 
Deutschland,  auf  den  evangelischen  Universitäten,  in  lebhaftester 
Weise  der  Juden  gedachte  und  sich  ein  Interesse  für  ihr  religiöses 
Leben  erhielt,  zugleich  aber  auch  die  Juden  fort  und  fort  in  der 
Erinnerung  der  Christen  erhielt.  Die  Juden  blieben  so  beständig 
für  die  deutsch-evangelische  Kirche  wenigstens  ein  Gegenstand 
religiösen  Nachdenkens;  und  so  wenig  zureichend  man  auch  die 
Aufgabe  erfüllte  oder  zu  erfüllen  verstand,  man  fühlte  sich  doch 
unter  der  unausgesetzten  Beschäftigung  mit  der  jüdischen  Literatur 
stets  von  Neuem  daran  gemahnt,  eine  geistliche  und  religiöse 
Pflicht  an  den  Juden  zu  erfüllen. 

Einzelne  Männer,  welche  in  ihren  Schriften  die  talmudische 
und  rabbinische  Literatur  reichlicher  verwertheten,  werden  wir 
übrigens  noch  im  Folgenden  erwähnen;  wegen  der  Bedeutung 
ihrer  Schriften  im  allgemeinen  Missionsinteresse  fordern  sie  eine 
besondere  Besprechung. 

b.  Anderweitige  literarische  und  sonstigeMissions- 

bemü  h  unge  n. 

Der  literarische  Weg  erschien  dem  17.  Jahrhunderte  über- 
haupt als  der  vorzüglichste,  um  dem  Evangelio  zu  dienen.  Einer 
literarischen  Behandlung  der  Frage,  was  zu  thun  sei,  um  die 
Juden  zur  Anerkennung  Christi  zu  führen,  begegnet  man  daher 
überall  in  dem  damaligen  evangelischen  Deutschland.  Zumal 
über  die  Methode,  bei  der  man  am  ehesten  mit  den  Juden  zum 
Ziele  kommen  möchte,  wurde  vielfach  verhandelt.  Ausführlich 
berichtet  über  diesen  Meinungsaustausch  Diefenbach  in  seinem 
Judaeus  convertendus  §  5   ff. 

Dannhauer  in  Strassburg  empfahl  nach  dem  Vorgange 
Luthers  die  Juden  mit  ihrer  Zerstreuung  zu  überführen,  während 
Bottsac  in  Danzig  und  Franz  in  Wittenberg  forderten,  dass 
man  ihnen  besonders  das  Fehlen  der  Opfer,  ohne  welche  es 
nach  dem  Gesetze  für  Israel  kein  Mittel  gibt,  Vergebung  der 
Sünden  und  Versöhnung  mit  Gott  zu  erlangen,  zu  Gemüthe 
führe.  Am  häufigsten  aber  drang  man  darauf,  dass  den  Juden 
aus  dem  Alten  Testamente  der  Schriftbeweis  für  die  Messianität 
Jesu  geführt  werde. 

Einem  Theile  dieser  Literatur  nun  wird  man  die  Aner- 
kennung nicht  versagen  dürfen,  dass  er  aus  echter  Missions- 
gesinnung   erflossen   ist,    und    manche  Zeugnisse  derselben  sind 


-     85 

von  bleibendem  Werthe,  wenn  gleich  die  Mehrzahl  Kinder  der 
Zeit  genannt  werden  müssen,  und  eben  so  wenig  wie  viele  der 
im  Missionsinteresse  geschehenen  Bearbeitungen  talmudischen 
und  rabbinischen  Materials  es  verstanden  haben,  den  Juden  recht 
nahe  zu  kommen. 

Besondere  Erwähnung  verdient  Elias  Schadäus,  Profes- 
sor und  Prediger  zu  Strassburg.  In  seiner  deutsch  verfassten 
Schrift:  Mysterium,  das  ist  Geheimniss  St.  Pauli  Römer  II  von 
Bekehrung  der  Juden,  ausgelegt  und  gepredigt  zu  Strassburg 
im  Münster  1592,  bezeugt  derselbe,  dass  er  seine  hebräischen 
Studien  vor  allem  darum  getrieben  habe,  „damit  er  des  Herrn 
Christi  und  der  heiligen  Patriarchen,  Propheten  und  Apostel 
Blutsfreunden,  Nachkommen  und  Verwandten  nützlich  und  dienst- 
lich sein  möchte".  Er  hat  desshalb  auch  in  Strassburg  eine 
Druckerei  mit  hebräischen  und  jüdischen  Lettern  angelegt,  aus 
der  die  Evangelien  Lukas  und  Johannes,  die  Apostelgeschichte, 
der  Römer-  und  Hebräer -Brief,  denen  die  alttestamentlichen 
Weissagungen  und  Stücke  aus  den  zwei  ersten  Kapiteln  des 
Evangeliums  Matthäi  hinzugefügt  wurden,  nach  Luthers  Ueber- 
setzung  in  jüdischer  Currentschrift  hervorgingen.  Ausserdem 
veröffentlichte  er  den  lutherischen  Katechismus  in  jüdischer 
Currentschrift.  Seine  Schriften  enthalten  herzgewinnende  An- 
reden an  die  Juden  und  die  ernstliche  Bitte  an  die  Christen, 
besonders  aber  an  die  Obrigkeiten,  die  Proselyten  in  die  Hand- 
werke aufzunehmen.  In  allem  aber,  was  er  von  anderen  erbat, 
ist  er  selbst  mit  gutem  Beispiele  vorangegangen,  hat  öffent- 
lich in  der  Kirche  für  die  Juden  gebetet  und  ebenso  die  Christen 
zum  Gebet  für  Israel  aufgefordert.  Seine  Stimme  fand  denn 
auch  in  weiteren  Kreisen  Gehör,  und  seine  Bücher  wurden  unter 
Juden  und  Christen  vielfach  verbreitet. 

Joh.  Molther,  Prediger  zu  Freiberg  in  der  Wetterau, 
forderte  in  seiner  deutsch  verfassten  Theologia  et  Chronologia 
Judaeorum  d.  i.  Gründliche  Erzählung  der  Juden-Fabeln  und  der 
irrgläubigen  Juden  Wegweiser.  Frankfurt  a.  M.  1601,  in  freund- 
licher Sprache  die  Juden  auf,  die  zwischen  ihnen  und  den  Christen 
bestehenden  Differenzen  nach  der  Bibel  und  selbst  nach  ihren 
eigenen  alten  Schriften  zu  prüfen,  und  beantwortet  ihre  haupt- 
sächlichsten Einwendungen  gegen  das  Christenthum  in  freund- 
licher Weise, 


—     86     — 

Professor  S  c h  i  c k h a  r  dt  in  Tübingen  verlangte  auch  darum 
das  Studium  des  Hebräischen  auf  den  Universitäten  mit  beson- 
derem Nachdruck,  damit  die  nachherigen  Lehrer  der  Christen 
geschickt  wären  an  der  Bekehrung  der  Juden  zu  arbeiten.  In 
seiner  Schrift:  Jus  regium  Hebraeorum,  Strassburg  1625,  und 
Bechinath  Haperuschim,  Tübingen  1626,  erklärte  er,  dass  er  aus 
dem  Grunde  vor  allem  mit  Juden  verkehre  und  Nutzen  aus 
ihrem  Umgange  für  seine  Kenntniss  des  Hebräischen  zu  ge- 
winnen suche,  damit  er  recht  in  den  Stand  gesetzt  würde,  Schriften 
zu  verfassen,  welche  ihre  Bekehrung  befördern  könnten.  Vor 
allem  aber  will  er  die  Juden  zur  heiligen  Schrift  zurückgeführt 
wissen,  da  dies  ihr  besonderer  Schaden  sei,  dass  sie  dieselbe  ver- 
nachlässigten und  ihr  den  Talmud  vorgezogen  hätten.  Er  selbst, 
der  zu  den  eigentlichen  Vätern  des  talmudischen  und  rabbini- 
schen  Studiums  in  Deutschland  gehört,  hat  sich  auch  über  diese 
Literatur  sein  christliches  Urtheil  nicht  trüben  lassen,  wie  er 
denn  die  rabbinischen  Studien  nicht  aus  gelehrter  Liebhaberei, 
sondern  im  Missionsinteresse  trieb. 

Der  hessische  Superintendent  Hermann  Fabronius  Mose- 
mann forderte  in  seiner  Schrift  „Bekehrung  der  Juden"  u.  s.  w. 
Erfurt  1624,  zu  öffentlichen  Predigten  für  die  Juden  auf  und 
betonte  ernstlich  die  Pflichten  des  christlichen  Volkes  gegen  die 
Juden.  Fr.  Casimir  Sohnius  richtete  eine  deutsche  Schrift 
an  die  Juden,  Frankfurt  1629,  „Muster  und  Formular  des  uralten 
und  wahren  jüdischen  Glaubens  aus  Mose  und  den  Propheten, 
den  jetzigen  Juden  zur  Nachricht  vorgestellt". 

Besonderen  Eifer  entfaltete  auf  unserem  Gebiete  Christian 
Ravis.  Derselbe,  161 3  in  Berlin  geboren,  war  einer  der  be- 
deutendsten Kenner  der  orientalischen  Sprachen  in  seiner  Zeit 
und  überhaupt  einer  der  grössten  Gelehrten  seiner  Tage.  Er 
hat  in  verschiedenen  Ländern  gewirkt,  besonders  in  Schweden, 
Dänemark,  Holland  und  England  und  an  der  Kieler  Hochschule. 
Auf  seinen  zahlreichen  Reisen  hat  er  in  Constantinopel,  Smyrna 
und  in  Afrika  viele  wichtige  Manuscripte  gesammelt.  Mit  Was- 
muth  in  Kiel  wollte  er  ein  Missionscollegium  für  6  junge  Leute 
anlegen,  von  denen  2  stets  zu  den  Juden  gehen  sollten,  aber 
dasselbe  ist  nicht  zu  Stande  gekommen.  Seine  persönlichen 
Versuche  unter  den  Juden  Altonas  und  Hamburgs  zu  wirken, 
hatten  nicht  besonderen  Erfolg.     Ravis    starb    als  Professor   der 


-     87     - 

orientalischen  Sprachen  in  Frankfurt  a.  O.,  ein  eifriger,  gelehrter, 
aber  auch  von  sich  selbst  sehr  eingenommener  Mann. 

Durch  christliche  Wärme  zeichnete  sich  M.  Andreas  Cramer, 
Superintendent  in  Mühlhausen  1636  aus.  S  pener  hat  die  Schrift 
desselben  „Der  gläubigen  Kinder  Gottes  Ehrenstand  und  Pflicht" 
mit  feiner  Vorrede  versehen,  herausgegeben,  Dresden,  Leipzig 
1716.  Cramer  sagt  von  sich  selbst,  er  habe  mit  vielen  Juden 
und  Jüdinnen,  mit  Rabbinen  und  Marranen  oft  Gespräche  ge- 
habt und  dieselben  aufgezeichnet.  Bei  seinen  Fragen  und  Zeug- 
nissen über  den  Messias  und  dessen  Ankunft  habe  er  sie  aber 
so  viele  wunderliche  Ausflüchte  machen  sehen,  dass  er  darauf 
eine  andere  Methode  eingeschlagen  habe.  Er  habe  die  Juden 
aufgefordert  ihm  zu  sagen,  was  sie  für  eine  Hoffnung  zu  Gott 
hätten,  auf  welche  sie  sterben  und  in  die  zukünftige  Welt  hin- 
übergehen wollten.  Die  Antworten,  welche  er  da  erhalten,  habe 
er  sich  aufgezeichnet,  damit  man  aus  denselben  Anlass  nehmen 
möge,  den  Juden  näher  zu  treten,  und  hierzu  gibt  er  nun  in 
seiner  Schrift  katechetische  Winke. 

Eine  merkwüdige  Kundgebung  aus  dem  Jahre  1623  ist  die 
ohne  Angabe  des  Verfassers  und  des  Ortes  erschienene  „propheti- 
sche, apostolische  und  apokalyptische  Betrachtung  der  Weissagung 
unseres  Herrn  Christi  Matthäus  24,  14".  Diese  Schrift  stellt  sich 
als  ein  juristisches  Gutachten  auf  verschiedene  Fragen,  die  Juden 
betreffend  dar.  Zunächst  schärft  sie  die  Pflicht,  den  Juden  das 
Evangelium  zu  predigen,  ein  und  bezeugt,  dass  ihnen  vor  der 
Wiederkunft  Christi  noch  einmal  die  Decke  werde  von  den 
Augen  genommen  werden.  Sache  der  Christen  sei  es  nun,  den 
Juden  alle  Mittel  der  Verhärtung  abzuschneiden  und  alle  Mittel 
zu  ihrer  Bekehrung  an  die  Hand  zu  geben.  Die  Christen  hätten 
hier  aber  fast  nur  Sünde  auf  Sünde  gehäuft,  und  doch  habe 
Christus  die  Seelen  der  Juden  mit  seinem  Blute  theuer  erkauft. 
Denke  die  Christenheit  hieran  nicht,  so  ziehe  sie  Gottes  Strafe 
auf  sich  herab.  Freude  ist  unter  den  Engeln  des  Himmels  über 
jeden  Sünder,  der  Busse  thut,  und  also  auch  über  jeden  Juden, 
der  sich  bekehrt.  Wer  hierzu  mithilft,  hat  an  der  ewigen  Ver- 
heissung  Theil.  Und  das  Ende  der  Welt,  so  schreibt  der  Ver- 
fasser unter  dem  Eindrucke  der  Greuel  des  dreissigjährigen 
Krieges,  sei  nahe  herbeigekommen. 

Allerdings  brächten  die  Juden  in  dieser  Kriegszeit  viele, 
die  fast  schon    ruinirt    seien,   durch  ihren  Wucher  noch  um  das 


—     88     — 

Letzte,  aber  das  rechte  Gegenmittel,  welches  allein  diesem  Treiben 
derselben  ein  Ziel  setzen  werde,  sei  ihre  Bekehrung,  und  für 
diese  müsse  man  daher  mit  Eifer  wirken. 

Die  Frage,  welche  dann  weiter  an  den  Verfasser  gerichtet 
wird,  ob  Juden  an  bestimmten  Orten  Aufnahme  finden  sollten, 
beantwortet  er  für  den  Fall  bejahend,  dass  sie  dort  das  Wort 
Gottes  anhören  wollen.  Auch  die  Frage,  ob  sie  wissentlich 
Jesum  lästerten,  bejaht  er  und  hebt  hervor,  dass  sie  in  ihren 
Schriften  immer  mehr  zum  Angriffe  übergingen;  um  so  mehr 
aber  müsse  man  ihnen  mit  Gottes  Wort  entgegentreten.  Dabei 
seien  sie  an  das  Alte  Testament  zu  erinnern,  welches  ja  die 
christliche  Lehre  enthalte.  Wenn  also  die  Juden  diese  nicht 
angenommen  hätten,  seien  sie  nicht  zu  entschuldigen.  Die  Frage 
aber,  was  nunmehr  mit  ihnen  zu  thun  sei,  beantwortet  der  Ver- 
fasser dahin,  dass  man  ihnen  predigen  müsse,  damit  sie  sich  be- 
kehrten, und  damit  die  Christen  von  ihrer  Verantwortung  frei 
würden.  Die  Sünde  wider  den  heiligen  Geist  hätten  auch  jedes- 
falls  die  Juden  noch  nicht  begangen,  denn  sie  hätten  noch  nie 
an  Jesum  geglaubt.  Die  Obrigkeit  aber  habe  die  Pflicht,  sie 
vom  Handel  zu  entwöhnen,  denn  das  Handelsleben  befestige  sie 
nur  in  ihrem  Kriege  gegen  die  Christen.  —  In  der  That  ein 
vielfach,  wenn  auch  nicht  in  allen  Stücken  zutreffendes  Zeugniss. 

Professor  Dannhauer  in  Strassburg  verlangt  gleichfalls, 
dass  man  an  den  Juden  ein  positives  Werk  aufnehme,  und  fordert 
die  Geistlichen  in  seiner  Christosophia  1638  auf,  Unterredungen 
mit  ihnen  zu  suchen,  um  sie  für  den  christlichen  Glauben  zu 
gewinnen,  im  ganzen  Verkehr  mit  den  Juden  aber  ihnen  jene 
Sanftmuth  zu  beweisen,  welche  von  selbst  für  den  christlichen 
Glauben  ein  anziehendes  Zeugniss  ablegt.  Unglücklicher  dagegen 
war  die  Forderung,  welche  derselbe  Gelehrte  in  seiner  Schrift 
„Katechismusmilch"  1669  aufstellte,  dass  die  Juden  durch  die 
Obrigkeit  angehalten  werden  sollten,  sich  zu  Disputationen  über 
das  Christenthum  einzustellen. 

In  deutscher  Sprache  wandte  sich  Michael  Ha  venia  nn, 
General -Superintendent  der  Herzogthümer  Bremen  -  Verden ,  an 
die  Juden.*)  Sein  Lehrer  im  Hebräischen  war  der  Poselyt 
Julius  Cornad  Otto,  Professor  zu  Altorf,  der  aber  hernach  ins 
Judenthum   zurückfiel,    gewesen.     Gründlich    mit    dem   jüdischen 

*)  Saat   1872,    I    S.   17   ff.     Plitt,  Kurze  Geschichte   S.    162. 


-     89     - 

Schriftthum  vertraut,  gab  er  1633  einen  später  auch  ins  Hol- 
ländische zu  Amsterdam  (1654)  übersetzten  Traktat  „Wider  die 
übelgefassten  jüdischen  Einbildungen"  heraus.  Veranlasst  wurde 
er  hierzu  dadurch,  dass  ihm  zu  Ohren  gekommen  war,  es  seien 
Christen  durch  Juden,  in  deren  Kaufläden  sie  von  denselben  über 
religiöse  Gegenstände  angeredet  wurden,  an  der  bereits  erfolgten 
Erscheinung  des  Messias  irre  gemacht  worden.  1663  gab  er 
dann  diese  Schrift  in  erweiterter  Gestalt  heraus  und  unter  dem 
Titel  „Wegeleuchte  wider  die  jüdischen  Finsternisse",  Jena  und 
Hamburg,  von  welchem  Buche  gleichfalls  eine  holländische  Ueber- 
setzung,  Amsterdam  1666,  erschien.  Für  seine  Schrift  wählte  er 
die  deutsche  Sprache,  weil  die  Juden  dieselbe  eher  verstehen 
würden.  Aus  den  Propheten  vor  allem,  sodann  aber  auch  aus 
den  Targumim,  dem  Talmud  und  älteren  Rabbinen  suchte  er 
die  wesentliche  Uebereinstimmung  der  jüdischen  und  christlichen 
Lehre  über  den  Messias  und  über  andere  Punkte  des  Glaubens 
zu  beweisen;  erst  die  neuere  jüdische  Theologie  habe  den  Gegen- 
satz zwischen  christlicher  und  jüdischer  Anschauung  geschaffen. 
Sieht  Havemann  hierin  nun  auch  die  Dinge  viel  zu  optimistisch 
an,  so  ist  doch  der  freundliche  Ton  und  das  Bestreben,  die  Juden 
sachlich  zu  überzeugen,  sehr  anzuerkennen. 

Havemann  schmerzte  es,  dass  man  die  Juden,  denen  die 
älteste  christliche  Kirche  die  höchste  Aufmerksamkeit  geschenkt 
hätte,  so  sehr  vergässe,  und  desshalb  suchte  er  wieder  an  die 
christliche  Glaubenspflicht  des  Zeugnissablegens  zu  erinnern. 
Aussichtslos  sei  auch  das  Werk  an  den  Juden  um  so  weniger, 
als  die  Verheissungen  der  Schrift  von  einer  Zeit  redeten,  wo  Israel 
zur  seligen  Erkenntniss  des  Herrn  Jeschuah,  des  Messias  gelangen 
werde.  Desshalb  ermahnt  nun  Havemann  zu  freundlichem  christ- 
lichen Verkehr  mit  den  Juden  und  fordert,  dass  die  Gemeinden 
hieran  in  Predigten  erinnert,  die  Jugend  auf  den  Schulen  in  der 
jüdischen  Controverse  geübt  würden,  und  die  Obrigkeit  zu  dem 
allen  die  Hand  biete.  Die  nämlichen  Forderungen  werden  aber 
jetzt  überhaupt  und  immer  dringender  von  allen  ernsteren  Theo- 
logen aufgestellt. 

Professor  Hackspan  in  Altorf  in  der  Mitte  des  17.  Jahr- 
hunderts, der  Lehrer  Wagenseils  hat  damit  begonnen,  jene 
Universität  zu  einer  Stätte  zu  machen,  welche  von  nun  ab  die 
Aufmerksamkeit  des  fränkischen  Landes  und  nicht  dieser  Gegend 
allein,  sondern  des  ganzen  evangelischen  Deutschlands  lange  Zeit 


—    9o     — 

hindurch  stets  von  Neuem  auf  die  Juden  hin  lenkte.  Ein  tüchtiger 
Kenner  der  talmudischen  und  rabbinischen  Literatur  hat  er  das 
Buch  Nizzachon  des  R.  Lipmann  herausgegeben,  Nürnberg 
1644.  Einen  gewissen  Werth  der  talmudischen  und  rabbinischen 
Literatur  räumte  er  auch  für  christliche  Theologen  ein,  rieth 
aber  zu  grosser  Vorsicht  in  der  apologetischen  Verwendung 
derselben  den  Juden  gegenüber  und  empfahl  vielmehr,  ihnen 
Predigten  zn  halten. 

Einen  ganz  besonderen  Namen  aber  hat  sich  durch  sein 
Eintreten  für  die  Juden  vor  der  gesammten  Christenheit  der 
Professor  an  der  Altorfer  Universität  Johann  Christophorus  Wagen- 
seil erworben.*)  Ursprünglich  Professor  der  Rechte  wählte  er 
dann  den  Lehrstuhl  für  hebräische  und  orientalische  Sprachen, 
weil  er  das  Verlangen  trug,  Theologen  heranzubilden,  welche  den 
Juden  das  christliche  Zeugniss  wohl  vorbereitet  entgegenzubringen 
vermöchten.  Er  hatte  auf  seinen  weiten  Reisen,  die  ihn  nach 
Italien,  Frankreich,  Spanien  und  Nord -Afrika  führten,  die  Juden 
vielfach  kennen  gelernt  und  sich  mit  ihrer  Literatur  in  aus- 
gedehntem Maasse  bekannt  zu  machen  gesucht,  um  sie  von 
ihrem  Irrthum  auf  den  Weg  der  Wahrheit  zu  führen. 

In  seiner  1681  zu  Altorf  erschienenen  Schrift  Tela  ignea 
Satanae  hat  er  sich  dann  gegen  einige  jüdische  Lästerschriften, 
die  bei  den  Juden  in  grossem  Ansehen  standen,  erhoben.  Aber 
mit  dieser  Schrift  wollte  er  nicht  die  Christen  gegen  die  Juden 
erregen,  sondern  einerseits  ein  Zeugniss  gegen  die  jüdischen 
Lügen  ablegen  und  anderseits  den  Christen  die  Nothwendigkeit, 
die  Juden  aus  den  Händen  ihrer  Verführer  zu  erretten,  zum  Be- 
wusstsein  bringen.  Die  Vorrede  des  Buches  ist  der  beste  Beweis 
dafür,  wie  fern  Wagenseil  von  allem  Judenhasse  war,  denn  sie 
enthält  ein  mächtiges,  herzbewegliches  Gebet  desselben  um  die 
Bekehrung  des  Volkes.  S.  478  ff.  bringt  diese  Schrift  auch  eine 
Katechese  für  die  Juden  herbei,  welche  er  dem  reformirten  Fran- 
zosen Josua  P 1  a  c  a  e  u  s ,  den  Wagenseil  aber  nicht  als  Verfasser 
kannte,  entnahm. 

In  seiner  Denunciatio  Christiana  oder  Christliche  Ankündigung 
an  alle  hohen  Potentaten  gegen  die  Lästerung,  womit  die  Juden 
unsern  Heiland  Jesum  Christum  ohne  Aufhören  freiwillig  schmähen, 
hatte    er    die    eidliche  Verpflichtung    aller  Juden    von    13  Jahren 


*)  Saat   1882,    I    S.  5  ff. 


—     9i     — 

an  und  darüber,  dass  sie  Jesum  Christum  und  das  Christenthum 
nicht  lästern  wollten,  gefordert,  aber  von  jeder  Gewaltthat  gegen 
dieselben  abgemahnt,  und  das  verkehrte  Verfahren,  welches  man 
früher  mit  den  Juden  zumeist  eingeschlagen  hatte,  ernstlich  ge- 
straft. Bei  dieser  Gelegenheit  versprach  er  zugleich,  dass  er 
die  Verheissungen  der  Schrift  für  die  Juden  einmal  in  Erinnerung 
bringen  würde.  Das  that  er  nun  auch  hernach  und  ergriff  nun- 
mehr überhaupt  die  Gelegenheit  für  die  Juden  apologetisch 
aufzutreten. 

Es  folgte  jetzt  also  eine  ganze  Reihe  von  Schriften,  durch 
welche  er  das  Heil  der  Juden  zu  befördern  trachtete.  Zusammen- 
gefasst  sind  acht  derselben  und  unter  ihnen  auch  die  Denun- 
ciatio  unter  dem  Titel  „Benachrichtigung  wegen  einiger  die  Juden 
angehenden  wichtigen  Sachen",  zuerst  Leipzig  1705.  Unter  den- 
selben ragt  besonders  die  kleine  Schrift  „Hoffnung  der  Erlösung 
Israels"  hervor.  Hier  beklagt  Wagenseil  zunächst,  dass,  während 
sich  die  Christenheit  mit  wahrem  Eifer  auf  Künste  und  Wissen- 
schaften werfe,  sie  die  Juden  noch  immer  vernachlässige.  Um 
die  Bekehrung  der  Juden ,  für  welche  doch  der  Heiland  einst 
auch  Thränen  geweint  habe,  kümmere  man  sich  fast  gar  nicht. 
An  die  Heiden  denke  die  katholische  Kirche ,  hinsichtlich  der 
Juden  habe  dieselbe  nur  die  wenig  ernst  gemeinte  Verordnung 
erlassen,  dass  ihnen  gepredigt  werden  solle.  Evangelischerseits 
sei  anfangs  auch  wenig  geschehen,  und  doch  stelle  die  Schrift 
eine  allgemeine  Bekehrung  der  Juden  vor  dem  Ende  der  Welt 
in  Aussicht,  was  ja  auch  sowohl  reformirte  als  lutherische  Theo- 
logen in  grosser  Zahl  anerkannt  hätten.  Allmäblig  fange  man 
aber  auch  an  zu  fühlen,  dass  sich  die  Christenheit  an  einer  so 
kaltsinnigen  Stellung  zu  den  Juden  nicht  genügen  lassen  könne. 
Ein  ungemein  reger  Eifer  sei  seit  der  Mitte  des  1 7.  Jahrhunderts 
für  die  jüdische  Literatur  unter  den  evangelischen  Theologen 
erwacht,  und  so  sei  man  jetzt  im  Stande,  den  Juden  auf  ihrem 
eigenen  Gebiete  näher  zu  treten.  Auch  die  allgemeine  Stellung 
zu  den  Juden  habe  sich  wesentlich  verändert.  Die  Reformation 
habe  das  Aufhören  der  Judenverfolgungen  nach  und  nach  herbei- 
geführt und  allerwärts  die  Stimmung  gegen  dieselben  gemildert. 
Auch  die  äussere  Lage  der  Juden  habe  sich  darüber  vielfach  gün- 
stiger gestaltet,  und  nun  beginne  man  bereits  ihnen  die  heilige  Schrift 
in  ihrem  Dialekte  nahe  zu  bringen.  Man  fahre  nur  so  fort  und 
lasse  sich  förmlichen  Verkehr  mit  ihnen  angelegen  sein,  betrachte  sie 


—     92     — 

als  unsere  Nächsten,  höre  mit  allen  Gewaltmaassregeln  gegen  sie 
auf  und  predige  ihnen  freundlich,  so  werde  die  Frucht  dessen 
nicht  ausbleiben. 

Besonders  lasse  man  auch  die  Proselyten  nicht  darben  und 
sie  nicht  so  vielfach  verkommen ,  wie  es  bisher  der  Fall  war. 
Desshalb  gewöhne  man  die  christlichen  Gemeinden,  in  den  Kirchen 
ihre  Liebesgaben  für  die  Proselyten  zu  spenden.  Die  Obrigkeit 
aber  und  die  Geistlichen  mögen  sich  verbinden,  damit  alle 
Hindernisse  der  Bekehrung  der  Juden  aus  dem  Wege  geräumt 
würden.  Nach  dem  Beispiele  des  Collegium  für  die  Verbreitung 
des  Glaubens  in  Rom  errichte  man  ein  Haus,  in  welchem  Stu- 
denten für  die  Mission  unter  den  Juden  vorbereitet  würden,  und 
sende  solche  nach  beendigtem  Studium  als  Missionare  aus,  um 
unter  jenen  zu  arbeiten.  Der  öffentliche  Gottesdienst  aber  müsse 
stets  eine  Fürbitte  für  die  Juden  enthalten. 

Die  evangelische  Kirche  allein  könne  auf  diesem  Gebiete 
etwas  leisten ,  die  katholische  habe  sich  hierzu  unfähig  gezeigt. 
„Man  greife  nur  die  Sache  in  Jesu  Namen  recht  an  und  bete 
fleissig,  so  werde  Gott  schon  Gnade  verleihen,  dass  die  Juden  mit 
allen  heiligen  Christen  begreifen  mögen,  was  da  sei  die  Breite 
und  die  Länge." 

Wagenseils  Aufforderung,  den  Juden  zu  predigen,  fand  übrigens 
merkwürdigerweise  in  der  katholischen  Kirche  zuerst  Wiederhall; 
in  Ferrara  richtete  in  Folge  derselben  ein  katholischer  Kardinal 
Gottesdienste  für  die  Juden  ein.  Aber  freilich,  Rom  hat  es  je 
länger  desto  weniger  verstanden,  den  Juden  das  Evangelium  in 
solcher  Weise  nahe  zu  bringen,  dass  es  dieselben  anziehen  konnte. 
In  einer  anderen,  zu  dieser  Benachrichtigung  gehörigen  Schrift 
erhob  Wagenseil  Protest  gegen  die  Beschuldigung,  dass  die 
Juden  Christenblut  gebrauchen.  Auch  auf  die  Wucherfrage  ging 
er  ein  und  zeigte,  wie  vieles  die  Christen  dazu  beigetragen  hätten, 
dass  sich  jenes  schändliche  Gewerbe  unter  den  Juden  ausgebildet 
habe.  Im  Eifer  der  Vertheidigung  geht  Wagenseil  sogar  öfters 
zu  weit  und  lässt  er  die  Schuld  der  Juden  hinter  der  der  Christen 
zu  sehr  zurücktreten.  Er  vergass  es  alsdann,  dass  sie  aus  völlig 
eigenem  Antriebe  ihre  falschen  Wege  erwählt  hatten,  und  das 
Unrecht  der  Christen  vielmehr  darin  bestand,  dass  sie,  anstatt  den 
Verkehrtheiten  der  Juden  entgegenzutreten,  diese  in  denselben 
noch  befestigten. 


—     93     — 

Selbst  an  die  Kinder  richtete  er  eine  Schrift  Pera  juvenilis, 
1695,  in  welcher  er  die  Juden  gegen  die  Anklage,  dass  sie 
christliche  Kinder  schlachteten,  in  Schutz  nahm.  Und  um  auch 
in  praktischer  Weise  Anleitung  für  den  literarischen  Verkehr  mit 
den  Juden  zu  geben,  liess  er  eine  Belehrung  über  die  jüdisch- 
deutsche Rede-  und  Schreibart,  Königsberg  1699,  erscheinen.  Kurz, 
einen  so  lebhaften  und  eifrigen  Vertheiger  hatten  die  Juden  inner- 
halb der  evangelischen  Kirche  noch  nicht  gefunden.  Sein  warmes 
Herzensinteresse  für  dieselben  übertrug  sich  sogar  auf  seine 
Tochter  Helene  Sibylle,  die  hernach  den  Professor  Dr.  V.  Möller 
heirathete  und  die  hebräischen  Studien  so  eifrig  betrieb,  dass  sie 
von  der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Padua  zu  ihrem  Mit- 
gliede  ernannt  wurde. 

Wagenseils  Einfiuss  nun  ist  ein  sehr  bemerklicher  geblieben. 
Sein  Name  wurde  weithin  bekannt  und  sein  Wort  fand  weit  über 
Deutschlands  Grenzen  hinaus  Gehör.  Seine  engere  Heimath,  das 
Anspach'sche  Gebiet,  zeichnete  sich  lange  durch  ein  hervorragen- 
des Missionsinteresse  aus,  das  überall  auf  die  Anregungen  Hack- 
spans und  Wagenseils  zurückweist.  Aber  auch  in  der  übrigen 
theologischen  Welt  Deutschlands  und  besonders  in  dessen  pieti- 
stischen Kreisen  fiel  das  Zeugniss  dieses  Gelehrten  auf  einen 
fruchtbaren  Boden.  Mag.  Joh.  Müller,  der  Verfasser  des  Lichtes 
am  Abend  und  geistige  Vater  Callenbergs  hat  durch  Wagenseil 
seine  besten  Anregungen  empfangen.  Callenberg  selbst  hat  sich 
mit  Wagenseils  Schriften  eingehend  beschäftigt  und  hernach  jene 
studentische  Mission  ins  Leben  gerufen,  die  der  Altorfer  Professor 
entstehen  zu  sehen  wünschte. 

Aus  Wagenseils  Nachbarschaft,  nämlich  aus  Nürnberg, 
stammt  die  Schrift  des  Johann  Wulf  er:  Theriaca  Judaica  ad 
examen  revocata,  1681,  in  welcher  derselbe  aus  Anlass  des  Streites, 
der  zwischen  dem  Proselyten  Fr.  Brenz  und  dem  jüdischen 
Gelehrten  Salman  Zebi  über  verschiedene  Anschuldigungen 
der  Juden  entstanden  war,  beider  Gründe  und  Gegengründe 
seiner  Prüfung  unterwarf  und  Licht  und  Schatten  nach  beiden 
Seiten  hin  gerecht  vertheilte,  die  Vertheidigung  der  Juden  aber 
durch  Isaak  Vives  in  der  Blutgebrauchsfrage  ganz  zu  seiner 
eigenen  machte. 

Sonst  gehört  Professor  Hermann  von  derHardt  in  Helm- 
städt  zu  den  Theologen,  welche  eine  besonders  rege  Thätigkeit, 
durch  literarische  Bemühungen  das  Beste  der  Juden  zu  befördern, 


—     94     — 

entfaltet  haben.  Zuerst  lieferte  er  eine  Abhandlung  über  die 
Frucht,  welche  Christen  aus  dem  Lesen  jüdischer  Bücher  schöpfen 
könnten,  Jena  1683,  und  bekämpfte  die  jüdische  Lehre  von  einem 
doppelten  Messias,  dem  Sohne  Josephs,  welcher  leidet  und  stirbt, 
und  dem  Sohne  Davids,  welcher  herrscht.  1706  Hess  er  eine 
Recension  des  Buches  Officia  Judaeorum  antelucana  von  Schara- 
daeus  erscheinen  und  schickte  derselben  werthvolle  Abhandlungen 
voran.  Zunächst  zeigte  er  in:  Manasse  in  vinculis,  Judaeos  in 
exilio  canonum  esse  tenacissimos ,  wie  sie  hartnäckiger  als  alle 
anderen  Menschen  an  einmal  gefassten  Meinungen  festhielten. 
Davon  legten  alle  ihre  Zeiten  von  Anfang  bis  in  die  Gegenwart 
Zeugniss  ab.  Im  Velum  Mosis  kommt  er  darauf  zu  sprechen, 
wie  die  Rabbinen  durch  ihre  Schriften  und  Bestimmungen  einen 
Schleier  über  die  ganze  Schrift  gezogen  hätten,  durch  welchen 
nun  die  Juden  alles  in  derselben  anzusehen  gewohnt  wären.  Um 
es  ja  nicht  zur  rechten  Erkenntniss  gelangen  zu  lassen,  hätten 
die  Rabbinen  das  Volk  fest  an  sich  selbst  gebunden  und  es  gewöhnt, 
andere  Menschen  und  deren  Worte  gar  nicht  zu  beachten,  ja 
überhaupt  alles  für  die  Juden  in  Anspruch  zu  nehmen  und  für 
andere  nichts  gelten  zu  lassen,  so  dass  die  Schrift  eigentlich  nur 
für  sie  und  nicht  auch  für  die  übrige  Menschheit  vorhanden 
wäre.  Sorgfältig  hätten  die  Rabbinen  die  Ihrigen  von  der  Geistes- 
welt der  andern  abgesperrt,  und  so  lebten  sie  nun  als  geistlich 
Gefangene  ausschliesslich  in  ihren  traurigen  Einbildungen  dahin. 
Die  Rabbinen  übten  ausserdem  an  allem,  was  von  Juden  heraus- 
komme, vorher  Censur,  so  dass  nichts  erscheinen  dürfe,  was 
ihnen  widerspreche.  Das  Band  der  einen  Sprache,  des  einen 
Gebetbuches  und  des  überall  gleichen  Kultus  habe  dazu  die 
Einheit  und  Geschlossenheit  unter  ihnen  vermehrt.  Sorgfältig 
hätten  sie  es  vermieden,  in  der  Landessprache  ihr  Gebetbuch 
und  andere  religiöse  Werke  erscheinen  zu  lassen.  In  Deutsch- 
land gestatteten  ihre  Rabbinen  ihnen  höchstens  ein  verdorbenes 
Deutsch,  das  Jüdisch-deutsch  für  Werke  religiösen  Inhalts;  denn 
sie  fürchteten,  dass  mit  dem  Gebrauch  der  Landessprache  auch 
andere  Gedanken  in  die  Köpfe  kommen  würden.  Ihre  eigene 
Gerichtsbarkeit  und  ihr  eigener  Kalender  hätten  sie  gleichfalls 
in  ihrer  Abschliessung  von  der  Aussenwelt  befestigt.  Und  indem 
schliesslich  alles  bei  ihnen  auf  Moses  zurückgeführt  werde,  er- 
schienen die  Menschensatzungen  der  grossen  jüdischen  Masse 
als  unantastbares  Heiligthum.     Die  geistliche  Bevormundung  habe 


—    95     — 

die  Judenschaft  dahin  geführt,  dass  sie  für  den  eigentlichen  Sinn 
der  Schrift  je  länger  je  mehr  alles  Verständniss  verloren  habe. 
Und  da  ihr  Leben  bis  ins  Kleinste  durch  gesetzliche  Bestim- 
mungen der  Rabbinen  peinlich  geregelt  sei,  so  sei  ihnen  die 
Möglichkeit  benommen,  auf  andere  Wege  zu  gelangen.  Kurz, 
die  Talmud-  und  Rabbinenknechtschaft  sei  das  grösste  Hinderniss 
für  die  Bekehrung  der  Juden  geworden. 

Im  Antiquarium  Judaicum  lieferte  H.  v.  d.  Hardt  sodann 
eine  kurze  Erklärung  der  jüdischen  Gebräuche,  der  für  dieselben 
üblichen  Bezeichnungen  und  anderes  zu  weiterer  Kenntniss  der 
rabbinischen  Literatur.  Im  Jahre  171 5  aber  richtete  er  einen 
lateinischen  Brief  an  die  jüdischen  Lehrer,  welcher  auch  bei 
Schudt,  Th.  4,  Forts.  3,  S.  70  zu  lesen  ist.  Mit  ungemeiner 
Freundlichkeit  und  mit  herzandringenden,  bittenden  Worten  redet  er 
hier  dieselben  an.  Rühmend  hebt  er  zuerst  hervor,  dass  alle 
Völker  der  Welt  und  die  europäischen  besonders  von  der  he- 
bräischen Nation  die  höchsten  Wohlthaten  erhalten  hätten.  Auch 
der  Undank  vieler  in  Israel  gegen  ihre  eigenen  grossen  Männer 
ändere  an  der  Thatsache  nichts,  dass  aus  dem  jüdischen  Volke 
die  wahren  Wohlthäter  des  Menschengeschlechtes  hervorgegangen 
seien.  Dies  fühle  er  sich  vor  allem  gedrungen  ihnen  auszusprechen, 
damit  sie  die  Gesinnung  erkennen  möchten,  welche  er  gegen 
sie  hege. 

Aber  freilich,  das  würden  sie  sich  selbst  eingestehen  müssen, 
sie  dürften  dem  bösen  Beispiele,  welches  so  viele  ihrer  Vorfahren 
gegeben  hätten,  nicht  folgen,  und  sie  würden,  wenn  sie  nur  ernstlich 
über  sich  selbst  nachdenken  wollten,  auch  zu  neuer  Erkenntniss 
gelangen.  Ihre  Sache  stünde  Christo  genau  so  wie  dem  Moses 
gegenüber.  Beide  hätten  ihr  Volk  befreien  wollen  und  beide 
dafür  zunächst  nur  Undank  geerntet.  Moses  habe  dafür,  dass  er 
die  Seinen  von  den  Aegyptern  habe  retten  wollen,  vierzig  Jahre 
vor  ihnen  fliehen  und  ihnen  fern  bleiben  müssen,  und  doch  allein 
die  Rückkehr  dieses  von  ihnen  verworfenen  Mannes  habe  ihre 
Befreiung  ermöglicht.  So  sollten  sie  nun  auch  wissen,  dass  durch 
ihre  Schuld  Jesus  von  ihnen  gegangen  sei,  und  dass  ihnen  nur 
geholfen  werden  könne,  wenn  eben  dieser  Jesus  wieder  zu  ihnen 
zurückkehre.  Die  Juden  in  Aegypten  hätten  einst  nicht  gemeint, 
dass  sie,  weil  Moses  von  Stammesgenossen  verfolgt  worden  war 
und  weil  er  vor  denselben  fliehen  musste,  aus  Treue  gegen  ihre 
Vorfahren  ihn  nicht  wieder  annehmen  dürften;    und    so  möchten 


-     96 

sich  auch   die   heutigen  Juden    dasselbe    hinsichtlich  Jesu    gesagt 
sein  lassen. 

Freilich  über  diejenigen,  welche  ihre  Schuld  nicht  ein 
gestehen  wollten,  hätten  die  Propheten  schon  im  Voraus  ein  grosses 
Gericht  verkündigt,  und  dasselbe  habe  auch  Jesus  gethan.  Ebenso 
sei  Moses,  der  nach  seiner  Rückkehr  anfangs  von  ihren  Vor- 
fahren gern  aufgenommen  worden  wäre,  hernach  von  ihnen  den- 
noch wieder  verachtet  worden  und  habe  ihnen  darüber  den 
Untergang  in  der  Wüste  verkündigen  müssen.  Aehnlich  aber  sei 
das  Schicksal  derer  geworden,  die  Jesum,  nachdem  sie  ihn  eine 
Zeitlang  gerne  gehört  und  seine  Wunder  mit  Freuden  angeschaut, 
hernach  verachtet  hätten;  das  Gericht  sei  ja  offenbar  über  sie 
gekommen. 

Doch  müssten  sie  desshalb  nicht  für  immer  verloren  bleiben. 
Sie  hätten  aus  Unwissenheit  Christum  getödtet,  und  so  sei  ihnen 
denn,  den  Bestimmungen  ihres  väterlichen  Gesetzes  entsprechend, 
eine  Zufluchtsstätte  bereitet  worden.  Diese  Zufluchtssätte  hätten 
sie  in  den  europäischen  Christenländern  gefunden.  Der  von  ihnen 
Getödtete  sei  zugleich  aber  ihr  Hoherpriester.  Und  wie  einst  in 
Israel  nach  dem  Tode  des  Hohenpriesters  alle  jene ,  die  nicht 
vorsätzlich  einen  Todtschlag  verübt  hatten,  ihre  Freiheit  wieder 
erlangen  konnten,  so  könnten  auch  die  heutigen  Juden,  wenn  sie 
sich  dessen  nur  recht  bewusst  würden,  dass  Jesus  der  Hohepriester 
sei,  welcher  sie  vor  Gott  vertrete,  durch  denselben  und  seinen 
Tod  wiederum  frei  werden. 

Das  Recht,  welches  Jesus  ihnen  durch  sein  Sterben  erworben 
habe,  sich  anzueignen,  würden  sie  in  der  Christenheit  geradeswegs 
eingeladen.  Möchten  sie  die  dringende  Aufforderung  hierzu 
besonders  aus  dem  Munde  ihres  eigenen  Apostels  Paulus,  Rom.  1 1, 
und  aus  dem  aller  anderen  Apostel,  welche  gleichfalls  ihre 
Brüder  waren,  hören.  Möchten  sie  sich  endlich  die  hohe  Ehre 
zu  Nutze  machen,  dass  sie  Brüder  Jesu,  Brüder  aller  Propheten 
und  Apostel  seien,  und  die  Bibel  von  lauter  Genossen  ihres 
Volkes  geschrieben.  Möchten  sie  eben  desshalb  auch  alle  andern 
darin  zu  übertreffen  suchen,  dass  sie  den  besten  Gebrauch  von 
dem  machten,  was  ihnen  doch  zuerst  geschrieben  worden  sei 
und  ihnen  zuerst  gegolten  habe. 

Ihnen  zuerst  sei  das  Heil  angeboten  worden,  und  die  Apostel, 
ihre  Brüder,  hätten  auch  da,  wo  sie  dasselbe  zu  den  Völkern 
hinaustrugen,  sich  doch  noch  stets  an  sie  gewandt.     Aber  freilich, 


97     — 

da  sie  das  Ihrige  anzunehmen  verschmäht  hätten,  sei  es  hierauf  zu 
den  andern  Völkern  gekommen.  Die  Völker  jedoch  hätten  nun  das 
Heil  für  sie,  die  ursprünglichen  und  ersten  Inhaber  desselben, 
aufgehoben  und  Jahrhunderte  hindurch  es  für  sie  schon  auf- 
bewahrt. Und  die  Dankbarkeit  treibe  die  Völker,  wenn  sie  sich 
gleich  dessen  wohl  bewusst  wären ,  dass  sie  von  dem  neuen 
Lichte  ihre  eigene  Finsterniss  noch  nicht  hätten  völlig  überwinden 
lassen,  dasselbe  ihnen  zu  bringen.  Offen,  frei  und  ruhig  wollten 
nun  hiervon  die  Christen  mit  ihnen  reden  und  sie  in  ihrer  Mitte 
wie  Gäste  behandeln.  Sie  dürften  nicht  gequält  und  misshandelt 
werden;  denn  sie  wohnten  ja  bei  den  Christen  in  der  Zufluchts- 
stätte, die  Gott  für  sie  verordnet  habe. 

Darum  sollten  sie  selbst  es  aber  freilich  auch  bedenken, 
welche  Pflichten  die  Gastfreundschaft  ihnen  auferlegte.  Sie 
müssten  sich  sorgfältig  aller  Schmähung  Christi  und  seiner  Apostel 
enthalten  und  ihren  Wucher  massigen,  der  bisher  alle  Aufstände 
gegen  sie  und  alle  ihre  Verfolgungen  hervorgerufen  habe.  Auch 
sollten  sie  den  Wissenschaften  der  Völker  nicht  so  fern  bleiben, 
ihre  eigenen  Schulen  verbessern,  auf  die  von  ihnen  gesprochene 
Sprache  grössere  Sorgfalt  verwenden  und  vor  allem  ihre  eigene 
heilige  Schrift  mehr  lesen.  Würden  sie  dies  nur  erst  recht  thun 
und  zwar  ohne  die  Anleitung  ihrer  jüdischen  Ausleger,  dann 
würden  sie  selbst  die  Schrift  bald  so  wie  ihre  eigenen  Apostel 
verstehen  lernen. 

Es  werde  aber  auch  gewiss  mit  ihnen  noch  einmal  dahin 
kommen,  und  ihr  Prophet  Paulus  würde  in  dem  Recht  behalten, 
was  er  Römer  1 1  gesagt  habe.  Dieses  Kapitel  wird  dann  von 
Hardt  eingehend  besprochen  und  die  Gewissheit  ihrer  Bekehrung 
zu  Jesu  aus  demselben  dargethan.  Werde  diese  Bekehrung 
Israels  eintreten,  dann  würden  auch  die  Völker  und  selbst  viele 
heidnische  Nationen  von  dem,  woran  sie  nur  zu  zähe  fest  gehalten 
hätten,  sich  befreien  lassen,  und  durch  das  bekehrte  Israel  würden 
wir  viel  Licht  für  so  manche  Dunkelheit,  die  unter  uns  noch 
geblieben  sei,  erlangen. 

H.  von  der  Hardt's  Zeugnisse  gehören  also  zu  dem  Aus- 
gezeichnetsten, was  die  frühere  evangelische  Zeit  hinsichtlich  der 
Juden  ausgesprochen  und  an  Erkenntniss  gewonnen  hat.  Die- 
selben verdienen  es  noch  heute  fleissig  gelesen  und  ernstlich  er- 
wogen zu  werden.  Schade  ist  es  nur,  dass  der  zuletzt  angeführte 
Brief  von   der  Hardt's    lediglich   an   die  gelehrten  Juden    und   in 

F.  J.  A.  de  le    R  o  i ,   Missionsbeziehungen.  J 


-   9s 

der  Gelehrtensprache,  dem  Latein,  gerichtet  ist.  Wie  so  anders 
hätte  diese  Kundgebung  wirken  können,  wenn  sie  die  gesammte 
Judenschaft  oder  wenigstens  die  deutsche  in  der  ihnen  verständ- 
lichen Sprache  angeredet  hätte ! 

Die  Frage  der  endlichen  Bekehrung  Israels  beschäftigte  in 
dieser  Zeit  ganz  besonders  die  Gemüther  und  trug  auch  dazu 
bei,  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Juden  zu  lenken.  Der  grösste 
Theil  der  deutschen  Theologen  Hess  sich  durch  die  Schrift  zur 
Anerkennung  dessen,  dass  eine  Bekehrung  des  Volkes  Israel  in 
der  Zukunft  bevorstehe,  führen.  Von  bedeutenderen  Theologen 
widersprachen  dem  eigentlich  nur  Dannhauer,  Pappus,  Cramer, 
Calov  und  Johann  Georg  Neu  mann  in  dieser  Zeit.  Zur  Schrift- 
lehre dagegen  bekannten  sich  die  Wittenberger  Professoren  Ge. 
.Mylius,  Aegidius  und  Nikolaus  Hu nnius,  Gesner,  Remigius, 
L.  Hutter,  Th.  Balduin,  Joh.  Forster,  B.  Meissner,  Jac. 
Martini;  von  Leipzigern  Scherzer  und  Wein  rieh,  von  Ro- 
stockern Tarnov,  Quistorp,  Varenius,  L.  J.  Helwig,  Schuck- 
mann;  von  Marburgern  und  Giessenern  Winke  imann,  B.  Mentzer, 
Chr.  Helvicus,  Clodius,  Joh.  Gerhard,  in  Magdeburg  M. 
Flacius;  von  Helmstädtern  Ge.  Calixt,  Hildebrand;  von 
Strassburgern  El.  Schadaeus,  Schmidt;  von  Altorfern  Th. 
Hackspan,  Wagenseil;  von  Kielern  Wasmuth  und  von  son- 
stigen Theologen  Mich.  Havemann,  M.  Walther,  Kessler, 
Lossius,  Creidius,  Gravius,  Schindler,  Patienz. 

Die  Schrift  des  Professors  der  Philosophie  Christophorus 
Besold  in  Tübingen  De  Hebraeorum  ad  Christum  salvatorem 
nostrum  conversione  1620  beweist  besonders  schlagend  aus  Altem 
und  Neuem  Testamente  die  zukünftige  Bekehrung  des  jüdischen 
Volkes.  Eine  geistige  Erneuerung  Israels  werde  geschehen  und 
das  bekehrte  Volk  dann  die  christliche  Kirche  zum  Siege  aut 
Erden  führen.  Israel  sollte  beides,  das  Fundament  der  Kirche 
und  die  Krönung  des  Gebäudes  sein.  Das  bekehrte  Israel  werde 
das  Innerste  des  Tempels  Gottes  darstellen. 

Die  Hoffnung  auf  die  endliche  Bekehrung  des  Volkes  hatte 
aber  den  Einfiuss,  dass  man  auch  die  Juden  der  Gegenwart  nicht 
als  völlig  unbekehrbar  betrachtete  und  eine  Arbeit  an  ihnen  nicht 
von  vorn  herein  für  aussichtslos  hielt.  Die  reiche  literarische 
Thätigkeit,  welche  die  Bekehrung  der  Juden  befördern  wollte, 
wäre  nicht  erfolgt,  wenn  nicht  die  Hoffnung  auf  einen  friedlichen 
Aus^an"-  der  Geschichte  Israels  auch  zu    einem  Wirken  an  den 


—     99     — 

Juden  der  Gegenwart  ermuthigt  hätte.  Dass  Luthers  späteres 
Verzweifeln  an  den  Juden  die  Folgezeit  im  Allgemeinen  nicht 
dazu  führte,  der  Schrifthoffnung  für  dieselben  Gewalt  anzuthun, 
sondern  dass  man  den  Schriftgedanken  hinsichtlich  derselben 
folgte,  war  von  entscheidender  Bedeutung  für  die  weitere  Stellung, 
die  man  in  der  evangelischen  Kirche  Deutschlands  den  Juden 
gegenüber  einnahm. 

Aber  es  liegt  hierin  auch  ein  klarer  Beweis  dafür  vor,  dass 
die  reformatorische  Kirche  thatsächlich  die  Schrift  als  den 
höchsten  Lehrmeister  und  den  eigentlichen  Wegweiser  anzuer- 
kennen gewillt  war,  und  dass  sie  sich  durch  die  höchste  Pietät 
für  den  grössten  ihrer  Gotteszeugen  doch  nicht  zur  Menschen- 
knechtschaft verleiten  und  keine  menschliche  Autorität  unbedingt 
annehmen  wollte.  Die  deutsch-evangelische  und  setzen  wir  hinzu, 
die  gesammte  evangelische  Kirche  hatte,  wie  es  an  diesem  Bei- 
spiele recht  klar  zu  Tage  getreten  ist,  allerdings  als  die  ent- 
scheidende Stimme  über  ihre  Stellung  zu  den  Juden  die  heilige 
Schrift  anerkannt  und  thatsächlich  erwählt.  Darum  musste  sie 
auch  in  dieser  Frage  vorwärts  kommen;  und  darin  hat  sie,  wenn 
sie  nur  sich  selber  treu  bleibt,  die  Gewähr,  dass  sie  auch  den 
Juden  gegenüber  zu  jener  Stellung  gelangen  wird,  welche  sie  hier 
nach  Gottes  Willen  einnehmen  soll. 

Die  Lehre  von  der  Endbekehrung  Israels  hat  in  der  That 
nicht  eine  bloss  theoretische  Bedeutung  in  der  evangelischen 
Kirche  und  für  dieselbe  gehabt,  sondern  sie  ist  ein  mächtiger 
Antrieb  für  dieselbe  geworden,  die  Missionspflicht  an  den 
Juden  auszuüben;  und  hatte  sie  in  der  vorliegenden  Periode,  dem 
allgemeinen  Charakter  derselben  entsprechend,  zunächst  eine  mehr 
theoretische  Bedeutung  für  das  evangelische  Deutschland,  so  hat 
doch  auch  hier  die  Theorie  zur  Praxis  gedrängt,  und  dies  selbst 
im  gewissen  Maasse  zu  jener  Zeit  selbst  gethan. 

Hier  und  da  hatte  übrigens  die  Lehre  von  der  Endbekehrung 
Israels  schon  damals  auch  andere  Folgen  and  führte  in  einigen 
Fällen  zu  einem  phantastischen  Chiliasmus  und  wunderlicher  Ueber- 
schätzung  des  jüdischen  Stammes,  wie  des  jüdischen  Wesens. 
M.  Joh.  Jakob  Zimmermann  aus  Württemberg  wurde  wegen 
seines  Chiliasmus  des  Amtes  entsetzt  1689  und  sammelte  eine 
kleine  Schaar,  die  mit  ihm  nach  Amerika  auswandern  wollte, 
Zimmermann  starb  aber  1693  in  den  Vorbereitungen  zur  Ueber- 
fahrt   in  Rotterdam.     Er   hatte    das  1  ooojährige    Reich   und   die 


—      100      — 

demnächste  Bekehrung  der  Juden  vorausgesagt.  Sein  Anhang 
siedelte  sich  in  Pensylvanien  an.  1689  erschien  von  Zimmermann 
die  Schrift  „Darreichung  der  gemeinen  Liebe  gegen  die  übrigen 
Juden,  Türken  und  Heiden  zu  ihrer  Seligmachung  in  der  brüder- 
lichen Liebe".  Der  Arzt  Andreas  Kempe*)  schrieb  1697  eine 
Schrift  „Israels  erfreuliche  Botschaft,  zum  Trost  allen  frommen 
Israeliten  und  rechtgläubigen  Christen  geschrieben".  Er  widmete 
dieses  Buch  dem  reichen  Juden  Manuel  Texeira  in  Hamburg 
und  ermahnte  hier  die  Juden  bei  der  Feier  ihres  Sabbaths  zu 
verbleiben,  den  die  falschen  Christen  in  den  ersten  Wochentag 
verwandelt  hätten.  Texeira  aber  übergab  das  Buch  dem  Rathe, 
und  Kempe  wurde  aus  Hamburg  verwiesen. 

Eine  adlige  Dame,  Anna  von  Medem,  aus  Preussen 
gebürtig,  heirathete  einen  Juden,  den  es  ihr  für  ein  Christenthum 
ihrer  Art  zu  gewinnen  gelungen  war,  und  hielt  seitdem  öfters 
Predigten,  um  die  Juden  zu  bekehren.  In  Amsterdam  Hess 
sie  dann  auch  einen  Traktat  in  deutscher  Sprache  „Geistlicher 
jüdischer  Wundbalsam  für  alle  Gebrechen  und  Wunden  der 
Juden"  1646  und  1660  drucken,  welcher  den  Juden  ihre  Phan- 
tastereien annehmbar  machen  sollte.  Sie  gab  vor,  eine  Offen- 
barung empfangen  zu  haben,  nach  der  sie  einen  göttlichen  Sohn 
gebären  würde ,  welcher  alle  Juden  zur  christlichen  Religion 
führen  werde. 

M.  Conrad  Victor,  Lehrer  am  Gymnasium  zu  Marburg, 
ging  sogar,  Frau  und  Kinder  verlassend,  nach  Thessalonich,  um 
Jude  zu  werden.  Dort  unter  dem  Namen  Mosche  Pardo  über- 
getreten lebte  er  in  der  grössten  Armuth,  so  dass  er  sich  161 4 
die  Erlaubniss,  zurückkehren  und  als  Jude  in  Deutschland  leben 
zu  dürfen,  erbat. 

Doch  Erscheinungen  dieser  Art  waren  in  Deutschland  nicht 
häufige,  der  Abstand  zwischen  Juden  und  Christen  wurde  hier  zu 
tief  empfunden.  Eine  religiöse  Beeinflussung  der  Christen,  welche 
in  der  früheren  evangelischen  Zeit  von  den  Juden  mehrfach  ver- 
sucht wurde,  fand  hernach  nur  im  geringeren  Maasse  statt;  unter 
den  Christen  hatte  man  auch  ganz  überwiegend  das  Gefühl,  dass 
man  die  Juden  vielmehr  zur  eigenen  Religion  zu  bekehren  suchen 
müsse. 

Näher  nun  trat  man  christlicherseits  an  diese  Aufgabe  damit 
heran,   dass   man   für  sie  Schriften  in   dem  ihnen  verständlichen 

*)  Schudt  1,  536  fif. 


—       101       — 

jüdischen  Dialekte  schrieb;  denn  nicht  einmal  das  Hochdeutsch 
lasen  viele  derselben. 

Schadaeus  war  der  erste,  welcher  daran  dachte,  den  Juden 
in  dem  unter  ihnen  üblichen  Dialekte  das  Neue  Testament  zu 
bringen.  Auch  eine  hebräische  Uebersetzung  des  Neuen  Testa- 
mentes geschah  durch  Elias  Hutter  in  der  Polyglottenbibel  des- 
selben, Nürnberg  1599;  eine  andere  viersprachige  Ausgabe  er- 
schien 1602,  und  von  dem  nämlichen  Verfasser  erfolgten  dann  auch 
die  Sonntagsevangelien  und  Episteln  1691,  aber  ohne  dass  er  der 
Ueberserzungsaufgabe  schon  gewachsen  gewesen  wäre.  Die  Evan- 
gelien des  Kirchenjahres  gab  hebräisch -deutsch  Johann  Clajus, 
Leipzig  1578,  heraus  und  eben  dieselben  noch  einmal  in  hebräischer, 
griechischer  und  lateinischer  Uebersetzung.  Das  Evangelium  Lucas 
erschien  hebräisch  von  Fr.  Petri,  Wittenberg  1579;  von  dem- 
selben kamen  auch  hebräisch  die  Sonn-  und  Festtagsevangelien 
und  ebenso  das  Evangelium  Lucas  und  das  Vaterunser  in  der 
polyglotten  Uebersetzung  desselben  heraus.  Die  Geschichte 
der  Leiden  und  Auferstehung  Christi  nach  den  Evangelien  er- 
folgte in  hebräischer,  griechischer,  lateinischer  und  deutscher 
Sprache  durch  Mart.  Theodorus  Fabricius,  Wittenberg  1595. 
Hunnius  hat  dieser  Leidensgeschichte  ein  Vorwort  vorausgesandt. 
Das  Evangelium  Marcus  übersetzte  hebräisch  Walther  Herbst 
aus  Hannover,  Wittenberg  1575,  die  sonntäglichen  Episteln 
hebräisch  Conr.  Neander  1586. 

Philipp  Gallus  veranstaltete  eine  hebräische  Uebersetzung 
der  Augsburgischen  Konfession,  und  Superintendent  Olearius 
(1588)  fügte  derselben  eine  Vorrede  bei,  in  welcher  er  die  Ver- 
breitung dieser  Uebersetzung  unter  den  Juden  dringend  empfahl. 
Ihm  habe  sein  Rabbi  Paulus  Elkana  aus  Prag  bekannt,  dass  er 
besonders  durch  die  hebräische  Uebersetzung  des  Matthäus  und 
Römer -Briefes  gewonnen  worden  sei.  Die  Juden  würden  aus 
der  Augsburgischen  Konfession  erkennen,  dass  der  Sauerteig 
menschlicher  Ueberlieferung  im  evangelischen  Glauben  entfernt  sei, 
die  Bekehrung  einer  einzigen  Seele  aber  sei  schon  ein  unver- 
gleichlicher Gewinn. 

Auch  Katechismen  zur  Unterweisung  der  Juden  in  der 
christlichen  Lehre  entstanden.  So  gab  Johannes  Clajus  den 
Kleinen  Katechismus  Luthers  in  4  Sprachen:  rabbinisch,  griechisch, 
lateinisch  und  deutsch,  Wittenberg  1572  und  öfters  heraus. 
Theodosius    Fabricius    lieferte    eine    hebräische    Uebersetzung 


—       102      — 

des  Luther'schen  Katechismus ,  die  Michael  Neander  mit  bei- 
gefügter griechischer  Erklärung  von  Joh.  Volandi  und  dem 
lateinischen  und  deutschen  Texte,  Wittenberg  1582  herausgab. 
Conrad  Neander  lieferte  den  Kleinen  Katechismus  Luthers  in 
4  Sprachen;  derselbe  ist  eine  genauere  und  verbesserte  Ausgabe 
des  Katechismus  von  Clajus,  Wittenberg  1599;  statt  des  Rabbini- 
schen ist  hier  das  reine  Hebräisch  gewählt;  hinzugefügt  ist  unter 
anderem  das  Nicänische  Glaubensbekenntniss.  1658  Hess  Sebastian 
Curtius,  Cassel,  einen  Kleinen  Judenkatechismus  erscheinen, 
der  aber  nur  8  Seiten  enthält. 

52  evangelische  Kirchenlieder  wurden  von  M.  Georg 
Leu  sehne  r  in  hebräische  Reime  übersetzt,  wobei  zugleich 
darauf  geachtet  wurde,  dass  sie  nach  den  gewöhnlichen  Melodien 
gesungen  werden  konnten.     Leipzig   1662. 

Die  von  bedeutenden  Theologen  ausgegangene  Ermahnung, 
die  Schüler  der  oberen  Klassen  in  den  höheren  Schulen  für  die 
Juden  zu  interessiren,  fiel  nicht  auf  unfruchtbaren  Boden;  denn 
die  Schulprogramme  jener  Zeit,  welche  Abschiedsreden  von  Schü- 
lern enthalten,  die  zur  Universität  gehen  wollen,  behandeln  oft 
Themata,  welche  sich  auf  die  Bekehrung  der  Juden  beziehen. 
Nicht  wenige  der  Gelehrten,  die  sich  mit  der  jüdischen  Literatur 
beschäftigten,  Hessen  es  sich  übrigens  auch  angelegen  sein,  persön- 
lich mit  Juden  zu  verkehren,  um  sie  für  das  Christenthum  zu 
gewinnen.  Dass  die  Pflicht  hierzu  den  gelehrten  Christen  obliege, 
hat  besonders  Professor  Wolfgang  Franz  zu  Wittenberg  in 
seiner  Schrift  Schola  sacrificiorum  161 7  betont,  und  er  selbst 
hat  gethan,  was  er  von  anderen  gefordert  hat.  Dasselbe  gilt 
von  M.  Andreas  Cr  am  er,  Superintendenten  zu  Mühlhausen, 
und  manchem  anderen. 

Nicht  erfolglos  waren  sodann  die  Mahnungen,  welche  die 
Theologen  oft  an  die  Fürsten  richteten,  sich  der  Juden  in  ihren 
Gebieten  anzunehmen.  Manche  Fürsten  erlernten  sogar  das 
Hebräische,  theils  um  das  Alte  Testament  in  der  Ursprache  zu 
lesen,  theils  um  ihrer  christlichen  Aufgabe  den  Juden  gegenüber 
besser  zu  genügen.  Das  that  Kurfürst  August  von  Sachsen 
noch  in  seinem  Alter.  Christian  August  von  Pfalz-Sulz- 
bach erlernte  nicht  nur  das  Hebräische,  sondern  studirte  selbst 
die  rabbinischen  und  cabbalistischen  Schriften  der  Juden,  und 
das  Nämliche  ist  vom  Landgrafen  Moritz  von  Hessen  zu 
sagen.     Hebräisch  lernten  ebenso  Lud  wig  V.  von  Darmstadt, 


103 

Kurfürst  Johann  Georg  von  Sachsen,  die  Prinzen  Günther 
und  Heinrich  von  Schwarzburg,  welche  den  Proselyten 
Fels  zum  Lehrer  wählten;  und  unter  den  Fürstinnen  Amalie 
Amoena,  Gemahlin  Ludwigs  von  Anhalt,  deren  Tochter 
Louise  Amoena  sogar  hebräisch  sprechen  konnte,  und  die 
Tochter  Georgs  von  Hessen,  Anna  Sophie,  Aebtissin 
von  Quedlinburg. 

Besonders  aber  hielten  sich  in  diesem  Zeiträume  mehrere 
evangelische  Fürsten  für  verpflichtet,  Juden  das  Anhören  christ- 
licher Predigten  zu  gebieten.  Im  Anspach'schen  wurde  den  Juden 
1597  befohlen  „wegen  ihres  täglichen  Verkehres  mit  den  Christen 
auch  mit  ihnen  in  die  christliche  Kirche  zu  gehen  und  darin 
Gott  um  die  rechte  Erkenntniss  seines  Wesens  und  Willens  an- 
zurufen und  ihn  zu  bitten,  dass  er  sie  durch  Erleuchtung  des 
heiligen  Geistes  zu  wahrer  Busse  und  Bekehrung  aus  dem  finsteren 
Judenthum  in  das  rechte  Licht  des  Christenthums  bringen  wolle". 
1652  wurde  den  Juden  in  Anhalt-Bernburg  von  Christian  IL 
das  Gleiche  geboten.  Ebenso  am  Ende  des  Jahrhunderts  von 
Georg  Wilhelm,  Herzog  von  Braunschweig,  verordnet, 
dass  die  Prediger  des  Landes  an  jedem  Ort,  wo  Juden  wohnten, 
dieselben  einmal  des  Jahres  vor  sich  fordern  und  ihnen  die  Grund- 
sätze der  christlichen  Religion  vortragen  sollten. 

Landgraf  Georg  von  Hessen  befahl  1642  der  Universität 
Marburg,  einen  Plan  zur  Ueberzeugung  der  Juden  von  der  Wahr- 
heit und  Göttlichkeit  des  Christenthums  anzufertigen.  Professor 
Hab  er  körn  in  Giessen,  welcher  Predigten  an  Juden  empfohlen 
hatte,  hielt  selbst  solche  Predigten,  fand  aber  freilich  bei 
ihnen  wenig  Aufmerksamkeit.  Landgräfin  Amalie  Elisabeth 
von  Hessen  beauftragte  den  Dekan  Soldanus  den  Juden  in 
Cassel  auf  dem  Rathhause  zu  predigen.  Eine  Sammlung  von 
22  solchen  Predigten,  die  zwischen  1647  und  1650  gehalten 
worden  waren,  ist  dann  unter  dem  Titel  „Entdeckung  und  Für- 
stellung der  Bundeslade  und  Gnadenstuhles  des  Alten  Testa- 
mentes" 1650  erschienen,  und  ebenso  ein  Judenkatechismus 
desselben  aus  dem  Jahre  1651,  den  alle  Juden  lesen  sollten. 
Nach  der  Predigt  wurde  übrigens  den  Juden  gestattet,  ihre  Mei- 
nungen zu  äussern.  Ein  Proselyt,  Wilhelm  Christlieb,  der  1705 
in  Cassel  getauft  wurde,  erklärte,  dass  jene  Predigten  von  Soldan, 
die  er  gelesen,  den  ersten  Trieb  in  ihm  erweckt  hätten,  ein 
Christ  zu  werden. 


—     104     — 

Doch  nur  selten  hatten  diese  Predigten  eine  heilsame  Wir- 
kung, denn  die  Juden  hatten  natürlich  keine  Lust  auf  das  Wort, 
welches  sie  gezwungen  anhören  mussten,  zu  achten ;  vielfach  ver- 
stopften sie  selbst  hierbei  ihre  Ohren  mit  Wachs  und  Baumwolle, 
und  bald  stand  man  denn  auch  immer  wieder  von  dem  Versuche, 
in  dieser  Weise  auf  die  Juden  einzuwirken,  ab. 

Die  Verordnung  endlich,  dass  sich  die  Juden  in  ihren 
Gottesdiensten  aller  Lästerung  gegen  Christum  enthalten  sollten, 
wurde  auch  in  diesem  Zeiträume  öfters  wiederholt. 

So  viel  ist  aus  allen  diesen  Beispielen  jedesfalls  er- 
sichtlich, dass  die  Ermahnungen,  welche  in  den  Schriften  und  in 
den  öffentlichen  Zeugnissen  der  Theologen  geschahen,  an  das 
Heil  der  Juden  zu  denken,  doch  vielfach  empfunden  und  beherzigt 
wurden.  Ueberhaupt  aber  wird  man  anerkennen  müssen,  dass  jene 
Zeit  in  ihrer  Weise  die  Nothwendigkeit  lebhaft  empfand,  den  Juden 
den  Weg  zu  Christo  zu  bahnen.  Dies  fordert  entschieden  die 
Gerechtigkeit  einzuräumen,  während  man  sich  anderseits  die 
Augen  davor  nicht  verschliessen  kann,  dass  in  dem  damaligen 
Protestantismus  noch  zu  vieles  vorhanden  war,  was  denselben 
verhinderte,  eine  kräftige  Einwirkung  auf  die  Juden  auszuüben, 
und  dass  hieran  besonders  das  Ueberwiegen  des  Intellektualismus 
in  der  Religiosität  Schuld  trug. 

c.  Esdras  Edzard. 

Schudt,  Jüd.  Denkw.  i,  S.  377  ff.  u.  öfters,  4,  265  ff.  u. 
öfters.  Joh.  Fr.  Mayjer,  Museum  ministri  ecclesiae  3,  48  ff. 
Fabricius,  Memoriae  Hamburg.  2,  1020.  M oller,  Cimbria 
literata  3,  221  ff.  Gleiss,  Esdras  Edzard,  Hamburg  2.  Aufl. 
1871.  Vormbaum  Oct.  1871.  Friedensbote  1863  N.  1,  2. 
Kaikar  154. 

Die  hervorragendste  Persönlichkeit  auf  dem  Gebiete  der 
Judenmission  seit  der  Reformation  und  bis  zum  Anfange  des 
18.  Jahrhunderts  hin  ist  Esdras  Edzard.  Derselbe,  am  28.  Juni 
1629  geboren,  war  ein  Sohn  des  Jodocus  Glanaeus  Edzard, 
Pastor  in  der  Neustadt  Hamburg,  und  stammte  aus  einer  Familie 
im  Oldenburgischen,  die  sich  in  den  Streitigkeiten  mit  den  Cal- 
vinisten  hervorthat.  Der  Vater,  ein  selbst  in  den  schwersten 
Tagen  der  Pest  seines  Amtes  treu  waltender  Geistlicher,  hat 
auch  die  Gelegenheit,  welche  ihm  die  Seestadt  bot,  mit  Nicht  - 
christen   zu  verkehren,    treu    im    christlichen  Sinne   benutzt   und 


—     105     ~ 

ausser  einem  Türken  und  einem  Mohren  mehrere  Juden    in    die 
christliche  Kirche  aufgenommen. 

Der  Sohn  erhielt  im  elterlichen  Hause  eine  treffliche  Vor- 
bildung für  das  Gymnasium  und  ging  dann  im  Jahre  1647,  erst 
1 8  Jahre  alt,  auf  die  Universität.  Um  aber  die  Theologie  seiner 
Tage  gründlich  kennen  zu  lernen,  Hess  er  sich  nicht  an  dem 
Besuche  einer  Hochschule  genügen,  sondern  bezog  eine  ganze 
Reihe  derselben  und  hielt  sich  nach  der  eigentlichen  Studienzeit 
auch  in  anderen  Städten,  welche  gelehrte  Männer  beherbergten, 
auf.  In  Leipzig  hörte  er  Hulsemann,  in  Wittenberg  Martini, 
in  Gotha  Salomon  Glassius,  in  Basel  genoss  er  den  Unterricht 
von  Buxtorf,  in  Zürich  den  von  Jakob  Huldrich  und  Heinrich 
Hottinger,  in  Strassburg  hörte  er  Dorscheus,  in  Giessen  Fa- 
bronius  und  Haberkorn,  in  Rostock  wieder  Dorscheus.  Fast 
alle  hervorragenden  Theologen  und  Orientalisten  Deutschlands 
und  der  Schweiz  lernte  er  persönlich  kennen. 

Zur  Vervollkommnung  seines  talmudisch  -  rabbinischen 
Wissens  nahm  er  jedoch  auch  Unterricht  bei  dem  Oberrabbi  der 
portugiesischen  Judengemeinde  in  Hamburg,  David  Cohen  de 
Lara,  dem  er  hernach  dann  wieder  bei  der  Herausgabe  seines  tal- 
mudisch-rabbinischen  Lexikons  wesentliche  Hilfe  leistete. 

Erst  1656,  also  nach  9  Jahren,  beendigte  er  seine  Studien- 
zeit. In  dem  genannten  Jahre  erwarb  er  sich  unter  Dorscheus 
in  Rostock  den  Grad  eines  Licentiaten  der  Theologie  durch  eine 
Universitätsschrift,  welche  in  50  Thesen  das  Thema  De  praecipuis 
doctrinae  christianae  capitibus  adversus  Judaeos  et  Photinianos 
behandelt.  Er  besass  eine  gründliche  Kenntniss  der  Theologie 
überhaupt  und  besonders  der  orientalischen  Sprachen,  speciell 
des  Rabbinischen,  erlag  aber  nicht,  wie  so  viele  seiner  Zeit- 
genossen, der  Gefahr,  sich  an  gelehrtem  Wissen  genügen  zu  lassen 
oder  mit  seiner  Gelehrsamkeit  vor  der  Oeffentlichkeit  zu  glänzen. 

Mit  allem  Ernst  auf  die  Reinhaltung  der  lutherischen  Lehre 
bedacht,  bereit  sie  gegen  Jedermann,  gegen  Christen  wie  Nicht- 
christen,  zu  vertheidigen  und  von  einem  brennenden  Eifer  für  die 
Bekehrung  der  Juden  erfüllt,  widerstand  er  doch  allem  Drängen, 
sich  häufiger  in  Schriften  vernehmen  zu  lassen;  denn  er  scheute 
die  literarische  Vielgeschäftigkeit.  „Schreiben  macht  Schreiben 
und  die  Leute  werden  dadurch  nur  faul  gemacht",  pflegte  er  zu 
saeen.  Er  hat  desshalb  nur  Weniges  auf  diesem  Gebiete  hinter- 
lassen.     Wir  besitzen  von  ihm  Anmerkungen  zu  dem  Pugio  fidei 


—     io6     — 

des  Raymund  Martin  und  einen  Consensus  antiquitatis  Judaicae 
cum  explicatione  Christianorum  super  Jerem.  23,  5.6  und  1  Cor. 
1,  30  neben  rabbinischen  Erklärungen  zu  Psalm   110. 

In  jenen  literarischen  Zeugnissen  legte  er,  „um  die  Juden 
zu  reizen",  durch  eine  grosse  Zahl  von  Citaten  aus  ihren  berühm- 
testen rabbinischen  Schriften  dar,  dass  die  Propheten  nur  im 
Sinne  des  Apostels  Paulus  zu  verstehen  seien.  Sonst  ist  von  ihm 
nur  noch  ein  brieflich  mitgetheilter  Plan  über  die  Methode,  die 
man  bei  den  Bemühungen  um  die  Bekehrung  der  Juden  befolgen 
solle,  vorhanden  und  derselbe  hernach  gedruckt  worden.  Man 
findet  diesen  Plan  in  Mayers  Museum  3,  46  ff.,  in  Martin 
Diefenbach  Judaeus  convertendus  S.  41  ff.  und  in  Richard 
Kidder  Demonstratio  adversus  Judaeos,  englisch  3,  473  ff. 
Dieser  letztere,  ein  englischer  Bischof,  hatte  sich  an  Edzard  gewandt, 
um  seinen  Rath,  wie  man  mit  Juden  umgehen  solle,  zu  erbitten, 
und  erhielt  hierauf  brieflich  jene  Anweisung,  die  hernach  durch  den 
Druck  der  Oeffentlichkeit  übergeben  wurde.  Edzard  war  stets 
unwillig,  wenn  er  wieder  von  einer  neuen  Uebersetzung  rabbini- 
scher  Schriften  hörte;  denn  die  meisten,  so  erklärte  er,  suchten 
nur  mit  ihrem  rabbinischen  Wissen  zu  prahlen,  und  der  hebräi- 
schen Sprache  werde  dadurch  ein  Schaden  bereitet. 

In  lebendig  praktischer  Weise  aber  dachte  Edzard,  nachdem 
er  sich  1656  in  Hamburg  niedergelassen  hatte,  seine  theologi- 
schen und  wissenschaftlichen  Kenntnisse  zum  Heile  der  Juden 
zu  verwerthen,  indem  er  sich  theils  direkt  an  diese  wenden» 
theils  den  Christen  das  Beispiel  geben  wollte,  wie  man  die  Juden 
reizen  müsse,  Christum  anzunehmen.  Wiederholt  wurden  ihm  in 
Hamburg  selbst  und  an  verschiedenen  Universitäten  gelehrte 
Stellungen  angeboten,  er  nahm  aber  keine  derselben  an,  um  in 
voller  Freiheit  wirken  zu  können.  Zu  Statten  kam  ihm  hierbei, 
dass  er  selbst  ein  wohlhabender  Mann  war  und  er  desshalb  ohne 
Sorge  seine  private  Stellung  zu  behaupten  vermochte. 

So  öffnete  er  nun  sein  Haus  Juden  sowohl  als  Christen, 
welche  von  ihm  Belehrung  annehmen  wollten,  und  deren  gab  es 
unter  beiden  eine  ausserordentlich  grosse  Zahl.  In  Hamburg 
hatten  neben  deutschen  auch  geflüchtete  portugiesische  Juden 
161 2  die  Erlaubniss  erhalten,  sich  daselbst  niederzulassen. 
Letzteren  war  hierbei  die  Bedingung  gestellt  worden,  dass  sie 
in  Hamburg  selbst  keine  Synagogen  bauen  und  keine  Beschnei- 
dung vollziehen   dürften.     Aber   die   ihnen   auferlegten  Beschrän- 


—     107     ■ — 

kungen  wurden  nicht  innegehalten,  und  sie  übten  bald  ihre 
Religion  fast  unbehindert  in  der  Stadt  aus.  Ebenso  wurde  die 
Bestimmung,  dass  sie  ihre  Kinder  in  christliche  Schulen  schicken 
und  dieselben  dort  auch  den  christlichen  Religionsunterricht  er- 
halten sollten,  von  ihnen  niemals  innegehalten.  Ihren  grossen 
Wohlstand  trugen  sie  gern  zur  Schau,  und  ihre  Häuser  waren  zum 
Theil  aufs  Prächtigste  eingerichtet.  Zu  den  reichsten  Einwohnern 
der  Stadt  gehörten  Juden,  die  denn  auch  in  derselben  bald  einen 
übermässigen  Luxus  entfalteten. 

Das  Auftreten  der  Hamburger  Juden  wurde  in  nicht  langer 
Zeit  ein  so  herausforderndes,  dass  sich  der  deutsche  Kaiser  aus 
Anlass  dessen  beschwerdeführend  an  den  Senat  der  Stadt  wandte, 
und  der  Rath  daraufhin  den  Befehl  gab,  die  Juden  sollten  die 
Stadt  verlassen,  widrigenfalls  sie  für  jeden  Tag  weiteren  Ver- 
weilens  in  derselben  einen  Goldgulden  zahlen  müssten.  Aber 
diese  Verordnung  war  mehr  zum  Schein  erlassen,  denn  sie  trat 
nicht  in  Wirksamkeit.  Nirgends  in  Deutschland  und  überhaupt 
nirgends  sonst  ausser  in  Holland  genossen  die  Juden  unter  den 
damaligen  Christen  eine  solche  Freiheit,  und  Hamburg  wurde 
von  ihnen  daher  auch  Klein- Jerusalem  genannt. 

Edzards  Bemühungen  um  die  Juden  bedeuteten  nun  nicht,  dass 
er  ihnen  in  der  Stadt  und  in  dem  Gemeinwesen  eine  Stellung 
eingeräumt  wissen  wollte,  wodurch  jene  ihren  christlichen  Charakter 
verlören;  modern  -  humanistische  Emancipationsgedanken  lagen 
ihm  völlig  fern.  Die  Juden  hatten  in  Hamburg  nicht  das  Recht, 
Häuser  von  Christen  als  Eigenthum  zu  erwerben;  unter  der  Hand 
geschah  das  jedoch  hier  und  da,  und  behielt  alsdann  das  be- 
treffende Haus  nur  dem  Namen  nach  seinen  christlichen  Besitzer. 
Ein  Jude  erwarb  ein  derartiges  Haus  und  entfernte  dann  von 
demselben  die  lateinische  Ueberschrift  „Christus  ist  unser  Heil". 
Sobald  Edzard  dies  erfuhr,  klagte  er  bei  der  Obrigkeit,  und  der 
Jude  wurde  hierauf  genöthigt,  die  alte  Ueberschrift  in  goldenen 
Buchstaben  am  Hause  wieder  anzubringen.  Ebenso  Hess  Edzard 
es  nicht  zu,  dass  Juden,  weil  das  Gesetz  ihnen  nur  im  gegenüber- 
gelegenen Altona  synagogale  Zusammenkünfte  gestattete,  solche 
in  Hamburg  abhielten,  wie  er  denn  auch  die  Wegnahme  von 
Büchern,  welche  ihnen  zu  halten  nicht  gestattet  war,  veranlasste. 

Aber  die  äusseren  Schranken  für  die  Juden  festzuhalten, 
war  nicht  die  eigentliche  Aufgabe,  welche  er  sich  denselben 
gegenüber    gesteckt  hatte,    sondern    diese  galt  ihrer  Bekehrung; 


—     ioS     — 

und  die  Ereignisse  der  Zeit  bestärkten  ihn  noch  in  dem  Vorsatze, 
den  Juden  das  Evangelium  nahe  zu  bringen.  Der  falsche  Messias  . 
Sabbathai  Z  e  b  i  fand  damals  auch  unter  den  Juden  in  Hamburg 
einen  grossen  Anhang,  und  selbst  Christen  wurden  über  den 
Nachrichten  von  seinen  Wundern  stutzig.  Edzard  aber  bezeugte 
beiden,  dass  jene  angeblichen  Wunder  lauter  Lug  und  Trug  seien. 
Und  als  nun  Zebi  vom  Sultan  Muhammed  IV.  vor  die  Wahl 
gestellt,  lebendig  gespiesst  zu  werden  oder  den  Islam  anzunehmen, 
das  Letztere  that,  fand  Edzard  mit  seinem  Zeugnisse  desto  mehr 
Eingang  auch  unter  den  Juden.  Ein  Schullehrer  an  der  deutschen 
Judengemeinde,  Jakob  Melammed  aus  Cornitz  gebürtig,  später 
Talmudlehrer  in  Krakau  und  Wien  und  endlich  in  Hamburg,  der 
hernach  den  Namen  David  Hieronymus  annahm, *)  hatte  ganz 
besonders  fest  an  Zebi  geglaubt.  Ein  ganzes  Jahr  lang  hatte 
er  täglich  bis  zum  Abend  gefastet,  um  bei  der  Ankunft  des 
Messias  desselben'  würdig  erfunden  zu  werden.  Da  jener  nun 
aber  als  Betrüger  entlarvt  wurde,  kam  Jakob  Melammed  zu 
Edzard  in  der  Nacht,  und  nachdem  er  die  ganze  Nacht  hindurch 
bis  zum  frühen  Morgen  das  Zeugniss  des  christlichen  Gelehrten 
gehört  hatte,  ging  ihm  in  der  Frühe  des  neuen  Tages  auch  das 
Licht  Christi  auf.  Er  Hess  sich  dann  mit  seiner  Frau  und  drei 
Kindern  taufen  und  blieb  trotz  aller  Nachstellungen  der  Juden 
dem  christlichen  Glauben  treu.  Den  meisten  Theil  seines  weiteren 
Lebens  brachte  er  hernach  in  Berlin  zu  und  hat  mehrere  Juden  für 
das  Christenthum  gewonnen.  Die  Juden  aber  bestachen  zuletzt 
Matrosen,  welche  ihn  auf  der  Strasse  überfielen  und  so*  miss- 
handelten, dass  er  an  den  empfangenen  Wunden  1 713  starb. 
Hieronymus  ging  aber  im  lebendigen  Glauben  heim,  und  die 
Seinen  blieben  rechtschaffene  Christen. 

Der  klägliche  Ausgang  Zebis  hat  übrigens  auch  andere 
Juden,  welche  ihn  für  den  erschienenen  Messias  gehalten  hatten, 
in  die  christliche  Kirche  geführt,  so  den  Moses  Ben  Aron, 
welcher  sich   1696  in  Schweinfurt  taufen  Hess. 

Unter  den  sonst  durch  Edzard  gewonnenen  Juden  haben 
mehrere  ein  öffentliches  Amt  in  der  Kirche  und  im  Staate 
bekleidet.  Der  Sohn  eines  angesehenen  Rabbinen,  Jeschurun 
mit  Namen,  auf  welchen  Edzard  einen  tiefgehenden  Eindruck 
gemacht  hatte,    wurde  von  seinem  Vater,    um  vor   dem  Abfalle 


<)   Schudt.     Denk-.v.  2  b   56,  4  b  242.     Wolf  B.H.    1,  3.  487. 


—     109     ~~ 

bewahrt  zu  werden,  nach  der  Insel  Barbados  geschickt;  zurück- 
gekehrt wurde  er  aber  dennoch  Christ.  Auch  der  Oberrabbi 
Cohen  de  Lara  war,  je  länger  er  mit  Edzard  verkehrte,  der 
christlichen  Wahrheit  desto  näher  gekommen.  Wenige  Tage  vor 
seinem  Tode  hatte  dieser  Rabbi  mit  dem  christlichen  Gelehrten 
ein  Gespräch,  in  welchem  dies  deutlich  zu  Tage  trat.  Erkrankt 
Hess  Cohen  de  Lara  Edzard  rufen  und  derselbe  verkündigte  ihm 
bei  dieser  Gelegenheit  noch  einmal  die  Rechtfertigung  des  Sünders 
durch  Jesum  Christum  allein.  Zwei  Tage  nach  diesem  Gespräche 
ist  Cohen  de  Lara  gestorben.  Er  selbst  allerdings  empfing  die 
Taufe  nicht,  aber  einer  von  den  Juden,  welche  das  Zeugniss 
Edzards  am  Sterbebette  ihres  Oberrabbiners  gehört  hatten,  meldete 
sich  danach  zum  Unterrichte  und  wurde  getauft. 

Die  Zahl  der  Juden,  welche  durch  Edzard  der  christlichen 
Kirche  zugeführt  wurden,  belief  sich  auf  mehrere  Hunderte.  Es 
kam  vor,  „dass  sich  zuweilen  in  einem  Jahre  30  bis  40  Seelen  zur 
christlichen  Religion  begaben";  und  in  dem  sogenannten  Kassa- 
buch, welches  die  Rechnungen  über  die  zum  Besten  von  Prose- 
lyten  und  Katechumenen  eingelaufenen  und  ausgegebenen  Gelder 
enthält,  findet  sich  die  Bemerkung,  dass  im  Jahre  1 705  86  arme 
und  nothleidende  bekehrte  Familien  aus  der  Kasse  eine  Unter- 
stützung erhalten  mussten.  Die  Taufen  geschahen  so  häufig,  dass 
es  zuletzt  schwer  wurde,  für  die  Täuflinge  Pathen  zu  erhalten, 
und  Edzard  viele  der  von  ihm  Unterrichteten  in  andere  Gegenden 
schickte,  damit  sie  dort  die  Taufe  empfingen.  „Kaum  der  vier- 
zigste Theil"  der  von  Edzard  Gewonnenen  wurde  hernach  untreu, 
und  viele  der  Getauften  waren  später  eifrig  bemüht,  ihre 
früheren  Glaubensgenossen  für  Christum  zu  gewinnen.  Edzard 
Hess  aber  nur  denjenigen  die  Taufe  ertheilen,  welche  sich  bereit 
erklärten,  einen  bestimmten  Lebensberuf  zu  erwählen,  von  dem 
sie  sich  ernähren  konnten,  und  brachte  besonders  viele  seiner 
Proselyten  bei  der  Hamburger  Stadtwache  an. 

Sein  Sohn  Elieser  schrieb  1725  an  den  Senat  von  Ham- 
burg, dass,  „da  es  Gott  gefallen,  aus  den  allhier  getauften  Familien 
Prediger  und  andere  gelehrte  Männer,  Offiziere,  Handwerker  und 
andere  feine  Leute  hervorgehn  zu  lassen,  auch  so  viele  derselben 
im  christlichen  Glauben  bis  ans  Ende  beharrt  haben",  der  obrig- 
keitliche Schutz  dem  Werke  weiter  erhalten  bleiben  möge. 

51  Jahre  hindurch  hielt  Edzard  an  jedem  Mittwoch  und 
Sonnabend  eine  Katechismusstunde  für  die  bekehrten  Juden,    zu 


—       IIO 

der  sich  übrigens  auch  christliche  Kinder  und  Erwachsene  ein- 
fanden, und  in  seinem  Hause  war  er  für  Juden  und  Proselyten 
ebenso  wie  für  jeden  anderen,  welcher  seine  Belehrung  begehrte, 
täglich  zu  festgesetzter  Stunde  zu  sprechen. 

Aber  es  war  allerdings  zugleich  sein  Wunsch  und  Wille,  dass 
andere  es  lernen  möchten,  in  gleicher  Weise  Hand  an  die  Mission 
unter  den  Juden  zu  legen.  Und  so  ertheilte  er  denn  auch  an 
Christen  Unterricht  zu  dem  bestimmten  Zweck,  dass  sie  befähigt 
werden  möchten,  hernach  ein  Zeugniss  unter  den  Juden  abzu- 
legen. Jeden  Freitag  kamen  zu  ihm  Studenten,  um  sich  bei  ihm 
im  Rabbinischen  zu  üben,  wobei  er  dann  gewöhnlich  einen  Kom- 
mentar zum  Alten  Testamente  Michlaljophi  von  Rabbi  S  a  1  o  m  o  n 
Ben  Melech  zu  Grunde  legte.  Nachmittags  von  i  bis  4  oder 
bis  5  Uhr  kamen  Schüler,  Knaben,  Studenten,  Bürger  und  alle 
möglichen  Zuhörer,  oft  50  bis  60  mit  dem  hebräischen  Alten 
und  dem  griechischen  Neuen  Testamente,  um  Unterweisung  von 
Edzard  in  der  Schrift  aus  dem  Urtexte  zu  erhalten.  Solchen, 
die  Näheres  zu  hören  wünschten,  wurde  es  gestattet,  ihre  Fragen 
nach  den  betreffenden  Stunden  Edzard  vorzulegen. 

Aus  ganz  Deutschland,  England,  Schweden,  Norwegen, 
Dänemark,  Livland,  Finnland,  Polen,  Ungarn  und  Siebenbürgen 
strömte  man  nach  Hamburg,  um  Edzards  Unterricht  im  Rabbi- 
nischen und  seine  Anleitung  für  den  Verkehr  mit  den  Juden  zu 
gewinnen.  In  Folge  dessen  nahm  er,  der  überhaupt  ein  herrisches 
Wesen  an  sich  trug  und  sehr  heftiger  Natur  war,  die  keinen 
Widerspruch  vertrug,  leicht  den  Ton  einer  gewissen  Unfehlbarkeit 
an.  Das  schreckte  die  Leute  jedoch  nicht  ab.  Wülfer,  Danz, 
Schudt,  Hermann  von  der  Hardt,  Dassov,  Zeltner,  Dav. 
Clodius,  Tilemann,  Andr.  Rivinus,  Aug.  Pfeiffer,  Herrn. 
Muhlius,  Steph.  Masius,  Albert  von  Holten,  Heinr.  Majus, 
Hankeimann,  Gutbier,  Dedekennus,  Aug.  Herrn.  Franke 
haben  zu  seinen  Füssen  gesessen.  Spener  wies  seine  Schüler 
auf  denselben  hin  und  rieth  ihnen,  eine  Zeitlang  nach  Hamburg 
zu  gehen  und  die  Unterweisungen  von  Edzard  zu  geniessen.  Die 
Früchte  der  Anregungen,  welche  derselbe  gab,  sehen  wir  denn 
hernach  auch  überall  in  der  evangelischen  Kirche  und  nicht  bloss 
in  derjenigen  Deutschlands  zu  Tage  treten;  sie  bestanden  beson- 
ders in  einer  erhöhten  Zuversicht  für  das  Missionswerk  unter 
den  Juden. 


—     III     — 

Edzard  war  übrigens,  wie  schon  vorher  bemerkt  war,  nicht 
bloss  bestrebt,  die  Juden  zur  Erkenntniss  Christi  zu  führen,  son- 
dern auch  die  äusseren  Verhältnisse  der  Proselyten  zu  sichern; 
denn  gerade  dadurch,  dass  dies  an  den  meisten  andern  Orten 
zu  wenig  geschah,  hat  das  Missionswerk  unter  den  Juden  in  der 
früheren  Zeit  ausserordentlich  gelitten.  Während  er  also  für 
den  Unterricht,  welchen  er  erth eilte,  auch  von  wohlhabenden 
Christen  keinerlei  Entgelt  selbst  annahm,  sah  er  es  doch  gern, 
wenn  man  für  die  Proselytenkasse,  die  er  errichtet  hatte,  bei- 
steuerte. Er  selbst  legte  den  Grund  zu  derselben  durch  Schenkung 
von  200  hamburgischen  Thalern  im  Jahre  1667,  und  andere 
lieferten  zum  Theii  recht  ansehnliche  Beiträge.  Auch  Vermächt- 
nisse flössen  der  Kasse  zu,  und  ein  Kollektenbuch,  welches  die 
empfangenen  Gaben  verzeichnete,  führt  noch  heute  den  Nachweis 
über  die  eingegangenen  Gelder  und  die  Geber.  Schon  1675 
hatte  die  Kasse  eine  Jahreseinnahme  von  über  1000  Mark,  her- 
nach 2000  und  darauf  sogar  3000,  später  aber  nahm  dieselbe 
wieder  ab.  Doch  besteht  diese  Kasse  noch  heute  und  dient  den 
von  Edzard  bestimmten  Zwecken.  Nach  dem  Tode  desselben 
stand  sie  unter  seinen  Söhnen;  jetzt,  nachdem  die  Familie  Edzard 
ausgestorben  ist,  befindet  sie  sich  unter  der  Verwaltung  des  Ham- 
burger Senates,  der  sie  durch  5  Administratoren  verwalten  lässt. 
Auch  die  Kosten  für  allerlei  Missionsschriften,  z.  B.  für  einen 
Katechismus,  der  nach  Edzards  Anweisungen  für  die  Proselyten 
abgefasst  worden  ist,  wurden  aus  dieser  Kasse  bestritten. 

Der  ausserordentliche  Erfolg,  welchen  dieser  Mann  in  seinen 
Missionsbemühungen  um  die  Juden  aufzuweisen  hatte,  veranlasste, 
wie  schon  früher  erwähnt,  viele,  ihn  um  die  Methode  zu  befragen, 
die  man  anwenden  müsse,  um  die  Juden  zu  Christo  zu 
führen.  Er  antwortete  hierauf,  dass  er  keine  Methode  kenne, 
die  in  allen  einzelnen  Fällen  anzuwenden  sei,  oder  die  gewissen 
Erfolg  verspreche.  In  jenen  Fehler  der  Ueberschätzung  einer 
Methode  oder  einer  verstandesmässigen  Ueberführung  des  Men- 
schen, in  welchen  jene  Zeit  sehr  leicht  und  gern  verfiel,  ist 
Edzard  nicht  gerathen.  Aber  die  Erfahrungen,  welche  er  in 
seinem  vielfältigen  Verkehre  mit  Juden  und  in  seinen  Bemühungen 
um  die  Gewinnung  derselben  gemacht  hatte,  wollte  er  allerdings 
nicht  zurückhalten.  Er  habe,  so  erklärte  er,  bei  den  Juden  stets 
darauf  einen  besonderen  Nachdruck  gelegt,  dass  es  unmöglich 
sei,  das  Gesetz  Gottes  recht  und  nach  dem  eanzen  Ernst  seiner 


112       — 

Forderungen  zu  erfüllen,  und  eben  desshalb  auch  unmöglich,  dem 
Fluche,  welcher  auf  die  Uebertretung  des  Gesetzes  gelegt  ist,  zu 
entgehen.  Damit  habe  er  den  Juden  die  Notwendigkeit 
einer  Versöhnung  fühlbar  zu  machen  gesucht,  aber  ihnen  dann 
auch  alle  falschen  Versöhnungsmittel  zu  Schanden  gemacht  und 
ihnen  gezeigt,  dass  es  keine  andere  wahrhaft  zureichende  Ver- 
söhnung gebe,  und  auch  das  Alte  Testament  von  keiner  anderen 
wisse,  als  die  Versöhnung  durch  den  Messias.  Diesen  habe  er 
sich  hierauf  bemüht  den  Juden  aus  dem  Alten  Testamente  und 
aus  den  Schriften  ihrer  bekanntesten  alten  Lehrer  so  darzustellen, 
wie  er  von  der  christlichen  Kirche  erkannt  und  angenommen 
worden  sei.  Einen  solchen  Weg  habe  der  Apostel  Paulus  besonders 
eingeschlagen,  und  eben  darum  habe  er,  Edzard  ihn  auch  am 
liebsten  verfolgt,  um  auf  demselben  vielfach  zu  schönen  Er- 
fahrungen zu  gelangen. 

Rastlos  fuhr  Edzard  in  dieser  Arbeit  bis  an  sein  Ende 
fort  und  achtete  auch  die  zunehmende  Schwäche  nicht.  Erst  zwölf 
Tage  vor  seinem  Tode  ergab  er  sich  und  legte  sich  zu  Bett, 
am  21.  Dezember  1707.  Tag  und  Nacht  beschäftigte  er  sich  auf 
seinem  Lager  mit  dem  Worte  Gottes.  Am  30.  Dezember  Hess 
er  seine  Söhne  zu  sich  rufen ,  ermahnte  sie  an  der  Augsburgi- 
schen Konfession  und  den  übrigen  lutherischen  Bekenntnissschriften 
mit  aller  Treue  festzuhalten  und  sich  vom  lutherischen  Glauben 
durch  kein  Unglück  oder  Verfolgung  abwendig  machen  zu  lassen. 
An  demselben  Tag  Hess  er  aber  auch  die  Proselyten,  welche  in 
seinem  Unterrichte  standen,  noch  an  sein  Bett  kommen  und  er- 
mahnte sie,  im  wahren  Glauben  Zeit  ihres  Lebens  zu  bleiben, 
wobei  er  ihnen  aus  der  hebräischen  Bibel  mehrere  Sprüche  vor- 
las, welche  sie  besonders  zur  Standhaftigkeit  ermuntern  sollten. 
Am  2.  Januar  1708  starb  er  dann  in  einem  Alter  von  j6  lfa  Jahren. 
Aus  seiner  Ehe  mit  Jungfrau  Angelica  Less  stammten 
8  Söhne  und  2  Töchter.  4  Söhne  überlebten  den  Vater  und 
sind  dem  Beispiele  desselben  auch  in  seiner  Missionsarbeit  an 
den  Juden  treu  gefolgt.  Den  Geist  des  Vaters  hatte  freilich 
keiner  derselben,  und  so  vermochten  sie  auch  das  Missionswerk 
nicht  in  der  früheren  Blüthe  zu  erhalten;  die  letztere  war  vielmehr 
eine  besondere  Wirkung  der  bedeutsamen  Persönlichkeit  des 
Vaters  gewesen.  Der  älteste  Sohn  Jodocus  Pancratius  reiste 
schon  als  Student  vielfach  an  Orte,  wo  sich  eine  grössere  Zahl 
von  Juden    aufhielt    und    disputirte    mit  ihnen.     So  hat  er  unter 


—     ii3     — 

anderem  in  der  Synagoge  zu  Frankfurt  a.  M.  mit  dem  berühmten 
Rabbi  Abendana  aus  Oxford  eingehender  über  den  Glauben 
verhandelt,  und  nicht  wenige  sollen  durch  ihn  überzeugt  worden 
sein.  Eine  Universitätsprofessur  und  ein  öffentliches  Amt  schlug 
dieser  älteste  Sohn  Edzards  ebenso  wie  sein  Vater  aus,  um 
demselben  in  seinem  Hamburger  Werke  recht  behilflich  sein  zu 
können,  starb  aber  schon  vor  dem  Vater  im  Jahre   1703. 

Der  zweite  Sohn,  Georg  Elieser,  wurde  Rektor  und  der 
vierte,  Sebastian,  Professor  am  akademischen  Gymnasium  zu 
Hamburg.  Georg  Elieser  hat  z.  B.  zwei  Kapitel  des  talmudi- 
schen Traktates  Aboda  Sara  und  ebenso  Kapitel  1  des  Traktates 
Berachoth  aus  der  Gemara  ins  Lateinische  übersetzt.  Aber  diese 
wie  auch  andere  im  lutherischen  Interesse  von  ihm  verfassten 
Schriften  sind  überwiegend  polemischen  Inhalts  und  im  Tone  der 
Streitschriften  des   17.  Jahrhunderts  gehalten. 

Sebastian  trat  mehr  in  des  Vaters  Fusstapfen  und  hat 
z.  B.  im  Jahre  171 5  in  Hamburg  24  Juden,  die  er  vorher  treu- 
lich unterrichtet  hatte,  zur  Taufe  gebracht. 

Der  dritte  Sohn,  Johann  Esdras,  wurde  lutherischer  Pastor 
in  London  und  hat  daselbst  nach  dem  Zeugnisse  des  Bischof 
Kidder  gleichfalls  mehrere  Juden  getauft.  Der  letzte  Edzard 
war  ein  Enkel  Lic.  jur.  Hieronymus,  gestorben  1760. 

Hamburg  zeigte  in  jener  Zeit  überhaupt  das  lebhafteste 
Interesse  an  der  Bekehrung  der  Juden.  Seit  Pastor  Joh.  Müller 
daselbst  sein  grosses  Werk  Judaismus  detectus  geschrieben  hat, 
sehen  wir  die  dortigen  Theologen  ununterbrochen  den  Juden, 
wenn  auch  in  verschiedener  Weise,  ihre  Theilnahme  zuwenden. 
Prediger  M.  Georg  Dedekennus  gab  einen  Thesaurus  consilio- 
rum  theol.  et  juridic,  eine  Reihe  von  Gutachten,  Jena  1671,  über 
die  Verhältnisse  der  Juden  heraus.  Pastor  Balth.  Schuppius 
forderte,  dass  man  aufhöre  von  der  Kanzel  herab  mit  den  Juden 
zu  disputiren  und  dass  man  ihnen  vielmehr  ernstlich  das  christ- 
liche Zeugniss  entgegenbringe.  Die  Professoren  Hankeimann 
und  G  u  t  b  i  e  r  in  Hamburg,  von  denen  der  letztere  auch  Einiges 
über  rabbinische  Studien  erscheinen  Hess,  beförderten  Edzards 
Unternehmen  treulich.  Jo.  Christophor.  Wolf  schuf  das  grosse 
Werk:  die  Bibliotheca  Hebraea,  und  in  der  ganzen  nächsten 
Folgezeit  noch  ist  Hamburg  ein  für  Judenmissionsbestrebungen 
besonders  empfänglicher  Boden. 

J.   F.  A.  de  le  Roi,    Missionsbeziehungen.  S 


—     im     — 

d.  Die  Proselyten  dieser  Zeit  in  Deutschland. 

Recht  hervorragende  und  in  das  allgemeine  deutsche  Leben 
tiefer  eingreifende  Männer  treten  uns  unter  den  evangelischen 
Proselyten  dieses  Zeitraums  nicht  entgegen;  doch  verdienen  es 
mehrere,  mit  Achtung  genannt  zu  werden. 

Fetrus  Flegel  war  Professor  des  Hebräischen  in  Strass- 
burg,  wo  er  auch  1564  starb.  Ausser  ihm  begegnen  uns  noch 
andere  Proselyten  in  dieser  Zeit,  welche  Lehrer  des  Hebräischen 
und  orientalischer  Sprachen  an  Universitäten,  Gymnasien  oder 
in  privater  Stellung  sind.  Solche  besonders,  die  früher  Rabbiner 
gewesen  waren,  suchten  sich  in  jenem  Berufe  ihr  Brot  zu  er- 
werben, hatten  aber  vielfach  mit  kümmerlichen  Verhältnissen  zu 
kämpfen. 

Wir  nennen  hier  Lucas  H  e  1  i  c  aus  Posen,  der  Mitglied  der 
mährischen  Brüder -Unität  war  und  seiner  trefflichen  hebräischen 
Kenntnisse  halber  zur  Uebersetzung  der  Kralitzer  Bibel  um  1 5  70 
herbeigezogen  wurde.  Helic  erhielt  15 18  die  Ordination  der 
mährischen  Brüder  und  Hess  auch  seine  Predigten  drucken,  be- 
reitete aber  durch  ein  unstetes  Wesen  der  Unität  viele  Noth, 
so  dass  er  schliesslich  keine  amtliche  Stellung  in  derselben  inne 
hatte.  1598  wird  zum  letzten  Male  seiner  in  den  Akten  der 
mährischen  Brüder  gedacht. 

Johann  Adrian  aus  Emden,*)  der  1607  in  Frankfurt  getauft 
wurde,  war  Lehrer  Trotzendorfs  im  Hebräischen  und  richtete 
ein  Send-  und  Warnungsschreiben  an  die  Juden  (Wittenberg 
1609),  in  welchem  er  gegen  seine  früheren  Glaubensgenossen 
sehr  hart  auftritt. 

Michael  G ellin g,**)  geboren  1597,  getauft  16 16,  übersetzte 
in  Hamburg  1633  aus  dem  Hebräischen  zur  Widerlegung  der 
Juden  und  zur  Verbreitung  der  Wahrheit  des  dreieinigen  Gottes 
unter  ihnen  die  jüdische  Streitschrift  Chisuk  Emunah  ins  Deutsche. 
Diese  Arbeit  blieb  aber  zunächst  Manuscript.  D.  Joh.  Müller 
hat  dann  in  seinem  Judaismus  detectus  dieses  Manuscript  viel- 
fältig benutzt,  aus  seinem  Besitz  aber  ist  es  durch  Erbschaft  auf 
M.  Chr.  Ziegra  übergegangen.  Ueber  dieses  Manuscript  theilt 
dann  Wolf  in  seiner  Bibliotheca  Hebraea  4  S.  639  Ausführliches 
mit    und   bringt   hier    auch  eine  Probe  der  Gelling'schen  Ueber- 

*)  Wolf  B.H.   1,  3,  N.  809. 
**)  Wolf  B.H.  4  N.   1412  b  und  S.  639. 


—     ii5     — 

Setzung  bei.  M.  Chr.  Ziegra  hat  später  in  den  Unschuldigen 
Nachrichten  von  1753  „eine  historische  Nachricht  von  der 
Gelling'schen  Uebersetzung  des  Chisuk  Emunah"  geliefert;  und 
hier  erfahren  wir,  dass  Gelling  auch  einen  hymnus  jambicus  in 
nativitatem  Jesu  Christi  163 1  herausgegeben  hat.  Nach  Ziegras 
Mittheilungen  stand  Gelling  mit  Hugo  Grotius  in  Verbindung, 
scheint  aber,  obwohl  er  von  jenem  bedeutenden  Theologen  und 
von  anderen  Gelehrten  um  seiner  hervorragenden  Kenntnisse 
willen  geschätzt  wurde,  keine  feste  Anstellung  gefunden  zu  haben. 
Seine  späteren  Schicksale  sind  unbekannt  geblieben. 

Als  Professor  wirkte  am  Gymnasium  zu  Danzig  Johannes 
S  a  1  o  m  o.*)  Derselbe  stammte  aus  Posen  und  war  Rabbiner 
unter  den  Juden  gewesen.  1656  wurde  er,  weil  er  für  etliche 
Juden  Bürgschaft  geleistet  hatte,  die  hernach  ihren  Verpflich- 
tungen nicht  nachkamen,  ins  Gefängniss  geworfen.  Hier  hatte  auf 
seine  Bitten  Pastor  Joh.  B  o  1 1  s  a  c  mit  ihm  eingehende  Gespräche 
über  den  Glauben,  und  das  hatte  die  Folge,  dass  sich  Salomo 
nach  seiner  Entlassung  aus  dem  Gefängnisse  1657  taufen  Hess. 
Alles  dies  berichtet  Joh.  Salomonis  historia  conversionis  et  nar- 
ratio  colloquii  inter  illum  et  Bottsacum  per  Septem  congressus. 
Im  Jahre  1659  wurde  er  Professor  des  Hebräischen  am  Gymnasium 
der  Stadt  und  starb  dort  1683  im  Alter  von  60  Jahren.  Von 
ihm  werden  im  Ganzen  zehn  Schriften  erwähnt,  durch  welche  er 
die  Bekehrung  der  Juden  und  die  Kenntniss  des  Hebräischen 
unter  der  christlichen  Jugend  befördern  wollte.  Seine  confessio 
fidei  Christianae  Danzig  1656  und  1658  ist  hebräisch  und  deutsch 
geschrieben.  Bemerkenswerth  sind  sonst  seine  t,1/  Demonstrationes, 
Jesum  verum  et  aeternum  cum  Patre  et  Spiritu  Sancto  esse  Deum, 
lat.,  Frankfurt  1660.  Knapp,  logisch,  klar  und  durchsichtig  führt 
er  hier  unter  Benützung  der  jüdischen  Literatur  seinen  Beweis. 
Die  Schrift:  „Drei  Blumen  aus  dem  orientalischen  Garten",  Danzig 
1675,  ist  hebräisch  verfasst  mit  daneben  gestellter  deutscher 
Uebersetzung.  Ebenso  ist  „Zertheilte  Finsterniss"  oder  Wider- 
legung des  Buches  von  Rabbi  Saadia  Gaon  von  der  Erlösung 
und  Bekehrung  Israels  hebräisch  und  deutsch  erschienen.  Danzig 
1681.  Das  Hebräische  ist  lesbar,  seine  Art,  die  Juden  anzureden, 
eine  ebenso  ernste  als  gewinnende. 


*)  Wolf  B.H.   1,  3  N.  824.     Athenae  Gedanenses  von  Ephraim  Praetorius 
.eipzig   17 13. 


—     n6     — 

Docent  der  orientalischen  Sprachen  in  Jena  war  Ernst 
Christian  Zarfosi.*)  M.  Michael  Beck  aus  Ulm,  der  bei  ihm 
als  Student  Vorlesungen  gehört  hatte,  hat  ihn  in  einem  hebräi- 
schen und  deutschen  Gedichte  besungen:  Proselytus  genuinus. 
Als  Jude  Abraham  Sachs  genannt,  ist  er  in  Krakau  geboren 
und  war  dann  18  Jahre  hindurch  ein  recht  berühmter  Rabbi  in 
derselben  Stadt.  1668  wurde  er  in  Gotha  getauft.  Beck  rühmt, 
dass  er  sich  unter  den  Proselyten  des  Jahrhunderts  durch  seine 
Treue,  Frömmigkeit  und  Gelehrsamkeit  ausgezeichnet  habe. 
Unter  den  Juden  in  Hamburg  und  Altona  hat  er,  von  Esdras 
Edzard  und  Hankeimann  unterstützt,  mit  solchem  Erfolge  gewirkt, 
dass  sich  28  derselben  zur  Taufe  bewegen  Hessen. 

Durch  die  Bewegung,  welche  der  falsche  Messias,  Sabbathai 
Zebi,  hervorrief,  zum  Nachdenken  veranlasst,  wandte  sich  Salomo 
Ben  Meir  zum  Christenthum**)  und  wurde  1673  in  Nordhausen 
getauft;  seitdem  führte  er  den  Namen  Christophorus  Paul  Meyer. 
Er  gab  dann  zunächst  eine  Schrift:  „Jüdischer  Narrenspiegel" 
heraus,  Wittenberg  1679,  in  welcher  er  die  Erwartung  eines 
weltlichen  Messias  unter  den  Juden  geisselte.  Ausserdem  er- 
schienen von  ihm  mehrere  polemische  Schriften  gegen  die  Juden, 
welche  aber  keinen  besonderen  Werth  beanspruchen  können. 
Doch  war  er  ein  überzeugter  Christ  und  wird  als  solcher  von 
Professor  Sennert  in  Wittenberg,  Dieffenbach  und  Schudt 
gerühmt.  Auch  er  hat  sich  durch  Unterrichtgeben  im  Hebräischen 
auf  der  Universität  erhalten;  nach  16S4  hielt  er  sich  in  Witten- 
berg auf. 

Ebenso  wirkte  Fr.  Wilh.  Bock***),  früher  Rabbi  Isaak,  als 
Docent  des  Hebräischen  in  Frankfurt  a.  O.  und  hat  Abraham 
Jageis  Lekach  Tob  oder  Judenkatechismus  deutsch  in  Leipzig 
169.4  erscheinen  lassen.  Lehrer  des  Hebräischen  und  Rabbinischen 
war  gleichfalls  Christian  Leberecht  Fels.f)  1640  geboren,  wurde 
er  später  Rabbiner  in  Prag.  Als  er  sich  in  Cöthen  taufen  Hess 
und  dann  sein  bedeutendes  väterliches  Erbtheil  in  Prag  bean- 
spruchte, wollte  ihm  die  dortige  Obrigkeit  dies  nur  in  dem  Falle 
aushändigen,  dass  er  katholisch  würde.    Daraufging  Fels  aber  nicht 


*)  Wolf  B.  II.  3,  4N.  217b,  Fr.  A.  August!  in  Frommer  Proselyten  Trost, 
Erfurt  1755. 

**)  Wolf  B.  H.   1,4  N.   1899. 
**♦)  Wolf  B.  II.   1  N.   1850. 
f)  Wolf  B.  H.   1,  3  N.   1897. 


—     ii7     — 

ein  und  verlor  so  das  Seine.  Die  ersten  Jahre  nach  der  Taufe 
fand  er  kein  beständiges  Brot,  sondern  wanderte  hin  und  her, 
dasselbe  zu  suchen,  später  unterrichtete  er  an  verschiedenen  Gym- 
nasien und  Universitäten  als  Lehrer  des  Hebräischen  und  Rab- 
binischen. Um  die  Juden  von  der  Wahrheit  des  Christenthums 
zu  überzeugen,  schrieb  er  deutsch  Hodegus  Judaeorum  oder 
Wegweiser  der  Juden,  Frankfurt  und  Leipzig  1703  und  dann 
öfters.  In  diesem  Dialoge  suchte  er  die  Richtigkeit  der  christ- 
lichen Lehre  gegen  die  jüdischen  Einwendungen  aus  der  Schrift, 
den  Targumim,  Talmud  und  Rabbinen  zu  beweisen.  Auch  den 
Grafen  Günther  von  Schwarzburg  unterrichtete  er  im  Hebräi- 
schen  und  Rabbinischen  und  Hess  1697  eine  hebräische  Grammatik 
zu  Sondershausen  in  lateinischer  Sprache  unter  dem  Titel:  Bre- 
vis  et  perspicua  via  ad  linguam  sanctam  erscheinen.  Nicht  weniger 
als  32  Juden  sind  durch  ihn  zur  Annahme  des  Christenthums 
bewogen  worden.  Um  seiner  Kenntnisse  willen  erhielt  er  hernach 
die  Stelle  eines  ausserordentlichen  Professors  in  Wittenberg 
und  schrieb  hier  1700  Brevis  et  perspicua  via  ad  accentuationem. 
Durch  den  Krieg  aus  Wittenberg  vertrieben,  begab  er  sich  nach 
Verden  und  Lübeck,  wo  er  weiter  hebräischen  Unterricht  ertheilte. 
Er  starb   17 19  zu  Hamburg  im  treuen  Glauben. 

Im  17.  Jahrhundert  treffen  wir  aber  auch  die  ersten  Geist- 
lichen unter  den  protestantischen  Proselyten  an.  Einige  deutsche 
Proselyten  sind  es  gewesen,  die  zuerst  ein  Pfarramt  in  der  evan- 
gelischen Kirche  verwaltet  haben.  Der  erste  derselben  war  der 
vortreffliche  Christian  Gerson.  Wie  es  erklärlich  ist,  zog  der- 
selbe in  den  weitesten  Kreisen  der  evangelischen  Kirche  die  Auf- 
merksamkeit auf  sich,  und  sind  desshalb  auch  die  Mittheilungen 
über  denselben  recht  eingehende.*)  Männer  wie  Wagen  seil, 
J.  B.  Carpzov,  Arnold  in  seiner  Kirchen-  und  Ketzer -Historie, 
Richard  Simon,  Reimmann  u.  a.  haben  seiner  rühmend  gedacht. 

Christian  Gerson  ist  am  1.  August  1567  in  Reklinghausen 
oder  Recklichhausen  im  Kurfürstenthum  Cöln  geboren.  Der  Vater, 
Meyer  Biberach,  gab  ihm  selbst  den  Namen  Gerson.  Seine 
Jugend  hat  er  auf  verschiedenen  hohen  jüdischen  Schulen  zu- 
gebracht, worauf  er  Talmudlehrer  in  mehreren  Städten  des  west- 
lichen Deutschlands  wurde,    z.  B.  in  Frankfurt  a.  M.,    Trier  und 

*)  D.  Beckmann  über  die  Historie  des  Fürstenthums  Anhalt  7  c.  3,  339  ff. 
Schudt  Denkw.  4,  2  Forts.  294  ff.  a.  a.  Ü.  Wolf  B.  H.  1,  4  N.  1896;  4,  S.  462, 
965.     Dibre  Emeth   1879,  N.  7  —  10.      Kaikar   151. 


—     nS     — 

Essen.  Da  ihm  der  Ruf  eines  gelehrten  Mannes  voranging,  hatte 
er  stets  viele  Schüler.  1595  verheirathete  er  sich  mit  einer  Jüdin 
Bräunichen,  welche  ihm  zwei  Söhne  schenkte,  von  denen  aber 
nur  der  älteste  am  Leben  erhalten  blieb.  Ueber  seine  Verhält- 
nisse als  Jude  hat  er  selbst  in  "der  Widmung  zu  seiner  Schrift: 
„Jüdischer  Talmud"  an  Heinrich  Julius,  Herzog  von  Braun- 
schweig-Lüneburg  (Geraer  Ausgabe  vom  Jahre  1613)  nähere 
Auskunft  gegeben  und  dort  auch  seine  Bekehrungsgeschichte  er- 
zählt; in  den  neueren  Ausgaben  fehlt  diese  Widmung. 

Im  Jahre  1610  entlehnte  eine  arme  christliche  Nachbarin 
von  ihm  8  Weisspfennige  und  gab  ihm  als  Unterpfand  für  das 
geliehene  Geld  das  Neue  Testament  in  lutherischer  Uebersetzung. 
Gerson  war  begierig  die  Lehre  der  Christen  einmal  ordentlich 
kennen  zu  lernen,  um  zu  erfahren,  „was  es  doch  für  ein  kräftiger 
Irrthum  wäre,  der  so  viele  hunderttausend  Seelen,  alle  Christen 
verführt,  in  dem  sie  ja  doch  nur  die  Verdammniss  davontragen 
müssten".  Mit  seinen  beiden  Schwägern  las  er  also  unter  viel 
Spott  und  Lästern  das  ganze  Neue  Testament,  aber  ein  Stachel 
blieb  doch  in  seiner  Seele  zurück.  Besonders  war  es  ihm  auf- 
gefallen, dass  Christus  und  seine  Apostel  im  Neuen  Testamente 
sich  so  oft  auf  das  Alte  Testament  beriefen.  Darum  las  er  das 
Buch  noch  einmal  heimlich  für  sich  und  verglich  hierbei  beson- 
ders die  angeführten  alttestamentlichen  Sprüche  mit  dem  hebräi- 
schen Urtext.  „Da  fand  ich  denn  ein  solches  Licht,  dass  ich 
billig  Gott  dem  Herrn  dafür  die  Tage  meines  Lebens  zu  danken 
habe."  Besonders  das  sündliche  Verderben  des  eigenen  Herzens 
wurde  ihm  unter  diesem  Lesen  der  Schrift  offenbar. 

Seine  Gedanken  aber  durfte  er  Niemand  offenbaren  und 
gerieth  darüber  in  einen  vier  Wochen  anhaltenden  Zustand 
solcher  Angst  und  Traurigkeit,  dass  ihn  der  Schlaf  floh,  und 
alle  Speise  ihm  zuwider  wurde.  Er  selbst  erkannte  jetzt  aber, 
dass  es  so  mit  ihm  nicht  weiter  gehen  könne,  und  daher  wandte 
er  sich  nun  an  Herzog  Heinrich  von  Braunschweig,  dessen  mäch- 
tigen Schutz  gegen  die  spanischen  Soldaten  einst  die  Reckling- 
hauser  erfahren  hatten.  Dieser  Fürst  nahm  ihn  freundlich  in 
Halberstadt  auf,  liess  ihn  fast  ein  Jahr  lang  unterrichten  und  da 
er  in  dieser  Zeit  sich  bewährte,  wurde  er  am  19.  Oktober  1600 
von  Pastor  D.  Silberschlag  an  St.  Martin  in  Halberstadt  getauft. 

Gerson  hatte  aber  für  seinen  Uebertritt  viel  opfern  müssen. 
Die  Juden  hielten  ihm  all'  das  Seine  zurück  und  er  war  desshalb 


—     ii9     — 

völlig  auf  die  Wohlthätigkeit  der  Christen  angewiesen.  Doch 
griffen  ihm  fromme  Leute  unter  die  Arme  und  vom  Fürsten 
unterstützt  ernährte  er  sich  dann  durch  Privatvorlesungen  über 
die  hebräische  Sprache  in  Helmstädt.  Einem  Rufe  des  Königs 
von  Dänemark  folgend  unterrichte  er  später  auch  Studenten  in 
Kopenhagen  im  Hebräischen  und  ertheilte  hernach  selbst  noch 
in  seiner  Stellung  als  Geistlicher  bis  kurz  vor  seinem  Tode  ver- 
schiedenen Personen  hebräischen  Sprachunterricht.  Zu  seinen 
Schülern  gehörten  einige  Fürsten.  Gelehrte  Kenner  des  Hebräi- 
schen, wie  besonders  Buxtorf,  standen  mit  ihm  in  beständigem 
Verkehre,  und  jener  berühmte  Orientalist  zumal  hat  Gersons 
Kenntnisse  rühmend  anerkannt. 

Das  Schmerzlichste  war  für  Gerson  bei  seinem  Uebertritt 
gewesen,  dass  ihm  die  Juden  seinen  Sohn  geraubt  hatten;  erst 
nach  fünf  Jahren  entdeckte  er  denselben  in  Windeck  (Hanau). 
Am  8.  Dezember  1605  wurde  dann  auch  dieser  Sohn  getauft 
und  erhielt  die  Namen  Philipp  Friedrich;  auch  ein  Bruder  Gersons 
wurde  Christ  und  hiess  von  da  ab  Stephanus;  derselbe  fiel  als 
Soldat  in  den  Niederlanden.  Der  Sohn  ist  später  Kantor  in 
Koswigk  (Anhalt)  gewesen.  Gersons  Ehefrau  dagegen  wollte 
ihrem  Manne  nicht  folgen  und  so  wurde  er  1605  von  derselben 
geschieden;  auch  seine  Mutter  und  Schwester  folgten  ihm  zum 
tiefsten  Schmerz  seines  Herzens  nicht  nach. 

Seine  ungemeine  Vertrautheit  mit  der  heiligen  Schrift 
veranlasste  seine  Freunde  ihn  zu  bitten,  dass  er  sich  doch  im 
Predigen  üben  möchte.  Anfangs  wies  er  dieselben  ab,  aber  am 
Pfingstmontage  1608  liess  er  sich  bewegen,  in  dem  Magdeburgi- 
schen Bendorf  seine  erste  Predigt  zu  halten,  der  bald  andere 
folgten.  Gerson  besass  in  der  That  eine  besondere  Predigtgabe; 
seine  Schriften  zeigen  es,  dass  er  in  herzandringlichster  Weise 
und  mit  grosser  Ueberzeugungskraft  zu  reden  wusste.  Sein  Stil 
war  überdem  ein  bei  weitem  natürlicherer  und  ansprechenderer 
als  der  seiner  meisten  Zeitgenossen.  Derselbe  ist  von  der  da- 
maligen Schwerfälligkeit  und  Undurchsichtigkeit  durchaus  frei, 
und  seine  Rede  ergiesst  sich  oft  in  wohlthuendstem  Flusse.  Nur 
vortheilhaft  hat  es  auf  ihn  gewirkt,  dass  er  nicht  den  gewöhn- 
lichen Studiengang  seiner  Zeit,  welcher  so  leicht  zu  blosser 
Häufung  des  gelehrten  Wissens  in  den  Köpfen  führte,  gegangen  war. 
Selbst  den  Zeitgenossen  fiel  seine  Art  auf  und  sie  rühmten  „seine 
gute  natürliche  Methode"  und  „die  feine  Popularität  seiner  Predigt". 


—      120      — 

Durch  seine  Beredtsamkeit  machte  er  ein  solches  Aufsehen, 
dass  ihm  verschiedene  Stellen  im  Magdeburgischen  und  Halber- 
städtischen angeboten  wurden.  Da  aber  seine  Anschauungen 
über  die  Abendmahlslehre  allmählich  reformirte  geworden  waren, 
vermochte  er  in  jener  lutherischen  Gegend  nicht  ein  Amt  anzu- 
nehmen. Dagegen  schlug  er  die  reformirte  Diakonatsstelle  „Auf 
dem  Berge  vor  Bernburg"  nicht  aus  und  trat  dieselbe  nach  zurück- 
gelegter Prüfung  am  8.  März  1612  an,  später  1621  wurde  er 
Pastor  an  derselben  Kirche. 

Nach  erfolgter  Scheidung  von  seiner  jüdischen  Frau  hei- 
rathete  er  Anna  Halidt  und  überlebten  ihn  aus  der  Ehe  mit 
derselben  ein  Sohn  und  zwei  Töchter.  In  seinem  Hause  waltete 
er  als  ein  rechter  Priester  und  verweilte  am  liebsten  im  Schoosse 
der  Familie.  Sein  Amt  hat  er  mit  der  grössten  Treue  und  un- 
ermüdlichem Eifer  ausgerichtet,  der  Jugend  und  der  Kranken 
sich  noch  besonders  angenommen  und  kein  Ansehen  der  Person 
gekannt.  Mit  seiner  Umgebung  verband  ihn  aber  das  freund- 
lichste Verhältniss.  Manche  äussere  Noth,  die  ihn  traf,  trug  er 
willig,  und  den  Armen  war  er  stets  ein  hilfsbereiter  Freund. 

Für  seine  früheren  Glaubensgenossen  schlug  stets  sein  Herz. 
Er  wollte  sich  nicht,  wie  es  leider  damals  so  manche  Proselyten 
thaten,  das  Zutrauen  der  christlichen  Umgebung  durch  Schmä- 
hungen auf  die  Juden  erwerben,  sondern  vertrat  ihre  Sache  stets 
vor  den  Christen.  Treulich  vertheidigte  er  sie  z.  B.  gegen  die 
falsche  Beschuldigung,  dass  sie  Blut  von  Christen  gebrauchten. 
Aber  freilich  beschönigte  er  auch  ihre  Sünden  nicht  und  bezeugte 
den  Juden  mit  allem  Ernst,  dass  ihr  Heil  allein  in  Christo  zu 
finden  sei,  und  sie  zur  Erkenntniss  Christi  zu  führen,  war  ein 
Hauptanliegen  seines  Lebens. 

Desshalb  verfasste  er  für  seine  früheren  Glaubensgenossen 
zwei  Schriften,  von  denen  die  erste  besonders  bekannt  geworden 
ist.  Die  zweite  Schrift  „Talmudischer  Judenschatz",  d.  i.  eine 
Abhandlung  über  den  Traktat  Chelek  aus  dem  Buche  Sanhedrin 
im  vierten  Theil  der  Gemara,  Helmstädt  16 10,  brachte  eine 
deutsche  Uebersetzung  jenes  Traktates  mit  Anmerkungen.  Gerson 
wollte  hier  vorzüglich  auf  drei  Punkte  eingehen:  erstens  auf  die 
jüdische  Lehre  von  der  Rechtfertigung  des  Sünders  vor  Gott, 
zweitens  auf  die  jüdische  Lehre  von  der  Auferstehung  der  Todten 
und  drittens  auf  die  Messiaslehre  der  Juden,  welche  jener  Traktat 
besonders  ausführlich  behandelt.     Dabei  wollte  Gerson  den  Juden 


—       121       — 

ihre  Irrthümer  nachweisen  und  den  jüdischen  Anklagen  gegen 
Jesum  entgegentreten. 

Noch  bekannter  aber  ist  seine  erste  Schrift:  „Des  jüdischen 
Talmud  fürnehmster  Inhalt  und  Widerlegung"  geworden.  Die- 
selbe erschien  zuerst  in  Goslar  1607,  die  zweite  und  dritte  Auf- 
lage in  Gera  161 3  und  161 8,  und  1668  eine  sechste  Auflage  in 
Leipzig.  Eine  dänische  Uebersetzung ,  die  aber  Manuscript 
geblieben  ist,  verfertigte  Th.  Broderus  Bircherodius,  während 
nach  Richard  Simon  eine  französische  Uebersetzung  von  einem 
gewissen  Helvetius  angefertigt  durch  Schuld  des  Buchdruckers 
verloren  gegangen  sein  soll. 

Dieser  jüdische  Talmud  zerfallt  in  zwei  Theile,  von  welchen 
der  erste  „die  ganze  jüdische  Religion  und  falschen  Gottesdienst 
beschreibt"  und  der  zweite  „beides  durch  die  Schrift  des  Alten 
Testaments  und  den  Talmud  selbst  gründlich  widerlegt." 

In  der  Vorrede  lässt  sich  Gerson  darüber  aus,  wie  verkehrt 
vielfach  das  Verfahren  von  Päpsten  und  Fürsten  gewesen  wäre, 
die  Juden  zu  Christo  zu  führen.  Geistliche  und  Gelehrte  hätten 
oft  die  Juden  literarisch  überwinden  wollen,  aber  in  nicht  wenigen 
Fällen,  ohne  die  Literatur  der  Juden  recht  zu  kennen,  oder  so, 
dass  sie  dieselbe,  wie  z.  B.  die  Geheimlehre  der  Kabbala,  aus 
der  alles  mögliche  zu  beweisen  sei,  falsch  venverthet  hätten. 
Nicht  weniger  unzureichend  sei  auch  gewöhnlich  die  Weise  des 
Disputirens  mit  den  Juden  und  dies  und  ähnliches ;  besonders 
aber  habe  das  gewaltsame  Verfahren  gegen  die  Juden  ihrer  Be- 
kehrung stets  im  Wege  gestanden. 

Darum  wolle  er  nun  Vorschläge  machen ,  wie  das  Werk 
besser  anzugreifen  sei.  Die  Obrigkeit  solle  dafür  sorgen,  dass 
den  Juden  an  passenden  Orten  das  Evangelium  rein  aus  Gottes 
Wort  verkündigt  werde,  und  Geistliche  und  Gelehrte  sollten  nach 
Luthers  Rath  mit  den  Juden  „säuberlich  umgehen".  Weil  jedoch 
die  Juden  kaum  eine  Ahnung  vom  christlichen  Glauben  hätten, 
so  wolle  er  ihnen  nun  einmal  denselben  darstellen,  zuerst  aber 
ihnen  das  Bild  ihres  eigenen  Glaubens  vor  Augen  halten;  und 
dies  thut  er  dann  in  den  beiden  oben  erwähnten  Theilen,  in  37 
Kapiteln  auf  283  und  in  19  Kapiteln  auf  210  Oktavseiten. 

Der  jüdische  Glaube  wird  hier  mit  dem  ganzen  Ernste 
eines  Mannes,  welcher  die  Verderblichkeit  des  jüdischen  Systems 
an  sich  selbst  erfahren  hatte,  aber  dabei  doch  ohne  Bitterkeit 
und  Gehässigkeit  und  mit   dem  Bestreben,    seine  Volksgenossen 


—       122       — 

zur  Schrift  zurückzurufen,  dargestellt.  Ungemein  ergreifend  ist 
dann  aber  der  Schluss,  welcher  ein  wahrhaft  paulinisches  Zeug- 
niss  genannt  werden  muss  und  es  in  überwältigender  Weise  zu 
Tage  treten  lässt,  wie  sehr  Gerson  um  das  Seligwerden  seines 
Volkes  gerungen  hat.  Den  mächtigsten  Eindruck  macht  hierbei 
auch  sein  eigenes  christliches  Glaubensbekenntniss ,  das  er  in 
zwölf  Artikeln  aus  dem  Alten  Testamente  aufstellt  und  besonders 
die  Beschreibung  dessen,  was  ihm  Christus  ist  und  allem  gegen- 
über, das  ihn  irre  machen  oder  schrecken  wollen  würde,  blei- 
ben soll. 

Seit  der  Apostel  Tagen  hat  wohl  kaum  ein  Jude  ein  solches 
Bekenntniss  zu  Christo  abgelegt,  wie  es  in  diesen  Schlussworten 
des  jüdischen  Talmud  von  Gerson  enthalten  ist  „Es  soll  dieses 
Bekenntniss  mein  Testament  und  letzter  Wille  sein,  ob  ich  schon 
heute  oder  morgen  in  meinem  Haupte  irre  werden  oder  eines 
jähen  Todes  sterben  sollte",  hatte  Gerson  hier  geschrieben,  und 
dieses  letztere  ist  an  ihm  in  Erfüllung  gegangen.  Als  er  den 
25.  September  1622  von  der  Trauung  der  Tochter  eines  Predigers, 
der  ihn  um  die  Einsegnung  seines  Kindes  gebeten  hatte,  am 
Abend  zurückkehrte,  gerieth  sein  roher  Knecht  mit  anderen 
Kutschern  in  Streit  und  lief  schliesslich  davon.  Die  Pferde, 
bereits  unruhig  geworden,  rasten  nun  in  der  Dunkelheit  mit  dem 
Wagen  vorwärts  den  Berg  herab  und  in  den  Fluss  hinein.  Die 
Dunkelheit  der  Nacht  verhinderte  es,  dass  man  dem  Prediger, 
welcher  aus  dem  Wagen  gefallen  war,  zu  Hilfe  kam  und  so  er- 
trank er.  Superintendent  Konrad  Reinhardt  hielt  ihm  die 
Leichenpredigt.  Bei  dem  Begräbniss  that  sich  eine  ungewöhn- 
liche Theilnahme  kund,  und  nur  die  Juden  waren  froh;  denn 
triumphirend  riefen  sie  aus,  dass  Gott  den  Abtrünnigen  vor  aller 
Welt  habe  strafen  wollen. 

Gerson  erreichte  ein  Alter  von  über  55  Jahren  und  war 
über  10  Jahre  im  Pfarramt.  Sein  Andenken  hat  die  Missions- 
geschichte verdientermaassen  wohl  bewahrt.  Er  hat  aber  auch 
in  würdigster  Weise  jene  grosse  Zahl  von  Geistlichen,  die  nun 
allgemach  der  evangelischen  Kirche  aus  jüdischen  Proselyten  er- 
wachsen sind,  eröffnet.  Seine  Schriften  haben  zum  inneren  Ver- 
ständniss  des  talmudischen  Judenthums  nicht  wenig  beigetragen 
und  sind  auch  heute  noch  des  Lesens  werth.  Viele  Christen 
haben  es  jedesfalls  bezeugt,  dass  Gersons  Schriften  in  ihnen  den 
Sinn  für  die  Judenmission  geweckt  hätten. 


—     123     — 

Der  zweite  evangelische  Geistliche  aus  der  Zahl  der  bekehrten 
Juden  ist  Victorin  Christophorus  Brinz  oder  Brenz.*)  Der 
Vater  desselben  war  jener  bekannte  Sam.  Fr.  Brenz,  früher  Low, 
der  1601  mit  Frau  und  Kindern  zu  Feuchtwangen  getauft  wurde 
und  der  dann  in  Nürnberg  161 4  den  „Jüdischen  abgestreiften 
Schlangenbalg",  eine  Schmähschrift  gegen  die  Juden  erscheinen 
liess,  auf  welche,  wie  früher  bereits  erwähnt,  Rabbi  Salman  Zebi 
mit  der  Gegenschrift  Theriaca  Judaica  in  jüdisch-deutscher  Schrift 
antwortete,  Hannover  161 5.  Der  älteste  Sohn  dieses  Brenz  nun 
war  1595  geboren  und  erhielt  als  sechsjähriger  Knabe  die  Taufe, 
bei  welcher  Gelegenheit  er  für  den  früheren  Namen  die  Tauf- 
namen David  Victorin  Christophorus  empfing.  Der  Graf  von 
Oettingen  liess  ihn  in  der  Lateinschule  zu  Feuchtwangen  unter- 
richten, später  erhielt  er  eine  Freistelle  in  der  Fürstenschule  zu 
Heilsbronn  vom  Markgrafen  Joachim  Ernst.  Nach  Vollendung 
seiner  Studien  wurde  er,  24  Jahre  alt,  im  Jahre  16 19  an  der- 
selben Schule  als  unterster  Lehrer  angestellt  und  heirathete  hier- 
selbst.  1624  wurde  er  dann  Pfarrer  zu  Untermichelbach.  Sein 
Einkommen  für  die  ganze  Familie,  die  jetzt  ausser  der  Frau 
6  Kinder  zählte,  betrug  nur  150  Thaler.  Dabei  traf  ihn  ein 
Schlag  über  den  anderen,  und  endlich  kamen  noch  die  Drang- 
sale des  dreissigjährigen  Krieges  hinzu,  während  dessen  er  öfters 
von  bigoten  Katholiken  ermordert  werden  sollte.  Seine  Frau 
musste  sich  einmal  fünf  Tage  nach  ihrer  Entbindung  vor  den 
wilden  Soldatenhorden  flüchten. 

Seine  Lage  verschlimmerte  sich  aber  wo  möglich  noch,  als 
er  163 1  nach  Auernheim  versetzt  wurde.  Das  Elend,  welches 
Brenz  sammt  den  Seinen  in  diesem  und  dem  nächsten  Jahre 
bald  durch  die  Kaiserlichen,  bald  durch  die  Schweden  zu  erleiden 
hatten,  spottet  jeder  Beschreibung.  Seine  Pfarrei  konnte  ihn 
schliesslich  nicht  mehr  ernähren.  Desshalb  wies  man  ihm  auch 
noch  Hechlingen  zu,  wo  er  aber  die  Versorgung  der  zehn  Kinder 
des  auf  der  Flucht  verstorbenen  früheren  Pfarrers  mit  über- 
nehmen musste.  Seine  Frau  war  der  Noth  dieser  Drangsalszeit 
erlegen,  er  heirathete  wieder,  und  die  Zahl  seiner  Kinder  belief 
sich  zuletzt  auf  neun.  1636  bezog  er  für  seine  beiden  Pfarreien 
nur  sechs  Gulden  und  so  war  er  genöthigt,  sich  auf  Bauernarbeit 
zu  verdingen.     1642  endlich  besserte   sich    seine  Lage.     Helden- 


f)  Saat.     Ostern   1866  S.    17  ff.     Kaikar   174. 


—       124      — 

haft  hatte  er  ausgehalten,  denn  sein  starker  Glaube  hatte  ihm 
die  Kraft  hierzu  gegeben.  Die  Anstrengungen,  welche  ihm  jedoch 
auch  noch  jetzt  zugemuthet  wurden,  denn  er  musste  zuletzt  sieben 
Pfarreien  verwalten,  untergruben  seine  Gesundheit;  am  22.  Ok- 
tober 1642  starb  er  47  Jahre  alt,  mit  Hinterlassung  einer  Wittwe 
und  neun  Kindern.  Sein  Nachfolger  Zwinger  heirathete  die 
Wittwe  und  wurde  ihr  und  ihrer  Kinder  Versorger.  Dieses  zweiten 
unter  den  evangelischen  Predigern  Deutschlands,  welche  Prose- 
lyten  waren,  hat  die  Judenmission  ebenso  alle  Ursache  zu  ge- 
denken, weil  sich  sein  Glaube  unter  den  schwersten  Stürmen 
bewährt  hat. 

Der  dritte  der  Proselyten  im  evangelischen  Pfarramte  Deutsch- 
lands war  M.  Georg  Philipp  Lichtenstein.*)  Derselbe  stammt 
aus  Frankfurt  a.  M.,  wo  er  am  26.  März  1606  geboren  ist.  Als 
Jude  hiess  er  Süsskind  Mayer  oder  Meyer.  Der  Vater  war 
durch  seine  Geschäftsbeziehungen  mit  vielen  frommen  Christen 
in  Verbindung  getreten.  Besonders  die  Gottesfurcht  eines  christ- 
lichen Kaufmannes  machte  auf  den  Vater  einen  grossen  Eindruck, 
aber  auch  christliche  Lieder  drangen  demselben  tief  ins  Herz. 
Darüber  erwachte  in  jenem  Manne  der  Gedanke  Christ  zu  werden, 
aber  seine  Frau  wollte  von  einem  solchen  Schritte  nichts  wissen; 
und  als  es  nun  zur  Entscheidung  kam,  trennte  sie  sich  von  ihrem 
Manne.  Sie  nahm  bei  dieser  Gelegenheit  ihren  jüngsten  Sohn 
Süsskind  mit  sich,  und  erst  obrigkeitliches  Einschreiten  verhalf 
dem  Vater  wieder  zu  seinem  Sohne.  Am  31.  Dezember  1606 
wurde  dann  Meyer  mit  drei  Kindern  getauft.  Der  Vater  erhielt 
die  Namen  Johann  Daniel  Lichtenstein  und  der  jüngere  Sohn 
hiess  fortan  Georg  Philipp.  Der  letztere  empfing  mit  Bewilligung 
des  Vaters  seine  Erziehung  bei  einem  Prediger,  von  dessen  Hause 
aus  er  auch  die  Schule  besuchte.  1623  verliess  er  das  Gym- 
nasium mit  dem  Zeugnisse,  dass  er  ein  wahres  Muster  eines  in 
allen  Stücken  willigen  und  gehorsamen  Schülers  gewesen  sei. 
Hierauf  bezog  er  mehrere  Universitäten  und  zeichnete  sich  ebenso 
sehr  durch  seine  hebräischen  Kenntnisse  als  durch  seine  Predigt- 
eabe  aus. 


*)  Spener,  Leichenpredigten  2,  254  ff.  Schudt,  Denkw.  2b.  123  ff.,  4, 
292  ff.  Fr.  Alb.  Augusti  in  „Frommer  Proselyten  Trost  und  Ermunterung  zur 
Glaubensbeständigkeit".     Dibre  Emeth   1880,   S.   52  ff.     Kaikar   153. 


—     125     — 

Nach  der  Universität  erhielt  er  sogleich  mehrere  ehrenvolle 
Berufungen  zum  Predigtamte.  Der  schwedische  General  Graf 
Gustav  Hörn  begehrte  ihn  zum  Hofprediger,  aber  diese,  wie 
andere  Stellungen  schlug  er  aus,  um  seiner  Vaterstadt  zu  dienen. 
1634  erhielt  er  denn  auch  eine  Predigerstelle  in  Frankfurt  a.  M. 
und  verheirathete  sich  in  demselben  Jahre.  In  seiner  Ehe  wurden 
ihm  vier  Söhne  und  drei  Töchter  geboren,  von  denen  ihn  jedoch 
nur  eine  Tochter  überlebte.  Seine  erste  Anstellung  fand  er  am 
Hospital,  wo  er  sich  in  aufopferndster  Weise  der  Kranken  an- 
nahm; zumal  in  der  Pestzeit  hat  er  mit  ausserordentlicher  Selbst- 
verleugnung seine  seelsorgerischen  Pflichten  erfüllt.  „Er  hat 
wohl  neben  einem  Todten  oder  auf  einem  solchen  gekniet,  um 
einem  in  den  letzten  Zügen  Liegenden  das  Abendmahl  zu  reichen 
und  den  Sterbenden  mit  dem  Verdienste  des  Herrn  Jesu  zu 
trösten."  Mit  derselben  Sorgfalt  nahm  er  sich  der  Gefangenen 
an,  und  die  Armen  fanden  in  ihm  einen  förmlichen  Vater.  Er 
war  dann  an  verschiedenen  Kirchen  Frankfurts  angestellt,  zuletzt 
an  der  Barfüsser  Kirche,  und  erkrankte  14  Tage  vor  seinem  Ende 
auf  der  Kanzel.  Am  6.  Februar  1682  starb  er  im  Alter  von 
75  Jahren  nach  ^8jähriger  Amtsführung:  „ein  Licht,  das  sich 
selbst  verzehrte",  wie  der  ihm  gewidmete  Nachruf  sagt. 

Der  Juden  hat  er  stets  in  Liebe  und  Treue  gedacht,  nicht 
weniger  als  22  derselben  hat  er  unterrichten  und  taufen  dürfen. 
Selbst  ein  Spener  hat  ihn  um  seines  christlichen  Charakters  und 
seiner  ausgezeichneten  Amtsführung  willen  sehr  hoch  gestellt. 

Als  erste  Pfarrfrau  aus  der  Reihe  der  getauften  Jüdinnen 
wird  die  Frau  des  ersten  evangelischen  Geistlichen  im  Thüringi- 
schen Roda  mit  Namen  Wilhelm  Köhler  (bis  1565)  genannt. 
Näheres  war  über  dieselbe  aber  nicht  zu  ermitteln,  und  gibt  hier 
auch  die  Chronik  von  Roda  keine  weitere  Auskunft. 

Unter  den  Proselyten  jener  Zeit  befindet  sich  auch  ein 
Arzt  Wilhelm  Fortunat  us,*)  welcher  durch  das  Studium  des 
Neuen  Testamentes  zur  christlichen  Erkenntniss  gekommen  war. 
Er  wurde  1639  im  Badischen  getauft  und  hat  dort  hernach 
seinem  ärztlichen  Berufe  gelebt. 

Für  viele  der  damaligen  Proselyten  war  ihr  Christenstand 
ein  fortwährendes  Martyrium,  weil  es  unter  den  Verhältnissen 
jener  Zeit  sehr  schwer   fiel,   dieselben,    die  ja    meist   in   reiferen 


*)  Wolf  b.h.  1  N.  564. 


—       126      — 

Jahren  zum  Christenthum  übertraten,  noch  in  eine  Lebensstellung 
zu  bringen,  in  welcher  sie  sich  ohne  grosse  Sorge  den  Lebens- 
unterhalt erwerben  konnten. 

Es  ist  daher  auch  ein  Beweis  lauterer  und  hoher  Frömmig- 
keit, wenn  manche  derselben  unter  allem  Drucke  der  Armuth 
trotzdem  ihres  Glaubens  froh  blieben.  Männer  dieser  Art  ver- 
dienen es  in  Wahrheit,  nicht  weniger  genannt  zu  werden,  als 
solche,  welche  zu  einer  hervorragenden  Stellung  gelangt  sind 
oder  sich  durch  Gelehrsamkeit  bekannt  gemacht  haben.  In  ihrer 
Zeit  sind  denn  auch  etliche  derselben  eine  lebendige  Predigt 
und  ein  Beweis  für  viele  in  ihrer  Umgebung  geworden,  dass 
Juden  wahrhaft  zu  Christo  bekehrt  werden  können. 

Unter  den  hier  zu  erwähnenden  hat  sich  besonders  die 
Achtung  weiter  christlicher  Kreise  Mayer,  der  Sohn  Arons  zur 
goldenen  Leiter,  der  als  Christ  Joh.  Bleib  treu  hiess,  erworben.*) 
Er  hat  seine  Lebensgeschichte  in  einer  kleinen  Schrift:  „Der  er- 
leuchtete Mayer",  Frankfurt  a.  M.  1687,  selbst  beschrieben.  Schon 
den  fünfzehnjährigen  Knaben  bewegte  es  tief,  als  er  einst  bei 
der  Frankfurter  Peterskirche  vorübergehend  das  Lied  „Aus 
tiefer  Noth  ruf  ich  zu  dir"  singen  hörte.  Hernach  hat  ihn  der 
Umgang  mit  einem  christlichen  Bürger  der  Stadt,  der  oft  zu 
ihm  in  erbaulicher  Weise  über  Glaubenssachen  redete,  weitere 
Veranlassung  zum  Nachdenken  gegeben.  Er  lieh  sich  darum 
auch  das  Neue  Testament  von  einem  anderen  Juden,  der  es  im 
Geheimen  viel  las.  Bleibtreus  Schwiegervater  war  gleichfalls 
neugierig  gewesen,  das  Neue  Testament  kennen  zu  lernen,  und 
hatte  den  Schwiegersohn  aufgefordert,  sich  dasselbe  zu  ver- 
schaffen. Diesem  Manne  und  ebenso  seinem  früheren  Schwieger- 
vater las  er  dann  aus  dem  Evangelio  vor.  Als  er  aber  an  die 
Stelle  in  Lukas  19  kam,  wo  von  den  Thränen  geredet  ist,  die 
Jesus  über  Jerusalem  geweint  hat,  und  wie  derselbe  hernach  die 
Käufer  und  Verkäufer  mit  den  Worten  „mein  Haus  ist  ein  Bet- 
haus, ihr  aber  habt  es  zu  einer  Mördergrube  gemacht"  aus  dem 
Tempel  trieb,  äusserte  der  eine  der  beiden  Schwiegerväter:  „Ich 
finde  nichts  Böses  in  diesem  Buche  und  habe  mein  Lebtag  nicht 
geglaubt,  dass  so  köstliche  Sachen  darin  stünden".  Durch  diese 
Worte  wurde  der  andere  in  eine  solche  Wuth  versetzt,  dass  er 
das  Buch  ergriff  und  es  hinter  den  Ofen  warf,  den  Alten  bitter 


*;  Schudt  2  b.   124  ff.  und  öfters.     Wolf  B.H.   i,  3  N.   1834. 


—     127     — 

scheltend,  dass  er  den  jungen  Mann  durch  seine  Worte  verführen 
werde,  an  die  Fabeln  des  Neuen  Testamentes  zu  glauben. 
Bleibtreu  hob  das  Buch  unter  dem  Vorgeben  auf,  dass  er  es 
verbrennen  wolle,  damit  es  nicht  in  die  Hände  eines  Kindes 
käme,  verbarg  es  aber  unter  dem  Holz  und  las  in  der  Nacht 
darüber,  ohne  selbst  seiner  Frau  etwas  hiervon  zu  sagen.  Er 
verglich  aber  bei  seiner  Lektüre  fortwährend  das  Neue  mit  dem 
Alten  Testamente  und  trieb  das  so  Jahr  und  Tag.  1681  endlich 
verliess  er  die  Judenschaft  und  bat  um  den  christlichen  Unter- 
richt. Seine  Frau  folgte  ihm  nicht;  sein  einziges  Söhnlein  wollte 
dieselbe  ihm  auch  vorenthalten,  und  die  Obrigkeit  musste  ihm 
dasselbe  mit  Gewalt  ausliefern.  Am  20.  Juli  1681  wurde  er 
getauft  und  mit  ihm  sein  Sohn  Johann  Wilhelm. 

Bleibtreu  war  hernach  mit  den  Frankfurter  Geistlichen 
herzlich  befreundet.  Schudt  pflegte  mit  ihm  vertrauteren  Um- 
gang, Spener,  Mitternacht  und  Arcularius  haben  in  der 
Vorrede  zu  seiner  Lebensgeschichte  die  ehrendsten  Zeugnisse 
über  ihn  abgelegt,  ebenso  auch  Dieffenbach  und  andere  in 
ihren  Schriften.  Die  Juden  waren  über  seine  Bekehrung  ausser- 
ordentlich erbittert  und  verfolgten  ihn  auf  die  gemeinste  Weise. 
Er  hingegen  kannte  nur  die  Sorge,  sie  zur  Nachfolge  zu  reizen, 
und  vergalt  ihnen  nie  Gleiches  mit  Gleichem.  1702  starb  er, 
aber  noch  unmittelbar  vor  seinem  Tode  rief  er  dem  anwesenden 
Prediger  zu  „ich  bleibe  treu". 

Der  Sohn  Bleibtreus  wurde  zuerst  Theolog,  hat  dann  aber 
in  Leipzig  als  Arzt  promovirt  und  wurde  später  ein  geschickter 
Arzt  in  Gellnhausen,  starb  aber  daselbst  mit  Hinterlassung  dreier 
Söhne  bereits  1 7 1 1 .  Während  seiner  Gymnasialzeit  in  Frankfurt 
sah  ihn  einst  seine  jüdisch  gebliebene  Mutter  auf  der  Strasse 
und  wollte  ihm  Geld  geben,  er  aber  entgegnete  ihr  ernst,  dass 
er  sie  erst  als  seine  Mutter  erkennen  würde,  wenn  sie  an  Jesum 
glauben  würde. 

Aehnlich  wie  auf  Bleibtreu  wurde  mit  Vorliebe  auf  Ernst 
Ludwig  Darmstädter  hingewiesen,*)  über  den  Diakonus  Caspar 
Hornig  in  Breslau  171 3  eine  kleine  Schrift:  „Gestillte  Sehnsucht 
eines  wahren  Israeliten  nach  dem  himmlischen  Jerusalem"  er- 
scheinen Hess.  Der  Sohn  eines  gelehrten  Juden,  wurde  er  auf 
seinen  Reisen  am  Rhein  in  einem  Dorfe  krank,    während    dieser 


•)  Wolf  B.H.  3  N.  216  b. 


—       128       — 

Krankheit  von  dem  Pastor  des  Dorfes  besucht  und  zur  Erkennt- 
niss  Christi  geführt.  1680  erhielt  er  in  Darmstadt  die  Taufe. 
Um  Juden,  die  ihn  schmähten,  zu  zeigen,  dass  es  ihm  mit 
dem  Christenthum  Ernst  wäre,  enthielt  er  sich  einmal  mehrere 
Tage  aller  Speise  und  hinterliess  durch  sein  ganzes  Wesen  bei 
manchen  derselben  einen  tiefen  Eindruck.  Obwohl  er  kein 
studirter  Mann  war,  wurde  es  ihm  wegen  seiner  lauteren  Fröm- 
migkeit einige  Male  gestattet  in  Kirchen  zu  predigen.  Die  letzten 
Jahre  seines  Lebens  brachte  er  in  Breslau  zu  und  wurde  hier 
nach  seinem  Ableben  auf  Kosten  des  Kirchencollegiums  bei 
St.  Barbara  feierlich  beerdigt. 

Sehr  häufig  erschienen  in  dieser  Zeit  Predigten,  welche  bei 
der  Taufe  von  Juden  gehalten  worden  waren,  nachdem  man 
schon  früher  zuweilen  solche  Zeugnisse  durch  den  Druck  ver- 
öffentlicht hatte.  In  dieser  Periode  tragen  dieselben  meistens 
einen  gelehrten  Charakter  und  versuchen  die  Richtigkeit  des 
Christenthums  exegetisch  klarzulegen;  ein  recht  das  Herz  an- 
sprechender Ton  ist  durchaus  nicht  die  Regel.  Vielfach  ist  den 
Predigten  ein  Katechismusexamen  angefügt,  das  mit  den  Tauf- 
kandidaten vor  der  Versammlung  veranstaltet  wurde  und  das 
oft  mehrere  Stunden  in  Anspruch  genommen  haben  muss.  Diese 
Predigten  und  diese  Prüfungen  lassen  es  uns  erkennen,  in  welcher 
Weise  die  Vorbereitung  der  Katechumenen  für  die  Taufe  und 
ihr  nachheriges  Christenleben  geschah.  Wir  ersehen  aus  den- 
selben aber,  dass  man  es  ganz  überwiegend  auf  die  Erzielung 
eines  bestimmten  religiösen  Wissens  ablegte  und  dass  man  eine 
innere  Herzensdurchbildung  bei  Weitem  nicht  in  dem  gleichen 
Grade  erstrebte.  Je  schwerer  es  aber  damals  den  Proselyten 
gemacht  war,  im  bürgerlichen  Leben  zu  bestehen,  desto  wichtiger 
wäre  es  gewesen,  dass  sie  für  den  Kampf  des  Lebens  recht  aus- 
gerüstet worden  wären.  Hieran  hat  man  es  offenbar  vielfach 
fehlen  lassen,  und  diese  Aufgabe  zu  erfüllen  war  auch  nur  die 
kleinere  Zahl  der  Theologen  jener  Zeit  im  Stande. 

Und  nun  trugen  eben  die  äusseren  Umstände  sehr  viel 
dazu  bei,  dass  oft  die  Proselyten  dieses  Zeitraumes  nicht  recht 
gedeihen  wollten.  Die  sociale  Verfassung  der  Judenschaft  war 
ja  eine  völlig  innormale.  Von  der  christlichen  Gesellschaft  war 
sie  ausgeschlossen,  in  die  bürgerlichen  Corporationen  durfte  sie 
nicht  eintreten,  eine  ständische  Gliederung  wie  unter  den  Christen 
gab  es  in  ihrer  Mitte  auch  nicht.     Die    kleinste  Zahl    der  Juden 


—     129     — 

nährte  sich  von  einem  der  wenigen  Handwerke,  die  ihnen  noch 
gestattet  waren,  der  grösste  Theil  dagegen  lebte  von  den  ver- 
schiedensten Formen  des  Schachers.  Ein  ziemlich  ansehnliches 
Contingent  erhielt  sich  vom  Unterrichtgeben  in  den  jüdischen 
Wissenschaften  oder  diente  der  Synagoge.  Mit  dem  Uebertritt 
zum  Christenthum  hörte  so  für  die  allermeisten  die  Möglichkeit 
auf,  sich  in  der  bisherigen  Weise  weiter  zu  erhalten.  Die  bürger- 
lichen Thätigkeiten  der  Christen  aufzunehmen,  fiel  dann  den  meisten 
Proselyten  ungemein  schwer.  Denn  auch  viele  von  denen,  die 
ihr  Alter  daran  nicht  hinderte,  liess  die  nun  schon  Jahrhunderte 
lang  andauernde  Entwöhnung  ihres  Stammes  von  der  gewöhn- 
lichen bürgerlichen  Beschäftigung  der  anderen  und  die  ererbte  Un- 
ruhe des  jüdischen  Wesens  nicht  zu  einer  Stetigkeit  in  ihren 
Beschäftigungen  kommen,  selbst  wenn  sie  unter  grossen  Opfern 
den  entscheidenden  Schritt  des  Uebertritts  zum  Christenthum 
vollzogen  hatten. 

Den  Christen  aber  und  zwar  auch  den  evangelischen  fehlte 
es  im  Allgemeinen  an  der  rechten  Geduld  mit  diesen  Proselyten, 
und  ebenso  fühlte  man  die  Pflicht,  die  Neugewonnenen  dem 
übrigen  Organismus  in  gesunder  Weise  einzugliedern  zu  wenig, 
oder  man  scheute  die  Mühe  und  Arbeit,  welche  das  kostete. 
Für  die  Anfangszeit  der  evangelischen  Kirche,  welche  gleichfalls 
den  Proselyten  nur  geringe  Fürsorge  zuwandte,  mag  man  das 
Werdende  in  allen  Verhältnissen  derselben  und  ihre  Ueberhäufung 
mit  der  mannigfaltigsten  Arbeit  als  Erklärungsgrund  gelten  lassen. 
Für  die  Erziehung  der  Gemeinden  that  man  damals  ja  überhaupt 
nur  wenig.  Und  ebenso  hat  man  ein  Recht,  für  die  erste  Hälfte 
des  zweiten  Zeitraumes  auf  die  Kämpfe  mit  der  katholischen 
Kirche,  die  alle  Kräfte  in  Anspruch  nahmen,  und  auf  die  Nöthe 
des  Krieges  hinzuweisen;  aber  in  der  hierauf  folgenden  Zeit  hätte 
man  der  Aufgabe,  welche  man  an  den  Proselyten  zu  erfüllen  hatte, 
näher  treten  müssen. 

Selbst  Männer,  welche  den  Juden  sehr  ernst  und  oft  hart 
gegenüberstanden,  erkannten  dieses  Gebrechen  an.  Johann 
Müller  bekennt:  „Man  nimmt  sich  der  Juden  nicht  recht  an  mit 
Unterhalt  und  Nahrung,  wenn  sie  bekehrt  sind;  dadurch  werden 
ihrer  viele  abgeschreckt  und  zurückgehalten".  Ebenso  Joh.  Bene- 
dict Carpzov:  „Man  klagt  über  die  Unbeständigkeit  der  getauften 
Juden,  aber  wir  Christen  sind  vielfach  selbst  Schuld  daran  und 
werden  es  schwer  vor  Christi  Richterstuhl  zu  verantworten  haben. 

F.  J.  A.  de  le   Roi,   Missionsbeziehungen.  q 


—     130    — 

Sobald  sich  ein  Jude  zur  christlichen  Religion  bekehrt,  sobald  ist 
er  von  seinem  Vater,  Mutter,  Geschwistern  und  allen  Anverwandten 
und  Freunden  verlassen  und  hat  sich  ferner  nicht  der  geringsten 
Hilfe  bei  ihnen  zu  vertrösten.  Unter  uns  Christen  wird  er  nicht 
also  fort  zu  einem  Amt  gezogen,  in  welchem  er  sein  ehrliches 
Auskommen  habe:  kein  Handwerk  hat  er  erlernt,  damit  er  sich 
ernähre.  Wie  versorgen  wir  ihn?  Wir  lassen  ihn  bettelngehen 
und  fahren  ihn  doch  wohl  noch  statt  des  Almosens  mit  viel 
harten  Worten  übel  an.  Wenn  nun  ein  solcher  Christengenosse 
noch  nicht  genug  in  Christi  Kreuzesschule  geübt  ist,  was  ist's 
Wunder,  wenn  er  in  seinem  Hunger  und  Kummer  über  der 
Christen  Unbarmherzigkeit  verzweifelt  und  wiederum  abfällt!" 
Selbst  Eisen  menger  klagt  darüber  bitter,  „dass  man  die  Prose- 
lyten  in  grosser  Armuth  und  Dürftigkeit  stecken  lässt  und  um 
ihre  Versorgung  wenig  bekümmert  ist". 

Briefe,  in  denen  man  den  Proselyten  bescheinigte,  dass  sie 
getauft  seien  und  sie  der  Mildthätigkeit  der  Christen  empfahl, 
waren  ausser  dem  einmaligen  Pathengeschenk  bei  der  Taufe  oft 
das  einzige,  womit  man  die  Neubekehrten  ausstattete  und  sie  so, 
anstatt  sie  von  vorn  herein  in  eine  ruhige,  geordnete  Thätigkeit 
hineinzuweisen,  auf  den  Weg  des  Bettels  verwies.  Dass  dann 
solche  Personen  häufig  an  Leib  und  Seele  Schiffbruch  litten,  ist 
ganz  erklärlich  und  nur  zu  verwundern,  dass  noch  so  viele  unter 
denen,  welche  diese  Bahnen  dahingingen,  es  dennoch  mit  ihrem 
Christenglauben  aufrichtig  meinten. 

Die  Proselyten  dieser  Zeit  blieben  der  Regel  nach  irt  sehr 
einfachen  Verhältnissen,  und  der  Vortheil  der  äusseren  Lage  war 
es  also  nicht,  welcher  zum  Uebertritt  reizen  konnte;  wiewohl  sich 
einige  Personen  taufen  Hessen,  um  das  Pathengeld  zu  erlangen, 
und  es  sogar  vorkam,  dass  sich  Juden  zu  diesem  Zweck  an  ver- 
schiedenen Orten  die  Taufe  ertheilen  Hessen. 

Vorschläge,  wie  diesen  Uebelständen  abzuhelfen  sei,  sehen 
wir  des  öfteren  geschehen,  aber  nur  in  einem  ganz  unzulänglichen 
Maasse  wurde  denselben  Folge  gegeben.  Esdras  Edzard  hat 
auch  in  diesem  Stücke  das  Meiste  und  Beste  gethan.  Der  Nürn- 
berger Rath  richtete  1659  ein  Haus  mit  Garten  ein,  in  welchem 
Katechumenen  einige  Wochen  oder  Monate  bleiben  sollten,  um 
dort  Unterricht  zu  empfangen;  wie  lange  dasselbe  bestanden 
hat,  ist  nicht  ersichtlich.  Ernst  der  Fromme  von  Sachsen, 
gestorben  1675,  forderte  zur  Gründung  eines  Stiftes  auf,  welches 


—     i3i     — 

denen,  die  aus  der  römischen  oder  einer  anderen  Kirche  oder 
aus  dem  Judenthum  und  Heidenthum  zur  evangelischen  Kirche 
übertreten  wollten,  Unterstützung  gewähren  sollte.  Da  ihm  aber 
trotz  seiner  Bitte  andere  nicht  zu  Hilfe  kamen,  hat  er  ein  Kapital 
ausgesetzt ,  von  dessen  Zinsen  derartigen  Personen  unter  die 
Arme  gegriffen  werden  sollte.  Hunderte  und  darunter  auch 
eine  ganze  Anzahl  Juden  sind  aus  dieser  Kasse  unterstützt 
worden. 

Sonst  war  es  Sitte ,  dass  die  Städte  die  Fürsorge  für  die 
Katechumenen  bis  zu  ihrer  Taufe  übernahmen,  und  wurde  dies  als 
selbstverständliche  Pflicht  der  christlichen  Obrigkeit  betrachtet. 
Nur  wenn  die  Zahl  solcher  Personen  zu  gross  wurde,  wies  man 
dieselben  an  andere  Orte.  Auch  finden  wir  in  grösseren  Städten 
bestimmte  Geistliche  mit  der  Fürsorge  und  dem  Unterricht  der 
Katechumenen  von  Amtswegen  betraut.  Aber  eben  nur  dies 
Vereinzelte  und  Unzureichende  geschah  von  Seite  der  christlichen 
Gemeinde  dafür,  um  die  Proselyten  für  das  christliche  bürgerliche 
Leben  zu  erziehen.  Ueberwiegend  liess  sich  die  Zeit  an  ihrer 
wissenschaftlichen  und  gelehrten  Missionsthätigkeit  genügen,  und 
so  kam  es  auch  nicht  zu  einer  eigentlichen  Arbeit  an  den  Prose- 
lyten, zu  welcher  sich  die  verschiedenen  Glieder  der  Kirche  die 
Hand  einander  gereicht  hätten.  Man  stellte  recht  oft  grosse 
Forderungen  an  das  Leben  der  Bekehrten  und  wollte  an  ihnen 
keine  Schwächen,  am  wenigsten  die  national-jüdischen  mehr  sehen; 
sie  sollten  gleichsam  andere  Leute  als  alle  übrigen  und  vollendete 
Heilige  sein!  Man  klagte  über  die  Mängel,  welche  an  ihnen  zu 
Tage  traten,  aber  gab  sich  gewöhnlich  herzlich  wenig  Mühe,  den- 
selben abzuhelfen. 

Sehr  feindselig  traten  in  der  Regel  die  Juden  den  Prose- 
lyten entgegen.  Der  Sohn  eines  Bekehrten,  des  Paulus  Chri- 
stianus, welcher  mit  seinem  Vater  gemeinschaftlich  zum  Christen- 
timm übergetreten  war,  wurde  dafür  von  Juden  ermordert.  Das- 
selbe Schicksal  erlitt  der  Proselyt  David  Hieronymi  171 3  ,  der 
1676  mit  seiner  Frau  und  sechs  Kindern  getauft  und  1703  vom 
Könige  Friedrich  zum  Inspektor  der  Berliner  Synagoge  ernannt 
worden  war. 

Hieronymi  unterrichtete  z.  B.  den  nachmaligen  Professor 
in  Jena,  Joh.  Andr.  Danz,  im  Rabbinischen  und  hat  etliche 
Juden  in  Berlin  der  Kirche  zugeführt. 

9* 


—     132     — 

Mehrere  Proselyten  aber  vergalten  auch  ihren  früheren 
Glaubensgenossen  die  gegen  sie  geübte  Feindschaft  und  Hessen 
wider  sie  Schriften  ausgehen,  die  voller  Gehässigkeit  waren. 
So  Sam.  Friedrich  Brenz  seinen  „Abgestreiften  Schlangenbalg", 
Nürnberg  1641,*)  wo  er  alle  möglichen  und  viele  erdichtete  Be- 
schuldigungen über  die  Juden  häuft.  In  sehr  harter  Weise  lässt 
sich  auch  Christ.  Gottlieb  Burkhardt  (Immanuel  Li ep mann) 
aus  Oettingen  in  seinem  „Gewissenhaften  Bekenntniss"  über  die 
Juden  aus  1688.  Aehnliches  gilt  von  dem  Lektor  des  Hebräi- 
schen zu  Rinteln,  Friedrich  Wilhelm  Christ  lieb,**)  welcher 
„Greuel  der  Verwüstung  des  heiligen  Jerusalem  durch  den  jüdi- 
schen Talmud"  1681  zu  Kassel  in  deutscher  Sprache  schrieb. 
Er  greift  in  dieser  Schrift  die  Juden  heftig  an,  hat  aber  in  der 
Hauptsache  aus  Gersons  Talmud  abgeschrieben.  Ebensowenig 
taugt  seine  Schrift:  „Lästerungen  der  Juden  gegen  Christum" 
1682  und:  „Jesus  Christ  und  Sohn  Gottes  nach  kabbalistischer 
Art  erwiesen",  Rinteln   1697. 

Mit  Gersons  Feder  schmückte  sich  auch  Georg  Conrad 
Victor  von  Oettingen.  „Höre  Mutter,  schaue  darauf"  1675,  neu 
herausgegeben  durch  die  Berliner  Traktatgesellschaft,  ist  ein 
Plagiat  von  Gersons  Talmud. 

Der  1692  getaufte  Paul  Wilhelm  Hirsch,*)  welcher  als 
Christ  an  mehreren  Orten  Hebräisch  lehrte,  hat  unter  anderem 
1717  eine  Schrift  in  Berlin  erscheinen  lassen,  welche  den  Titel 
trägt  „Entdeckung  der  Tekuphoth  oder  das  schädliche  Blut, 
welches  über  die  Juden  viermal  des  Jahres  kommt,  laut  ihrer 
eigenen  Luchoth  oder  Kalender".  Hirsch  erklärt  hier,  viermal 
des  Jahres  verwandele  sich  alle  Flüssigkeit  in  den  Gefässen  der 
Juden  in  Blut,  und  das  sei  eine  Strafe  für  den  an  Christo  voll- 
brachten Mord. 

Die  Noth  so  mancher  Proselyten,  welche  sie  nach  Broterwerb 
ausblicken  hiess  und  bei  der  sie  auf  die  Neigung  vieler  Christen, 
den  Juden  alles  erdenkliche  Schlechte  zuzutrauen,  rechneten, 
kam  hinzu,  um  sie  zur  Herausgabe  von  Schmähschriften  gegen 
ihre  früheren  Glaubensgenossen  zu  veranlassen;  sie  glaubten  sich 
hiezu  aber  um  so  berechtigter,  als  sie  für  gewöhnlich  die  trau- 
rigste Behandlung  durch  die  Ihrigen  erfuhren. 


*)  Wolf,  B.  II.    1,   3  N.  2131. 
**)  Wolf,  B.  II.    1.  3,  4  N.   1849. 
***)  Wolf,  B.  II.   3,  X.    1810  b. 


—     133     — 

Werth  haben  überhaupt  nur  einige  Schriften  von  Proselyten 
dieses  Zeitraumes.  Es  fehlte  den  meisten  dieser  Männer  an  der 
genügenden  Bildung,  oder  sie  hatten,  da  die  Juden  damals  dem 
geistigen  Leben  der  christlichen  Nationen  der  Regel  nach  voll- 
ständig fern  blieben,  erst  in  späteren  Jahren  das  Versäumte  nach- 
zuholen. 

Einige  Proselyten  und  unter  diesen  etliche,  welche  vorher 
tür  das  Christenthum  literarisch  aufgetreten  waren,  wurden  her- 
nach wieder  abtrünnig.  So  trat  Joseph  Bar  Zadok  aus  Posen,  als 
Christ  Paul  Joseph,  1611  in  Nürnberg  getauft*)  und  dort  als 
Lehrer  des  Hebräischen  angestellt,  hernach  in  Wien  zum  Katho- 
lizismus über  und  hat  beide  Kirchen  beschwindelt.  Er  war  ein 
begabter  Mensch  und  hat  in  seiner  Schrift:  „Propheten-Spiegel" 
recht  hübsch  die  Lehre  der  Apostel  aus  dem  Alten  Testamente 
dargestellt  und  auch  eine  hebräische  Grammatik  in  deutscher 
Sprache  herausgegeben. 

Rabbi  Levi  de  Pomis,  als  Christ  Christian  de  Pomis, 
Lehrer  Wülfers  im  Hebräischen,  in  Nürnberg  getauft,  studirte 
dann  in  Altorf,  wo  er  hernach  auch  Lektor  der  hebräischen  und 
rabbinischen  Sprache  war,  verschwand  aber  endlich  mit  Hinter- 
lassung bedeutender  Schulden. 

Rabbi  Elchanon  Ben  Mena ehern,  als  Christ  Elchanon 
Paulus,**)  stammte  aus  Prag,  1556  getauft  in  Nürnberg.  Er  war 
früher  von  Sein  eck  er  recht  gelobt  worden  und  schrieb  ausser 
anderem  in  deutscher  Sprache  „Mysterium  novum,  ein  neu  herr- 
lich Beweis  aus  den  prophetischen  Schriften,  dass  der  Name 
Jesus  Christus  Gottes  und  Maria  Sohn  in  den  fürnehmsten  Pro- 
phezeihungen  vom  Messias  verdeckt  bedeutet,  dass  er  auch  wahr- 
haftig sei  der  verheissene  Messias",  1668  und  später.  Im  pol- 
nischen Chelm  Hess  er  sich  dann  noch  einmal  taufen  und  starb 
als  Apostat  in  Prag. 

Naphthali  Margolith  oder  Margaritha,  als  Christ  Julius 
Konrad  Otto,***)  1603  getauft,  wurde  Professor  des  Hebräischen 
in  Altorf,  später  aber  wieder  Jude.  Ueber  sein  Ende  ist  nichts 
bekannt;  denn  die  Angabe,  dass  er  1607  in  Altorf  gestorben  sei, 
ist  falsch.  Unsicher  ist  es  auch,  ob  der  von  Joh.  Caspar  Ulrich  in 
seiner  Sammlung  jüdischer  Geschichten  in  der  Schweiz  genannte 

*)  Wolf,  B.  H.   1,  3,  4  N.   181 1,  4,  957t>- 
**)  Wolf,  B.  H.   1,  3,  4  N.  224. 
***)  Wolf  B.  H.   I,  3,  4  N.  826.  Saat  Weihnacht   1869,  S.   146. 


—     134     — 

Otto  aus  der  Familie  Margaritha  derselbe  ist.  Der  von  Ulrich 
erwähnte  soll  1617  in  Zürich  noch  einmal  die  Taufe  erhalten 
haben.  Otto  hat  mehrere  Schriften  verfasst,  so  eine  Grammatica 
Hebraea,  Nürnberg  1605,  den  Anfang  eines  Dictionarium  radicale 
der  rabbinischen  und  talmudischen  Wörter,  Gale  Razia  oder 
Revelatio  arcanorum  ex  Daniele  2,  29,  lateinisch  und  deutsch, 
d.  i.  Entdeckung  des  Verborgenen.  Letzteres  Buch  enthält,  ausser 
einer  Abhandlung  über  die  falschen  Lehren  des  Talmud  und 
einer  Aufzählung  bedeutender  Rabbinen,  rabbinische  Zeugnisse 
über  die  Aussprüche  des  Alten  Testamentes,  welche  die  Lehre 
vom  Messias  und  vom  dreieinigen  Gotte  betreffen.  Die  ganze 
Beweisführung  zeigt  aber  schon,  dass  es  ihm  mit  dem  Christen- 
thum  nicht  ernst  ist,  und  sind  seine  Citate  oft  falsch  oder  auch 
völlig  erdichtet. 

Ein  haltloser  Mensch  war  auch  Friedrich  Albrecht  Chri- 
stiani,*) Docent  des  Talmudischen  und  Rabbinischen  in  Leipzig. 
Als  Jude  hiess  er  Baruch  und  stammt  aus  Prostitz  in  Mähren. 
Die  Sabbathai  Zebische  Bewegung,  welcher  er  sich  anfangs  an- 
geschlossen hatte,  führte  ihn  zum  Christenthum.  Er  wurde  1674 
in  Strassburg  getauft,  aber  seine  Bekehrung  war  nur  eine  ober- 
flächliche, gewesen.  Von  ihm  stammt  die  Schrift:  „Der  Juden 
Glaube  und  Aberglaube",  Leipzig  1705,  der  Reineccius  eine 
Vorrede  mit  der  Lebensbeschreibung  dieses  Proselyten  voraus- 
geschickt hat.  Christiani  besass  früher  das  Vertrauen  vieler 
Theologen.  Carpzov  und  Pfeiffer  erkannten  seine  Gelehrsamkeit 
an,  aber  später  ergab  er  sich  dem  Spiele  und  verschwand  mit 
300  Thalern,  die  ihm  auszuwechseln  übergeben  worden  waren. 
Man  weiss  nicht  recht,  was  aus  ihm  geworden  ist.  Behauptet 
wird  bald,  dass  er  in  Wien  Katholik,  bald  dass  er  wieder  Jude 
geworden  sei.  Christiani  war  ein  gelehrter  Mann.  Er  gab  Abar- 
banels  Commentar  zu  den  früheren  Propheten  heraus,  ebenso 
Jonas  hebräisch  und  chaldäisch  mit  Masora  und  den  bedeutendsten 
rabbinischen  Commentaren,  übersetzte  den  Hebräer-Brief  aus  dem 
Griechischen  ins  Hebräische,  beschrieb  in  deutscher  Sprache  die 
Passahgebräuche  der  Juden  und  liess  auch  noch  andere  Schriften 
erscheinen. 

Gross  ist   übrigens    die  Zahl   der   eigentlichen  Abtrünnigen 
unter  den  Proselyten   dieser  Zeit   nicht    gewesen.     Wo    dagegen 


*)  Wolf,  B.  H.    i,  3,  4  N.   1848. 


—     135     — 

irgend  die  Theilnahme  für  die  Juden  lebhafter  zu  Tage  trat, 
wurde  der  Erfolg  auch  in  häufigeren  Taufen  sichtbar.  Ausser 
Hamburg  war  es  besonders  die  Gegend  von  Altorf,  Fürth  und 
Nürnberg,  in  welcher  Hackspans  und  Wagenseils  Anregungen  ein 
lebendigeres  Interesse  an  den  Juden  hervorgerufen  hatten;  und 
gerade  hier  werden  auch  besonders  zahlreiche  Judentaufen  ge- 
meldet. Pastor  C.  F.  Lochner  in  Fürth  z.  B.  hat  eine  grosse 
Schaar  von  Juden  getauft,  und  ebenso  war  die  Zahl  der  in 
Frankfurt  a.  M.  zur  evangelischen  Kirche  Uebertretenden 
keine  ganz  unbeträchtliche.  Johann  Schmidt,  der  eine  überaus 
scharfe  Schrift  gegen  die  Lästerungen  der  Juden:  „Feuriger 
Drachen  Gift  und  wüthiger  Ottern  Galle"  schrieb,  Coburg  1682, 
theilt  dennoch  mit,  dass  in  einer  Stadt  durch  tägliche  Unterwei- 
sung 60  Juden  Christen  geworden  und  bis  auf  einen  es  auch 
geblieben  sind.  Eine  Schätzung  der  jährlichen  Judentaufen  in 
der  damaligen  evangelischen  Kirche  Deutschlands  ist  nicht  recht 
möglich  und  nur  festzustellen,  dass  ihre  Zahl  gegen  Ende  des 
17.  Jahrhunderts  erheblich  zu  wachsen  begann. 

4.  Die  Schweiz. 

J.  Caspar  Ulrich,  Pfarrer  zu  Frauen -Münster  in  Zürich, 
Sammlung  jüdischer  Geschichten  vom  13.  Jahrhundert  bis  1760 
in  der  Schweiz.     Basel   1 768. 

Aus  der  Schweiz  waren  in  diesem  Zeiträume  die  Juden 
noch  verbannt  und  durften  sich  nur  unter  Geleit  auf  die  Messen 
begeben,  oder  Geschäfte  halber  für  kürzere  Zeit  an  einigen  Orten 
aufhalten.  Oefters  siedelten  sie  sich  dann  gegen  das  Gesetz  an 
solchen  Orten  an,  und  daher  hören  wir  wiederholt  von  Vertreibungen 
der  Juden  aus  mehreren  Städten.  Direkte  Missionsarbeit  war 
unter  diesen  Verhältnissen  in  der  Schweiz  nur  in  so  weit  möglich, 
als  auswärtige  Juden,  welche  zur  christlichen  Kirche  übertraten, 
um  die  Erlaubniss  baten,  sich  Unterrichts  halber  an  einem  Orte 
der  Schweiz  niederlassen  zu  dürfen.  Die  Obrigkeit  musste  jedes 
derartige  Gesuch  dann  erst  genehmigen  und  hat  das  allerdings 
nicht  selten  gethan.  Solchen  Juden,  welchen  zum  Zweck  des 
Uebertritts  zur  christlichen  Kirche  der  Aufenthalt  an  einem 
Schweizer  Orte  gestattet  wurde,  gewährte  man  alsdann  auch, 
ebenso  wie  in  Deutschland,  den  Unterhalt  auf  öffentliche  Kosten 
während    der  Unterrichtszeit.     In    dieser  Beziehung   zog   man   in 


—     136     — 

beiden  staatlichen  Gemeinwesen  die  praktische  Folge  daraus, 
dass  man  an  dem  christlichen  Charakter  der  bürgerlichen  Ge- 
meinde festhielt. 

Unter  den  geschilderten  Umständen  konnte  es  also  ge- 
schehen, dass  auch  in  der  Schweiz  Judentaufen  während  dieses 
Zeitraumes  stattfanden.  Der  Missionssinn  war  aber  auch  jetzt 
in  der  Schweiz  nicht  ausgestorben,  sondern  die  von  Pellican 
und  Sebastian  Münster  ausgegangenen  Anregungen  wirkten 
hier  fort. 

Theod.  Bibliander  schrieb  1553  zu  Basel:  Consideratio 
de  Judaeorum  et  Christianorum  defectione  a  Christo,  item  de 
conversione  Judaeorum  et  Christianorum  ad  Jesum  Christum. 
Sebastian  Lepusculus  Hess  sich  in  seinen  Decadibus  Judaicis, 
Basel  1559,  über  die  Gründe  aus,  warum  die  Juden  sich  nicht 
bekehren. 

Aus  der  französischen  Schweiz  richtete  Polier,  Lausanne 
1606,  im  Missionsinteresse  eine  Schrift  an  die  Juden  in  französi- 
scher Sprache:  La  Venue  de  Messie.  Nicolas  Antoine  aus 
Lothringen  dagegen,  der  viele  Wandlungen  durchgemacht  hat, 
glaubte  zuletzt  das  Heil  nur  bei  den  Juden  finden  zu  können. 
Während  er  Geistlicher  in  Genf  war,  suchte  er,  wiewohl  vergeb- 
lich, die  Beschneidung  bei  den  Juden  nach  und  lästerte  dann, 
als  er  entdeckt  wurde,  das  Christenthum.  Man  sperrte  ihn  zu- 
nächst in  ein  Irrenhaus  ein,  zuletzt  aber  wurde  er  gehängt,   1632. 

Das  Interesse  an  den  hebräischen  Studien  war  es  dann  ins- 
besondere, was  in  der  Schweiz  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Juden 
lenkte.  Diese  Studien  erfuhren  hier  jetzt  durch  die  Baseler 
Buxtorfe  die  nachhaltigste  und  tiefgreifendste  Förderung,  und 
zwar  durch  Johannes  Buxtorf  den  Aelteren,  starb  1629,*)  den 
Sohn,  Enkel  und  Urenkel,  alle  gleichen  Namens.  Der  Sohn 
starb  1664,  der  Urenkel  lebte  im  Anfange  des  18.  Jahrhunderts. 
Die  Buxtorfe  sind  die  grössten  Kenner  des  Hebräischen,  Chaldäi- 
schen,  Syrischen  und  Rabbinischen  zu  ihrer  Zeit  gewesen,  und 
ihre  Werke  sind  noch  heute  zum  Theil  völlig  unentbehrliche. 

Der  Vater  verfasste  eine  hebräische,  chaldäische  und  syrische 
Grammatik,  ein  hcbräisch-chaldäisches  Wörterbuch,  die  rabbinische 
Bibel  und  Tiberias  sive  commentarius  Masorethicus,  eine  Concor- 
danz   der   hebräischen  Bibel    und  das   chaldäisch- talmudisch -rab- 


*)  Johannes  Buxtorf  der  Aeltere  von  E.  Kautzsch.     Basel   1879. 


—     137     — 

binische  Lexikon,  Werke,  welche  der  Sohn  fortsetzte,  verbesserte 
und  durch  eigene  Schriften  derselben  Art  vermehrte.  Letzterer 
übersetzte  z.  B.  das  Buch  Cosri  und  mehrere  rabbinische  Disser- 
tationen ins  Lateinische.  Dabei  wurde  dem  Vater  Buxtorf  noch 
die  Beschafmne  der  nöthigren  talmudischen  Literatur  äusserst 
erschwert;  denn  er  musste  z.  B.  für  ein  vollständiges  Talmud- 
exemplar die  für  die  damalige  Zeit  ungeheure  Summe  von  200 
Thalern  zahlen. 

Auf  seine  Bitte  wurde  es  dem  älteren  Buxtorf  161 7  vom 
Rathe  in  Basel  erlaubt,  dass  er  sich  zur  Correktur  seiner  hebräi- 
schen Bibel  einen  jüdischen  Rabbi  Abraham  halten  durfte,  dem 
er  für  sich  selbst,  seine  Frau  und  sein  Kind  Wohnung  und  Kost 
zu  gewähren  hatte.  Sonst  durfte  sich  ein  Jude  in  der  Stadt  höch- 
stens einen  Monat  lang  Geschäfte  halber  aufhalten.  Dem  Rabbi 
wurde  nach  zwei  Jahren  Wohnens  in  Basel  ein  Sohn  geboren. 
Buxtorf  wollte  gern  der  Beschneidung  desselben  beiwohnen  und 
bewog  desshalb  den  Diener  des  Oberstrathes  ausser  ihm  selbst 
und  einigen  Christen  mehrere  Juden  dem  Akte  beiwohnen  zu 
lassen.  Aber  die  Sache  wurde  bekannt.  Abraham  wurde  in 
Folge  dessen  zur  Zahlung  von  400  Gulden  verurtheilt  und  musste 
die  Stadt  verlassen.  Buxtorf  und  der  Buchdrucker  König  hatten 
gleichfalls  jeder  100  Gulden  Strafe  zu  entrichten,  die  übrigen 
Christen  wurden  für  drei  Tage  in  den  Thurm  geworfen. 

Unter  den  Juden  selbst  genoss  der  ältere  Buxtorf  weit  und 
breit  das  grösste  Ansehen  wegen  seiner  Gelehrsamkeit.  Der 
Gymnasiarch  Dan.  Tossanus  zu  Basel,  Buxtorfs  Zeitgenosse, 
der  auch  selbst  Theses  contra  Judaeos  1595  schrieb,  sagt:  „Aus 
ganz  Deutschland,  Polen,  Böhmen,  Mähren  und  Italien  haben  ihn 
die  Juden  mit  zahllosen  Briefen  geplagt,  so  dass  nicht  Hunderte 
sondern  Tausende  und  aber  Tausende  hebräischer  Briefe  in  seiner 
Bibliothek  zu  finden  sind.  Ganze  Synagogen  an  allen  Enden 
der  Welt  haben  ihn  in  öffentlichen  Schriften  begrüsst  und  wunder- 
bar verherrlicht." 

Aber  es  war  allerdings  kein  bloss  gelehrtes  Interesse,  welches 
den  älteren  Buxtorf  zu  diesen  Studien  trieb,  sondern  er  wollte 
mit  denselben  der  Kirche  und  den  Juden  dienen.  Von  der  Pest 
ergriffen,  gab  er  seinem  Sohne,  über  sein  Befinden  befragt,  ruhig 
die  Antwort:  „Mir  gilt  es  gleich,  ob  ich  abgerufen  werde  oder 
leben  bleibe;  ich  habe  lange  genug  gelebt.  Wenn  Gott  will, 
dass  ich  ihm  länger  diene,  will  ich  es  gern  thun,  um  der  Kirche 


und  der  Wissenschaft  zu  nützen.  Sonst  aber  aus  irdischen  Grün- 
den begehre  ich  auch  nicht  einen  Augenblick  länger  zu  leben. 
Wie  Gott  will,  es  geschehe  sein  Wille."  Von  seinem  Kranken- 
bette erhob  er  sich  noch  einmal,  um  in  seiner  Concordanz  die 
Stellen  mit  dem  Namen  Gottes  Adonai  abzuschliessen  und  um 
aus  einem  Kästchen  eine  Summe  Geldes  zu  nehmen,  die  er  einer 
armen  Nachbarin  übersandte.  Sein  letztes  Wort  war  ein  feuriges 
Ja  auf  die  Frage,  ob  er  sich  Gott  befohlen  und  Jesum  Christum 
im  Herzen  habe? 

Seine  hebräischen  und  rabbinischen  Studien  aber  wollte  er 
allerdings  auch  für  die  Bekehrung  der  Juden  verwerthen.  Das 
erste  Werk,  welches  er  geschrieben  und  das  er  allein  in  deutscher 
Sprache  verfasst  hat,  damit  es  eben  auch  die  Juden  lesen  sollten 
und  könnten,  war:  „Synagoga  Judaica,  das  ist  Judenschul",  Basel 
1603.  Er  wollte  hier-  das  Leben  und  den  Glauben  der  Juden 
aus  ihren  eigenen  Schriften  darstellen,  „damit  wir  durch  den  Un- 
glauben und  Verstockung  der  Juden  uns  selbst  den  Zorn  und 
Ernst  Gottes  an  ihnen  zu  Gemüthe  führen  und  seine  Barmherzig- 
keit dankbar  erwägen  lernen,  die  Juden  aber  in  sich  gehen,  sich 
ihrer  Fabeln  schämen  lernen  und  sich  selbst  bekehren". 

Die  Schrift,  welche  übrigens  in  36,  hernach  in  50  Fragen 
abgefasst  ist,  wollte  die  jüdische  Lehre  in  ihrer  Entartung  dar- 
stellen. Angehängt  ist  derselben  das  Calvinische  Gespräch  mit 
einem  Juden,  und  der  ursprünglich  hebräisch  geschriebene  Brief 
des  Ludwig  Carret  über  seine  Bekehrung  zum  Christenthum. 
Die  Synagoga  hat  viele  Auflagen  erlebt  und  ist  mehrfach  über- 
setzt worden:  zuerst  1604  in  Hannover,  dann  noch  öfter  ins 
Lateinische,  und  ebenso  ins  Englische,  Holländische  und  Fran- 
zösische. 

Ausserdem  hat  der  ältere  Buxtorf  eine  Schrift  über  den  Hass 
der  Juden  gegen  alle  Völker  verfasst  und  in  seinem  Thesaurus 
grammaticus  linguae  sanctae  auch  das  Jüdisch-Deutsche  behandelt. 
Das  Ansehen  aber,  welches  sich  Buxtorf  in  der  gesammten  christ- 
lichen Gelehrtenwelt  erwarb,  hat  in  besonderem  Maasse  dazu 
beigetragen,  dass  die  Theologen  des  17.  Jahrhunderts  der  jüdi- 
schen Literatur  so  hohe  Aufmerksamkeit  schenkten  und  theil weise 
auch  der  Juden  selbst  sich  annahmen. 

Die  talmudische  und  rabbinische  Literatur  bearbeitete  ferner 
Joh.  Pistor  in  Basel  1587  und  Joh.  Fr.  Faust  ebendaselbst 
1699.     Besonders  aber  verdienen  auf  diesem  Gebiete  nach  Buxtorf 


—     139     — 

zwei  Theologen:  Joh.  Heinr.  Hottinge r  und  Joh.  Heinr.  Heid- 
egger genannt  zu  werden. 

Joh.  Heinr.  Hottinger  in  Zürich  und  Heidelberg,  gestorben 
1667,  hat  ausser  anderem  eine  Abhandlung  über  das  Wesen 
Gottes  nach  der  jüdischen  Auffassung  geliefert  und  sich  in  seinem 
Thesaurus  philologicus  ausführlicher  über  Juden  und  Judenthum 
geäussert.  Ebenso  hat  derselbe  ein  Compendium  universae  theo- 
logiae  Judaicae  1662  erscheinen  lassen.  1666  erliess  er  in  deut- 
scher Sprache  ein  Sendschreiben,  welches  vror  dem  falschen 
Messias  Sabbathai  Zebi  warnte. 

Hottinger  entfaltete  eine  wesentlich  gelehrte  Thätigkeit  und 
seine  Sprache  trägt  auch  ganz  diesen  Charakter.  Einen  herz- 
licheren Ton  schlug  Johann  Heinrich  Heidegger  in  Zürich  an. 
Er  schrieb  Disputationes  selectae  über  die  jüdische  Religion,  die 
in  verschiedenen  Sektionen  zu  Zürich  1675 — 1697  erschienen. 
Schon  früher  waren  Reden  von  ihm  herausgekommen,  die  er  in 
Steinfurt  1659  gehalten  hatte.  In  zwei  Reden  wendet  er  sich 
hier  an  die  Juden  und  hält  ihnen  in  eindringlichster  Weise,  eben- 
so sehr  sie  im  Gewissen  mahnend  als  sie  freundlich  lockend, 
vor,  welches  Unheil  es  ihnen  je  und  je  eingetragen  habe,  dass 
sie  Christum  nicht  anerkennen  wollten. 

In  Steinfurt  erschien  auch  lateinisch  Heideggers  Dissertation 
über  die  Fundamentartikel  des  christlichen  Glaubens. 

Joh.  Rudolf  Zwinger  sprach  seine  Hoffnung  auf  die  Be- 
kehrung der  Juden  in  einer  Schrift:  Solatium  Israelis  oder  gründ- 
licher Erweis,  dass  noch  eine  ansehnliche  Bekehrung  der  Juden 
vor  dem  jüngsten  Tage  zu  erwarten  ist,  aus.     Basel   1685. 

Joh.  Heinr.  Otto  aus  Bern,  gestorben  1 719,  schrieb  eine 
Geschichte  der  Lehrer  der  Mischnah.*)  Derselbe  war  zuerst 
Professor  der  Philosophie  in  Lausanne  und  hernach  Prediger  in 
Höchstetten.  Sein  Buch  hat  er  in  Oxford,  dessen  Bibliothek  er 
benutzte,  ausgearbeitet,  1672;  in  den  Druck  aber  hat  es  Adrian 
Reland   1698  zu  Amsterdam  gegeben. 

In  der  Kirche  zu  Neuchatel  pflegte  am  Charfreitag  ein 
Gebet  für  die  Bekehrung  der  Juden  gebetet  zu  werden,  das 
Ulrich  in  seiner  Sammlung  jüdischer  Geschichten  mittheilt,  eben- 
so Dibre  Emeth  1882  Nr.  5  und  6.  Genf  weist  in  dieser  Zeit 
einen  Fond  des  proselytes  auf. 


*)  Wolf  B.  H.  4  S.  335  ff- 


—       I-jO      — 

Von  Proselyten  der  Schweiz  nennt  Ulrich  im  zweiten  Ab- 
schnitt des  vierten  Theils  seines  Buches  Moses  aus  Florenz,  nach 
der  Taufe  in  Bern  1649  Christoph  genannt.  Derselbe  habe  in 
Genf  studirt  und  dann  mit  grossem  Lobe  italienisch  gepredigt. 
Jakob  Levi  aus  Prag,  1697  in  Bern  getauft,  schrieb  einen  he- 
bräischen Brief  der  Liebe  an  seine  früheren  Volksgenossen.*) 

5.  Frankreich, 

Frankreich  duldete  während  dieses  Zeitraumes  im  All- 
gemeinen keine  Juden;  doch  wohnten  solche  in  dem  päpstlichen 
Avignon  und  in  den  Provinzen,  welche  dem  deutschen  Reiche 
aberobert  worden  waren,  im  Elsass  und  in  Lothringen.  Dagegen 
fand  man  eine  Anzahl  heimlicher  Juden,  welche  sich  aus  Spanien 
und  Portugal  hierher  geflüchtet  hatten ,  im  Lande  und  einige 
derselben  erlangten  grossen  Einfluss.  Für  das  rege  Glaubens- 
leben der  französischen  Protestanten  zeugt  es,  dass  sie,  obwohl 
selbst  heftig  verfolgt  und  äusserst  gedrückt,  das  Zeugniss  an  die 
Juden  nicht  vergassen.  Geflüchtete  französische  Theologen 
haben  auch  in  Holland  und  England  regen  Antheil  an  der  Mis- 
sionsthätigkeit,  welche  den  Juden  galt,  genommen  und  sie  viel- 
fach erst  recht  belebt;  diese  letzteren  werden  wir  aber  in  ihrer 
neuen  Heimath  nennen  müssen. 

In  Frankreich  gönnte  man,  nachdem  die  katholische  Partei 
wieder  zur  Macht  gekommen  war,  den  Reformirten  es  nicht  einmal, 
ihren  Glauben  unter  den  Juden  zu  verbreiten.  1683  verbot  ein 
königliches  Edikt  ihren  Predigern  und  Aeltesten  bei  Strafe  von 
500  Franks  und  Verlust  des  Rechtes,  ihre  Religion  an  ihrem 
Orte  auszuüben,  Juden,  die  zu  ihrer  Kirche  übertreten  wollten, 
in  dieselbe  aufzunehmen;  die  römische  Kirche  allein  solle  dieses 
Recht  haben.  Bis  dahin  aber  haben  die  Protestanten  nach  besten 
Kräften  an  den  Juden  gearbeitet. 

Die  französischen  Protestanten  zeichnet  in  ihrem  Verkehr 
mit  den  Juden  eine  ausserordentliche  Feinheit  aus.  So  grob 
überwiegend  die  Deutschen  in  jener  Zeit  mit  den  Juden  umgehen, 
so  sehr  sind  die  Franzosen  bestrebt,  alles  Verletzende  in  der 
Form  von  ihren  Missionsbemühungen  fern  zu  halten.  Ein  wahres 
Muster  in  dieser  Beziehung  ist  Philipp  de  Mornay  (Mornaeus)**) 


*)  Wolf  B.  H.   1   N.   106S. 
**)  Saat,   1882,   1   S.   10  ff. 


—     Hi     — 

der  in  der  Bartholomäus-Nacht  nur  durch  ein  Wunder  dem  Tode 
entgangen  war  und  dann  Staatsmann  am  Hofe  Heinrichs  IV. 
wurde.  Derselbe  richtete  eine  Ansprache  an  die  Juden:  Adver- 
tissement  aux  Juifs  sur  la  venue  de  Messie,  Saumur  1607,  die 
der  Arzt  Jakob  Viverius  161 1  zu  Amsterdam  ins  Holländi- 
sche übersetzte,  uud  die  in  demselben  Jahre  zu  Hannover  in  deut- 
scher Uebersetzung  erschien.  Ebenso  wandte  sich  Mornay 
an  die  Juden  in  seiner  Schrift:  De  veritate  religionis  6,  27  und  31, 
die  in  französischer  Uebersetzung  zu  Antwerpen  erschien  1579 
bis  1583  und  seitdem  wiederholt  in  Paris,  Genf  und  Leyden, 
ausserdem  in  lateinischer  Uebersetzung  zu  Antwerpen  1580  und 
1583,  später  in  Leyden,  Siegen,  Herborn  und  Jena;  eine  englische 
Uebersetzung  erfolgte  durch  Arthur  Philipp  de  Sidney,  London 
161 7,  eine  holländische  durch  Golding,  London  1587,  Jak.  Vive- 
rius, Amsterdam  1602  und  161 1  und  ebenso  durch  Halsberg, 
Amsterdam  1646,  eine  deutsche  durch  Castilio,  Basel  1597 
und  ebenso  durch  Eilhard  Lubin,  Rostock  1602,  eine  schwe- 
dische durch  Joh.  Silvius,  Stockholm   1674. 

Man  ersieht  hieraus  bereits,  welchen  Eindruck  die  Kund- 
gebungen von  Mornaeus  auf  die  Zeitgenossen  und  ein  ganzes 
Jahrhundert  hindurch  gemacht  haben.  Die  gesammte  evangelische 
Christenheit  hörte  auf  das  Zeugniss  dieses  Mannes.  Ganz  vor- 
trefflich weist  denn  auch  Mornay  den  Juden  die  Erfüllung  der 
Verheissungen  des  Alten  Testamentes  in  Christo  nach,  und  selbst 
die  rabbinische  Literatur  zieht  er  vielfach  zur  Unterstützung  seiner 
Beweise  heran;  denn  dieser  Staatsmann  hatte  dieselbe  in  der 
That  fleissig  gelesen.  Der  Ton  aber,  welchen  er  den  Juden  gegen- 
über anschlägt,  ist  ein  ungemein  ansprechender.  Die  Worte 
kommen  aus  einem  liebewarmen  Herzen  und  aus  einem  für  das 
Heil  der  Seelen  glühenden  Eifer.  Man  muss  es  Mornay  um  so 
höher  anrechnen,  dass  er  gerade  in  dieser  Weise  sich  an  die 
Juden  wandte,  als  er,  menschlich  und  natürlich  gesprochen,  allen 
Grund  gehabt  hätte ,  ihnen  sehr  ernst  zu  begegnen.  Die  Ge- 
mahlin von  Heinrich  IV.  hatte  einen  Juden  Elias  Montalto  zum 
Leibarzt,  der  aus  Portugal  geflohen,  in  Paris  sein  Scheinchristen- 
thum  öffentlich  aufgegeben  hatte  und  sich  nun  wieder  zum  Juden- 
thuni  bekannte.  In  einer  Schrift:  „Vom  wahren  Verstände  etlicher 
Texte  der  heiligen  Schrift,  welche  die  Heiden  (Christen)  zur  Be- 
stätigung ihrer  Sekte  vorbringen",  hatte  dieser  Mensch,  welcher 
so  lange  die  Heuchelmaske  zu  tragen  im  Stande  war,  die  Drei- 


—      142      — 

einigkeit,  die  Menschwerdung  Christi,  die  Erbsünde  und  die  mes- 
sianische  Deutung  der  alttestamentlichen  Verheissungen  aufs 
Frivolste  verspottet.  Mornay  hatte  dies  trotzdem  nicht  erbittert, 
sondern  er  suchte  mit  eben  so  grosser  Ueberzeugungstreue  als 
Sanftmuth  den  Feind  und  Spötter  zu  überwinden. 

1661  gab  Moses  Amyraldus  eine  Abhandlung  von  dem 
Geheimniss  der  heiligen  Dreieinigkeit  heraus,  von  dem  Wagenseil 
in  seiner  Schrift:  Tela  ignea  Satanae  gegen  Lipmanns  Werk 
Gebrauch  macht  (S.   140  ff.). 

Jos.  Placaeus  (de  la  Place)  verfasste  in  französischer 
Sprache  eine  Unterweisung  zur  Bekehrung  der  Juden,  und  Pierre 
de  la  Föns  richtete  an  sie  einen  Brief  in  französischer  Sprache, 
der  sie  zu  Christo  rief:  Epitre  aux  Juifs,  que  Jesus  est  le  Christ, 
Prince  et  Pasteur  eternel,  Charenton   1648. 

Die  reformirte  Synode  zu  Charenton  aber  1644  beschäftigte 
sich  auch  ausdrücklich  mit  dem  Werke  an  den  Juden  und  setzte 
ein  Formular  für  die  Taufe  von  Proselyten  fest,  das  Johannes 
Quick,  Prediger  in  London,  im  Synodicum  in  Gallia  reformata 
mittheilt.  Nur  die  Gewaltmaassregeln  der  römischen  Kirche 
haben  dem  Werke  der  protestantischen  Franzosen  unter  den  Juden 
damals  ein   Ziel  gesetzt. 


6.  Holland, 
a.  Missionsbestrebungen. 

In  Holland  fanden  erst  wieder  am  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
Juden  Aufnahme.  Der  Freiheitskampf  mit  den  Spaniern  erweckte 
unter  den  Holländern  auch  Theilnahme  für  die  Marannen,  welche 
sich  durch  scheinbare  Annahme  des  Christenthums  den  ferneren 
Aufenthalt  auf  der  pyrenäischen  Halbinsel  zu  erkaufen  gewusst  hatten. 
Ihr  Judenthum  weiter  zu  verbergen  glaubten  aber  viele  dieser 
Marannen  keinen  Grund  mehr  zu  haben,  als  ihnen,  auf  ihre  Anfrage, 
ein  Asyl  in  den  holländischen  Freistaaten  versprochen  wurde.  In 
Folge  des  ihnen  gegebenen  Versprechens,  sie  aufzunehmen,  ver- 
liessen  Tausende  derselben  ihre  Heimath,  und  die  ersten  Schaaren 
derselben  kamen  1593  über  Emden  nach  Amsterdam.  Hier 
durften  sie  sich  wieder  offen  zum  Judenthum  bekennen  und  er- 
hielten 1598  bereits  die  Erlaubniss,  in  der  holländischen  Hauptstadt 
eine  Synagoge  zu  erbauen. 


—      M3     — 

Uebrigens  führten  die  von  der  pyrenäischen  Halbinsel  nach 
Holland  geflüchteten  Juden  den  gemeinsamen  Namen  von  portu- 
giesischen Juden  oder  Sefardim.  Dieselben  hatten  in  ihrer 
früheren  Heimath  alle  Bildung  der  Christen  genossen  und  zeich- 
neten sich  hierdurch  vor  ihren  übrigen  Glaubensgenossen  aus,  welche 
nichts  als  den  Talmud  kannten.  Sie  selbst  betrachteten  sich 
denn  auch  gewissermaassen  als  einen  jüdischen  Adel  und  ver- 
mieden zunächst  eheliche  Verbindungen  mit  den  übrigen,  aus 
Polen  und  Deutschland  eingewanderten  Juden,  den  Aschkenasim. 
Viele  dieser  portugiesischen  Juden  waren  sehr  reiche  Leute,  viele 
unter  ihnen  gehörten  den  studirten  Kreisen  an  und  waren  früher 
Aerzte,  Rechtsgelehrte  oder  auch  katholische  Geistliche  gewesen. 

In  Holland  nun  unterlagen  sie  nicht  den  Beschränkungen 
welche  sie  sonst  überall  zu  ertragen  hatten.  Das  besondere  Zeichen 
an  der  Kleidung  war  ihnen  erlassen  und  ihnen  gestattet  zu 
drucken,  was  sie  wollten,  ohne  dass  sie  irgend  welche  christliche 
Censur  zu  befragen  hatten.  Sie  selbst  nannten  denn  auch  Am- 
sterdam das  grosse  und  Hamburg  das  kleine  Jerusalem.  Staats- 
bürgerliche Gleichstellung  aber  wurde  ihnen  freilich  nicht  gewährt, 
denn  auch  die  Republik  Holland  wollte  ein  christliches  Gemein- 
wesen bleiben. 

Dass  die  fortgesetzte  Heuchelei,  in  welcher  diese  sefardischen 
Juden  dahingegangen  waren,  auf  ihre  Sittlichkeit  auch  sonst  nicht 
vortheilhaft  eingewirkt  hatte,  kann  nicht  Wunder  nehmen.  Es 
herrschte  unter  ihnen  grosse  Anmaassung  und  Uebermuth  und 
eben  so  grosse  Gleichgiltigkeit  bei  vielen  gegen  die  Forderungen 
der  Sittlichkeit;  desto  peinlicher  aber  war  man  dabei  auf  die  Er- 
füllung und  allgemeine  Beobachtung  der  talmudischen  Satzungen 
bedacht.  Während  man  im  sittlichen  Leben  den  Einzelnen  gern 
alles  nachsah,  duldete  man  keine  Abweichung  von  den  Gebräuchen 
und  Gesetzen  der  Synagoge  und  hielt  jede  Regung  der  Freiheit 
in  diesem  Stücke  mit  unerbittlicher  Gewalt  danieder. 

Das  Recht,  in  dieser  Weise  gegen  die  Ihrigen  einzuschreiten, 
hatten  sie  vom  Staate  empfangen,  und  so  wurde  denn  ein  scharfes 
Regiment  gegen  alle  diejenigen  geübt,  welche  sich  etwa  ketzerische 
Anschauungen  über  das  Recht  des  Talmudismus  zu  Schulden 
kommen  Hessen.  Uriel  da  Costa,  einer  dieser  Marannen,  welcher 
sich  doch  früher  vom  Christenthum  losgesagt  und  mit  glühender 
Begeisterung  zum  Judenthum  bekannt  hatte,  musste  dies  ebenso 
wie  Spinoza  hart  genug  erfahren.     Uriel  da  Costa  war  in  dem 


—     M-l     — 

Wahn  gewesen,  dass  er  das  echte  alttestamentlich-biblische  Juden- 
thum  unter  den  Seinen  finden  werde  und  führen  könne.  Er 
konnte  sich  aber  bald  der  Erkenntniss  nicht  verschliessen,  dass 
der  Talmudismus  eine  Karikatur  der  biblischen  Religion  sei, 
und  war  nun  nicht  gewillt,  einen  neuen  Irrthum  für  das,  was  er 
vorher  als  Irrthum  angesehen  hatte,  einzutauschen.  Dafür  verfiel 
er  dem  Inquisitionsverfahren  der  Synagoge,  und  wurde  durch  die 
körperlichen  und  moralischen  Misshandlungen  derselben  zu  solcher 
Verzweiflung  getrieben,  dass  er  sich  schliesslich  1647  selbst  das 
Leben  nahm. 

Auch  der  gewaltige  Philosoph  Baruch  (Benedict)  Spinoza 
wurde  von  dem  Banne  der  Synagoge  getroffen,  als  er  mit  den 
jüdischen  Satzungen  brach,  von  denen  er  einsah,  dass  sie  nichts 
als  blosse  Menschenerfindungen  wären.  Ein  Mordversuch  auf 
denselben  misslang,  aber  er  musste  aus  Amsterdam  weichen,  da 
die  jüdische  Gemeindebehörde  seine  Entfernung  aus  der  Haupt- 
stadt durchsetzte.  Die  ihm  angebotene  Stelle  eines  Professors  zu 
Heidelberg  schlug  er  aus,  um  sich  seine  Freiheit  nicht  beschränken 
zu  lassen,  und  starb  1677,  ohne  in  weiterem  Zusammenhange  mit 
der  Synagoge  gestanden  zu  haben. 

Schützte  alle  ihre  Bildung  diese  spanischen  und  portugiesi- 
schen Juden  nicht  vor  Verfolgungssucht,  so  anderseits  aber  auch 
nicht  vor  der  thörichtesten  Schwärmerei.  Der  Sabbathai  Zebi'sche 
Schwindel  fand  gerade  unter  ihnen  grossen  Eingang,  und  in  der 
Synagoge  zu  Amsterdam  bereitete  man  sich  bald  mit  Fasten, 
bald  mit  Tanzen  auf  die  Ankunft  des  neuen  Messias  vor.  Kurz 
in  religiöser  Beziehung  standen  diese  Juden  vielfach  eher  unter 
als  über  ihren  übrigen  Glaubensgenossen. 

Aber  allerdings  die  feine  Bildung,  die  geistige  Regsamkeit 
und  die  wissenschaftlichen  Kenntnisse,  welche  so  manche  dieser 
Juden  auszeichneten,  zogen  auch  die  Aufmerksamkeit  gelehrter 
Christen  auf  sich,  und  zwischen  einigen  hervorragenden  jüdischen 
und  christlichen  Gelehrten  fand  ein  reger  Verkehr  statt.  Neben 
den  Aerzten  Abraham  Zakuto  und  Isaak  Cardorso  erfreute 
sich  zumal  der  Rabbi  Menasseh  Ben  Israel,  der  zehn  Sprachen 
kannte  und  Hebräisch,  Spanisch  und  Lateinisch  schrieb,  der  Be- 
achtung und  Berücksichtigung  auch  weiterer  christlicher  Kreise. 
Menasseh  Ben  Israel,  welcher  grosse  Bedeutung  für  die 
Juden  überhaupt  gewonnen  hat,  ist  1604  auf  der  pyrenäischen 
Halbinsel    geboren.     Seine  Familie   ist    mit    der    des   berühmten 


—     145     — 

jüdischen  Gelehrten  Isaak  Abarbanel  verwandt.  Sein  Vater, 
ein  reicher  Kaufmann,  floh  mit  den  Seinen  nach  Holland.  In 
seinen  Studien  machte  der  Sohn  solche  Fortschritte,  dass  er 
bereits  mit  18  Jahren  als  Prediger  und  Talmudlehrer  an  Stelle 
seines  alten  Lehrers  R.  Isaak  Usiel  an  der  Synagoge  zu  Amster- 
dam angestellt  wurde.  Da  die  Inquisition  seine  väterlichen  Güter 
in  der  alten  Heimath  wegnahm,  sah  er  sich  in  seinen  späteren 
Jahren  genöthigt,  dem  Rabbinat  zu  entsagen  und  Kaufmann  zu 
werden.  Er  starb  zwischen  1657  und  1659  in  Amsterdam  nach 
seiner  Rückkehr  aus  London. 

Menasseh  Ben  Israel  stand  z.  B.  mit  Isaak  Vossius  und 
Hugo  Grotius  in  lebendigem  Verkehre.  Auch  in  Deutschland 
zog  er  die  Augen  vieler  auf  sich.  Hieronymus  Kromeyer  in 
Leipzig  u.  a.  (starb  1670)  nimmt  in  seinem  Scrutinium  religionum, 
in  welcher  Schrift  er  auch  die  jüdische  Religion  der  Prüfung 
unterzieht,  auf  Menassehs  Werke  besondere  Rücksicht.  Von  den 
überaus  zahlreichen  philosophischen,  geschichtlichen  und  kriti- 
schen Schriften  dieses  gelehrten  Juden  ist  besonders  zu  nennen 
das  spanisch  geschriebene  und  dann  ins  Lateinische  übersetzte 
Buch  Consiliador,  in  welchem  er  die  Widersprüche  der  heiligen 
Schrift  zu  lösen  sucht.  Die  Behauptung  eines  jüdischen  Reisen- 
den de  Montezinos  sodann,  er  habe  in  den  Indianern  Nord- 
Amerikas  die  verlorenen  zehn  Stämme  Israels  wieder  gefunden, 
gab  den  Anlass  zum  Erscheinen  seiner  Schrift  Spes  Israelis,  die 
in  Amsterdam  1650  zuerst  spanisch,  hernach  auch  in  lateinischer, 
hebräischer,  holländischer  und  jüdisch-deutscher  Sprache  erschien. 
In  Nischmath  Chaim  behandelte  er  die  Frage  von  der  Unsterb- 
lichkeit der  Seele.  Sehr  gelesen  aber  wurde  zumal  die  dem 
englischen  Parlamente  gewidmete  Schrift:  Vindiciae  Judaeorum, 
englisch  in  London  1656.  Dieselbe  ist  später  von  Marcus 
Herz  ins  Deutsche  übersetzt  worden  „Rettung  der  Juden"  und 
wurde  dabei  von  Moses  Mendelsohn  mit  einer  Vorrede  ver- 
sehen.*) Menasseh  vertheidigt  hier  die  Seinen  gegen  die  Beschul- 
digung, Christenblut  zu  rituellen  Zwecken  zu  gebrauchen.  Diese 
Beschuldigung  weist  er  ganz  vortrefflich  zurück,  liefert  aber  sonst 
in  dieser  und  seinen  übrigen  Schriften  den  nur  zu  deutlichen  Be- 
weis, welche  Verblendung  unter  der  Judenschaft  aller  Zeiten  seit 
Christo  herrscht. 


*)  Neu  aufgelegt.     Bamberg   1882. 
J.  F.  A.  de    le    Roi,    Missionsbeziehungen. 


—     146     — 

Die  Erfahrung,  dass  jede  Erleichterung  ihrer  Lage  von  den 
Juden  dahin  verstanden  wird,  dass  dieselbe  nur  eine  Abschlags- 
zahlung auf  ihre  Forderung  sei,  an  die  Spitze  der  Welt  zu  treten, 
bestätigt  auch  das  holländische  Judenthum.  In  Menasseh  Ben 
Israels  Schriften  schimmert  immer  dieser  Anspruch  durch,  und 
die  Freiheit  in  Holland  wurde  von  vielen  der  dortigen  Juden 
dahin  verstanden,  dass  sie  jener  oben  genannten  Zukunft  den 
Weg  bahnen  solle. 

Uebrigens  war  den  Juden  des  Landes  nicht  bloss  für  sich 
selbst  völlige  Religionsfreiheit  gewährt  worden,  sondern  sie  durften 
auch  Christen  in  ihre  Gemeinschaft  aufnehmen.  Eisenmenger 
traf  in  Amsterdam  drei  solcher  Judenproselyten  an,  zu  denen 
Joh.  Petrus  Speeth  aus  Wien  gehörte,  der  zuerst  Katholik  war, 
dann  evangelisch,  hernach  wieder  katholisch  und  endlich  unter 
dem  Namen  Moses  Germanus  in  Amsterdam  Jude  wurde  und 
endlich  als  solcher  1701  starb.  Ebenso  Hess  sich  in  Amsterdam 
ein  Christ  durch  Beschneidung  in  das  Judenthum  aufnehmen, 
welcher  danach  den  Namen  Moses  Ben  Abraham  führte;  einen 
anderen  David  Farar  in  Amsterdam  suchte  Hugo  Broughton 
vergeblich  zum  Christenthum  zurückzuführen.  Theodor  Hasaeus 
nennt  sogar  einen  früheren  Prediger  vom  Rhein,  welcher  sich 
nach  Amsterdam  wandte,  dort  unter  dem  Namen  Abraham  Ben 
Jacob  Jude  wurde  und  eine  Karte  von  Palästina  anfertigte,  auf 
welcher  die  Ortsnamen  mit  hebräischen  Buchstaben  verzeichnet 
waren,  der  ausserdem  aber  einen  Kalender  zum  Gebrauche  für 
Juden  und  Christen  für   130  Jahre  herausgab. 

Die  Gewalt,  welche  den  jüdischen  Vorgesetzten  über  die 
Ihrigen  eingeräumt  worden  war,  machte  es  für  diejenigen,  in 
welchen  eine  Neigung  zum  Christenthum  erwachte,  desto  schwerer, 
derselben  zu  folgen.  Thatsächlich  haben  manche  dieser  Marannen, 
nachdem  sie  nun  in  Holland  zum  Judenthum  zurückgekehrt  waren, 
hernach  das  Haltlose  desselben  erkannt;  und  so  ereignete  sich 
das  Wunderbare,  dass  jetzt,  wie  Dr.  da  Costa  in  seinem  Buche 
Israel  and  the  Gentiles  mittheilt,  mehrere  der  Neujuden  im  Ge- 
heimen dem  Katholicismus,  dem  sie  auf  der  Pyrenäischen  Halb- 
insel nur  äusserlich  gehuldigt  hatten,  anhingen. 

Das  Missionswerk  kämpfte  unter  den  geschilderten  Verhält- 
nissen in  Holland  mit  besonderen  Schwierigkeiten.  Aber  abge- 
schreckt hat  dies  die  gläubigen  Christen  des  Landes  nicht,  son- 
dern im  Gegentheil  haben  dieselben  und  besonders  die  Theologen 


—     M7     — 

eine  sehr  rege  Thätigkeit  entfaltet,  um  die  in  ihrer  Mitte  wohnen- 
den Juden  für  das  evangelische  Christenthum  zu  gewinnen. 
Holland  hat  thatsächlich  im  17.  Jahrhundert  auf  diesem  Gebiete 
sich  ganz  besonders  hervorgethan. 

Die  Dortrechter  Synode  richtete  16 19  an  die  Generalstaaten 
eine  Bittschrift,  dass  dieselben  solche  Christen,  welche  an  der 
Bekehrung  der  Juden  arbeiten  wollten,  in  ihren  Schutz  nehmen 
möge.  Ebenso  berieth  die  Synode  zu  Utrecht  1670  über  die 
Mittel,  Heiden  und  Juden  zu  bekehren.  Gisbert  Voetius  hat 
diese  Beschlüsse  veröffentlicht.*)  Es  sollten  nach  denselben  die 
Prediger  und  Aeltesten  und  Gläubigen  sich  alle  ernstlich  bemühen, 
die  Juden  zur  Erkenntniss  Christi  als  ihres  einigen  Heilandes  zu 
führen  und  ihre  Vorurtheile  ihnen  auszureden.  Die  Obrigkeit 
wurde  ersucht,  die  Juden  zur  Anhörung  christlicher  Predigten 
anzuhalten  und  geeignete  Personen  anzustellen,  welche  die 
Juden  mit  der  christlichen  Religion  bekannt  machen,  dabei 
aber  stets  in  enger  Verbindung  mit  den  Synoden  und  Gemeinden 
bleiben  sollten.  Vorgeschlagen  wurde  ebenso  die  Anstellung 
eines  Professors  der  hebräischen  Sprache  am  Gymnasium  zu 
Amsterdam,  welcher  die  Christen  zum  Werke  an  den  Juden  an- 
feuern und  den  Juden  die  Fundamente  der  christlichen  Religion 
zeigen  sollte.  Ebenso  wurde  gefordert,  eine  Missionsliteratur  für 
die  Juden  zu  scharten,  welche  es  denselben  kund  thun  sollte,  dass 
die  Christen  ein  Verlangen  nach  ihrem  Heile  trügen  und  für 
dasselbe  beteten.  Im  Gottesdienst  solle  das  Gebet  für  die  Juden 
eine  Steile  finden,  in  den  Predigten  ihrer  gedacht  und  aus  den 
Gotteshäusern  alle  Bilder,  welche  sie  ärgern  könnten,  entfernt 
werden.  In  jeder  Provinz  müssten  zwei  Jünglinge  für  das  Werk 
herangebildet  werden.  Die  theologischen  Professoren  sollten  die 
Studenten  mit  der  jüdischen  Controverse  und  Theologie  bekannt 
machen,  und  wo  möglich  in  jeder  Stadt,  da  Juden  wohnten,  ein 
Prediger,  der  Hebräisch  verstünde,  angewiesen  werden,  sich  ihrer 
besonders  anzunehmen.  Vor  allem  Aera-ernissgeben  sollten  sich 
die  Christen  besonders  hüten,  die  bekehrten  Juden  geschützt  und 
mit  dem  Nothwendigen  versehen  werden. 

Diese  und  ähnliche  Beschlüsse  wiederholten  die  Synoden 
von  Delft  und  Leyden  1676  und  1678.  Die  Universität  Leyden 
erhielt    einen    Lehrstuhl    für    jüdische    Controverse,     den    z.    B. 


*)  Dibre  Emeth   1S79  S.  87  ff. 


—     148      — 

Constantin  l'Empereur  bekleidete,  welcher  gegen  die  Erklärung 
von  Jesaia  53  bei  Abarbanel  und  Mose  Alschech  schrieb,  163 1, 
und  eine  durch  Bashuysen  hernach  herausgegebene  Clavis 
Talmudica  anfertigte. 

Viele  Theologen  des  Landes  zeichneten  sich  durch  einen 
ungemeinen  Eifer  aus,  besonders  literarisch,  theihveise  aber  auch 
durch  mündliche  Einwirkung  den  Juden  die  christliche  Wahrheit 
nahe  zu  bringen.  Und  es  gibt  keinen  bedeutenden  Mann  unter 
den  holländischen  Theologen  des  17.  Jahrhunderts,  der  nicht 
seinen  Beitrag  zur  literarischen  Arbeit  an  den  Juden  geliefert  hätte. 
Schon  vor  der  Aufnahme  der  Juden  in  Holland  hatte  sich 
übrigens  die  evangelische  Theologie  des  Landes  mit  ihnen  be- 
schäftigt. Petrus  Co  st  us  schrieb  gegen  ihren  Unglauben  in 
„Typus  Messiae  et  Christi  Domini"  in  den  alttestamentlichen 
Propheten.  Leyden  1554.  Martin  Gilbert  disputirte  gegen  sie 
in  einem  französich  geschriebenen  Dialoge  über  den  christlichen 
Glauben,  Leyden  155?.  Mit  einer  gelehrten  Schrift  über  die 
erste  und  zweite  Ankunft  des  Messias  wandte  sich  ebenso  Jacob 
Brocard,  Leyden  1 581 ,  an  die  Juden.  D.  Joh.  Driesche, 
Franeker,  lieferte  Uebersetzungen  aus  Maimonides   1591. 

Aber  grössere  Wärme  empfangt  diese  Literatur  doch  erst, 
seitdem  Juden  im  Lande  selbst  wohnen,  und  von  da  ab  haben 
freilich  alle  evangelischen  Parteien  Hollands  mit  Eifer  ihre  Be- 
kehrung gesucht.  Auch  die  Arminianer  und  selbst  die  Socinianer 
haben  es  als  ihre  Pflicht  betrachtet,  ihr  Zeugniss  vor  denselben 
abzulegen. 

Der  Ton  dieser  Literatur  hält  etwa  die  Mitte  zwischen  dem 
der  Franzosen  und  der  Deutschen.  Es  fehlt  nicht  an  Derbheiten 
und  Schroffheiten,  aber  viel  häufiger  zeigt  sie  gewinnende 
Formen  auf  und  wird  der  höheren  Bildung  der  holländischen 
Juden  gerecht. 

An  der  Spitze  der  Arminianer  steht  Hugo  Grotius.  Das 
fünfte  Capitel  seines  grossen  Werkes  De  veritate  religionis 
Christianae,  das  zuerst  1622  holländisch,  dann  1627  und  öfters 
lateinisch,  hernach  aber  auch  in  englischer  (1637),  arabischer 
(1660),  dänischer,  französischer  (1691)  deutscher  (163 1,  165 1. 
1656,  1708,  1726),  schwedischer  (1637),  malaiischer,  griechischer 
(1638),  persischer  und  chinesischer  Uebersetzung  erschien,  gilt 
den  Juden.  Die  arabische  Uebersetzung  einiger  Theile  des 
Buches    wurde    dann    durch    die  Callenberg'sche  Mission   als  be- 


—     149     — 

sonderer  Traktat  verbreitet.  Wie  Grotius  mit  Menasseh  Ben  Israel 
verkehrte,  so  auch  mit  vielen  Glaubensgenossen  desselben,  und 
war  es  hierbei  sein  ausgesprochener  Zweck,  sie  von  der  Wahr- 
heit des  Christenthums  zu  überzeugen.  Grotius  vertrat  besonders 
den  apologetischen  Standpunkt.  Er  suchte,  was  die  Juden  für 
das  Alte  Testament  geltend  machten,  für  das  Neue  Testament 
und  das  Christenthum  in  Anspruch  zu  nehmen  und  sie  so  durch 
das  Alte  Testament  für  das  Neue  zu  gewinnen.  Das  Aufhören 
der  Opfer  mit  der  Ankunft  des  Messias  wollte  er  besonders 
geltend  gemacht  wissen. 

Johannes  de  Labbadie,  Prediger  zu  Middelburg,  liess  1629 
in  holländischer  Sprache  eine  Schrift  erscheinen,  welche  1659 
in  deutscher  Uebersetzung  erschien:  Urtheil  der  Liebe  und  Ge- 
rechtigkeit über  den  gegenwärtigen  Zustand  der  Juden,  ihren 
König  und  Messias  betreffend.  Seine  mystische  Richtung  liess 
ihn  aber  den  Unterschied  zwischen  christlichem  und  jüdischem 
Glauben  vielfach  übersehen. 

Isaak  Vossius,  welcher  hebräischen  Unterricht  bei  Menasseh 
Ben  Israel  genommen  hatte,  empfahl  besonders  mit  dem  Neuen 
Testamente  an  die  Juden  zu  treten,  und  bat  dieselben,  die  heilige 
Schrift  selbst  mit  Beiseitelassung  aller  talmudischen  Erklärungen 
zu  lesen,  so  würden  sie  dann  bald  den  Messias  Jesus  Christus 
erkennen.  Aehnlich  schickte  Henricus  Groenewegen  seiner  Aus- 
legung des  Hebräer-Briefes  1679  eine  solche  Anrede  an  die  Juden 
voraus,  in  welcher  er  ihnen  ihre  lange  Zerstreuung  neben  den 
Verheissungen  der  Propheten  vorhält  und  ihre  Bekehrung  wünscht. 

Besonders  eindringlich  ermahnte  sodann  der  von  den  Zeit- 
genossen hochgeehrte  und  treffliche  Leydener  Professor  der 
Theologie  Jo.  Hoornbeck  die  Christen,  den  Juden  das  Evange- 
lium zu  bringen.  Von  Jugend  auf  hatte  er  selbst  den  Trieb,  an 
ihrer  Bekehrung  mitzuarbeiten,  empfunden  und  sich  stets  als 
„einen  Schuldner  der  Juden"  bekannt.  Wie  so  viele  in  seiner 
Zeit  glaubte  er  aber,  dass  für  jeden  Erfolg  unter  den  Juden  dis- 
putatorische  Fertigkeit  dringend  nöthig  sei.  Die  Erfahrung  von 
Pellicanus,  der  einst  einen  Doktor  der  Theologie  in  der  Dis- 
putation mit  einer  jüdischen  Frau  erliegen  sah,  bestärkte  ihn  um 
so  mehr  in  dieser  Ueberzeugung.  Er  verlegte  sich  desshalb  mit 
grossem  Fleisse  auf  das  Rabbinische  und  hat  dann  als  Professor 
Vorlesungen  über  dasselbe  gehalten,  wie  er  es  sich  denn  auch 
angelegen   sein   liess,    die   Studirenden    im   Disputiren    zu    üben. 


—     150    — 

Ebenso  bezweckten  nun  seine  Schriften  beides,  sowohl  das  christ- 
liche Interesse  für  die  Juden  zu  erwecken,  als  Handreichung  für 
die  Kunst  des  Disputirens  mit  ihnen  zu  bieten.  In  seiner  Summa 
Controversiarum,  zuerst  Utrecht  1653,  dann  öfters  und  z.  B.  1676 
in  Colberg  erschienen,  galt  das  zweite  Buch  den  Juden.  Noch 
bedeutender  aber  ist  seine  Schrift  Teschuba  Jehudim  sive  pro 
convincendis  et  convertendis  Judaeis,  Leyden  1655,  in  der  Dispu- 
tationes  antijudaicae  vom  Jahre   1644  enthalten  sind. 

Trefflich  schildert  er  hier,  was  die  Juden  gegen  das  Christen- 
thum  mit  Vorurtheil  erfülle,  und  gibt  hierauf  Mittel  zu  ihrer  Be- 
kehrung an  die  Hand.  Kirche,  Staat  und  Schule  müssten  zu- 
sammenwirken. Die  Misshandlung  von  Juden  habe  ehemals  Schuld 
daran  getragen,  dass  sich  nur  eine  geringe  Zahl  derselben  bekehrt 
habe.  Ueberdem  habe  man  sich  früher  um  ihre  Bekehrung  zu 
wenig  bekümmert  oder,  um  dieselbe  zu  erreichen,  damals  den 
Weg  der  Gewalt  eingeschlagen.  Gebet  und  Predigt  aber  seien 
die  sichersten  Mittel  für  ihre  Gewinnung  und  die  einzig  würdigen 
Waffen  der  Kirche.  Pflicht  sei  es,  Prediger  für  dieselben  anzu- 
stellen, welche  die  Vorbereitung  zu  diesem  ihrem  Berufe  auf  den 
Universitäten  erhalten  müssten.  Aber  auch  auf  den  Schulen 
müsse  schon  die  Controverse  mit  den  Juden  gelehrt  werden,  und 
tüchtig  vorbereitete  Studirende  seien  besonders  geeignet,  die 
Juden  aufzusuchen,  um  ihnen  das  christliche  Zeugniss  zu  bringen. 
Ferner  forderte  er  das  öffentliche  Kirchengebet  für  die  Juden, 
wie  er  denn  selbst  für  sie  recht  zu  beten  verstand.  Einen  köst- 
lichen Beweis  dafür  enthält  diese  seine  Schrift.  Endlich  aber 
betont  er,  dass  der  Blick  auf  die  Zukunft,  welche  ja  eine  endliche 
Bekehrung  des  Volkes  in  Aussicht  stelle,  den  Muth  der  Christen 
heben  müsse.  Dabei  war  aber  Hoornbeck  keineswegs  gewillt, 
den  christlichen  Charakter  des  Staates  für  Holland  und  andere 
Länder  aufzugeben.  Er  forderte  vielmehr,  während  er  gleich- 
zeitig jedoch  auch  die  Erziehung  der  Juden  zur  produktiven 
Arbeit  und  zum  Handwerk  insbesondere  verlangte,  eine  sehr 
weitgehende  Beschränkung  derselben  und  wollte  ihnen  selbst 
nicht  einmal  vollständig  freie  Religionsübung  gestattet  wissen. 

An  Hoornbeck  schliessen  sich  die  beiden  Friedrich  Span- 
hem  an.  Der  Vater  hatte  in  einer  nach  seinem  Tode  (1649)  in 
Genf  erschienenen  Schrift  Dubia  evangelica  (165 1)  die  Evangelien 
gegen  die  Angriffe  der  Juden  vertheidigt.  Der  Sohn,  welcher 
später  Hoornbecks   Nachfolger  im  Amte   war,    folgte   besonders 


—     151     — 

auch  dessen  Vorbilde.  Er  betonte  aber  seinerseits  mit  vollem 
Rechte,  dass  man  auf  dem  Wege  des  Disputirens  mit  den  Juden 
nicht  viel  erreichen  werde.  Selbst  empfahl  er  vor  allem  ihnen 
mit  anhaltendem  Gebete  nachzugehen  und  es  sich  ernstlich  an- 
gelegen sein  zu  lassen,  dass  sie  von  der  christlichen  Predigt 
erreicht  würden.  Hingegen  warnte  er  davor,  den  Juden  viel  von 
ihrer  herrlichen  Zukunft  zu  sagen,  ehe  sie  sich  noch  bekehrt 
hätten,  da  sie  dies  nur  stolz  mache.  Der  Zug  der  Zeit  war  aber 
doch  so  mächtig,  dass  auch  er  hauptsächlich  den  Weg  der  lite- 
rarischen Auseinandersetzung  mit  den  Juden  einschlug.  Am 
bekanntesten  ist  sein  Buch  Controversiarum  de  religione  elenchus, 
Leyden  1697,  geworden.  Dasselbe  enthält  auch  eine  schon 
früher  erschienene  Schrift  Spanhems:  De  causis  incredulitatis 
Judaeorum  et  de  mediis  conversionis.  Diese  Schrift  zeichnet  sich 
aber  allerdings  vor  vielen  literarischen  Zeugnissen  jener  Periode 
über  unseren  Gegenstand  aus.  Gründlichkeit  und  Klarheit  sind 
neben  ansprechender  Darstellung  ihre  Vorzüge. 

Spannern  empfiehlt,  um  die  Juden  von  ihrem  Irrthum  zu 
überzeugen,  ihnen  vor  allem  es  zu  Gemüthe  zu  führen,  dass 
Gottes  Gericht  auf  ihnen  ruhe,  dass  sie  Mosis  Gesetz  falsch  ver- 
standen und  Gesetz  und  Propheten  verkehrt  hätten,  dass  sie  voll 
falscher  Einbildungen  über  ihre  Stellung  als  Volk  seien,  voll 
falscher  Gedanken  über  den  Messias,  ohne  jedes  Verständniss 
Jesu  Christi  und  voller  Vorurtheile  gegen  das  Christenthum, 
dessen  Lehren  sie  verdrehten,  oder  dem  sie  selbst  alle  jene  Aus- 
wüchse, die  freilich  in  einzelnen  Theilen  der  christlichen  Kirche 
zu  Tage  getreten  seien ,  anrechneten.  Jedesmals  aber  gibt  er 
zugleich  an  die  Hand,  wie  nun  mit  den  Juden  zu  verkehren,  und 
ihnen  der  volle  Zusammenklang  Alten  und  Neuen  Testamentes, 
von  denen  das  erstere  überall  auf  das  andere  abziele ,  nachzu- 
weisen sei,  damit  sie  von  dem  falschen  auf  den  richtigen  Weg 
zurückgebracht  würden.  Durch  Spanhem  erfolgte  auch  eine  neue 
Ausgabe  der  Schrift  des  Hadrianus  Finus:  Flagellus  in  Judaeos 
(1538,  Venedig). 

Einen  vielfach  heilsamen  Einfluss  übte  Johannes  Coccejus 
aus,  dessen  Streben  darauf  gerichtet  war,  die  Theologie  vom 
Scholasticismus  zu  befreien  und  sie  zur  heiligen  Schrift  zurück- 
zuführen. Urheber  der  sogenannten  Föderaltheologie  machte  er 
es  sich  zur  Lebensaufgabe,  die  geschichtliche  Entwicklung  der 
Offenbarung  auf  Grund  der  heiligen  Schrift  allein  nachzuweisen, 


—     152     — 

und  betrachtete  selbst  alles  Einzelne  im  Alten  Testamente  nur 
unter  dem  Gesichtspunkte,  dass  es  eine  vorbildliche  Bedeutung 
auf  Christum  haben  sollte.  Denn  der  Gang  des  gnädigen  Gottes 
mit  der  sündlichen  Menschheit  war  ihm  aus  der  Schrift  lebendig  ent- 
gegengetreten und  auf  denselben  wies  er  nun  mit  allem  Nach- 
druck hin.  Eifriges  Bibelstudium  musste  aber  ganz  von  selbst  die 
Augen  auch  auf  die  Juden  lenken  und  hat  es  bei  Coccejus  in 
hohem  Maasse  gethan.  Dass  die  Theologie  in  Holland  seit  der 
Mitte  des  17.  Jahrhunderts  den  Juden  eine  erhöhte  Theilnahme 
schenkte,  ist  in  nicht  geringem  Grade  eine  Folge  der  Anregungen 
von  Coccejus. 

Dieser  Gelehrte  hat  übrigens  auch  die  rabbinische  und 
talmudische  Literatur  nicht  vernachlässigt,  sondern  vielmehr 
grossen  Fleiss  auf  eine  genaue  Erforschung  derselben  verwandt. 
Er  war  als  junger  Mann  1625  nach  Hamburg  gegangen  und 
hatte  dort  bei  einem  gelehrten  Juden  Unterricht  genommen.  Nach 
seiner  Rückkehr  vervollkommnete  er  seine  Kenntnisse  in  diesem 
Fache  bei  Sixtus  Amama,  Johann  Markuski  und  Wilhelm 
Am  es  i  us.  Er  übersetzte  denn  auch  die  talmudischen  Traktate 
Sanhedrin  und  Maccoth  ins  Lateinische  und  versah  diese  Ueber- 
setzung  mit  Anmerkungen.  Durch  seine  Kenntniss  der  rabbini- 
schen  Literatur  erlangte  er  früh  einen  grossen  Ruf.  Später  wurde 
er  nach  Leyden  berufen,  wo  er  1650  sein  Amt  mit  einer  lateini- 
schen Rede  über  die  Ursachen  des  Unglaubens  der  Juden  antrat. 

Seine  Anschauungen  in  der  ihm  eigenthümlichen  Weise 
entwickelnd  suchte  er  dann  auch  eifrig  die  Juden  zu  überzeugen, 
und  sie  selbst  gaben  ihm  direkte  Gelegenheit  zum  Zeugnisse  an 
sie.  Denn  Juden  selbst  hatten  ihn  aufgefordert,  die  christliche 
Sache  vor  ihnen  zu  rechtfertigen.  Sehr  siegesgewiss  hatte  näm- 
lich ein  Jude  in  einer  zuerst  portugiesisch  geschriebenen  und 
dann  ins  Lateinische  übersetzten  Schrift  einem  Katholiken  auf 
Fragen  desselben  geantwortet  und  ihm  dann  eigene  Fragen  ent- 
gegengestellt. Coccejus  antwortete  also  diesem  Juden  in  öffent- 
licher Disputation  und  gab  diese  seine  Erwiderungen  in  einer 
Schrift:  Consideratio  Judaicarum  quaestionum  et  responsionum  61 
Amsterdam  1661  heraus.  Vergleiche  auch  Coccejus  Werke  am 
Ende  des  7.  Bandes. 

Diese  Schrift  ist  eins  der  bedeutendsten  unter  den  Zeug- 
nissen, die  in  der  früheren  Zeit  aus  der  Mitte  der  evangelischen 
Christenheit  an  die  Juden  ergangen    sind,    setzt   aber   allerdings 


—     153     — 

-wissenschaftlich  gebildete  Leser  voraus.  Die  Christen  erinnert 
Coccejus  zuvor  ganz  besonders  eindringlich  an  ihre  Pflicht  gegen 
die  Juden  und  an  die  Hoffnung ,  welche  die  Schrift  noch  für 
dieses  Volk  hat.  Die  Hauptfrage  aber  denselben  gegenüber  sei, 
ob  Jesus  der  Messias  wäre.  Eben  diese  wolle  er  desshalb  an 
erster  Stelle  und  zwar  als  eine  Gewissensfrage  behandeln;  denn 
es  gelte  zu  zeigen,  dass  Jesus  Christus  sich  in  seiner  Lehre  vor 
den  Gewissen  rechtfertige  und  den  tiefsten  Bedürfnissen  des 
Menschen  entspreche.  Bei  Beantwortung  jener  oben  erwähnten 
Frage  in  dieser  Weise  suchte  er  aber  ebensosehr  den  Schriftbe- 
weis als  den  Beweis  ihrer  alten  rabbinischen  Literatur  zu  führen 
und  sie  so  durch  innere  wie  durch  äussere  Zeugnisse  zu  gewinnen. 

Ueberaus  gründlich  verfährt  der  arminianische  Professor  in 
Leyden,  Simon  Episcopius,  in  seinen  Institutiones  theologicae, 
deren  3.  Buch,  Sektion  4  den  Juden  und  besonders  der  Frage 
vom  Messias  gilt  (Amsterdam  1650).  Doch  schlug  derselbe  auch 
einen  direkteren  Weg  ein,  um  an  die  Juden  zu  kommen,  und  hielt 
kurz  vor  seinem  Tode  zwei  Predigten  in  holländischer  Sprache 
über  Johannes  17,  3 ,  welche  die  Ursachen  des  Unglaubens  der 
Juden  behandeln.  Diese  Predigten  sind  ins  Lateinische  übersetzt 
worden  und  so  in  Theil  I,  431  ff.  seiner  Werke  zu  finden.  Er 
weicht  hier  aber  von  der  christlichen  Lehre  mehrfach  sehr  bedenk- 
lich ab  und  nennt  die  Lehre  von  der  Dreinigkeit  geradeswegs  einen 
der  Punkte,  welcher  die  Juden  vom  Christenthum  fernhalten  müsse. 

Anton  Hüls i us  als  Professor  in  Leyden  1699  gestorben, 
von  dem  auch  der  Anfang  eines  Werkes  über  die  jüdische  Theo- 
logie vorliegt,  disputirte  mit  dem  Amsterdamer  Rabbi  Jakob 
Abendana  in  einem  hebräischen  Briefwechsel  über  die  Herr- 
lichkeit des  zweiten  Tempels  nach  Haggai  Kapitel  2  und  bewies 
demselben  aus  dieser  Schriftstelle  die  bereits  erfolgte  Ankunft 
des  Messias.  Kraansburg  schrieb  holländisch:  Der  Jooden 
Wegwizer,  Amsterdam  1654.  Grosse  Vorsicht  empfiehlt  in  dem 
ganzen  Verhältniss  zu  den  Juden  Gisbert  Voetius,  Professor  zu 
Utrecht.  In  mehreren  Schriften  widerrieth  er  ebenso  sehr  jede 
Misshandlung  der  Juden ,  als  das  Niederreissen  der  ihnen  ge- 
zogenen Schranken ;  das  eine  widerspreche  dem  Christenthum, 
das  andere  mache  sie  desto  verstockter.  Von  eben  demselben 
stammte  auch  eine  vortreffliche  Schrift  über  die  endliche  all- 
gemeine Bekehrung  der  Juden    1655. 


—     154     — 

Die  allgemeine  endliche  Bekehrung  Israels  bestritt  Jacob 
Batelerius  im  Haag  1669.  Jacob  Alting,  Professor  in  Gro- 
ningen, dagegen  schrieb  ausser  anderem  54  ganz  ausgezeichnete 
und  ungemein  umfangreiche  Predigten  über  Römer  1 1 ,  die  unter 
dem  Titel  Spes  Israelis  1676  erschienen  sind,  und  verkündigte 
eben  so  laut  die  seinem  Herzen  besonders  theure  Hoffnung  der 
Bekehrung  des  jüdischen  Volkes  in  einer  Dankpredigt,  welche  er 
nach  Aufhebung  der  Belagerung  von  Groningen  1672  zur  Er- 
öffnung der  Vorlesungen  hielt. 

Die  Aussicht  auf  die  Endbekehrung  Israels  war  auch  ein 
Sporn  für  Hermann  Witsius,  Professor  zu  Franeker  und  Leyden, 
durch  eine  Schrift:  Judaeus  Christianizans  (1660)  Anleitung  zu 
geben,  wie  man  es  versuchen  solle,  die  Juden  von  ihren  Irr- 
thümern  zu  überzeugen.  Von  Heinrich  Grönewegen  stammt 
eine  1677  zu  Amsterdam  holländisch  erschienene  und  dann 
auch  ins  Deutsche  zu  Frankfurt  a.  M.  übersetzte  Schrift:  „Hoff- 
nung Israels"  und  von  demselben  Verfasser  die  Frankfurt  171 1 
herausgegebene  Schrift:  „Ausbreitung  der  Herrlichkeit  des 
Königreiches  Christi  in  der  letzten  Zeitordnung  des  Neuen  Testa- 
mentes". Auch  dieser  Theolog,  ebenso  wie  Hermann  Varenius 
in  Franeker  bekannte  sich  zu  der  endlichen  allgemeinen  Bekeh- 
rung der  Juden.  Nur  wenige  Theologen  Hollands  wie  Saim 
Maresius  (1664)  bekämpften  diese  Hoffnung. 

Peter  Serarius  ging  sogar  so  weit,  eine  Wiederherstellung 
des  levitischen  Kultus  unter  den  bekehrten  Juden  zu  behaupten,, 
und  ähnliches  that  Eva  Margaritha  Fröhlich  in  einer  Schrift: 
„Bewys  wegen  der  Joden  hare  Gnadenverkiesing",  Amsterdam  1682. 

Haben  alle  diese  Gelehrten  auch  in  ihren  Werken  fleissig 
von  der  jüdischen  Literatur  Gebrauch  gemacht,  so  gilt  dies  im 
besonderen  Maasse  von  Joh.  Leus  den,  Professor  in  Utrecht,  der 
bei  Rabbinen  Unterricht  genommen  hatte  und  dann  auch  die 
Verwerthung  der  rabbinischen  und  talmudischen  Literatur  im 
Missionsinteresse  dringend  empfahl.  Besonders  that  er  dies  im 
Philologus  Hebraeo  mixtus   1663. 

Mit  den  Juden  und  der  jüdischen  Literatur  sich  auseinander- 
zusetzen fühlten  die  holländischen  Theologen  dasselbe  Bedürfniss 
wie  die  deutschen.  Auch  Dogmatiker  wie  Petrus  van  Mas- 
tricht  und  Archäologen  wie  der  berühmte  Vitringa  wollten  bei 
denselben  nicht  vorübergehen,  sondern  vertheidigten  ausdrücklich 
ihren  christlichen  Standpunkt  dem  jüdischen  gegenüber. 


—     155     — 

Alle  die  letztgenannten  Theologen  hielten,  da  sie  die  innere 
Verfassung  der  Juden  im  ernstesten  Lichte  ansahen,  sehr  weit- 
gehende Beschränkungen  derselben  für  nothwendig.  Bei  einigen 
anderen  dagegen  trat  eine  Freundschaft  für  die  Juden  zu  Tage,  welche 
es  ganz  zu  vergessen  drohte,  dass  die  Juden  unter  der  Schuld  und 
dem  Gericht  der  Verwerfung  Christi  dahinleben.  Caspar  Barlaeus 
verherrlichte  Menasseh  Ben  Israel  in  einer  Weise,  welche  ihm 
von  allen  Seiten  gerechten  Tadel  zuzog;  stellte  er  doch  den 
christlichen  und  den  jüdischen  Glauben  als  im  gleichen  Maasse 
Gott  gefällig  dar;  und  Romein  de  Hooghe  nannte  die  Juden 
„die  Gott  wohlgefällige  Braut  Zion".  Petrus  Jurieu  in  Rotter- 
dam schickte  dem  zweiten  Theile  seines  Buches  Accomplissement 
des  propheties  eine  Ansprache  an  die  Juden  voraus,  in  welcher 
er  sie  durch  die  Beschreibung  der  weltlichen  Herrlichkeit,  die 
ihrer  im  Messiasreiche  warte,  zu  gewinnen  sucht.  Zwei  Amster- 
damer Rabbinen  dankten  Jurieu  hierfür  und  forderten  ihn  auf, 
seinem  Buche  selbst  Folge  zu  geben  und  zu  ihnen  überzutreten; 
denn  er  hätte  es  unzweifelhaft  gemacht,  dass  der  Messias  noch 
nicht  erschienen  sei,  sondern  Israel  desselben  mit  Recht  noch  warte. 

Ein  Repräsentant  jener  Richtung  sodann,  welche  auf  die 
Juden  hauptsächlich  um  ihrer  Literatur  willen  ein  Augenmerk 
aus  überwiegend  wissenschaftlichen  Gründen  richtete  und  sich 
dann  im  Studium  des  Talmud  und  der  Rabbinen  verlor,  muss 
der  berühmteste  Philologe  jener  Zeit,  Professor  Jac.  Rhenferd 
in  Franeker,  um  1687,  genannt  werden.  Wie  derselbe  unter 
Rabbinen  studirte  und  stets  mit  Rabbinen  verkehrte,  so  hat 
er  auch  mit  grossem  Eifer  rabbinische  Vorlesungen  gehalten  und 
viele  Dissertationen  über  rabbinische  Gegenstände  herausgegeben. 
Für  die  Auslegung  des  Alten  und  Neuen  Testamentes  zog  er 
am  liebsten  rabbinische  Erklärungen  herbei  und  bekehrte  Juden 
wollte  er  selbst  bei  ihren  früheren  jüdischen  Gebräuchen  gelassen 
wissen. 

Andere  Vertreter  der  specifisch  gelehrten  Richtung  unter 
denen,  welche  sich  in  Holland  mit  den  Juden  beschäftigten,  sind 
Joh.  Koch  in  Amsterdam  1629  und  Oppyk,  der  eine  Clavis 
Talmudica  Maxima  schrieb,  Leyden  1634,  M.  Arnold  in  Fran- 
eker 1680.  W.  H.  Vorst  übersetzte  in  Amsterdam  und  Leyden 
seit  1638  Schriften  von  Maimonides  ins  Lateinische  uud  versah 
sie  mit  Anmerkungen.  Dasselbe  that  Vythage  in  Leyden  1683 
und  Honting,   Amsterdam   1695.     Johann  Clericus,   Ende    des 


i56     - 

\j.  und  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  übersetzte  Traktate  des 
Talmud  ins  Lateinische,  Uchtmann  in  Leyden  1668  gab  Jedaja 
Peninis  Schrift  über  die  Nichtigkeit  der  Welt  hebräisch  und 
lateinisch  heraus.  F.  v.  Husen  lieferte,  Leyden  1687,  eine 
Uebersetzung  des  Commentars  von  Abarbanel  zu  Jona.  Petrus 
Cunaeus  führte  in  seinem  Buche  De  Republica  Hebr.  den  Juden 
den  gelehrten  Schriftbeweis,  dass  der  Messias  bereits  erschienen 
sei.  Casimir  Oudine  gab  in  Leyden  1692  die  drei  Bücher 
Dialoge  gegen  die  Juden  des  1201  verstorbenen  Bischofs  P. 
Gualter  de  Castilione  heraus.  Professor  Johannes  Meyer  in 
Hardenvyk  verfasste  zwischen  1695  und  171 2  mehrere  Schriften, 
welche  ebenso  die  Juden  wissenschaftlich  von  der  Messianität  Jesu 
überführen  sollten,  und  benutzte  hiezu  mit  Vorliebe  die  Rabbinen 
und  die  Cabbala. 

Die  ganze  Mischnah  übersetzte  zum  ersten  Male  in  sechs 
Theilen  ins  Lateinische  der  gelehrte  Wilhelm  Surenhuis,  Pro- 
fessor in  Amsterdam  1698 — 1703,  nachdem  er  sich  zu  diesem 
Behuf  mit  Rabbinen  in  Verbindung  gesetzt  hatte.  Es  schliessen 
sich  an  in  lateinischer  Uebersetzung  die  Commentare  des  Mai- 
monides  und  Bartenoras  nebst  Bemerkungen  und  Uebersetzungen 
verschiedener  Autoren  zu  den  von  ihnen  herausgegebenen  Codices; 
eigene  Bemerkungen  von  Surenhuis  sind  hinzugefügt. 

Zu  den  gelehrten  Kämpfern  mit  den  Juden  gehörte  auch 
Melchior  Leydekker,  Professor  in  Utrecht,  der  seit  1685  eine 
Reihe  von  diesbezüglichen  Schriften  erscheinen  liess;  auch  er 
hatte  den  Unterricht  eines  Rabbi  genossen  und  schon  als  1 7- 
jähriger  Jüngling  rabbinische  Schriften  gelesen. 

Von  den  Theologen,  welche  für  die  Auslegung  des  Alten 
Testamentes  die  Rabbinen  herangezogen  sehen  wollten,  ist  zu  nennen 
Stephan  le  Moyne,  Professor  in  Leyden,  am  Schlüsse  des  Zeit- 
raumes. Viel  nüchterner  dachte  in  diesem  Punkte  JaquesGousset,*) 
ein  reformirter  Theolog,  der  1685  aus  Frankreich  nach  Holland 
geflüchtet  und  zuletzt  Professor  in  Groningen  war.  In  seiner 
Schrift  Ternio  controversiarum  adversus  Judaeos,  Dortrecht  1688 
bekämpft  er  an  der  Hand  dreier  Schriftstellen  das  Chissuk  Emunah 
des  Isaak  Troki,  wobei  er  zugleich  den  christlichen  Theologen 
1  äth,  sich  nicht  den  Juden  gegenüber  auf  den  Talmud  zu  berufen, 
da  in  demselben  immer  ein  Zeugniss  dem  anderen  widerspreche. 


*)  Saat,  Michaeli   187 1,  S.   224  ff. 


—     157    — 

Die  Bibel  biete  das  beste  Arsenal  für  die  Widerlegung  der 
jüdischen  Irrthümer.  Diese  Schrift  war  aber  nur  der  Vorläufer 
einer  grösseren:  Jesu  Christi  Evangeliique  veritas  salutifera  de- 
monstrata,  der  6  Disputationen  zum  Hebräer -Brief  als  Anhang 
zugefügt  sind.  Das  Werk  ist  nach  seinem  im  Jahre  1704  er- 
folgten Tode  171 2  in  Amsterdam  erschienen.  Das  ganze  Buch 
Chissuk  Emunah,  diese  bedeutendste  jüdisch -polemische  Schrift 
gegen  das  Christenthum  wird  hier  in  gründlichster  Weise  widerlegt. 

Ein  anderer  von  den  geflohenen  französischen  Theologen 
Pierre  du  Bosc,  welcher  dann  Geistlicher  in  Holland  war,  wies 
seine  Umgebung  in  einer  Dissertation  über  Römer  II,  32  ff. 
auf  die  mit  aller  Zuversicht  zu  erhoffende  endliche  Bekehrung 
Israels  hin. 

Als  Apologet  des  Christenthums  gegen  die  Juden  trat  ein 
anderer  französischer  Flüchtling,  Isaak  Jaquelot,  auf,*)  der  nach 
der  Aufhebung  des  Ediktes  von  Nantes  zuerst  nach  Heidelberg, 
dann  nach  dem  Haag  in  Holland  ging  und  endlich  in  Berlin  als 
Prediger  der  dortigen  französischen  Gemeinde  1708  starb.  Er 
hielt  1692  im  Haag  vier  Predigten  über  das  Thema:  Jesus  Christ, 
qu'il  est  le  Messie  et  le  vrai  Dieu,  und  liess  dann  1699  ebenfalls 
im  Haag  Dissertations  sur  le  Messie,  oü  Ton  prouve  aux  Juifs,  que 
Jesus  Christ  est  le  Messie  promis  et  predit  dans  l'ancien  Testa- 
ment, erscheinen.  Jaquelot  ist  mit  der  jüdischen  Literatur  wohl 
vertraut,  und  seine  Sprache  zeigt  die  französische  Eleganz.  Der 
Geist  aber,  in  welchem  er  schreibt,  ist  der  eines  mit  warmer 
Liebe  zu  den  Verirrten  erfüllten  Christen.  Er  stellt  zuerst  positiv 
nach  der  Schrift  fest,  dass  Jesus  der  rechte  Messias  und  seine 
Lehre  die  rechte  Lehre  ist,  und  beantwortet  dann  die  jüdischen 
Einwürfe.  Die  Erhabenheit  Christi  über  alles,  was  die  Welt  kennt, 
weiss  er  aufs  Eindringlichste  den  Juden  zu  Gemüthe  zu  führen 
und  stellt  dem  falschen  Messiasbild,  welches  die  Juden  immer 
wieder  verleitet  irre  zu  gehen,    das  rechte  der  Schrift  entgegen. 

Den  apologetischen  Weg  schlug  auch  unter  den  Arminianern 
Philipp  van  Limborch,  zuletzt  Professor  in  Amsterdam^  ein.**) 
Er  traf  mit  dem  aus  Spanien  geflohenen  Marannen  Orobio  de 
Castro,  welcher  selbst  nach  seiner  Flucht  aus  Spanien  in  Frank- 
reich  noch    als  Rath  Ludwig-  XIV.  sein  Scheinchristenthum    bei- 


Saat, Johann!  1874,  S.  131  ff. 
Saat,  Johanni  1872,  S.  158  ff. 


-     i58     - 

behalten  hatte    und    dasselbe    erst   1666   in  Holland   fallen   Hess, 
zusammen.     Orobio  griff  jetzt  das  Christenthum  aufs  heftigste  an. 
Limborch  aber  führte  selbst  einem  in  so  besonderem  Maasse  un- 
würdigen  Menschen    gegenüber    in   ruhigster   und    selbst    freund- 
licher  Weise    die    Sache    des   Christenthums.     Er   eröffnete   also 
mit    Orobio    eine    schriftliche    Besprechung    über   die   schweben- 
den Fragen.     Anfangs  hatte  Limborch  seine  Briefe  nicht  für  die 
Oeffentlichkeit  bestimmt,    später  gab   er   jedoch,    wie   wohl    nur 
zögernd,  seine  Zustimmung  zu  ihrer  Veröffentlichung,    die   1687 
zu  Gouda  erfolgte.     Die  dort  erschienene  Schrift  trägt  den  Titel: 
De  veritate  religionis  Christianae  amica  collatio  cum  erudito  Judaeo. 
Orobios  Anklagen  gegen  das  Christenthum  beantwortet  Limborch 
rein  sachlich.     Auch  er  hebt  wie  Grotius  dem  Orobio  gegenüber 
hervor,  dass  alles,  was  derselbe  für  Moses  anführe,  für  Christum 
gelte.     Zum    Verständniss    der    Schrift    und    des    Christenthums 
gelange  man  aber  freilich  nur,   wenn   man    den  Stufengang   der 
Offenbarung  beachte.     Das  alttestamentarische  Gesetz  selbst   ist 
unzulänglich  für  das  Heil  des  Menschen,  weist  aber  typisch  und 
mystisch  auf  dasselbe  hin.     Limborch  führt  dies  nach  der  cocce- 
janischen  Weise  aus,  und  darin  liegt  die  Stärke,  wie  die  Schwäche 
seiner  Beweisführung.     Richtig  wies  er  aber  seinen  Gegner  darauf 
hin,    dass    es    nicht    eine    blosse    Verstandesverschiedenheit    sei, 
welche  die  Juden  nicht  zu  Christo  kommen  lasse,   sondern    dass 
sie   der   Erdensinn    und    der   Hochmuth    zur  Verwerfung    Christi 
geführt    und    diese    Sünde    alsdann    auch    ihr    ganzes    Geschick 
bestimmt  habe.     Am  Anfange  der  amica  collatio  bespricht  Lim- 
borch   den  Fall  des    Uriel  Acosta.     Auch    in    anderen    Schriften 
vertheidigte  Limborch  das  Christenthum  gegen  die  Juden;  so  in 
den  Commentaren   zur  Apostelgeschichte,   zum  Römer-  und  He- 
bräer-Brief und    in:  Jesum    esse  Christum  seu  Messiam  Judaeis 
olim  promissum  1686.     In  letzterer  Schrift  widerlegt  er  die  ver- 
nehmlichsten  Einwürfe  der  Juden.     1702    erschien   diese  Schrift 
auch  in  englischer  Uebersetzung  zu  London. 

In  holländischer  Sprache  suchte  ferner  am  Ende  des  Jahr- 
hunderts Lake  es  zu  beweisen,  dass  der  Messias  längst  gekom- 
men sein  müsse,  und  Jesus  der  Messias  sei.  Thomas  Crenius, 
gleichfalls  am  Ende  des  Jahrhunderts  in  Holland  wirkend,  gab 
dann  1702  den  Elenchus  Judaicus  von  Helwig  neu  heraus,  um 
bei  dieser  Gelegenheit  einmal  die  Zeitgenossen  an  die  grosse 
Zahl  von  Schriften  zu    erinnern,   welche   für   die  Bekehrung   der 


—     159     — 

Juden  geschrieben  seien  und  von  den  Christen  zu  diesem  Zwecke 
venverthet  werden  könnten. 

In  der  That,  die  Theologen  aller  Parteien  in  Holland  ent- 
falteten einen  überaus  regen  Eifer,  um  die  Juden,  die  ihr  Land 
neu  aufgenommen  hatte,  für  das  Christenthum  zu  gewinnen. 
Die  Wirkung  wurde  aber,  von  den  schon  früher  angegebenen 
Gründen  abgesehen,  doch  dadurch  beeinträchtigt,  dass  man  auch 
hier  zu  überwiegend  den  literarischen  Weg  einschlug,  um  die 
Juden  zu  gewinnen.  Man  erreichte  auf  diese  Weise  immer  nur 
eine  zu  kleine  Anzahl  einzelner  und  trat  mit  der  grossen  Masse 
nicht  in  jene  lebendige  Berührung,  welche  das  eigentliche  Zeug- 
niss  ablegen  erst  recht  möglich  macht.  So  sehr  die  hollän- 
dische Missionsliteratur  jener  Zeit  ihre  Vorzüge  hat,  so  deutlich 
zeigt  sie  es  doch  auch ,  dass  sie  der  Mangel  an  einem  genügen- 
den persönlichen  Verkehr  mit  den  Juden  beeinträchtigt.  Der 
Schwerpunkt  fiel  auch  hier  jedesfalls  noch  nicht  auf  das  münd- 
liche, sondern  auf  das  schriftliche  Wort,  das  nun  einmal  das 
mündliche,  welches  erst  die  ganze  Zeugenkraft  entfaltet,  nie 
hinreichend  ersetzt. 

b.  Holländische  Proselyten. 

Dass  sich  die  holländische  Judenschaft,  die  anfangs  zum 
grössten  Theile  aus  Marannen  bestand,  welche  ihr  Scheinchristen- 
thum  endlich  abgeworfen  hatten,  zunächst  als  ein  wenig  ergiebiges 
Missionsfeld  erwies,  wird  nicht  Wunder  nehmen.  Ueberdem 
waren  jene  Neujuden  mit  unbeugsamer  Strenge  darauf  bedacht, 
alle  christlichen  Regungen  unter  den  Ihrigen  bei  Zeiten  zu  er- 
sticken. Einen  in  ihrer  Mitte,  der  es  gewagt  hatte,  Jesum  einen 
weisen  und  frommen  Mann  zu  nennen,  und  der  sich  weigerte, 
dies  zu  widerrufen,  thaten  sie  dafür  in  den  Bann.  (Wolf.  Ani- 
madv.  ad  R.  Zebi.  Theriaca  Jud.  c  2.)  Und  da  überdem  die 
erste  Missionswirksamkeit  hier  überwiegend  in  gelehrten  Bahnen 
einherging,  so  war  ihr  nächster  Erfolg  kein  bedeutender.  Bis 
zum  1 8.  Jahrhundert  werden  nicht  sehr  viele  Proselyten  in  Holland 
genannt,  und  noch  weniger  begegnen  uns  in  irgend  welcher  Be- 
ziehung hervorragendere  Persönlichkeiten  unter  denselben. 

Erwähnt  werden  aus  jener  Zeit  Daniel  Alexandersen,*) 
getauft  1621.     Derselbe  veröffentlichte  sein  Glaubensbekenntniss 


>)  Wolf  B.  H.  3  N.  533  b. 


—     160     — 

zuerst  in  syrischer  Sprache,  und  dasselbe  wurde  dann  ins  Hol- 
ländische, Deutsche  und  Französische  übersetzt  von  Petrus  Jacobi, 
Amsterdam  1642.  Dem  Bekenntnisse  ist  ein  Brief  an  die  zer- 
streuten Juden  beigefügt,  welcher  sie  zur  Bekehrung  auffordert. 

Der  bedeutendste  unter  den  holländischen  Proselyten  des 
17. Jahrhunderts  war  Ragstatt  de  Weile,  auch  Veil  genannt.*) 
Sein  Leben  und  seine  Bekehrung  hat  er  selbst  in  einer  holländi- 
schen Schrift:  Noachs  Prophetie  van  de  salige  Roepinge  en  Be- 
keeringe  der  Heydenen  über  1  Mose  9,  27,  Amsterdam  1685, 
beschrieben.  Danach  ist  er  zu  Metz  1648  geboren.  Seine  Vor- 
fahren waren  aus  Spanien  geflohen  und  führten  den  Namen 
Veil.  Die  Leute  aber  nannten  seinen  Vater  nach  der  Stadt 
Rastadt,  in  welcher  derselbe  seinen  Wohnsitz  gehabt  und  dort 
grosse  Reichthümer  gesammelt  hatte.  Sein  Vater  David  war 
Vorsteher  und  Lehrer  an  verschiedenen  Synagogen.  Auf  jüdische 
Schulen  von  seinen  Eltern  geschickt,  fiel  ihm  dort  einmal  die 
sogenannte  Weissagung  des  Elias  aufs  Herz,  dass  der  Messias 
nach  4000  Jahren  zu  erwarten  sei.  Unterdess  selbst  Rabbi 
geworden,  studirte  er  fleissig  die  Propheten,  verglich  sie  mit 
den  Rabbinen  und  kam  zu  der  Erkenntniss,  dass  der  Messias, 
von  dem  die  Evangelisten  reden,  der  rechte  sein  müsse.  Zu 
dieser  Erkenntniss  gelangt,  begab  er  sich  zu  D.  Jo.  Alex.  Neu- 
spitzer, Pastor  an  der  reformirten  Kirche  zu  Cleve,  in  dessen 
Nähe  er  wohnte  und  wurde  von  demselben  in  seiner  Ueberzeugung 
gestärkt.  Um  aber  volle  Klarheit  in  einer  so  wichtigen  Ange- 
legenheit zu  erlangen,  trat  er  öffentlich  in  der  Synagoge  zu 
Cleve  auf  und  setzte  den  versammelten  Juden  seine  Ansichten 
auseinander,  wobei  er  erwartete,  dass  die  Juden,  falls  sie  das 
im  Stande  wären,  ihm  das  Irrthümliche  in  denselben  nachweisen 
würden.  Als  dies  aber  nicht  geschah,  begab  er  sich  ganz  zu 
Dr.  Neuspitzer,  der  ihn  freundlich  in  sein  eigenes  Haus  aufnahm, 
dort  erhielt  und  ihn  unterrichtete,  bis  er  ihn,  23  Jahre  alt,  1671 
taufen  konnte.  Nach  dem  Kurfürsten  von  Brandenburg  nahm 
er  den  Namen  Friedrich  an  und  wünschte  nun,  die  Juden  mit 
dem  Evangelium  aufzusuchen,  besonders  aber  die  Jugend  im 
Hebräischen  zu  unterweisen.  Sein  Weg  führte  ihn  jetzt  nach 
Holland,  dort  besuchte  er  die  Akademie  zu  Groningen  und  ging 
1672  nach  Leyden  als  Candidat  des  Predigtamtes.     1677  erhielt 


')  Wolf  B.  H.   1,  3,  4  N.   1852. 


—     161     — 

er  seine  erste  Stelle  in  Ossenen,  1680  aber  wurde  er  nach 
Spyk  bei  Gorkum  in  Süd -Holland  versetzt  und  blieb  dort  bis 
an  sein  Ende. 

Sogleich  nach  seiner  Bekehrung  schrieb  er  Theatrum  luci- 
dum, exhibens  verum  Messiam  dominum  nostrum  Jesum  Christum 
ejusque  honorem  defendens  contra  accusationes  Judaeorum  seu 
Rabbinorum  in  genere,  speciatim  R.  Lipman  Nizzachon.  Amster- 
dam 167 1.  Das  Buch  wird  sonst  auch  unter  dem  Titel  Tracta- 
tus  de  vero  Messia  angeführt  und  wurde  später  von  ihm,  reichlich 
vermehrt,  in  holländischer  Uebersetzung  herausgegeben,  Amster- 
dam 1683,  und  in  noch  erweiterterer  Gestalt,  Haag  1684.  Im 
Holländischen  trägt  es  den  Titel:  De  Heerlyckheid  Jesu  Christi 
Krachtelyk  uyt  Moses  en  de  Propheten  bewesen.  Diese  Ausgabe 
enthält  auch  zwei  Predigten  des  Verfassers  über  1  Mose  49,  10 
und  Maleachi  3 ,  1 ,  von  denen  die  erstere  in  deutscher  Ueber- 
setzung bei  Joh.  Christ  Müller  1 702  im  Pantheon  Anabaptisticum 
N.  43  zu  finden  ist. 

Die  erwähnten  Schriften  reden  zu  Gunsten  dieses  Proselyten; 
denn  aus  ihnen  spricht  eine  lebendige  christliche  Ueberzeugung 
und  Erfahrung  des  Verfassers  heraus.  Christum  stellt  er  beson- 
ders als  das  Licht  des  Lebens  den  Juden  dar  und  bittet  sie, 
diesem  Lichte  zu  folgen,  so  würden  sie  sich  nicht  länger  auf  die 
Irrwege  ihrer  Ueberlieferungen  verlieren.  Dabei  beweist  er  ihnen, 
dass  der  Messias  gekommen  sei,  und  kein  anderer  mehr  kommen 
könne,  sondern  sie  vielmehr  stets,  weil  sie  den  wahren  Messias 
nicht  hätten  annehmen  wollen,  von  falschen  Messiasen  betrogen 
worden  seien,  während  alle  Schriftzeugnisse  in  Christo  ihre  Er- 
füllung gefunden  hätten.  Auch  die  Lehre  von  der  Dreieinigkeit 
weiss  er  seinen  früheren  Glaubensgenossen  in  lebendiger  Weise 
nahe  zu  bringen.  Ueberall  aber  braucht  er  denselben  gegenüber 
eine  sehr  gewinnende,  herzliche  Sprache  und  dringt  in  sie,  die 
Schrift  zu  lesen,  welche  der  rechte  Wegweiser  in  Glaubens- 
sachen sei. 

In  einer  anderen  Schrift  Vertoog  van  de  Wangestalte  des 
hedendaegse  superstitieuse  Jodendoms,  mitsgaders  have  stoute 
hardnekkigheyd,  int  lästeren  van  de  Heere  der  Heerlykheid,  en 
de  misbruyk  van  die  an  haar  gegunne  vryheyd,  Dortrecht  1699, 
erzählt  er,  wie  ein  jüdischer  Lehrer  aus  Leerdam  zu  ihm  unter 
dem  Vorgeben,  dass  er  Christ  werden  wolle,  in  der  That  aber, 
um  ihn  zu  ermorden,  gekommen  sei.     Als  ihm  sein  verbrecheri- 

J.  F.  A.  de   le   Roi,    Missionsbeziehungen.  II 


—       IÖ2       — 

sches  Vorhaben  nicht  glückte,  richtete  er  dann  eine  Schrift  voller 
Lästerungen  an  Ragstatt  de  Weile,  auf  welche  derselbe  in  der 
eben  erwähnten  Schrift  antwortete.  Hier  nun  beklagt  Ragstatt, 
dass  den  Juden  zu  weit  gehende  Freiheiten  in  Holland  eingeräumt 
würden,  und  dies  sie  nur  an  ihrer  Bekehrung,  deren  Beförderung 
ihm  sehr  am  Herzen  lag,  hindere.  Seine  Schrift  brachte  denn 
auch  Vorschläge,  wie  man  das  Missionswerk  unter  den  Juden 
lebendiger  anfassen  sollte.  Zugleich  aber  wendete  er  sich  hier 
gegen  die  gehässigen  Reden  und  Erdichtungen,  mit  welchen  die 
Proselyten  von  jüdischer  Seite  verfolgt  würden,  und  bewies  in 
einer  Predigt  über  Jesaia  55,  1  dann  den  Juden,  dass  ihr  Cere- 
monialgesetz  keine  Giltigkeit  mehr  habe. 

Dass  sein  Zeugniss  von  den  Juden  empfunden  wurde,  beweist 
aber  nicht  bloss  jener  Mordanfall  des  jüdischen  Lehrers  auf  ihn, 
sondern  in  besserer  Weise  auch  die  Bekehrung  eines  reichen  Juden 
portugiesischer  Abkunft,  Aharon  Gabai  Faro  (Rodriguez),  welcher 
des  Verfassers  Schrift  de  Heerlykheyd  Jesu  Christi  gelesen  hatte 
und  durch  sie  zur  Erkenntniss  Jesu  Christi  geführt  wurde.  In 
der  Taufpredigt  Jesus  Nazarenus  Sions  koninck  über  Psalm  2,  6 
berichtete  Ragstatt  de  Weile  selbst  über  diesen  Fall. 

Sonst  wird  unter  den  bekehrten  Juden  dieser  Zeit  in  Holland 
Johannes  Jacobus  genannt,  von  dem  im  Jahre  1682  eine  Schrift 
in  Amsterdam  erschienen  ist:  Jesus  de  waare  Hoeckstein,  welche 
der  Verfasser  zuerst  in  englischer  Sprache  hatte  ausgehen  lassen; 
später  hiervon  mehr. 

Wenig  Ehre  hat  Aaron  Margaritha  seinem  Christenstand 
gemacht.*)  Derselbe  stammte  aus  Polen.  In  Leyden  wurde  er 
von  Trigland  in  die  reformirte  Kirche  aufgenommen,  später  aber  in 
Hamburg  lutherisch  1712.  Derselbe  hat  an  verschiedenen  Orten 
Hebräisch  unterrichtet  und  eine  Menge  von  Schriften  verfasst; 
insbesondere  hat  er  die  Uebereinstimmung  der  Cabbala  mit  der 
christlichen  Lehre  nachzuweisen  gesucht.  Da  er  zu  keiner  festen 
Lebensstellung  gelangte,  soll  er  schliesslich  den  Juden  angeboten 
haben,  wieder  zu  ihnen  zurückzukehren  und  endlich  im  Zucht- 
hause in  Copenhagen  gestorben  sein.  Die  Gerechtigkeit  aber 
erfordert  es  anzuerkennen,  dass  die  Unsicherheit  seiner  äusseren 
Lage  ihm  zur  Versuchung  werden  musste,  und  dass  weder  in 
Holland  noch  in  Deutschland  Genügendes   geschah,    um    diesem 


")  Wolf  B.  H.   i,  3,  4  N.   189.     Saat   1869.     Weihnacht  S.   147  ff. 


—     iÖ3     — 

schwankenden  Charakter  einen  Halt  zu  bieten.  Er  sowohl  als 
ein  Proselyt  Jacob  Wolf  wollten  sich  übrigens  das  Vertrauen  der 
Christen  durch  gehässige  Beschuldigung  ihrer  früheren  Glaubens- 
genossen erwerben. 

Tödtliche  Feindschaft  der  Juden,  die  vor  nichts  zurück- 
schreckte, und  in  vielen  Fällen  Vernachlässigung  auf  Seite  der 
Christen,  das  war  das  Loos,  welches  die  Proselyten  in  Holland 
fanden;  eben  dies  erklärt  es  denn  auch,  dass  viele  vom  Christ- 
werden zurückschreckten,  und  die  Zahl  der  Proselyten  im  17. 
Jahrhundert  dort  keine  erhebliche  war. 

7.  Grossbritannien. 

William  Prynne,  A  short  demurrer  to  the  Jews  long  dis- 
continued  remitter  into  England  1656.  A  narrative  of  the  late 
Proceedings  of  Whitehall  concerning  the  Jews,  London  1656,  zu 
finden  in  Phenix  or  a  Revival  of  scarce  and  valuable  pieces 
S.  391  ff.  London  1707  und  1708,  wieder  abgedruckt  in  Jewish 
Expositor  1826  S.  281  ff.  Anglia  Judaica  von  D.  Blossiers 
Tovey.  Oxford  1738.  Schudt  1,  190  ff.  4,  124  ff.  Picciotto, 
sketches  of  Anglo  Jewish  History  S.  25  und  öfters.  Our  Missions 
von  Thomas  D.  Halsted.  S.  31   ff.     London   1866. 

a.  Die  Wiederaufnahme  der  Juden  in  England. 

Im  Jahre  1290  waren  die  Juden  unter  König  I.  Eduard 
aus  England  vertrieben  worden,  und  die  katholische  Zeit  Hess 
es  dann  zu  keiner  weiteren  Theilnahme  für  dieselben  kommen. 
Allein  die  Reformation  ist  es  gewesen,  welche  wieder  ein  Interesse 
an  den  Juden  in  weiteren  Schichten  des  englischen  Volkes  er- 
weckt hat.  Besonders  fühlten  die  Puritaner  bei  ihrem  eifrigen 
Studium  der  Bibel  und  zumal  des  Alten  Testamentes  ihre  Auf- 
merksamkeit auf  dieselben  gerichtet;  und  leicht  übertrug  man 
in  diesen  Kreisen,  was  von  der  Treue  der  Gläubigen  Israels 
während  der  Tage  des  Alten  Bundes  in  der  Schrift  gesagt  war, 
auf  die  Juden  der  Gegenwart.  Ueberdem  las  man  die  zahlreichen 
Verheissungen,  welche  besonders  das  Alte  Testament  für  die 
Juden  enthält;  und  der  lebendige  Glaube  an  die  Wahrheit  der 
Schrift  nahm  die  Erfüllung  schnell  voraus,  ohne  dass  man  immer 
die  Bedingungen  ihrer  Erfüllung  recht  erwog.  Alles  dies  wirkte 
dazu,    dass    sich    nicht   wenige    in  England    ein   ganz  eigenthüm- 

1 1* 


i6a 

liches  Bild  von  den  Juden,  die  man  ja  überdem  in  der  Nähe 
nicht  sah  und  aus  Erfahrung  nicht  kannte,  entwarfen.  Eduard 
Nicholas  schrieb  z.  B.  eine  „Apologie  für  die  ehrenwerthe 
Nation  der  Juden  und  für  alle  Söhne  Israels",  welche  die  Juden 
üb erschw anglich  idealisirte.  Das  alles  wurde  den  Juden  des 
europiüschen  Festlandes  wohl  bekannt  und  so  hielt  man  in 
Cromwells  Zeit  unter  demselben  die  Zeit  für  gekommen,  ihre 
Aufnahme  im  Inselreiche  von  Neuem  zu  erbitten.  Der  Name 
Cromwells,  eines  Staatsmannes,  der  mit  seinen  Anhängern  ganz 
besonders  hoch  vom  Alten  Testamente  hielt  und  sich  mit  ihnen 
überall  auf  dasselbe  berief,  wurde  unter  den  Juden  weit  und 
breit  genannt.  Eben  diese  Vorliebe  Cromwells  für  das  Alte 
Testament  mag  unter  den  Juden  ähnliche  Vorstellungen  über 
den  Protektor  hervorgerufen  haben,  wie  die  waren,  welche  die- 
selben im  Anfange  der  Reformation  von  Luther  hatten.  Sie 
glaubten,  dass  er  und  seine  Anhänger  im  Grunde  ihres  Herzens 
jüdische  Gesinnung  hegten,  und  der  Ruf  beider  war  in  der  That 
in  der  Judenschaft  ein  ganz  seltsamer. 

Ueberdem  hatte  Cromwell  allgemeine  Religionsfreiheit  ver- 
kündigt und  erklärt,  dass  er  dem  Handel  besonderen  Schutz  und 
Pflege  werde  angedeihen  lassen,  und  als  ein  Handelsvolk  sah  er 
die  Juden  mit  günstigen  Augen  an.  Sein  Feldkaplan  stellte 
1647  sogar  den  Antrag,  es  solle  den  Juden  erlaubt  werden,  in 
England  zu  wohnen  und  Handel  zu  treiben. 

Alle  diese  Umstände  veranlassten  Menasseh  Ben  Israel  in 
Amsterdam,  die  Wiederaufnahme  der  Juden  in  England  zu  be- 
treiben. Er  trat  zu  diesem  Zwecke  mit  einflussreichen  und  ge- 
lehrten Männern  in  einen  Briefwechsel.  Schon  1647  hatte  er 
nämlich  an  einen  Engländer  geschrieben,  dass  ihr  Land  seine 
gegenwärtigen  Unruhen  besonders  den  früheren  Verfolgungen 
der  Juden  zu  danken  habe.  1650  aber  hatte  er  sein  Buch  Spes 
Israelis  dem  englischen  Parlament  gewidmet  und  den  Dank  dieser 
Körperschaft  dafür  durch  Anschreiben  des  Parlamentsassessors 
E.  S.  Middlesex  erhalten.  Hierdurch  ermuthigt,  wandten  sich 
nun  an  Menasseh  Ben  Israel  orientalische  Juden,  welche  ihren 
Amsterdamer  Genossen  dringend  aufforderten,  die  günstige  Ge- 
legenheit nicht  unbenutzt  vorübergehen  zu  lassen  und  die  Wie- 
derzulassung der  Juden  im  Inselreiche  zu  beantragen.  Menasseh 
folgte  dieser  Aufforderung  und  ging  1655  mit  Jacob  Ben  Azahel 
und  dem  Präger  Rabbi  David  Eleazar  nach  London.     Gleichzeitig 


i65     - 

war  eine  Anzahl  jüdischer  Kaufleute  in  die  englische  Hauptstadt 
gekommen,  die  nur  den  Ausgang  der  Verhandlungen  jeher  eben 
genannten  abwarten  wollten,  um  sich,  wenn  dieselben  günstig 
ausfielen,  sogleich  in  England  niederzulassen. 

In  London  wandten  sich  die  Abgeordneten  zuerst  an  die 
Handelskammer,  um  derselben  Eröffnungen  über  eine  vortheil- 
hafte  Verbindung  Englands  mit  dem  Orient  zu  machen.  Das 
Direktorium  der  Handelskammer  nahm  sie  gut  auf,  wies  sie 
aber  mit  ihrem  Gesuch  um  Aufnahme  in  England  an  Cromwell. 

Die  Räthe  Cromwells  wurden  nun  durch  die  jüdischen 
Deputirten  bestochen  und  unterstützten  daher  ihr  Gesuch.  Me- 
nassehs  Petition  enthielt  aber  7  Punkte:  I.  Aufnahme  der  jüdi- 
schen Nation  in  England.  2.  Freie  Religionsübung  für  dieselbe. 
3.  Gewährung  eigener  Begräbnissplätze.  4.  Freie  Ausübung  des 
Handels  unter  denselben  Bedingungen,  wie  sie  für  andere  Fremde 
bestünden.  5.  Schutz  für  die  Anziehenden.  6.  Eigene  Gerichts- 
barkeit der  Juden  bei  allen  ihren  Streitigkeiten  unter  einander. 
7.  Aufhebung  der  Gesetze  wider  die  Juden. 

Ueber  dieses  Begehren  zu  berathen  nun  berief  der  Protektor 
eine  Versammlung  von  weltlichen  und  geistlichen  Mitgliedern, 
die  vom  4.  bis  18.  Dezember  1655  in  wöchentlich  2  oder  3 
Sitzungen  in  Whitehall  tagte.  Die  Stimmen  waren  getheilt. 
Mehrere  und  besonders  einige  Geistliche  fürchteten,  dass  die 
Rückkehr  der  Juden  zur  Verführung  vieler  Christen  führen  würde, 
und  diese  Furcht  war  bei  der  eigentümlichen  Auffassung  von 
der  Giltigkeit  des  alttestamentlichen  Gesetzes  in  puritanischen 
Kreisen  keine  ungegründete.  Dachten  doch  nicht  Wenige  unter 
denselben  daran,  den  christlichen  Sonntag  durch  den  jüdischen 
Sonnabend  zu  ersetzen.  Jedesfalls  forderte  man  ein  Verbot  der 
Lästerung  Christi,  der  Verhöhnung  der  Christen  und  des  Be- 
truges. Die  Kaufieute  äusserten  ihre  Besorgniss,  dass  der  eng- 
lische Handel  durch  diese  Fremden  Schaden  leiden  würde.  Von 
anderen  und  besonders  von  weltlichen  Räthen  dagegen  wurde 
die  Ansicht  geäussert,  die  Christen  seien  Schuldner  der  Juden 
und  sollten  dieselben  nun  reizen,  das  Evangelium  anzunehmen. 
Die  Juden  erlitten  in  vielen  Ländern  grosse  Verfolgung;  das  sei 
aber  gegen  die  Schrift.  England,  in  dem  schon  gegenwärtig  von 
vielen  Christen  eifrig  und  glühend  für  das  Heil  der  Juden  gebetet 
werde,  solle  ihnen  zeigen,  dass  es  die  frühere  eigene  Verschuldung 
gegen    die  Juden   bereue    und    dass  es  jetzt  gern  ein  Werkzeug 


—     166     — 

zu  ihrer  Bekehrung  werden  wolle.  England,  das  an  die  Ver- 
heissungen  Gottes  für  die  Juden  glaube,  habe  doppelten  Anlass, 
dieselben  aufzunehmen.  Der  Händel  des  Landes  aber  werde  so 
wenig  durch  die  Rückkehr  der  Juden  Schaden  nehmen,  dass 
man  durch  dieselben  vielmehr  nur  eine  Förderung  desselben  zu 
erwarten  habe. 

So  standen  die  Ansichten  einander  gegenüber,  aber  die 
Mehrzahl  der  Versammlung  war  nicht  für  die  Gewährung  der 
Rückkehr. 

Der  Protektor  konnte  sich  nicht  entschliessen,  ob  er 
der  Mehrheit  oder  der  Minderheit  jener  Versammlung  folgen 
sollte;  aber  ein  eigenthümlicher  Umstand  erbitterte  ihn  dann 
gegen  die  jüdischen  Abgeordneten.  Anfangs  war  er  für  ihre 
Aufnahme  günstig  gestimmt  gewesen,  weil  er  die  Belebung  der 
Handelsverbindungen  mit  dem  Orient  durch  Juden,  die  sich  in 
England  niederliessen,  erhoffte.  Er  gewährte  denn  auch  den 
jüdischen  Abgeordneten  eine  Audienz  und  nahm  sie  bei 
dieser  Gelegenheit  gütig  auf.  Es  heisst  nun  aber,  dass  sie  im 
Verlauf  des  Gespräches  Cromwell  gegenüber  die  Cambridger 
Bibliothek  gerühmt  hätten,  und  dass  der  Protektor,  welcher  dieser 
Universität  ihre  Anhänglichkeit  an  den  früheren  König  nicht 
verzeihen  konnte,  versprochen  habe,  ihnen  aus  derselben  alles, 
was  sie  gern  besässen,  zu  verkaufen.  Sie  besahen  denn  auch 
dieselbe  und  nahmen  ihren  Catalog  mit  sich.  Das  wurde  bekannt. 
Das  Gerücht  ging  nun  aber  weiter  und  wollte  wissen,  dass 
die  jüdischen  Abgeordneten  selbst  für  die  Pauls -Kirche,  welche 
Cromwell  ein  Dorn  im  Auge  war,  einen  hohen  Preis  geboten 
hätten,  die  von  ihnen  vorgeschlagene  Summe  dem  Protektor 
aber  nicht  hoch  genug  erschienen  sei.  Jedesfalls  wurde  von  den 
jüdischen  Abgeordneten,  wenn  auch  nicht  dem  Protektor  selbst, 
für  die  Zulassung  der  Ihrigen  in  England  eine  hohe  Summe 
versprochen. 

Es  wird  nun  weiter  erzählt,  dass  die  Gesandten  vor  ihrer 
Rückkehr  aus  Cambridge  im  Auftrage  derer,  welche  sie  abge- 
schickt hatten,  den  Geburtsort  Cromwells  Huntington  besucht 
hätten,  weil  unter  den  orientalischen  Juden  die  Rede  ging,  dass 
der  Protektor  ein  jüdischer  Bastard  sei;  war  doch  selbst  unter 
jener  Judenschaft  die  Meinung  geäussert  worden,  dass  Cromwell 
der  verheissene  Messias  sein  möchte.  Die  Gesandten  hätten 
diesen    ihren  Auftrag   zwar    mit    aller  Vorsicht    ausgeführt,    aber 


-     i67    - 

das  Gerücht  von  ihren  Fragen  und  Nachforschungen  habe  sich 
weiter  ausgebreitet  und  sei  endlich  auch  zu  Cromwells  Ohren  ge- 
kommen. Die  Gegner  desselben  benutzten  jedesfalls  diese  Dinge, 
um  ihn  im  Volke  zu  verdächtigen.  Der  Protektor  war  denn  auch 
über  alles  Vorgefallene  sehr  ungehalten  und  erklärte  nunmehr 
den  Gesandten  in  einer  öffentlichen  Audienz,  dass  er  ihnen  weder 
Handelsfreiheit  gestatten  noch  die  Bibliothek  an  sie  veräussern 
werde,  zugleich  aber,  dass  er  mit  den  Seinen  einen  gekreuzigten 
Gott  anbete,  dessen  Feinde  sie  seien;  ungnädig  und  ohne  eine 
Antwort  von  ihnen  anzunehmen,  entliess  er  sie  hierauf. 

Vergeblich  wartete  Menasseh  Ben  Israel  noch  bis  zum 
April  1656  auf  eine  Aenderung  in  der  Stimmung  Cromwells; 
denn  er  glaubte,  dass  der  eben  erwähnte  Bescheid  kein  end- 
giltiger  sein  solle,  und  dass  die  Erregung  des  Protektors  sich 
bald  wieder  legen  werde.  Cromwell  jedoch  sah  die  Oeffent- 
lichkeit  zu  sehr  gegen  die  Juden  eingenommen,  als  dass  er  sich 
entschlossen  hätte,  etwas  zu  ihren  Gunsten  zu  thun.  Schriften, 
wie  die  von  Prynne  über  die  schwebende  Frage,  London  1656, 
herausgegebene  sprachen  sich  zu  scharf  und  entschieden  gegen  die 
Wiederaufnahme  der  Juden  in  England  aus.  Der  Verfasser  er- 
klärte im  Sinne  sehr  vieler,  dass  nach  den  Erfahrungen,  die 
England  früher  mit  den  Juden  gemacht  habe  und  nach  den  Ge- 
setzen, die  ihre  Rückkehr  geradeswegs  verböten,  dieselben  nicht 
wieder  den  Zutritt  im  Lande  erhalten  dürften.  Ihm  antwortete 
zwar  Thomas  Collier  in  „Brief  answer  to  some  of  the  objections 
and  demurs  made  against  the  Coming  in  and  inhabitating  of  the 
Jews  in  this  Commonwealth"  ebenfalls  1656,  und  Menasseh  Ben 
Israel  richtete  gegen  ihn  seine  Vindiciae  Judaeorum  in  dem- 
selben Jahre,  aber  vergeblich.  Die  Gesandten  verliessen  zuletzt 
London  und  mit  ihnen  die  aus  der  Ferne  herbeigekommenen 
Kaufieute.  Menasseh  Ben  Israel  starb  bald  darauf  in  Middelburgh 
und  hatte  sein  Ziel  nicht  erreicht. 

Unter  Cromwell  haben  denn  auch  jedesfalls  die  Juden  noch 
nicht  die  Erlaubniss  zur  Rückkehr  erhalten,  wenn  gleich  einzelnen 
die  Ansiedlung  gestattet  worden  sein  mag,  und  Menasseh  Ben 
Israel  sogar  vom  Protektor,  der  ihm  persönlich  wohl  wollte,  ein 
Jahresgehalt  von  100  Pfund  Sterling  ausgesetzt  erhalten  haben 
soll.  Unter  Cromwells  Sohn,  welcher  dem  Vater  1658  folgte, 
oder  doch  sicher  unter  König  Karl  II.  dagegen  ist  es  den  Juden 
gestattet   worden,    sich   in   England   niederzulassen.      Der    stets 


—     i68     — 

geldbedürftige  Karl  ertheilte  freilich   seine  Ansiedlungserlaubniss 
nur  gegen  Geld. 

Sefardische  oder  protugiesische  und  aschkenasische  (deutsche 
und  polnische)  Juden  bildeten  dann  den  Grundstock  der  neuen 
englischen  Judenschaft.  1662  finden  wir  bereits  eine  jüdische 
Synagoge  in  London  erwähnt.  Die  Portugiesen  waren  das 
aristokratische  Element  in  dieser  Judenschaft  und  schlössen  sich 
von  den  Aschkenasim  im  bürgerlichen  Leben  völlig  ab,  so  dass 
sie  mit  denselben  zunächst  auch  keine  Ehen  eingingen,  und  von 
Gemeindebeamten  in  dieser  ersten  Zeit  ein  aschkenasischer  Jude 
nur  das  Amt  eines  Büttels  erhielt.  Die  Zahl  dieser  neu  an- 
gesiedelten Juden  war  anfangs  nur  eine  ganz  geringe  und  ver- 
mehrte sich  erst  allmählig.  Bekanntlich  wohnen  auch  jetzt  im 
Inselreiche  nur  etwa  80,000  Juden. 

b.  Missionsbemühungen  in  England. 

Viel  früher,  als  sich  Juden  wieder  in  England  ansiedeln 
durften,  sehen  wir  bereits  die  christliche  Theilnahme  für  dieselben 
im  evangelischen  England  erwachen. 

Das  121 3  unter  König  Johann  gegründete  Haus  für  bekehrte 
Juden  hatte  auch  während  der  seit  1290  verflossenen  etwa  370 
Jahre  der  Verbannung  der  Juden  aus  England  immer  wieder  etliche 
auswärtige  Bekenner  des  Judenthums,  welche  sich  zum  Christenthum 
wenden  wollten,  aufgenommen.  Dies  geschah  sowohl  in  der 
katholischen  als  hernach  in  der  evangelischen  Zeit,  und  wenigstens 
dieser  Faden  des  Missionswerkes  ist  also  in  England  nie  ab- 
gerissen. Der  Master  of  the  Rolls  oder  Urkundenbewahrer  Eng- 
lands ,  einer  der  höchsten  Beamten  des  Königreiches  war  über 
das  Haus  gesetzt  und  bei  der  Einsetzung  desselben  in  sein  Amt 
wird  auch  jenes  Hospital  öfters  erwähnt.  Karl  I.  beschützte 
einige  daselbst  wohnende  Juden.  Zwei  Proselyten,  Eleasar 
und  Abraham,  baten  das  Parlament  1653,  aus  den  Einkünften 
des  Hauses  etwas  empfangen  zu  dürfen.  Karl  IL  überwies  dem 
Hospital  mehrere  arme  Juden  im  Jahre  1660,  und  König  Jacob  IL 
folgte  1687  seinem  Beispiele.  Tovey  aber  beklagt  hernach  im 
Jahre  1733,  dass,  obwohl  das  Haus  noch  stünde,  es  doch  wenig 
für  seine  Zwecke  gebraucht  werde. 

Zu  den  frühesten  Fällen,  in  denen  ein  evangelischer  Geist- 
licher Englands  Gelegenheit  fand,  einem  Juden  der  Wegweiser 
zum  Christenthum  zu  werden,  gehört  der  von  John  Fox,  welcher 


— ■     169     — 

einen  von  Nordafrika  nach  England  gekommenen  Juden  taufte, 
der  seitdem  den  Namen  Nathanaei  führte.  Die  Taufe  fand  in 
Parish  Church  of  Allhallowes  in  Lombard  Street  zu  London  am 
1.  April  1577  statt.  Die  bei  dieser  Gelegenheit  gehaltene  Predigt 
erschien  zuerst  in  lateinischer  Sprache  und  wurde  dann  1587 
durch  James  Bell  auch  in  englischer  Uebersetzung  herausgegeben. 
Sehr  ausführlich  handelt  hier  Fox  nach  Römer  1 1  über  den 
wahren  und  schönen  Oelbaum  (of  the  true  and  gladsome  Olive 
tree).  Nathanaei  erhielt  nach  sechsjährigem  Aufenthalte  in  Eng- 
land die  Taufe.  Fox  aber  nimmt  bei  dieser  Taufe  Gelegenheit, 
die  Hoffnung  Israels  an  der  Hand  jenes  Kapitels  in  aller  Aus- 
führlichkeit zn  besprechen,  wobei  er  besonders  auf  Daniel  eingeht, 
zugleich  eine  vollständige  Erklärung  der  christlichen  Glaubens- 
lehre gibt  und  die  römische  bekämpft.  Von  diesem  Erstling 
unter  den  Proselyten  aber,  welche  zur  evangelischen  Kirche  Eng- 
lands übergetreten  sind,  wird  hernach  die  Rede  sein. 

Besonderen  Eifer  für  die  Bekehrung  der  Juden  entfaltete 
Hugo  Broughton.*)  Derselbe  ist  geboren  1549  und  gestorben 
16 12.  Er  war  als  Theolog  und  Prediger  in  seiner  Zeit  geschätzt* 
aber  auch  wegen  seiner  Grobheit,  Händelsucht  und  Eitelkeit  von 
seiner  Umgebung  gefürchtet.  Seinen  ältesten  Sohn  Rowland 
unterrichtete  er  so  früh  im  Hebräischen,  dass  derselbe  mit  7  oder 
8  Jahren  das  Alte  Testament  in  der  Ursprache  las  und  sich 
später  auch,  zum  Leidwesen  seiner  Mutter,  vielfach  mit  dem 
Vater  hebräisch  unterhielt.  Freilich  aber  war  das  Hebräische 
Hugo  Broughtons  ebenso  wie  sein  Latein  ein  sehr  wenig  klas- 
sisches. Seit  1589  kam  er  wiederholt  auf  das  Festland  und 
disputirte  mit  den  Juden  in  Frankfurt  a.  M.,  Hannover,  Worms, 
Offenbach,  Hanau,  Basel,  Zürich  und  an  anderen  Orten.  Seine 
Disputationsart  war  jedoch  nicht  immer  eine  sehr  feine,  und 
sticht  er  in  dieser  Hinsicht  ungemein  von  den  übrigen  englischen 
Theologen  ab,  die  fast  allgemein  den  Juden  gegenüber  eine  sehr 
gewinnende  Sprache  führen.  In  der  Synagoge  zu  Frankfurt  a.  M. 
von  den  Juden  angeredet,  „sang  unser  Vorsänger  nicht  wie  ein 
Engel?"  antwortete  er  „nein,  er  bellte  wie  ein  Hund".  Aber  weil 
ihm  die  Juden  eine  lebendige  Theilnahme  für  sie  abfühlten,  traten 
sie  doch  gern  mit  ihm  in  mündlichen  und  schriftlichen  Verkehr. 


*)  Schudt  4  TM.   2.  Forts.   72  ff.,    3.  Forts.    110    ff.     Wolf  1,    3    N.    545. 
4  S.  491.     Gewish  Expositor  1823   S.    137   ff.,  248  ff. 


—     170     — 

Mehrere  gelehrte  Juden  in  Frankfurt  a.  M.  wünschten  nach 
seiner  Erzählung  von  ihm  im  Evangelio  unterrichtet  zu  werden, 
und  sein  Name  wurde  weit  und  breit  unter  den  Juden  bekannt. 
Lord  Edw.  Barton,  der  diplomatische  Vertreter  Englands  in 
Konstantinopel,  welchem  das  Wohl  der  Juden  am  Herzen  lag, 
händigte  eine  Schrift  von  Hugo  Broughton  „The  Book  of 
Scripture  Concent"  dem  Oberrabbiner  der  türkischen  Hauptstadt 
ein,  und  in  Folge  dessen  sandte  jener  jüdische  Gelehrte  Abraham 
Ben  Rüben  durch  Lord  Barton  einen  Brief  an  Broughton,  in 
welchem  er  denselben  bat,  nach  Konstantinopel  zu  kommen,  um 
die  dortigen  Juden  in  den  Fragen  des  Glaubens  zu  unterweisen. 
Diesen  hebräisch  geschriebenen  Brief  erhielt  Broughton  in  Basel 
und  Hess  ihn  drucken,  während  er  seine  eigene  hebräische  Ant- 
wort mit  lateinischer  Uebersetzung  versehen  in  Amsterdam  1606 
in  den  Druck  beförderte.  Diese  Antwort  enthielt  eine  Ausein- 
andersetzung der  christlichen  Lehre. 

Broughton  wandte  sich  nun  aber  auch  an  Königin  Elisa- 
beth von  England,  König  Jacob  von  Schottland  und  das  Privy 
Council  mit  der  Bitte,  dass  ihm  die  Mittel  gegeben  würden,  um 
eine  hebräische  Uebersetzung  des  Neuen  Testamentes  und  eine 
christliche  Literatur  in  hebräischer  Sprache  zum  Besten  der  Juden 
herzustellen.  Diesem  Gesuche  ist  jedoch  keine  Folge  gegeben  worden. 

Unter  den  Juden  selbst  hatte  Broughton  manchen  sicht- 
baren Erfolg  zu  verzeichnen.  Ein  Rabbi  Elias  in  Frankfurt 
wurde,  während  er  anfangs  seinem  christlichen  Gegner  heftig 
widerstrebt  hatte ,  durch  das  Gespräch  mit  demselben  doch  so 
bewegt,  dass  er  ihm  nach  Basel  nachreiste  und  ihn  bat,  das 
Neue  Testament  ins  Hebräische  zu  übersetzen.  Zwei  italienische 
Juden,  welche  seine  Schriften  und  zumal  seine  Erklärung  zum 
Daniel  gelesen  hatten,  Hessen  sich  taufen;  ein  anderer,  welchen 
die  Gespräche,  die  er  mit  Broughton  gehabt  hatte,  vom  Festlande 
nach  England  herübergezogen,  wurde  dort  getauft. 

1605  schrieb  Broughton  auch  hebräisch  und  lateinisch:  Fa- 
milia  Davidis,  eine  Disputationsschrift  gegen  den  portugiesischen 
Rabbi  Farar,  die  1608  unter  dem  Titel:  Christs  Family  and 
other  things  depending  upon  it,  englisch  erschien.  Ausserdem 
gab  er  noch  eine  Anzahl  polemischer  Schriften  gegen  die  Juden 
heraus. 

Wäre  Broughton  nicht  ein  so  abstossender  Charakter  ge- 
wesen,  so    hätte    sein  Beispiel  wahrscheinHch   schon   damals    in 


—     171     — 

England  zahlreichere  Nachfolger  gefunden.  Anregungen  aber 
haben  jedesfalls  die  Theologen  seiner  Zeit  durch  ihn  erhalten, 
wie  denn  auch  hernach  Lightfoot  seine  Werke  herausge- 
geben hat. 

Ein  Gegner  Broughtons,  der  Oxforder  Professor  John  Rai- 
nold,  gehörte  zu  denen,  welche  sich  am  Frühesten  in  England 
mit  talmudischer  und  rabbinischer  Literatur  bekannt  gemacht 
haben.  In  seiner  Censura  librorum  apocryphorum,  Oxford  1611, 
wendet  er  bereits  die  eigenen  Waffen  der  Rabbinen  gegen  die- 
selben; ein  Bewunderer  des  Talmud  war  er  nicht. 

John  Harrison  lernte  als  englischer  Beamter  die  Juden  in 
der  Berberei  kennen  und  trat  mit  ihnen  in  Verbindung,  wie  er 
sich  denn  auch  ernstlich  auf  das  Studium  des  Hebräischen  legte, 
um  ihnen  religiöse  Handreichung  zu  thun.  Die  Misshandlungen 
der  Juden  durch  die  Muhammedaner  gingen  ihm  zu  Herzen  und  er 
hätte  gern  ihr  Schicksal  geändert.  Es  war  ihm  aber  klar,  dass 
ihr  schmerzliches  Loos  eine  Folge  der  Verwerfung  Christi  sei, 
und  er  ihnen  eben  desshalb  dazu  helfen  müsse,  „dass  sie  sich 
die  Decke  von  den  Augen  nehmen  Hessen".  16 10  erschien  von 
ihm  in  Amsterdam  und  1619  zum  zweiten  Male  The  Messiah  al- 
ready  come.  Er  wollte  mit  dieser  Schrift  die  Juden  der  Berberei 
und  in  anderen  Ländern  erreichen,  forderte  in  derselben  aber  auch 
die  Christen  auf,  von  aller  Unbarmherzigkeit  gegen  die  Juden 
zu  lassen  und  mit  aller  Geduld  an  ihrer  Bekehrung  zu  arbeiten. 
Den  Juden  selbst  beweist  er,  dass  der  Messias  gekommen  sei, 
aus  den  Weissagungen  des  Alten  Testamentes,  den  Lebensum- 
ständen Jesu,  den  Erfahrungen  der  ersten  christlichen  Kirche 
und  der  ganzen  Geschichte  seit  Christo. 

Auch  Edwin  Sandys  war  bei  seinen  Reisen,  die  ihn  weit- 
hin führten,  auf  die  Juden  aufmerksam  geworden.  Er  beschrieb 
ihre  Zustände  und  ermunterte  zum  Missionswerke  unter  ihnen. 
Aus  dem  Englischen  desselben  übersetzt  erschien  1626  in  Genf: 
Relation  de  l'etat  de  la  religion,  das  1669  auch  in  Frankfurt  eine 
deutsche  Uebersetzung  erfuhr. 

Der  Geistliche  Thomas  In  gern  et  hör  p  in  der  Diöcese  Durham 
•übersetzte  1633  den  kirchlichen  Katechismus  ins  Hebräische.  Der 
Titel  lautet:  A  short  catechism  by  law  authorized  in  the  Church 
of  England  for  young  Children  to  learn,  translated  into  Hebrew. 
Der  Uebersetzer  war  offenbar  der  hebräischen  und  rabbinischen 
Sprache  kundig,  denn  seine  Uebersetzung  ist  lesbar.     Das  Buch 


—     172    — 

ist  dem  Erzbischofe  von  York  gewidmet  und  hat  in  den  hohen 
kirchlichen  Kreisen  Sympathie  gefunden. 

The  Calling  of  the  Jews,  a  Present  to  Judah  and  the  Chil- 
dren  of  Jsrael,  ist  der  Titel  einer  Schrift  von  William  Gouge, 
London  1621.  Vorangeschickt  ist  derselben  ein  Brief  an  die 
fudenschaft  der  ganzen  Welt,  welcher  sie  in  überaus  beweglicher 
Weise  zur  Annahme  Christi  reizen  will  und  ihnen  vor  Augen 
stellt ,  welche  Herrlichkeit  ihrer  wartete ,  wenn  sie  Christum  an- 
nähmen. Neben  manchem  Schönen,  was  diese  Schrift  bietet,  wird 
hier  doch  bereits  unter  Berufung  auf  die  Propheten  und  die 
Offenbarung  Johannis  jene  Geschichtsauslegung  und  jene  Berech- 
nung der  letzten  Dinge  getrieben,  die  ganz  genau  weiss,  wie  sich 
alles  in  der  nächsten  Zeit  gestalten  werde,  und  welche  jetzt  in 
weiten  Kreisen  des  Inselreiches  grassirt.  Als  ein  Beweis,  dass 
diese  Richtung  ihre  Wurzeln  in  bestimmten  Fehlern  der  englischen 
Schrifterklärung  bereits  vor  250  Jahren  gehabt  hat,  ist  Gouges 
Schrift  merkwürdig.  Sie  hätte  aber  dadurch,  dass  ihre  Erklärung 
der  Weissagung  von  der  Folgezeit  vollständig  gerichtet  worden 
ist,  eine  Warnung  vor  dieser  Art  und  Weise,  die  Prophetie  Alten 
und  Neuen  Testamentes  zu  verstehen,  werden  sollen.  Und  es 
ist  daher  wichtig  auf  solche  Schriften  hinzuweisen,  die  durch  die 
Widerlegung,  welche  ihnen  die  Geschichte  selbst  ertheilt  hat,, 
recht  ernstlich  dazu  rathen,  dem  geschichtlichen  Walten  Gottes 
in  dem  Fortschritte  der  Zeiten  ernster  nachzudenken.  Der 
Mission  und  dem  Missions  werke  in  England  hat  es  ausserordent- 
lich geschadet,  dass  man  hier  oft  den  Gang  und  die  Entfaltung 
des  Reiches  Gottes  und  des  göttlichen  Lebens  in  der  Menschheit 
zu  mechanisch  aufgefasst  hat. 

1635  wendet  sich  dann  Jo.  Paget  in  seinem  englischen 
Buche  gegen  die  Brownisten  auch  gegen  die  Irrthümer  der  Juden, 
Amsterdam  1635,  und  Joh.  Davenport  schrieb  1652  zu  London: 
The  true  Messias  or  crucified  Jesus. 

Mit  Robert  Sheringham  tritt,  hernach  sich  weiter  ver- 
breitend, jene  Richtung  in  England  zu  Tage,  bei  welcher  die  Verherr- 
lichung der  Juden  dicht  bis  an  den  Verrath  der  christlichen  Sache 
selbst  streift.  Sheringham  ist  der  absoluteste  Bewunderer  der 
talmudischen  und  rabbinischen  Literatur.  In  seiner  mit  einer  latei- 
nischen Uebersetzung  und  einem  Commentar  versehenen  Ausgabe 
des  talmudischen  Traktates  Joma,  London  1648,  erklärte  er,  dass 
man  die  Schrift  ohne  den  Talmud  ffar  nicht  recht  verstehen  und 


—     i/3     — 

das  Gesetz  selbst  bis  zu  einem  gewissen  Grade  nicht  ohne  den 
Talmud  erklären  könne.  Die  Jerusalemer  Mischnah  und  Ge- 
marah müsse  man  von  allen  Erdichtungen  freisprechen.  Shering- 
ham  ist  übrigens  ein  ebenso  aufgeblasener  als  unselbständiger 
Mensch;  er  hat  zumeist  aus  anderen  Quellen  geschöpft. 

Desto  eifriger  bekämpft  Thomas  Burnet  die  jüdische  Lite- 
ratur oder  wenigstens  die  Cabbala  in  seiner  Archaeologia  philo- 
sophica,  London  1692,  und  von  Rosenroths  Vorliebe  für  die- 
selbe. Ausser  dem  Gedanken,  dass  alles  einmal  zu  Gott  zurück- 
kehren müsse,  sei  hier  alles  unnütz.  Seinem  Werke:  De  statu 
mortuorum  et  resurgentium  hat  er  einen  Anhang  hinzugefügt: 
De  futura  Judaeorum  restauratione ,  der  in  Rotterdam  1727  im 
Drucke  erschien.  Er  geht  hier  alle  Verheissungen  der  Schrift 
von  Abraham  an  durch ,  um  die  zukünftige  nationale  Wieder- 
herstellung Israels  zur  Gewissheit  zu  machen.  Und  ebenso  deckten 
Jo.  Morinus  und  Jo.  Owen,  welche  das  Studium  des  Talmud 
und  der  Rabbinen  eifrig  betrieben,  die  ungemeinen  Schwächen  der- 
selben rückhaltlos  auf. 

Franc.  Tay ler  schrieb  über  die  Pirke  Aboth.  Christoph. 
Cartwright  benützte  die  rabbinische  Literatur  besonders  für  die 
Auslegung  des  Alten  Testamentes.  Clerc  und  Guisius,  beide 
in  Oxford,  übersetzten  einzelne  Traktate  des  Mischnah  ins  La- 
teinische. Sam.  Ockley  zu  Canterbury  und  Thomas  Hyde, 
Oxford  1698,  widmeten  sich  mit  besonderem  Fleisse  den  Schriften 
von  Jehuda  Arje  (Leo  Mutinensis). 

Ed.  Pocock,  der  die  talmudische  Literatur  mehrfach  be- 
arbeitet hat,  vertraute  ihrer  Beweiskraft  für  das  Christenthum  zu 
viel.  Menasseh  Ben  Israel  imponirte  ihm  so,  dass  er  sein  Leben 
in  französischer  Sprache  beschrieb.  Zu  denen,  welche  das  tal- 
mudische und  rabbinische  Studium  besonders  trieben  und  for- 
derten, gehört  auch  Robert  Clavering  in  Oxford. 

Sie  alle  überragt  als  Kenner  der  jüdischen  Literatur  Jo. 
Lightfoot,  1602 — 1675.  Er  hat  für  die  Erklärung  des  Alten 
und  Neuen  Testamentes  von  dieser  Literatur  den  ausgiebigsten 
Gebrauch  gemacht,  und  das  in  überwiegend  gesunder  Weise. 
Besonders  müssen  hier  seine  Horae  Hebraicae  et  Talmudicae 
hervorgehoben  werden,  in  welcher  er  seine  ungemeine  Kenntniss 
der  rabbinischen  Literatur  für  die  Erklärung  der  vier  Evangelien, 
der   Apostelgeschichte    und   Theile   des    Römer-    und   Corinther- 


—     174     — 

Briefes  venverthet.  Im  Allgemeinen  hat  er  sich  hierbei,  wie 
gesagt,  Nüchternheit  bewahrt. 

In  seinem  Manipulus  spicilegiorum  ex  lib.  Exod. ,  Sectio 
2j  (Oper  om.  Tom.  i,  175  ff.)  stellt  er,  nachdem  er  in  Sect.  26 
die  Meinung  der  Juden  über  das  Gesetz  aus  Talmud  Maccoth. 
Rab.  Abhuhah  dargestellt  hat,  die  10  Artikel  eines  gläubigen 
Juden,  dargestellt  nach  dem  Gesetze  Moses  zusammen:  dass  das 
Heil  durch  den  Glauben  und  nicht  durch  die  Werke  komme, 
dass  es  keine  Versöhnung  Gottes  ohne  Genugthuung  gebe,  dass 
diese  Genugthuung  einst  würde  geleistet  werden,  und  zwar  durch 
einen  bestimmten  Mann,  der  mehr  sein  werde  als  ein  Mensch, 
sowohl  Gott  als  Mensch,  der,  um  die  Genugthuung  zu  leisten, 
sterben  müsse ,  aber  nicht  für  eigene  Sünde ,  sondern  für  die 
Sünde  der  Menschen  und  dann  vom  Tode  auferstehen  würde, 
während  der  Mensch  durch  den  Glauben  an  sein  Verdienst  selig 
werde.  Dabei  macht  Lightfoot  die  Juden  vielfach  darauf  aufmerk- 
sam, dass  sie  sich  selbst  widersprechen  und  vom  Talmud  mit 
seinen  vielen  Fabeln  ebenso  geknechtet  werden,  wie  die  Katho- 
liken vom  Tridentinum. 

Mit  dem  Evangelium  verglichen  sei  der  Talmud  Streu  ohne 
Werth,  und  auch  die  Cabbala  für  den  Christen  ohne  jeden  Nutzen. 
Er  klagt  den  Talmud  besonders  darum  an,  weil  er  ein  buntes 
Gemisch  von  Gut  und  Schlecht  sei,  glaubt  aber,  dass,  während 
für  die  Juden  die  Lektüre  desselben  verderblich  wäre,  die  Christen 
für  die  Erklärung  des  Neuen  Testamentes  aus  demselben  den 
grössten  Nutzen  ziehen  könnten.  Seine  Ansichten  schwanken 
hin  und  her,  je  nachdem  einmal  der  Eindruck  des  Anziehenden 
oder  des  Widerwärtigen,  des  bloss  gelehrten  oder  des  religiösen 
Interesses  bei  ihm  vorherrscht. 

Dasselbe  Schwanken  nimmt  man  in  seinen  Ansichten  über 
die  zukünftige  Bekehrung  der  Juden  wahr.  In  seiner  Chronica 
temporum  et  ordo  textuum  N.  T.  Tom.  2.  151  bekennt  er,  dass 
sich  einst  zwei  grosse  Haufen  der  Juden  bekehren  würden,  nicht 
aber  das  jüdische  Volk;  denn  dasselbe  sei  der  Antichrist.  Da- 
gegen enthalten  seine  hinterlassenen  Schriften  Op.  posthum. 
(S.  146)  „Verheissungen,  welche  der  jüdischen  Kirche  gegeben 
sind  und  sich  in  den  letzten  Tagen  erfüllen  müssen,  aus  den 
Propheten  kurz  zusammengestellt".  Hier  lehrt  er  ausdrücklich 
eine  endliche  Rückkehr  Israels  in  sein  Land  und  beschreibt  das- 
selbe als  die  vollendete  Kirche  der  Zukunft. 


—     175     — 

Die  rabbinische  Literatur  fand  ferner  reiche  Berücksichtigung 
durch  Jo.  Seiden,  gestorben  um  1650,  und  H.  Prideaux  über- 
setzte Theile  der  Schrift  von  Maimonides  Jad  Chasaka,  Oxford  1679. 

Zur  selben  Zeit  forderte  der  damals  in  England  weilende 
deutsche  Gelehrte  Christian  Ravis  in  seinem  Discourse  concer- 
ning  the  Eastern  tongues  (London  1650)  eindringlich  auf,  an  die 
Bekehrung  der  Juden  zu  denken.  Er  bezeugt,  dass  allerdings 
viel  in  England  für  dieselbe  gebetet,  aber  doch  nichts  Rechtes  für 
sie  gethan  werde.  Es  sei  unverantwortlich,  dieses  Volk,  das, 
obgleich  es  unter  den  gerechten  Gerichten  Gottes  stehe,  doch 
sein  Volk  noch  sei,  liegen  zu  lassen.  Wohl  sei  das  Gebet,  welches 
besonders  unter  den  Geistlichen  gar  reichlich  für  die  Juden  ge- 
schehe, ein  Zeichen,  dass  Gott  mit  den  Juden  noch  etwas  vor- 
habe; aber  man  möge  dasselbe  nicht  eine  Modesache  werden 
lassen ,  die  alsdann  ein  blosses  Heuchelwerk  würde ,  sondern 
sich  durch  die  Verheissung  für  die  Juden  ebenso  zum  Werk  an 
denselben  reizen  lassen,  wie  sich  einst  die  Juden  in  der  ersten 
christlichen  Zeit  zum  Werk  an  den  Heiden  durch  die  Schrift- 
verheissung  haben  bestimmen  lassen. 

1655  liess  Samuel  Brett  seinen  bei  Longmanns,  London 
1679,  neuabgedruckten  Bericht  in  A  Narrative  of  the  proceedings 
of  a  great  Council  of  Jews  assembled  in  the  piain  of  Ageda 
(Nagy-Ida)  in  Hungaria  erscheinen.  Capitain  Brett  erzählt,  dass 
er  selbst  bei  diesem  Concil  gegenwärtig  gewesen  sei.  Dasselbe 
habe  den  Zweck  gehabt,  die  Frage  zu  prüfen,  ob  Jesus  Christus 
der  Messias  sei.  Die  Juden  hätten  sich  aber  nicht  einigen  können, 
zumal  sie  das  Christenthum  nur  in  der  römischen  Gestalt  kannten. 
Brett  lässt  dort  einen  Rabbiner  sagen,  dass  er  statt  der  katho- 
lischen Geistlichen,  welche  dem  Concile  beiwohnten,  die  An- 
wesenheit evangelischer  gewünscht  hätte,  weil  diese  den  Ver- 
sammelten eine  bessere  Vorstellung  vom  Christenthum  gegeben 
haben  würden.  Wie  viel  Geschichtliches  dem  allen  zu  Grunde 
liegt,  bleibt  zweifelhaft.  Bretts  Darstellung  ist  jedesfalls  eine 
tendenziöse ,  und  seine  Anwesenheit  bei  dem  Concil  ein  blosses 
Vorgeben.  Bei  den  Reformirten  Ungarns  hätten  sich  die  Juden 
wohl  Raths  erholen  können,  wenn  es  ihr  Wunsch  gewesen  wäre, 
die  evangelische  Lehre  kennen  zu  lernen.  Wahrscheinlich  sollte 
aber  Bretts  Schrift  für  die  Wiederaufnahme  der  Juden  in  England, 
welche  ja  gerade  in  diesen  Jahren  geplant  wurde,  ein  Wort  sprechen, 
indem  man  der  dortigen  evangelischen  Bevölkerung  zu  verstehen 


-     i76     - 

gab/Mass  die  Juden  in  evangelischer  Umgebung  sich  leicht  zum 
Christenthum  bekehren  würden. 

Aus  derselben  Zeit  stammt  eine  Schrift  von  Henr.  Jesse, 
die  Jdann  in  Amsterdam  aus  dem  Englischen  ins  Holländische 
übersetzt  wurde,  „Die  Herrlichkeit  und  das  Heil  von  Juda  und 
Israel".  Der  Verfasser  redet  die  Juden  und  besonders  die  Amster- 
damer an  und  will  sie  theils  von  der  Messianität  Jesu  überzeugen, 
theils  ihre  Einwürfe  widerlegen,  theils  die  Hoffnung  auf  die  Be- 
kehrung Israels  unter  den  Christen  stärken.  Sein  Traktat  „Von 
der  Vereinigung  der  Juden  und  Christen  in  vielen  Hauptpunkten 
der  Religion"  verfolgt  den  nämlichen  Zweck.  Rechte  Nüchtern- 
heit bewahrt  er  sich  nicht  bei  seinem  apologetischen  Vorgehen. 
Georg  Hamnond  trat  ebenso  für  die  Bekehrung  der  Juden  in 
der  Schrift:  „The  good  ancient  laws  and  Statutes  of  King  Jesus 
vindicated"   1660  ein. 

Wie  lebhaft  die  Frage  über  die  Aufnahme  der  Juden  die 
Gemüther  in  England  beschäftigte,  zeigt  besonders  die  hierauf 
bezügliche  Literatur.  Aber  man  muss  es  auch  anerkennen,  dass 
viele  der  ernsteren  evangelischen  Christen  des  Landes  den 
neuen  Ankömmlingen  bald  ihr  Bestes  entgegenzubringen  ent- 
schlossen waren,  und  dass  in  nicht  wenigen  Herzen  ein  lebendiges 
Gefühl  für  die  Pflicht,  diesen  Juden,  die  nun  unter  ihnen  wohnen 
sollten,  Christum  zu  bezeugen,  vorhanden  war. 

W.  Robertson  verbesserte  die  hebräische  Uebersetzung 
des  Neuen  Testamentes  von  Hutter  1661  und  Hess  in  einem 
besonderen  Abdrucke  die  kirchlichen  Jahresevangelien  hebräisch 
erscheinen.  Alexander  Ross  bot  A  View  011  all  religions  in  the 
world,  London  1660  und  1683,  dar,  welches  Werk  David  Ner- 
retter  unter  dem  Titel:  Wunderwürdiger  Juden-  und  Heidentempel 
in  Nürnberg  1701 — 7  deutsch,  und  Thoma  le  Grue,  Amsterdam 
1666,  in  französischer  Uebersetzung  erscheinen  Hessen.  Hier  wird 
nicht  allein  über  die  jüdische  Religion  gehandelt,  sondern  es  werden 
auch  Anweisungen  gegeben,  wie  man  es  anfangen  solle,  um  die  Juden 
zur  Erkenntniss  Christi  zu  führen.  A  View  of  the  Jewish  Religion 
erschien  besonders  1656,  um  in  die  schwebende  Frage  mit  ein- 
zugreifen. Denn  Ross  wollte  die  Engländer  mit  den  Juden,  welche 
sich  in  ihrem  Lande  niederzulassen  wünschten,  bekannt  machen 
und  in  den  Schicksalen  derselben  der  eigenen  Nation  einen  War- 
nungsspiegel vorhalten.     Der  Verfasser  legt  dabei  überall  Kennt- 


—     177     — 

niss  der  Sache  und  ein  tieferes  Verständniss  für  das  Wesen  des 
Judenthums  an  den  Tag. 

Den  Weg  wissenschaftlicher  Ueberführung  der  Juden  schl  ug 
Henr.  Morus  ein;  er  wollte  sie  aber  besonders  durch  die  Lehre 
vom  tausendjährigen  Reiche  angelockt  wissen. 

L.  Addison,  Königlicher  Caplan,  schilderte  die  Zustände 
der  Juden  in  Nord -Afrika  in  „The  present  State  of  the  Jews  in 
Barbary"  1675.  Das  Heil  der  Juden  lag  ihm  sehr  am  Herzen, 
und  er  bat  seine  Zeitgenossen  besonders,  die  Schriften,  die  zu 
ihrer  Bekehrung  verfasst  würden,  in  einer  ihnen  verständlichen 
Sprache  zu  schreiben.  Litt  doch  auch  das  englische  Missionswerk 
darunter,  dass  es  noch  zu  oft  in  der  schweren  Waffenrüstung 
lateinischer  Gelehrsamkeit  einherging. 

A  Dissertation  on  the  History  and  Oeconomy  of  the  Jews, 
London  ohne  Jahreszahl,  von  einem  Anonymus,  stammt  offen- 
bar aus  der  letzten  Zeit  des  Jahrhunderts.  Der  Verfasser  hatte 
mit  derselben  die  Absicht,  den  Juden  das  Christenthum  zu  be- 
zeugen und  redet  sie  wiederholt  selbst  an.  Er  prüft  ihre  Ein- 
wendungen gegen  die  christliche  Religion,  widerlegt,  dass  Chri- 
stus, wie  viele  Juden  behaupten,  ein  Betrüger  gewesen,  und  zeigt  da- 
gegen, wie  alle  Messiase,  welche  die  Juden  an  Stelle  Christi  er- 
wählten, wirklich  Betrüger  waren.  Alle  Umstände  und  die  Zeit 
der  dem  Messias  geltenden  Verheissungen  im  Alten  Testamente 
passten  auf  keinen  anderen  als  auf  Jesum  Christum.  Thatsächlich 
bleibe  denn  auch  den  Juden  nichts  übrig,  als  entweder  allen 
Glauben  an  ihr  Gesetz  aufzugeben  oder  das  Christenthum  anzu- 
nehmen. Im  Besonderen  aber  warnt  der  Verfasser  die  neuan- 
gesiedelten Juden  in  England  davor,  nicht  wieder  in  den  Wucher 
zu  verfallen,  damit  sie  nicht  von  Neuem  aus  dem  Lande  ver- 
trieben würden,  und  schliesst  mit  dem  Bekenntniss  zu  der  Schrift- 
hoffnung, dass  noch  einmal  ganz  Israel  werde  bekehrt  werden. 

Interessant  ist  eine  Flugschrift  aus  dem  Jahre  1678,'*"')  welche 
zwei  Briefe  eines  Kaufmanns  in  London  an  seinen  Freund  in 
Amsterdam  enthält  und  über  eine  Besprechung  zwischen  einem 
Protestanten  und  einem  Jesuiten  berichtet.  Diese  Schrift  richtet 
sich  zugleich  gegen  die  damaligen  Bestrebungen,  in  England  wie- 
der dem  Katholicismus  zum  Siege  zu  verhelfen.  Ein  Jesuit 
unternimmt  es  zuerst,   die  Unhaltbarkeit  des  jüdischen  Glaubens 


*J  Jewish  Exporltor  1816    S.  293  ff.  330  ff.  370  ff.  412  ff. 

J.  F.  A.  de    le   Rci,    Mtssionsbeziehungen.  12 


i78     - 

darzuthun  und  führt  den  Beweis  aus  den  Wundern  im  Leben 
Christi  und  in  der  ganzen  apostolischen  Zeit,  die  eben  dafür 
sprächen,  dass  Jesus  der  Messias  sei.  Da  diese  Wunder  völlig 
beglaubigt  seien,  so  bleibe  nichts  anderes  übrig,  als  dieselben 
entweder  für  eine  von  Gott  selbst  geschehene  Bestätigung  Jesu 
als  des  Messias  zu  halten,  oder  den  Gott,  welcher  Jesu  solche 
Wundermacht  verliehen  habe,  für  einen  Verführer  der  Menschen 
anzusehen,  oder  falls  Jesus  seine  Wunder  durch  den  Teufel  gewirkt 
habe,  zuzugestehen,  dass  der  Teufel  grössere  Macht  als  Gott 
selbst  besitze.  Der  jüdische  Rabbi  erklärt  aber  hierauf,  dass 
die  Wunder  Jesu  theils  seltsame  Erdichtungen,  theils  in  der 
That  diabolische  Werke  seien.  In  dieser  Ueberzeugung  würden 
die  Juden  noch  dadurch  bestärkt,  dass  die  römischen  Christen 
von  weiteren  Wundern  der  Ihrigen  erzählten,  welche  offenbar 
völlig  fabelhaft  und  lächerlich,  nichts  desto  weniger  aber  durch 
ihre  unfehlbaren  Päpste  bestätigt  worden  seien. 

Von  diesen  Wundern  führt  der  Rabbi  nun  eine  Reihe  an 
und  schliesst  damit,  dass  der  allmächtige  Gott  sicher  nicht  mit 
so  thörichten  Dingen,  wie  es  doch  sehr  viele  der  durch  die 
Autorität  der  römischen  Kirche  geschützten  Wunder  sind,  die 
Menschen  habe  äffen  wollen.  Nun  würden  aber  die  kirchlichen 
Wunder  in  der  gleichen  Weise  wie  die  Wunder  Jesu  von  den 
römischen  Christen  angenommen,  und  daraus  ergebe  sich,  dass 
die  einen  so  wenig  als  die  anderen  für  die  Juden  ein  Beweis 
der  Messianität  Jesu  sein  könnten. 

Der  Jesuit  verstummt  diesen  Ausführungen  des  Rabbi  gegen- 
über. Darauf  nimmt  aber  der  evangelische  Christ,  Ferd.  Beza, 
die  Sache  neu  auf.  Er  führt  dem  Rabbi  zu  Gemüthe,  dass  sein 
Beweis  hinke.  Denn  nur  die  römischen  Christen  glaubten  jene 
von  der  römischen  Kirche  angenommenen  Wunder  der  späteren 
Jahrhunderte,  protestantische  Christen  dagegen  glaubten  sie  nicht; 
gegen  sie  gelte  also  der  von  dem  Rabbi  geführte  Beweis  nicht. 
Die  Wrunderfrage  sei  aber  überhaupt  nicht  von  besonderer  Be- 
deutung, wenn  es  sich  um  den  Erweis  handle,  dass  Jesus  Christus 
der  Messias  Gottes  sei.  Das  spätere  Christenthum  habe  keine 
Wunder  nöthig  gehabt,  und  dieselben  machten  nicht  einen 
Wesensbestand  des  Christenthums  aus.  Wunder  geschahen  bei 
Gründung  der  alttestamentlichen  Religionsgemeinde  unter  Moses, 
Wunder  ebenso  bei  der  Gründung  der  neutestamentlichen  Religions- 
gemeinde, aber  alsdann  konnten  beide  Gemeinschaften  ohne  Wun- 


—     179     — 

der  weiter  bestehen.  Uebrigens  verhalte  es  sich  mit  den  Wun- 
dern Jesu  anders  als  mit  denen  der  katholischen  Kirche.  Letztere 
tauchten  oft  erst  lange  nach  dem  Tode  derer  auf,  welche  sie 
vollbracht  haben  sollten.  Christi  Wunder  geschahen  offen  vor 
seinen  Feinden,  und  die  Wirklichkeit  derselben  wurde  auch  von 
seinen  Feinden  nicht  bezweifelt,  sondern  nur  ihre  Göttlichkeit. 
Selbst  der  Muhammedanismus  erkenne  die  Wunder  Jesu  und 
noch  dazu  als  heilige  Thaten  in  Gottes  Kraft  gethan  an.  Ist 
aber  die  Wirklichkeit  der  Wunder  Jesu  und  seiner  Apostel  nach 
ihm  erst  anerkannt,  dann  muss  auch  ihre  Göttlichkeit  zugestanden 
werden,  oder  Gott  wäre  in  der  That  daran  Schuld,  dass  die 
Menschen  aufs  Furchtbarste  vom  Teufel  betrogen  wurden. 

Bei  einer  späteren  Zusammenkunft  führt  Benjamin  dann 
dem  Rabbi  den  Beweis  aus  dem  Alten  Testamente  und  aus  den 
rabbinischen  Schriften,  dass  nur  unter  solchen  Umständen  und 
nur  ein  solcher,  wie  es  hernach  mit  Jesu  von  Xazareth  der  Fall 
war,  kommen  sollte,  und  spricht  zuletzt  nach  der  Schrift  seine 
Hoffnung  auf  eine  endliche  Bekehrung  des  jüdischen  Volkes 
aus.  Der  Rabbi  erklärt  hierauf,  dass  ihm  viele  Anstösse  aus  dem 
Wege  geräumt  worden  seien,    und   er  weitere  Belehrung  erbitte. 

Richard  Kid  der,  Bischof  von  Bath  und  Wells  fühlte  etwas 
davon,  dass  man  bei  aller  freundlichen  Gesinnung,  welche  man 
in  seinem  Lande  für  die  Juden  hegte,  oft  doch  zu  wenig  die 
Wege  fand,  ihnen  das  Evangelium  nahe  zu  bringen,  und  wandte 
sich  desshalb,  wie  schon  früher  erwähnt,  an  Esdras  Edzard  in 
Hamburg  mit  der  Anfrage,  wie  man  es  beginnen  solle,  um  bei 
den  Juden  etwas  zu  erreichen.  Er  selbst  richtete  dann  seine 
Zeugnisse  in  englischer  Sprache  an  dieselben  und  schrieb: 
A  demonstration  of  the  Messias,  in  which  the  truth  of  the 
Christian  religion  is  defended  especially  against  the  Jews,  London 
1684 — 1700,  hernach  ins  Deutsche  übersetzt  von  F.  E.  Rambach. 
Rostock   1 75 1 . 

Dass  aber  Kidder  der  Gedanke  kam,  eine  Apologie  des 
Christensthums  gegen  die  Juden  zuschreiben,  hatte  seinen- guten 
Grund;  denn  freidenkerische  Christen  wie  Toland,  Thomas 
Woolston,  Thomas  Morgan,  Anton  Co! lins  und  andere  be- 
gannen mit  den  Juden  zu  liebäugeln,  und  diese  Hessen  es  sich 
angelegen  sein,  die  Schriften  solcher  Männer  zu  verbreiten. 

Der  Ritter  Robert  Boyle  nun  hatte  1691  eine  Stiftung  ins 
Leben    gerufen,    welche    wissenschaftlich  tüchtige  Männer  auffor- 


1S0     — 

dem  sollte,  die  Sache  des  christlichen  Glaubens  in  Predigten  und 
Schriften  gegen  die  freidenkerische  Richtung  zu  vertheidigen. 
Kidder,  der  mit  Boyle  befreundet  war,  erhielt  von  diesem  also 
den  Auftrag,  die  Vertheidigung  des  Evangeliums  gegen  die  Juden 
zu  übernehmen,  die  bereits  die  wenigen  Jahre  nach  ihrer  Auf- 
nahme in  England  den  Muth  gefunden  hatten,  angreifend  gegen 
das  Christenthum  vorzugehen.  Kidder  war  mit  der  jüdischen 
Literatur  wohl  bekannt  und  ganz  der  Mann,  die  ihm  gewordene 
Aufgabe  auszuführen.  Er  that  dies  in  der  oben  genannten 
Schrift. 

Er  hebt  das  dem  Christenthum  und  Judenthum  noch  Ge- 
meinsame gern  hervor;  davon  ausgehend  stellt  er  aber  in 
schlagender  Weise  die  unendliche  Ueberlegenheit  des  Christen- 
thums  über  das  Judenthum  dar,  und  zu  wie  künstlichen  Mitteln 
die  Juden  greifen  müssten,  um  sich  der  Anerkennung  dessen  zu 
entziehen,  dass  Moses  und  die  Propheten  von  ihnen  den  Glauben 
an  Jesum  fordern.  Eingehend  berücksichtigt  er  hierbei  die 
wichtigsten  jüdischen  Einwürfe  gegen  das  Christenthum.  Zugleich 
aber  richtet  er  seine  Ermahnungen  an  alle  Glieder  des  christ- 
lichen Volks  sich  der  Juden  anzunehmen. 

Die  Obrigkeit  soll  keinen  Zwang  zum  Uebertritt  gegen  sie 
ausüben,  aber  Pflicht  der  christlichen  Regenten  sei  es  allerdings, 
sie  zum  Anhören  der  christlichen  Predigt  anzuhalten;  denn  es 
sei  viel,  dass  den  Feinden  Christi  der  Aufenthalt  im  Lande 
gewährt  werde.  Jedesfalls  sei  es  Pflicht  sie  zu  beschränken,  denn 
die  schrankenlose  Freiheit  mache  sie  frech  und  erwecke  in  ihnen 
stets  die  Ueberzeugung,  dass  sie  Bevorzugte  des  Himmels  seien. 
Man  müsse  aber  auch  Personen  anstellen,  die  mit  ihnen  die  Reli- 
gionssachen verhandelten,  und  bei  den  Vorstehern  der  Juden  von 
Zeit  zu  Zeit  anfragen,  welche  Gründe  sie  hätten,  dass  sie  nicht  Chri- 
sten würden,  damit  man  mit  ihnen  recht  vorgehn  könne.  Auf 
den  Universitäten  müsse  das  jüdische  Studium  gepflegt  und  unter- 
stützt werden.  Aber  nicht  die  Gelehrten  allein  sollten  ans  Werk 
gehn,  sondern  auch  die  einfachen  Leute,  welche  den  Juden 
Schriften  über  das  Christenthum  vorlesen  könnten. 

Kidder  hat  in  früherer  Zeit  am  Ausführlichsten  in  England 
das  jüdische  Thema  behandelt. 

Jac.  Abbadie,  welcher  als  Prediger  in  Dublin  1727  starb, 
behandelte  in  seinem  Traite  de  la  verite  de  la  religion  Chretienne, 
Rotterdam  1684 — 1688,  auch  die  jüdische  Religion.     Ausführlich 


—     iSi     — 

geht  er  hier  auf  die  Einwendungen  der  Juden  gegen  die  christ- 
liche Schriftauslegung  und  gegen  das  Christenthum,  gegen  die 
Kirche  und  gegen  die  Berufung  der  Völker  ein.  Ernst  hält  er 
ihnen  vor,  dass  ihre  Sünde  gerade  in  der  Verwerfung  Christi 
bestehe,  der  nach  allen  Kennzeichen  des  Alten  Testamentes  der 
wahre  Messias  sei.  Diese  ganze  Schrift  ist  durchaus  sachlich 
gehalten  und  von  Bilderbeck  in  Zelle  171 3  und  1721  deutsch 
übersetzt  worden. 

Eine  eigentliche  Missionsschrift  aber  ist:  A  short  and  easy 
method  with  the  Jews  von  Charles  Leslie,  London  1698  und 
öfters,  deutsch  von  M.  Seidel  171 8,  neu  herausgegeben  durch 
die  Londoner  Judenmissionsgesellschaft  181 2.  Verfasst  hat  Leslie 
seine  Schrift  schon  mehrere  Jahre  früher,  als  sie  im  Druck  er- 
schien; die  Vorrede  trägt  das  Datum  des  Charfreitages   1689. 

Limborchs  Amica  collatio,  die  von  ihm  vielfach  benützt 
worden  ist,  und  ein  Gespräch  mit  einem  Juden,  welcher  auf  das 
jüdische  Lästerbuch  Tholedoth  Jeschu  anspielte,  scheinen  für 
Leslie  die  nächste  Veranlassung  geworden  zu  sein,  mit  dieser 
Schrift  hervorzutreten.  Leslie  wendet  sich  in  derselben  aber 
direkt  an  die  Juden.  Er  hält  ihnen  vor,  dass  die  Offenbarung 
und  das  Gesetz  Mosis  alle  Giltigkeit  verlören,  wenn  die  Juden 
nicht  auch  für  Jesum  gelten  Hessen,  was  sie  für  jene  in  Anspruch 
nähmen.  Christi  Wundern  und  Lehren  käme  die  gleiche  Glaub- 
würdigkeit wie  jenen  zu.  Jesus  aber  sei  ein  besserer  Messias 
als  der  von  den  Juden  erhoffte;  denn  der  letztere  könne  nichts 
für  das  ewige  Leben  geben,  wohl  aber  Christus;  und  das  Opfer, 
welches  die  Juden  haben  müssten,  besässen  sie  nur  in  Christo. 

Zur  selben  Zeit  mit  Leslie  wurde  von  einem  nicht  genannten 
Verfasser  Abraham  Jageis  „Guter  Rath  oder  Lehre",  welche 
Ludovicus  de  Veil  aus  dem  Hebräischen  ins  Lateinische  übersetzt 
hatte,  aus  dem  Lateinischen  ins  Englische  unter  dem  Titel  „The 
Jews'  Catechism"  1691  übertragen.  Der  Verfasser  entschuldigt 
es  zuerst,  dass  er  den  Katechismus  eines  Juden  übersetze,  aber 
in  demselben  widerspreche  nichts  dem  Christenthum;  und  dann 
legt  er  die   13  jüdischen  Glaubensartikel  aus. 

Bischof  D.  Thomas  Barlow  von  Lincoln  erhob  in  „Several 
cases  of  conscience  resolved",  London  1692,  in  wunderlicher 
Weise  seine  Stimme  für  die  Duldung  der  Juden.  Quäker  und 
Baptisten  seien  nicht  zu  leiden,  wohl  aber  Juden,  da  letztere  dem 
Staate  zum  Vortheil  gereichten,  und  England  ihnen  eine  Wieder- 


—       182       — 

gutmachung  des  früher  ihnen  zugefügten  Unrechts  schulde;  ihren  Un- 
glauben müsse  man  ihnen  nicht  so  übel  nehmen,  da  Gott  ihr  Herz 
verstockt  habe.  Der  Bischof  betrachtete  diese  Verstockung  wie 
ein  Verhängniss,  das  über  die  Juden  gekommen  sei,  und  vergisst 
es  völlig,  dass  ihre  Verstockung  nur  ein  Gericht  ist,  welches  sie 
selbst  verschuldet  haben.  Völlige  bürgerliche  Freiheit  will  er 
ihnen  jedoch  durchaus  nicht  gewährt  wissen,  ja  ihnen  nicht  ein- 
mal den  Bau  neuer  Synagogen  und  das  Tragen  der  Kleidung 
der  Christen  gestatten.  Ueberhaupt  verlangt  er  die  weiteste  Be- 
schränkung derselben,  allerdings  aber  auch,  dass  man  ihnen  den 
christlichen  Glauben  bezeuge. 

Der  Prediger  Tho.  Calvert  in  York  gab  im  Missionsinteresse 
unter  dem  Titel:  The  blessed  Jew  of  Morocco,  den  bekannten 
vor  und  nach  der  Reformation  oft  aufgelegten  Brief  Samuels  an 
Rabbi  Jsaak  aus  Marokko  heraus,  1697.  Ein  Jude  richtet  hier 
Frage  auf  Frage  an  einen  anderen  Juden,  die  alle  die  Erkennt- 
niss  wirken  wollen ,  dass  die  Juden  unter  dem  Gerichte  dahin- 
gehen. Calvert  selbst  ist  voll  herzlicher  Liebe  für  die  Juden  und 
denkt  der  Zeit  mit  Freuden ,  wo  sie  mit  allen  Völkern  vereint 
Jesu,  dem  Sohne  Davids  das  Hosiannah  anstimmen  werden. 
Die  Christen  aber  sollen  durch  ihr  Zeugniss  an  die  Juden  dazu 
helfen,  dass  diese  Zeit  erscheine ;  denn  so  gewiss  die  Drohungen 
Gottes  an  ihnen  in  Erfüllung  gegangen  seien,  und  Calvert  weist 
dies  an  den  Geschicken  der  Juden  in  verschiedenen  Ländern  nach, 
so  gewiss  werde  Gott  auch  seine  Verheissung  an  ihnen  erfüllen. 

Ein  Jacob  Calvert  hatte  übrigens  auch  bereits  1672  zu 
London  in  „Xaphthali"  seine  Hoffnung  auf  die  Rückkehr  der 
Juden  nach  Canaan  und  auf  ihre  Bekehrung  ausgesprochen. 

In  persönlichen  Verkehr  mit  den  Juden  trat  Pierre  d 'All ix, 
einer  der  französischen  Theologen,  welche  nach  England  flüchteten. 
Gegen  die  Unitarier  seiner  Tage  rief  er  das  Zeugniss  der  alten 
jüdischen  Theologie  auf:  Judgment  of  the  ancient  Jewish  Church 
against  the  Unitarians,  London  1699,  das  Matth.  Seidel,  Berlin 
171  7,  ins  Deutsche  übersetzte.  Die  Dreieinigkeit  und  die  Gottheit 
des  Messias  wollte  er  hier  als  klare  Lehren  der  früheren  Juden 
und  besonders  des  Philo  und  der  Targumim  nachweisen.  Frei- 
lich nahm  er  hierbei  eine  zu  weite  Uebereinstimmung  der  Lehre 
Christi  und  seiner  Apostel  mit  der  eigentlichen  jüdischen  Theo- 
logie ihrer  und  der  ihnen  zunächst  gelegenen  Zeit  an.  Er  erblickte 
da  bereits  volle  christliche  Klarheit,  wo  doch  noch  viel  Schwanken 


-     i83     - 

und  Unklarheit  herrschten  und  erst  die  Spuren  dessen  zu  finden 
sind,  was  das  Christenthum  verkündigt  hat.  Allix  lässt  in  der 
That  Christum  und  seine  Apostel  nur  lehren,  was  schon  all- 
gemeine Glaubensüberzeugung  des  jüdischen  Volkes  gewesen  sei. 
Immerhin  aber  führt  er  den  Nachweis  im  Allgemeinen  treff- 
lich, dass  sich  Christus  für  seine  Messianität  mit  Recht  auf  das 
Alte  Testament  berufen  habe,  und  verwendet  ebenso  das  Zeugniss 
der  älteren  jüdischen  Theologie  in  recht  bemerkenswerther 
Weise. 

Sehr  eingehend  behandelt  er  in  der  von  ihm  französisch 
verfassten  und  hernach  von  Chr.  Esche nbach,  Prediger  zu  Nürn- 
berg 1702  übersetzten  Schrift:  „Vernünftige  Betrachtung  über 
die  Bücher  der  heiligen  Schrift",  die  Messiaslehre  des  Alten  und 
Neuen  Testamentes.  Er  wies  hier  weitläufig  nach,  dass  nach 
allen  Kennzeichen,  welche  das  Alte  Testament  für  den  Messias 
aufstellt,  derselbe  gekommen  und  kein  anderer  zu  erwarten  sei. 
Ist  er  also  nicht  erschienen,  dann  hat  das  Alte  Testament  Christen 
und  Juden  gleichmässig  betrogen.  Ebenso  übersetzte  Eschenbach 
ins  Deutsche  (1 702)  die  beiden  lateinischen  Abhandlungen  von  d' Allix 
über  die  doppelte  Ankunft  Christi  (1701  London).  Allix  erzählt,  er 
habe  einen  Rabbi  in  der  Synagoge  zu  London  über  die  Ankunft 
des  Messias  spanisch  predigen  gehört.  Von  den  anwesenden 
Juden  um  seine  Meinung  über  den  Gegenstand  befragt,  habe  er 
ihnen  gesagt,  dass  er  ihnen  dieselbe  ausführlicher  erklären  wolle 
und  dies  denn  auch  in  seinem  Hause,  wohin  eine  Anzahl  der- 
selben kam,  gethan.  Er  habe  nach  Daniel  2,  7,  9  ausgeführt, 
dass  der  Messias  wieder  kommen  werde,  sie  zu  erlösen,  und  dass 
diese  Zeit  nicht  mehr  fern  sei.  Frucht  aber  hätten  seine  Worte 
nicht  geschafft.  Allix  bekannte  dies  offen  und  hat  so  selbst  er- 
fahren, dass  es  eine  falsche  Rechnung  ist,  wenn  man  die  Juden 
für  Jesum  Christum  durch  Anpreisung  der  Herrlichkeit  seines 
zukünftigen  Reiches  gewinnen  will,  ehe  sie  ihn  nicht  als  den 
Sünderheiland  angenommen  haben.  Schon  früher,  1698,  hatte  er 
übrigens  durch  eine  Schrift  an  einen  Rabbi  über  die  70  Wochen 
des  Daniel  den  Versuch  gemacht,  den  Juden  das  Evangelium 
durch  Vorhaltung  der  Verheissungen    annehmlicher   zu    machen. 

Der  gleiche  Trieb,  den  Juden  das  Evangelium  mündlich  zu 
bezeugen,  erfüllte  einen  anderen  französischen  Theologen  in 
England,  Jean  d'Espagne,  Prediger  der  französischen  Gemeinde 
in    London.      Ueberhaupt    haben    die    Franzosen    des    17.   Jahr- 


-     i84     - 

hunderts  fast  alle  anderen  an  Eifer  und  praktischem  Geschick, 
den  Juden  das  christliche  Zeugniss  nahe  zu  bringen,  übertroffen. 
Sie  hatten  unter  dem  schweren  Druck,  unter  welchem  sie  in 
ihrem  Vaterlande  seufzten ,  in  ihrer  eigenen  Kirche  gewisser- 
maassen  nur  ein  Missionswerk  treiben  können,  hatten  hierbei 
aber  das  Evangelium  als  eine  lebendige  Gotteskraft  erfahren;  und 
so  wussten  sie  es  denn  aus  praktischer  Uebung  und  Erprobung 
heraus,  wie  Missionsarbeit  in  die  Hand  genommen  werden  muss, 
wenn  sie  gelingen  soll.  Das  literarische  Wirken,  welches  sonst 
in  dieser  Zeit  überall  an  erster  Stelle  stand  und  überschätzt  wurde, 
ging  bei  ihnen  immer  mit  lebendiger  persönlicher  Missionsthätig- 
keit  Hand  in  Hand,  und  sie  schlugen  die  Bedeutung  des  münd- 
lichen Wortes  nicht  niedriger  an  als  die  des  geschriebenen.  In 
ihnen  lebte  der  Drang,  die  Juden  aus  dem  persönlichen  Verkehre 
mit  ihnen  selbst  kennen  zu  lernen  und  in  demselben  auf  sie  ein- 
zuwirken. Hiernach  gestaltete  sich  denn  auch  ihr  Zeugniss,  und 
eben  desshalb  gehört  das,  was  aus  der  Feder  evangelischer  Fran- 
zosen in  jenem  Zeiträume  erflossen  ist,  entschieden  zu  dem  Her- 
vorragendsten und  Besten  aus  der  ganzen  betreffenden  Literatur. 
d'Espagnes  Schriften  sind  des  öfteren  französisch  und  hol- 
ländisch erschienen,  von  Sigismund  Hosmann  in  deutscher 
Uebersetzung,  Frankfurt  a.  M.  1697.  Derselbe  war  entschieden 
gegen  die  Aufnahme  von  Juden  in  England  und  hielt  denen, 
welche  mit  der  Möglichkeit  ihrer  Bekehrung  daselbst  ihre  Neu- 
ansiedlung  im  Inselreiche  befürworteten,  entgegen,  dass  ihre  Be- 
kehrung ausserordentlich  schwer  sei.  Um  den  Engländern  einen 
Beweis  dessen  zu  geben,  dass  er  Recht  habe,  forderte  er  Menasseh 
Ben  Israel  auf,  ihm  Rede  und  Antwort  wider  seine  Bedenken  zu 
stehen.  Letzterer  konnte  sich  dem  nicht  entziehen,  und  so  fand  im 
Mai  1656  eine  Unterredung  zwischen  beiden  statt.  Derselben  wohnten 
der  französische  Gesandte  de  Bourdeaux  und  viele  andere  bei. 
d'Espagne,  welcher  mit  der  Schrift  und  der  rabbinischen  Lite- 
ratur wohl  vertraut  war,  erbat  sich  von  Menasseh  Auskunft  über 
mehrere  Stellen  aus  dessen  Buche  über  die  Schöpfung  und  aus 
dem  Conciliador,  insbesondere  auch  über  die  Bestimmung,  dass 
man,  wenn  zwei  Rabbinen  das  Gegentheil  behaupteten,  beiden 
glauben  müsse,  weil  beider  Aussprüche  Worte  des  lebendigen 
Gottes  seien;  ebenso  über  die  Opfer,  die  Gott  beim  Neumond 
bringen  müsse,  über  das  Opfer  an  Sammael  (Satan),  über  das 
Gebot  des  Sichbetrinkens  am  Purim-Fest,    über  Psalm   110  und 


-     185     - 

andere  Schriftworte,  welche  die  einen  unter  den  Rabbinen  auf 
den  Messias  beziehen,  die  anderen  nicht,  und  über  die  fortwäh- 
renden Widersprüche  zwischen  der  alttestamentlichen  und  der 
rabbinischen  Religion. 

Menasseh  wusste  nicht  ein  und  aus,  und  seine  Verteidigung 
fiel,  wo  er  sie  versuchte,  ganz  kläglich  aus.  Er  stand  einem  zu 
ernsten  und  unbestechlichen  Sachkenner  gegenüber.  Im  folgen- 
den Jahre  1657  liess  d'Espagne  denn  auch  eine  Schrift:  Examen 
de  dix-sept  maximes  Judaiques  (London)  erscheinen,  in  welcher 
er  sich  gegen  17  Lehrgrundsätze  des  Maimonides  und  des  Me- 
nasseh Ben  Israel  ausspricht.  Weiter  aber  behandelte  er,  auch 
hiermit  in  die  damals  schwebende  Frage  eingreifend,  das  Thema: 
WTarum  die  Bekehrung  der  Juden  jetzt  viel  schwerer  als  im  An- 
fange der  christlichen  Zeit  sei? 

Als  den  ersten  Grund  erkennt  er  hierbei  nach  der  Schrift 
die  Halsstarrigkeit  der  Juden,  die  nicht  glauben  wollen,  während 
sie  doch  alles  zum  Gehorsam  des  Glaubens  mahne,  insbesondere 
ihre  Zerstreuung,  das  Fehlen  der  Opfer,  die  vergebliche  Erwartung 
eines  Messias,  welche  sie  schliesslich  zu  lauter  verwirrten  Ge- 
danken über  denselben  geführt  habe,  das  Fehlen  des  Davidischen 
Geschlechtsregisters  u.  s.  w.  Aber  der  Ungrund  ihrer  Sache 
habe  sie  stets  nur  desto  erfinderischer  im  Suchen  nach  Aus- 
flüchten gemacht.  Ganz  grundsätzlich  hätten  sie,  um  nur  Christo 
entfliehen  zu  können,  die  Auslegung  der  messianischen  Stellen 
bei  den  alten  Rabbinen  verworfen;  und  die  späteren  Rabbinen 
hätten  dann  alles  ersonnen,  um  nur  das  Volk  in  seiner  Verblen- 
dung zu  erhalten.  In  England  speciell  werde  die  Zertheilung 
der  Kirche  in  so  viele  Parteien  sie  abschrecken,  und  ausserdem 
die  dort  herrschende  Neigung  zu  judaistischen  Irrthümern  ihrer 
Bekehrung  im  Wege  stehen. 

Wie  stark  übrigens  diese  Neigung  zu  judaisiren  damals  in 
England  war,  beweist  die  Thatsache,  dass  1661  unter  Führung 
eines  gewissen  Poole  aus  Norwich*)  etwa  hundert  Engländer  mit 
Frauen  und  Kindern  das  Land  verliessen  und  sich  mit  kurfürst- 
licher Erlaubniss  nahe  dem  Kloster  Lobensfeld  bei  Heidelberg 
niederliessen,  um  dort  ihr  Leben  unter  alttestamentlichen  Formen 
zu  führen.  Sie  suchten  Christenthum  und  alttestamentliches  Wesen 
mit    einander   zu    vereinigen,    bekannten    sich    zu    Christo,    aber 


b:   Schudt   I,   523;  4.  Forts,    i,  312. 


—     186    — 

beobachteten  auch  die  Beschneidung,  den  jüdischen  Sabbath,  die 
mosaischen  Speiseopfer  und  schoren  die  Barte  nicht.  Die  Sekte, 
deren  Führer  ein  unsittlicher  Mensch  war,  hielt  sich  aber  nicht, 
sondern  ging  bald  unter. 

c.  Bekehrungen  in  England. 

Die,  so  weit  ersichtlich,  erste  Aufnahme  eines  Juden  in  die 
evangelische  Kirche  Englands  hat  selbstverständlich  auch  die 
Theilnahme  der  dortigen  Christen  im  besonderen  Maasse  auf  sich 
gezogen.  Im  Jahre  1577  taufte  John  Fox  zu  London  einen  Juden, 
der  früher  Juda  hiess,  als  Christ  aber  Nathanael  genannt  wurde.*) 
Dieser  Proselyt  hielt  bei  seiner  Taufe  selbst  eine  Ansprache  an 
die  Versammelten,  aus  welcher  hervorgeht,  dass  er  ein  weit- 
gereister Mann  war.  Seine  Reisen  hatten  ihn  oft  nach  Spanien  und 
Portugal  geführt.  Er  wurde  mit  der  Literatur  jener  Länder  wohl 
bekannt  und  besass  überhaupt  eine  nicht  gewöhnliche  Bildung. 
Seine  Geschäfte  führten  ihn  auch  nach  England  und  hier  kam 
er  zu  christlicher  Erkenntniss,  die  ihn  um  die  Aufnahme  in  die 
christliche  Kirche  bitten  liess.  Ueber  seine  weiteren  Schicksale 
ist  nichts  bekannt. 

Ein  gelehrter  Proselyt  in  dieser  früheren  Zeit  war  Philipp 
Ferdinand,**)  der  aus  Polen  stammte  und  der  sich  hernach  in 
Constantinopel  aufgehalten  hatte,  dann  nach  England  kam  und 
später  nach  Holland  ging.  Derselbe  gab  aus  dem  Hebräischen 
in  lateinischer  Uebersetzung  die  Schrift  des  Abraham  Ben  Ka- 
tanni:  Kol  Jehovah,  die  Stimme  Gottes,  heraus,  Canterbury  1597, 
eine  Abhandlung  über  die  613  Gebote  der  Juden.  Hiermit  ver- 
banden sich  einige  Zusätze  über  die  heutigen  Feste  der  Juden, 
die  7  Gebote  Noahs,  über  die  jüdischen  Speisen,  über  die  nicht 
zum  Zeugnisse  berechtigten  Personen,  über  die  4  Arten  der  Strafe 
und  des  Todes,  über  die  13  Glaubensartikel,  Disputationen  über 
die  Accente  nach  Elias  Germanus,  rabbinische  Spitzfindigkeiten 
zu  1  Moses  1,  einiges  Masorethische,  über  das  grössere  Alphabet 
und  wo  es  in  der  Bibel  gefunden  wird,  über  die  verschiedenen 
Namen  des  Gesetzes  nach  Kimchi  zu  Psalm  119.  Wolf  erwähnt 
1,  N.  1830  noch  einen  1590  gestorbenen  Ferdinand  Philipp, 
von  dem  Scaliger  sagt,  dass  er  in  Constantinopel  mit  den  Karäern 
vielen  Verkehr  gehabt,    und    dass  er  selbst  von  ihm  das  Meiste 

*)  Jewish  Intelligence    1827  S.   28   ff.,  321    ff.,  406  ff.,  445   ff. 
**)  Wolf  B.H.   1   N.   1832;  3,  N.   1831I  und  N.   14S. 


-     i87     - 

über  die  talmudischen  Wissenschaften  gelernt  habe,  so  dass  er 
ihm  allein  seine  Professur  zu  danken  habe.  Wenn  die  Jahreszahl 
1597  für  das  in  Canterbury  erschienene  Buch  des  erstgenannten 
Philipp  Ferdinand  richtig  ist,  dann  handelt  es  sich  hier  um  zwei 
verschiedene  Personen;  höchst  wahrscheinlich  aber  liegt  ein  Irr- 
thum  in  den  Jahreszahlen  vor,  da  alles  sonst  auf  die  Identität 
der  beiden  hinweist. 

Auf  einer  Handelsreise,  die  er  nach  England  machte,  wurde 
wie  Nathanael,  so  auch  Paul  Jesaia*)  für  das  Christenthum  ge- 
wonnen, worauf  er  in  London  1654  eine  Schrift  A  Vindication 
of  the  Christians'  Messias  erscheinen  Hess.  Paul  Jesaia  hat  in 
Prag  auf  einer  jüdischen  Hochschule  studirt,  war  aber  schon 
damals  den  Seinen  wegen  mehrfach  kund  gegebener  Neigung 
zum  Christenthum  verdächtig.  Da  trat  in  Böhmen  ein  falscher 
Messias  auf,  welcher  einen  grossen  Anhang  gewann,  hernach  je- 
doch als  Betrüger  offenbar  wurde.  Das,  so  erzählt  er,  habe  viele 
gelehrte  Juden  in  Mähren  und  Ungarn  zum  Eintritt  in  die  katho- 
lische Kirche  bewogen  und  auch  in  ihm  den  Gedanken,  Christ 
zu  werden,  zum  festen  Entschlüsse  reifen  lassen.  Da  er  aber 
von  den  Seinen  zu  eng  bewacht  war,  begab  er  sich  auf  Reisen. 
Unterwegs  gelang  es  einem  Jesuiten  in  Antwerpen,  wo  er  krank 
lag,  ihn  und  einen  jüdischen  Reisegefährten  zur  Taufe  in  der 
katholischen  Kirche  zu  bewegen.  Gesund  geworden  kam  er 
nach  England  und  trat  dort  zu  den  Baptisten  über.  Durch  seine 
Schrift,  die  ganz  den  Charakter  der  damaligen  jüdischen  Aus- 
legungsweise trägt,  wollte  er  auch  andere  Juden  bestimmen, 
ihm  nachzufolgen. 

In  den  angeregteren  christlichen  Kreisen  Englands  empfand 
Mancher  eine  besondere  Theilnahme  für  die  kleine  Zahl  der  im 
Lande  neu  aufgenommenen  Juden,  und  das  hatte  zur  Folge,  dass 
sich  mehrfach  zwischen  solchen  Christen  und  Juden  ein  Verkehr 
entspann,  welcher  einigen  der  letzteren  das  Christenthum  in  einem 
freundlichen  Lichte  erscheinen  Hess.  Besonders  peinlich  wurde 
die  kleine  Judengemeinde  dadurch  berührt,  dass  bereits  1663  der 
italienische  Rabbi  Moses  Scialiti**)  die  Taufe  erbat,  die  denn 
auch  am  Dreieinigkeits-Sonntage  von  D.  Warmestre,  Dekan  von 
Worcester    in    St.    Margaret    vollzogen    wurde.     Mitglieder    der 


f)  Wolf  B.  H.  4,  N.  181 1  d. 

f)  Picciotto  S.  34.     Anglia  Judaica  S.   2S0  ff.     Wolf  B.  H.  4,    1652  b. 


—     ISS     — 

höheren  Stände  wünschten  die  Pathen  des  Rabbi  zu  sein,  und 
zu  der  Zahl  derselben  gehörte  der  Bischof  von  Chester  D.  Samuel 
Collins  und  die  Countess  Lucy  von  Huntington.  Scialiti  wandte 
sich  darauf  in  einem  italienischen  Briefe,  dem  die  englische 
Uebersetzung  beigefügt  wurde,  an  seine  früheren  Glaubensgenossen 
indem  er  ihnen  die  Gründe  seines  Uebertritts  auseinander  setzte 
und  sie  zur  Nachfolge  ermunterte. 

Durch  dieses  Vorkommniss  erschreckt,  bot  die  erste  jüdische 
Gemeinde  in  England  um  so  mehr  alle  Mittel  auf,  weiterem  Ab- 
falle vorzubeugen.  Ein  wohlhabender  Kaufmann  de  Pass  oder 
de  Paz,  welcher  aus  Holland  übergesiedelt  war,  fand  eine  An- 
stellung beim  Staatssecretär,  Zutritt  bei  Hofe  und  heirathete  eine 
englische  Dame.  Die  Juden  aber  verfolgten  ihn  so  sehr,  dass 
er  nach  Indien  ging;  und  als  sie  ihm  auch  dort  keine  Ruhe 
Hessen,  soll  er  wieder  Jude  geworden  sein.  Seine  Wittwe  musste 
sich  seinen  Nachlass  erst  gerichtlich  erstreiten.  Die  Enterbung 
jüdischer  Kinder,  welche  zum  Christenthum  übertraten,  verbot 
später  171 5  eine  Parlamentsakte. 

Am  bekanntesten  sind  unter  den  Proselyten  dieses  Zeit- 
raums in  England  die  beiden  de  Veil,  Ludwig  und  Karl,  ge- 
boren in  Metz,  geworden.*)  Der  Vater  war  zuerst  Rabbiner  in 
Metz  und  später  an  verschiedenen  Orten  Deutschlands,  der  Gross- 
vater Jacob  war  ein  angesehener  jüdischer  Gelehrter  gewesen  und 
hat  mehrere  von  den  Juden  gern  gelesene  Schriften  geschrieben. 
Ludwig  ertheilte  schon  im  17.  Jahre  Unterricht  und  wurde,  wie 
es  heisst,  1655  vom  Könige  Ludwig  XIII.  von  Frankreich  dazu 
genöthigt,  in  Compiegne  katholisch.  Der  König  und  die  Königin 
gehörten  jedesfalls  zu  seinen  Pathen.  Seinen  Namen  Compiegne 
erhielt  er  von  der  Stadt,  in  welcher  er  die  Taufe  empfing.  Er 
wurde  dann  ordentlicher  Professor  der  orientalischen  Sprachen  des 
Königs  von  Frankreich  an  der  Sorbonne  in  Paris.  Wagenseil,  der 
ihn  in  Paris  kennen  lernte,  lobte  ihn  eben  so  sehr  wegen  seiner  Be- 
scheidenheit als  wegen  seiner  wissenschaftlichen  Tüchtigkeit  und 
erwartete  Bedeutendes  von  ihm.  Ludwig  übersetzte  in  dieser 
Zeit  die  8  ersten  Traktate  des  Jad  Chasaka  von  Maimonides 
ins  Lateinische  und  versah  die  Uebersetzung  mit  Bemerkungen. 
Die  Schrift  erschien  von   1662  bis  1678  in  Paris. 


*)  Wolf  B.  H.   1,  3,  4  N.    1340.     Kaikar  77,   78. 


—     189     — 

Im  Katholicismus  aber  hielt  es  ihn  nicht  lange,  obwohl  er 
unterdess  von  Herzen  christlicher  Ueberzeugung  geworden  war. 
Als  er  dann  Frankreich  verliess,  weil  er  ohne  Heuchelei  nicht 
länger  Katholik  bleiben  konnte,  ging  er  mit  noch  einigen  anderen 
nach  Deutschland  und  zwar  nach  Heidelberg,  wo  er  an  der  Uni- 
versität gelehrt  haben  soll.  Von  dort  wandte  er  sich  nach 
London  und  wurde  hier  besonders  durch  d'Allix  für  die  evan- 
gelische Kirche  gewonnen,  zu  der  er  nun  auch  öffentlich  über- 
trat. Dort  veröffentlichte  er  dann  die  weiteren  Ergebnisse  seiner 
Studien   über  Maimonides    und  Abarbanel  und  andere  Rabbinen. 

Zuerst  hat  er  hier  den  hebräischen  Katechismus  des  Ab- 
raham Ja  gel  in  lateinischer  Uebersetzung  herausgegeben,  1679 
und  diese  Schrift  dem  Bischöfe  von  London  gewidmet.  Er  wurde 
dann  Prediger  der  englischen  Kirche  und  verwaltete  zuletzt  das 
Amt  eines  Vorstehers  der  Königl.  Bibliothek  in  London.  Ein 
Sohn  desselben  wurde  Friedensrichter  in  England. 

Ludwigs  Bruder  trat  auch  zur  katholischen  Kirche  über 
und  war  besonders  durch  den  Einfluss  von  Bossuet  gewonnen 
worden.  Er  erhielt  in  der  Taufe  den  Namen  Carl  Maria  de  Veil.*) 
Später  wurde  er  Regulärer  Canonikus  der  Gallicanischen  Con- 
gregation  und  Doktor  der  Theologie,  Prior  der  Congregation  in 
Melun,  hernach  Professor  an  der  Akademie  zu  Angers  und  end- 
lich Pfarrer  in  Sens.  In  dieser  Zeit  schrieb  er  Commentare  zu 
Matthäus  und  Marcus,  zum  Hohenliede  und  Joel.  1677  aber 
ging  er  nach  England,  trat  zur  evangelischen  Kirche  über  und 
wurde  Prediger  in  Fulham.  Hier  zeigte  er  aber  bald  baptistische 
Neigungen,  heirathete  eine  Baptistin  und  trat  zu  den  Baptisten 
über.  Der  Benediktiner  Augustin  Calmet,  welcher  ihm  seinen 
Austritt  aus  der  römischen  Kirche  nicht  verzeihen  konnte,  schreibt, 
dass  er  endlich  fast  ohne  ein  Anzeichen  irgend  einer  Religion 
im  Anfange  des  1 8.  Jahrhunderts  gestorben  sei.  Das  wird  ander- 
weitig durchaus  nicht  bestätigt,  und  auch  seine  letzte  Schrift 
macht  diesen  Eindruck  keineswegs;  nur  war  seine  Stellung  zur 
Kirche  und  Kirchenthum  sein  schwacher  Punkt,  und  ein  Katholik, 
für  den  Christenthum  und  Kirchenthum  eins  sind,  wird  in  solchem 
Falle  freilich  geneigt  sein,  auf  völlige  Glaubenslosigkeit  oder  Ab- 
fall vom  Christenthum  zu  schliessen. 


*)  Wolf  B.H.   1   3,  4,  N.   1895. 


—     190    — 

Aus  seiner  evangelischen  Zeit  stammen  neben  Ueberarbei- 
tungen  früherer  Commentare,  die  der  neugewonnenen  Ueberzeugung 
Rechnung  trugen,  Auslegungen  der  kleinen  Propheten,  der  Apostel- 
geschichte und  des  Predigers  Salomo.  Gegen  Richard  Simon 
vertheidigte  er  in  einem  Briefe  an  Robert  Boyle  die  alleinige 
Autorität  der  Schrift  in  Glaubenssachen  und  antwortete  auch  de 
l'Isle,  welcher  die  Auslassungen  dieses  seines  Briefes  bekämpfte. 

John  Jacob*)  aus  Polen  stammend,  der  bereits  auf  Seite  162 
erwähnt  worden  ist,  scheint  nicht  in  Holland,  sondern  in  England 
die  Taufe  empfangen  zu  haben.  Seine  Schrift  ist  jedesfalls,  ehe 
sie  holländisch  in  Amsterdam  1682  erschien,  schon  1679  in  Eng- 
land in  englischer  Sprache  unter  dem  Titel:  The  Jew  turned 
Christian  or  the  Corner  Stone  herausgekommen.  Der  Mensch,  so 
führt  der  Verfasser  aus,  ist  einmal  für  Gott  geschaffen  und  in 
ihm  allein,  dem  höchsten  Gut,  findet  er  wahre  Befriedigung.  Der 
gefallene  Mensch  aber  kann  zu  Gott  nur  durch  sein  Gnadenwerk 
und  im  Gnadenbunde  gelangen.  Israel  jedoch  verweigert  es,  in 
den  Gnadenbund  zu  treten,  den  Gott  in  Jesu  Christo  gestiftet  hat, 
denn  es  hat  an  der  eigenen  Gerechtigkeit  festgehalten.  Aber 
keine  eigene  Gerechtigkeit  führt  den  Menschen  in  den  Bund 
Gottes.  Alles  dieses  beweist  das  Alte  Testament,  wie  es  nun 
der  Verfasser  zeigt,  und  dabei  geht  er  ausführlich  auf  die  Person 
des  Messias  ein,  zu  deren  Beschreibung  er  mehrere  messianische 
Weissagungen  heranzieht. 

In  Truth  springing  of  the  Earth  will  Rabbi  SalomonFranco, 
nachdem  er  Christ  geworden  ist,  London  1670  die  Wahrheit  der 
Messianität  Jesu  Christi  aus  den  irdischen  Verheissungen  des 
Gesetzes  beweisen.  Nach  den  eigenen  Geständnissen  alter  jüdischer 
Schriftsteller  verlangen  die  Verheissungen  des  Alten  Testamentes 
neben  einer  zeitweiligen  noch  eine  höhere  Erfüllung;  und  nach 
dieser  Erklärungsregel  sucht  nun  eben  der  Verfasser  die  Juden 
zur  Anerkennung  Jesu  als  des  wahrhaftigen  Messias  zu  führen. 

Johannes  Alexander**)  schrieb  nach  seiner  Taufe  Gods 
Covenant  displayed,  London  1689  und  zeigte  hier  den  Juden, 
dass  der  Bund  Gottes  mit  Israel  erst  in  Jesu  Christo  zu  seiner 
Vollendung  komme. 


*)  Wolf  B.  IL  167S. 
**)  Wolf  B.  EL  4  N.  806b. 


—    I9I    — 

Theodor  John*)  (John  Tob),  ein  Rabbiner,  aus  Prag 
gebürtig,  kam  in  seinem  dreissigsten  Jahre  nach  London  und 
wurde  dort  durch  Johann  Esdras  Edzard,  den  Sohn  des  Ham- 
burger Edzard,  in  der  deutsch -lutherischen  Kirche  1693  getauft. 
Gleichzeitig  Hess  er  seine  Bekehrungsgeschichte  und  sein  Glaubens- 
bekenntniss  englisch  erscheinen.  Er  war  früher  Rabbi  in  Trier 
gewesen. 

1  705  gab  zu  Oxford  der  schon  früher  getaufte  Philipp  Levi**) 
eine  hebräische  Grammatik  in  englischer  Sprache  heraus.  Am 
Schlüsse  derselben  lässt  er  sich  über  die  Elemente  des  Chaldäi- 
schen  aus,  so  weit  sie  zum  Verständniss  des  im  Alten  Testamente 
enthaltenen  Chaldäisch  nöthisr  sind. 


8.  Dänemark,  Schleswig  und  Holstein. 

In  Dänemark  durften  bis  zu  Christian  V.  Juden  nicht 
wohnen.  Der  bekannte  reiche  Jude  Texeira  in  Hamburg  aber 
erlangte  1684  von  jenem  Könige  die  Erlaubniss  sich  mit  den 
Seinigen  in  Dänemark  niederzulassen.  Seitdem  haben  sich  Juden 
in  Kopenhagen  angesiedelt  und  werden  solche  auch  in  Altona, 
Glückstadt  und  Friedericia  angetroffen. 

Nur  sehr  spärliche  Notizen  gehen  uns  aus  dieser  Zeit  zu, 
welche  ein  Interesse  der  Evangelischen  jener  Gegenden  für  die 
Juden  beweisen. 

Nie  P.  Scandorph  in  Kopenhagen  Hess  sich  in  drei  Dispu- 
tationen über  die  Verwerfung  der  Juden  aus.  Christian  Falster, 
Rektor  zu  Ripen,  schlug  die  Veranstaltung  eines  Concils  von 
Juden  und  Christen  vor,  in  welchem  sich  beide  Theile  über  die 
christliche  Lehre  mit  einander  berathen  sollten,  damit  so  den 
Juden  die  Annahme  des  Christenthums  erleichtert  würde.  Th. 
Bangius  bearbeitete  seit  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  in 
Kopenhagen  die  talmudische  und  rabbinische  Literatur,  vor  deren 
Uebersetzung  er  jedoch  warnte. 

Eine  seltsame  Erscheinung  war  Holger  Pauli.  Nachdem 
derselbe  Amsterdam  zum  Wohnsitz  erwählt  hatte,  wo  er  sich  mit 
grösserer  Freiheit  bewegen  konnte,  forderte  er  Juden  und  Christen 


*)  Wolf  B.  H.  1,  3  N.  2224. 
**)  Wolf  B.  H.   1,  3  N.   18312. 


—     192     — 

auf,  ihn  als  Messias  anzunehmen.  Er  wurde  dafür  in  das  Irren- 
haus gesperrt,  später  aber  aus  demselben  wieder  entlassen  und 
starb   171 5   in  Kopenhagen. 

9.  Scandinavien  und  die  jetzt  russischen  Ostsee- 
provinzen. 

In  Norwegen  gab  es  während  des  17.  Jahrhunderts  keine 
Juden,  ebenso  auch  nicht  in  Schweden.  Zeitweise  durften  Juden 
in  Handelsgeschäften  nach  Schweden  und  Livland  kommen, 
mussten  sich  aber  nach  izitägigem  Aufenthalt  von  jedem  Orte 
wieder  entfernen.  Das  Herzogthum  Kurland  gestattete  ebenfalls 
den  Juden  nicht,  in  seinem  Gebiete  zu  wohnen. 

So  lagen  die  Juden  ausserhalb  des  eigentlichen  Gesichts- 
kreises der  Bevölkerung  dieser  Länder,  und  auch  die  religiöse 
Richtung  derselben  führte  sie  wenig  dazu,  der  Juden  zu  gedenken. 
Erst  gegen  Ende  des  17.  Jahrhunderts  wendet  man  ihnen  in 
Schweden  eine  gewisse  Aufmerksamkeit  zu,  welche  dann  im  An- 
fange des  18.  Jahrhunderts  die  Gestalt  eines  lebhaften  gelehrten 
Eifers  für  das  Studium  der  rabbinischen  Literatur  annahm. 

Ernstere  christliche  Theilnahme  erfüllte  den  König  Karl  XL 
für  die  Juden.  Er  wollte  ihre  Zustände,  Lehren,  Gebräuche  und 
religiösen  Irrthümer  deutlicher  und  klarer  kennen  lernen.  Als  er 
desshalb  erfuhr,  dass  ein  Theil  der  Juden,  die  Karaiten,  sich  allein 
an  das  Gesetz  Mosis  halten  wollten,  erweckte  dies  in  ihm  die 
Hoffnung,  dass  man  diesen  Juden  leichter  das  Christenthum  werde 
näher  bringen  können.  Um  Näheres  über  dieselben  zu  erfahren, 
schickte  er  1692  den  Professor  zu  Upsala  Gustav  Peringer 
Lindenblatt,  der  auch  eine  Abhandlung  über  den  Messias  der 
Juden  geschrieben  hatte,  Upsala  1675,  nach  dem  Königreich 
Polen  mit  dem  Auftrage,  genaue  Erkundigungen  über  die  Karaiten 
einzuziehen  und  die  Schriften  derselben  zu  kaufen.  Peringer 
führte  diesen  Auftrag  aus  und  berichtete  dann  dem  Könige. 
Weitere  Folgen  hat  die  Sache  nicht  gehabt.  Die  Universität  Upsala 
war  aber  in  jener  Zeit  bereits  ein  Sitz  der  rabbinischen  Studien. 
Benzel  und  Skunk  übersetzten  dort  Maimonides  und  erklärten 
ihn  seit  1696.  Johann  Galle  und  Daniel  Lund  übersetzten 
Commentare  von  Aben  Esra  ins  Lateinische,  Lund  bearbeitete 
auch    Maimonides,    Palmeroot    in   Upsala   that   seit    1696    das 


—     193     — 

Gleiche  mit  Abarbanel,  und  der  Schwede  Magnus  Ronnow 
liess  Stücke  der  Mischnah  in  lateinischer  Uebersetzung  erscheinen. 

Wirklicher  Missionssinn  tritt  uns  in  einer  lateinischen  Schrift 
des  schwedischen  Gelehrten  Lajurentius  Odhelius,  die  er  unter 
dem  Titel  Synagoga  bifrons,  1691  in  Frankfurt  a.  M.  heraus- 
gab, entgegen.  Der  junge  Gelehrte  klagt  hier  darüber,  dass  die- 
jenige Literatur,  welche  auf  die  Bekehrung  der  Juden  abziele, 
für  diesen  Zweck  grösstentheils  unbrauchbar  sei,  da  sie  nicht  in 
hebräischer  Sprache  erscheine.  Er  nun  wolle,  um  die  Juden 
gründlich  zu  widerlegen,  eine  jüdische  Theologie  schreiben,  und 
zu  diesem  Zwecke  sei  sein  Buch  erschienen.  Der  Verfasser  hat 
jedoch,  trotz  seiner  vielfach  richtigen  und  klaren  Erkenntniss 
von  der  Eigenthümlichkeit  der  Juden  die  alten  gelehrten  Wege 
eingeschlagen.  Er  hat  genau  dasselbe  gethan,  was  er  an  anderen 
tadelt,  und  sein  Buch  geht  in  der  schweren  Rüstung  der  da- 
maligen lutherischen  Dogmatik  einher.  In  seiner  Schrift  stellt  er 
dann  auf  der  einen  Seite  die  ungesunde,  specifisch -jüdische,  auf 
der  anderen  Seite  die  gesunde  Lehre  der  heiligen  Schrift  dar 
und  vergleicht  sie  mit  einander.  Er  hat  in  diesem  Werke  aber 
auch  Jageis  Katechismus  ins  Lateinische  übersetzt  und  eine  Ab- 
handlung über  die  jüdischen  Sekten  geliefert,  besonders  über  die 
Pharisäer. 

Die  Seele  des  Judenthums  sei  die  Selbstgerechtigkeit,  im 
Uebrigen  aber  enthalte  die  jüdische  Lehre  Gutes  und  Schlechtes 
unter  einander,  und  müsse  man  sich  vor  dem  doppelten  Fehler 
hüten,  in  der  jüdischen  Literatur  alles  mit  christlichen  Augen 
anzusehen  oder  alles  in  derselben  zu  verdammen.  Man  müsse 
hier  eine  Mittelstellung  einnehmen.  Von  dem  Besseren  in  dieser 
Literatur  müsse  man  zur  Ueberführung  der  Juden  und  zum  Er- 
weise der  christlichen  Wahrheit  gegen  alle  ihre  Angreifer  Ge- 
brauch machen,  und  in  so  weit  sei  dieselbe  positiv  zu  benützen. 

Endlich  folgt  eine  Beschreibung  der  jüdisch- theologischen 
Bücher,  des  Glaubens  der  Karäer,  der  Rabbaniten  und  der 
neueren  Moralisten.  Den  40  Fragen  Jageis  sind  noch  Anmer- 
kungen hinzugefügt. 

Den  nächsten  Anlass  dazu,  dass  in  König  Karl  XL  der 
Missionsgedanke  erwachte,  scheint  die  Taufe  von  12  jüdischen 
Personen  gegeben  zu  haben,  denen  zu  diesem  Zwecke  ein  längerer 
Aufenthalt  in  Stockholm  gewährt  worden  war.  Der  deutsche 
Pastor  Christoph  Bezel  taufte  nämlich  im  Jahre  1681  zu  Stock- 

J.  F.  A.  de  le  Roi,   Missionsbeziehungen.  13 


—     i£M     — 

holm    die   beiden   Juden  Israel  Mandel    und   Moses  Jacob    mit 
ihren  Frauen  und  Kindern,   12  Personen,  auf  einmal. 

An  einem  Zeugnisse  aus  Norwegen  fehlt  es  übrigens  in 
dieser  Zeit  auch  nicht.  Heinrich  Lern  mich,  Pastor  in  Bergen, 
schrieb  eine  Schrift:  Vindicatio  incarnati  veri  Messiae  promissi 
ex  Talmude  et  Rabbinorum  scriptis  desumpta,  Rostock  1666,  in 
welcher  er  aus  dem  Talmud  und  den  Rabbinen  nachwies,  dass 
Jesus  der  rechte  Messias  sei.  Im  Anhange  werden  vom  theo- 
logisch-politischen Gesichtspunkte  aus  die  Fragen  über  die  Be- 
kehrung und  Duldung  der  Juden  und  ähnliches  behandelt. 

Als  Docent  des  Talmudischen  und  Rabbinischen  wirkte  an  der 
Universität  Upsala  der  Proselyt  Moses  de  Krakovia,  welcher  als 
Christ  den  Namen  Joh.  Kemper*)  führte  und  in  jener  Stadt  1714 
starb.  Derselbe  gehört  zu  den  tüchtigeren  Proselyten  des  Jahrhun- 
derts, und  wird  von  Delitzsch  eine  Zierde  unserer  Kirche  ge- 
nannt. Er  verfertigte  eine  hebräische  Uebersetzung  des  Neuen. 
Testamentes,  die  er  mit  Anmerkungen  begleitete,  die  aber  nicht 
im  Drucke  erschien.  Dem  Rathe  von  Lorenz  Norman  folgend, 
leerte  er  sich  auf  die  soharistischen  Studien.  Von  ihm  stammen 
lateinisch  Makkel  Jacob,  Stab  Jacobs  und  Ruthe  Mosis  in  drei 
Theilen  oder  Pforten,  von  denen  der  erste  Theil  die  Pforte  der 
Dreieinigkeit,  der  zweite  die  des  Messias,  (Gottheit  des  Messias), 
der  dritte  die  Pforte  des  Mittlers  heisst;  dieser  letzte  behandelt 
die  Selbstentäusserung  des  Messias.  Die  zweite  Schrift  führt  den 
Titel :  Beriach  Hatikon.  Dieselbe  enthält  Auszüge  aus  dem  Sohar 
zum  ersten  Buche  Mosis,  und  soll  hier  die  Uebereinstimmung 
der  Ueberlieferung  des  Sohar  und  Talmud  mit  dem  Neuen  Tes- 
tamente nachgewiesen  werden.  Die  dritte  Schrift  führt  den 
Titel:  Karse  Hakodesch  und  enthält  Beiträge  zur  Auslegung  des 
zweiten  Buches  Mosis;  die  vierte  Abodath  Hakodesch  Beiträge 
zum  dritten  Buch  Mosis,  die  fünfte  Leket  Ani  zum  vierten  und 
fünften  Buche.  Eine  Probe  aus  dem  ersten  Theil  der  ersten 
Schrift  findet  sich  im  Phosphorus  orthodoxae  fidei  von  Norrelius. 

Ein   hebräisches  Gratulationsgedicht  Kern p er s   theilt  Olav 
Rudbeck  in  Lapponia  illustrata  mit. 

Aus  den  jetzt  russischen  Ostseeprovinzen  hören  wir  von 
der  Taufe  eines  Nehemia  Cohen  Mackschan  **)    der  als  Christ 

*)  Wolf  B.  H.  1,  3  N.  1648.  Delitzsch  Wissenschaft,  Kunst,  Judenthum 
S.  504  ff. 

**)  Wolf  13.  H.   3  N.  376  b. 


—     195     — 

Beatus  Christian  Mackschan  hiess.  Derselbe  hatte  früher  weite 
Reisen  durch  drei  Welttheile  gemacht,  war  dann  in  Avignon 
Rabbiner  gewesen  und  hatte  im  Jahre  1672  die  Taufe  emp- 
fangen. 1690  Hess  er  in  deutscher  Sprache:  Schriftmässiger 
Jesus -Palmbaum  oder  klarer  Beweissthum  wider  die  Juden,  dass 
Jesus  der  wahre  Messias  sei,  in  Riga  erscheinen.  Er  soll  als 
Christ  in  recht  bedrängten  Verhältnissen  gelebt  haben. 

10.  Amerika. 

Nur  vereinzelt  und  nicht  in  Gemeinden  zusammengeschlossen 
kommen  während  dieses  Zeitraumes  Juden  in  Nord- Amerika  vor, 
so  dass  nur  selten  die  Aufmerksamkeit  der  dortigen  Evangelischen 
auf  die  Juden  gelenkt  wird. 

Im  südamerikanischen  Surinam  durften,  als  es  die  Engländer 
und  Holländer  besassen,  Juden  Pflanzungen  halten.  Sie  siedelten 
sich  dort  denn  auch  ziemlich  zahlreich  an,  ein  Theil  von  ihnen 
wurde  sehr  wohlhabend  und  bürgerlich  den  Christen  ganz  gleich 
gestellt.  Portugiesische  und  deutsche  Juden  hatten  in  Paramaribo 
ihre  Synagogen. 

Ebenso  Hessen  sich  hernach  Juden  in  Jamaika  nieder.  Hol- 
länder, Engländer  und  die  bereits  länger  in  Amerika  angesiedelten 
Christen  scheinen  sich  im  Allgemeinen  um  die  religiösen  Verhält- 
nisse der  Juden  in  ihrer  Umgebung  wenig  gekümmert  zu  haben. 

Doch  fehlt  es  nicht  an  einigen  Zeichen,  dass  auch  das 
evangelische  Amerika  nicht  alles  Missionssinnes  baar  war.  Jo- 
hannes Davenport,  der  in  Nord -Amerika  lebte,  Hess  in  eng- 
lischer Sprache  eine  Schrift:  The  true  Messias  or  crucified  Jesus 
1652  erscheinen,  die  aber  in  London  gedruckt  wurde. 

Die  Freiheit  von  der  bisherigen  staatlichen  und  kirchlichen 
Autorität  war  für  die  Presbyterianer  Nord-Amerikas  eine  Lebens- 
frage. Daher  heimelte  sie  die  Verfassung  der  Juden  und  ihrer 
Synagoge  an  und  sie  waren  theilweise  geneigt,  die  Juden  und 
ihre  Zustände  in  einem  zu  günstigen  Lichte  anzusehen.  Eine 
Idealisirung  der  Juden  verräth  die  Schrift  von  William  Pinchion 
aus  Springfield  in  Neu -England,  die  unter  dem  Titel  The  Jews' 
Synagogue  in  London  1652  an  die  Oeffentlichkeit  trat.  Diese 
Schrift  hat  geradeswegs  den  Zweck,  den  Einrichtungen  der 
Synagoge  einen  göttlichen  Ursprung  zuzuschreiben,  und  die  Ord- 
nung  des  Gottesdienstes,    die  Verfassung  und    das    presbyteriale 

13* 


—     196     — 

Regiment  der  Synagoge  als  von  Christo  selbst  herstammend  der 
Kirche  als  Muster  zu  empfehlen. 

Dr.  Increase  Mather  in  Boston  veröffentlichte  1667  eine 
Abhandlung,  welche  auf  die  kommende  allgemeine  Bekehrung  der 
Juden  hinweisen  sollte,  und  Hess  sich  über  dasselbe  Thema  in 
einem  Antwortschreiben  an  den  Prediger  Baxter  und  Dr.  Light- 
foot  in  England  aus.  Die  wunderbare  Erhaltung  des  jüdischen 
Volkes  in  seiner  Zerstreuung  unter  so  vielen  Völkern  müsse 
Jedermann  überzeugen,  dass  Gott  mit  ihrer  Nation  noch  etwas 
besonderes  vorhabe  und  dass  die  Juden,  so  wie  es  die  Schrift  lehre, 
dereinst  noch  ein  Segen  für  die  ganze  Welt  werden  würden. 

11.  Die  Socinianer. 

Selbst  in  den  socinianischen  Kreisen  jener  Zeit  wurden  die 
Juden  nicht  vergessen.  Im  Gegentheil  war  man  hier  mehrfach 
der  Meinung,  dass  die  Verwandtschaft  des  socinianischen  Gottes- 
begriffes und  desjenigen  der  Synagoge  dem  Christenthum, 
welches  der  Socinianismus  lehrte,  bei  den  Juden  leichteren 
Eingang  verschaffen  würde.  Nur  die  Mystik  des  orthodoxen 
Christenthums  habe  die  Juden,  so  war  man  hier  überzeugt,  zurück- 
geschreckt; ein  vernünftiges  Christenthum,  das  die  altkirchlichen 
Glaubenslehren  aufgebe,  werde  die  Bekenner  der  Synagoge  an- 
locken. Smalcius,  Volkel  und  der  Rakausche  Katechismus 
(1602)  suchten  also  in  ihrer  Weise  und  vom  socinianischen 
Standpunkte  den  Juden  aus  dem  Neuen  Testamente  den  Beweis 
zu  führen,  dass  Jesus  der  Messias  sei,  hatten  aber  gar  keinen 
Erfolg.  Im  Gegentheil  fanden  unter  den  Socinianern  in  Sieben- 
bürgen  und  Ungarn  jene  Sabbatharier  Eingang,  welche  ein  Juden- 
christenthum  aufrichteten,  in  dem  schliesslich  allem  eine  jüdische 
Gestalt  aufgeprägt  wurde. 

Der  Socinianer  Paulus  Felgenhauer  gab  ein  Schrift 
Bonum  nuntium,  Amsterdam  1655,  heraus,  die  er  Menasseh  Ben 
Israel  widmete  und  in  der  er  geradeswegs  erklärte,  dass  die 
Christen  genau  ebenso  wie  die  Juden  auf  den  Messias  warteten, 
und  beide,  weil  sie  in  diesem  Punkte  eins  seien,  sich  auch  über- 
haupt als  eins  zu  erkennen  im  Stande  wären.  Menasseh  Ben  Israel 
sprach  Felgenhauer  seinen  Dank  dafür  aus,  dass  er  sein  Volk  in 
der  Hoffnung,  die  es  so  lange  festgehalten  habe,  bestärke  und 
das  jüdische  Streben  somit  gerecht  würdige. 


—     i97     — 

In  ähnlicher  Weise  wie  Felgenhauer  hat  Daniel  Brenius 
auf  den  nahen  Anbruch  des  Reiches  Christi  hingewiesen.  Er 
that  dies  zumal  in  einer  Disputatio  contra  Judaeos,  Amsterdam 
1664.  Der  sehr  äusserliche  Beweis  aus  den  Wundern  Christi 
wurde  von  den  Socinianern  mit  Vorliebe  gewählt,  um  den  Juden 
die  Messianität  Jesu  zu  beweisen. 

12.  Rückblick. 

Der  Gedanke,  dass  an  den  Juden  eine  religiöse  Pflicht  zu 
erfüllen  sei,  ist  während  des  so  eben  besprochenen  Zeitraumes,  in 
welchem  die  evangelische  Kirche  aus  ihren  ersten  werdenden  An- 
fängen zu  ihrer  Befestigung  gelangte,  bereits  in  den  hauptsächlich- 
sten Theilen  derselben  erwacht  und  zur  Anerkennung  gekommen. 
Er  hat  aufgehört,  das  Eigenthum  von  nur  einzelnen  Personen  zu 
sein,  und  ist  in  recht  weite  Kreise  mächtig  hineingedrungen. 
Man  darf  sogar  ohne  Uebertreibung  sagen,  dass  derselbe  damals 
zu  den  Gemeingütern  der  Theologen  in  der  evangelischen  Kirche 
gehörte.  Ja  niemals,  von  der  apostolischen  Zeit  abgesehen,  sind 
die  mit  dem  Amte  des  evangelischen  Zeugnisses  betrauten  Per- 
sonen der  christlichen  Kirche  und  ihre  Amtsträger  überhaupt  so 
lebhaft  von  dem  Bewusstsein  erfüllt  gewesen,  dass  ihnen  eine 
Missionsaufgabe  an  den  Juden  obliege.  An  Missionssinn  in 
ihrem  Verhältnisse  zu  den  Juden  hat  thatsächlich  die  evangelische 
Kirche  dieser  etwa  150  Jahre  nicht  bloss  die  mittelalterlich 
römische,  sondern  auch  die  alte  katholische  und  alle  anderen 
Kirchen  der  früheren  Jahrhunderte  weit  übertroffen. 

Die  Notwendigkeit,  den  christlichen  Glauben  vor  den  Juden 
zu  bekennen  und  zu  bezeugen,  ist  sogar  unter  den  evangelischen 
Theologen  jener  Periode  viel  allgemeiner  als  unter  denen  unserer 
Gegenwart  empfunden  worden;  und  jene  Vergangenheit  richtet 
damit  an  unsere  Gegenwart,  zumal  aber  an  unsere  Theologen 
und  Gelehrten  die  ernste  Mahnung,  dass  wir  doch  hinter  dem 
nicht  zurückbleiben  mögen,  was  eine  frühere  Zeit,  wenn  auch  in 
ihrer  Weise,  immerhin  unter  Aufbietung  grossen  Fleisses  und 
einer  unermüdlichen  Thätigkeit  geleistet  hat. 

Aber  mit  dieser  Anerkennung  muss  sich  nun  doch  ein  leb- 
haftes Bedauern  verbinden.  Vor  allem  ist  dieser  Eifer  für  eine 
auf  die  Juden  gerichtete  Missionsthätigkeit  ganz  überwiegend  auf 
die    Kreise    der    Theologen    un(j    zumal    der    wissenschaftlichen 


—    198    — 

Theologen  beschränkt  geblieben  und  bekundet  daher  auch  Schritt 
für  Schritt  diese  Einseitigkeit.  Die  Missionswirksamkeit  bleibt  in 
diesem  Zeiträume  hauptsächlich  Sache  eines  Standes  innerhalb 
der  evangelischen  Kirche  und  wird  ebenso  wenig  Sache  der 
evangelischen  Kirche  selbst  als  des  evangelischen  Volkes. 

Viel  allgemeiner  freilich  als  in  der  reformatorischen  Anfangs- 
zeit hat  sich  jetzt  die  theologische  Welt  innerhalb  fast  des  ganzen 
Protestantismus  mit  Judenmissionsgedanken  getragen  und  mit 
einer  gewissen  Judenmissionsthätigkeit  beschäftigt,  aber  dieselbe 
blieb  eben  hauptsächlich  eine  theologisch- wissenschaftliche  und 
zeigt  sich  daher  denn  auch  mit  allen  Mängeln  der  Theologie 
jener  Periode  behaftet. 

Die  Juden  sehen  sich  nicht  eigentlich  einer  christlichen 
Gemeinde  gegenübergestellt,  welche  sie  ihren  Missionseifer  er- 
fahren lässt;  und  die  evangelische  Kirche  wird  daher  auch  nur 
in  geringem  Grade  eine  Gewissensmahnung  und  eine  Gewissens- 
macht vor  ihnen. 

Arbeit  genug  ist  also  wohl  auf  die  Bekehrung  der  Juden 
in  jener  Zeit  gewandt  worden,  aber  die  letzteren  konnten  bei 
ihren  damaligen  Verhältnissen  und  ihrem  damaligen  Bildungs- 
stande von  dieser  Arbeit  nur  einen  geringen  Nutzen  ziehen. 
Die  Erfolge,  welche  damals  evangelischerseits  unter  den  Juden 
erzielt  wurden,  sind  daher  auch  nur  zum  kleinsten  Theile  eine 
direkte  Frucht  der  wissenschaftlichen  Missionsthätigkeit ,  welche 
ihrethalben  entfaltet  wurde,  und  stehen  jedesfalls  nicht  im  Ver- 
hältniss  zu  der  auf  sie  verwandten  Mühe. 

Freilich  regte  die  genannte  Literatur  gar  manchen,  der  mit 
ihr  beschäftigt  war  oder  sie  las,  an,  den  Juden  auch  persönlich 
mit  dem  Zeugnisse  des  Evangeliums  nahe  zu  treten,  und  ein 
bloss  gelehrtes  Werk  blieb  also  diese  Missionswirksamkeit  nicht. 
Indirekt  hat  vielmehr  die  reiche  literarische  Arbeit  dieser  Zeit 
auch  das  allgemeine  Missionswerk  in  derselben  gefördert.  Und 
wo  sich  dann  mit  dem  wissenschaftlichen  Triebe  der  Eifer  ver- 
band, das  geschriebene  Wort  auch  ins  Leben  umzusetzen  und 
den  Juden  persönlich  nahe  zu  treten,  da  blieben  die  Früchte  nicht 
aus.     Das  leuchtendste  Beispiel  hierfür  ist  Esdras  Edzard. 

Aber  es  gehört  allerdings  zu  den  besonderen  Gebrechen 
des  Missionswirkens  in  jenem  Zeiträume,  dass  literarische  Be- 
handlung der  Missionsfrage,  Missionsbedürfnisse  und  Missions- 
forderungen und  praktisches  Zufassen  in  sehr  vielen  Fällen  durch 


—     i99     — 

eine  ziemlich  weite  Kluft  von  einander  getrennt  sind.  Missions- 
sinn war  wirklich  vorhanden,  aber  derselbe  konnte  seine  Kraft 
nicht  entfalten,  weil  eben  der  Eifer  um  die  rechte  Lehre  ein 
grösserer  als  der  um  die  Personen  war,  um  welche  es  sich 
handelte. 

Allerdings  findet  in  allen  den  Ländern,  welche  während 
dieser  Zeit  eine  evangelische  Judenmissionsthätigkeit  kennen,  ein 
Kampf  zwischen  dem  bloss  gelehrten  Interesse  und  der  wirklichen 
Herzenstheilnahme  für  die  Juden  in  höherem  oder  geringerem 
Maasse  statt;  aber  überall  wird  die  Missionskraft  durch  den 
Streit  der  beiden  Richtungen  mit  einander  gehemmt  und  gebun- 
den, und  es  kommt  nicht  zu  einer  harmonischen  Durchdringung 
beider  mit  einander,  von  welcher  die  Juden  den  rechten  Gewinn 
gehabt  hätten. 

Die  Burg  des  Judenthums  ist  denn  auch  durch  den  gelehrten 
Sturmlauf,  der  gegen  sie  gerichtet  wurde,  und  der  noch  dazu 
vielfach  vor  seinen  Mauern  stehen  blieb,  weil  er  oft  nicht  einmal 
die  Leiter  einer  Sprache,  welche  die  Juden  verstanden,  mitge- 
nommen hatte,  nicht  erschüttert  worden.  Nicht  einmal  einen 
nennenswerthen  Einfiuss  nehmen  wir  von  diesem  gelehrten  Streit 
auf  das  Judenthum  im  Allgemeinen  wahr.  Die  evangelische 
Christenheit  musste  daher  auch  noch  andere  Wege  einschlagen, 
wenn  sie  ihr  Ziel  an  den  Juden  erreichen  wollte,  und  musste  es 
vor  allem  lernen,  die  Judenfrage  als  eine  solche  zu  behandeln, 
in  welcher  sie  die  Aufgabe  hätte,  direkt  an  die  Juden  heranzu- 
treten, um  sie  auf  diese  Weise  mit  ihrem  Zeugnisse  zu  erreichen. 
Die  gelehrte  Thätigkeit  durfte  nur  eine  dienende  Stelle  einnehmen 
und  nicht  die  erste  behaupten.  Und  dass  es  in  der  nächsten 
Zeit  wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade  hierzu  gekommen 
ist,  bleibt  das  Verdienst  zumal  des  deutschen  Pietismus  und  der 
ihm  verwandten  Richtungen  in  anderen  Ländern. 


III. 

Die  Zeit  des  Vorherrschens  innerer 
Beziehungen  zu  den  Juden. 

Erste  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts. 

i.  Zur  Charakteristik  des  Zeitraumes. 

xVlare  und  scharfe  Grenzen  können  weder  für  den  Anfang 
noch  für  das  Ende  dieses  Zeitraumes  angegeben  werden.  Denn  der 
Pietismus,  welcher  die  bedeutendste  und  folgenreichste  Erscheinung 
in  demselben  bildet,  ist  durch  solche  nicht  zu  bestimmen.  Spener, 
der  eigentliche  Vater  des  Pietismus  wurde  ja  schon  1666  zum 
Senior  des  Geistlichen  Ministeriums  zu  Frankfurt  a.  M.  berufen, 
und  starb  bereits  im  Anfange  des  18.  Jahrhunderts,  1705.  Eben 
desshalb  könnte  es  auf  den  ersten  Blick  willkürlich  erscheinen, 
den  ersten  Theil  des  18.  Jahrhunderts  als  besonderen  Zeitab- 
schnitt zu  behandeln.  Thatsächlich  aber  hat  der  Pietismus  doch 
erst  mit  dem  Auftreten  der  drei  jungen  Magister  in  Leipzig 
August  Hermann  Franke,  Paul  Anton  und  Johann  Caspar 
Schade  im  Jahre  1686  und  seit  der  Errichtung  der  Universität 
Halle  1691  seine  tiefer  gehende  Einwirkung  auf  das  allgemeine 
kirchliche  und  öffentliche  Leben  entfaltet.  Von  da  ab  erst  hat 
er  jenen  Einfluss  gewonnen,  welcher  ihn  für  das  kirchliche,  reli- 
giöse und  auch  für  das  bürgerliche  Leben  zunächst  des  evange- 
lischen Volkes  von  so  hoher  Bedeutung  werden  liess. 

Freilich  aber  hat  er  von  Anfang  an  sein  Gebiet  nicht  un- 
bestritten eingenommen,  und  er  war  es  nicht  allein,  welcher  die 
evangelische  Kirche    und    das    evangelische   Leben   Deutschlands 


201       

bestimmte.  Und  ähnlich  stand  es  dort,  wo  die  Geistesverwandten 
des  Pietismus  auftraten.  Neben  dem  letzteren  und  oft  im  heftigsten 
Kampfe  wider  ihn  behauptete  die  alte  Rechtgläubigkeit  ihr 
Feld.  Diejenige  Richtung,  welche  besonders  die  gelehrten  Be- 
ziehungen zu  den  Juden  pflegte,  sehen  wir  also  nicht  so  schnell 
vom  Schauplatze  verschwinden,  sondern  bis  in  die  dreissiger 
Jahre  hinein  noch  recht  eifrig  auf  den  Plan  treten. 

Beide  Richtungen  beeinflussen  denn  auch  einander  in  dem 
Werke,  welches  den  Juden  gilt;  sie  spornen  sich  gewissermaassen 
gegenseitig  an,  mit  ihren  Kräften  und  Mitteln  an  denselben  zu 
arbeiten,  ergänzen  sich  auch  gegenseitig  und  greifen  oft  in  ein- 
ander über,  so  dass  dieser  Zeitraum  das  Bild  einer  recht  lebhaften 
Thätigkeit  auf  unserem  Gebiete  zeigt. 

An  der  Fülle  literarischer  Erzeugnisse  übertrifft  die  ortho- 
doxe Richtung  noch  die  pietistische,  aber  doch  tritt  der  innere 
Einfluss  des  Pietismus  auch  in  jener  vielfach  zu  Tage.  Dem 
Pietismus  war  es  im  Unterschiede  von  der  gelehrten  Gläubigkeit 
vor  allem  und  an  erster  Stelle  um  die  Person  der  Juden  selbst 
zu  thun.  Nicht  das  theologische  Interesse  oder  der  wissenschaft- 
liche Eifer  oder  das  religionswissenschaftliche  Rechthabemvollen 
hiessen  ihn  an  die  Juden  herantreten  und  eine  Arbeit  an  ihnen 
aufnehmen,  wie  dies  bei  der  Orthodoxie  oft  an  erster  Stelle  der 
Fall  gewesen  war,  sondern  das  brennende  Verlangen  nach  dem 
Heile  ihrer  Seelen.  Das  Herz  hatte  es  hier  zunächst  mit  den 
Juden  zu  thun  und  fühlte  tief  den  Ernst  der  Frage  ihres  Selig- 
werdens. 

Aus  diesem  Grunde  war  für  den  Pietismus  und  auch  in 
gewissem  Grade  für  seine  Geistesverwandten  das  Zeugniss  an  die 
Juden  eine  innere  Notwendigkeit,  und  darum  dachte  er  auch 
angelegentlich  darüber  nach,  wie  er  den  Gewissen  und  Herzen 
derselben  das  Evangelium  nahe  zu  bringen  vermöchte.  Vor 
allem  das  Beste  ihrer  Person  suchend,  liess  er  es  sich  desshalb 
auch  angelegen  sein,  die  Juden  in  einer  ihnen  verständlichen 
Sprache  anzureden  und  es  ihnen  fühlbar  zu  machen,  dass  es  ihm 
einen  tiefen  Schmerz  bereite,  sie  der  seligmachenden  Wahrheit 
den  Rücken  kehren  zu  sehen. 

Eben  daher  wandelte  sich  im  Pietismus  und  bei  seinen 
Genossen  auch  die  Sprache  ganz  auffällig,  welche  man  den  Juden 
gegenüber  führte,  und  dieselbe  gewann  hier  einen  wärmeren,  ein- 
drinelicheren  und  mehr  die  Herzen  anfassenden  Ton.     Kurz,  die 


—       202       — 

Stellung  des  Pietismus  zu  den  Juden  wurde  eine  wirkliche  Mis- 
sionsstellung. Und  so  war  es  auch  nichts  Zufälliges,  dass  aus 
der  Mitte  seiner  Anhänger  her  eine  eigentliche  Judenmission 
erwuchs. 

Heilsame  und  nachhaltige  Anregungen,  den  Juden  gegen- 
über eine  dem  Evangelium  entsprechende  Stellung  zu  gewinnen, 
hat  aber  der  Pietismus  auch  auf  weitere  Kreise  ausgeübt.  Er 
hat  in  dieser  Beziehung  in  der  That  viele  sehr  vortheilhaft  beein- 
fiusst,  welche  nicht  zu  seinen  Anhängern  gehörten  und  nicht  in 
seinen  Einseitigkeiten  einhergingen. 

Aber  freilich  über  lebendige  Anregungen  einer  grösseren 
Zahl  einzelner  evangelischer  Personen  brachte  es  auf  unserem 
Felde  auch  der  Pietismus  nicht  hinaus.  Denn  sein  Subjektivismus 
raubte  ihm  wie  auf  anderen  Gebieten,  so  auch  hier  die  Fähigkeit 
eine  allgemeinere  Erhebung  der  Kirche  und  des  evangelischen 
Volkes  herbeizuführen. 

In  Holland  befreundete  sich  der  Coccejanimus  mit  dem 
deutschen  Pietismus,  in  England  aber  enstand  im  Methodismus 
eine  dem  deutschen  Pietismus  verwandte  Erscheinung.  Allerdings 
nicht  in  der  lebhaften  Weise,  wie  es  im  deutschen  Pietismus  der 
Fall  war,  aber  in  der  inneren  Richtung  ihm  wenigstens  ähnlich, 
beeinflussten  jene  religiösen  Erscheinungen  an  ihrem  Orte  die 
Stellung  vieler  zu  den  Juden.  Den  Missionssinn  und  Missions- 
eifer hat  zumal  der  Methodismus  in  England  wesentlich  wecken 
helfen. 

Den  Abschluss  dieses  Zeitraumes  führt  das  Auftreten  eines 
in  der  rationalistischen  Gestalt  hervortretenden  Humanimus  herbei, 
welcher  sowohl  die  Stellung  der  Christen  zu  den  Juden  als  jene 
letzteren  selbst  in  ganz  neue  Bahnen  hineinzuleiten  beginnt.  Der 
Grenzpunkt  ist  aber  auch  hier  nicht  durch  eine  bestimmte  Jahres- 
zahl anzugeben;  und  es  wird  sich  nur  etwa  rechtfertigen,  wenn 
ungefähr  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  welche  auf  jüdischer 
Seite  die  Gestalt  von  Moses  Mendelsohn  vor  die  Oeffentlichkeit 
führt,  als  das  Ende  der  bisherigen  und  der  Anfang  der  neueren 
Periode  festgehalten  wird. 

2.  Jüdische  Zustände. 

Die  Wohnsitze  der  Juden  waren  in  der  ersten  Hälfte  des 
1 8.  Jahrhunderts  im  Wesentlichen  dieselben  wie  am  Schlüsse  des  1 7. 


—     203     — 

Doch  fingen  sie  nun  auch  in  Nord-Amerika  an  sich  zu  Gemeinden 
zu  sammeln,  nachdem  600  portugiesische  Juden,  welche  mit  den 
Holländern  nach  Brasilien  gegangen  waren,  dasselbe,  seitdem  die 
Portugiesen  dieses  Land  verloren  hatten,  wieder  verliessen.  1 729 
bildete  sich  in  New -York  (Neu -Amsterdam)  eine  jüdische  Ge- 
meinde, welche  1 730  die  erste  Synagoge  auf  nordamerikanischem 
Boden  erbaute.  Sehr  früh  Hessen  sich  auch  Juden  in  Jamaika, 
Guyana  und  Curacao  nieder,  in  Surinam  gelangten  sie  zu  bedeu- 
tendem Wohlstande  und  hohem  Anseilen. 

Einzelne  Verfolgungen  der  Juden  kamen  auch  in  diesem 
Zeiträume  vor,  aber  ganz  überwiegend  in  nicht  evangelischen 
Ländern.  Die  allgemeine  Stellung  dagegen,  welche  die  Juden 
inmitten  der  christlichen  Völker  einnahmen,  blieb  auch  jetzt  der 
Regel  nach  eine  unwürdige;  doch  ist  ein  Fortschritt  zum  Besseren 
hier  immerhin  zu  erkennen. 

Ziemlich  einstimmig  aber  geben  die  jüdischen  Geschichts- 
schreiber zu ,  dass  die  erste  Hälfte  des  1 8.  Jahrhunderts  bis  zu 
Mendelsohn  vielleicht  eine  der  dunkelsten  Perioden  ihrer  Geschichte 
bilde.  Grätz  z.  B. ,  welcher  doch  von  keinem  anderen  in  der 
Verherrlichung  seines  Stammes  erreicht  wird  und  dessen  einziges 
Dogma  die  Vergötterung  der  Judenschaft  ist,  bekennt  trotzdem 
(X,  323  ff.):  „Die  Rabbiner  dieser  Zeit  waren  im  Allgemeinen 
keine  Muster,  die  polnischen  und  die  deutschen  meistens  Jammer- 
gestalten, die  Köpfe  erfüllt  von  unfruchtbarem  Wissen,  sonst  un- 
beholfen und  unwissend  wie  kleine  Kinder.  Die  portugiesischen 
Rabbinen  traten  äusserlich  würdig  und  imponirend  auf,  aber  inner- 
lich waren  auch  sie  hohl;  die  italienischen  hatten  mehr  Aehnlichkeit 
mit  den  deutschen,  besassen  aber  nicht  deren  Gelehrsamkeit." 

„So  ohne  des  Weges  kundige  Führer,  in  Unwissenheit  oder 
Wissensdünkel  versunken,  von  Phantomen  umschwärmt,  taumelte 
die  Gesammtjudenheit  in  allen  Erdtheilen  ohne  Ausnahme  vonThor- 
heit  zu  Thorheit  und  Hess  sich  von  Betrügern  und  Phantasten 
am  Narrenseil  leiten.  Eine  Albernheit  mochte  noch  so  augen- 
fällig sein,  sie  fand  Glauben,  wenn  sie  nur  mit  scheinbarem  reli- 
giösem Ernste  geltend  gemacht  und  in  verrenkte  Schriftverse 
oder  talmudische  Sprüche  in  gekünstelter  Auslegung  eingefügt 
oder  mit  kabbalistischen  Floskeln  belegt  wurde.  Der  Höhepunkt 
des  Mittelalters  stellt  sich  in  der  jüdischen  Geschichte  zu  der 
Zeit  ein,  wo  es  im  westlichen  Europa  grösstentheils  überwunden 
war.     Für  Krankheiten  Amulete  zu  schreiben  und   sie   damit   zu 


—     204     — 

bannen,  wurde  von  jedem  Rabbiner  verlangt  und  sie  gaben  sich 
auch  dazu  her,  ja  manche  wollten  als  Geisterbeschwörer  gelten." 

Und  ebenso  gesteht  Grätz:  „Im  Anfange  des  18.  Jahr- 
hunderts war  sowohl  der  wissenschaftliche  und  künstlerische  Sinn 
als  das  sittliche  Gefühl  den  Juden  abhanden  gekommen  oder 
mindestens  abgestumpft.  Zwar  blieben  die  Grundtugenden  des 
jüdischen  Volkes  in  ihrer  ganzen  Kraft  bestehen:  Famiiienliebe  und 
brüderliche  Theilnahme  unter  einander;  aber  das  Rechts-  und 
Ehrgefühl  war  im  Durchschnitt  geschwächt.  Gelderwerb  war 
eine  so  gebieterische  Notwendigkeit,  dass  die  Art  und  Weise  des 
Gelderwerbes  gleichgiltig  war.  Uebervortheilen  und  Ueberlisten 
nicht  bloss  der  feindlich  gegenüberstehenden  Bevölkerung,  sondern 
auch  der  eigenen  Volksgenossen  galt  meistens  nicht  als  Schande, 
vielmehr  als  eine  Art  Heldenthat.  Daraus  entstand  eine  An- 
betung des  Mammons,  nicht  bloss  Liebe  zum  Gelde,  sondern 
auch  Respekt  vor  ihm ,  mochte  es  aus  noch  so  unlauteren 
Quellen  geflossen  sein.  Die  bis  dahin  noch  so  ziemlich  behauptete 
demokratische  Gleichheit  unter  den  Juden,  welche  den  Unterschied 
des  Standes  und  der  Kaste  nicht  anerkennen  mochte,  verlor  sich 
bei  dem  rasenden  Tanz  um  das  goldene  Kalb.  Der  Reiche  galt 
auch  als  ehrenwerth,  zu  dem  die  minder  Begüterten  wie  zu  etwas 
Höherem  hinaufblickten,  und  dem  sie  daher  vieles  nachsahen. 
Die  Reichsten,  nicht  die  Würdigsten  kamen  an  die  Spitze  der 
Gemeinden  und  erhielten  daher  einen  Freibrief  für  Willkür  und 
Uebermuth." 

In  der  That,  die  Zustände  der  Juden  waren  sehr  ernste. 
Das  reformatorische  Zeugniss  hatten  sie  sowohl  in  seiner  anfäng- 
lichen als  in  seiner  späteren  Gestalt  von  sich  gewiesen,  obgleich 
der  Unterschied  desselben  von  dem  römischen  ihnen  scharf  genug 
entgegengetreten  war.  Ja,  sie  waren  in  ihrem  Widerstreben 
gegen  das  Christenthum  nun  noch  weiter  fortgeschritten,  und  das 
musste  seine  Folgen  für  ihr  religiöses  Leben  haben.  Denn  frei- 
lich die  innere  Gewissensmahnung  konnte  nicht  abgewiesen  werden, 
ohne  dass  der  religiöse  Sinn  selbst  dadurch  Schaden  erlitt. 
Die  Thatsache  des  religiösen  Verfalls  verbarg  sich  denn  auch 
vor  den  Augen  vieler  Juden  nicht,  wie  denn  noch  aus  jüngster 
Zeit  das  oben  erwähnte  Zeugniss  von  Grätz  sie  einräumt;  aber 
den  eigentlichen  Grund  derselben  wollten  sie  sich  nicht  ein- 
gestehen und  es  sich  nicht  selbst  bekennen,  dass  eben  ihre 
Religion  sie  immer  weiter  sinken  lassen   musste ,    und    dass    die 


20: 


Selbstbefestigung  ihrer  Religion  gegen  das  Christenthum  ihr 
ganzes  Verderben  war.  Trotz  alles  dessen,  was  sie  an  sich  selbst 
erlebten,  ragten  sie  nach  wie  vor  in  ihrer  eigenen  Ueberzeugung 
über  die  ganze  Welt  hinaus. 

Indess  währte  der  Messiasschwindel  fort,  obgleich  doch 
wahrlich  die  Erfahrungen  mit  Sabbathai  Zebi  und  der  grossen 
Zahl  derer,  welche  dann  seine  Lehre  weiter  verbreiteten,  die 
Gemüther  hätten  ernüchtern  sollen.  Der  Betrüger  Chija  Chajon 
fand  in  Amsterdam  und  von  dort  aus  fast  in  der  ganzen  Juden- 
schaft zahlreiche  Anhänger.  Mose  Chajim  Luzzato  aus  Padua 
beunruhigte  weite  Kreise  durch  seine  kabbalistischen  Lehren. 
Der  bekannte  Rabbi  Jonathan  Eibeschütz  in  Prag  und  her- 
nach in  Altona  war  ein  Beförderer  des  Sabbathianismus.  In  von 
ihm  ausgegebenen  Anmieten  wurde  Sabbathai  Zebi  als  Messias 
angerufen. 

In  der  Mitte  des  Jahrhunderts  aber  erstand  unter  den  tür- 
kischen und  wallachischen  Juden  in  Jacob  Frank  ein  neuer 
Messias,  der  später  auch  im  Polnischen  Reiche  viele  Gläubige 
fand,  bis  er  1760  eingesperrt  wurde  und  aus  dem  Gefängniss  ent- 
lassen zurückgezogen  in  Offenbach  lebte,  wo  er  auch  starb. 

Bei  diesen  messianischen  Bewegungen  zeigte  es  sich  aber, 
dass  auch  die  in  äusserlich  günstigen  Verhältnissen  lebenden 
Juden,  wie  die  hochgebildeten  in  Holland,  Hamburg  und  England, 
sich  eben  so  wenig  durch  ihr  Judenthum  befriedigt  fühlten  als 
diejenigen,  welche  eine  gedrückte  Stellung  unter  den  Völkern 
einnahmen.  In  der  That  trat  es  jetzt  ganz  klar  zu  Tage,  dass 
die  Juden  in  ihrer  Religion  kein  Genüge  gefunden  hatten. 

Während  die  grosse  Masse  der  Juden  in  der  allersorg- 
fältigsten  Ausübung  dessen,  was  ihr  religiöses  System  ihnen  vor- 
schrieb, dahinlebte,  fühlten  die  Gemüther  je  länger  desto  mehr 
eine  unbeschreibliche  Leere,  welche  um  jeden  Preis  gefüllt  sein 
wollte.  Nur  die  völlige  innere  Ohnmacht,  welche  an  dem  Juden- 
thum zu  Tage  getreten  war,  nachdem  es  die  Freiheit  gehabt  hatte, 
ohne  irgend  Jemandes  Dazwischentreten  vor  seinen  Bekennern 
seinen  ganzen  Inhalt  und  sein  ganzes  Vermögen  darzulegen,  er- 
klart die  Erscheinung,  dass  den  Juden  überall  in  Europa,  Asien 
und  Afrika  jene  Messiase  und  messianischen  Propheten,  die  fast 
ein  Jahrhundert  lang  unter  ihnen  auftreten  durften,  als  Bringer 
der  wahren  frohen  Botschaft  galten.  Das  Verlangen  nach  etwas 
Besserem  war  ein  so  grosses  und  gewaltiges,    dass  es   einen    so 


—      206      — 

langen  Zeitraum  hindurch  keine  noch  so  traurige  Erfahrung  zu 
dämpfen  vermochte.  Eine  förmliche  Messiasraserei  hatte  sich  der 
Juden  bemächtigt,  und  nur  nach  und  nach  erwachte  der  grössere 
Theil  derselben  aus  ihrem  Rausche. 

Der  Talmudismus  konnte  sich  auch  nur  desshalb  noch  halten, 
weil  dieses  ganze  Messiastreiben  offenbar  eine  Lüge  war;  und 
jener  Mystik  allein  hatte  er  es  zu  danken,  dass  er  noch  nicht 
völlig  zusammenbrach.  Aber  seine  Zeit  war  freilich  vorüber,  und 
es  kam  nur  darauf  an,  ob  sich  eine  Macht  finden  liess,  welche 
grösseres  Vertrauen  unter  den  Juden  gewann  und  welche  ihnen 
einen  Ersatz  für  das  alte  pharisäisch-talmudische  Wesen  bot. 

Mitten  in  diesem  Treiben  und  während  dasselbe  noch  in 
seiner  Blüthe  stand,  erhob  sich  aus  der  evangelischen  Kirche  her 
der  Zeuge,  welcher  die  Juden  einen  anderen  besseren  Weg  zu 
weisen  versuchte:  der  deutsche  Pietismus  und  die  Mission  des- 
selben sammt  den  verwandten  Erscheinungen  auf  anderen  Gebieten 
der  evangelischen  Kirche. 

Wie  er  dieses  Werk  aufgenommen,  ob  mit  der  rechten 
Kraft  und  den  rechten  Mitteln,  ob  er  von  der  evangelischen 
Kirche  hinreichend  verstanden  und  von  den  evangelischen 
Völkern  genügend  unterstützt  wurde ,  und  wieder ,  ob  und  wie 
weit  die  Juden  diesem  Wegweiser  zu  folgen  willens  waren,  wird 
nun  die  folgende  Darstellung  nachzuweisen  die  Aufgabe  haben. 


3.  Deutschland. 

a.  Philipp  Jacob  Spener. 

Philipp  Jacob  Spener,  geboren  1635  zu  Rappoldsweiler  im 
Elsass,  hatte  schon  als  Student  auf  der  Universität  Strassburg 
dem  Hebräischen  und  Rabbinischen  besonderen  Fleiss  zugewandt. 
Zur  besseren  Erlernung  des  Talmudischen  bediente  er  sich  der 
Hilfe  eines  Juden  und  ging  1659  eigens  nach  Basel,  um  hier 
eine  weitere  Förderung  in  diesen  Studien  durch  Buxtorf  zu  er- 
fahren. Auch  Esdras  Edzard  in  Hamburg  hat  er  aufgesucht, 
und  die  Bemühungen  dieses  Mannes  um  die  Bekehrung  der  Juden 
haben  einen  bleibenden  Eindruck  auf  ihn  hervorgebracht.  Nicht 
bloss  folgte  er  dem  Rathe  desselben  für  seine  jüdischen  und 
hebräischen  Studien,  sondern  ihm  erschien  auch  die  Art  und  Weise 
des  Verkehrs,    den  jener   Hamburger  Theologe   mit    den   Juden 


—     207     — 

pflegte,  für  alle  Missionswirksamkeit  an  denselben  als  die  beson- 
ders geeignete.  Auf  Edzards  Vorbild  hat  er  desshalb  auch  stets 
mit  grossem  Nachdruck  hingewiesen. 

Sein  Amt  in  Frankfurt  a.  M.  bot  ihm  alsdann  manchen 
Anlass,  mit  Juden  in  nähere  Verbindung  zu  treten;  und  hier 
zeigte  es  sich  sogleich,  dass  es  ihm  in  seinen  talmudischen  und 
rabbinischen  Studien  nicht  um  den  Erwerb  grösseren  literarischen 
Wissens  oder  nur  um  wissenschaftliche  Förderung  zu  thun  ge- 
wesen war,  und  dass  er  bei  diesen  Studien  eben  so  wenig  an  eine 
bloss  wissenschaftliche  Verwerthung  derselben  gedacht  hatte, 
sondern  dass  diese  Art  der  Beschäftigung  dem  geistlichen  und 
äusseren  Wohl  der  Juden  hatte  gelten  sollen. 

Eben  desshalb  genügte  ihm  auch  das  durchaus  nicht,  was 
in  der  evangelischen  Kirche  bisher  für  die  Juden  geschehen  war, 
sondern  er  fühlte  es  tief,  dass  in  diesem  Stücke  viel  vernach- 
lässigt worden  wäre,  und  dass  die  Schuld  der  Christen  ein  grosses 
Hinderniss  für  die  Ausbreitung  des  Christenthums  unter  den  Juden 
sei.  Nicht  weniger  aber  stand  es  ihm  fest,  dass  sich  die  Christen- 
heit nunmehr  in  allen  ihren  Ständen  aufmachen  müsse,  um  das 
Versäumte  nachzuholen. 

Demgemäss  erhob  er  seine  Stimme  und  er  that  dies  nach- 
haltig, in  Frankfurt  wie  in  Dresden  und  auch  zuletzt  noch  in  Berlin. 

In  Predigten  von  der  Kanzel  herab  und  in  Schriften  Hess 
er  sich  gleichmässig  über  den  Gegenstand  vernehmen.  So  heisst 
es  bereits  1675  in  den  Piis  desideriis  (Frankfurt)  S.  56  und  öfters 
„dass  an  der  Aeusserlichkeit  der  Christen  zuvörderst  die  Juden 
sich  ärgern,  so  unter  uns  wohnen  und  werden  in  dem  Unglauben 
gestärkt,  ja  den  Namen  des  Herrn  zu  lästern  bewogen,  als  die 
da  nicht  können  glauben,  es  sei  möglich,  dass  wir  Christum  für 
einen  wahren  Gott  halten,  dessen  Geboten  wir  gar  nicht  folgen, 
oder  es  müsse  unser  Jesus  ein  böser  Mensch  gewesen  sein,  wo 
sie  ihn  und  seine  Lehre  aus  ihrem  Leben  urtheilen,  also  dass 
wir  nicht  können  in  Abrede  sein,  dass  dieses  der  bisherigen 
Verstockung  der  Juden  und  Hinderniss  dero  Bekehrung  eine 
grosse  Ursache  gewesen,  das  Aergerniss,  so  die  armen  Leute  an 
uns  nehmen". 

S.  116:  „Insgemein  gegen  alle  Ungläubigen  oder  Irrenden 
soll  geschehen  die  Uebung  herzlicher  Liebe,  dass  wir  ihnen  zwar 
zu  ihrem  Unglauben  oder  Irrglauben  oder  dessen  so  Uebung  als 
Fortpflanzung  nichts  zu  willen  werden,    aber  in  anderen  Dingen, 


—       208       — 

welche  zum  menschlichen  Leben  gehören,  zeigen,  dass  wir  sie 
für  unsere  Nächsten,  ja  auch  aus  Recht  der  allgemeinen  Schöpfung 
und  gegen  alle  sich  erstreckenden  göttlichen  Liebe  für  unsere 
Brüder  erkennen,  und  also  auch  mit  solchen  Herzen  gegen  sie 
gesinnet  seien,  wie  wir  den  Befehl  haben  alle  als  uns  selbst  zu 
lieben.  Und  ist  dieses  ein  so  fleischlicher  als  an  Bekehrung 
solcher  Leute  schädlicher  Eifer,  da  man  einigen  Ungläubigen 
oder  Irrenden  seiner  Religion  wegen  Schimpf  oder  Leid  anthut, 
da  doch  der  rechtmässige  Hass  der  Religion  die  der  Person  schul- 
dige Liebe  weder  aufheben  noch  schwächen  sollte". 

Umfassend  aber  legt  er  seine  Wünsche  und  Forderungen 
hinsichtlich  der  Juden  in  den  „Theologischen  Bedenken"  nieder. 
So  IV  Art.  i,  Sect.  18  pag.  87:  „Christliche  Bedenken  wegen 
der  Anstalt  zur  Bekehrung  einiger  Juden  an  Orten,  da  dieselben 
wohnen".  Hier  stellt  er  12  Punkte  auf:  1.  Die  christliche  Obrig- 
keit, unter  deren  Botmässigkeit  Juden  lebten,  sei  verpflichtet, 
alles  zu  versuchen,  um  sie  zur  Erkenntniss  des  Heils  zu  bringen. 
Das  fordere  von  ihr  die  christliche  Liebe,  welche  das  geistliche 
Wohlsein  des  Nächsten  suche.  Sie  sei  aber  auch  das  Werkzeug 
der  Gnade  Gottes  an  den  unsterblichen  Seelen  ihrer  Unterthanen. 
Darum  sei  sie  verpflichtet  danach  zu  trachten,  dass  die  Un- 
gläubigen zur  Erkenntniss  gelangen.  Der  Regent,  welcher  dies 
unterlässt,  versündigt  sich  schwer  und  geniesst  alle  Vortheile  von 
den  Juden  mit  Sünde,  so  dass  ihn  die  armen  Seelen  im  Gerichte 
verklagen  werden.  Die  Regenten  sollten  daran  denken,  dass  der 
Herr  ihnen  die  Juden  nicht  dazu  in  ihr  Land  gegeben  habe,  da- 
mit sie  von  ihnen  zeitlichen  Nutzen  ziehen,  sondern  damit  diese 
von  ihnen  geistlichen  Nutzen  schöpfen  mögen.  Ueberhaupt  aber 
sind  die  Juden  unter  die  Christen  verstreut,  damit  sie  denselben 
sowohl  ein  Exempel  des  göttlichen  Gerichtes  als  eine  Gelegenheit 
zur  Uebung  der  Liebe  werden. 

2.  Das  Gute  muss  auch  auf  eine  gute  Weise  vollbracht 
werden.  Gewaltmittel  stiften  nur  Unheil.  Das  Reich  Christi  ist 
nicht  von  dieser  Welt,  weltliche  Gewalt  hat  also  darin  keinen 
Platz;  daher  nichts  vorgenommen  werden  darf,  was  wider  das 
Gewissen  eines  Juden  ist.  Die  vom  Herrn  geheiligten  Mittel  sind 
anzuwenden,  die  Herrschaft  über  die  Gewissen  dagegen  bleibt 
ihm  allein  zu  überlassen. 

3.  Ein  Nebenmittel  aber  ist  Hinwegräumung  von  Hinder- 
nissen aus  dem  Wege.     Man   müsse  die  Juden  zu  einer  anderen 


—     209     — 

Lebensart  bringen  und  sich  nicht  vom  Handeln  und  Schachern 
ernähren  lassen.  Durch  die  bisherige  Beschäftigung  werde  ihr 
Gemüth  mit  zu  vielen  Sorgen  erfüllt,  so  dass  sie  gar  nicht  recht 
an  etwas  Göttliches  denken  könnten,  und  es  ohne  Betrug  bei 
ihrer  Lebensweise  nicht  abgehe.  Man  bringe  sie  an  noch  unbe- 
baute oder  wenig  bebaute  Orte  und  halte  sie  dort  zur  Lebensart 
ihrer  Väter  d.  h.  zum  Ackerbau  und  Viehzucht  an.  Dann  würden 
sie  auch  für  ihre  Seele  mehr  sorgen  können  und  das  Gemein- 
wesen von  ihnen  mehr  Nutzen  haben.  Damit  das  aber  geschehen 
könne,  müssten  freilich  nicht  bloss  Privatpersonen,  sondern  das 
Reich  die  Sachen  in  die  Hand  nehmen.  Ferner  sei  eine  genaue 
Aufsicht  der  Obrigkeit  nöthig,  damit  die  Juden  selbst  nicht  Un- 
recht thun  und  ihnen  solches  nicht  zugefügt  werde.  Denn  es 
ärgere  jene  Leute  schrecklich,  wenn  sie  hören,  wie  den  Christen 
durch  ihre  Lehre,  Liebe  und  Gerechtigkeit  so  ernstlich  befohlen  sei, 
und  wenn  sie  doch  dieselben  täglich  das  Gegentheil  hiervon 
üben  sehen.  Sie  meinen  dann,  dass  es  uns  mit  unserer  Religion 
kein  Ernst  sei,  und  halten  alles,  was  ihnen  selbst  geschieht,  für 
Leiden,  welche  ihnen  um  ihrer  wahren  Gesetzestreue  willen  zu- 
gefügt werden.  So  würden  sie  in  ihrem  Wahn  noch  mehr  be- 
festigt und  ihre  Gemüther  noch  mehr  verhärtet.  Die  Obrigkeit 
müsse  daher,  wo  Juden  wohnen,  allem  gottlosen  Leben  desto 
ernstlicher  steuern. 

Aber  freilich  sollten  auch  die  Juden  der  christlichen  Religion 
nicht  zuwiderhandeln  und  den  Sonntag  nicht  entheiligen  dürfen; 
daher  der  Handel  mit  Christen  ihnen  am  Sonntage,  und  den 
Christen  der  Dienst  bei  Juden  an  diesem  Tage  zu  verbieten  sei. 

4.  Das  rechte  eigentliche  Hauptmittel,  um  die  Bekehrung 
der  Juden  zu  erreichen,  seien  aber  das  Gebet  und  das  göttliche 
Wort.  Das  Gebet  müssten  die  Einzelnen  üben  und  sei  für  die 
Gemeinde  in  der  Kirche  zu  verordnen.  Wenn  ernstlich  gebetet 
werden  würde,  werde  der  Herr  auch  als  Antwort  den  Weg 
zeigen,  auf  dem  die  Juden  herbeigebracht  werden  möchten. 

5.  Sodann  das  göttliche  Wort.  Dasselbe  ist  vor  allem  zu 
lesen.  Man  bewege  also  die  Juden  das  Neue  Testament  und 
andere  christliche  Bücher  zu  lesen.  Aber  freilich  bestehe  hier 
das  Hinderniss,  dass  die  wenigsten  Juden  deutsch  lesen  könnten 
und  bereit  seien,  sich  mit  christlichen  Büchern  zu  beschäftigen. 
Gespräche  und  Zuspruch  seien  von  Nutzen,  aber  nicht  viele  ver- 

F.  J.  A.  de   le    Roi,   Missionsbeziehungen.  \a 


—       210      — 

ständen  sich  hierauf;  denn  es  fehle  an  der  Kenntniss  des  Jüdischen 
und  an  der  rechten  Sanftmuth  den  Juden  gegenüber. 

6.  Das  Meiste  müssten  die  Prediger  thun.  Desshalb  sollten 
in  jeder  Herrschaft  ein  oder  einige  Prediger  angewiesen  werden, 
sich  mit  dem  einschlägigen  Material  bekannt  zu  machen,  und 
seien  die  Juden  zu  verpflichten,  dieselben  anzuhören;  wobei  ihnen 
aber  Einwürfe  gegen  dieselben  erlaubt  sein  müssten.  Zu  gebieten 
sei  es  den  Juden,  das  Jahr  über  gewisse  Predigten  zu  besuchen; 
denn  das  blosse  Anhören  solcher  Predigten  streite  nicht  wider 
die  Gerechtigkeit. 

7.  Die  Juden  sollten  aber  nicht  gehalten  sein,  dem  Namen 
Jesu  äussere  Ehrerbietung  zu  beweisen,  auch  nicht  in  Kirchen, 
welche  Bilder  enthielten,  geführt  werden,  sondern  lieber  an  einen 
anderen  Ort. 

8.  Die  Prediger  sollten  ihre  Vorträge  freundlich  halten, 
ohne  Bitterkeit  und  Heftigkeit,  so  dass  man  ihnen  Liebe  zu  den 
Juden  abmerke.  Mit  den  Nachkommen  der  früheren  Juden  solle 
man  überhaupt  mehr  Mitleid  haben,  als  Zorn  gegen  sie  hegen 
und  auch  ihrer  Herzenshärtigkeit  so  gedenken,  dass  man  dem 
die  Erbarmung  gegen  sie  abfühle.  Um  ihr  Herz  zu  gewinnen, 
möge  man  ihnen  auch  die  Herrlichkeit  ihres  früheren  Zustandes 
beschreiben ,  und  dass  wir  mit  Römer  Kap.  1 1  wüssten ,  Gott 
habe  sein  Volk  nicht  ganz  Verstössen.  Wir  wollten  sie  nicht 
stolz  machen,  sondern  sie  sollten  nur  sehen,  dass  wir  sie  nicht 
verachten  noch  ihnen  feind  sind,  sondern  Liebe  gegen  sie  tragen. 

9.  Bei  ihrer  Belehrung  sei  mit  dem  Leichteren  anzufangen 
und  dann  erst  zum  Schwereren  vorzugehen.  Es  sei  nicht  sogleich 
mit  der  Lehre  von  der  Dreieinigkeit  zu  beginnen,  sondern  etwa 
in  der  folgenden  Ordnung.  Mit  der  Heiligkeit  der  Lehre  Christi 
sei  der  Anfang  zu  machen,  und  wie  in  jener  alles  enthalten  sei, 
was  nach  dem  Gesetze  Mosis  die  wahre  Heiligkeit  ist,  welche 
Gott  als  einem  geistigen  Wesen  und  dem  Dienste  desselben  ent- 
spricht. Sodann,  dass  der  Messias  ein  solcher  habe  sein  müssen, 
wie  die  Christen  von  Christo  lehren,  und  dass  er  nothwendig 
bereits  gekommen  sei.  Ein  Verführer  kann  der  nicht  gewesen 
sein,  der  eine  so  heilige  Lehre  gehabt  hat,  die  alles,  was  das 
Gesetz  Mosis  enthält,  vollkommen  in  sich  fasst.  Mit  dem  Ver- 
trauen zum  Neuen  Testamente  werde  dann  auch  unschwer  die 
Annahme  der  anderen  Geheimnisse  in  demselben  kommen.  Und 
dabei  sei  darauf  hinzuweisen,  dass  der  Messias  Gottes  nach  dem 


211       — 

Alten  Testamente  habe  leiden,  sterben,  ein  Versöhnopfer  werden 
und  einen  neuen  Bund  mit  allen  Völkern  aufrichten  müssen. 

10.  Die  Prediger  müssten  die  hierher  gehörige  Literatur 
studiren.  Die  Beweise  sind  aus  dem  Alten  Testamente  zu  ent- 
nehmen, Nebenzeugnisse  aus  Talmud,  Targum,  Rabbinen  und 
Cabbala.  Im  Uebrigen  sei  jede  Person  besonders  zu  behandeln, 
und  sei  in  dem  allen  von  Edzard  zu  lernen. 

11.  Mit  der  Taufe  dürfe  man  nicht  eilen,  sondern  müsse  man 
eine  längere  Probezeit  inne  halten,  damit  die  Juden  selbst  sähen, 
wie  heilig  uns  die  Taufe  sei,  und  damit  auch  andere  Christen 
erkannten,  dass  es  uns  nicht  um  die  Gewinnung  blosser  Namen- 
christen zu  thun  sei.  Die  Getauften  aber  seien  zu  einem  thätigen 
Christenthum ,  besonders  zu  fieissiger  Arbeit  anzuhalten,  welche 
auch  die  Bedingung  ihrer  Aufnahme  bilden  müsse.  Ihre  jüdischen 
Unarten  müsse  man  ihnen  allmählig  abgewöhnen.  Die  Beispiele 
unordentlicher  Proselyten  ärgerten  ihre  ungläubigen  Brüder,  gute 
Beispiele  dagegen  zeigten  ihnen  die  Kraft  des  Christenthums. 
Am  Schlimmsten  sei  die  geringe  Fürsorge  für  die  Proselyten,  und 
müsse  denselben  vor  allem  Arbeit  verschafft  werden. 

1 2.  Die  Zahl  der  Bekehrten  werde  bis  zur  Stunde  der  Ernte 
freilich  keine  grosse  sein.  Trotzdem  müsse  man  den  Juden  nach- 
gehen, denn  die  Hoffnung  sei  für  keinen  aufzugeben,  und  für 
jeden  Gewonnenen  dem  Herrn  zu  danken. 

1 702 ,  also  drei  Jahre  vor  seinem  Tode ,  kam  Spener  in 
Berlin  noch  einmal  in  ähnlicher  Ausführlichkeit  auf  den  Gegen- 
stand in  den  „Unmaassgeblichen  Gedanken,  wie  es  mit  den  Juden 
ihrer  Bekehrung  wegen  zu  halten  sei",  zurück  (Letzte  Theologische 
Bedenken  Band  Ic  1  S.  286  ff.).  Er  stellt  hier  14  Punkte  auf, 
in  denen  er  das  früher  Gesagte  vielfach  wiederholt.  Nachdem  er 
von  dem  Zwecke  des  Wohnens  der  Juden  unter  den  Christen 
gesprochen,  fordert  er  für  sie  freie  Reliongionsübung;  doch  sei 
ihnen  eine  Lästerung  und  Verführung  von  Christen  nicht  zu 
gestatten.  Wiewohl  jetzt  unter  dem  Zorne  Gottes  seien  sie  doch 
noch  Blutsverwandte  Christi  und  die  Erfüllung  der  Verheissungen 
ihnen  gewiss.  Darauf  wird  die  Pflicht  der  christlichen  Obrigkeit 
gegen  sie  betont,  die  Notwendigkeit  einer  Aenderung  ihrer 
Lebensweise  hervorgehoben,  auf  die  Abstellung  jeder  üblen  Be- 
handlung der  Juden  unter  dem  Einschreiten  der  Obrigkeit  und 
auf  das    Predigtzeugniss    an    sie    gedrungen,    und    geistliche    wie 

14* 


—       212       — 

äussere  Versorgung  für  die  Proselyten  und  Unterbringung  der- 
selben in  Anstalten  während  ihres  Unterrichtes  verlangt. 

Indem  Spener  dann  betont,  dass  alle  Gewalt  gegen  die 
Juden  vermieden  werden  müsse,  weil  dieselbe  nur,  wie  das  Spanien 
und  Portugal  gezeigt  hätten,  Heuchler  schaffe,  verwirft  er  es  jetzt 
auch  von  ihnen  zu  fordern,  dass  sie  dem  gewöhnlichen  christlichen 
Gottesdienste  beiwohnten,  und  hält  es  nun  selbst  nicht  einmal  für 
rathsam,  von  ihnen  den  Besuch  besonderer  Judenpredigten  zu 
verlangen,  weil  sie  das  erfahrungsmässig  nur  desto  hartnäckiger 
mache.  Die  Sache  stiftet,  so  fügt  er  hinzu,  mehr  Schaden  als 
Nutzen.  Auch  könnten  die  Katholiken  gegen  die  Evangelischen 
den  gleichen  Zwang  ausüben. 

Die  Prediger  sollten  dagegen  in  den  Gemeinden  für  die 
Juden  beten  und  jene  zur  Fürbitte  für  die  Juden  ermahnen. 
Besonders  aber  gälte  es  im  Privatverkehr  die  religiöse  Frage  mit 
ihnen  zu  besprechen;  mit  Laien  gingen  überdem  die  Juden 
leichter  auf  derartige  Gespräche  ein  als  mit  Geistlichen.  Die 
Universitäten  endlich  müssten  die  orientalischen  Studien  ernster 
betreiben ,  damit  die  Theologen  für  ein  Zeugniss  an  die  Juden 
besser  ausgerüstet  würden. 

Häufig  erinnerte  Spener  überdies  in  seinen  Predigten  die 
Gemeinde  an  die  Juden  und  an  ihre  Christenpflichten  gegen  die- 
selben. So  bezeugte  er  in  seiner  Himmelfahrtspredigt  vom  Jahre 
1677  in  Frankfurt  „über  die  Notwendigkeit  und  Möglichkeit  eines 
thätigen  Christenthums",  seinen  Zuhörern,  dass  die  evangelische 
Christenheit  es  nicht  verantworten  könnte,  wenn  sie  die  Juden 
weiter  so  hingehen  Hesse,  wie  sie  es  bisher  gethan  habe.  Noch 
im  Jahre  1699  hielt  er  in  der  Nicolai-Kirche  zu  Berlin  eine  Predigt, 
„Dass  unser  Herr  Jesus  Christus  der  wahre  Messias  sei",  welche 
sich  theils  direkt  an  die  Juden  richtete,  theils  es  den  Christen  an 
die  Hand  geben  wollte,  wie  sie  die  Juden  von  der  Messianität 
Jesu  überzeugen  sollten. 

Eine  Predigt  am  Sonntage  der  Zerstörung  Jerusalems  behan- 
delte in  herzbeweglicher  Weise  „Die  Thränen  Jesu  über  Jerusalem 
und  die  Schriftlehre  von  der  zukünftigen  Bekehrung  der  Juden". 

Da  Spener  eifrigst  das  Schriftstudium  pflegte  und  zu  einer 
lebendigen  Erfassung  der  heiligen  Schrift  .  gelangte ,  wurde  ihm 
auch  die  Endbekehrung  der  Juden  zur  Gewissheit;  und  er 
hat  besonders  dazu  gewirkt,  dass  diese  Hoffnung  von  vielen 
in     der     evangelischen    Kirche     eetheilt     wurde.       Sehr     häufig 


—   vs   — 

kommt  er  denn  auch  sowohl  in  seinen  Schriften  als  in  seinen 
Predigten  auf  die  Hoffnung  Israels  zu  sprechen.  In  der  Schrift 
„Behauptung  der  Hoffnung  künftiger  besserer  Zeiten"  aus  dem 
Jahre  1693  hat  er  das  zumal  recht  nachdrücklich  gethan.  Hier 
und  sonst  oft  kommt  er  mit  Vorliebe  auf  Römer  Kap.  1 1  und 
auf  die  Propheten  des  Alten  Testamentes  zu  sprechen.  Aber  er 
weist  auch  nach,  dass  die  Endbekehrung  des  jüdischen  Volkes 
die  längste  Zeit  eine  allgemeine  Lehre  der  christlichen  Kirche 
gewesen  sei.  Ihn  selbst  hatte  besonders  sein  College  Grambs 
zur  Erkenntniss  der  Schriftmässigkeit  derselben  gebracht,  und 
machte  er  es  nun  auch  mit  Ernst  geltend,  dass  man  die  Juden 
unnöthig  verstocke ,  wenn  man  ihnen  raube,  was  ihnen  die 
Schrift  doch  lasse.  Die  endliche  Bekehrung  Israels  bildete  sogar, 
wie  er  selbst  sagt,  einen  täglichen  Gegenstand  seines  Gebets;  und 
denen,  welche  ihn  beschuldigten,  dass  er  unter  die  Chiliasten 
gegangen  sei,  stellte  er  gern  die  lange  Reihe  evangelischer  Theo- 
logen entgegen,  welche  die  Schrifthoffnung  für  das  Volk  Israel 
festgehalten  hatten. 

Nach  allen  Seiten  hat  also  Spener  das  Verhältniss  zwischen 
den  Christen  und  Juden  besprochen.  Getrieben  von  ernster  und 
aufrichtiger  Liebe  hat  er  seine  Stimme  erhoben,  dass  man  die 
Juden  aus  ihrem  geistlichen  und  bürgerlichen  Elende  gleichzeitig 
zu  erretten  suchen  müsse,  und  dass  den  Getauften  eine  treue 
christliche  Erziehung  in  aller  Geduld  zu  Theil  werden  möge. 
Bloss  humanistische  oder  modern  politische  Gedanken  lagen  ihm 
durchaus  fern.  An  eine  Beseitigung  der  Schranken  zwischen 
Christen  und  Juden  dachte  er  in  keiner  Weise;  denn  er  hielt 
von  dem  christlichen  Gemeinwesen  ausserordentlich  hoch.  Gerade 
darum,  weil  er  fest  überzeugt  war,  dass  auch  der  Staat  ein 
christliches  Gemeinwesen  sein  müsse ,  glaubte  er  an  denselben 
sehr  bedeutende  Forderungen  hinsichtlich  der  Fürsorge  für  das 
religiöse  Wohl  seiner  Bürger  stellen  zu  müssen,  so  dass  er  in 
dieser  Beziehung  sogar  über  das  Maass  hinausging. 

Seine  Vorschläge  zielten  aber  alle  darauf  ab,  dass  die  Juden 
selbst  und  das  ganze  Verhältniss  ihrer  christlichen  Umgebung  zu 
ihnen  von  innen  heraus  verändert  werden  möchte,  und  haben  mit 
der  modernen  rein  äusserlichen  und  mechanischen  Veränderung 
der  Stellung  beider  zu  einander  nichts  zu  thun.  Spener  hatte 
eine  zu  tiefe  Kenntniss  des  Menschenlebens ,  als  dass  er  jene 
modernen  Heilmittel   vorgeschlagen   hätte,    welche,    nachdem   sie 


—      214      — 

anfangs  als  unfehlbar  wirkende  Arznei  angepriesen  worden  sind» 
immer  mehr  als  vollständig  unbrauchbar  für  die  Heilung  irgend 
eines  Schadens  erkannt  werden.  Ihm  kam  es  nicht  auf  einen 
kurzen  Schein  an,  sondern  auf  Wahrheit,  und  für  diese  wirkte 
er  mit  einem  Herzen  voll  reicher  aufrichtiger  Menschenliebe. 

Ueber  den  augenblicklichen  Erfolg  aller  und  der  besten 
Bemühungen  an  den  Juden  täuschte  sich  Spener  nicht.  Er  wusste, 
dass  jetzt  nur  die  Zeit  „der  Einigen"  sei;  aber  wie  ihn  hier  seine 
Schriftkenntniss  die  rechte  Nüchternheit  bewahren  liess,  so  führte 
ihn  dieselbe  auch  zu  einer  lebendigen  und  unerschütterlichen 
Hoffnung  für  die   Zukunft  des  jüdischen  Volkes. 

Einen  allgemeinen  Widerhall  fanden  freilich  seine  Worte 
und  Bitten  nicht,  aber  die  Zahl  derer  war  eine  grosse,  welchen 
seine  Mahnungen  zu  Herzen  gingen.  Er  selbst  durfte  es  mit 
Freuden  anerkennen,  dass  die  Behandlung  der  Juden  z.  B.  in 
Frankfurt  a.  M.  in  Folge  seiner  Zeugnisse  daselbst  eine  bessere 
geworden  sei ;  und  auf  weitere  Früchte  seiner  Wirksamkeit  werden 
wir  noch  später  hinzuweisen  haben.  Aber  die  Juden  auch  fühlten 
es  diesem  Manne  ab,  dass  er  ein  Herz  für  sie  habe,  und  mancher 
Verständige  unter  ihnen  hat  es  damals  anerkannt,  dass  er  ihr 
Gutes  suche.  Oefters  begegnen  wir  z.  B.  hernach  in  den  Berichten 
der  Callenberg'schen  Mission  Juden,  welche  bekennen,  die 
Schriften  Speners  gelesen  zu  haben;  und  aus  Frankfurt  besonders 
erhalten  wir  die  Mittheilung,  dass  unter  den  dortigen  Juden  in 
Folge  des  Spener'schen  Wirkens  eine  grosse  Bewegung  der  Ge- 
müther zu  erkennen  war.  Spener  selbst  taufte  dort  unter  anderen 
auch  einen  alten  Juden,  d.:r  noch  auf  seinem  Sterbebette  nach 
der  Vereinigung  mit  Jesu  verlangte. 

Aber  allerdings  die  Energie  besass  Spener  nicht,  um  nun 
auch  seinen  Zeitgenossen  das  Beispiel  zu  geben,  wie  man  ent- 
schlossen alle  Hindernisse  durchbricht  und  sich  immer  von  Neuem 
direkt  mit  dem  Zeugnisse  an  die  Juden  selbst  wendet.  Da  ihm 
und  der  Frankfurter  Geistlichkeit  das  Gesuch,  Predigten  vor  den 
Juden  selbst  halten  zu  dürfen,  von  der  Stadtobrigkeit  abge- 
schlagen wurde,  wagte  er  es  nicht  mehr,  mit  einer  ähnlichen 
Bitte  hervorzutreten.  Die  lautere  Gesinnung  und  die  warme  Liebe 
des  Herzens  waren  bei  ihm  nicht  mit  dem  gleichen  Maasse  von 
Kraft,  wo  es  galt  auch  den  bürgerlichen  Autoritäten  entgegen- 
zutreten, gepaart.  Hätten  sich  in  Spener  ein  Luthermuth  und  eine 
Lutherkraft    mit    dem    ihn    erfüllenden    christlichen  Edelsinn    und 


—     215     — 

der  ihn  beseelenden  Gemüthswärme  verbunden,  dann  hätte  er  und 
hätten  seine  treuen  Anhänger  auch  die  Fundamente  zu  einer  ge- 
sunden Neuordnung  des  Lebens  der  Juden  zunächst  in  Deutschland 
gelegt,  welche  die  Judenfrage  im  Allgemeinen  günstiger  gestaltet 
und  ebenso  auch  eine  reiche  Missionsernte  zur  Folge  gehabt  hätte. 

b.  Literarische  und  anderweitige  Bemühungen  im 
Zeiträume. 

Eine  lange  Reihe  von  Schrifstellern ,  besonders  von  Theo- 
logen Hess  sich  vor  der  christlichen  Gemeinde  oder  vor  den 
Juden  mit  Zeugnissen  vernehmen,  welche  die  Bekehrung  der 
letzteren  zum   Zwecke  hatten. 

August  Hermann  Franke  wies  wiederholt  in  seinen  Vor- 
lesungen auf  der  Universität  zu  Halle  die  Studirenden  und  in 
seinen  Predigten  über  alttestamentliche  Texte  die  Gemeinden  auf 
die  Juden  hin.  Stephan  Schultz  traf  1747  auf  seiner  Missions- 
reise in  Polen  einen  78  Jahre  alten  Juden,  der  eine  solche  Predigt 
mit  angehört  hatte  und  der  noch  nach  mehr  als  40  Jahren  leb- 
haft von  dem  damals  empfangenen  Eindrucke  sprach.  Das 
Halle'sche  Waisenhaus  wurde  oft  von  Juden  in  Augenschein  ge- 
nommen und  wurde  für  nicht  wenige  eine  ihr  Herz  ergreifende 
Predigt.  August  Hermann  Franke  hat  denn  auch  bei  den  Juden 
in  hoher  Verehrung  gestanden  und  seine  Schriften  wurden  von 
ihnen  häufig  gelesen.  Wie  weit  er  an  der  Begründung  der 
Halle'schen  Judenmission  betheiligt  ist,  wird  noch  später  zu 
erwähnen  sein. 

Aber  auch  so  manche  andere  unter  den  Pietisten  gewannen 
den  Juden  das  Herz  ab.  Johann  Caspar  Schade*)  wurde, 
während  er  sein  Predigtamt  in  Berlin  verwaltete,  von  den  dortigen 
Juden  als  ein  Heiliger  angesehen.  Der  kleine  Sohn  eines  Juden 
litt  an  einer  unheimlichen  Krankheit,  für  die  nirgends  Hilfe  zu 
finden  war.  In  seiner  Noth  dachte  der  Vater,  dass  sie  ihm 
vielleicht  Schade  „dieser  als  Heiliger  gerühmte  Mann",  gewähren 
würde.  So  ging  er  zu  dem  christlichen  Prediger  und  bat  ihn 
über  seinem  kranken  Kinde  zu  beten.  Schade  willigte  ein,  aber 
unter  der  Bedingung,  dass  er  dies  im  Namen  Christi  thun  dürfe. 
Der  jüdische  Vater    gestand    dies    zu,    und    dem  Knaben    wurde 


*)  Sammlung  für  Liebhaber  christlicher  Wahrheit  und  Gottseligkeit.     Basel 
1837. 


—       2l6      — 

geholfen.  Bei  Schade's  Tode  trauerten  denn  auch  die  Juden  in 
Berlin  um  denselben  aufrichtig  und  wehrten  die  wilden  Haufen  ab, 
welche  das  Begräbniss  dieses  wegen  seines  ungemeinen  Ernstes 
von  vielen  gehassten  Predigers  stören  wollten. 

Ganz  im  Spener'schen  Geiste  forderte  M.  Chr.  Th.  Leut- 
wcin,  Hohenlohe'scher  Oberpfarrer  in  Waidenburg  auf,  „neue 
Griffe  ins  Herz  der  Juden  zu  thun",  wenn  man  ihnen  zeigen 
wolle,  worin  sie  ihr  Heil  suchen  sollten,  und  es  ihnen  klar  zu 
machen,  dass  sie  das  Gesetz  nicht  erfüllen  könnten,  während 
ihnen  doch  zugleich  auch  die  sühnenden  Opfer  fehlten. 

Sehr  ernst  straft  M.  Christian  Götze,  Pastor  in  Lockwitz 
bei  Dresden  in  „Unerkannte  Sünden  der  Welt",  Dresden  1699 
(3.  Aufl.)  Band  ic  104  und  3°  15  die  Christen  wegen  der  Ver- 
nachlässigung des  Zeugnisses  an  die  Juden.  Man  halte  den  Hass 
gegen  dieselben  für  etwas  Erlaubtes,  das  Erbarmen  gegen  sie  für 
gar  nicht  nöthig  und  verstocke  sie  auf  diese  Weise  noch  mehr. 
Für  ihre  Tugenden  habe  man  kein  Auge,  an  die  Verheissungen 
des  Alten  Testamentes  für  dieselben  denke  man  nicht;  wo  in 
den  Predigten  der  Juden  gedacht  werde,  geschehe  es  zumeist  in 
scheltender  Weise.  Desshalb  solle  man  sich  endlich  daran  er- 
innern, dass  die  Christen  verpflichtet  seien,  die  Juden  zu  locken. 
Jedermann  könne  an  seinem  Theile  helfen,  dass  sie  das  Zeugniss 
von  dem  Heile  in  Christo  empfingen.  Götze  weist  denn  auch 
den  einzelnen  Ständen  der  Christen  besonders  nach,  in  welcher 
Weise  sie  hier  mitwirken  könnten,  und  erklärt,  er  wolle  fortfahren 
die  Christen  hieran  zu  erinnern,  obwohl  er  bisher  viel  Spott  für 
diese  seine  Bemühungen  unter  ihnen  geerntet  habe.  Tröstlich 
aber  sei  es  ihm,  dass  sich  doch  noch  einmal  Israel  bekehren 
werde,  und  dass  Pauli  Bekehrung  das  Vorbild  der  endlichen  Be- 
kehrung seines  Volkes  sei. 

Auch  M.  Christian  Gerber  äussert  sich  in  ähnlicher  Weise; 
er  wiederholt  in  den  Unerkannten  Sünden  der  Welt  die  Klagen 
Wagenseils  über  die  entsetzliche  geistliche  Vernachlässigung,  in 
welcher  die  Christen  die  Juden  dahingehen  lassen,  und  fügt  hinzu: 
„Es  leben  noch  viele  Tausende,  denen  es  ihr  ganzes  Leben  nicht 
einmal  in  die  Gedanken  gekommen  ist,  ein  einziges  Vaterunser 
für  die  armen  Juden  zu  beten,  da  doch  der  Herr  Jesus  Christus 
noch  am  Kreuze  für  sie  gebetet  hat." 

Theodor  Matthäus  Beckmann,  Bürgermeister  zu  Essen, 
liess  1 707  eine  „freundliche  Einladung  zu  friedlichem,  liebreichem 


—    217    — 

Gespräch  und  Untersuchung  der  Prophezeihungen  des  Alten 
Testamentes  von  der  den  Juden  bald  bevorstehenden  so  leib- 
lichen als  geistlichen  Erlösung"  ausgehen.  Man  solle  mit  ihren 
Rabbinen  untersuchen,  ob  die  Zeit  ihrer  Bekehrung  und  Erlösung 
in  den  Propheten  zu  finden  sei,  durch  welche  Mittel  die  Bekehrung 
geschehen  solle,  verschiedene  schwere  Fragen  und  Sprüche  aus 
den  Propheten  mit  jenen  besprechen  und  die  christliche  Obrigkeit 
sammt  allen  Vorstehern  der  Christenheit  geistlichen  und  welt- 
lichen Standes  an  ihre  Pflichten  in  diesem  Stücke  erinnern. 

Ein  J.  L.  v.  B.  trat  mit  einer  Schrift  „Ohnmaassgeblicher 
Vorschlag  von  Beförderung  des  Heils  der  Juden"  hervor,  welche 
D.  Jo.  Georg  Pritius,  Senior  der  Geistlichkeit  in  Frankfurt  a.  M 
mit  einer  Vorrede  versah,  1718.  Diese  Schrift  gehört  zu  den 
trefflichsten  Zeugnissen,  welche  die  Theilnahme  des  Pietismus 
für  die  Juden  hervorrief.  Pritius  und  der  eigentliche  Verfasser 
der  Schrift  sind  gleicher  Gesinnung.  In  seiner  Vorrede  legt 
Pritius  ein  warmes  Zeugniss  für  die  Gnadengedanken  Gottes 
mit  Israel  ab,  und  dass  die  Juden  noch  einen  Zugang  zu  Gott 
haben,  der  ihnen  kraft  seines  Bundes  grosse  Schätze  vorbehalten 
hat.  Desshalb  sei  es  denn  auch  die  Pflicht  der  Christen,  zu  ihrer 
Bekehrung  beizutragen. 

In  der  Schrift  selbst  wird  gerades wegs  gefordert,  dass 
sich  das  ganze  evangelische  Deutschland  zu  einem  gemeinsamen 
Werke  an  den  Juden  aufraffe,  und  gemeinsame  Einrichtungen 
getroffen  würden,  welche  für  das  ganze  Reich  Geltung  haben 
sollten.  Dann  werden  die  Ursachen  theils  des  geistlichen  theils 
des  weltlichen  Verderbens  der  Juden  besprochen.  Hierbei 
wird  ebenso  die  Schuld  der  Juden  als  die  der  Christen  hervor- 
gehoben. Hinsichtlich  der  letzteren  wird  besonders  geltend  ge- 
macht, dass  man  ein  völlig  ungerechtes  Vorurtheil  habe,  als  sei 
bei  den  Juden  nichts  auszurichten;  eben  daher  habe  man  es  auch 
unterlassen,  Prediger  unter  sie  zu  senden  und  geeignete  Schriften 
unter  ihnen  zu  verbreiten. 

Im  zweiten  Capitel  werden  die  Beweggründe  besprochen, 
welche  uns  antreiben  sollen,  den  Juden  Hilfe  zu  leisten.  Dieselben 
sind:  auf  Gottes  Seite,  dessen  Befehl  für  alle  Menschen  zu  beten, 
jedem  Nächsten  Gutes  zu  thun  und  selbst  die  Feinde  zu  lieben, 
dazu  Christi  eigenes  Beispiel,  der  mit  allem  Ernst  die  Bekehrung 
der  Juden  gesucht  hat,  und  Gottes  Verheissungen  für  die  Be- 
kehrung   der  Juden,    wie    sein  Wohlgefallen   an   derselben.     Auf 


—      2lS      — 

Seite  der  Christen:  die  Erbarmung,  die  Dankbarkeit  u  s.  w.  Auf 
Seite  der  Juden,  dass  sie  Menschen  sind,  durch  Christi  Blut  er- 
kauft und  unter  uns  leben. 

Capitel  3  nennt  die  Werkzeuge,  durch  welche  die  Bekehrung 
der  Juden  gefördert  werden  soll.  Es  müssten  bestimmte  Prediger 
unter  sie  gesandt  werden ,  welche  allein  dieses  Amt  auszuführen 
hätten.  Geeignete  Schriften  seien  für  die  Juden  abzufassen,  und 
zwar  in  jüdisch -deutscher,  rabbinischer  und  hebräischer  Sprache, 
welche  den  Universitäten  zur  Prüfung  unterbreitet  werden  sollten. 
Christen  sollten  dieselben  für  einen  geringen  Preis  beziehen 
können,  die  Juden  sie  aber  umsonst  erhalten. 

Ein  viertes  Capitel  bespricht  die  Aufbringung  der  Kosten 
für  dieses  Werk.  Die  Prediger  sollten  die  Gemeinden  zu  Bei- 
trägen auffordern.  Die  Obrigkeit  solle  die  Proselyten  gegen  die 
Ihrigen  in  Schutz  nehmen  und  die  Gotteslästerungen  der  Juden 
in  der  Synagoge,  sowie  ihre  Entweihung  des  christlichen  Sonn- 
tages verbieten.  Aber  die  Obrigkeit  solle  auch  Mittel  für  dieses 
Werk  aus  den  öffentlichen  Einnahmen  anweisen  und  eine  allge- 
meine Kirchenkollekte  für  dasselbe  genehmigen.  Jüdische  Kinder 
möge  man  auf  christlichen  Schulen  in  der  christlichen  Wahrheit 
unterrichten.  Mit  den  Erwachsenen  suche  man  Gespräche  über 
religiöse  Gegenstände  anzuknüpfen  und  lasse  sich  die  Versorgung 
der  Proselyten  angelegen  sein. 

Besonders  wichtig  sei  die  Errichtung  einer  Anstalt  an  einer 
Universität,  an  welcher  Studirende  für  den  Beruf  des  mündlichen 
und  schriftlichen  Zeugnisses  unter  den  Juden  vorbereitet  werden 
müssten. 

Mit  der  Warnung,  dass  wir  uns  nicht  durch  Trägheit  selbst 
schädigen  mögen,  schliesst  die  Schrift:  „Wer  hat,  dem  wird  ge- 
geben, wer  aber  nicht  hat,  von  dem  wird  genommen  werden, 
was  er  hat;  davor  sollen  wir  uns  fürchten." 

Wie  dieser  Verfasser  eine  bloss  literarische  Einwirkung 
auf  die  Juden  nicht  als  genügend  erkannte,  so  auch  Matth.  Georg 
Schröder  in  einer  lateinischen  Abhandlung  über  die  Verbreitung 
des  Evangeliums,  die  171 7  in  Leipzig  erschien.  Mit  Recht  weist 
derselbe  darauf  hin,  dass  der  einseitige  literarische  Verkehr  mit 
den  Juden  nicht  zum  rechten  Ziele  führen  könne;  seien  doch  auch 
die  meisten  der  für  die  letzteren  geschriebenen  Bücher  in  einer 
ihnen  nicht  recht  verständlichen  Sprache  abgefasst.  Vom  münd- 
lichen Austausch  der  Gedanken  sei  Besseres  zu  erwarten. 


—     219     — 

Von  jener  weicheren  Stimmung  gegen  die  Juden,  welche 
in  den  pietistischen  Kreisen  allgemein  gefunden  wird,  ist  weit  ent- 
fernt M.  Sigismund  Hos  mann,  Consistorialrath  und  Stadtprediger 
zu  Zelle.  Derselbe,  ein  tüchtiger  Kenner  des  Talmud  und  der 
Rabbinen,  verkehrte  viel  mit  Juden,  empfing  aber  von  ihnen  sehr 
ungünstige  Eindrücke  und  schrieb,  als  ein  zum  Tode  verurtheilter 
Jude  noch  unmittelbar  vor  seiner  Hinrichtung  allen  geistlichen 
Zuspruch  unter  Lästerungen  abwies,  eine  Schrift  „Das  schwer 
zu  bekehrende  Judenherz".  1701.  Durch  alle  Jahrhunderte  ver- 
folgt er  hier  die  Aeusserungen  jüdischer  Feindschaft  gegen 
Christus  und  das  Christenthum  und  ist  von  der  Wahrheit  auch  der 
falschesten  Beschuldigungen  der  Juden  völlig  überzeugt.  Dennoch 
verzweifelt  er  an  einer  Möglichkeit  ihrer  endlichen  Bekehrung 
nicht.  Der  verleugnende  und  durch  den  Blick  Christi  alsdann 
wieder  bekehrte  Petrus  ist  ihm  das  Bild  des  jüdischen  Volkes; 
zugleich  aber  ist  er  überzeugt,  dass  nur  durch  die  härtesten 
Mittel  die  Bekehrung  desselben  herbeigeführt  werden  könne. 

Auf  vielen  Universitäten  fuhr  man  noch  immer  fort,  theiis 
apologetisch,  theiis  polemisch  die  talmudische  und  rabbinische 
Literatur  zu  behandeln.  Dissertationen  über  Themata  aus  dem 
Bereiche  derselben  erfreuen  sich  grosser  Beliebtheit  Leipzig, 
Jena,  Wittenberg,  Strassburg,  Königsberg,  Greifswald,  Helmstädt, 
Frankfurt  a.  O.  und  Marburg,  aber  auch  das  neugegründete  pie- 
tistische Halle  wetteifern  auf  diesem  Gebiete  mit  einander.  Nur 
beispielsweise  nennen  wir  derartige  Universitätsschriften  von  W. 
Keller  in  Jena,  Heubner,  Ertel,  Erdmann  in  Wittenberg, 
Bollhagen,  Zoega  in  Leipzig,  Losius  in  Halle,  der  später  in 
seinem  Wernigeroder  Amt  eine  Schrift  über  die  allmählige  Ver- 
derbniss  der  Juden  erscheinen  liess.  Letzterer  und  der  Ham- 
burger Magister  Jac.  Owmann,  Jo.  Philipp  Hartmann  in  Giessen, 
Adam  Cnoll  und  Joh.  Nicolaus  Cnoll  in  Fürth,  J.  J.  Cr  am  er  in 
Herborn  und  Anton  vonderHardt  übersetzten  auch  Stücke  des 
Talmud.  Raschi  fand  seine  Bearbeiter  an  Joh.  Fr.  Breithaupt 
zu  Gotha,  Eskuche  in  Marburg  und  J.  G.  Abicht  in  Leipzig. 
Abicht  und  Joh.  Fr.  Winkler  in  Hamburg  zogen  auch  Abarbanel 
und  Maimonides  in  den  Kreis  ihrer  Studien  und  gaben  die  hierher 
gehörigen  Schriften  von  Prof.  Scherz  er  neu  heraus.  Als  Pro- 
fessor in  Wittenberg  vollzog  Abicht  1730  die  erste  Judentaufe  nach 
der  Reformation  in  jener  Stadt  an  einem  gewissen  Leib.  Abar- 
banel wurde  auch  von  den  Helmstädter  Professoren  Schramm  und 


—       220      — 

Sprecher  bearbeitet,  ebenso  von  Loscan  in  Frankfurt  a.  O., 
Weidler  in  Wittenberg,  Mundin  und  Joh.  Fr.  Hirt  in  Jena, 
Kraut  in  Lüneburg,  Je.  Heinr.  Mai  und  J.  Fr.  Budeus  in 
Giessen;  Maimonides  von  Lenz  und  Camenz  in  Wittenberg, 
Ulimann  in  Strassburg,  Walther  in  Königsberg,  Witter, 
Sonnenschmidt  und  Jo.  Fr.  Hirt  in  Jena,  Reineck  und  Boll- 
hagen  in  Leipzig,  Bashuysen  in  Hanau,  J.  H.  Mai  in  Giessen, 
E.  A.  Fromm  ann  in  Altorf,  Chr.  Schott  gen  in  Dresden.  G. 
P.  Geiger  in  Altorf  schrieb  über  Hillel  und  Schamai,  Ritmeier 
in  Hanau,  der  auch  Gemarische  Studien  veröffentlichte,  über 
Jeschua  Halevi.  Struck  in  Halle  lieferte  lateinische  Auszüge  aus 
dem  Schulchan  Aruch,  Jo.  Andreas  Nagel  in  Altorf  verbreitete 
sich  über  Elias  Levita  und  andere  rabbinische  Autoritäten,  Nie. 
Koppen  in  Greifs wald  lieferte  Stücke  aus  Salomo  Ibn  Melechs 
Scholien  zum  Alten  Testamente,  Pertsch  in  Jena  einen  Ueber- 
blick  über  die  jüdische  Theologie  nach  dem  Buche  Ikarim  des 
Jos.  Albo. 

Balthasar  Ludwig  Eskuche,  Profosser  und  Prediger  in 
Rinteln  hatte  bei  einem  Rabbi  in  Kassel  rabbinische  Literatur 
studirt  und  beschrieb  dann  die  Gebräuche  des  jüdischen  Purim- 
Festes.  Nerretter  nimmt  in  seinem  Wunderwürdigen  Juden- 
und  Heidentempel,  der  eine  Bearbeitung  des  englischen  Werkes 
von  Alex.  Rossaeus  ist  (Nürnberg  1701),  vielfach  auf  Talmud 
und  Cabbala  Rücksicht  und  will,  dass  aus  denselben  den  Juden 
die  Messianität  Jesu  bewiesen  werde. 

Der  Sohn  des  älteren  Carpzov,  auch  Johann  Benedict 
genannt,  zu  Leipzig  gab  eine  Vorlesung  seines  Vaters  über  Ruth, 
welche  die  Auslegung  des  Buches  unter  Zugrundelegung  rab- 
binischer  Commentare  versuchte,  heraus.  Zuhörer  und  Professor 
erscheinen  hier  nach  jüdischer  Weise  disputirend  und  auf  diesem 
Wege  den  Inhalt  des  Buches  in  gemeinsamer  Arbeit  erhebend. 

Die  jüdische  Geheimlehre  des  Sohar  genoss  die  besondere 
Gunst  des  P.  Nicolaus  Lütkens  in  Billwerder  bei  Hamburg,  und 
suchte  derselbe  wiederholt  die  Zeitgenossen  dafür  zu  erwärmen, 
dass  sie  den  Juden  aus  jenem  ihrem  Buche  die  Richtigkeit  der 
gesammten  christlichen  Lehre  darthun  möchten.  Um  so  ent- 
schiedener erklärte  sich  Paul  Berger  in  Wittenberg  in  seinem 
Cabbalismus  Judaico  Christianus  gegen  die  cabbalistischen  Träume, 
die  viel  zu  viel  Eingang  auch  bei  Christen  gefunden  hätten,   1 707. 


—      221       — 

Grossen  Fleiss  hat  von  Jugend  auf  J.  J.  Cramer,  Professor 
der  Theologie  in  Herborn,  auf  die  Erforschung  der  jüdischen 
Literatur  verwandt  und  die  Ergebnisse  seiner  Studien  in  dem 
Werke  Theologia  Israelis  1 702  niedergelegt.  Er  geht  hier  liebend 
allen  Spuren  der  Wahrheit  in  der  jüdischen  Lehre  nach  und 
sucht  besonders  durch  die  Lehre  vom  Goel  im  Altai  Testa- 
mente die  Gemüther  der  Juden  zu  Jesu  zu  ziehen.  Derselbe 
Theolog  hat  überdem  eine  Uebersetzung  bekannterer  Stellen  aus 
der  Gemara  geliefert. 

Der  Magister  Christian  Reineccius  in  Leipzig  gab  die 
Schrift  des  Proselyten  Anton  Margaritha  „Der  ganze  jüdische 
Glaube"  und  des  Fr.  Aibr.  Christiani  „Der  Juden  Glaube  und 
Aberglaube",  die  er  mit  einer  grösseren  Einleitung  versah,  heraus 
und  schrieb  auch  selbst  eine  lateinische  Abhandlung  über  den 
Glauben  der  alten  Juden  an  den  dreieinigen  Gott. 

Ein  klares  Urtheil  zeichnet  die  Schriften  des  Nürnberger 
Martin  Rudolf  Aleelf  ührer  aus1,  von  welchem  Wagen  seil  recht 
Gutes  erwartete.  Diese  Bücher  stammen  noch  aus  der  Zeit  des- 
selben, wo  er  der  evangelichen  Kirche  angehörte;  später  trat  er  zur 
römischen  Kirche  über.  Meelführer  gehört  zu  denjenigen  Theo- 
logen, welche  die  jüdische  Literatur  am  Eingehendsten  studirt 
haben.  1692  gab  er  in  Altorf  zwei  Abhandlungen  über  Jesus 
im  Talmud  heraus  und  hob  in  denselben  ganz  richtig  hervor, 
dass  die  Mischnah  nichts,  die  Gemara  nur  wenige  Stellen  über 
Jesum  enthalte.  Als  Adjunkt  der  Philosophie  in  Wittenberg 
schrieb  er  einen  Consensus  veterum  Hebraeorum  cum  ecclesia 
Christiana  1701.  Wie  Luther  erklärt  er  hier,  dass  er  zwar  die 
jüdischen  Irrlehren  verwerfe,  dass  er  aber  aus  Liebe  zu  den  Per- 
sonen derselben  sein  Zeugniss  erhebe.  In  ihrer  Literatur  sei 
neben  vielem  Schlechten  auch  vieles  Gute  zu  finden,  und  zwischen 
der  Kirche  und  der  Synagoge  bestehe  ein  gewisser  Zusammenhang; 
denn  die  Gottesdienstordnung  ebenso  wie  die  Verfassung  derselben 
seien  auf  die  christliche  Kirche  übertragen  worden. 

Auf  den  Rath  Luthers  nun  wolle  er  die  Juden  aus  ihrer 
eigenen  Literatur  zu  überzeugen  suchen.  Dies  sei  aber  auch 
wohl  möglich,  da  die  alte  jüdische  Theologie  in  vielen  Stücken 
eine  Uebereinstimmung  mit  der  christlichen  Lehre  zeige.  Für 
die  Exegese  sei  insbesondere  viel  von  Abarbanel  zu  lernen.  Aber 
freilich  die  Augen  der  Juden  sind  gehalten,  dass  sie  es  nicht 
erkennen,  wie  ihre  ältere  Lehre  in  den  Fusstapfen  der  christlichen 


—       222       — 

Anschauung  einhergeht,    und  die  spätere  jüdische  Theologie   ist 
immer  weiter  von  der  Erkenntniss  der  Wahrheit  abgewichen. 

Ein  ähnliches  Gepräge  trägt  eine  1 702  zu  Altorf  erschienene 
Schrift  Rudolf  Meelführers ,  welche  in  lateinischer  Sprache  über 
die  Ursachen  der  Verirrung  der  Synagoge  und  die  Hindernisse 
der  Bekehrung  der  Juden  handelt.  Mit  grosser  Unparteilichkeit 
hebt  er  die  Schuld  auf  beiden  Seiten  hervor. 

Anerkennung  verdient  auch  Johann  Philipp  Storr,  Pastor  zu 
Heilbronn.  Derselbe  hat  es  sich  eben  so  sehr  in  vielfältigem 
Verkehr  mit  den  Juden  und  Rabbinen  angelegen  sein  lassen, 
persönlich  ihre  religiösen  Ansichten  kennen  zu  lernen,  als  er  die 
rabbinische  Literatur  sorgfältig  studirte.  Wider  das  Chissuk 
Emunah  Hess  er  1 703  die  Schrift  „Evangelische  Glaubenskraft" 
erscheinen.  1721  folgte  dann  Anima  Judaismi  jugulata  oder 
Völlig  überzeugte  Judenschaft,  dass  Jesus  von  Nazarath  der  wahre 
Messias  und  Gottmensch  sei,  aus  heiliger  Schrift  und  der  Rab- 
binen eigenen  Gegenzeugnissen  dargethan.  Der  Schriftbeweis 
und  der  Beweis  aus  der  eigenen  Literatur  der  Juden  wird  hier 
ausführlich  und  nach  drei  Richtungen  hin  geführt.  Es  galt  dem 
Verfasser,  einmal  zu  zeigen,  dass  die  beleidigte  Gerechtigkeit 
Gottes  einen  Erlöser  fordert,  sodann  wie  dieser  Erlöser  beschaffen 
sein  musste,  und  endlich,  in  welcher  Zeit  seine  Ankunft  zu  er- 
warten war.  Natürlich  trägt  seine  Schrift  das  Gepräge  der  da- 
maligen theologischen  Wissenschaft,  nimmt  aber  durch  die  Klar- 
heit ihrer  Beweisführung  unter  der  gleichartigen  Literatur  jener 
Zeit  einen  hervorragenden  Platz  ein.  Altes  und  Neues  Testament 
werden  umfangreich  in  ihr  angezogen  und  die  rabbinischen  Zeug- 
nisse geschickt  benutzt. 

Ausführlichen  Unterhaltungen  mit  einem  verurtheilten  Juden 
verdankt  das  Religionsgespräch  zwischen  einem  Juden  Mardochai 
Ben  Jacob  und  M.  D.  Springer,  Professor  am  Elisabethan  in 
Breslau  seine  Entstehung,  1705.  Springer  gehört  zu  denen, 
welche  die  Juden  durch  trockene  gelehrte  Beweisführung  zu  über- 
zeugen suchen.  Erfolg  hat  er  damit  nicht  gehabt.  Viel  ver- 
ständiger dagegen  war  es,  dass  er  die  Nachfolge  des  Thomas  a 
Kempis  für  die  Juden  ins  Hebräische  übersetzte. 

Jonas  Conrad  Schramm  bemühte  sich,  aus  dem  Talmud 
das  apostolische  Glaubensbekenntniss  zusammenzustellen,  um  so 
den  Juden  den  Beweis  der  Wahrheit  des  christlichen  Glaubens 
aus  ihrem  eigenen  kanonischen  Schriftthum  herbeizubringen. 


—    ^^j     — 

Ein  besonderer  Freund  der  talmudischen  und  rabbinischen 
Studien  war  der  Rektor  am  Gymnasium  in  Zerbst,  H.  J.  van 
Bashuysen.  Er  empfahl  dieselben  den  Zeitgnossen  dringend. 
Von  ihm  stammt  ausser  einer  Reihe  anderer  Schriften  und  Com- 
mentare,  in  denen  ein  reicher  apologetischer  Gebrauch  der  rab- 
binischen Literatur  im  christlichen  Interesse  stattfindet,  eine  Clavis 
Talmudica  Maxima,  Hannover  1718,  die  zur  Belehrung  und  Ein- 
sichtnahme in  das  Wesen  der  fraglichen  Literatur  mehrere  jüdische 
Schriften  enthält,  deren  Uebersetzung  zum  Theii  von  anderen 
Autoren  stammt.  Am  Schlüsse  des  Werkes  spricht  sich  Bas- 
huysen über  den  Talmud  selbst  aus  und  handelt  dann  von  der 
Bekehrung  der  Juden.  Diese  und  ihre  Wiederherstellung  als 
Volk  in  Canaan  bildeten  für  inn  einen  Gegenstand  froher  Hoffnung. 
Vom  Talmud  hält  er  zu  hoch  und  überschätzt  den  Nutzen,  den 
man  aus  demselben  für  die  Erklärung  des  Neuen  Testamentes 
gewinnen  könne.  Herzlich  bittet  er  die  Christen,  die  Gedanken 
Gottes  für  die  Juden  festzuhalten  und  nicht  falsche  Beschul- 
digungen, wie  die  des  Gebrauches  von  Christenblut,  gegen  sie  zu 
erheben.  Aber  freilich  dürfe  man  auch  eine  Ueberhebung  der 
Juden  nicht  dulden,  sondern  müsse  sie  in  Schranken  halten.  Zum 
Schlüsse  dringt  er  darauf,  dass  man  ihnen  Predigten  halte  und 
eine  neue  den  Bedürfnissen  entsprechende  Literatur  zu  ihrer  Ueber- 
zeugung  von  Christo  schaffe. 

J.  Rusmeier  erklärt  die  alte  jüdische  Lehre,  welche  ihre 
Reinheit  noch  bewahrt  hat,  als  durchaus  richtig.  Ihm  und  den 
meisten  anderen  Theologen  der  früheren  Zeit  fehlt  es  an  einem 
genügenden  kritischen  Urtheil,  um  den  Unterschied  ihrer  eigenen 
fertigen  Erkenntniss  und  des  Werdenden,  Schwebenden  und  Un- 
klaren in  den  älteren  jüdischen  Lehren  zu  bemerken.  Eifrige 
Fürsprache  fand  auch  bei  Professor  J.  G.  Lakemacher  in 
Helmstädt  das  talmudische  Studium,  das  er  in  einer  besonderen 
Schrift:  De  studio  rabbinico  vertheidigte,   1727. 

Pastor  Michael  Heineccius  in  Halle  dagegen,  welcher  die 
bei  Gelegenheit  der  Taufe  eines  Juden  Gerson  Marcus  aus  Polen 
1708  gehaltene  Predigt  über  „Fall  und  Auferstehen  vieler  in 
Israel"  herausgegeben  hat,  hob  nachdrücklich  und  mit  Recht 
hervor,  dass  gerade  der  Talmud  die  Juden  nicht  zur  Erkenntniss 
der  Wahrheit  kommen  lasse.  Er  betont,  dass  durch  den  Talmud 
und  dessen  System  das  innere  religiöse  Leben  der  Juden  all- 
mählig  ertcdtet  werde,  dass  eben  daher  auch  das  Gute,  welches. 


—       224       — 

etwa  die  früheren  Juden  vom  Messias  und  dessen  Person  erkannt 
hatten,  von  ihren  Nachkommen  je  länger  desto  weniger  ver- 
standen und  vielmehr  verdreht  werde,  dass  sie  durch  den  Rabbi- 
nismus  immer  weiter  auf  der  Bahn  des  Widerspruchs  gegen  das 
Christenthum  getrieben  werden,  und  dass  sie  schliesslich  über- 
haupt nicht  mehr  an  einen  Messias  glauben  würden.  Die  spätere 
Folgezeit  hat  diesen  Behauptungen  von  Heineccius  denn  auch 
nur  zu  sehr  Recht  gegeben. 

In  ähnlicher  Weise  hob  später  1 75 1  M.  Johann  Gottlieb 
Biedermann  in  Freiberg  hervor,  dass  die  fortwährende  Täuschung 
durch  falsche  Messiase  die  Juden,  wenn  sie  fortführen  bei  Jesu 
Christo  vorüberzugehen,  mit  Notwendigkeit  zu  völligem  Ver- 
zweifeln an  einem  Messias  überhaupt  führen  würde,  und  dass  in 
der  rabbinischen  Literatur  hierfür  schon  Anzeichen  genug  vor- 
handen seien.  Werde  ja  doch  der  Glaube  an  den  Messias  von 
vornehmen  Rabbinen  nicht  zu  den  Grundartikeln  des  jüdischen 
Bekenntnisses  gerechnet. 

Der  Rektor  Jo.  Christophorus  Müller  zu  Hoymb  in  Anhalt 
brachte  1702  einen  Bericht  über  die  lange  Reihe  der  falschen 
Messiase,  welche  bis  dahin  aufgestanden  waren,  und  wollte  zu- 
gleich die  Juden  bewegen,  dass  sie  Jesum  annehmen  möchten, 
auf  den  alle  von  den  Propheten  für  den  rechten  Messias  auf- 
gestellten Kennzeichen  passten.  Christ.  Philipp  von  Santen  in 
Greifswald  wünschte  aber  den  Juden  darzuthun,  dass  ihre  Vor- 
fahren die  Erhörung  ihrer  Gebete  im  Namen  des  Messias  gesucht 
hätten,  und  sich  daher  die  jetzigen  Juden,  wenn  anders  ihre  Gebete 
erhört  werden  sollten,  zu  Christo  bekehren  müssten. 

Der  königliche  Bibliothekar  la  Croze  in  Berlin  erkannte, 
dass  es  besonders  darauf  ankomme,  mit  den  Juden  persönlichen 
Verkehr  zu  pflegen,  wenn  man  auf  sie  einwirken  wolle,  und  er 
folgte  dieser  seiner  Erkenntniss.  Von  ihm  liegt  überdem  eine 
Schrift  vor,  welche  über  seine  Bemühungen,  die  Juden  durch 
mündliches  Zeugniss  zu  gewinnen,  berichtet;  sie  führt  den  Titel: 
Entretien  sur  divers  sujets  de  l'histoire  de  literature,  de  religion 
et  de  critique,  Cöln  171 1.  In  der  Form  des  Dialoges  von  Justinus 
Martyr  mit  Tryphon  erzählt  hier  la  Croze  über  ein  Gespräch 
mit  einem  spanischen  Juden  Moses  Abo  ab,  dem  zwar  im  Ver- 
kehr mit  Christen  manche  Zweifel  an  der  Richtigkeit  seiner 
eigenen  Religion  aufgestiegen  waren,  der  aber  trotz  der  Lektüre 
des  Neuen  Testamentes  sich  nicht  entschliessen  konnte  ein  Christ 


—       225       — 

zu  werden.  Endlich  habe  er  darin  Beruhigung  gefunden,  dass 
die  Juden  trotz  aller  Verfolgungen  erhalten  geblieben  seien.  Denn 
hieraus  habe  er  einsehen  gelernt,  dass  dieselben  unter  einem 
besonderen  göttlichen  Schutze  stünden,  und  Gott  also  auf  ihrer 
Seite  sei.  Zugleich  sei  ihm  aber  auch  die  Erkenntniss  aufge- 
gangen, dass  sich  die  Juden  vor  den  Christen  mancher  Vorzüge 
erfreuten,  besonders  einer  ununterbrochenen  Lehre,  der  Freiheit 
von  ailen  Glaubensspaltungen  und  trefflicher  Sitten.  La  Croze 
aber  hält  dem  Juden  entgegen,  dass  er  und  die  Seinen  sich  mit 
ihrer  Lehre  durchaus  vom  Alten  Testamente  entfernt  hätten. 
Dies  trete  besonders  in  dem  Artikel  vom  Messias  zu  Tage.  Die 
Erhaltung  ihres  Volkes  aber  sei  ein  Wunder  der  Gnade,  die  mit 
Israel  Geduld  trage,  um  es  endlich  zur  rechten  Erkenntniss  zu 
bringen.  Aehnlich  beantwortet  la  Croze  auch  die  anderen  Ein- 
würfe gegen  das  Christenthum  der  Reihe  nach.  Grosser  Ernst 
waltet  dabei  in  allen  seinen  Ausführungen. 

Sehr  heftig  griff  Jo.  Fr.  Weidler  die  Irrlehren  der  Juden 
in  einer  Universitätsdisputation,  Wittenberg  171 5,  an.  M.  J.  B. 
Niehenk  gibt  in  einer  1 7 1 7  zu  Rostock  erschienenen  Predigt  alle 
Hoffnung  für  die  Juden  auf.  Der  jüngere  van  der  Hardt,  Anton, 
in  Helmstädt  folgte  dem  Beispiele  seines  Vaters.  In  einer  Disser- 
tation De  sophismatibus  Judaeorum  in  probandis  suis  constitu- 
tionibus  contra  Mosis  et  prophetarum  mentem  1728  wies  er  an 
einem  Beispiele  aus  der  jüdischen  Rechtspflege  nach,  mit  wel- 
chem Aufwände  von  Sophistik  die  Rabbinen  das  Gesetz  und  die 
Propheten  nach  ihrem  Sinne  zu  verdrehen  verstanden  hätten,  und 
wie  es  ihnen  förmlich  zur  zweiten  Natur  geworden  sei,  ihre 
schlechte  Sache  hinter  Stellen,  die  sie  fälschlich  der  heiligen 
Schrift  entlehnt  hätten,  zu  verbergen.  Eben  derselbe  lieferte  auch 
mehrere  Abhandlungen  über  Stücke  aus  der  jüdischen  Literatur, 
z.  B.  über  die  Pirke  Aboth. 

Der  sonst  treffliche  Mag.  Christian  Mol ler,  welcher  das 
Neue  Testament  in  jüdisch-deutschem  Druck  herausgab,  forderte 
in  einer  Schrift:  Das  in  geistlicher  Blindheit  steckende  Israel, 
Frankfurt  a.  O.  1716,  dass  die  Juden  zum  Ankauf  seines  Neuen 
Testamentes  gezwungen  würden,  damit  sie  sich  selbst  durch  das 
Lesen  desselben  von  ihrer  Blindheit  überzeugen  lernten.  Der 
Prediger  und  Professor  H.  Uffelmann  in  Lüneburg  empfahl  in 
seinem  Fasciculus  casuum  conscientiae  die  Juden  mit  Gewalt 
zum  Anhören    christlicher  Predigten    und   zu  harter  Arbeit  anzu- 

F.  J.  A.  de   le   R  o  i ,   Missionsbeziehungen.  I  C 


—       226      — 

halten,  überall  aber,  wo  sie  bisher  nicht  Aufnahme  gefunden 
hätten,  ihnen  auch  solche  zu  verweigern.  Auch  M.  Joh.  Sam. 
Adam  verlangte  in  seinen  Spar-  und  Nebenstunden,  Dresden  und 
Leipzig  17 10,  obwohl  in  milderem  Geiste,  dass  man  die  Juden 
zum  Anhören  christlicher  Predigten  nöthigte. 

Viel  besser  war  der  Vorschlag  des  Juristen  Justus  Hennig 
Böhmer,  Halle  1705,  dass  man  die  Juden  anhielte,  Handwerke 
zu  erlernen  und  auszuüben,  die  sie  dann  in  eigenen  Zünften 
betreiben  sollten. 

Der  Helmstädter  Professor  Jonas  Conrad  Schramm  schrieb 
lateinische  Disputationen  über  die  philosophischen  Geheimnisse 
der  alten  Juden  (1705),  über  die  Reste  des  apostolischen  Glau- 
bensbekenntnisses im  Talmud  (1707)  und  gab  Anleitungen  zu 
Disputationen  mit  Juden  heraus  (171 8).  Die  jüdische  Lehre  und 
Theologie  stellte  der  Magdeburger  Prediger  J.  F.  Reimann  in 
seinem  „Versuch  einer  Einleitung  in  die  Historie  der  Theologie 
und  jüdischen  Theologie  insbesondere",  Leipzig  171 7,  dar.  Franz 
Buddeus  wies  in  seiner  Introductio  ad  historiam  philosophiae 
Hebraeorum,  Halle  1720,  darauf  hin,  dass  die  jüdische  Weisheit 
nicht  bei  der  Offenbarung  verblieben  sei,  sondern  eigene  Wege 
sowohl  in  der  talmudischen  Ueberlieferung  als  in  der  Mystik 
eingeschlagen  habe,  und  damit  aus  einem  Irrthume  in  den  anderen 
gerathen  sei.  Trotzdem  habe  sich  die  jüdische  Mystik  selbst 
unter  den  Christen  viele  Anhänger  zu  erwerben  gewusst. 

Joh.  Georg  Walen  in  Jena  gab  1724  eine  Geschichte  der 
Theologie  und  Einleitung  in  die  vornehmsten  Religionsstreitig- 
keiten aus  den  Vorlesungen  von  J.  Fr.  Buddeus  heraus.  Buddeus 
zeigt  hier,  dass  die  Auffassung,  welche  die  Juden  und  ihre  Literatur 
von  der  Sünde  hätten,  ihnen  einen  Heiland  überflüssig  und  daher 
auch  unverständlich  gemacht  habe.  Alle  ihre  einzelnen  Lehren 
seien  durch  eine  falsche  Grundanschauung  verdorben.  Walch 
selbst  fügt  in  Band  5  der  Streitigkeiten  ausserhalb  der  lutheri- 
schen Kirche,  Jena  1734  hinzu,  die  Christen  hätten  damit,  dass 
Juden  unter  ihnen  wohnten,  auch  die  Pflicht  an  ihrer  Bekehrung 
zu  arbeiten.  Das  Wie  solcher  Arbeit  lehre  am  besten  Callen- 
berg  in  Halle.  Die  Missionare  mögen  den  Juden  die  erste 
Anregung  geben,  dann  aber  die  Prediger  das  von  jenen  be- 
gonnene Werk  fortführen  und  die  Getauften  zu  einem  ordent- 
lichen Leben  anhalten. 


—       227       — 

Ueber  die  mystische  Theologie  der  Juden  verbreitete  sich 
auch  Mag.  Seb.  Jacob  Jugendres  1728.  P.  Justus  Martin 
Gläsener  ermahnte  die  erst  später  unter  den  Juden  aufgekom- 
mene Irrlehre  von  einem  doppelten  Messias  zu  bekämpfen,  weil 
diese  sie  ganz  besonders  an  der  Erkenntniss  Jesu  Christi  hindere. 
Hildesheim  1737.  Später  behandelte  derselbe  die  Dreieinigkeits- 
lehre in  den  cabbalistischen  Schriften  der  Juden.     Helmstädt  1741. 

Die  Hoffnung,  durch  ihre  eigene  mystische  Literatur  die 
Juden  für  das  Evangelium  zu  gewinnen,  hegten  nur  zu  viele 
Theologen  der  früheren  Zeit.  G.  Chr.  Sommer  in  Gotha  be- 
mühte sich,  in  seinem  Specimen  theologiae  Soharicae  1734  die 
ganze  christliche  Heilslehre  aus  dem  Sohar  zu  entwickeln.  Man 
nahm  hier  an,  dass  sich  Altes  und  Neues  Testament  mit  diesem 
mystischen  und  cabbalistischen  Werke  in  vollster  Uebereinstim- 
mung  befänden;  denn  man  erkannte  die  vielfachen  Widersprüche 
in  demselben  nicht  und  Hess  sich  nicht  dadurch  warnen,  dass 
thatsächlich  die  Lektüre  des  Sohar  die  jüdischen  Gemüther  stets 
fast  nur  verwirrt  hatte. 

Professor  Johann  Gottfried  Tympe  in  Jena  las  daselbst 
über  die  Gemara  des  Talmud.  Professor  G.  Waehner  in 
Göttingen  Hess  sich  weitläufig  über  das  Schriftthum  und  die 
Einrichtungen  der  Juden  in  Antiquitates  Hebraeorum  1743  aus. 
Von  Peter  Zornius  stammt  1743  eine  lateinische  Abhandlung 
über  die  Schmerzen  des  Messias  d.  h.  über  die  Plagen,  welche 
die  Erscheinung  des  Messias  über  die  Welt  bringen  wird.  Jac. 
W.  Blaufuss  stellte  die  Lehre  von  der  Seelenwanderung  unter 
den  Juden  dar.     Jena   1735  und   1744. 

Eine  hervorragende  Stelle  nimmt  unter  den  gleichartigen 
Schriften  jener  Zeit  die  deutsch  verfasste  des  D.  Gottfried 
Olearius  „Jesus  der  wahre  Messias",  Leipzig  1714,  ein.  Sie  ist 
in  vortheilhafter  Weise  durch  den  Pietismus  beeinflusst.  Im 
zweiten  Theil  Cap.  2  wird  das  Aergerniss  besprochen,  welches 
die  Juden  an  Jesu  dem  Ecksteine  nehmen.  Wiewohl  Olearius 
es  noch  nicht  genügend  verstanden  hat,  die  Juden  in  ihrer  Art 
recht  anzureden,  so  durchbricht  er  doch  in  seiner  Beweisführung 
die  gewöhnliche  Schablone;  und  nachdem  er  die  Juden  ihre 
bedeutendsten  Einwürfe  gegen  Jesum  hat  aussprechen  lassen, 
antwortet  er  ihnen  dann  mit  Zeugnissen  des  Neuen  Testamentes, 
welche  er  durch  Aussprüche  aus  ihrer  eigenen  Literatur  unterstützt. 

15* 


228      — 

Professor  D.  Paul  Anton  in  Halle  führt  als  Vorsitzender 
in  einer  Disputation  mit  Jac.  Conrad  Baldamus  1718  den  Beweis, 
dass  die  Wahrheit  der  christlichen  Religion  gerade  durch  die 
jüdischen  Verdrehungen  recht  klar  ins  Licht  gestellt  werde,  und 
will  den  Juden  selbst  zu  bedenken  geben,  dass  sie  mit  ihren 
Entstellungen  der  christlichen  Lehre  nur  ihr  schlechtes  Gewissen 
bekundeten  da  sie  den  Stachel  derselben  wohl  fühlten.  Alle 
christlichen  Lehren,  insbesondere  die  vom  Messias,  von  seiner 
Geburt  aus  einer  Jungfrau,  seine  Wunder,  seine  Auferstehung 
und  die  Existenz  der  Apostel  würden  gerade  durch  die  läster- 
lichen Berichte ,  welche  das  talmudische  Schriftthum  über  dies 
alles  enthielte,  von  den  Juden  selbst  bestätigt;  während  bei  den 
alten  Rabbinen  auch  vielfach  direkte  Beweise  für  die  christ- 
liche Lehre  zu  finden  seien.  Diese  und  ähnliche  Schriften  sind 
übrigens  auch  ein  deutlicher  Beweis  dafür,  dass  der  Pietismus 
das  talmudische  Studium  und  dessen  Verwerthung  im  Missions- 
interesse durchaus  nicht  abgethan  wissen  wollte,  sondern  dass  er 
nur  gegen  eine  bloss  gelehrte  Betreibung  desselben  war. 

Gewöhnlicher  ist  des  Weimarer  Conrektors  Laurentius 
Reinhard  „Ueberzeugender  Beweis,  dass  Jesus  von  Nazareth 
der  wahre  Messias  sei",  Altorf  1 73 1.  Doch  erkennen  wir  auch 
hier,  dass  die  Benutzung  der  jüdischen  Literatur  für  einen  jeden 
Theologen,  welcher  den  Juden  irgend  welches  Interesse  schenkte, 
damals  noch  selbstverständlich  war.  Grössere  Beachtung  verdient 
die  „Religionsprüfung"  des  Stiftspredigers  Christian  August  Han- 
sen in  Dresden  1724.  Derselbe  dringt  darauf,  dass  man  sich 
zu  wirklicher  Arbeit  an  den  Juden  aufraffe  und  dieselben  nicht 
länger  ihre  eigenen  Wege  gehen  lasse. 

Durch  eine  Arbeit  über  die  Messiaslehre  des  Alten  Testa- 
mentes wollte  D.  Franz  Lütkens,  1724  Leipzig  und  Gardelegen, 
eine  Anleitung  geben,  wie  man  die  Juden  zur  Anerkennung 
Christi  führen  solle.  Eine  Reihe  hervorragend  tüchtiger  Schriften 
lieferte  Christian  Schöttgen,  früher  in  Stargard,  dann  an  der 
Kreuzschule  in  Dresden.  Zuerst  erschien  von  ihm  1719  ein 
Curiöses  Antiquitäten-Lexikon,  Erklärung  von  Wörtern  aus  dem 
Jüdischen  u.  s.  w.  Leipzig.  Sodann  Jüdisches  Zeugniss  von  der 
Wahrheit  des  allbereits  gekommenen  Messias,  Stargard  1726, 
eine  Uebersetzung  des  talmudischen  Traktates  Chelek.  Ferner 
Jüdisches  Zeugniss  von  den  Leibern  der  Heiligen,  die  mit  dem 
Messias  auferstanden  sind,   1736.     Weiter  gab  er  im  Jahre   1742 


—       229       — 

eine  Wochenschrift  „Der  Rabbiner"  heraus,  welche  den  Zweck 
verfolgte,  eine  wirkliche  Kenntniss  der  Juden  unter  den  Christen 
zu  verbreiten,  damit  man  aufhören  möge,  nur  ein  völlig  einseitiges 
Bild  von  denselben  zu  haben.  Ihre  Weisheit  verdiene  es  bekannt 
zu  werden,  und  solle  eben  desshalb  der  Christenheit  einmal  durch 
das  Mittel  einer  solchen  Zeitschrift  entgegengebracht  werden. 
Schöttgen  stellte  darum  ausführlich  in  32  Blättern  die  Lehre 
vom  Messias  nach  den  ältesten  jüdischen  Schriften  dar,  ebenso 
aber  auch  die  Lehre  vom  heiligen  Geiste  und  noch  einige  andere 
Punkte.  Doch  setzte  er  diese  Wochenschrift  nicht  fort  und  liess 
vielmehr  später,  alles  im  „Rabbiner"  Enthaltene  vervollständigend, 
ein  grösseres  und  wichtiges  Werk,  das  den  Titel  „Jesus  der 
wahre  Messias  aus  der  alten  und  rein  jüdischen  Theologie 
darstellt",  Leipzig  1748  erscheinen;  vorausgeschickt  ist  eine 
Geschichte  der  jüdischen  Orthodoxie  in  der  Vorrede. 

In  diesem  Werke  wird  besonders  die  Messiaslehre  der 
Targumim  mit  grossem  Fleisse  entwickelt  und  hierbei  auf  die 
Uebereinstimmung  derselben  mit  der  Lehre  der  christlichen  Kirche 
vom  Messias  hingewiesen.  Schöttgen  sieht  aber  freilich  diese 
Uebereinstimmung  als  eine  zu  vollkommene  an,  indem  auch  er, 
wie  viele  andere  vor  ihm,  dort  schon  völlige  Klarheit  erblickt, 
wo  in  Wahrheit  die  Vorstellungen  noch  nicht  zu  irgend  welcher 
fest  abgeschlossenen  Gestalt  gekommen  sind.  Im  Uebrigen 
gehört  Schöttgen  zu  den  bedeutendsten  Kennern  der  gesammten 
jüdischen  Literatur.  Sein  Urtheil  ist  überall  ein  sehr  gemässigtes; 
im  Talmud  weiss  er  Gutes  und  Schlechtes  wohl  von  einander  zu 
unterscheiden  und  ebenso  hat  er  für  den  allmähligen  Rückgang 
in  der  Erkenntniss  des  Wahren  und  für  die  Ueberwucherung  des 
Ungesunden  in  d  er  jüdischen  Literatur  ein  offenes  Auge.  Gründlicher 
ist  jedesfalls  die  jüdische  Messiaslehre  von  keinem  früheren  behandelt 
worden.  1750  kamen  von  ihm  noch  Predigten  der  alten  jüdischen 
Kirche  und  Gedanken  über  das  Lied  „Ein  Lämmlein  geht"  heraus. 

Recht  unbedeutend  dagegen  ist  Causa  dei  et  revelatae  reli- 
gionis  von  Professor  Joachim  Lange  in  Halle  1727.  Die  An- 
weisungen, welche  derselbe  gibt,  um  die  Messiaslehre  mit  den 
Juden  recht  zu  treiben,  sind  nach  allen  Seiten  mangelhafte. 

Auf  die  Targumim  wollte  Professor  Heinrich  Michaelis 
in  Halle  die  Juden  besonders  hingewiesen  und  aus  denselben 
zumal  die  Lehre  vom  Worte  Gottes,  der  Memra  ihnen  gegen- 
über verwerthet  sehen.     Eine  Kette  der  Weissagungen  und  Vor- 


—     230     — 

bilder  des  Alten  Testamentes  lieferte  auch  zum  Gebrauche  für 
die  Juden  Professor  Oporin  in  Göttingen,   1746. 

Professor  Jo.  Laurent.  Mos  he  im  in  Helmstädt  hat  das  Ur- 
theil  der  Zeitgenossen  über  die  jüdische  Literatur  in  sehr  ver- 
ständiger Weise  zu  bilden  übernommen.  1728  disputirte  unter 
seinem  Präsidium  der  junge  A.  von  der  Hardt  über  das 
Thema:  De  Judaeorum  statuto  Scripturae  sensum  inflectendi,  über 
die  Gewohnheit  der  Juden  den  Schriftsinn  zu  beugen.  Seine  Bei- 
spiele entnahm  er  den  Pirke  Aboth.  Er  zeigt  hier,  wie  sich  der 
eigentliche  Sinn  des  Alten  Testamentes  in  den  Vorstellungen  der 
Juden  im  fortschreitenden  Maasse  verändert  habe,  und  wie  dies 
ihren  Lehrern  dadurch  gelungen  sei,  dass  sie  den  Namen  des 
Moses  für  ihre  Bestimmungen  festgehalten  hätten,  so  dass  die  Auto- 
rität desselben  ihre  Verdrehungen  des  alten  Gesetzes  habe  decken 
müssen.  Eben  daher  sollen  auch  christliche  Schriftausleger  den 
Sinn  des  Moses  aus  den  jüdischen  Commentaren  nicht  zu  ge- 
winnen suchen  und  überhaupt  die  jüdischen  Schriften  mit  grosser 
Vorsicht  gebrauchen.  Nur  wenn  man  ein  Verständniss  für  die 
eigentliche  Geistesrichtung  der  Juden  gewonnen  habe,  werde  man 
recht  an  das  Werk  gehen,  sie  zur  Erkenntniss  der  Wahrheit 
zu  führen. 

Sam.  Fr.  Buch  er  warnte  in  seinen  Antiquitates  biblicae, 
Wittenberg  1729,  noch  besonders  davor,  die  Worte  Christi  in  den 
Evangelien  aus  dem  Talmud  herzuleiten,  und  dass  man  überhaupt 
nicht  der  Neigung  nachgeben  möge,  die  Evangelien  gewisser- 
maassen  aus  den  Schriften  der  alten  Rabbinen  herzuleiten. 

Prälat  Fr.  Opfer  gelt  kam  auch  nach  fieissigem  Studium 
der  jüdischen  Literatur  zu  dem  Ergebniss,  welches  er  in  der 
Schrift:  „Aufrichtige  Nachricht  von  jüdischen  Lehrern"  nieder- 
legte, Halle  1730,  dass  man  ihre  Erzeugnisse  nicht  überschätzen 
dürfe ;  besonders  zum  Verständniss  der  Bibel  trügen  sie .  ausser- 
ordentlich wenig  bei.  Gut  sei  es,  wenn  man,  um  bei  den  Juden 
selbst  etwas  auszurichten ,  ihre  Werke  studire ;  aber  auch  ohne 
dies  könne  man,  wenn  man  es  nur  im  rechten  Geiste  anfange, 
an  ihnen  Gutes  wirken.  Das  Beste  sei  es  immer,  sich  an  ihr 
Gewissen  zu  wenden ,  da  Disputationen  über  Schriftstellen  oft 
wenig  ausrichteten,  weil  sie  sich  diese  alle  zu  verdrehen  gewöhnt 
hätten.  Und  hierbei  möge  man  sie  an  die  Bekenntnisse,  welche 
sie  selbst  in  ihren  Gebeten  über  ihren  verderbten  Zustand  aus- 
zusprechen und  abzulegen  pflegten,    erinnern,    um   es   ihnen   von 


—     231     — 

da  aus  zu  Gemüthe  zu  führen  und  nachzuweisen,  wie  wohl  die 
christliche  Lehre  mit  der  des  Alten  Testamentes  übereinstimme. 
H.  Stuss  wies  in  einer  Schrift:  De  consensu  theologiae 
Judaicae  et  Pontifkiae,  Gotha  1730,  auf  die  Verwandtschaft  der 
rabbinischen  und  römisch-katholischen  Anschauungen  hin  und 
wünschte,  dass  man  von  diesem  Punkte  aus  den  Kampf  gegen 
die  Juden  neu  führen  lerne.  In  ähnlicher  Weise  äusserte  sich  der 
Lübecker  Prediger  Nicol.  Carsten  in  seinem  Parallelismus  cum 
religione  Judaica  Vetere  Testamento  a  vate  Iesaia  c.  1  delineata 
et  Romanensi,   1745. 

Ph.  H.  Willemer,  Pfarrer  zu  Gellnhausen,  übersetzte  35 
Gebete  für  jüdische  Frauen  aus  dem  Hebräischen  und  Jüdisch- 
Deutschen  ins  Hochdeutsche,  1734,  mit  Vorrede  von  D.  J.  Ram- 
bach, Leipzig  und  Schweidnitz,  um  zu  zeigen,  eine  wie  bunte 
Mischung  von  echt  Biblischem  und  Verkehrtem  hier  zusammen- 
gehe, und  so  die  Zustände  unter  den  Juden  zu  kennzeichnen. 

Man  sieht,  es  hat  die  Zeit  des  Pietismus,  wenngleich  der  Eifer 
für  die  talmudischen  und  rabbinischen  Studien  in  der  ersten  Hälfte 
des  Jahrhunderts  noch  ein  recht  lebendiger  war,  viele  von  denen, 
welche  sich  mit  dieser  Literatur  beschäftigten,  doch  zu  einem 
nüchternen  Urtheil  über  den  Werth  derselben  kommen  lassen. 

Den  vollständigsten  Ueberblick  über  die  bisherige  Verwer- 
thung  der  talmudischen  und  rabbinischen  Literatur  von  Seiten 
der  evangelischen  Theologen  gab  J.  G.  Meuschen,  Consistorial- 
rath  und  Prediger  zu  Coburg,  in  der  Schrift:  Novum  Testamentum 
ex  Talmude  et  antiquitatibus  Hebraeorum  illustratum,  Leipzig 
1731.  Er  hat  hierselbst  besonders  Balth.  Scheidius,  J.  A.  Dantz 
und  Jac.  Rhenferd  benutzt.  Wer  sich  über  die  Ausdehnung 
und  Richtung,  in  welcher  jene  Studien  innerhalb  der  römischen 
wie  der  lutherischen  und  reformirten  Kirche  betrieben  worden  sind, 
in  Kenntniss  setzen  will,  erhält  bei  Meuschen  die  beste  Auskunft. 
Joh.  Christoph  Bodenschatz  hinwiederum  bietet  in  seiner 
„Kirchlichen  Verfassung  der  heutigen  Juden  Deutschlands"  4 
Theile,  Frankfurt  und  Leipzig  1748,  unter  allen  Schriften  bis  zu 
seiner  Zeit  den  brauchbarsten  Ueberblick  über  die  Geschichte 
der  Juden,  ihre  gottesdienstliche  und  ihre  religionsgemeindliche 
Verfassung,  ihre  Gebräuche  und  ihren  Glauben.  Der  Verfasser 
hatte,  um  sein  Werk  zu  schreiben,  die  jüdische  Literatur  sehr 
fleissig  gelesen  und  auch  mit  den  Juden  vielen  Umgang  gehabt. 
„Der  aufrichtige,    deutsch  redende  Hebräer",  Frankfurt   1756,  ist 


—       232       — 

dasselbe  Werk,  vom  Buchhändler  nur  aus  Speculationszwecken 
unter  einem  neuen  Titel  herausgegeben.  Zur  Kenntniss  der  Juden 
hat  die  Schrift  von  Bodenschatz  viel  beigetragen. 

Durch  regen  Eifer  für  das  Werk  der  Bekehrung  der  Juden 
zeichneten  sich  in  dieser  Zeit  fast  vor  allen  anderen  die  Fränki- 
schen Lande  aus,  in  welchen  die  Universität  Altorf  demselben 
noch  fortwährend  neue  Nahrung  gab. 

Zu  den  hervorragendsten  Israelsfreunden  im  Anfange  des 
iS.  Jahrhunderts  gehörte  in  diesen  Gegenden  D.  Gustav  Georg 
Zeltner.*)  Derselbe  war  zuerst  Professor  in  Altorf,  seit  1730 
Pastor  in  Poppenreuth  und  starb  1738;  einen  Ruf  an  die  Univerr 
sität  Göttingen  hatte  er  abgelehnt.  Er  ist  einer  von  denjenigen 
Theologen,  welche  ihrer  Zeit  Esdras  Edzard  in  Hamburg  auf- 
gesucht hatten,  um  durch  ihn  Anleitungen  für  die  rabbinischen 
Studien  zu  erhalten  und  von  ihm  zu  lernen,  wie  man  mit  den 
Juden  verkehren  müsse,  um  sie  zur  Erkenntniss  Christi  zu  führen. 
Denn  um  eine  blosse  Mehrung  seines  Wissens  ist  es  ihm  aller- 
dings nie  zu  thun  gewesen.  Desshalb  pflegte  er  denn  auch  Ver- 
kehr mit  Juden;  und  gerade  aus  der  lebendigen,  persönlichen 
Bekanntschaft,  welche  er  mit  denselben  gemacht  hatte,  stammten 
auch  die  Vorschläge,  die  er  hernach  zu  ihrem  Besten  that. 

Als  Docent  in  Altorf  führte  er  viele  Studirende  in  die  rab- 
binische  Literatur  ein,  wie  dies  eine  Reihe  von  Dissertationen, 
die  unter  seinem  Präsidium  gehalten  worden  sind,  beweisen.  Aus 
derselben  Zeit  besitzen  wir  eine  Abhandlung  Zeltners  über 
Birchath  Haminim,  das  im  jüdischen  Gebetbuche  enthaltene  alte 
Gebet  gegen  die  Ketzer.  Dass  es,  wie  vielfach  angenommen  wird, 
von  Paulus  in  seiner  pharisäischen  Zeit  verfasst  worden  sei,  be- 
streitet er,  gibt  aber  zu,  dass  es  aus  sehr  früher  Zeit  stamme. 
Der  eigentliche  Zweck  seiner  Abhandlung  aber  war  gewesen,  die 
Obrigkeit  zu  veranlassen,  dass  dieses  Gebet  nicht  weiter  von  den  Juden 
öffentlich  gebetet  würde,  weil  es  nurHass  gegen  die  Christen  erzeuge. 

1735  richtete  er  als  Pastor  in  Poppenreuth  einen  lateinischen 
Brief  an  den  Prediger  S.  H.  Engerer  in  Schwabach:  De  prae- 
cipuis  impedimentis  et  adjumentis  conversionis  Judaeorum,  Frank- 
furt und  Leipzig.  Hier  will  er  also  die  Hindernisse  und  Beförde- 
rungsmittel für  die  Bekehrung  der  Juden  nennen.  Aber  mit 
welchem  Ernst  behandelt  er  nun  die  Sache !     Seine  Ausführungen 


*)  Saat,  Johanni   1867   S.  43  ff. 


-     233     — 

sind  die  folgenden:  Die  Juden  schaffen  wenig  Nutzen  unter  den 
Christen;  um  so  mehr  sollten  die  Christen  sich  fragen,  warum 
jene  eigentlich  in  ihrer  Mitte  lebten?  Gott  hat  sie  unter  den 
Christen  wohnen  heissen,  damit  dieselben  an  ihrem  Heile  arbeiten, 
das  sie  ja  selbst  zuerst  aus  den  Händen  der  Juden  empfangen 
haben.  Freilich  ihre  Bekehrung  ist  schwer.  Schon  Moses  hat 
ihre  Verstockung  vorausgesagt.  Diese  wurzelt  aber  vor  allem 
in  ihrer  ungemeinen  Selbstüberschätzung,  welche  sie  ihr  Volk 
und  ihre  Vorfahren  als  alle  anderen  Menschen  weit  überragend 
ansehen  lassen.  Auf  die  übrigen  Völker  sehen  sie  tief  herab, 
dieselben  sind  in  ihren  Augen  nur  Götzendiener.  Wenn  daher 
ein  Jude  zum  Uebertritt  neigt,  sucht  man  ihn  entweder  durch 
irdische  Vortheile  zurückzuhalten,  oder  ihn,  falls  er  sich  nicht 
zurückhalten  lässt,  ins  Elend  zu  stürzen.  Das  schreckt  viele  Juden 
ab,  Christen  zu  werden. 

Ueberdem  leben  die  Juden  meist  in  der  grössten  Unkenntniss 
des  Christenthums.  Sie  sprechen  nicht  die  Sprachen  der  christ- 
lichen Völker  und  lesen  desshalb  auch  ihre  Schriften  nicht.  Dazu 
wird  ihre  eigene  heilige  Schrift  von  ihnen  vernachlässigt,  oder 
alles  in  derselben  nur  auf  eine  äussere  Glückseligkeit  der  Juden 
gedeutet.  Die  rabbinischen  Auslegungen  lassen  sie  nicht  zu  einem 
Verständnisse  der  Schrift  kommen.  Viele  Juden  werden  auch 
durch  den  Einfluss  ihrer  Frauen  vom  Besseren  zurückgehalten. 

Aber  auch  die  Christen  tragen  viele  Schuld  daran,  dass 
sich  so  wenige  Juden  zum  Evangelio  bekehren  wollen.  Das  Leben 
vieler  Christen  und  besonders  in  der  katholischen  Kirche  schreckt 
sie  ab.  Ueberdem  kennt  man  in  der  christlichen  Welt  für  ge- 
wöhnlich das  Judenthum  nicht.  Man  hält  die  Jugend  auf  den  Uni- 
versitäten nicht  an,  sich  in  der  Disputation  mit  den  Juden  zu 
üben,  die  Hochschulen  haben  zu  wenig  antijüdische  Vorlesungen. 
Zeller  fordert  nämlich  nicht  bloss  Vorlesungen  über  jüdische 
Literatur,  welche  ja  damals  ziemlich  häufig  waren,  sondern  auch 
Anleitungen  für  eine  spätere  Missionsthätigkeit  der  Theologen 
unter  den  Juden  ihrer  Umgebung. 

Neben  diesem  Mangel  beklagt  er  es,  dass  man  aber  auch 
überhaupt  die  Juden  gar  zu  sehr  vernachlässige.  Man  lässt  sie  im 
Schacher  verkommen  und  befördert  dadurch,  dass  man  sie  nicht 
zum  Handwerk  anhält,  die  Trägheit  unter  ihnen,  welche  besonders 
das  weibliche  Geschlecht  der  Juden  herunterbringt.  Uebermässige 
Freiheit  soll  man  ihnen  desshalb  noch  nicht  einräumen,  denn  die- 


—     234     — 

selbe  schadet  ihnen  nur.  Auch  soll  man  sie  nicht  schreiben 
lassen,  was  sie  wollen,  sondern  auf  diesem  Gebiete  ihnen  gleich- 
falls Schranken  ziehen,  um  so  sorgfältiger  aber  alle  Misshand- 
lung, Gewalt  und  Ungerechtigkeit  ihnen  gegenüber  vermeiden 
und  z.  B.  die  falsche  Blutanklage  endlich  fallen  lassen. 

Den  Predigern  und  insbesondere  auch  den  Hofpredigern 
liegt  es  ob,  die  Obrigkeit  und  die  Christen  an  ihre  heiligen 
Pflichten  gegen  die  Juden  zu  erinnern.  Leider  betet  man  für  sie 
nur  selten  öffentlich,  und  dies  muss  nun  vor  allem  allgemein 
geschehen.  Schon  171 8,  fügt  Zeller  ferner  hinzu,  habe  er  in 
Altorf  gefordert,  dass  wandernde  Theologen  (theologi  circuitores) 
ausgesandt  würden,  um  in  ähnlicher  Weise,  wie  es  nun  durch 
Callenberg  ins  Werk  gesetzt  worden  sei,  mit  den  Juden  zu  sprechen. 
Für  dieses  Werk  sollte  man  daher  Collecten  in  den  Kirchen  ver- 
anstalten, und  auch  die  Kirchkassen  sollten  für  dasselbe  beisteuern. 

Ferner  soll  man  Schriften  unter  den  Juden  verbreiten  und 
diese  in  jüdisch -deutscher  Sprache  abfassen.  Die  Kinder  der 
Juden  soll  man  auch  in  den  Wissenschaften,  aber  in  eigenen 
jüdischen  Schulen  unterrichten. 

Zum  Anhören  von  Predigten  soll  man  Juden  nicht  zwingen, 
wohl  aber  soll  man  Zusammenkünfte  unter  öffentlicher  Aufsicht 
veranstalten,  um  hierbei  die  religiösen  Fragen  mit  ihnen  zu  ver- 
handeln. Auf  die  christlich  klingenden  Zeugnisse  in  ihren  eigenen 
Schriften  geben  sie  selbst  nicht  viel,  da  dieselben  überall  auch 
mit  ganz  anders  lautenden  durchsetzt  und  vermischt  sind.  Nur 
nebenbei  darf  man  auf  dieselben  zurückkommen,  in  der  Haupt- 
sache muss  man  sich  auf  die  Schrift  berufen.  Cabbala  und  Sohar 
sollen  ganz  bei  Seite  gelassen  werden. 

Von  den  Capiteln  des  Glaubens  dürfen  im  Gespräche  nicht 
die  entlegeneren  in  den  Vordergrund  gestellt  werden,  insbesondere 
nicht  die  endliche  allgemeine  Judenbekehrung,  aber  auch  nicht 
die  Wunder  Christi,  sondern  die  Person  desselben,  und  dass  in 
ihm  derjenige  erschienen  ist,  von  welchem  die  Weissagungen 
gehandelt  haben.  Alles  andere  folgt  hieraus  von  selbst.  Für  die 
Disputation  gibt  es  übrigens  keine  allgemeinen  Regeln.  Die  Schriften 
der  bekehrten  Juden  sind  mit  Vorsicht  zu  gebrauchen. 

Die  Proselyten  soll  man  nicht  handeln  lassen,  sondern  sie 
an  ein  Handwerk  zu  gewöhnen  suchen,  und  man  taufe  Keinen, 
der  nicht  versprochen  hat,  einen  gewissen  Lebensberuf  zu  ergreifen. 
Studiren  mag  man  einige  Begabte  lassen,  sei  aber  hier  sehr  vor- 


—     235     — 

sichtig  in  der  Auswahl.  Ehe  sich  die  Proselyten  in  einem  be- 
stimmten Lebensberufe  ihr  Brot  erwerben  können,  erhalte  man  sie 
zunächst  in  Ansalten,  welche  sie  für  die  Zukunft  vorzubereiten  hätten. 

Zellers  Stimme  wurde  damals  von  vielen  beachtet  und  in 
seiner  eigenen  Heimath  hatte  er  grossen  Einfiuss.  Hier  gehörten 
die  beiden  Brüder  Adam  Andreas  Cnoll  und  Johann  Nicolaus 
Cnoll  in  Fürth  zu  den  grössten  Kennern  des  Talmudischen.  Seit 
1710  etwa  besprachen  dieselben  die  gesammte  neuere  Literatur 
dieser  Art  fortlaufend  in  den  damaligen  gelehrten  Zeitschriften 
und  haben  grosse  Stücke  der  Gemara  theils  lateinisch  mit  An- 
merkungen von  Raschi,  theils  deutsch  übersetzt.  Beide  verkehrten 
sehr  viel  mit  Rabbinen  und  jüdischen  Studenten.  Doch  traten  sie 
lebhaft  gegen  die  grosse  richterliche  Gewalt  der  Rabbinen  über 
die  Ihrigen  auf,  weil  sie  beständig  sahen,  dass  viele  Juden  aus 
Furcht  vor  denselben  es  gar  nicht  einmal  wagten,  ein  christliches 
Zeugniss  auch  nur  anzuhören. 

Diakonus  Engerer  in  derselben  Gegend,  nämlich  in  Schwa- 
bach, der  selbst  mehrere  Juden  getauft  hat,  richtete  1732  „Eine 
bewegliche  und  liebreiche  Ansprache  an  die  sämmtlichc  Juden- 
schaft mit  einer  Antwort  auf  Einwürfe  und  Aergernisse".  Hier 
sucht  er  alle  Punkte  auf,  die  Juden  und  Christen  mit  einander 
gemein  haben  und  führt  ihnen  dann  zu  Gemüthe,  wie  Christus 
so  völlig  den  Anforderungen  des  Alten  Testamentes  entspreche. 
Nachdem  er  hierauf  die  gewöhnlichen  Einwürfe  gegen  das 
Christenthum  widerlegt  hat,  hält  er  den  Juden  vor,  wie  trostlos 
ihre  heutige  Religion  sei  und  weist  sie  nun  auf  den  wahren  Trost 
hin    den  er  sie  aufs  herzlichste  sich  anzueignen  bittet. 

Engerer  gehörte  zu  den  treusten  Missionsfreunden  jener 
Zeit.  Er  stand  mit  Zeltner  und  Callenberg  in  lebhafter  Ver- 
bindung, verkehrte  mit  Juden  und  Proselyten  viel  und  hat  letztere 
treulich  unterstützt.  Er  gab  auch  die  von  Chris tf eis  verfassten 
Gespräche  im  Reiche  der  Todten  über  die  Bibel  und  den  Talmud 
heraus  und  bewies  bei  dieser  Gelegenheit  zugleich,  dass  er  mit 
der  rabbinischen  Literatur  wohl  bekannt  war. 

In  Schwabach  wirkte  auch  der  französische  evangelische 
Prediger  Barratier,  der  seinen  Sohn,  J.  P.  Barratier,  von  früh 
auf  nicht  bloss  im  Griechischen  und  Hebräischen,  sondern  auch 
im  Rabbinischen  unterrichtete.  Der  übrigens  sehr  jung  (1740) 
an  der  Schwindsucht  verstorbene  Sohn  übersetzte  des  Bejamin 
von  Tudela  Reisen  aus  dem  Hebräischen  ins  Französische,  ver- 


—     236     — 

besserte  die  lateinische  Uebersetzung  von  Lempereur,  mannig- 
fache Irrthümer  von  Bas  nage  und  die  Irrthümer  anderer  über 
jüdische  Sachen.  An  dem  jüdischen  Reisenden  Benjamin  von 
Tudela  selbst  übte  er  und  mit  Recht  eine  sehr  scharfe  Kritik. 
Das  Interesse  an  B.  v.  Tudelas  Schrift  aber  war  bei  Barratier 
ein  Missionsinteresse.  Jener  hatte  beweisen  wollen,  dass  die  Juden 
noch  nicht  das  Scepter  verloren  hätten,  sondern  noch  an  vielen 
Orten  herrschten.  Dies  widerlegte  nun  der  jüngere  Barratier, 
um  ihnen  den  falschen  Trost,  welchen  ihr  Glaubensgenosse 
vielen  von  ihnen  dargeboten  hatte,  zu  nehmen. 

Der  Universität  Altorf  wird  man  jedesfalls  das  Verdienst 
zusprechen  müssen,  dass  sie  Jahrzehnte  hindurch  ununterbrochen 
eine  Stätte  war,  an  der  die  Judenfrage  mit  wirklichem  Ernste 
behandelt  worden  ist. 

Das  Interesse  an  den  Juden  erlosch  auch  nach  Zeltners 
Tode  nicht  sogleich.  Johann  Andreas  Michael  Nagel  z.  B.  liess 
seit  1740  hierselbst  mehrere  in  das  jüdische  Fach  einschlagende 
Schriften  erscheinen. 

Aus  dem  Hohenlohischen  stammt  Joh.  Chr.  Wibel.  Schon 
auf  dem  Gymnasium  war  er  von  seinen  Lehrern  für  das  Studium 
des  Hebräischen  lebhaft  angeregt  worden.  Später  als  Pfarrer  zu 
Wilhelmsdorf  trat  er  in  regen  Verkehr  mit  dem  trefflichen  Pro- 
selyten  Kammerrath  Christfels,  welcher  bei  vielen  Christen  ein 
Interesse  an  der  Mission  wachgerufen  hatte.  Von  Wibel  stammt 
auch  eine  vortreffliche  Schrift:  „Ueber  die  Pflicht  evangelischer 
Lehrer  für  das  Heil  der  Juden  zu  sorgen"  1742.  In  seinen 
Forderungen  und  Vorschlägen  stimmt  er  vollständig  mit  Zeltner 
überein.  Achtsamkeit  der  Christen  auf  sich  selbst,  damit  sie  den 
Juden  kein  Aergerniss  geben,  fleissige  Fürbitte,  Vertheilung  guter 
Schriften,  Einführung  einer  freiwilligen  Steuer  für  Proselyten, 
mündlichen  Verkehr  mit  Juden  und  Unterstützung  des  Callen- 
berg'schen  Instituts  fordert  der  Verfasser,  der  übrigens  auch  in 
der  rabbinischen  Literatur  recht  zu  Hause  ist,  in  eben  so  drin- 
gender als  herzlicher  Weise.  Später  hat  derselbe  auch  eine 
ganze  Reihe  von  Schriften,  die  jüdische  Literatur  betreffend, 
geschrieben.  Als  Consistorialrath  zu  Onolzbach  hat  er  in  gleicher 
Art  gewirkt  und  auch  auf  Rabe,  den  Uebersetzer  der  Mischnah, 
Einfluss  geübt.  Die  rabbinischen  Studien  fanden  denn  auch  in  diesen 
Gegenden  noch  dann  eine  Pflegstätte,  als  sonst  das  Interesse  an 


237     — 

denselben  überall  erkaltete.  Hierüber  klagen  bereits  bitter  die 
beiden  Meintel. 

Johann  Georg  Meinte!  war  Rektor  in  Schwabach;  dessen 
Sohn,  Conrad  Stephan,  lieferte  schon  mit  13  Jahren  eine  latei- 
nische Uebersetzung  des  Psalmencommentars  von  H.  J.  van  Bas- 
huysen  bis  zum  41.  Psalm,  während  der  Vater  die  übrigen  über- 
setzte  1744. 

Mündlicher  Verkehr  und  Gespräche  mit  Juden  veranlassten 
zuerst  Professor  Kolshorn  in  Frankfurt  a.  O.  die  Schrift:  „Gründ- 
liche Vernunft-  und  Schrifterklärung  über  das  tiefere  Geheimniss 
der  Schrift  und  die  Erlösung  aus  Altem  und  Neuem  Testamente" 
zu  verfassen,  Frankfurt  und  Leipzig  1745.  Kolshorn  hatte  schon 
früher  eine  Schrift :  „Von  der  Erlösung  von  der  Sünde"  den  Juden 
gewidmet  und  hörte  nun  von  den  Aeltesten  der  Berliner  Juden- 
schaft, dass  man  nicht  verstünde,  was  Erlösung  von  der  Sünde 
heisse,  so  dass  man  ihn  bitte,  hierüber  zu  schreiben.  Ein  anderer 
Jude  hatte  ihn  aufgefordert  zu  beweisen,  dass  Jeschuah  im  Alten 
Testamente  mit  Jesus  zu  übersetzen  sei,  da  dieses  Wort  doch 
nur  Hilfe  und  Heil  bedeute.  Diesen  Aufforderungen  habe  er 
nachkommen  müssen. 

Kolshorn  behandelt  dann  seinen  Gegenstand  in  der  recht 
ungeschickten  Form  einer  langen  Predigt,  welche  den  Beweis  für 
die  geistige  Natur  der  Erlösung  und  der  Person  des  Erlösers  aus 
dem  Alten  Testamente  zu  führen  sucht,  und  fordert  dann  die 
Juden  auf,  in  der  Schrift  zu  forschen ,  so  würden  sie  dies  alles 
bestätigt  finden  und  Jesum  als  ihren  Erlöser  ergreifen  lernen. 

Dass  sich  ein  Jurist,  denn  das  war  Kolshorn,  in  dieser  Weise 
um  die  Juden  bemühte  und  dass  er  so  ernstlich  biblische  Studien 
trieb,  verdient  alle  Anerkennung,  aber  der  von  ihm  übernom- 
menen Aufgabe  war  er  nicht  recht  gewachsen. 

An  der  Leipziger  Universität  ermunterte  Professor  Kiss- 
ling  die  Studirenden,  ihre  Sorge  den  Juden  zuzuwenden.  Zwei 
unter  ihm  gehaltene  Dissertationen  von  J.  C.  T.  Steinmüller  1746 
und  G.  Becker  1748  legen  hiervon  ein  schönes  Zeugniss  ab. 
Die  erste  De  Judaeis  ad  zelotypiam  salutarem  provocatis  hebt 
hervor,  dass  man  die  Hoffnung  für  die  Juden  nicht  aufgeben 
dürfe,  denn  sie  hätten  und  benützten  auch  das  Alte  Testament. 
Die  Erfüllung  so  vieler  Weissagungen  müsse  ihnen  endlich  die 
Augen  öffnen,  ebenso  aber  das  Elend  ihrer  Verbannung;  und  in 
der  Gegenwart  würden  sie  nun  auch  durch  Christen   direkt   auf- 


—     238     — 

gefordert,  zum  Heile  zu  kommen.  Eben  desshalb  dürfe  man  sie 
auch  ohne  Bedenken  unter  Christen  wohnen  lassen.  Damit  sich 
aber  die  Juden  recht  zum  Heile  gereizt  fühlen  möchten,  müssten 
nun  auch  die  Christen  ihnen  mit  christlichem  Wandel  vorangehen, 
ihnen  Barmherzigkeit  und  freundlichen  Sinn  zeigen  und  mit  dem 
ernsten  Streben,  unter  sich  selbst  einiger  zu  werden,  es  sich  an- 
gelegen sein  lassen,  für  das  Heil  der  Juden  treuer  zu  beten. 

Die  andere  Abhandlung  De  Judaeo  extorri  veritatis  contra 
semetipsum  teste  nennt  unter  Zugrundelegung  von  5  Mos.  28, 64.  65 
die  Juden  nach  allen  Beziehungen  das  merkwürdigste  Volk  der 
Erde  und  verweist  auf  die  wörtliche  Erfüllung  dessen,  was  jene 
Schriftstellen  von  ihnen  verkündigt  haben.  Der  Christen  Sache 
sei  es  nun  aber,  die  Juden  von  ihrem  Irrthum  zu  überführen  und 
sie  anzuleiten,  dass  sie  darüber  nachdächten,  aus  welchem  Grunde 
Gott  sie  so  hart  und  so  lange  strafe,  und  wie  er  sie  dadurch 
reizen  wolle,  das  Heil  in  Christo  anzunehmen. 

In  ähnlichem  Sinne  schrieb  D.  Nie.  Nonnen  zu  Bremen 
1748:  De  tentata  hactenus  frustra  a  Judaeis  Status  eultusque  sui 
restitutione.  Vergeblich  hätten  es  die  Juden  bisher  versucht, 
ihre  Selbständigkeit  wieder  zu  erwerben,  alle  falschen  Messiase 
insbesondere  hätten  sie  am  wenigsten  zum  Ziele  geführt.  Die 
Rückkehr  nach  Canaan  sei  ihnen  nicht  gelungen,  aber  ebenso- 
wenig hätten  sie  bisher  irgendwo  festen  Fuss  fassen  können. 
Gott  habe  ihnen  einmal  mit  der  Vertreibung  aus  ihrem  Lande 
Canaan  zeigen  wollen,  dass  sie  sich  selbst  das  Gericht  aufgeladen 
hätten,  anderseits  aber  auch,  dass  die  alttestamentliche  Ordnung, 
welche  an  dieses  Land  gebunden  sei,  ein  Ende  haben  solle.  Die 
Christen  dagegen  sollten  bedenken,  dass  die  Juden  unter  sie  geführt 
worden  wären,  damit  diese  durch  sie  für  ihre  Bekehrung  zubereitet 
würden.  Die  Weissagung  aber  lasse  ihre  Bekehrung  als  sicher 
erhoffen,  und  mit  derselben  Hand  in  Hand  gehend  ihre  Rückkehr, 
die  dann  eine  Zeit  voll  geistlicher  und  leiblicher  Wohlthaten 
herbeiführen  werde. 

Die  Zukunft  Israels  beschäftigte  überhaupt,  seitdem  sich 
Spener  so  warm  zu  der  Hoffnung,  welche  die  heilige  Schrift 
für  das  jüdische  Volk  ausspricht,  bekannt  hatte,  die  Gemüther 
vieler.  Zumal  in  den  pietistischen  Kreisen  hielt  man  an  der- 
selben ganz  allgemein  fest.  1702  trat  Professor  von  Krake witz 
in  Greifswald  für  dieselbe  ein.  Besonders  eingehend  behandelte 
dieselbe  der  Mecklenburgische  Prediger  Joh.  Fr.  Thilen  in:  „Die 


—     239     — 

Hoffnung  Israels  oder  die  zukünftige  Bekehrung  der  Juden", 
Prenzlau  171 8.  Anastasius  Fr  ei  linghau.se  11  gab  die  über  den 
gleichen  Gegenstand  von  ihm  gehaltene.  Predigt  über  Jes.  60,  1—7 
heraus,  und  ebenso  Hess  sich  über  dieses  Thema  ausführlicher 
J.  J.  Rambach  aus  in  der  Schriftmässigen  Erläuterung  der  Theo- 
logie des  Vorgenannten. 

Calvör  stellte  in  seiner  deutschen  Schrift:  Gloria  Christi, 
Leipzig  1710,  besonders  die  Stellen  aus  Havemanns  Wege- 
leuchte und  aus  Scriver  über  diesen  Punkt  zusammen. 

Joachim  Lange  in  seiner  Aufrichtigen  Nachricht,  im  apo- 
stolischen Licht  und  Recht  und  im  Antibarbarus ,  ferner  Johann 
Heinr.  Mai  in  Giessen  171 6  in  einer  Schrift:  De  mysterio  con- 
versionis  Judaeorum  adhuc  sperandae,  Arnold:  De  conversione 
Judaeorum  nach  Römer  Cap.  11,  Jo.  Christoph.  Wolf  in  seinen 
Curae  philologicae  et  criticae  zu  Römer  11  und  Meelführer 
sprachen  sich  gleichfalls  in  zustimmendem  Sinne  aus. 

J.  W.  Petersen  verlor  in  seinem  Mystischen  Joseph,  Frank- 
furt a.  M.  1717,  alle  Nüchternheit  bei  seiner  Beschreibung  der 
Zukunft  Israels.  An  der  allgemeinen  Hoffnung  hielten  auch  fast 
alle  anderen  fest,  die  sich  über  den  Gegenstand  vernehmen  Hessen; 
so  Matth.  Rothe  in  Herford  in  „Hoffnung  Israels  zu  seiner 
Bekehrung  über  Römer  11,  25",  Leipzig  171 3.  Heinr.  Jac.  van 
Bashuysen  in  einer  Predigt  über  Sacharjah  13,  3.  M.  Christian 
Gerber,  der  Verfasser  der  Unerkannten  Sünden  der  Welt, 
Anton  Christian  Römeling  1710  in  seiner  Zerstörung  Babels 
von  Mitternacht,  der  Greifswalder  Michael  Christ.  Russmeier 
und  Jo.  Christ.  Schulenburg. 

Widerspruch  erhob  besonders  Christian  Reineccius  in 
seiner  Vorrede  zu  dem  Buche  von  Friedr.  Alb.  Christ iani  über 
den  Glauben  und  Aberglauben  der  Juden,  Leipzig  1705,  Bran- 
danus Heinrich  Gebhard  in  Greifswald,  E.  G.  Gölitz  in  Rudol- 
stadt  1707  und  J.  E.  Schubert:  Schriftmässige  Gedanken  von 
der  allgemeinen  Judenbekehrung  und  dem  tausendjährigen  Reiche, 
Jena  1742,  und  in  einer  späteren  Schrift,  die  er  1763  als  Pro- 
fessor in  Helmstädt  erscheinen  Hess,  „Gedanken  von  der  Präde- 
stination der  Juden". 

Die  Stadt  Danzig  wurde  1748  durch  einen  Streit  ihrer 
Geistlichen  über  die  zukünftige  allgemeine  Bekehrung  der  Juden 
so  aufgeregt,  dass  der  Rath  einschritt  und  die  ganze  Controverse 
bei  strenger  Strafe  verbot. 


—     240     — 

Jedesfalls  aber  hat  die  ganze  frühere  evangelische  Zeit  weit 
überwiegend  an  der  Hoffnung  einer  endlichen  Bekehrung  des 
jüdischen  Volkes  festgehalten. 

Im  baptistischen  Sinne  hatte  sich  zu  Anfang  des  Jahrhunderts 
Ernst  Christoph  Hochmann  von  Hochenau  an  die  Juden  des 
westlichen  Deutschlands  gewandt.  Sein  Brief  an  die  Juden  vom 
Jahre  1699,  geschrieben  aus  dem  Arrest  auf  Schloss  Detmold 
zum  Druck  gegeben  auf  Verordnung  des  Grafen  zu  Lippe,  neu 
aufgelegt  1 709,  ermahnte  die  Juden,  sich  zu  bekehren,  weil  dem- 
nächst ihr  König  und  Messias  wieder  erscheinen  werde.  Hoch- 
mann von  Hochenau  ist  hernach  auch  unter  den  Juden  umher- 
gegangen und  hat  ihnen  so  ernst  ins  Gewissen  geredet,  dass  es 
vielen  derselben  durch  das  Herz  ging. 

Der  nahende  Rationalismus  dagegen  macht  sich  schon  in 
„der  einzig  wahren  Religion"  des  Herrn  von  Loen,  Leipzig  1750, 
bemerkbar.  Hier  wird  auch  den  Juden  gegenüber  lediglich  die 
Religion  einer  humanistisch  gedachten  Liebe  gepredigt,  gegen 
den  Glauben  ist  derselbe  völlig  gleichgiltig.  von  Loen  ist  aber 
vielfach  mit  Juden  in  Verbindung  getreten  und  hat  manche  Ver- 
wirrung unter  ihnen  gestiftet.  Wenn  die  später  zu  berichtende 
Verbindung  zwischen  polnischen  Juden  und  den  deutsch-evangeli- 
schen Kreisen  keine  besseren  Früchte  brachte,  so  hat  dies  zum 
Theil  auch  darin  seinen  Grund,  dass  Loen  und  sein  Anhang  jene 
Juden  in  ihre  sektirerischen  Netze  zu  ziehen  suchten. 

An  der  Erkenntniss,  dass  es  einer  besonderen  Missions- 
literatur bedürfe,  um  wirklichen  Eingang  bei  den  Juden  zu  finden, 
fehlte  es  auch  in  diesem  Zeiträume  nicht.  Was  auf  diesem 
Gebiete  die  Callenberg'sche  Mission  geleistet  hat,  wird  später 
erwähnt  werden  müssen.  Hervorzuheben  ist  hier  sonst  die  jüdisch- 
deutsche Uebersetzung  des  Neuen  Testamentes  von  Mag.  Christian 
Moller,  Pastor  in  Sandau.  Derselbe  liess  dasselbe  ganz  in  diesem 
Dialekte  zu  Frankfurt  a.  O.  1700  erscheinen.  Vorangeschickt 
ist  eine  Anweisung  über  das  Lesen  des  Jüdisch-deutschen.  Die 
Juden  aber  kauften  die  grosste  Zahl  dieser  Testamente  auf  und 
verbrannten  sie,  weil  sie  fürchteten,  dass  in  diesem  Gewände 
das  Neue  Testament  in  ihre  Mitte  dringen  und  viele  zum  Abfall 
verführen  könnte.  Die  Uebersetzung  selbst  kann  übrigens  als 
eine  gelungene  nicht  bezeichnet  werden. 

Superintendent  Caspar  Calvör  verfasste  einen  ausführlichen 
Katechismus    für   die   Juden,    Leipzig    1718,    welcher    den   Titel 


—      241      — 

Gloria  Christi  oder  Herrlichkeit  Christi  trug.  Hier  wird  in  aner- 
kennungswerther  Weise  den  Juden  das  Christenthum  nahe 
gebracht.  Sehr  ausführlich  und  tüchtig  ist  die  Lehre  vom 
Messias  behandelt,  kürzer  werden  die  anderen  Lehren  besprochen, 
alles  in  der  Form  von  Frage  und  Antwort.  Die  Glaubenslehre 
wird  „aus  der  heiligen  Schrift,  Targumim,  Talmud,  Rabbinen  und 
gesunden  Vernunftgründen"  entwickelt. 

Dieser  Katechismus  enthält  zuerst  eine  Einleitung  über  die 
Schicksale  und  das  Religionswesen  der  Juden  seit  Christo,  sodann 
drei  Bücher  über  den  Messias,  die  Dreieinigkeit,  das  Neue  Testa- 
ment und  ganz  kurz  über  die  christliche  Lehre  im  Allgemeinen. 
Hierauf  folgt  der  eigentliche  Judenkatechismus,  welcher  noch 
einmal  über  den  Messias  und  die  Pflicht  der  Menschen  gegen 
ihn  handelt.  Dem  deutschen  Texte  steht  immer  die  jüdisch- 
deutsche Uebersetzung  gegenüber.  Hierzu  tritt  im  Anhange  „Das 
Lob  des  Namens  Jesu  Christi  aus  Moses,  den  Propheten  und 
Psalmen  zusammengestellt",  und  endlich  wird  eine  Anleitung 
gegeben,  wie  das  Jüdisch-deutsche  zu  lesen  sei. 

Diese  Schrift  hat  viel  Gutes  unter  den  Juden  gewirkt  und 
ist  später  von  der  Callenberg'schen  Mission  theils  im  Ganzen, 
theils  in  einzelnen  Abschnitten  unter  denselben  verbreitet  worden. 
Die  Veranlassung  das  Buch  zu  schreiben  fand  Calvör  in  der  Bitte 
eines  Juden  um  die  Taufe.  Hernach  hat  er  selbst  noch  oft  nach 
diesem  Buche  Juden  unterrichtet,  wie  unter  anderen  den  nach- 
maligen dänischen  Etatsrath  von  Clausberg. 

Jo.  Heinr.  Seufert,  Prediger  in  der  Nähe  von  Durlach  gab 
eine  Probe  eines  Judenkatechismus  in  deutscher  Sprache,  Durlach 
1709  heraus  und  arbeitete  später  als  Adjunkt  in  Pforzheim  den- 
selben vollständig  aus.  Doch  wurde  diese  spätere  Arbeit  nicht 
gedruckt,  während  der  Proselyt  Philipp  Nicolaus  Leberecht  den 
„Grundriss"  ins  Jüdisch-deutsche  übersetzte,  Dresden  1 719.  Auf 
der  einen  Seite  deutsch  und  auf  der  andern  jüdisch-deutsch  mit 
jüdischen  Lettern  Hess  ebenso  Dan.  Ernst  J  ab  Ions  ky  in  Berlin  1 708 
einen  Kleinen  Judenkatechismus  für  einfältige  Anfänger  erscheinen. 
Auch  dieser  Katechismus  ist  in  Frage  und  Antwort  abgefasst 
und  enthält  die  Lehre  vom  Messias  nach  Moses  und  den  Pro- 
pheten, darauf  die  Lehre  des  Messias  nach  dem  apostolischen 
Glaubensbekenntniss,  welches  durch  Sprüche  des  Alten  und 
Neuen  Testamentes  in  seiner  Richtigkeit  bewiesen  wird,  womit 
sich  die  Sakramentslehre  verbindet.     Hierauf  folgt  die  Lehre  vom 

F.  J.  A.  de   le    Roi,    Missionsbeziehungen.  l6 


242     — 

rechten  Leben  nach  den  zehn  Geboten  und  die  Lehre  vom 
Gebet  nach  dem  Vaterunser.  Vorangeschickt  ist  dem  Ganzen 
ein  köstliches  Gebet  für  die  Juden.  Jablonsky  legte  übrigens 
auch  eine  hebräische  Druckerei  in  Berlin  an. 

J.  J.  Qu  an  dt  gab  Judenpredigten  in  Königsberg  heraus. 
17 10.  Professor  Johann  Daniel  Kluge  übersetzte  zwei  Kirchen- 
lieder und  den  ersten  Theil  der  Augsburg'schen  Konfession  ins 
Hebräische.  Die  Verbreitung  der  Schrift  Praeco  Salutis  oder 
Verkündiger  des  Heils  von  Heinrich  Horche  1705  Hess  sich  die 
Callenberg'sche  Mission  angelegen  sein,  und  dieselbe  war  ein 
recht  brauchbares  Missionszeugniss. 

Man  wurde  sich  in  diesem  Jahrhunderte  aber  überhaupt 
dessen  ernstlicher  bewusst,  dass  man  die  Sprache  der  Juden 
selbst  erwählen  müsse,  wenn  die  Bemühungen  um  ihre  Bekehrung 
auch  wirklichen  Erfolg  haben  sollten.  Denn  die  lateinisch  abge- 
fassten  Schriften,  welche  diesen  Zweck  verfolgten,  konnten  nur 
die  Gelehrtesten  unter  den  Juden  erreichen;  und  selbst  die  mit 
deutschen  Lettern  gedruckten  und  in  hochdeutscher  Sprache 
geschriebenen  Bücher  waren,  da  die  grösste  Zahl  der  damaligen 
Juden  in  Deutschland  und  im  ganzen  europäischen  Osten  das 
Jüdisch- deutsche  sprach,  für  eine  allgemeine  Verbreitung  unter 
denselben  nicht  geeignet. 

Den  Erfolg  hatten  aber  wenigstens  alle  diese  auf  die  Juden 
gerichteten  literarischen  Bemühungen,  dass  sie  immer  wieder  an 
die  Notwendigkeit,  die  den  Christen  gegen  die  Juden  obliegende 
Pflicht  zu  erfüllen,  erinnerten  und  dass  sie  auch  ein  Bewusstsein 
von  der  Pflicht,  die  hier  bestand,  wach  erhielten.  Es  ist  in  dieser 
Beziehung  von  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  dasselbe 
zu  sagen,  was  bei  der  früheren  Periode  über  den  gleichen  Punkt 
hervorgehoben  worden  war.  Aber  die  unaufhörlich  wiederholte 
Mahnung  so  vieler  Schriften,  die  Juden  nicht  zu  vergessen,  hat 
auch  thatsächlich  einen  lauteren  Wiederhall  als  im  vorigen  Jahr- 
hundert innerhalb  der  evangelischen  Christenheit  gefunden. 

Ueberdem  stand  jene  Literatur  auch  in  dieser  Zeit  durch- 
aus auf  der  Höhe  der  damaligen  wissenschaftlichen  Erkenntniss 
und  erzwang  sich  schon  hierdurch  die  Aufmerksamkeit  der  Zeit- 
genossen. Die  besten  Kräfte  unter  den  deutschen  Theologen 
hatten  wieder  auf  diesem  Felde  gearbeitet,  und  die  deutschen 
Universitäten  waren  von  Neuem  die  eigentlichen  Pfiegestätten 
und    Beförderer    dieser    Literatur    gewesen.     Die    Nachricht    des 


—     243     — 

Nicolaus  Ernst  Friedrich  Zobel  zu  Altorf  von  der  Geschichte  der 
deutschen  und  von  einigen  anderen  Universitäten  erwähnt  noch 
im  Jahre  1750,  wo  nun  schon  der  Umschwung  der  Dinge  eintritt, 
in  dem  Verzeichniss  der  Vorlesungen  ein  Colleg  von  Dr.  Schu- 
bert in  Helmstädt  über  die  Controverse  mit  den  Juden,  von 
D.  von  der  Hardt  über  die  Lehrsätze  des  Evangeliums  aus  dem 
Alten  Testamente  und  von  D.  Paul  Theodor  Carpov  in  Rostock 
über  Anleitung  zur  jüdisch-deutschen  Sprache. 

Aber  freilich  das  gelehrte  Gepräge,  welches  auch  jetzt  nur 
zu  oft  noch  diese  Schriften  trugen,  schädigte  ihre  Wirksamkeit 
unter  Juden  und  Christen.  In  die  christliche  Gemeinde  konnten 
sie  desshalb  nicht  im  erwünschten  Maasse  eindringen,  wenn  gleich 
die  Literatur  des  Pietismus  in  diesem  Stücke  es  vielfach  besser 
verstanden  hat,  sich  einen  weiteren  Eingang  zu  verschaffen.  Der 
pietistische  Theil  dieser  Literatur  war  nicht  bloss  für  die  Ge- 
lehrten geschrieben,  sondern  auch  für  den  gemeinen  Mann  zumeist 
verständlich,  und  zumal  die  Predigten  pietistischer  Geistlichen 
trugen  die  Angelegenheit  in  weitere  Kreise  hinein. 

Der  Eifer,  für  die  Juden  etwas  zu  thun,  war  denn  in  der  That 
auch  ein  sichtlich  wachsender.  Selbst  auf  den  Gymnasien  wurden 
jetzt  die  älteren  Schüler  öfters  veranlasst,  Reden  zu  halten,  welche 
das  Heil  der  Juden  behandelten.  Ad.  Bernhard,  Rektor  zu 
Hannover  stellte  in  seiner  Schulmoral  1725  den  Satz  auf:  „Hüte 
dich,  dass  du  den  Juden  kein  Aergerniss  und  Gelegenheit  zum 
Lästern  des  Namens  Jesu  gebest"  und  berief  sich  hierbei  auf 
Spener  und  Wolfgang  Franz.  Ueberhaupt  erkannte  man  beson- 
ders in  pietistischen  Kreisen,  dass,  wenn  die  Stellung  der  evan- 
gelischen Christen  zu  den  Juden  eine  andere  werden  sollte,  man 
mit  der  Jugend  anfangen  müsste.  Vielfach  wurde  daher  auf 
Schulen  für  ihr  Heil  gebetet,  und  besonders  häufig  ein  Gebet 
des  Senior  Münden  in  Frankfurt  a.  M.  auf  den  Gymnasien 
gebraucht.*) 

Die  Geistlichkeit  von  Frankfurt  a.  M.  und  von  manchen 
anderen  Städten  legte,  den  Anregungen  Speners  folgend, 
rühmlichen  Eifer  für  ein  missionirendes  Wirken  unter  den  Juden 
an  den  Tag.  Dem  Einflüsse,  welchen  der  Pietismus  am  preussi- 
schen  Königshofe  ausübte,  ist  auch  jener  Erlass  des  Königs 
Friedrich   I.    vom    Jahre    1703,    das    Gebet    Olenu    betreffend, 


*)  Dlbre  Emeth   1S79  S.  89  ff. 

16* 


2AA     — 

zuzuschreiben.*)  Eine  Stelle  in  jenem  Gebete,  welche  von  den 
Völkern  sagt:  „Sie  bücken  sich  vor  eitelen  und  unwürdigen 
Dingen  und  beten  Götter  an:  lelo  Joschia,  die  nicht  helfen 
können",  hatte  man  allgemein  auf  Jesum  bezogen  und  eben  dies 
veranlasste  die  Untersagung  jenes  Gebets  durch  den  preussischen 
König.  Der  Erlass  desselben  aber  zeigt,  welch  ein  lebendiger 
und  hoher  Missionssinn  Friedrich  I.  von  Preussen  erfüllte,  und 
wie  ernst  er  von  der  Pflicht  der  Obrigkeit,  der  Geistlichkeit,  des 
ganzen  Christenvolkes  und  der  Kirche  gegen  die  Juden  hielt. 

Der  Eingang  des  Erlasses  lautet:  „Wir  Friedrich  von  Gottes 
Gnaden  u.  s.  w.  geben  hiermit  allen  und  jeden  Prälaten,  Grafen 
und  Herren  u.  s.  w.  wie  auch  ins  gemein  allen  unseren  Unter- 
thanen,  Gläubigen  und  Ungläubigen,  über  welche  der  allerhöchste 
Gott  Uns  in  Unserem  Königreich  nach  seinem  allerhöchsten 
Rath  und  Willen  gesetzt,  nebst  Entbietung  Unseres  gnädigen 
Grusses  zu  vernehmen:  dass  Uns  gebühre,  Lob,  Preis  und  Ehre 
und  Dank  zu  geben  dem,  der  Uns  Königreich,  Macht  und  Stärke, 
Ehre  und  Herrlichkeit  verliehen  hat,  und  dass  mit  Uns  alle,  die 
auf  Erden  seine  Statthalter  und  seines  Reiches  Amtleute  sind, 
nebst  Verherrlichung  des  grossen  Namen  Gottes,  auch  diesen 
Hauptzweck  haben  müssen:  dass  sie  nicht  allein  die  zeitliche 
Wohlfahrt  der  ihnen  anvertrauten  Unterthanen  befördern,  sondern 
weil  dieselben  nicht  allein  für  diese  Welt  geschaffen,  und  in  den 
sterblichen  Leibern  eine  unsterbliche  Seele  tragen,  auch  dafür 
nöthig  zu  sorgen  haben,  dass,  wo  sie  nicht  alle  zu  Gott  bekehrt, 
wenigstens  ihr  Gericht  ihnen  einstens  doch  nicht  schwerer  werde. 

Wenn  dann  in  solcher  Erwägung  Wir  mit  erbarmenden 
Augen  das  arme  Judenvolk,  so  Uns  Gott  in  Unserem  Lande 
unterwürfig  gemacht,  ansehen,  so  wünschen  Wir  wohl  herzlich, 
dass  dieses  Volk,  welches  Gott  ehemals  so  herzlich  geliebt  und 
vor  allen  Völkern  zu  seinem  Eigenthum  erwählt  hatte,  endlich 
von  seiner  Blindheit  möchte  befreit  werden  und  mit  uns  zu  einer 
Gemeinschaft  in  dem  Glauben  an  den  uns  aus  ihnen  selbst  ge- 
borenen Messias  und  Heiland  der  Welt  gebracht  werde. 

Weil  aber  das  grosse  Werk  der  Bekehrung  zu  dem  geist- 
lichen Reiche  Christi  gehört,  und  Unsere  weltliche  Macht  keinen 
Platz  darinnen  findet,  Wir  auch  die  Gewissen  der  Menschen  dem 
Herrn   aller  Herren    einig    überlassen,   so    müssen  Wir  Zeit    und 


*)  J.  B.  Dibre  Emeth   1876  S.   142  ff. 


—     245     — 

Stunde  abwarten,  welche  der  barmherzige  Gott  sie  zu  erleuchten 
seinem  allein  gnädigen  Willen  vorbehalten  hat,  sie  indessen  mit 
Geduld  ertragen  und  Mittel  zu  ihrer  Bekehrung  mit  aller  Liebe 
und  Sanftmuth  anwenden  lassen.  Wie  Wir  denn  heute  insonder- 
heit die  Geistlichkeit  und  Seelsorger  ermahnt  haben  wollen,  so 
oft  sie  Gelegenheit  dazu  ersehen,  sich  zu  bemühen,  wie  sie  dieses 
ungläubige  Volk  mit  Sanftmuth  gründlich  überzeugen  und  dem 
Messias  unserem  Herrn  zuführen  mögen,  und  alle  und  jede,  so 
den  Namen  Christi  unter  uns  bekennen,  ernstlich  anweisen,  ihnen 
Aergerniss  nicht  zu  geben  und  keinen  Stein  des  Anstosses  ihnen 
in  den  Weg  zu  legen;  dagegen  Wir  aber  auch  der  Bosheit,  da 
sie  sich  wider  Jesum  Christum,  unsern  Herrn  und  Heiland  und 
sein  Reich  erheben  wollen,  zu  wehren  und  ihr  mächtiglich  zu 
steuern,  Uns  höchst  verpflichtet  zu  sein  erachten." 

Hierauf  handelt  der  Erlass  weitläufig  über  das  jüdische  Gebet 
Olenu  und  die  in  demselben  verübte  Lästerung  gegen  Christum 
und  bestimmt,  was  zur  Unterdrückung  desselben  geschehen  soll. 
Danach  heist  es:  „Wir  versehen  Uns  aber  allergnädigst,  dass  die 
Juden  diesem  Unserem  Gebot,  welches  Wir  in  allergnädigster 
Erwägung,  dass  sie  ehemals  Gottes  geliebtes  Volk  gewesen,  und 
dass  sie  nach  dem  Fleische  die  Befreundeten  unseres  Heilandes 
seien,  mit  Mitleid,  Liebe  und  Erbarmung  gegen  sie  verknüpft 
haben,  sonsten  es  aber  die  Ehre  unseres  Gottes  es  von  Uns  un- 
umgänglich erfordert,  so  viel  mehr  allerunterthänigsten  Gehorsam 
erzeigen  werden,  weil  ihnen  darin  nicht  das  Geringste  wider  ihre 
Religion,  Ceremonien,  Aufsätze  und  Gebräuche  angemuthet  wird." 

Wie  wohlthätig  der  Pietismus  die  Gemüther  von  Hoch  und 
Niedrig  gegen  die  Juden  beeinfiusst  hat,  zeigt  dieser  Erlass 
besonders  deutlich.  Die  ganze  Stimmung  gegen  die  Juden  wurde 
überall,  wo  der  Pietismus  Eingang  fand,  eine  viel  freundlichere, 
weichere  und  dem  Geiste  des  Evangeliums  entsprechendere.  Dem 
Pietismus  ist  es  im  besonderen  Maasse  zu  danken,  dass  ein  neues 
Verhältniss  derselben  zu  ihrer  Umgebung  in  Deutschland  Platz 
greifen  konnte.  Wenn  der  Pietismus  nur  geistesmächtig  genug 
gewesen  wäre,  seine  positiven  christlichen  Gedanken  auch  in  das 
allgemeine  Leben  direkt  einzuführen,  und  wenn  er  Muth  und 
Kraft  genug  besessen  hätte,  der  Gestaltung  des  öffentlichen 
Lebens  die  Bahnen  zu  weisen,  dann  hätte  auch  in  seiner 
weiteren  Entwickelung  dasselbe  das  christliche  Gepräge  viel 
leichter  erhalten.     Aber   darin    zeigte   sich   nun    seine   besondere 


—      2^6      — 

Schwäche,  dass  er  es  nicht  wagte,  anders  als  auf  einzelne  Per- 
sonen oder  höchstens  auf  kleine  Kreise  bestimmend  und  gestaltend 
einzuwirken,  und  dass  seine  Gedankenwelt  auch  in  vieler  Beziehung 
eine  zu  dürftige  war,  als  dass  dieselbe  das  allgemeine  Leben 
bleibend  umzuwandeln  vermocht  hätte. 

c.  Johann  Heinrich  Callenberg. 

J.  H.  Callenberg,  Bericht  mit  16  Fortsetzungen  seines 
Berichtes  von  dem  Versuche,  das  arme  jüdische  Volk  zur  Er- 
kenntniss  der  christlichen  Wahrheit  anzuleiten.  Relation  u.  s.  w. 
30  Stück.  Christliche  Bereisung  der  Judenörter,  4  Stück.  Fort- 
währende Bemühung  um  das  Heil  des  jüdischen  Volkes  über- 
haupt, 4  Stück,  von   1728 — 1759. 

F.  K.  G.  Hirsching,  Historisch  literarisches  Handbuch, 
Band  1.  Joh.  Jacob  Moser,  Beiträge  zu  dem  Lexikon  der  jetzt 
lebenden  lutherischen  und  reformirten  Theologen  in  Deutschland. 
Züllichau  1740  S.  119  ff.  Dreyhaupt,  Beschreibung  des  Saal- 
kreises Theil  2,  44  ff.,  600.  Die  Acta  historiae  ecclesiae  nostri 
temporis  aus  Weimar  in  dem  betreffenden  Zeiträume  wiederholt. 
J.  C.  Jöcher,  Gelehrten-Lexikon,  Nachträge  und  Fortsetzungen. 
Mittheilungen  aus  Joh.  Heinr.  Callenbergs  Briefen  von  Dr.  Franz 
Theodor  Adler.  Halle,  Waisenhaus  1868.  Saat  auf  Hoffnung, 
Callenberg  1869  S.  242  ff. 


Johann  Heinrich  Callenberg  hat  die  erste  eigentliche  Juden- 
mission innerhalb  der  evangelischen  Kirche  ins  Leben  gerufen. 
Eben  darum  ist  er  für  die  Geschichte  der  Judenmission  und  der 
Kirche  im  Allgemeinen  von  besonderer  Wichtigkeit.  Die  Art 
aber,  wie  die  Mission  in  dem  Callenberg'schen  Unternehmen  zu 
Tage  tritt,  zeigt  zugleich  die  Stellung  an,  welche  die  Judenmission 
—  und  die  Sache  steht  auch  nicht  wesentlich  anders  mit  der  Heiden- 
mission ■ —  im  kirchlich  evangelischen  Leben  einnimmt  und  cha- 
rakterisirt  das  kirchengeschichtliche  Verhältniss  der  evangelischen 
Kirche  und  Christenheit  zu  dieser  Mission. 

In  Callenbergs  Zeit  ist  kirchengeschichtlich  der  Prozess  des 
Verhältnisses  der  evangelischen  Kirche  zu  ihrer  Missionsaufgabe 
zur  Entscheidung  gekommen;  und  von  dieser  Entscheidung  ist  die 
evangelische  Kirche  im  Ganzen  und  Grossen  bis  heute  noch  nicht 
abgegangen,  wenngleich  eben  dieses  bisherige  und  geschichtlich  vor- 
liegende Verhältniss  nicht  als  ein  endgiltiges  betrachtet  werden  soll. 


—     247     — 

Callenbergs  Unternehmen  bedeutet  aber,  dass  nicht  die 
evangelische  Kirche  als  solche,  sondern  nur  einzelne  ihrer  Glieder 
die  Pflicht  fühlten  und  sich  bereit  zeigten,  ein  wirkliches  und 
eigentliches  Missionswerk  an  den  Juden  aufzunehmen.  Hatte  also 
die  frühere  Zeit  der  evangelischen  Kirche  kein  organisirtes  Mis- 
sionswerk aufzuweisen,  während  weithin  innerhalb  derselben  viele 
vereinzelte  Missionsbemühungen  zu  Tage  traten,  so  wird  jetzt 
diesem  Mangel  freilich  abgeholfen,  aber  nicht  in  der  Weise,  dass  sich 
die  evangelische  Kirche  selbst  als  Gesammtheit  oder  in  ihren  ein- 
zelnen Kirchen  dazu  aufschwänge,  die  ihr  obliegende  Pflicht  zu 
erfüllen. 

Eine  Frucht  des  in  der  evangelischen  Kirche  lebhafter  er- 
wachten Missionssinnes  ist  mithin  das  Callenberg'sche  Werk  wohl; 
aber  derselbe  ist  eben  nicht  so  stark  gewesen,  dass  er  auch 
zu  einem  kirchlichen  Handeln  im  eigentlichen  Sinne  geführt  hätte, 
und  dass  die  Mission  eine  Kirchen-  oder  Gerneindesache  geworden 
wäre.  Eben  dies  gab  denn  auch  der  ganzen  Judenmissionsthätig- 
keit  ihr  bestimmtes  und  durchgreifendes  Gepräge. 

Dem  neuen  Unternehmen  ist  aber  ebenso  durch  die  Persön- 
lichkeit ihres  Stifters  in  vieler  Beziehung  sein  eigenthümlicher 
Stempel  aufgedrückt  worden,  und  desshalb  muss  dieselbe  noch 
besonders  ins  Auge  gefasst  werden. 

Callenberg  ist  in  dem  Gothaischen  Dorfe  Molschleben  am 
12.  Januar  1694  als  Sohn  eines  Bauern  geboren.  In  den  von 
Dr.  Adler  benützten  Briefen  desselben  aus  den  Jahren  171 5  bis 
1721,  welche  die  Bibliothek  des  Halle'schen  Waisenhauses  hand- 
schriftlich besitzt,  schreibt  Callenberg  selbst,  dass  er  „von  ge- 
ringen, doch  ehrlichen  Eltern  in  aller  Scham  und  Zucht  auf- 
gezogen sei,  und  dass  sich  dieselben  mit  saurem  Schweiss  und 
Arbeit  das  Stückchen  Brot  erwarben,  davon  sie  sich  in  ihrem 
Alter  nothdürftig  unterhalten  konnten". 

Nach  dem  Tode  seines  Vaters,  bei  dessen  Ableben  dieser 
Sohn  noch  in  jüngeren  Jahren  stand,  kam  Callenberg  besonders 
durch  die  Vermittelung  seines  Ortspastors,  dem  der  junge  Mensch 
unter  den  Altersgenossen  im  Dorfe  aufgefallen  sein  muss,  auf 
das  Gymnasium  in  Gotha,  dessen  Rektor  Vockerodt,  ein  treff- 
licher, feingebildeter  und  frommer  Mann,  sich  seiner  aufs  Lieb- 
reichste annahm.  Derselbe  war  ein  in  jener  Zeit  sehr  geschätzter 
Schulmann,  und  seine  Programme  wurden  weithin  gelesen.  Callen- 
berg  hat   ihm   stets   die    dankbarste   und   kindlichste   Verehrung 


—    248    — 

bewahrt.  Yockerodt  gehörte  zu  den  warmen  Anhängern  des 
Spener-Franke'schen  Pietismus  und  hat  dafür  viele  Anfechtungen 
erleiden  müssen.  „Das  Denken,  Wirken  und  Streben  Callenbergs 
aber  erhielt  durch  den  Rektor  Vockerodt  die  bleibende  Richtung." 

Der  21  jährige  junge  Mann  kam  171 5  auf  die  Universität 
Halle  und  schloss  sich  hier  mit  grossem  Eifer  August  Hermann 
Franke  an.  In  den  Franke'schen  Stiftungen  wohnend,  lernte  er 
den  damals  gleichfalls  im  Waisenhause  lebenden  Gelehrten  Salo- 
mon  Negri  kennen.  Derselbe,  aus  Damaskus  stammend,  war 
früher  Dolmetscher  an  der  hohen  Pforte  in  Constantinopel  gewesen, 
hierauf  Bibliothekar  in  Frankreich  und  später  Professor  des  Ara- 
bischen in  Rom.  Professor  Heinrich  Wilhelm  Ludolf  lernte  diesen 
Mann  auf  seinen  Reisen  kennen,  und  es  gelang  ihm,  denselben 
zu  bestimmen,  dass  er  sich  nach  Halle  wandte.  Dort  machte 
A.  H.  Franke  auf  ihn  einen  grossen  Eindruck,  so  dass  er  auch 
das  Anerbieten  desselben  annahm,  in  Halle  die  orientalischen 
Sprachen  zu  lehren. 

Salomon  Negri  nun  wurde  für  Callenbergs  inneres  Leben 
von  Wichtigkeit.  Der  Glaube  war  für  letzteren  nicht  ein  an- 
ererbtes Gut,  das  er  sich  stets  ohne  Anfechtung  bewahrt  hätte, 
sondern  er  wurde  in  seiner  Studienzeit  von  so  gewaltigen  Zweifeln 
heimgesucht,  dass  er  zu  Zeiten  allen  Boden  unter  den  Füssen 
verlieren  wollte.  Gerade  da  eilte  ihm  Salomon  Negri  zu  Hilfe. 
Derselbe  hatte  einen  ähnlichen  inneren  Gang  wie  Callenberg 
genommen  und  mit  den  bedeutendsten  Freigeistern  in  Frank- 
reich und  Italien  verkehrt.  Aber  gerade  der  Umgang  mit  den- 
selben hatte  ihm  die  ganze  Schwäche  des  Unglaubens  gezeigt 
und  Negri  war  hierdurch  geheilt  worden.  Um  so  mehr  war  er 
der  geeignete  Mann,  Callenberg  in  der  Zeit  seines  inneren 
Schwankens  zur  Seite  zu  stehen,  und  letzterer  hat  ihm  dies  sein 
ganzes  weiteres  Leben  hindurch  dankend  anerkannt. 

Zur  eigentlichen  inneren  Ruhe  aber  scheint  der  Studiosus 
erst  durch  A.  H.  Franke  gekommen  zu  sein,  dessen  Predigten 
insbesondere  eine  entscheidende  Bedeutung  für  ihn  gewannen. 
Nachdem  er  jedoch  innere  Klarheit  erlangt  hatte,  erfüllte  ihn  von 
nun  an  nur  noch  ein  Wunsch,  dem  Reiche  Christi  mit  allen  seinen 
Kräften  zu  dienen. 

Jetzt  gewann  der  Gedanke  an  die  Mission,  der  ihn  schon 
früher  beschäftigt  hatte,  in  ihm  eine  festere  Gestalt,  und  zwar 
dachte  er  in  Folee  seiner  Verbindung;  mit  Salomon  Nefjri  anfangs 


—     249     — 

an  ein  Werk  unter  den  Muhammedanern.  Eben  zu  diesem  Zwecke 
erlernte  er  auch  von  jenem  Gelehrten  das  Arabische. 

Callenbergs  Missionsgedanken  waren  aber  nicht  oberfläch- 
licher Art ,  sondern  in  seiner  Seele  tiefer  begründet.  Selbst  in 
der  Zeit,  wo  er  doch  am  Meisten  von  Zweifeln  gequält  war, 
hatte  ihn  die  Mission  beschäftigt;  denn  er  neigte  dazu,  innere 
Unruhe  durch  verdoppelte  Thätigkeit  zu  überwinden.  Aber  er 
bekennt  auch,  dass  er  sich  in  jener  Zeit  gewissermaassen  die 
innere  Ruhe  als  einen  Lohn  für  treue  Arbeit  habe  erringen  wollen. 
Von  diesem  Sinne  wurde  er  durch  A.  H.  Franke  frei,  aber  seine 
Hände  legte  er  darum  jetzt  doch  nicht  in  den  Schooss,  sondern 
tiefere  Gedanken  führten  ihn  nun  wieder  zur  Mission. 

Irgend  welche  Ueberschwänglichkeit  hatte  mit  Callenbergs 
Missionsplänen  und  Missionsgedanken  nichts  zu  thun.  Von  jeder 
Ueberschwänglichkeit  war  sein  Christenthum  überhaupt  völlig  frei. 
Eher  tritt  in  der  Zeit,  wo  er  nun  Herr  seiner  Kämpfe  geworden 
ist,  bei  ihm  eine  gewisse  Aengstlichkeit,  nur  ja  nichts  selbst  zu 
machen,  zu  Tage.  Sein  Glaubensleben  zeigt  nirgends  eine 
heroische  Gestalt,  sondern  wird  durch  jene  Vorsicht  charakterisirt, 
welche  an  den  Pietisten  dieser  Zeit  so  oft  zu  finden  ist,  und  durch 
eine  übergrosse  Sorge,  nur  ja  alles  zu  vermeiden,  was  irgendwie 
nach  Schein  aussehen  könnte.  Hat  er  doch  seinen  Sendboten 
nicht  einmal  den  Namen  „Missionare"  und  seinem  Werke  nicht 
den  Namen  „Mission"  geben  wollen,  und  zwar  allein  aus  dem 
Grunde,  weil  er  der  merkwürdigen  Ueberzeugung  war,  dass  sie 
diesen  Namen  zu  führen  kein  Recht  hätten.  Er  nannte  seine 
Glaubensboten  „Reisende  Mitarbeiter". 

Callenberg  trat  aber  jetzt  an  die  Missionssache  heran,  weil 
er  sich  zu  derselben  durch  die  Umstände  gedrängt  sah  und  ihm 
sein  Gewissen  es  verbot ,  das  abzuweisen ,  was  ihm  ohne  sein 
Zuthun  zunächst  in  die  Hände  kam.  Innerlich  genöthigt,  nahm 
er  das  Werk  auf,  welches  hernach  seinen  Namen  trug. 

Aber  freilich  er  selbst  hatte  es  in  seinem  eigenen  Leben 
recht  mächtig  erfahren,  dass  es  keinen  anderen  Frieden  als 
in  Christo  gibt,  und  zugleich  hatte  er  ein  tiefes  Gefühl  für  die 
Noth  aller  derer,  welche  dieses  Friedens  noch  entbehren.  Dieses 
Gefühl  blieb  jedoch  nicht  eine  blosse  Empfindung  sondern  trieb 
ihn  an,  von  dem  Gott,  welcher  ihm  selbst  zu  dem  wahren  Frieden 
geholfen  hatte,  ein  Zeugniss  des  Dankes  vor  allen,  die  ihm  noch 
ferne  waren,  abzulegen.     Desshalb  war  es  auch  kein  Wunder,  dass 


—     250     — 

ihm  das  Heil  der  NichtChristen  aufs  Herz  fiel,  und  dass,  als  sich 
ihm  die  Gelegenheit  an  denselben  etwas  zu  thun,  von  selbst  auf- 
drängte, er  auch  die  Verpflichtung  hierzu  lebhaft  empfand.  Die 
höchsten  Beweggründe  leiteten  ihn  zur  Mission,  und  weil  die- 
selben bis  an  sein  Lebensende  eine  Macht  über  ihn  blieben,  war 
auch  seine  Missionsthätigkeit  nicht  von  kurzer  Dauer,  sondern 
beständiger  Art.  Er  hat  das  einmal  begonnene  Werk  nicht 
wieder  fallen  lassen,  sondern,  so  viel  auf  ihn  ankam,  war  es  sein 
Entschluss,  die  ihm  übertragene  Arbeit,  so  lange  ihn  die  gött- 
liche Führung  auf  dieselbe  hinwies,  auch  auszurichten. 

Es  waren  aber  der  Orient  und  die  Muhammedaner,  denen  er 
seine  erste  Aufmerksamkeit  zuwandte.  Im  Jahre  17 16  dachte  er 
ernstlich  daran,  sich  selbst  in  muhammedanische  Gebiete  zu  begeben 
und  dort  das  Evangelium  zu  verkündigen,  und  er  suchte  auch 
andere  für  den  gleichen  Plan  zu  gewinnen.  Berichte  aus  jenen 
Gegenden,  die  ungemein  günstig  lauteten,  fachten  seinen  Eifer 
doppelt  an.  Dem  Professor  A.  H.  Franke  theilte  er  dann  brief- 
lich mit,  was  ihn  bewegte,  und  derselbe  rieth  ihm,  um  für  alles 
Zukünftige  recht  vorbereitet  zu  sein,  Salomon  Negri  um  Unter- 
richt im  Arabischen,  Persischen  und  Türkischen  zu  bitten.  Dies 
geschah  auch,  und  später  setzte  dann  Callenberg  denselben  Unter- 
richt bei  einem  jungen  Gelehrten  aus  Antiochia  mit  Namen 
Dadichi  fort.  Nach  5  Monaten  aber  bereits  hatte  er  es  im 
Arabischen  soweit  gebracht,  dass  er  nicht  allein  den  Koran 
auslegen,  sondern  auch  ein  ohne  Punkte  gedrucktes  Neues  Testa- 
ment lesen  konnte;  ja  er  begann  sogar  bereits  eine  Uebersetzung 
des  Luther'schen  Katechismus  ins  Arabische,  die  er  später 
vollendet  hat. 

Die  Berufung  mehrerer  seiner  Freunde  nach  Russland  ver- 
anlasste ihn  dann,  besonders  auf  die  Muhammedaner  dieses  Reichs 
sein  Augenmerk  zu  richten  und  an  die  Beschaffung  einer  Literatur 
zu  denken,  welche  unter  den  dortigen  Anhängern  des  Islam  zu 
verbreiten  wäre. 

Während  Gedanken,  Pläne  und  Arbeiten  solcher  Art  ihn 
beschäftigten,  war  er  inzwischen  dessen  gewiss  geworden,  dass. 
er  Theolog  werden  müsse,  nachdem  er  sich  bisher  als  Studenten 
der  Philosophie  bezeichnet  hatte.  Er  wandte  sich  also  jetzt  dem 
anderen  Studium  zu  und  gewann  wie  durch  seine  bemerkens- 
werthen  Fähigkeiten  so  durch  seinen  frommen  Eifer  bald  Einfluss 
in  weiteren  studentischen  Kreisen.     Er   richtete    einen  Thüringer 


—    251     — 

Convent  ein,  welcher  sich  die  Pflege  des  geistlichen  Lebens  seiner 
Mitglieder  zur  Aufgabe  machte,  und  fand  hier  eine  Stätte  frucht- 
barer Wirksamkeit,  die  ihn  auch  selbst  sehr  befriedigte. 

Callenbergs  wissenschaftliche  Tüchtigkeit  und  sein  reger 
Eifer  für  alle  Angelegenheiten  des  Reiches  Gottes  erweckten 
dann  in  A.  H.  Franke  den  Wunsch,  ihn  der  Universität  Halle  zu 
erhalten.  Dieser  trug  desshalb  selbst  dem  Könige  Friedrich 
Wilhelm  I.  die  Bitte  vor,  dass  er  Callenberg  zum  ausserordent- 
lichen Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  Halle  ernennen 
möge.  Das  geschah  denn  auch  im  Jahre  1727;  im  Jahre  1735 
wurde  er  ordentlicher  Professor  der  Philosophie  und  1739  ordent- 
licher Professor  der  Theologie  an  derselben  Universität. 

Als  Docent  breitete  er  sich  über  eine  Reihe  von  Fächern 
aus.  Das  Moser'sche  Lexikon  theilt  z.  B.  1740  mit:  „Er  liest 
über  die  Historie  der  Gelehrsamkeit  überhaupt  und  jeder  Dis- 
ciplin  insbesondere,  über  die  neuere  jüdische  Literatur,  über  das 
Arabische,  da  nach  vorangeschickter  Erklärung  der  grammatischen 
Lehren  ein  Stück  des  Koran  erläutert  wird,  über  das  Syrische, 
über  die  Rechte  der  Christen  unter  den  Muhammedanern,  über  die 
Metaphysik,  sonderlich  deren  Anwendung  in  der  Theologie,  über 
das  Rabbinische,  das  Jüdisch-deutsche  und  hält  ascetische  Stunden." 

Von  1735  ab  las  er  ein  Collegium  „Wie  man  Juden  zur 
Bekehrung  behilflich  sein  könne",  welches  z.  B.  im  Jahre  1745 
von  über  100  Studenten  besucht  war. 

Bei  den  Rationalisten  fand  er  freilich  keine  Gnade.  S emm- 
ier ging  so  weit,  ihm  Kenntniss  des  Griechischen  und  Hebräischen 
abzusprechen.  Ganz  anders  lautet  das  Urtheil  des  Curators  der 
Halle'schen  Universität  von  Ludwig  aus  dem  Jahre  1730,  welcher 
von  Callenberg  schreibt,  „dass  er  mit  besonderer  Wissenschaft  in 
den  orientalischen  Sprachen,  absonderlich  in  den  Schriften  der 
Rabbinen  und  talmudischen  Lehrer,  wie  nicht  minder  im  Arabi- 
schen und  was  zum  Verständniss  des  Alkoran  gehört,  ausgerüstet 
ist".  Und  ebenso  rühmt  der  Rostocker  Professor  A.  Th.  Hart- 
mann, welcher  doch  durchaus  nicht  die  theologische  Richtung 
Callenbergs  theilte,  in  seinem  Leben  von  Olaf  Gerhard  Tychsen, 
dass  Callenberg  für  sein  nachmaliges  Amt  vorzüglich  literarisch 
vorgebildet  gewesen  sei. 

Doch  war  er  allerdings  kein  durch  Selbständigkeit  aus- 
gezeichneter theologischer  Docent  und  als  theologischer  wie 
überhaupt  als  Schriftsteller  nicht  von  Bedeutung.     Es  erschienen 


—      252      — 

von  ihm,  abgesehen  von  den  für  das  Missionswerk  verfassten 
Schriften,  Abhandlungen  über  arabische  und  griechische  Sprache, 
Studien  philosophischen  Inhalts  und  über  Kirchengeschichte,  aber 
dieselben  sind  ohne  besonderen  Werth.  Die  gelehrte  Literatur 
und  die  Wissenschaft  hat  durch  Callenberg  keine  bemerkens- 
werthe  Förderung  erfahren. 

Viel  reichere  Frucht  dagegen  brachten  die  im  Missions- 
interesse verfassten  oder  herausgegebenen  Bücher  Callenbergs; 
wie  denn  überhaupt  die  Bedeutung  dieses  Mannes  durchaus 
nicht  auf  dem  wissenschaftlichen,  sondern  auf  dem  Missions- 
gebiete liegt. 

Für  das  Missionswerk  unter  den  Muhammedanern,  an  das 
er  ja  zuerst  herantrat,  hat  er  theils  selbst  Schriften  verfasst,  theils 
Uebersetzungen  Anderer  geliefert,  theils  Schriften,  die  bereits 
vorhanden  waren,  in  neuen  Auflagen  erscheinen  lassen  und  dann 
für  ihre  Verbreitung  in  muhammedanischen  Gebieten  Sorge 
getragen. 

Er  veröffentlichte  manche  Abhandlungen  theils  polemischen 
theils  apologetischen  Inhalts  über  den  Koran,  um  damit  dem 
Christenthum  die  Bahn  unter  den  Muhammedanern  zu  brechen. 
Ausserdem  übersetzte  er  selbst  oder  gab  nach  vorhandenen 
Uebersetzungen  heraus  A.  H.  Frankes  Ersten  Unterricht  in  der 
christlichen  Lehre  und  die  Lehre  des  Apostel  Paulus  über  die 
Rechtfertigung  durch  den  Glauben,  Hugo  Grotius  Von  der  Ver- 
führung der  Muhammedaner,  für  die  unter  den  letzteren  leben- 
den Christen  geschrieben,  Freylinghausen  Ordnung  des  Heils 
ins  Arabische  übersetzt,  ebenso  einen  Auszug  aus  der  Geschichte 
des  Alten  und  des  Neuen  Testamentes,  Buch  i — 4  der  Nachfolge 
Christi  von  Thomas  a  Kempis  und  mehrere  Gespräche,  ebenso 
das  Gespräch  Christi  mit  der  Samariterin  und  die  Geschichte  der 
Auferweckung  des  Lazarus;  das  Evangelium  Matthäi,  Apostel- 
geschichte, Römer-  und  Hebräer-Brief,  einen  Theil  der  Bergpredigt, 
die  Auferstehungsgeschichte  nach  Lukas  und  das  hohepriester- 
liche Gebet  aus  dem  Evangelium  Johannis  arabisch;  Stücke  aus 
dem  Evangelinm  des  Lukas  und  Johannes  persisch;  die  Berg- 
predigt nach  Matthäus  und  Stücke  aus  den  Briefen  Petri  und 
Johannis  türkisch.  Dies  alles  neben  der  umfangreichen  Juden- 
missionsliteratur, von  welcher  später  die  Rede  sein  muss. 

Was  seine  persönlichen  Verhältnisse  betrifft,  so  verheirathete 
er  sich   1733  mit  Beata  Amalie,  ältesten  Tochter  des  Geheimraths 


—     253     — 

und  Professors  der  Jurisprudenz  Gasser  zu  Halle.  Aus  dieser 
Ehe  hatte  er  einen  Sohn,  welcher  Theolog  wurde  und  später 
St.  Schultz  in  der  Leitung  des  Institutum  Judaicum  unterstützte, 
dessen  weitere  Schicksale  aber  zu  ermitteln  nicht  gelungen  ist. 
Callenberg  starb  in  einem  Alter  von  66  Jahren  am  16.  Juli 
1760.  Wenige  Minuten  vor  seinem  Tode  wiederholte  er,  wie 
das  Leichenprogramm  sagt,  laut  die  Worte  des  Liedes  „Kommt 
her  zu  mir,  spricht  Gottes  Sohn":  „Es  lebt  kein  Mann,  der  aus- 
sprechen kann  die  Glorie  und  den  ewigen  Lohn,  den  euch  der 
Herr  wird  schenken." 

Callenberg  ragt,  wie  schon  vorher  bemerkt,  unter  den  deut- 
schen Gelehrten  keineswegs  hervor,  als  Professor  war  er  nicht 
besonders  anregend,  und  ebensowenig  darf  man  ihn  einen  in  den 
Erzeugnissen  seiner  Feder  glücklichen  Schriftsteller  nennen.  In 
allen  diesen  Beziehungen  wird  sein  Name  nicht  weiter  genannt. 
Er  war  aber  einer  der  frömmsten  Docenten,  die  je  eine  deutsche 
LTniversität  besessen  hat,  war  sich  stets  dessen  bewusst,  dass  er 
für  die  Verwaltung  der  ihm  von  Gott  verliehenen  Gaben  werde 
Rechenschaft  geben  müssen,  und  für  das  Heil  der  Seelen  anderer 
unablässig  bemüht.  Seine  Frömmigkeit  und  sein  Wirken  trugen 
die  Gestalt  des  deutschen  Pietismus,  dessen  Kind  Callenberg  im 
vollen  Sinne  war,  und  dessen  Vorzüge  sowohl  als  dessen  Schwä- 
chen an  ihm  klar  ausgeprägt  zu  Tage  treten.  Aber  durch  seinen 
Pietismus  ist  er  das  geworden,  was  er  geworden  ist,  und  hat  er 
es  gelernt,  unermüdlich  mit  seinem  Pfunde  zu  wuchern,  so  dass 
er  im  Arbeitseifer  von  wenigen  Zeitgenossen  übertroffen  worden 
ist.  Und  durch  seinen  Pietismus  hat  er  das  geleistet,  was  ihm 
eine  bleibende  Bedeutung  in  der  Geschichte  der  evangelischen 
Kirche  und  der  Kirche  überhaupt  verleiht.  Er  ist  durch  seinen 
Pietismus  in  Wahrheit  der  Vater  der  evangelischen  Judenmission 
geworden.  Denn  durch  ihn  ist  jenes  Institutum  Judaicum  ins 
Leben  gerufen  worden,  das  der  eigentlichen  Judenmission  in  der 
evangelischen  Kirche  die  Bahn  gebrochen  hat,  die  seitdem  auch 
nicht  mehr  aus  dem  Kreise  der  christlichen  Thätigkeiten  ver- 
schwunden ist,  sondern  immer  grössere  und  wachsende  Maasse 
angenommen  hat,  um  es  gerade  in  der  Gegenwart  mit  dem  all- 
gemeinen Erwachen  der  Judenfrage  geltend  zu  machen,  dass  sie 
noch  höhere  Ansprüche  zu  erheben  hat. 

Das  Beispiel  des  Institutum  Judaicum  bestimmt  aber  auch 
noch  heute  die  evangelische  Judenmissionsthätigkeit  und  zieht  in 


254     — 

derselben  mehr  denn  je  praktisch  die  Aufmerksamkeit  auf  sich. 
Die  Einwirkungen  Callenbergs  machen  sich  daher  noch  immer 
spürbar  und  sind  nicht  abgeschlossene.  Die  Folgezeit  wird  dies 
viel  deutlicher  erkennen  und  wird  das  Gedächtniss  dieses  Mannes 
daher  in  ihrer  Mitte  noch  lebendiger  werden  lassen. 

d.  Die  Vorgeschichte  des  Institutum  Judaicum. 

Callenbergs  Bericht,  das  arme  jüdische  Volk  zur  Erkenntniss 
der  christlichen  Wahrheit  anzuleiten,  mit  Fortsetzungen,  Stück  i 
S.  i  ff.,  Stück  10  S.  89  ff.  Stephan  Schultz,  Kurze  Nachricht 
von  einer  zum  Heil  der  Juden  u.  s.  w.  errichteten  Anstalt.  Aufl.  2 
1769.     M.  Joh.  Müller,  Sendschreiben.    Dibre  Emeth  1881  S.  33  ff. 

Professor  Callenberg  hat  als  Gymnasiast  in  Gotha  den 
Unterricht  des  dortigen  frommen  Predigers  Mag.  Joh.  Müller 
genossen.  Letzterer  hatte  1 7 1 9  seinem  früheren  Lehrer,  dem 
Professor  Mai  in  Giessen  einen  Aufsatz  übersandt,  in  welchem  er 
den  Juden  das  christliche  Zeugniss  nahe  zu  bringen  suchte,  und 
den  er  zum  Zwecke  der  leichteren  Verbreitung  unter  jenen 
in  jüdisch  lautenden  Wendungen  und  deutsch -jüdischer  Schrift 
herauszugeben  gedachte.  Für  diese  Schrift  fand  sich  jedoch  kein 
Verleger. 

Besseren  Erfolg  hatte  ein  „Entwurf,  wie  mit  Juden  freundlich 
umzugehen  und  von  wahrer  Herzensbekehrung  zu  reden  sein  möchte, 
in  einem  Gespräche  dargestellt".  Diese  mit  einer  Vorrede  von  Mai 
versehene  Schrift  erschien  1716  in  Giessen.  Das  eben  gefeierte 
Chanuka-Fest  gibt  hier  einem  Christen  Gottlob  Anlass,  einem 
Juden  Jonathan  vorzuhalten,  dass  ihnen  doch  die  Opfer  fehlten. 
Wie  sollten  sie  also  Hilfe  und  Versöhnung  finden?  Busse  und 
eine  Erlösung  von  Sünden  seien  nöthig,  aber  die  gewöhnlichen 
Sühnemittel  und  selbst  der  Tod  reichten  nicht  zu,  um  ihnen  die  Er- 
lösung zu  schaffen.  Die  Propheten  des  Alten  Testamentes  da- 
gegen hätten  einen  rechten  Sündenträger  nachgewiesen,  besonders 
Jesai  C.  53  schildere  ihn,  und  auch  der  Talmud  habe  hier  den 
Versöhner  Israels  erkannt. 

Nach  dieser  Vorbereitung  wird  dann  auf  den  Jesus  des 
Neuen  Testamentes  hingewiesen,  und  mit  der  Messiaslehre  des- 
selben werden  auch  die  übrigen  christlichen  Lehren,  besonders  die 
von  der  Dreieinigkeit  gerechtfertigt.  Das  Gesetz  habe  seine 
Bedeutung  gehabt  und  dürfe  freilich  nicht  von  Menschen  abgeändert 
werden,    wohl  aber  könne  es  Gott    zu    seiner  Erfüllung   bringen. 


255     — 

/■ 
Das  hätten  auch  viele  Rabbinen  gelehrt   und    die  Uebereinstim- 
mung  einiger  derselben  mit    der    christlichen  Anschauung  bildet 
den  Schluss  der  Ausführungen  dieses  Buches. 

Von  Müller  war  auch  Callenberg  auf  die  Juden  hingewiesen 
worden  und  hatte  sich  seitdem  stets  ein  herzliches  Interesse  für 
dieselben  bewahrt.  Als  Student  der  Theologie  in  Halle  hatte  er 
z.  B.  im  Jahre  1720  ein  von  ihm  selbst  hernachmals  mitgetheiltes 
ausführliches  Gespräch  mit  einem  jüdischen  Rabbi  gehabt,  das  in 
der  2.  Fortsetzung  S.   189  ff.  enthalten  ist. 

In  Halle  hörte  dann  Callenberg,  dass  Müller  sich  noch 
weiter  mit  dem  Gedanken  trage,  Schriften  in  jüdisch -deutscher 
Sprache  und  mit  jüdischen  Lettern  gedruckt  erscheinen  zu  lassen; 
da  die  umfangreiche  Literatur,  welche  bisher  den  Juden  das 
Christenthum  predigen  wollte,  zu  einem  sehr  grossen  Theile  ihren 
Zweck  nicht  habe  erfüllen  können,  weil  sie  in  einer  für  die  meisten 
Juden  unverständlichen  Sprache,  Schreib-  und  Druckweise  er- 
schienen sei.  Müller  hatte  insbesondere  Jahre  lang  ein  Buch  im 
Manuscript  liegen,  welches  im  jüdisch-deutschen  Gewände  an  das 
Tageslicht  treten  und  den  Titel  „Licht  am  Abend"  führen  sollte.  Es 
wollte  sich  aber  für  das  Schriftchen  kein  Verleger  finden  lassen. 
Als  dies  Callenberg  zu  Ohren  kam,  erwachte  in  ihm  der  Wunsch, 
das  Manuscript  der  Müller'schen  Arbeit  zu  erlangen,  damit  das- 
selbe nicht  etwa  verloren  ginge.  Callenberg  schrieb  desshalb  an 
Müller  und  sprach  ihm  die  Bitte  aus,  ihm  sein  Manuscript  anzu- 
vertrauen, so  wolle  er  sich  dann  um  den  Druck  desselben  be- 
mühen. 1 723  schickte  ihm  Müller  in  der  That  auch  das  Er- 
betene und  ermächtigte  ihn  brieflich,  mit  demselben  ganz  nach 
seinem  Gutdünken  zu  verfahren. 

Callenberg  gab  sich  nun  Mühe  einen  Verleger  zu  finden, 
aber  es  wollte  ihm  damit  nicht  glücken.  Da  ersuchte  er  den 
Verfasser  ein  Memorial  aufzusetzen,  in  welchem  er  Beiträge  er- 
bitten sollte,  damit  der  Druck  seiner  Arbeit  ermöglicht  würde. 
Unter  dem  23.  Januar  1725  erhielt  Callenberg  das  gewünschte 
Schreiben,  das  hier  um  der  Folgen  willen,  die  es  für  die  Mission 
haben  sollte,  seine  Stelle  finden  möge.  Denn  „das  Licht  am 
Abend",  um  dessen  Druck  es  sich  in  diesem  Briefe  handelt,  hat 
den  eigentlichen  Anstoss  für  die  Errichtung  des  Institutum  Judai- 
cum gegeben. 

„Allen,  die  Christum,  den  Preis  Israels,  lieb  haben  und  in 
seinem   Namen   zu  Gott   flehen   für    die    Kinder  Israel,   dass   sie 


-       256      - 

selig  werden,  Gnade,  Heil  und  Segen  von  Gott  dem  Vater  und 
dem  Herrn  Jesu  Christo. 

Es  hat  der  berühmte  Altorf  sehe  Professor,  Herr  D.  Wagen- 
seil, in  seinem  schönen  Traktat  „Die  Hoffnung  der  Erlösung 
Israels"  zur  Bekehrung  der  Juden  sehr  nützlich  erachtet,  wenn 
man  kleine  glimpfliche  Büchlein  schriebe  und  mit  deutsch-hebräi- 
schen Buchstaben  drucken  liesse,  um  dadurch  auf  eine  angenehme 
Art,  als  hättte  man  etwas  für,  den  Juden  ihr  Elend  fürzustellen 
und  zugleich  durch  starke  Beweisgründe,  denn  die  Worte  der 
Weisen  sind  Spiesse  und  Nägel,  Prediger  Salomonis  12,  1,  die 
Wahrheit  der  christlichen  Religion  zu  beweisen. 

Ferner  hat  der  um  die  christliche  Kirche  hochverdiente 
Theolog,  der  selige  D.  S pener,  in  verschiedenen  Schriften  wohl 
erinnert,  dass,  wenn  wir  bekennten,  gleichwie  die  Weissagungen 
von  Christi  Geburt,  Leben,  Wundern,  Tod  und  Auferstehung 
nach  dem  Buchstaben  erfüllt  worden,  also  soll  auch  noch  vieles, 
was  herrlich  von  Israel  lautet,  gleichfalls  so  klar  und  offenbar 
erfüllt  werden,  als  die  Worte  lauten,  die  Juden  sodann  aber  viel 
weniger  wider  unsere  christliche  Religion  einzuwenden  finden, 
als  da  man  unserseits  so  vieles  in  einem  geistlichen  oder  allego- 
rischen Verstand  erfüllt  zu  sein  vorgibt,  während  doch  die  vor- 
gegebene Erfüllung  bei  weitem  nicht  der  Herrlichkeit  der  Worte 
gleichkommt. 

Ferner  habe  in  Betrachtung  genommen,  wie  der  heilige 
Apostel,  Römer  10,  3,  dies  als  einen  Hauptirrthum  der  Juden 
anführt,  dass  sie  die  Gerechtigkeit,  die  vor  Gott  gilt,  nicht  er- 
kennen, hingegen  ihre  eigene  Gerechtigkeit  aufzurichten  trachten. 
Habe  also  nöthig  erachtet,  ehe  man  von  dem  erschienenen  Messias 
mit  ihnen  handele,  vorher  von  rechter  Busse  und  dem  tröstlichen 
Amte  des  ihren  Vätern  verheissenen  Messias  aus  Mose  und  den 
Propheten,  sonderlich  aus  Jesaia  53  gründlichen  und  kräftigen 
Unterricht  zu  ertheilen,  sodann  weiter  zu  anderen  Punkten  zu 
schreiten. 

In  Erwägung  dieses  alles  habe  ich  vor  etlichen  Jahren  einen 
kleinen  Traktat  unter  dem  Titel  „Licht  am  Abend"  mit  jüdisch- 
deutscher Schrift  den  Juden  zum  Besten  aufgesetzt  und  eine 
geraume  Zeit  bei  mir  liegen  gehabt.  Wenn  dann  sich  jetzt  eine 
Gelegenheit  zeigt,  denselben  an  das  Licht  zu  bringen,  so  habe 
ich  auf  Anrathen  christlicher  Freunde,  meine  hochzuverehrenden 
Pierren,    deren  Herzenswunsch  ist,    dass    die   Kinder  Israel   sich 


__       257       __ 

bekehren,  den  Herrn  ihren  Gott  und  ihren  König  David,  den 
wahren  Messias,  der  ihre  und  der  ganzen  Welt  Sünde  allbereit 
getragen,  in  den  nun  immer  näher  herannahenden  letzten  Tagen 
suchen  möchten  (Hosea  3,  5),  dienstlich  ersuchen  wollen,  zum 
Verlag,  der  etwa  20  Thaler  erfordern  möchte,  nach  ihrer  Bequem- 
lickeit  etwas  beizutragen  und  Vorzeigern  einzuhändigen. 

Den  Herrn  unsern  Gott,  den  einigen  rechten  Gott  Abrahams, 
Isaaks  und  Israels  mit  mir  herzlich  anrufend,  dass  er  selbst  seinen 
Segen  kräftiglich  geben  und  den  Zweck  auf  ihm  gefällige  Weise, 
wozu  durch  dieses  Werklein  nur  ein  geringer  Versuch,  in  gelas- 
senem Vertrauen  auf  seine  göttliche  Kraft,  Weisheit  und  Treue 
dargelegt  wird,  zu  seiner  Zeit  befördern  wolle.  Was  also  auf 
den  Geist  gesäet  wird,  das  wird  gewiss  eine  freudenvolle  Gnaden- 
ernte in  dieser  und  der  zukünftigen  Welt  nach  sich  ziehen." 

Callenberg  übergab  dieses  Schreiben  zuerst  A.  H.  Franke, 
der  nicht  bloss  sofort  einen  Beitrag  zur  Herausgabe  des  Trak- 
tates spendete,  sondern  auch  unter  das  Müller'sche  Memorial  die 
Bemerkung  setzte:  „Nachdem  ich  solches  gelesen,  contribuire  mit 
Freuden  zu  solchem  Vorhaben  2  Thaler  und  ersuche  auch  andere 
christlich  gesinnte  Gemüther,  denen  dieses  zu  Gesichte  kommt, 
nach  Belieben  einen  Beitrag  zu  thun.  Wie  es  zur  Ehre  Gottes 
und  zum  Heil  des  armen  Judenvolkes  in  der  Wahrheit  gemeint 
ist,  auch  dies  des  werthen  Herrn  Autors  besonders  von  Gott 
empfangenes  Talent  ist,  so  wird  es  auch  Gott  nicht  ungesegnet 
lassen.  Ach  dass,  gleich  wie  Joseph  von  seinen  Brüdern  endlich 
erkannt  ist,  so  auch  du,  Herr  Jesu,  von  deinen  Blutsfreunden, 
den  Juden,  endlich  bald  möchtest  erkannt  werden." 

Nach  dieser  Empfehlung  von  A.  H.  Franke  erfolgten  Gaben 
von  mehreren  Seiten,  unter  anderen  von  Prof.  D.  Joh.  Heinrich 
Michaelis.  Die  für  den  Druck  erforderliche  Summe  wurde 
jedoch  durch  die  erste  Sammlung  noch  nicht  zusammengebracht. 
Im  September  1 726  zeigte  Müller  dies  den  Freunden,  welche  sich 
für  seine  Schrift  interessirt  hatten,  an,  und  nun  kam  nicht  bloss 
die  geforderte  Summe,  sondern  auch  noch  etwas  mehr  ein,  so 
dass  die  nächste  finanzielle  Schwierigkeit  erledigt  schien. 

Jetzt  trat  aber  eine  neue  Schwierigkeit  ein.  Der  Buch- 
drucker hielt  sein  anfangs  gegebenes  Versprechen  nicht,  sondern 
stellte  höhere  Forderungen,  und  man  musste  desshalb  von  ihm  ab- 
sehen. Da  rieth  der  fromme,  gelehrte  und  mit  Callenberg  herzlich 
befreundete  Proselyt  Im.  Frommann,  damals  Student  der  Medizin 

J.  F.  A.  de    le    Roi,    Missionsbeziehungen.  iy 


258    - 

in  Halle,  welcher  das  Manuscript  gelesen  hatte,  Callenberg,  sich 
selbst  jüdische  Lettern  anzuschaffen  und  dann  den  Traktat  zu 
drucken.  Callenberg  wollte  zunächst  auf  diesen  Vorschlag  nicht 
eingehen  und  versprach  einem  Drucker,  wenn  derselbe  sich  die 
Lettern  verschaffen  wollte,  ihm  nicht  bloss  eine  grosse  Anzahl 
von  Exemplaren  des  Schriftchens  abzunehmen,  sondern  auch 
künftig  noch  anderes  bei  ihm  drucken  zu  lassen.  Aehnlich 
lautete  sein  Anerbieten  einem  anderen  gegenüber,  aber  in  beiden 
Fällen  glückte  es  ihm  nicht.  Diese  kleinen  Umstände  waren 
jedoch  nicht  ein  blosser  Zufall,  sondern  wurden  für  die  Weiter- 
entwicklung des  Callenberg'schen  Werkes  von  grosser  Bedeutung. 

Frommann  drang  jetzt,  da  es  Callenberg  mit  den  Buchdruckern 
nicht  glückte,  desto  entschiedener  in  den  Freund,  die  erforder- 
lichen Lettern  selbst  anzuschaffen.  Letzterer  ersuchte  den  anderen 
darauf,  ihm  einen  Kostenanschlag  aufzusetzen.  Frommann  that 
dies,  Callenberg  bemerkte  aber  in  diesem  Anschlage  keine  Setzer- 
gebühr notirt.  Hierüber  befragt  antwortete  Frommann,  er  wolle 
selbst  das  Setzen  lernen  und  so  die  Setzerkosten  ersparen  helfen. 
Andere  Einwendungen  beseitigte  Frommann  ebenfalls ,  und  so 
wurden  nun  die  Lettern  bestellt. 

Darüber  war  der  Herbst  1727  herangekommen.  Ehe  aber 
Callenberg  zum  Druck  schritt,  hatte  er  eine  Reise  nach  Gotha 
zu  machen,  auf  die  er  Frommann  mitnahm.  Er  selbst  hatte 
einige  Tage  in  der  Nachbarschaft  von  Gotha  zu  thun  und  sandte 
desshalb  den  Freund  zu  Müller,  um  ihm  die  Nachricht  zu  bringen, 
dass  der  Druck  bevorstände.  Frommann  traf  den  greisen  Geist- 
lichen noch  gesund  an,  und  als  derselbe  hörte,  dass  jetzt  das 
Licht  am  Abend  gedruckt  werden  solle,  brach  er  bewegt  in  die 
Worte  aus:  „Nun  will  ich  mit  Freuden  sterben,  nachdem  ich  das 
gehört  habe." 

Unmittelbar  nach  Frommanns  Weggang  wurde  Müller  krank 
und  bettlägerig.  Auf  die  Nachricht  hiervon  eilte  Callenberg  zu 
ihm,  fand  ihn  aber  schon  in  den  letzten  Zügen.  Wenige  Stunden 
nach  Callenbergs  Weggange  starb  Müller  in  seinem  80.  Lebensjahre. 

Nach  der  Rückkehr  schritt  nun  Callenberg  zum  Druck, 
wobei  Frommann  in  der  That  die  Arbeit  eines  Setzers  verrichtete. 
Im  März  1728  wurde  das  Büchlein  fertig  und  erschien  in  einer  Auf- 
lage von   1000  Exemplaren  in  8°,  6V2  Bogen  stark. 

Die  näheren  Umstände,  unter  welchen  es  zum  Drucke  dieses 
Traktates  kam,  verdienen  aber  darum  besonderer  und  ausführlicher 


—     259     — 

Erwähnung,  weil  dieselben  in  mehrfacher  Beziehung  bemerkens- 
werthe  sind.  Sie  liefern  besonders  klar  den  Beweis,  dass  Callen- 
berg  nicht  von  schwärmerischen  Gefühlen  getrieben  seine  Hand 
zu  einem  Werke  an  den  Juden  bot,  sondern  dass  er  von  den 
Verhältnissen  förmlich  gezwungen  wurde,  immer  weiter  vorwärts  zu 
gehen.  Sie  sind  aber  auch  darum  so  beachtenswerthe,  weil  schein- 
bare Kleinigkeiten  den  Anstoss  dazu  geben  mussten,  dass  hier 
nicht  bloss  ein  einzelner  Traktat  ans  Licht  trat,  sondern  dass 
gewisse  Grundlagen  zu  einem  Werke  gelegt  wurden,  welches  her- 
nach eine  im  Anfange  nicht  geahnte  Bedeutung  gewonnen  hat. 
Die  Errichtung  einer  eigenen  Druckerei,  zu  welcher  Callenberg 
genöthigt  wurde,  ist  für  die  Folge  von  grosser  Wichtigkeit  geworden. 

Das  Licht  am  Abend  selbst  aber  hat  nicht  bloss  eine  merk- 
würdige Entstehungsgeschichte,  sondern  hat  alsdann  auch  im 
Missionswerke  eine  besondere  Stelle  erlangt. 

Diese  Schrift  trägt  in  ihrer  ganzen  Anlage  einen  eigenthüm- 
lichen  Charakter.  Um  ihr  leichteren  Eingang  bei  den  Juden  zu 
verschaffen,  hatte  Müller  gebeten,  es  nicht  zu  veröffentlichen,  dass 
ein  Christ  ihr  Verfasser  sei,  sondern  sie  namenlos  erscheinen  zu 
lassen.  Frommann  aber  setzte  Müllers  Namen  in  hebräischer 
Uebersetzung  „Jochanan  Kimchi"  auf  ihren  Titel  und  erinnerte 
damit  an  den  berühmten  Rabbi  Kimchi. 

Für  die  Behandlung  des  Themas  ist  die  Gesprächsform 
gewählt  und  in  den  Ausführungen  alles  vermieden ,  was  dem 
Juden  von  seinem  Standpunkte  aus  fern  lag.  Müller  tritt  durch- 
aus auf  den  Boden  der  jüdischen  Anschauungen  und  beruft  sich 
nicht  auf  das  Neue  Testament,  noch  beweist  er  etwas  von  christ- 
lichen Voraussetzungen  aus,  sondern  er  stützt  sich  überall  auf  das 
Alte  Testament  an  erster  Stelle  und  nebenbei  auf  rabbinische 
Autoritäten, 

Das  Gespräch  geht  von  der  Behauptung  vieler  christlichen 
Priester  aus,  dass  es  für  das  gefangene  Israel  keine  Erlösung  mehr 
gebe,  da  dieselbe  bereits  durch  den  Messias  zur  Zeit  des  zweiten 
Tempels  geschehen  sei.  Um  so  mehr  wolle  die  Frage  nach  der 
Erlösung  der  Juden  untersucht  sein. 

Es  wird  nun  zunächst  festgestellt,  dass  der  Erlösung  Israels 
nach  den  Propheten  zuerst  eine  ernste  Busse  desselben  voran- 
gehen müsse,  und  dieselbe  eine  Frucht  grosser  Angst  und  Trübsal 
die  über  Israel  kommen  würde,  sein  werde.  Hierfür  werden  die 
Zeugnisse  des  Alten  Testamentes    und  von  Rabbinen   angeführt. 


—      2Ö0      — 

Hänge  aber  die  Erlösung  von  wahrer  Busse  ab,  so  müsse  diese 
Busse  auch  recht  verstanden  werden.  Wahre  Busse  sei  eine 
solche,  die  von  ganzem  Herzen  und  ganzer  Seele  geschehe.  Die 
Busse  des  Jörn  Kippur  oder  Versöhntages,  welche  in  nichts 
anderem  als  in  einigen  leiblichen  Kasteiungen  bestehe,  reiche 
daher  nicht  aus  und  vermöge  nicht  die  Sünden  eines  ganzen 
Jahres  zu  tilgen.  Tilgung  der  Sünde  könne  vielmehr  allein  durch 
den  Messias  geschehen.    Jesaia  53  zeige  dies. 

Alle  Auslegungen  dieses  Kapitels,  welche  in  demselben 
etwas  anderes  als  die  Leiden  des  Messias  für  die  Sünder  haben 
erblicken  wollen,  werden  dann  als  falsche  dargethan.  Die  alten 
Rabbinen  freilich  hätten  in  diesem  Kapitel  nur  die  leiblich  er- 
littenen Plagen  des  Messias  erblickt. 

Auf  die  Person  dieses  Messias  wird  alsdann  des  Näheren 
eingegangen.  In  ihm  habe  sich  nach  der  jüdischen  Lehre  die 
genaueste  Verbindung  der  göttlichen  Natur,  für  welche  der  Ver- 
fasser die  unter  den  Juden  bekannten  Namen  Schechina  und 
Memra  gebraucht,  mit  einem  menschlichen  Leibe  und  einer 
menschlichen  Seele  vollzogen,  so  dass  er  in  Wahrheit  „Herr,  der 
unsere  Gerechtigkeit  ist",  heissen  kann.  Die  göttliche  Natur  dieses 
Messias  führt  dann  weiter  zu  näherem  Eingehen  auf  das  göttliche 
Wesen  überhaupt,  und  werden  hierbei  jüdische  Zeugnisse,  welche 
von  einer  Dreiheit  in  der  Einheit  des  göttlichen  Wesens  reden, 
angeführt. 

Um  aber  an  diesem  Messias  Theil  zu  haben,  bedürfe  man 
der  inneren  Reinigung  durch  reines  Wasser,  und  um  ihm  bleibend 
anzugehören,  müsse  man  slsdann  auch  sein  Leben  in  dankbarer 
Liebe  gegen  ihn  führen. 

Nachdem  der  Verfasser  so  den  ganzen  Heilsweg  beschrieben 
hat ,  geht  er  darauf  ein ,  dass  viele  Christen  den  Juden  die  Er- 
lösung nicht  gönnen.  Doch  ihr  Evangelium  sei  daran  nicht 
Schuld,  denn  dieses  lehre  das  Gegentheil.  Auf  dieses  Evangelium 
möge  aber  diesmal  nur  eben  hingewiesen  und  von  ihm  nicht 
besonders  geredet  werden,  fügt  der  Verfasser  hinzu  und  weist  so 
leise  auf  dasselbe  hin,  nachdem  er  den  Inhalt  des  Alten  Testa- 
mentes und  eines  Theiles  der  rabbinischen  Literatur  als  mit  dem 
Evangelium  übereinstimmend  dargestellt  und  so  wie  von  selbst 
die  Brücke  zu  Jesu  und  zum  Christenthum  geschlagen  hat. 

Dieses  Buch  nun  fand  eine  ausserordentliche  Verbreitung 
unter   den  Juden.     Es    wurde    nicht  bloss  durch  die  Callenberg'- 


—      2ÖI       — 

sehen  Missionare  und  durch  viele  Christen  unter  ihnen  umsonst 
vertheilt,  sondern  vielfach  auch  von  den  Juden  gekauft  und  an- 
fangs sogar  in  ganzen  Partieen.  1736  musste  es  Callenberg  in 
hochdeutscher  Uebersetzung  erscheinen  lassen,  1 73  1  hatte  bereits 
die  Society  for  promoting  Christian  Knowledge  eine  englische 
Uebersetzung  des  Traktates  veranstaltet;  der  holländische  Prediger 
W.  H.  Geestmann  übertrug  es  1735  ins  Holländische  und  liess 
es  in  Nimwegen  drucken,  damit  es  unter  den  portugiesischen 
Juden  verbreitet  würde.  1732  erschien  eine  italienische  Ueber- 
setzung durch  Conrektor  Ludwig  Vockerodt  in  Brandenburg, 
1748  eine  französische  durch  Professor  Ruchat  in  Lausanne. 
Die  Londoner  Missionsgesellschaft  hat  es  dann  in  diesem  Jahr- 
hundert neu  aufgelegt  und  verbreitet  es  auch  heute  noch  in 
jüdisch- deutscher,  jüdisch -polnischer,  hebräischer  und  englischer 
Uebersetzung.  Es  wird  aber  auch  in  der  Gegenwart  noch  mit 
Nutzen  besonders  in  den  Kreisen  der  östlichen  Juden  gebraucht. 

Ganz  besonders  sichtlich  war  der  Eindruck,  den  diese  Schrift 
auf  die  Juden  jener  Tage  machte;  sie  gehörte  Jahrzehnte  hindurch 
zu  den  unter  den  Juden  gelesensten  und  gefürchtetsten  Büchern ; 
und  die  Callenberg'schen  Berichte  wissen  eine  ganze  Reihe  von 
Bekehrungen,  welche  das  Licht  am  Abend  herbeigeführt  hat,  zu 
melden.  Unter  anderen  wird  ein  in  Königsberg  studirender 
Proselyt  erwähnt,  den  das  Licht  am  Abend  zur  Erkenntniss 
Christi  gebracht  habe. 

Müller  hat  dem  Professor  Callenberg  noch  eine  andere 
Schrift  im  Manuscript  hinterlassen,  welche  sein  Freund  alsdann 
unter  dem  Titel  „Sendschreiben  an  die  europäische  Judenschaft" 
in  jüdisch- deutscher  Sprache  1729  herausgab,  und  die  von  der 
Vergebung  der  Sünden  handelt.  Das  Büchlein  ist  unter  dem 
Namen  „Das  kleine  Sendschreiben"  in  der  Mission  bekannt  ge- 
worden und  erlebte  auch  eine  hochdeutsche  und  eine  englische 
Uebersetzung.  Hier  wird  zunächst  die  Beschuldigung,  dass  die 
Juden  Christenblut  gebrauchten,  widerlegt  und  dann  auf  ihre 
wirkliche  Schuld  eingegangen.  Die  Mittel,  welche  die  Juden 
wählen,  von  ihrer  Schuld  frei  zu  werden,  werden  ihnen  als 
nichtige  nachgewiesen;  Vergebung  der  Sünden  könne  allein  durch 
den  Messias  und  nur  durch  eine  wahre  Bekehrung  zu  demselben 
erfolgen;  worauf  dann  auf  die  Person  und  das  Werk  desselben 
weiter  eingegangen  wird. 


—      2Ö2      — 

Von  demselben  Verfasser  verbreitete  die  Halle'sche  Mission 
auch  das  sogenannte  „Grössere  Sendschreiben",  welches  ein  Aus- 
zug aus  dem  Licht  am  Abend  ist  und  1732  in  jüdisch-deutscher 
Sprache  herauskam.  Dasselbe  fand  besonderen  Eingang  in 
jüdischen  Kreisen,  1746  erschien  es  in  vierter  Auflage  und 
wurde  in  Amsterdam  von  dortigen  Juden  selbst  1734  in  das 
Holländische  übersetzt;  irrthümlich  sah  man  Callenberg  für  den 
Verfasser  des  Büchleins  an. 

e.  Die  Anfänge  des  Institutum  Judaicum. 

Callenberg,  Andere  Fortsetzung  des  Berichtes  S.  117  ff. 
Callenberg,  Neue  summarische  Nachricht. 

Professor  Callenberg  fühlte  sich  gedrungen,  einen  öffentlichen 
Bericht  über  seine  Bemühungen,  die  auf  den  Druck  des  Lichtes 
am  Abend  gerichtet  waren,  abzustatten  und  den  Gebern  für  die 
empfangenen  Beiträge  zu  danken.  Er  that  dies  unter  dem 
3.  April  1728  und  betrachtete  hernach  selbst  diesen  Tag  als  den 
eigentlichen  Anfang  des  Institutum  Judaicum.  In  diesem  Berichte 
erklärte  er  nämlich  zugleich,  dass  er  seine  Thätigkerr.  für  die 
Beförderung  christlicher  Erkenntniss  unter  den  Juden  mit  der 
Herausgabe  des  einen  Buches  nicht  für  abgeschlossen  halten 
dürfe,  da  er  durch  die  Umstände  den  Fingerzeig  erhalten  habe, 
auf  diesem  Gebiete  weiter  vorwärts  zu  gehen. 

Er  hatte  sich  ja  genöthigt  gesehen,  für  den  Druck  des 
Licht  am  Abend  eigene  jüdische  Lettern  anzuschaffen;  und  da 
so  nun  eine  jüdische  Druckerei  vorhanden  war,  erkannte  er,  dass 
„eine  Gelegenheit  vorhanden  sei,  dem  jüdischen  Volke  mit  einem 
Mehreren  zu  dienen".  Sein  Bericht  sollte  auch  hierauf  hinweisen 
und  Christen  dazu  ermuntern,  dass  sie  ihm  für  weitere  literarische 
Wirksamkeit  unter  den  Juden  in  der  eingeschlagenen  Richtung 
Handreichung  thäten.  Gleichzeitig  bat  er,  dass  man  ihm  auch 
für  eine  weitere  Verbreitung  evangelischer  Schriften  unter  den 
Muhammedanern  behilflich  sein  wolle  und  ihm  Unterstützungen 
zukommen  lassen  möge,  damit  er  eine  arabische  Druckerei  an- 
zulegen im  Stande  wäre. 

Dieser  Bericht  nun  fand  nicht  bloss  eine  gute  Aufnahme, 
sondern  hatte  auch  zur  Folge,  dass  Callenberg  von  den  verschie- 
densten Orten  her  die  Aufforderung  erhielt,  nach  den  oben 
genannten  beiden  Seiten  hin  das  begonnene  Werk  fortzusetzen. 
Gleichzeitig  liefen  verhältnissmässig  ansehnliche  Spenden  bei  ihm 


—     263     — 

ein.  Im  Oktober  1728  wurden  ihm  an  einem  Tage  aus  Holland 
58  Thaler  übersandt.  In  denselben  Tagen  erhielt  er  aber  auch 
J3  Thaler  von  G.  A.  Franke,  dem  Sohne  des  A.  H.  Franke, 
welche  demselben  für  Callenberg  übergeben  worden  waren,  zu- 
gestellt, und  gleichzeitig  ermunterte  ihn  derselbe,  indem  er  ihn 
auf  das  Beispiel  seines  Vaters  A.  H.  Franke  hinwies,  „mit  dieser 
schönen  Summe  etwas  Rechtes  anzufangen".  Diese  Mahnung  fiel 
auf  einen  guten  Boden.  Callenberg  erinnerte  sich  jetzt  an  einen 
Wunsch  des  württembergischen  Prälaten  D.  Hochstetter,  von 
dem  er  einmal  in  einer  Vorlesung  A.  Ff.  Frankes  gehört  hatte, 
und  der  ihm  hernach  bei  der  Herausgabe  der  Franke'schen 
Leichenpredigten  aufs  Neue  ins  Gedächtniss  zurückgerufen  worden 
war  (S.  978). 

Jener  württembergische  Theologe  hatte  nämlich  gegen  den 
ihn  besuchenden  A.  H.  Franke  geäussert,  dass  ihm  ein  Wunsch, 
den  er  gehegt,  durch  Halle  in  Erfüllung  gegangen  sei,  während 
ein  anderer,  den  er  gleichfalls  in  seinem  Herzen  hege,  noch  der 
Erfüllung  harre.  Auf  Frankes  Frage,  was  das  für  ein  Wunsch 
sei,  antwortete  Hochstetter:  „Die  Sache,  die  erlangt  sei,  wäre 
diese,  dass  von  der  evangelischen  Kirche  der  grosse  Makel  ab- 
gewischt sei,  welchen  ihr  die  Papisten  allezeit  vorgeworfen,  warum 
die  Evangelischen  nicht  ausgingen,  die  Bekehrung  der  Heiden 
zu  suchen.  Wären  sie  die  wahre  Kirche,  so  würden  sie  an  das 
Wort  denken:  gehet  hin  in  alle  Welt  u.  s.  w.  Diesen  Vorwurf 
hat  Gott  durch  Ihre  Mission  hinweggenommen,  da  von  Ihrem 
Orte  Leute  unter  die  Heiden  gegangen  sind".  Als  ihn  dann 
aber  Franke  bat,  ihm  auch  die  Sache  zu  nennen,  die  er  noch 
wünsche,  antwortete  Hochstetter:  „Unserer  evangelischen  Kirche 
wäre  es  ein  grosser  Vorwurf,  dass,  wenn  Ungläubige  wie  Juden 
u.  s.  w.  zu  uns  kämen,  Niemand  wäre,  der  sich  ihrer  recht  an- 
nehme, so  dass  sie  kaum  fänden,  dass  sie  mit  Fleiss  in  der 
evangelischen  Wahrheit  unterrichtet  würden.  Und  wäre  endlich 
dies  noch  geschehen,  so  gebe  man  ihnen  einen  Bettelbrief  in  die 
Hände  und  schicke  sie  damit  fort.  Weil  sie  dabei  nun  aber 
Jedermanns  Vorwurf  wären,  schrecke  dies  die  Menschen  gewaltig 
ab  und  verursache,  dass  sie  sich  nicht  zu  uns  thäten,  da  sonst 
kein  Zweifel  wäre,  dass  noch  gar  viele  von  den  Juden  zu  dem 
Glauben  an  Christum  und  von  den  Irrgläubigen  zu  der  Erkennt- 
niss  der  reinen  evangelischen  W7ahrheit  gebracht  werden  könnten, 
wenn  wir  uns  in  der  Liebe  gegen  sie   besser    erwiesen,    sie    auf- 


—    264     — 

nahmen  und  ihnen  den  Weg  zeigten,  welchen  sie  wandeln  sollten. 
Dies  wünschte  ich  noch  erfüllt  zu  sehen." 

Später  erzählte  Franke  den  Studirenden  in  Halle,  dass  er 
diese  frommen  Wünsche  nicht  in  seinem  Herzen  allein  verwahren, 
sondern  auch  ihnen  dieselben  habe  mittheilen  wollen.  Denn  es 
gebe  eine  Zeit,  da  man  fromme  Wünsche  so,  wie  es  Spener 
gethan  habe,  ausspreche  und  eine  andere,  da  Gott  die  Wege  und 
Mittel  zeige,  sie  zu  erfüllen.  Solche  Wünsche  müsse  man  aber, 
wenn  man  deren  Erfüllung  nicht  sogleich  erlebe,  desshalb  nicht 
für  unausführbar  halten,  sondern  sie  den  Nachkommen  übergeben, 
damit  sie  von  ihnen  ins  Werk  gesetzt  würden. 

Als  Callenberg  damals  A.  H.  Franke  diese  Worte  aus- 
sprechen hörte,  so  theilt  er  bei  Gelegenheit  des  Empfanges  jenes 
Geldes  mit,  hätten  sie  ihm  zwar  einen  tiefen  Eindruck  gemacht, 
er  habe  aber  nicht  geglaubt,  dass  Jemand  den  Anfang  damit 
machen  würde,  sie  der  Erfüllung  entgegenzuführen.  Jetzt  aber, 
als  er  die  ansehnliche  Liebesgabe  aus  den  Händen  des  Sohnes 
von  A.  H.  Franke  in  den  Händen  hielt,  sei  ihm  das  Wort  des 
Vaters  wieder  aufs  Herz  gefallen  und  er  habe  beschlossen,  diese 
Gabe  dafür  zu  verwenden,  dass  mit  einem  auf  das  Heil  der 
Juden  gerichteten  Werke  ein  ernstlicher  Anfang  gemacht  werde. 

Von  jetzt  ab  liess  es  denn  auch  Callenberg  keine  Ruhe 
mehr,  sondern  er  fühlte  sich  innerlichst  gedrängt,  weiter  zu  gehen. 
Er  hatte  schon  vorher  Sorge  darum  getragen,  dass  auch  das 
Licht  am  Abend  möglichst  verbreitet  würde  und  besonders  in 
die  Hände  der  Juden  käme.  Zu  diesem  Zwecke  hatte  er  einen 
alten  bedürftigen  Franzosen  angestellt,  dass  er  das  Büchlein  als 
Colporteur  herumtrage  und  anbiete,  und  so  im  Verlaufe  eines 
Vierteljahres  allein  216  Exemplare  desselben  an  Juden  verkauft; 
abgesehen  von  der  Zahl  derer,  die  an  Juden  verschenkt  oder  an 
Christen  abgesetzt  worden  waren.  Ebenso  hatte  Callenberg 
seinen  Freund  Frommann  beauftragt,  das  Evangelium  des 
Lucas  und  die  Apostelgeschichte  ins  Jüdisch -deutsche  zu 
übersetzen. 

Nun  aber  erbot  sich  auch  ein  christlicher  Freund  in  Halle, 
der  in  der  Jugend  das  Buchdrucken  erlernt  hatte,  alles,  was  in 
dem  Institutum  Judaicum  erscheinen  würde,  für  dasselbe  umsonst 
zu  setzen.  Callenbergs  Muth  wuchs  darüber  und  er  dachte  jetzt 
daran,  nicht  allein  den  Juden,  welche  das  Jüdisch -deutsche 
sprachen,  sondern  den  Juden  überall  das  Evangelium  zugänglich 


—     2Ö5      — 

zu  machen.  Dazu  war  es  aber  nöthig,  dass  die  hebräische 
Sprache  erwählt  wurde,  weil  diese  allein  den  Juden  der  verschie- 
denen Länder  gemeinsam  und  überall  verständlich  war. 

Callenberg  trug  sich  jetzt  also  mit  dem  Plane  einer  hebräi- 
schen Uebersetzung  des  Evangeliums  Lucä,  da  er  die  Hutter'sche 
Uebersetzung  mit  Recht  nicht  für  zureichend  hielt,  und  bot  es 
dann  Frommann  an,  eine  solche  Uebersetzung  des  Evangeliums 
und  der  Apostelgeschichte  des  Lucas  anzufertigen.  In  demselben 
Jahre  wurden  auch  noch  rabbinische  Lettern  angeschafft,  und 
erschien  Müllers  erstes  Sendschreiben  in  jüdisch-deutscher  Sprache. 

Unter  den  Studenten  der  Universität  Halle  blieben  diese 
Bemühungen  Callenbergs  nicht  unbemerkt.  Bald  nach  der  Ver- 
öffentlichung des  Licht  am  Abend  that  sich  eine  Anzahl  der- 
selben zusammen,  um  das  Jüdisch-deutsche  zu  erlernen  und  sich 
darauf  vorzubereiten,  dass  sie  in  ihrem  zukünftigen  Amte  auch 
den  Juden  dienlich  werden  könnten.  Callenberg  aber  wollte  die 
sich  hier  bietende  Gelegenheit,  das  Werk  in  weitere  Kreise  zu 
tragen  und  die  künftigen  Diener  der  Kirche  bei  Zeiten  in  dasselbe 
hineinzuziehen,  nicht  unbenutzt  lassen,  sondern  griff  mit  Freuden 
zu  und  bot  den  Studierenden  die  Hand,  zunächst  auf  eine  leichte 
Weise  der  Sache  näher  zu  treten.  Er  las  also,  obwohl  Professor 
der  Philosophie,  denselben  im  Jahre  1729  zum  ersten  Male  ein 
auf  die  Mission  bezügliches  Colleg,  und  zwar  über  das  Licht  am 
Abend  und  über  das  Jüdisch-deutsche. 

Im  Juli  desselben  Jahres  aber  bat  ihn  dann  der  Student 
der  Theologie  A.  Maniti us  nicht  bloss  um  erneuerten  Unterricht 
im  Jüdisch-deutschen,  sondern  auch  um  Errichtung  eines  Seminars, 
in  welchem  Studenten  Anleitung  und  Vorbereitung  für  eine  Arbeit 
an  den  Juden  erhalten  möchten.  Für  ein  Unternehmen  solcher 
Art  aber  hatte  der  vorsichtige  Callenberg  noch  nicht  den  rechten 
Muth;  denn  es  gehörte  nun  einmal  zu  den  Schranken  des  Mannes, 
dass  er  weiter  aussehende  und  weiter  greifende  Pläne  erst  sehr 
allmählig  und  nur  unter  dem  Drange  der  Verhältnisse  fassen  lernte. 
Doch  erklärte  er  sich  jetzt  bereit,  den  Studenten  ein  Colleg  in 
wöchentlich  einer  Stunde  zu  lesen,  welches  ihnen  die  erwünschte 
Anleitung  geben  sollte.  Diese  Vorlesung  trat  denn  auch  sogleich 
ins  Leben,  und  Callenberg  las  hier  über  das  rabbinische  Schrift- 
thum,  über  die  Zustände  unter  den  Juden,  und  wie  man  christ- 
licherseits  dieselben  für  die  Wahrheit  des  Evangeliums  zu  gewinnen 
suchen  solle. 


—     266     — 

Die  Einnahmen  des  Jahres  1728  beliefen  sich  bereits  auf 
fast  300  Thaler;  sie  wuchsen  dann  aber,  und  bald  flössen  ihm 
Beiträge  aus  ganz  Deutschland,  Russland,  Dänemark,  England, 
Oesterreich  und  Italien  zu.  Die  ihm  dargebotenen  Mittel  un- 
benutzt liegen  zu  lassen,  gestattete  Callenberg  sein  zartes 
Gewissen  nicht.  Denn  er  war  in  seltenem  Maasse  von  dem 
Gefühle  durchdrungen,  dass  er  für  die  Verwaltung  der  ihm  von 
Gott  und  für  sein  Reich  übergebenen  Mittel  werde  Rechenschaft 
geben  müssen.  Im  März  1730  berichtet  er  denn  auch,  dass 
bereits  eine  Druckerei  mit  hebräischen,  deutschen,  jüdisch-deutschen 
und  arabischen  Lettern  vorhanden  sei.  Bei  der  Druckerei  seien 
3  bekehrte  Juden  beschäftigt,  nämlich  Frommann,  damals  noch 
Student  der  Medizin,  der  Schriften  in  hebräischer,  rabbinischer 
und  jüdisch- deutscher  Sprache  ausarbeite,  ein  anderer,  der  zu 
copiren  habe,  und  ein  dritter,  welchen  das  Institutum  ganz  erhalte, 
indem  er  die  Stelle  des  Setzers  in  der  Druckerei  einnehme. 

Herausgekommen  seien  bis  dahin,  also  im  Laufe  von  zwei 
Jahren,  in  jüdisch -deutscher  Sprache  das  Licht  am  Abend,  ein 
Brief  an  die  Judenschaft  und  die  Bergpredigt;  im  Drucke  befänden 
sich  das  Evangelium  und  die  Apostelgeschichte  des  Lucas; 
in  arabischer  Sprache  Luthers  Katechismus,  ein  Stück  der  Berg- 
predigt, der  Anfang  der  christlichen  Lehre  von  A.  H.  Franke 
und  des  Apostel  Paulus  Lehre  von  der  Rechtfertigung  durch  den 
Glauben,  von  Freilinghausen  endlich  die  Ordnung  des  Heils. 

Callenberg  aber  erkannte  jetzt  auch  bereits,  dass  er  auf  die 
Herstellung  einer  Missionsliteratur  Bedacht  zu  nehmen  habe,  die 
nach  einem  ganz  bestimmten  Plan  erwachsen  müsse.  Vor  allem 
käme  es  darauf  an,  das  Neue  Testament  theils  mit  kürzeren,, 
theils  mit  ausführlicheren  Erklärungen  und  Anmerkungen  heraus- 
zugeben, in  den  letzteren  die  Einwürfe  der  Juden  zu  widerlegen 
und  die  Uebereinstimmung  beider  Testamente  darzuthun,  Stellen 
aus  dem  Alten  Testamente,  welche  vom  Messias  handeln,  den 
Juden  gründlich  zu  erklären  und  ihnen  ausführlich  zu  beweisen,, 
dass  auch  das  Neue  Testament  Gottes  Wort  sei,  Schriften  her- 
auszugeben ,  welche  die  christliche  Lehre  im  Zusammenhange 
darlegen  und  dieselbe  durch  das  Alte  Testament  zu  stützen, 
aber  auch  andere  erscheinen  zu  lassen,  welche  die  Widerlegung 
der  jüdischen  Irrthümer  und  Vorurtheile  zum  Zwecke  hätten;, 
ferner  eine  kurzgefasste  Kirchengeschichte  zu  liefern,  welche  den 
jüdischen    Verunstaltungen    und    Verdrehungen     der    christlichen 


—    267    — 

Kirchengeschichte  entgegenzutreten  hätte,  und  eine  Schrift  dar- 
zubieten, die  sich  mit  den  verschiedenen  Kirchen  der  Gegenwart 
beschäftige  und  dieselben  an  der  Lehre  des  Neuen  Testamentes 
prüfe,  damit  den  Juden  einerseits  der  Anstoss  der  Spaltung  der 
christlichen  Kirche  aus  dem  Wege  geräumt  würde,  und  damit 
dieselben  anderseits  wüssten,  an  welche  der  vorhandenen  Kirchen 
sie  sich  anschliessen  sollten. 

So  klar  erkannte  Callenberg  bald  die  Bedürfnisse,  die  eine 
ihrer  Aufgabe  entsprechenden  Missionsliteratur  zu  befriedigen 
habe;  und  an  diesem  Punkte  trat  es  sogleich  zu  Tage,  dass  er 
in  hohem  Grade  dazu  berufen  war,  auf  diesem  Gebiete  unter 
seinen  Zeitgenossen  die  Führung  zu  übernehmen. 

Ein  Ueberschlag  über  die  ihm  zufiiessenden  Gelder  sagte 
ihm  aber  auch,  dass  er  sich  auf  die  literarische  Thätigkeit  nicht 
zu  beschränken  habe,  sondern  dass  ihm  die  Mittel  für  eine  darüber 
hinaus  zu  entfaltende  Thätigkeit  geboten  wären.  Sofort  war  er 
desshalb  entschlossen,  noch  an  einer  anderen  Stelle  einzusetzen, 
die  eben  so  laut  und  dringend  die  Hilfe  der  Christen,  denen  das 
Wohl  der  Juden  am  Herzen  lag,  erforderte.  Den  elenden  Zustand 
vieler  Proselyten  hatte  schon  A.  H.  Franke  das  vornehmste  Hinder- 
niss,  dass  sich  die  Juden  nicht  zu  Christo  bekehren  wollten, 
genannt.  Dieses  Wort  seines  Lehrers  und  die  eigene  Erfahrung 
Callenbergs  führten  denselben  zu  der  Erkenntniss ,  dass  es  hier 
dringend  nöthig  sei,  die  bessernde  Hand  anzulegen. 

Unter  dem  8.  August  1729  liess  er  denn  auch  bereits  eine 
„Nachricht,  betreffend  einige  Fürsorge  für  diejenigen  Juden,  welche 
die  christliche  Religion  angenommen  haben",  ausgehen.  Hier 
bezeugt  er  nun  den  Christen  die  traurige  Lage  vieler  Proselyten, 
welche  die  Juden  abschrecken  müsse,  das  Christenthum  anzunehmen. 
Viele  dieser  Proselyten  hätten  während  ihrer  Zubereitung  zur 
Taufe  keine  gründliche  Erkenntniss  von  dem  rechtschaffenen 
Wesen  in  Christo  erlangt,  und  die  meisten  seien  dann  auch  um 
die  Erlangung  einer  besseren  Erkenntniss  unbekümmert,  sondern 
wanderten  nur  als  Bettler  von  Ort  zu  Ort  und  kämen  hierbei 
oft  völlig  um  allen  christlichen  Sinn. 

Die  ihm  Ende  des  vergangenen  Jahres  übergebene  grössere 
Summe  habe  aber  in  ihm  den  Vorsatz  wach  gerufen,  was  er  an 
seinem  Theile  dazu  beitragen  könne,  zu  thun,  damit  dem  Elend 
der  herumwandernden  Proselyten  ein  Ende  gemacht  werde.  Die 
Beiträge    der  Freunde    des  Institutum    hätten    ihn    in    den  Stand 


—     268     — 

gesetzt,  200  Thaler  als  ein  Kapital,  das  jährlich  12  Thaler  Zinsen 
abwürfe,  zurückzulegen.  So  klein  diese  Summe  sei,  habe  er  sich 
doch  vorgenommen,  von  derselben  wenigstens  den  besten  Gebrauch 
zu  machen.  Er  habe  also  daran  gedacht,  da  die  Zahl  der  durch 
Halle  wandernden  Proselyten  eine  sehr  bedeutende  sei,  ihrer 
grossen  Unwissenheit  und  Herzensverkehrtheit  doch  ein  wenig 
abzuhelfen.  Ein  alter  frommer  Candidat  (Leichner)  habe  sich 
erboten,  ihm  hierin  ohne  jeden  Entgelt  behilflich  zu  sein.  So 
wolle  er  nun  jeden  durchreisenden  Proselyten  zunächst  drei  Tage 
in  Halle  behalten,  demselben  für  jeden  Tag  drei  Groschen  geben 
und  ihn  durch  den  betreffenden  Candidaten  täglich  zwei  Stunden 
unterrichten  lassen;  selbst  aber  wolle  er  am  letzten  Tage,  soviel 
es  seine  Geschäfte  erlaubten,  mit  jedem  dieser  Wanderer,  ehe  er 
nun  Halle  wieder  verlasse,  noch  einmal  sprechen.  Käme  mehr 
Geld  ein,  dann  solle  die  Zeit,  die  ein  solcher  durchreisender 
Proselyt  in  Halle  zurückgehalten  und  aufgenommen  würde,  um 
ihm  Unterricht  und  Pflege  angedeihen  zu  lassen,  auf  eine  oder  zwei 
bis  vier  Wochen  ausgedehnt  werden,  damit  so  für  das  geistliche 
Wohl  der  armen  Leute  gesorgt  werden  könne;  zugleich  aber 
wolle  er  Erkundigungen  einziehen,  wo  sie  sich  bleibend  ihr  Brot 
erwerben  könnten,  damit  ihrem  unsteten  Leben  ein  Ziel  gesetzt 
werde.  Der  Setzer  des  Institutum  war  auf  diese  Weise  z.  B.  zu 
einem  festen  Brote  gebracht  worden.  Alle  Arbeit,  die  das  Insti- 
tutum zu  verrichten  hatte,  Hess  Callenberg  überhaupt,  so  weit  es 
irgend  anging,  durch  Proselyten  geschehen.  Im  Jahre  1730  aber 
konnte  bereits  die  Aufenthaltszeit  für  die  Durchwandernden  auf 
acht  Tage  festgesetzt  werden. 

Den  in  Halle  wohnhaften  Proselyten  hielt  Callenberg  seit 
1730  an  jedem  Sonntag  Abend  zwischen  6  und  7  Uhr  eine  Er- 
bauungsstunde, der  auch  andere  Christen  beiwohnten;  und  den 
Unterstützungsbedürftigen  unter  diesen  Proselyten  wurde  nach 
Möglichkeit  unter  die  Arme  gegriffen,  insbesondere  aber  die 
Theilnahme  der  Christen  für  sie  angesprochen. 

Ernste  Sorge  widmete  Callenberg  den  sich  zur  Taufe  mel- 
denden Juden.  Er  suchte  sich  durch  Erkundigungen,  die  auch 
selbst  bei  Juden  in  vorsichtiger  Weise  eingezogen  wurden,  über 
den  Charakter  derselben  Gewissheit  zu  verschaffen,  und  wandte 
sich,  wenn  die  Nachrichten  günstig  lauteten,  an  das  Stadtministerium 
in  Halle  oder  an  andere  Orte,  die  sich  stets  willig  zeigten,   von 


—     269    — 

Callenberg  empfohlene  Katechumenen  aufzunehmen  und  für  ihren 
Unterhalt  während  des  Unterrichts  Sorge  zu  tragen. 

Zur  Förderung  seines  Unternehmens  erhielt  Callenberg  auch 
schon  früh  von  sehr  verschiedenen  Seiten  her  Bücher  zugeschickt, 
die  für  das  Institutum  von  Interesse  sein  mussten,  und  bildeten 
dieselben  dann  den  ersten  Grundstock  der  nachmaligen  und  nicht 
ganz  unbedeutenden  Bibliothek  der  Missionsanstalt. 

f.  Zur  Charakterisirung  der  Mission  des  Institutum. 

Callenberg,  Neue  Summarische  Nachricht  S.  19  ff.  Stephan 
Schultz,  Kurze  Nachricht  von  einer  zum  Heile  der  Juden  und 
Muhammedaner  errichteten  Anstalt. 

Am  9.  Oktober  1730  kam  ein  Magister  Johann  Georg 
Widmann  zu  Professor  Callenberg  in  Halle.  Er  theilte  dem- 
selben mit,  dass  er  seit  Mitte  des  Jahres  1728  Reisen  unter  den 
Juden  Ungarns  und  Polens  gemacht  habe,  um  dieselben  zur  Er- 
kenntniss  Christi  zu  führen,  und  dass  er  von  ihnen  vielfach  sehr 
wohl  aufgenommen  worden  sei.  In  Wien  habe  er  dann  eine 
Anzahl  der  von  dem  Professor  herausgegebenen  Schriften  durch 
Freunde  des  Callenberg'schen  Unternehmens  erhalten  und  sei  von 
ihnen  aufgefordert  worden,  diese  unter  den  Juden  zu  verbreiten. 
Das  habe  er  auch  und  mit  gutem  Erfolge  gethan.  Mehrere  an- 
gesehene Evangelische  in  Wien  hätten  ihm  dann  aber  gerathen, 
nach  Halle  zu  gehen,  um  sein  Werk  in  Verbindung  mit  Callen- 
berg fortzusetzen.  Dem  Rathe  sei  er  gefolgt  und  er  wolle  nun 
den  Professor  bitten,  ihm  eine  Anzahl  seiner  Bücher  zu  übergeben, 
damit  er  dieselben  auf  seinen  weiteren  Reisen  unter  den  Juden 
verbreiten  könne.  Callenberg  war  dieser  Vorschlag  ganz  genehm, 
doch  wollte  er  zuvor  Widmann  näher  kennen  lernen.  Er  forderte 
ihn  desshalb  auf,  sich  einige  Zeit  in  Halle  aufzuhalten,  und  Wid- 
mann ging  gern  darauf  ein.  Professor  Callenberg  bat  indess  den 
Studiosus  Johann  Andreas  Manitius,  dem  er  besonderes  Ver- 
trauen schenkte,  sich  mit  Widmann  bekannt  zu  machen,  und  ihm 
zu  sagen,  welchen  Eindruck  er  von  demselben  erhalten  habe. 
Manitius  wurde  durch  den  Ernst  Widmanns  für  denselben  sehr 
eingenommen,  und  die  Erzählungen  des  Magisters  von  seinen 
Reisen  unter  den  Juden  erweckten  in  dem  Studenten  den  leb- 
haften Wunsch,  vereint  mit  Widmann  und  in  der  von  diesem 
geschilderten  Weise  die  Juden  gleichfalls  aufzusuchen. 


—     270     — 

Nachdem  aber  die  beiden  Theologen  über  eine  gemeinsame 
Missionsreise  mit  einander  eins  geworden  waren,  setzten  sie 
Callenberg  hiervon  in  Kenntniss,  und  derselbe  sprach  ihnen  seine 
Bereitwilligkeit  aus,  sie  bei  ihrem  Unternehmen  zu  unterstützen, 
und  „so  lange  sie  solche  Reisen  in  christlicher  Ordnung  und  auf 
eine  Studenten  der  Theologie  anständige  Art  verrichteten,  ihnen 
den  nothdürftigen  Unterhalt  zu  reichen".  Mit  diesem  Versprechen 
händigte  er  ihnen  zunächst  eine  kleine  Summe  Geldes  für  die 
von  ihnen  selbst  zunächst  ins  Auge  gefasste  Reise  und  600  Exem- 
plare der  von  ihm  herausgegebenen  Bücher  zur  Vertheilung  unter 
den  Juden  ein. 

Am  16.  November  1730  begannen  also  Widmann  und 
Manitius  die  erste  Missionsreise,  welche  in  Verbindung  mit  dem 
Institut  um  Judaicum  geschah. 

Von  da  ab  hat  aber  das  Missionswerk  des  Institutum  seine 
feste  und  bleibende  Gestalt  gewonnen.  Zwei  noch  nicht  im  Amte 
stehende  Theologen  hatten  sich  Callenberg  zu  Missionsreisen  unter 
den  Juden  zur  Verfügung  gestellt.  Gerade  derartige  Personen 
aber  waren  schon  von  Wagenseil  und  anderen  Freunden  der 
Juden  für  die  Ausübung  eines  eigentlichen  Missionswerkes  unter 
denselben  als  die  geeignetesten  Persönlichkeiten  angesehen  worden. 
Und  da  sich  jetzt  ungesucht  die  Gelegenheit  bot,  den  theoretisch 
erörterten  Plan  in  die  Wirklichkeit  überzusetzen,  wollte  auch  Callen- 
berg dieselbe  nicht  unbenutzt  vorübergehen  lassen,  wiewohl  er 
mit  Bedenken  und  sehr  vorsichtig  an  das  Werk  herantrat. 

Nach  vielen  Beziehungen  mussten  aber  auch  in  dei\  That 
Theologen,  welche  ihre  Universitätsstudien  beendigt  hatten,  für  ein 
Missionswerk  unter  den  damaligen  Juden  als  die  Persönlichkeiten 
erscheinen,  welche  am  meisten  dazu  geeignet  seien,  für  einige 
Zeit  ihre  Kräfte  der  Judenmission  zu  widmen.  Callenberg  dachte 
niemals  an  lebenslang  anzustellende  und  pensionsberechtigte 
Missionare,  wie  er  ja  auch  den  Namen  Missionare  und  Mission 
in  seinem  Werke  geflissentlich  vermied.  Schon  die  ihm  zur 
Verfügung  stehenden  Mittel  Hessen  ihn  im  Anfange  nicht  daran 
denken,  Männer  anzustellen,  welche  die  Mission  zu  ihrem  bleiben- 
den Lebensberufe  erwählten,  sich  verheiratheten  und  nun  bis  an 
ihr  Ende  hätten  versorgt  werden  müssen.  Nie  und  auch  nicht, 
als  die  reichlicher  zufliessenden  Beiträge,  an  eine  Erweiterung 
des  begonnenen  Werkes  zu  einem  Missionsunternehmen  in  solcher 
Gestalt  zu   denken  die   Veranlassung  hätten   geben  können,    ist 


—     271     — 

Callenberg  hierzu  fortgeschritten;  vielleicht  schon  desshalb  nicht, 
weil  er  weiter  ausgehende  Pläne  überhaupt  niemals  gern  fasste. 
Sondern  sein  Plan  blieb  immer  derselbe:  es  sollten  sich  Candidaten, 
ehe  sie  das  Pfarramt  übernahmen,  für  einige  Jahre  dem  Institutum 
für  die  Arbeit  unter  den  Juden  zur  Verfügung  stellen.  Stets  gar 
zu  ängstlich  besorgt,  nicht  eigenwillige  Wege  zu  gehen,  wollte 
Callenberg  in  dem  Einlaufen  oder  Ausbleiben  der  Geldmittel  die 
Weisung  erblicken,  ob  er  das  angefangene  Werk  fortführen  oder 
einstellen  solle.  Auch  desshalb  eben  wollte  er  es  stets  nur  mit 
Persönlichkeiten  zu  thun  haben ,  die  ihm  keine  zu  grossen  Ver- 
bindlichkeiten auferlegten,  und  immer  in  der  Lage  sein,  das  Ver- 
hältniss  mit  ihnen  leicht  zu  lösen. 

Freilich  sind  alle  diese  Einzelheiten  aber  auch  für  Callenberg 
charakteristisch  und  zeigen,  dass  er  an  der  pietistischen  Aengst- 
lichkeit  in  zu  hohem  Maasse  litt.  Hätte  er  sich  von  derselben 
ermannen  können,  dann  würde  er  sich  nicht  immer  von  den 
Verhältnissen  haben  schieben  und  zwingen  lassen,  vorwärts  zu 
gehen,  sondern  er  würde  in  den  zum  Fortschreiten  einladenden 
Verhältnissen  einen  Wink  Gottes  erkannt  haben,  frischer,  fröh- 
licher, umfangreicher  und  in  viel  grösserem  Geiste  das  Missions- 
werk aufzunehmen.  Jene  erste  Judenmission  hätte  alsdann  ganz 
andere  Maasse  angenommen  und  wäre  nicht  in  allzu  bescheidenen 
Verhältnissen  geblieben,  wie  es  thatsächlich  der  Fall  war.  Sie 
hat  ihre  Kraft  nicht  entfalten  können,  weil  ihr  Callenberg  dies 
nicht  recht  gestattete,  und  doch  waren  die  innere  Anlage  und 
die  inneren  Bedingungen  für  ein  grösseres  Werk  damals  wohl 
vorhanden. 

Der  Pietismus  des  Gründers  der  ersten  evangelischen  Juden- 
mission war,  wie  früher  gesagt,  die  Triebkraft  gewesen,  aus 
welcher  dieses  Werk  erwuchs,  aber  er  wurde  auch  die  hemmende 
Schranke  desselben.  Denn  nicht  zum  wenigsten  freilich  lag  es 
an  dem  historischen  Pietismus,  dass  diese  Pflanze  nicht  zu  einem 
wahrhaft  starken  Lebensbaum  heranwuchs,  sondern  dass  sie, 
wenngleich  gesund,  doch  zart  blieb.  Die  Persönlichkeit  Callen- 
bergs  verkündigte  es  gewissermaassen  von  vornherein,  was  dieses 
Missionsunternehmen  leisten  und  was  es  nicht  leisten  werde. 

Freilich  die  Verwendung  junger  Theologen  war,  wenn  man 
die  Geschichte  des  Institutum  überblickt,  kein  Fehler.  Mangelte 
es  einigen  derselben  zuerst  noch  an  gereifterer  christlicher  Er- 
fahrung,   so   belebte    sie    anderseits    doch  ein  frischer  Muth;    sie 


—       272       — 

waren  ungetheilt  bei  der  Arbeit,  von  der  Sorge  für  Weib  und  Kind 
unbeschwert,  fühlten  als  junge  Männer  nicht  so  schwer  wie 
Aeltere  die  Entbehrungen,  welche  ihnen  auferlegt  waren,  Hessen 
sich  an  den  bescheidensten  äusseren  Verhältnissen  genügen  und 
wuchsen  oft  sehr  schnell  in  ihr  Amt  hinein.  Wenn  sie  dann  in 
den  Pfarrdienst  traten,  brachten  sie  in  denselben  eine  grössere 
Erfahrung  als  die  meisten  ihrer  Amtsgenossen  mit,  und  nicht 
wenige  von  ihnen  haben  sich  in  ihren  späteren  Stellungen  im 
besonderen  Maasse  bewährt. 

Ueber  ihre  Thätigkeit  und  Erlebnisse  mussten  die  Missionare 
Tagebücher  führen,  die  Anfangs  nebst  allem,  was  sonst  bei  dem 
Institutum  vorfiel,  Callenbergs  Berichte  in  ihrer  vollen  Ausführ- 
lichkeit mittheilen,  später  aber  in  verkürzter  Gestalt  wiedergeben. 
Es  erschienen  so  ein  Bericht  mit  16  Fortsetzungen,  Relation  von 
einer  weiteren  Bemühung  u.  s.  w.  30  Stück,  Christliche  Bereisung 
der  Judenörter  4  Stück,  und  Fortwährende  Bemühung  um  das 
Heil  des  jüdischen  Volkes  9  Stück,  das  alles  den  Zeitraum  von 
1728 — 1758  umfassend.  Sind  diese  Berichte  ungemein  weit- 
schweifig und  bringen  sie,  wie  es  in  der  Natur  der  Sache  liegt, 
eine  Häufung  von  Gesprächen  und  Vorgängen,  die  einander  sehr 
ähnlich  sind,  so  dass  sie  den  Leser  oft  ermüden,  so  gewähren  sie 
anderseits  doch  auch  den  vollen  Einblick  in  die  Art  der  Missionare, 
in  ihr  Thun  und  Treiben  und  in  die  Zustände  der  Juden,  mit 
denen  es  die  damaligen  Glaubensboten  zu  thun  hatten. 

Aus  diesen  Berichten  erkennen  wir  denn  auch,  mit  welcher 
Energie,  Umsicht  und  Tüchtigkeit  die  ersten  und  verschiedene 
der  späteren  Missionare  an  ihr  Werk  gegangen  sind,  und  wie 
gesund  die  Grundsätze  waren,  nach  denen  diese  erste  Mission 
verfuhr. 

Zunächst  waren  die  Abgesandten  des  Institutum  den  grössten 
Theil  des  Jahres  über  auf  Reisen,  und  verhältnissmässig  kurz 
zugemessen  waren  die  Ruhezeiten,  welche  sie  in  Halle  zubrachten, 
um  sich  leiblich  und  geistig  zu  stärken,  in  ihren  Studien  sich  zu 
vervollkommnen  und  Callenberg  zur  Hand  zu  gehen. 

Der  eigentliche  Schwerpunkt  der  Wirksamkeit  des  Institutum 
fiel  in  die  Missionsreisen.  Mit  Taufen  hatten  es  die  Missionare, 
die  gar  nicht  einmal  die  Ordination  empfangen  hatten,  in  keinem 
Falle  zu  thun.  Juden,  welche  durch  sie  angeregt  zum  Christen- 
thum  übertreten  wollten,  wiesen  sie  in  evangelischen  Ländern  an 
die  Geistlichen  des  Ortes  oder  der  Umgegend,  und  in  den  katho- 


—     273     — 

lischen  gaben  sie  ihnen  den  Rath,  sich  in  evangelische  Gebiete 
zu  begeben.  Von  selbst  kamen  manche  dieser  Taufbewerber 
nach  Halle,  aber  nur  einige  behielt  man  dort  zum  Unterricht, 
der  dann  auch  wohl  von  den  Missionaren,  wenn  sie  gerade  da- 
selbst anwesend  waren,  ertheilt  wurde.  Aber  die  ganze  Thätig- 
keit,  welche  mit  der  Aufnahme  von  Juden  in  die  christliche 
Kirche  zusammenhing,  wies  das  Institutum  grundsätzlich  der 
Kirche  zu  und  griff  hier  nur  im  Xothfaile  und  nur  ergänzend  ein. 

Freilich  aber  galt  es  in  der  damaligen  Zeit  noch  als  selbst- 
verständlich, dass  dieser  Theil  der  Arbeit  der  eigentlichen  Kirche 
zufiele,  und  die  missionirende  Thätigkeit  konnte  daher  auch  mit 
jeder  anderen  unvermengt  bleiben. 

Im  weitesten  Umfange  aber  sollten  die  Missionsreisen  unter- 
nommen werden.  Nachdem  einmal  die  Reisen  in  das  Programm 
Callenbergs  aufgenommen  waren,  brachten  die  Erfahrungen  der- 
selben die  Missionare  und  Callenberg  mit  ihnen  ziemlich  schnell 
zu  dem  Entschlüsse,  nun  auch  die  Juden  weithin  aufzusuchen. 
Wenige  Jahre  reichten  für  beide  hin,  um  in  ihnen  den  Wunsch 
zu  erwecken,  dass,  so  weit  es  irgend  anginge,  die  Juden  mit  dem 
Evangelium  aufgesucht  und  es  ihnen  womöglich  allerwärts  zum 
Bewusstsein  gebracht  werden  möchte,  dass  die  christliche  Kirche 
auf  die  Juden  überall  Anspruch  erhebe  und  dass  sie  für  alle 
das  Evangelium  als  die  Kraft,  welche  sie  selig  machen  kann, 
erkenne.  In  diesem  Stücke  trat  die  Aengstlichkeit  Callenbergs 
durchaus  zurück,  und  erfüllte  ihn  vielmehr  das  christliche  Bewusst- 
sein mit  seiner  ganzen  erhabenen  Grösse;  wie  denn  überhaupt  in 
dem  Manne  hohe  und  bedeutende  Züge  neben  mancher  Beschränkt- 
heit zu  Tage  treten  und  kühne,  grosse  Gedanken  mit  einer 
gewissen  Geistesenge  kämpfen. 

Der  Plan,  welcher  hernach  auch  in  der  That  zum  Theil 
ausgeführt  worden  ist,  war  also,  dass  die  Juden  nicht  bloss  in 
ganz  Europa,  sondern  auch  ausserhalb  desselben  aufgesucht 
werden,  und  dabei  die  Missionare  sich  womöglich  in  immer  neue 
Gegenden  wenden  sollten.  Callenberg  schreibt  Fortsetzung 
10,  181  in  einer  „Richtschnur  der  Reisenden  bei  dem  Instituto" 
unter  dem  13.  November  1732,  also  4  Jahre  nach  Errichtung 
der  Anstalt:  „Es  erfordert  die  Billigkeit,  dass  man,  wie  denn 
bereits  in  der  Neuen  summarischen  Nachricht  (August  1732) 
gemeldet  worden  war,  dass  das  Institutum  auf  die  gesammte 
in  der  ganzen  Welt  zerstreute  Judenschaft  gehe,  diese  Billigkeit, 

J.   F.  A.  de  le  Roi,   Missionsbeziehungen.  iS 


27-1 

die  man  allen  schuldig  ist,  auch  allen  erzeige.  Die  Orte  aber, 
in  welchen  Gott  die  Gemüther  zu  einer  Aufmerksamkeit  zu  erregen 
scheint,  kommen  auch  in  besonderen  Betracht.  Desgleichen  sind 
solche  Orte,  dahin  wir  von  anderen  christlichen  und  verständigen 
Männern  gleichsam  gewiesen  worden,  in  mehr  Erwägung  zu  ziehen. 
Orte,  wohin  die  Reisenden  wieder  zu  kommen  von  den  Juden 
selbst  veranlasst  werden,  sind  vor  anderen  zu  besuchen.  Ich  ver- 
stehe aber  unter  solcher  Veranlassung  dieses,  wenn  sie  das  Wort 
begierig  und  mit  Vergnügen  anhören,  wenn  sie  mehr  von  unsern 
Büchern  verlangen  und  wenn  sie  ausdrücklich  um  die  Wiederkunft 
bitten.  Auch  die  Orte,  da  sich  Proselyten  aufhalten,  sind  öfters 
zu  besuchen.  Wo  an  einem  Orte  ein  wider  das  ungläubige  Juden- 
thum  dienendes  Zeugniss  der  Wahrheit  aufzusuchen  ist,  dahin 
wird  man  auch  von  Gott  gleichsam  gerufen;  wie  auch  an  Orte, 
wo  Rabbiner  und  Juden  besondere  Einsichten  haben." 

Gewöhnlich  begaben  sich  die  Missionare  zu  zweien,  zuweilen 
auch  zu  dreien,  und  einmal  sogar  vier  auf  die  Reisen.  Wenn  es 
vermieden  werden  konnte,  liess  man  sie  nicht  einzeln  gehen,  und 
das  war  eine  weise,  oft  unerlässliche  Maassregel.  Die  Gemeinschaft 
wurde  ihnen  zur  inneren  Stärkung,  zumal  in  Gegenden,  wo  sie 
keine  Glaubensgenossen  fanden ;  und  in  allen  äusseren  Beziehungen 
wurden  sie  sich  gegenseitig  zur  Hilfe,  zum  Schutz  in  Gefahren 
und  zur  Pflege  in  Krankheiten,  so  dass  sie  nicht  verlassen  waren. 
Auf  einer  einzelnen  Reise  hatten  sie  der  Regel  nach  6  bis  700 
Meilen  zurückzulegen,  und  geschahen  Reisen  von  geringerer  Aus- 
dehnung, so  wird  dies  in  den  Berichten  ausdrücklich  hervorgehoben. 

Die  Missionare  selbst  aber  hatten  den  Auftrag,  sich  in 
mündlichen  Unterredungen  an  die  Juden  zu  wenden  und  ihnen 
die  Schriften  des  Institutum  zu  übergeben.  Die  Missionare  reisten, 
wo  es  irgend  anging,  zu  Fuss  und  besuchten  unterschiedslos 
grosse  und  kleine,  ja  oft  die  kleinsten  Orte,  wo  Juden  wohnten» 
Mit  unglaublicher  Sorgfalt  und  Gewissenhaftigkeit  haben  es  sich 
die  Halle'schen  Sendboten  angelegen  sein  lassen,  die  Juden  in 
denjenigen  Gebieten,  in  welche  sie  sich  jedesmal  nach  gemein- 
schaftlicher Berathung  mit  Callenberg  begaben,  aufzusuchen.  Sie 
redeten  dann  aber  dieselben  ebensowohl  auf  der  Strasse  als  in 
Kaufläden  und  Häusern,  besonders  häufig  in  Synagogen  und  in 
Schulstuben,  auch  auf  Schiffen  und  Landstrassen  an.  Ohne  sich 
denselben  aufzudrängen,  Hessen  sie  es  sich  doch  angelegen  sein,  so 
viel  an  ihnen  lag,  allen  Juden  des  Ortes,   in  den  sie  gekommen 


275 

waren  ohne  Unterschied  ihres  Alters,  ihres  Geschlechts  und  ihrer 
Lebensstellung  ihr  Zeugniss  entgegenzubringen. 

In  keiner  folgenden  und  in  keiner  früheren  Zeit  sind  so 
viele  Juden  von  dem  Evangelium  persönlich  erreicht  worden  als 
in  der  Zeit,  wo  Callenberg  dem  Institutum  Judaicum  vorstand. 
Weithin  wurde  denn  auch  dasselbe  in  der  Judenschaft  bekannt; 
und  wenn  die  Missionare  in  Länder  oder  Provinzen  kamen, 
weiche  sie  bis  dahin  noch  nicht  betreten  hatten,  sahen  sie  oft, 
dass  bereits  das  Gerücht  von  ihnen  auch  dahin   gedrungen  war. 

Die  sociale  Stellung  der  damaligen  Juden  erleichterte  aber  aller- 
dings den  Missionaren  den  Zutritt  zu  denselben.  Sind  gegenwärtig  oft 
die  gebildeteren  und  reicheren  Juden  für  den  mündlichen  Verkehr 
dem  Missionar  fast  unerreichbar,  so  war  dies  damals  nicht  der  Fall. 
Wenigstens  äusserlich  betrachtet,  hielt  kaum  ein  Jude  sich  für 
zu  gut  mit  den  christlichen  Glaubensboten  zu  verkehren.  Die 
Kenntniss  des  Hebräischen  und  der  jüdischen  Sitten  aber,  welche 
alle  bedeutenderen  Missionare  des  Institutum  in  hohem  Maasse 
besassen,  erleichterte  ihnen  den  Verkehr  mit  den  Juden.  Man 
betrachtete  sie  nicht  als  unwissende  Leute,  sondern  erkannte  ihre 
geistige  Ebenbürtigkeit  an. 

Anderseits  sprach  aber  die  anspruchslose  Erscheinung,  in 
welcher  diese  Männer  ihnen  entgegentraten,  zu  sehr  für  die  Uneigen- 
nützigkeit  ihrer  Personen  und  Absichten,  als  dass  man  ihnen  hätte 
vorwerfen  können,  sie  hätten  ihren  Beruf  irgendwie  um  des 
äusseren  Vortheiles  willen  erwählt.  Hochbepackt,  ihre  Wäsche, 
Bücher  und  die  nöthigsten  Kleidungsstücke  in  einem  der  Regel 
nach  70  Pfund  schweren  Bündel  auf  dem  Rücken  mit  sich 
tragend,  zogen  diese  Missionare  aus  und  wanderten  so  von  Ort 
zu  Ort. 

Anfangs  erhielten  die  ersten  Missionare  Widmann  und 
Manitius  einen  Wochengehalt  von  4  Mark,  später  wurde  der- 
selbe gesteigert.  Widmann  empfing  zuletzt  wöchentlich  5  Mark 
25  Pfennig,  Manitius  5  Mark  und  beide  das  Jahr  über  9  bis  12 
Mark  für  Kleidung.  Stephan  Schultz  schreibt  in  seiner  ferneren 
Nachricht  13,  S.  4:  Anfänglich  hatte  ich  aus  der  Kasse  des 
Institutum  wöchentlich  1  Thaler  6  Groschen,  und  das  musste 
zum  Essen  und  Trinken,  zu  Kleidern  und  Schuhen  hinreichen. 
Nach  drei  Jahren  empfing  ich  zu  meinem  Unterhalt  6  Groschen 
Zulage;  diese  Zulage  wuchs  endlich,  als  ich  dem  Institutum  15 
Jahre  gedient  hatte,  bis  auf  2   Thaler  3    Groschen    (6  Mark   40 


-       276 

Pfennige)  die  Woche.  Und  mit  diesem  grossen  Gehalt  ging  ich 
auf  die  Reise  in  den  Orient.  Mein  seliger  Woltersdorf  hatte 
als  der  zweite  Mitarbeiter  i  Thaler  18  Groschen  die  Woche 
(5  Mark  25  Pfennig).  Wer  aber  weiss  nicht,  wie  kostbar 
die  Reisen  in  Europa  sind,  die  man  doch  mit  den  orientalischen 
in  Absicht  auf  die  Ausgaben  nicht  vergleichen  kann.  Doch 
würde  mich  und  meine  Reisegefährten  unser  Herr  fragen: 
„Habt  ihr  auch  je  Mangel  gelitten?"  so  würden  wir  antworten: 
„Herr,  nie  keinen".  Denn  bei  unserem  Gehalt  konnten  wir  nicht 
als  grosse  Leute  herfahren,  sondern  schränkten  uns  nach  dem 
Spruch  wort  ein:  „Mit  vielem  hält  man  Haus,  mit  wenig  kommt 
man  aus".  Und  in  seiner  kurzen  Nachricht  S.  12  sagt  St.  Schultz: 
„Mit  diesem  Gehalt  mussten  sie  alles,  was  zu  ihrem  Unterhalt 
nöthig  war,  bestreiten;  doch  kamen  sie  damit  durch,  weil  sie  ihre 
Reisen  mehrentheils  zu  Fuss  verrichteten,  in  geringer  Gestalt 
einhergingen  und  daher  von  den  Gastwirthen  selten  übertheuert 
wurden.  Nächstens  fanden  sich  wohl  mildthätige  Personen,  die, 
wenn  ihnen  der  Zweck  der  Reise  bekannt  war,  sie  auf  einige 
Tage  hindurch  frei  erhielten."  Dass  aber  die  Missionare  bei 
solcher  äusseren  Ausstattung  und  Versorgung  „honneten  Hand- 
werksburschen" glichen,  wie  St.  Schultz  einmal,  ganz  zufrieden 
damit,  dass  die  Sache  so  stand,  schreibt,  ist  wohl  erklärlich. 

Dieser  eine  Umstand  nun  zeigt  es  sogleich,  dass  es  eine 
opfervolle  Aufgabe  war,  welche  diese  jungen  Männer  auf  sich 
genommen  hatten.  Es  wäre  ihnen  ein  Leichtes  gewesen,  in  eine 
andere  Lage  zu  kommen;  denn  wiederholt  wurden  ihnen  von 
Christen,  welche  sie  kennen  gelernt  oder  predigen  gehört  hatten, 
wohl  dotirte  Pfarrstellen  und  andere  ansehnliche  Aemter  angeboten; 
aber  so  lange  es  das  Interesse  des  Missionsberufes  zu  fordern 
schien,  lehnten  gerade  die  hervorragendsten  unter  ihnen  alle  der- 
artigen Anerbietungen  ab. 

Ungemeine  Mühen,  Entbehrungen,  Strapazen  und  grosse 
Gefahren  haben  Widmann  und  Manitius,  die  ersten  Missionare 
und  nach  ihnen  noch  andere  derselben  sich  es  in  ihrem  Berufe 
kosten  lassen.  In  Wind  und  Wetter,  unter  Schneegestöber  und 
in  dem  sengenden  Sonnenbrande  des  Sommers  pilgerten  die 
schwerbeladenen  Glaubensboten  ihre  Strasse  dahin,  oft  auf  den 
schlechtesten  Wegen,  durch  unwirthliche  Gegenden,  durch  un- 
sichere Strecken  und  durch  die  meilenweiten,  menschenleeren 
Wälder  Polens.     Wiederholt  wurden  sie  an  den  Thoren  der  Städte 


—     277     — 

als  vermeintliche  Bettelstudenten  abgewiesen  oder  ihnen  Polizei- 
soldaten nachgesandt,  um  zu  verhindern,  dass  sie  Almosen  sam- 
melten. Wenn  sie  am  Abende  müde  in  einer  Herberge  einkehren 
wollten,  wies  man  sie  nicht  selten  ab,  weil  man  ihnen  bei  ihrer 
geringen  Erscheinung  nicht  zutraute,  dass  sie  bezahlen  würden 
oder  dem  Wirthe  etwas  Ordentliches  zu  verdienen  geben  können. 
Monate  lang  war  eine  Streu  ihr  Lager,  und  kamen  sie  in  kein 
Bette;  aber  selbst  für  eine  solche  Nachtruhe  waren  sie  dankbar 
und  häufig  genug  mussten  sie  selbst  auf  eine  Streu  verzichten 
und  im  Freien  übernachten,  oder  auf  Bänken  und  den  blossen 
Dielen  liegend  die  Erholung  für  den  vom  langen  Wandern  er- 
müdeten Leib  suchen. 

Ueber  dies  alles  hören  wir  sie  aber  in  ihren  ausführlichen 
Berichten,  die  sonst  alle  ihre  Gemüthsstimmungen  wiedergeben, 
niemals  klagen.  Sie  nahmen  Derartiges  offenbar  als  selbstver- 
ständliche Zugabe  des  Missionsberufes  mit  in  den  Kauf.  Wenn 
die  unaufhörlichen  Entbehrungen  und  Strapazen  Manitius  und 
Widmann  wiederholt  auf  das  Krankenlager  warfen,  wenn  die 
Missionare  besonders  in  Polen,  Ungarn,  Russland,  Italien  und 
im  Orient  unter  einer  Bevölkerung,  welche  gar  keine  Theilnahme 
für  sie  fühlte,  von  allen  verlassen  daniederlagen,  trugen  sie 
auch  dies  ohne  Murren.  In  der  That,  wenn  nicht  eine  grosse 
Missionsliebe  und  ein  grosser  Missionseifer  ihr  Herz  beseelte, 
dann  war  es  nicht  möglich,  dass  sich  diese  jungen  Männer  eine 
ganze  Reihe  von  Jahren  einem  solchen  Berufe  widmeten.  Die 
Schule  der  Noth  und  der  Entbehrungen  hat  sie  aber  innerlich 
nur  reifen  lassen,  sie  hat  auch  die  schwärmerischen  Neigungen 
eines  Widmann  wesentlich  gemässigt  und  hat  andere  dieser 
Missionare  zu  besonders  bewährten  christlichen  Charakteren 
herangebildet. 

Hatten  nun  die  Missionare  zunächst  den  mündlichen  Verkehr 
mit  den  Juden  zu  suchen  und  ihre  Schriften  unter  ihnen  zu  ver- 
breiten, so  waren  sie  ausserdem  aber  auch  angewiesen,  überall, 
wohin  sie  kamen,  sich  nach  den  etwa  daselbst  vorhandenen  Pro- 
selyten  zu  erkundigen ,  den  geistlichen  Zustand  derselben  zu  unter 
suchen,  sie  zu  stärken  und  zu  ermahnen  und  die  Geistlichen 
sowie  auch  andere  Christen  zu  treuer  Fürsorge  für  dieselben  zu 
ermuntern.  Diesen  Theil  ihrer  Aufgabe  haben  WTidmann  und 
Manitius  und  nach  ihnen  die  meisten  anderen  Halle'schen  Mis- 
sionare nicht  weniger  eifrig  ausgerichtet.    Die  Berichte  des  Insti- 


—     278     — 

tutum  zeigen  es,  mit  welcher  Sorgfalt  sie  überall  nach  den 
Proselyten  forschten,  wie  eingehend  sie  mit  denselben  verkehrten, 
in  wie  vielen  Fällen  sie  Sichere  unter  denselben  aufschreckten, 
Weltlichgesinnten  an  das  Gewissen  drangen,  Schwankende  be- 
festigten, Treue  stärkten  und  trösteten.  Die  lange  vernachlässigte 
Proselytenpflege  wurde,  so  lange  Callenberg  an  der  Spitze  des 
Institutum  stand,  von  den  Missionaren  desselben  in  anerkennens- 
werthester  Weise  geübt. 

Ausserdem  aber  Hessen  es  sich  diese  Missionare  angelegen 
sein,  überall  mit  den  evangelischen  Geistlichen  in  Verbindung 
zu  treten  und  diese,  sowie  die  christlichen  Gemeinden  durch 
Predigten  an  ihre  Pflicht  gegen  die  Juden  zu  erinnern.  Sie  haben 
auch  in  diesem  Stücke  sehr  viel  Gutes  gestiftet;  und  die  zahlreichen 
Briefe,  welche  Professor  Callenberg  nach  dem  Besuche  seiner 
Missionare  aus  den  verschiedensten  Ländern  und  von  den  ver- 
schiedensten Orten  und  Personen  empfing,  die  Liebesgaben,  welche 
nach  persönlich  gewonnener  Kenntniss  der  Missionare  dem  Institutum 
neu  zuflössen,  die  eifrigen  Anfragen  vieler  Christen  in  Halle 
nach  dem  Fortgange  des  Werkes,  die  Bereitwilligkeit  von  vielen 
Geistlichen  und  Städten,  auf  die  Bitte  Callenbergs  oder  seiner 
Missionare  einzugehen  und  Juden,  die  sich  zum  Taufunterricht 
meldeten,  bei  sich  aufzunehmen  und  sie  bis  zur  Taufe  zu  ver- 
sorgen, die  Legate,  welche  wiederholt  dem  Institutum  ausgesetzt 
wurden,  waren  ein  deutlicher  Beweis,  dass  es  dieser  Mission 
gelungen  war,  die  Herzen  vieler  Christen  für  das  Werk  an  den 
Juden  zu  erwärmen. 

Für  die  Verwendung  von  Proselyten  als  Missionare  war  man 
in  Callenbergs  Institutum  nicht.  In  Schultz'  „Leitungen  des 
Höchsten"  3,  31  ff.  wird  einem  reformirten  Geistlichen,  welcher 
im  Jahr  1 749  solche  Persönlichkeiten  für  dieses  Werk  vorschlägt, 
geantwortet.  Der  Prediger  hatte  geäussert,  dass  geborene  Juden 
darum  für  den  Missionsberuf  unter  den  Ihrigen  geeigneter  wären, 
weil  sie  1)  die  hebräische,  rabbinische  und  gemeinjüdische  Sprache 
besser  als  die  Gelehrten  unter  den  Christen  verstünden;  2)  ihr 
Volk,  dessen  Natur  und  Ausflüchte  gegen  das  Christenthum 
ganz  genau  kennten;  3)  weil  sie  eine  patriotische  Neigung  und 
Liebe  zu  ihrem  Volke  hätten,  welche  ein  Christ  wegen  der  von 
Jugend  auf  eingesogenen  Vorurtheile  gegen  das  jüdische  Volk 
nicht  haben  könne ;  4)  weil  sie  sich  am  Besten  zu  ihrem  Volk  her- 
unterzulassen verstehen  würden,  und  insbesonders  frühere  Rabbiner 


—     279     — 

an  Dürftigkeit  gewöhnt  seien,  so  dass  sie  ohne  vielen  Kampf 
in  geringer  Gestalt  den  Elenden  ihres  Volkes  nachgehen  würden, 
und  weil  5)  das  jüdische  Volk  geborenen  Juden  eher  Glauben 
schenken  würde,  wenn  sie  ihnen  die  christliche  Wahrheit  vor- 
trügen, weil  sie  meinten,  dass  der  von  christlichen  Eltern  Geborene 
das  glaube,  was  seine  Eltern  glaubten,  während  sie  sähen,  dass  der 
Andere  aus  dem  Irrthum  der  jüdischen  Lehre  durch  die  Erleuchtung 
Gottes  zur  Erkenntniss  der  Wahrheit  der  christlichen  Religion 
gekommen  sei. 

Hierauf  antwortete  aber  Schultz,  dass  unter  tausend  gelehrten 
Juden  der  damaligen  Zeit  kaum  einer  die  hebräische  und  rabbinische 
Sprache  nach  der  Grammatik  verstehe,  denn  sie  seien  auch  hier 
unstät  und  flüchtig,  und  ebenso  wenig  Schriftverständniss  fände 
man  unter  ihnen.  Die  ungelehrten  Juden  aber  taugten,  weil 
ihnen  die  Vorbildung  fehle,  nicht  zu  Mitarbeitern  am  Institutum. 
Junge  Juden,  welche  zum  Christenthum  überträten,  einen  ordent- 
lichen Unterricht  genössen  und  dann  studirten,  dürften  allerdings 
in  das  christliche  Predigtamt  befördert  werden,  aber  dann  wären 
sie  auch  nicht  besser  als  alle  anderen  daran.  Ein  für  die  Seinen 
eingenommener  Jude  aber  kenne  bei  Weitem  nicht  so  gründlich 
den  Stolz,  die  Eigenliebe,  den  Aberglauben,  den  Unglauben, 
die  Hartnäckigkeit  und  Widerspänstigkeit  der  Juden  als  ein 
anderer  Christ,  welcher  die  Sprachen  gründlich  studirt  habe. 
Die  getauften  Juden  hätten  dazu  entweder  einen  schrecklichen 
Hass  gegen  ihr  Volk  oder  hegten  einen  Patriotismus,  der  eine 
Art  heimlichen  Judenthums  sei,  und  in  beiden  Fällen  taugten  sie 
nicht  zu  Missionaren.  Ein  geborener  Christ  aber,  der  sich  zu 
diesem  Werk  gebrauchen  lassen  wolle,  werde  alle  Vorurtheile 
abgelegt  haben,  sonst  werde  er  sich  für  die  saure  Mühe  und 
Arbeit  freundlich  bedanken.  Viele  der  jüdischen  Proselyten  seien 
voll  Stolzes  und  Hoffahrt  und  nicht  zur  Verleugnung  der  Welt 
und  ihrer  selbst  zu  bringen.  „Ja  Lektoren,  Pastoren  und  Profes- 
soren wollen  sie  sein,  aber  nicht  in  der  Gestalt  eines  armen 
Handwerksburschen  einhergehen  und  sich  zum  Elend  ihres  Volkes 
herunterlassen.  Endlich  aber  haben  die  Juden  selbst  einen  un- 
auslöschlichen Hass  gegen  die  Proselyten  und  fluchen  und  meiden 
sie,  soweit  sie  können." 

Nur  einmal  hat  das  Institutum  von  diesem  Grundsatze, 
geborene  Juden  nicht  als  eigentliche  Missionare  zu  verwenden, 
eine  eigenthümliche  Ausnahme  gemacht.     Es   beschäftigte    sonst 


—       2S0      — 

wohl  den  vortrefflichen  J.  F rommann  literarisch  und  verwerthete 
Proselyten  in  der  Missionsbuchdruckerei,  aber  keinen  von  diesen 
sandte  es  missionirend  aus,  Dagegen  erzählen  die  früheren 
Berichte,  dass  ein  nur  mit  den  Anfangsbuchstaben  genannter 
Rabbiner  J.  E.,  den  die  Missionare  in  London  kennen  gelernt 
hatten,  1737  zu  ihnen  nach  Halle  gekommen  sei,  um  dort  von 
ihnen  weiteren  Unterricht  zu  empfangen.  Dieser  nun  bat  den 
Professor  Callenberg,  als  die  Missionare  wieder  auf  ihre  Reisen 
gingen,  und  er  nicht  allein  in  Halle  zurückbleiben  wollte,  um 
die  Erlaubniss,  jene  Sendboten  für  einige  Zeit  begleiten  zu  dürfen, 
um  bei  dieser  Gelegenheit  für  seine  eigene  Person  zu  völliger 
Klarheit  zu  gelangen  und  es  seinen  Glaubensgenossen  zugleich  zu  be- 
zeugen, was  ihm  bereits  das  Evangelium  geworden  wäre.  Sein  Wunsch 
wurde  ihm  gewährt.  Einige  Monate  reiste  der  Rabbiner  mit 
Widmann  und  Manitius  und  wurde  endlich  von  denselben  in 
Königsberg  zurückgelassen,  weil  sie  inzwischen  erkannt  hatten, 
dass  es  ihm  nöthig  sei ,  selbst  erst  noch  zu  lernen  und  in  keiner 
Weise  andere  zu  lehren.  Er  wurde  dortigen  Geistlichen  über- 
wiesen, welche  das  Werk  an  ihm  fortsetzen  sollten.  An  eine 
eigentliche  Verwendung  eines  Juden  als  Missionar  war  also  auch 
in  diesem  Falle  nicht  gedacht  worden. 

Alle  die  Fragen  und  alle  die  Punkte,  welche  hernach  stets 
die  Mission  beschäftigt  haben,  sind  eben  bereits  im  Halle'schen 
Institutum  erwogen  worden,  und  dies  mit  einer  Nüchternheit, 
Klarheit,  Umsicht,  Verständniss  und  Eifer  für  die  Sache,  dass 
diese  Mission  stets  die  Lehrmeisterin  aller  evangelischen  Missions- 
arbeit unter  den  Juden  sein  wird,  und  man  von  ihr  auch  unter 
den  vielfach  veränderten  Verhältnissen  noch  sehr  viel  wird  lernen 
können. 

g.  Die  Missionare  Widmann  und  Manitius. 

Die  Persönlichkeit  des  älteren  unter  den  beiden  gleichzeitig 
in  den  Dienst  des  Institutum  tretenden  Missionaren,  des  Magisters 
Johann  Georg  Widmann,  ist  eine  ganz  eigenthümliche.  Nach- 
dem sich  derselbe  in  Begleitung  von  Manitius  unter  Einwilligung 
Callenbergs  auf  Missionsreisen  begeben  hatte,  liefen  bei  dem 
Professor  sehr  ungünstige  Berichte  über  ihn  ein.  Die  Halle'sche 
Waisenhausbibliothek,  welche  den  kümmerlichen  Rest  der  Biblio- 
thek und  der  Correspondenz  des  Institutum  besitzt,  enthält  weit- 
läufige Verhandlungen,  welche  sich  an  die  in  Halle  eingelaufenen 


—      28l       — 

Beschuldigungen  Widmanns  schlössen.  Völlige  Klarheit  erlangt 
man  hier  aber  über  die  Verhältnisse  des  Mannes  nicht,  und  nur 
der  Eindruck  bleibt,  dass  Widmann  eine  merkwürdige  Persönlich- 
keit war. 

In  der  That,  dieser  den  Jahren  nach  ältere  der  beiden 
ersten  Missionare  des  Institutum  war  ein  seltsamer  Mensch,  der 
bis  zu  seinem  Lebensende  die  merkwürdigsten  Widersprüche  in 
sich  vereinte.  Er  stammt  aus  dem  Württembergischen,  sein 
Geburtsort  wird  aber  nicht  genannt,  und  ist  der  Sohn  einfacher 
Eltern.  Die  häuslichen  Verhältnisse  waren  jedoch  äusserst  un- 
erquicklicher Art  und  sehr  zerrüttete.  Die  ganze  Familie  lebte 
im  tiefsten  Zwiespalt  miteinander,  und  selbst  die  scheusslichsten 
Verbrechen  scheinen  von  Mitgliedern  derselben  aneinander  verübt 
worden  zu  sein.  Die  Geschwister  brachten  Widmann  selbst  durch 
falsche  Anschuldigungen  ins  Gefängniss,  aber  seine  Unschuld 
wurde  klar,  und  er  desshalb  aus  demselben  entlassen. 

Auf  das  Gemüth  Widmanns  haben  diese  Erlebnisse  und 
Erfahrungen  sehr  ungünstig  eingewirkt.  Als  eine  Folge  derselben 
ist  ihm  Zeit  seines  Lebens  etwas  Düsteres  und  Finsteres  geblieben, 
und  er  hat  stets  mit  grosser  Schwermuth  zu  kämpfen  gehabt. 

Nach  seinen  Studien,  die  ihn  auf  die  Universitäten  Tübingen, 
Jena  und  Halle  führten,  trat  er  mit  dem  Magistergrade  in  der 
Heimath  ein  Vikariat  an.  Aber  der  melancholische  junge  Mann 
mit  seinen  überaus  ernsten  Predigten  und  mit  seinem  scharfen 
Auftreten  gegen  alle  Lasterhaften,  bei  dem  er  auch  kein  Ansehen 
der  Person  kannte,  erregte  einen  Theil  der  Gemeinde  in  so  hohem 
Grade  gegen  sich,  dass  er  selbst  der  Ueberzeugung  wurde,  auf 
dem  gewöhnlichen  Wege  nicht  vorwärts  kommen  zu  können,  und 
dass  er  angewiesen  sei,  andere  Bahnen  zu  gehen. 

Eine  durch  ganz  verschiedene  Personen  aus  ganz  verschie- 
denen Zeiten  seines  Lebens  bezeugte  Gabe  desselben,  Zukünftiges 
vorauszusehen,  kam  hinzu,  um  ihn  in  der  Ueberzeugung  zu  be- 
stärken, dass  sein  Beruf  ein  anderer  sei,  als  in  den  Bahnen  des 
geordneten  Pfarramtes  zu  wandeln.  Er  glaubte  Gesichte  und 
Offenbarungen  gehabt  und  ein  prophetisches  Amt  nach  Art 
Johannis  des  Täufers  unter  den  Christen,  zumal  aber  unter  den 
Juden  überkommen  zu  haben.  Insbesondere  hielt  er  sich  für 
berufen,  dem  endlichen  Reiche  Gottes  unter  Israel  die  Bahn  zu 
brechen. 


—       282       — 

So  durchzog  er  nun  in  den  Jahren  1728 — 1730  zuerst  die 
Rheingegenden  und  Holland,  dann  aber  Ungarn  und  Polen  und 
machte  dort  überall  durch  seine  erschütternden  Busspredigten 
einen  ungemeinen  Eindruck  auf  viele  Gemüther.  Als  später 
Manitius  mit  ihm  in  den  östlichen  Gegenden  Missionsreisen 
machte,  hatte  er  vielfach  Gelegenheit  zu  bemerken,  dass  sich 
Widmanns  frühere  Thätigkeit  daselbst  Vielen  tief  eingeprägt 
hatte.  Ueberall  sprach  man  von  dem  „deutschen  Mann",  weit 
und  breit  war  sein  Ruf  besonders  unter  die  Juden  gedrungen, 
und  den  Jesuiten  in  Ungarn  war  seine  Wirksamkeit  so  gefährlich 
erschienen,  dass  sie  ihn  ins  Gefängniss  brachten,  aus  dem  er  nur, 
wie  es  scheint,  durch  die  Flucht  frei  wurde. 

Als  er  dann,  in  Wien  auf  denselben  hingewiesen,  zu  Callen- 
berg  kam,  trat  er  dort  in  einer  Weise  auf,  die  ebensosehr  den 
ungemeinen  Ernst  des  Mannes  als  seine  Neigung  zu  schwärmeri- 
schen Vorstellungen  bekundete.  Er  war  alier  Sektenbildung 
durchaus  abhold.  Inspirirte,  Wiedertäufer  und  Gichtelianer  wurden 
von  ihm  mit  gewaltigen  Worten  gestraft  und  sie  Hessen  sich 
das  von  ihm  auch  gefallen.  Der  Gedanke  an  die  Nähe  des 
grossen  Reiches  Gottes  erfüllte  ihn  so  sehr,  dass  er  von  sektireri- 
schen  Kirchenbildungen  durchaus  nichts  wissen  wollte;  aber  er 
wurde  dessen  nicht  inne,  dass  er  selbst  auf  andere  schwärmerische 
Abwege  gerieth. 

Im  Uebrigen  besass  er  eine  nicht  gewöhnliche  Gabe  an  die 
Herzen  und  Gewissen  zu  dringen,  und  unter  seinem  Gebet  zer- 
schmolzen oft  förmlich  die  Menschen.  Auf  Disputationen  legte 
er  wenig  Werth  und  von  der  kleinlichen  Art  der  Beweisführung, 
welche  oft  ein  unangenehmes  Charakteristikum  vieler  Juden- 
missionare ist,  findet  sich  bei  ihm  nichts.  Wer  mit  ihm  in  Ver- 
bindung trat,  konnte  sich  denn  auch  eines  gewissen  Eindruckes 
von  seiner  Person  nicht  erwehren.  Hoch-  und  Niedrigstehende, 
Gelehrte  und  Ungelehrte,  Juden  und  Christen  und  Sektirer  haben 
oft  lange  die  Gespräche  in  sich  bewahrt,  welche  sie  mit  ihm 
gehabt  hatten. 

In  London  setzte  Widmann  ein  Schreiben  in  lateinischer 
Sprache  auf,  das  7  Punkte  enthielt  und  auf  Grund  alttestament- 
licher  Stellen  Fragen  an  die  Gewissen  der  Juden  richtete,  deren 
Beantwortung  er  sich  von  dem  portugiesischen  Rabbiner  der 
dortigen  Gemeinde  erbat.  Man  führte  ihn  mit  seinem  Schrift- 
stück in  das  Lehrhaus,  in  welchem  sich  der  Rabbiner  studirend 


—     283 

aufhielt.  Widmann  redete  ihn  lateinisch  an  und  legte  ihm  sein 
Anliegen  vor.  Dem  jüdischen  Gelehrten  war  das  Lateinische 
nicht  recht  geläufig,  und  so  frug  er  denn  den  Missionar,  ob  er  das 
Hebräische  verstehe.  Auf  die  bejahende  Antwort  erfolgte  nun 
die  weitere  Verhandlung  in  dieser  Sprache.  Widmann  wusste 
hierbei  den  anwesenden  Juden  die  Zeugnisse  ihrer  Propheten  so 
sehr  zu  einer  Gewissensfrage  zu  machen,  dass  sie  schliesslich  in 
hellen  Streit  unter  einander  geriethen.  Er  selbst  verabschiedete 
sich  darauf  von  ihnen,  erklärte  aber,  dass  er  wieder  kommen 
werde,  um  Bescheid  auf  seine  schriftlich  niedergelegten  Fragen 
zu  erhalten.  Er  stellte  sich  auch  zu  der  ihm  hierfür  festgesetzten 
Zeit  ein  und  sah  sich  in  Folge  des  neuen  Gespräches  veranlasst, 
•ein  weiteres  Zeugniss  in  einem  hebräischen  Aufsatz  an  das  por- 
tugiesische Judencollegium  zu  richten.  Man  Hess  ihn  hierauf  noch 
einmal  zu  einer  mündlichen  Besprechung  zu,  aber  als  man  nun 
nicht  mehr  dem  Missionar  zu  antworten  im  Stande  war,  lehnte 
man  weitere  Verhandlungen  mit  ihm  ab. 

Die  eigenthümliche  Anziehungskraft,  welche  Widmann  auf 
viele  Menschen  ausübte,  empfand  insbesondere  Manitius  so  sehr,  dass 
in  demselben  der  unbezwingbare  Wunsch  entstand,  sich  mit  Wid- 
mann auf  Missionsreisen  unter  die  Juden  zu  begeben.  Als  nun 
aber  die  beiden  unterwegs  waren,  drangen  jene  ungünstigen 
Gerüchte  über  Widmann  zu  Callenberg.  Der  Professor  trat  als- 
bald brieflich  mit  ihm  selbst  und  mit  Manitius  seinethalben  in 
Verbindung.  Der  Gefährte  konnte  nur  melden,  dass  Widmann 
sein  Werk  mit  grossem  Eifer  treibe  und  dass  er  seine  schwär- 
merischen Gedanken  in  der  Missionsarbeit  völlig  zurücktreten 
lasse;  die  nüchterne  Persönlichkeit  des  Manitius  wirkte  sichtlich  auf 
Widmann  heilsam  ein  und  liess  nichts  von  den  alten  Neigungen 
in  ihm  aufkommen.  Callenberg  hatte  daher,  und  weil  die  An- 
klagen gegen  Widmann  sich  nicht  ausmachen  Hessen,  auch  gar 
keine  Veranlassung  die  Verbindung  mit  demselben  so  schnell  zu 
lösen,  sondern  gestattete  es,  dass  die  beiden  Freunde  ihr  Werk 
im  Dienste  des  Institutum  gemeinsam  fortsetzten. 

Auf  diese  Weise  bereisten  nun  Widmann  und  Manitius  mit 
-einander  missionirend  Polen,  Dänemark,  Böhmen,  England  und 
Deutschland  in  der  Zeit  von  1730 — 1739.  Mit  mächtigem  münd- 
lichem Zeugniss  drang  Widmann  an  viele  Tausende  von  Juden 
heran  und  verfasste  auch  einige  Schriften,  welche  im  Missions- 
werke  des  Institutum    lause    ihre  Verwendung    gefunden    haben. 


—     284     — 

So  Hess  er  ein  Ermahnungsschreiben  an  Proselyten  zunächst  in 
Halle  ergehen,  welches  Callenberg  in  der  5.  Fortsetzung  des 
Berichtes  S.  19  ff.  mittheilt,  und  das  ein  tiefes  Verständniss  für 
das  geistliche  Wohl  und  Wehe  wie  für  die  Kämpfe  der  Prose- 
lyten bekundet. 

In  deutscher  Sprache  Hess  ein  Proselyt  1731  einen  Traktat 
Widmanns  drucken,  welcher  den  seltsamen  Titel:  „Kurzer  Hand- 
riss  zu  dem  heutigen  Judenthum"  trug.  Widmann  Hess  sich  hier 
über  das  Schwankende  und  Zweifelvolle  in  den  jüdischen  Religions- 
vorstellungen aus  und  behandelte  auf  besonderen  Wunsch  auch 
die  Fragen,  ob  Christus  allein  der  Heiden  und  nicht  auch  der 
Juden  Messias  sei?  ob  die  gegenwärtige  Gefangenschaft  des 
jüdischen  Volkes  innerhalb  8  Jahren,  wie  eine  damals  unter 
den  Juden  verbreitete  Weissagung  behauptete,  ihr  Ende  erreichen 
würde?  und  wo  der  Messias  nach  seinem  Tode  geblieben  sei? 

1737  Hess  Callenberg  die  von  Widmann  aufgesetzten  „Christ- 
lichen Gebete  eines  sich  bekehrenden  Juden"  in  jüdisch-deutscher 
Sprache  drucken.  Der  hebräische  Titel  lautete:  „Neue  Gebete 
zu  suchen  die  alten  Gnaden  Davids".  Später  erlebte  diese  Schrift 
eine  zweite  Auflage,  und  Theile  derselben  erschienen  noch  öfters. 

Bis  Mitte  Juli  1739  nun  stand  Widmann  im  Dienste  des 
Institutum.  Er  hat  auf  viele  Juden  einen  bleibenden  Eindruck 
hervorgebracht,  und  nachher  noch  trafen  die  Missionare  manchen 
Proselyten,  der  seine  Bekehrung  besonders  auf  das  Zeugniss  Wid- 
manns zurückführte.  Von  der  Gefangenschaft,  welche  er  mit  Manitius 
zusammen  in  Böhmen  erlitt,  und  die  ihn  in  grosse  Gefahr  brachte, 
wird  hernach  noch  die  Rede  sein.  In  häufiger  körperlicher 
Schwachheit,  unter  Hohn  und  Spott,  unter  Lästerungen  und  thät- 
lichen  Misshandlungen  hatte  er  9  Jahre  hindurch  nicht  den  Muth 
verloren,  weil  er  der  festen  Zuversicht  war,  dass  er  doch  noch 
grosse  Erfolge  unter  den  Juden  mit  Augen  sehen  würde.  Als 
aber  1739  in  Amsterdam  das  Haus,  in  welchem  er  sich  mit 
Manitius  aufhielt,  vom  jüdischen  Pöbel  belagert  wurde,  und  er 
fast  zu  Tode  gesteinigt  worden  wäre,  scheint  ihm  der  Muth  für 
das  Missionswerk  entfallen  zu  sein.  Er  begab  sich  nach  Halle 
und  löste  seine  Verbindung  mit  dem  Institutum  auf.  Von  jetzt 
ab  wollte  er  ganz  frei  wirken. 

Nach  dem  ferneren  Bericht  von  St.  Schultz  11,  59,  60 
hat  er  sich  in  dem  bekannten  evangelischen  Kloster  Bergen  bei 
Magdeburg,  das  unter  dem  Abte  Steinmetz  stand,  während  des 


—     285     — 

Winters  von  1740 — 1 74 1  einlogirt.  Ein  schlesischer  Prediger, 
welcher  damals  Lehrer  an  dem  dortigen  Pädagogium  war,  hatte 
daselbst  mit  ihm  reichen  Verkehr  und  rühmt  Widmann  als  einen 
überaus  tiefgegründeten  Christen.  Er  machte  eben  auch  dort  auf 
so  Manchen  einen  ungewöhnlichen  Eindruck.  In  Urlspergers 
Sammlung  für  Liebhaber  der  christlichen  Wahrheit  vom  Jahre 
1786  wird  Stück  10,  S.  320  dann  von  seinen  letzten  Jahren 
berichtet:  Er  habe,  weil  ihm  die  Austheilung  des  Abendmahles 
an  Unwürdige  Bedenken  bereitete,  kein  Pfarramt  annehmen 
wollen  und  sich  schliesslich  in  Stettin  und  Danzig  aufgehalten, 
zwischen  welchen  beiden  Orten  er  öfter  hin  und  her  gereist  sei, 
und  habe  daselbst  durch  seinen  Unterricht  und  ernstlichen  Wandel 
redliche  Christen  gestärkt. 

Im  Jahre  1747  aber  berichtet  Callenberg  selbst,  dass  ihn 
Widmann  plötzlich  wieder  und  von  da  ab  einige  Male  besucht 
habe,  zuletzt  im  August  des  Jahres  1754,  wo  er  sich  mit  einem 
Katechumenen  Jacob  Salomo  treulich  beschäftigte.  Er  äusserte 
gegen  Callenberg  den  Wunsch,  Lebensbilder  bekehrter  Proselyten 
drucken  zu  lassen  und  verliess  Halle  mit  dem  Vorsatz,  mit  einigen 
anderen  frommen  Christen  und  Proselyten  nach  Palästina  auszu- 
wandern, um  dort  Handwerk  und  Ackerbau  zu  treiben  und  so  den  An- 
fang einer  Colonie  zu  bilden,  welche  hernach  den  gläubigen  Christen 
einen  Stützpunkt  bei  dem  bevorstehenden  Anbruch  des  letzten  Reiches 
Gottes  bieten  könnte.  Seine  eschatologischen  Ansichten  haben 
sich  also  bis  an  sein  Lebensende  erhalten.  Bald  darauf  aber 
starb  er  am  20.  Oktober  1754  in  Stettin. 

Freunde  desselben  theilte  Callenberg  seinen  Tod  mit: 
„O  wie  erbaulich  war  sein  Ende,  wie  theuer  seine  Ermahnungen, 
die  er  uns  zuletzt  noch  gab,  und  wie  gross  seine  Glaubens- 
freudigkeit und  Geduld."  Auf  seiner  Rückreise  von  Halle  war 
ihm  im  Traume  bestimmt  sein  naher  Tod  angekündigt  worden, 
und  er  hatte  den  dortigen  Freunden  sogleich  davon  erzählt. 
Tief  betrauert  von  denen,  welche  ihm  während  seiner  letzten 
Jahre  nahe  gestanden  hatten,  starb  er  und  wurde  in  der  St.  Jacobi- 
kirche  zu  Stettin  bestattet. 

Für  das  Institutum  war  es  ein  Glück,  dass  es  neben  Wid- 
mann sogleich  einen  anderen  Missionar  gewann,  Johann  Andreas 
Manitius*) ,  welcher  als  christliche  Persönlichkeit  den  älteren  und 


*)  Dibre  Emeth   1882  S.   130  iü 


—     286     — 

begabteren  Genossen  in  vortrefflicher  Weise  ergänzte,  und  dessen 
nüchterne  Frömmigkeit  ein  Gegengewicht  gegen  die  Neigung 
YYidmann's,  ausserordentliche  Wege  zu  gehen,  bot. 

Johann  Andreas  Manitius,  1707  in  Etzien  bei  Brandenburg 
geboren,  war  der  älteste  von  5  Söhnen  des  Pastors  in  jenem  Dorfe. 
Die  Manitius'sche  Familie  war  ziemlich  ausgebreitet  und  Glieder 
derselben  bekleideten  zum  Theil  ansehnliche  Aemter;  ein  Oheim 
des  Missionars  war  Minister  in  Berlin  gewesen. 

Das  Etzien'sche  Pfarrhaus  war  von  ernster  Frömmigkeit 
erfüllt  und  pflegte  besonders  den  durch  den  Pietismus  erweckten 
Missionssinn  in  seiner  Mitte.  Für  die  Juden  hatte  schon  der 
Grossvater,  ein  Curfürstlicher  Geheimrath,  eine  besondere  Zu- 
neigung empfunden.  Derselbe  verstand  hebräisch  und  hat  fleissig 
mit  einem  Juden  in  seiner  Nähe  die  hebräische  Bibel  gelesen, 
um  bei  dieser  Gelegenheit  denselben  für  Christum  zu  gewinnen. 
Der  Wunsch  von  Johann  Andreas  Manitius,  unter  den  Juden  das 
Evangelium  zu  verbreiten,  fand  daher,  nachdem  seine  Familie 
erst  darüber  Gewissheit  erlangt  hatte,  dass  die  über  denselben 
ausgesprengten  thörichten  Gerüchte  falsche  seien,  in  ihrer 
Mitte  die  lebhafteste  Billigung.  Der  Vater  insbesondere  erklärte 
darauf,  er  würde  es  nicht  bloss  gern  sehen,  wenn  dieser  Sohn 
seine  ganze  Lebenszeit  in  diesem  Werke  zubrächte,  sondern 
würde  sich  freuen,  wenn  Gott  auch  die  anderen  Söhne  dazu 
gebrauchen  und  tüchtig  machen  wollte,  sein  Werk  unter  den 
Juden  zu  treiben.  Dieser  Gesinnung  aber  blieb  der  Vater  auch 
dann  treu,  als  er  einen  vollen  Einblick  in  die  Entbehrungen, 
Opfer  und  Gefahren,  welche  der  Missionsberuf  seinem  Sohne 
bereitete,  gewonnen  hatte. 

Johann  Andreas  Manitius  war  aber  durch  das  Callenberg'sche 
Unternehmen,  dessen  Entstehung  er  als  Student  in  Halle  mit- 
erlebt hatte,  für  dasselbe  warm  interessirt  worden.  Er  hörte  die 
Callenberg'schen  Vorlesungen  über  das  Rabbinische  und  Jüdisch- 
deutsche und  war  recht  eigentlich  die  Seele  des  studentischen 
Kreises,  welcher  Callenbergs  Schritte  mit  Theilnahme  begleitete 
und  dessen  Werk  zu  fördern  entschlossen  war.  Im  Einverständ- 
niss  mit  Callenberg  erliess  er  Ende  Juli  1 730  ein  offenes  Schreiben 
an  die  Studentenschaft,  in  welchem  er  zur  Betheiligung  an  den 
rabbinischen  und  jüdisch-deutschen  Vorlesungen  dieses  Professors 
aufforderte  und  die  Unterstützung  seines  Werkes  unter  den  Juden 
den  Commilitonen  dringend  empfahl.  Der  Erfolg  war,  dass  sich  so- 


—     287     — 

fort  21  Studirende  zu  den  betreffenden  Vorlesungen  Callenbergs 
meldeten.  Manitius  sammelte  um  sich  aber  noch  einen  näheren 
Kreis  von  Freunden,  die  sich  an  jedem  Mittwoch  zum  Gebet  für  die 
Juden  und  zu  weiterer  Betreibung  der  jüdischen  Studienversam- 
n.elten  und  Hess  sich  ebenso  an  den  Sonntagen  die  Sammlung- 
von  Liebesgaben  für  das  Institutum  in  den  studentischen  Kreisen 
angelegen  sein. 

Nach  Vollendung  seiner  Studien  sollte  Manitius  gegen 
Ende  1730  Adjunkt  bei  seinem  Vater  werden.  Die  Begegnung 
mit  Widmann  aber,  der  Anfang  Oktober  nach  Halle  gekommen 
war,  entschied  über  seine  Zukunft  und  wurde  die  Veranlassung,  dass 
nun   das  Institutum   zu  eigentlichen  Missionaren  kam. 

Manitius  wurde  mit  Widmann  eins,  denselben  zunächst  einmal 
für  14  Tage  auf  einer  Missionsreise  unter  den  Juden  zu  begleiten,  und 
Callenberg,  dem  Manitius  diesen  Entschluss  mittheilte,  versprach 
ihm  wie  seinem  Gefährten  für  diesen  Zweck  seine  Unterstützung. 

Nach  den  ersten  14  Tagen  der  Reise  war  aber  Manitius 
völlig  entschlossen,  das  begonnene  Werk  weiter  fortzusetzen. 
Von  nun  an  wanderte  er  denn  auch  Jahre  lang  im  Verein  mit 
Widmann  und  später  auch  mit  St.  Schultz  unter  den  Juden  ver- 
schiedener Länder  missionirend  umher. 

Anfanglich  von  dem  Eindrucke,  den  Widmann  auf  ihn  ge- 
macht  hatte,  fast  übermannt,  gewann  er  sehr  schnell  seine 
Selbständigkeit  und  blieb  von  den  schwärmerischen  Neigungen 
des  älteren  Gefährten  völlig  unberührt.  Ohne  jede  überspannte 
Erwartung  und  von  der  Rechnung  auf  Erfolg  in  keiner  Weise 
bestimmt,  betrieb  er  sein  Missions  werk.  Nicht  der  Gedanke  an 
eine  bevorstehende  allgemeine  Judenbekehrung,  so  äusserte  er 
sich  einmal,  als  man  ihm  ein  anderes  Amt  anbot,  treibe  ihn  zu 
seinem  Zeugnisse  an  die  Juden,  sondern  dass  die  Pflicht  der 
Liebe  und  der  Zurechtweisung  von  Irrenden  zu  keiner  Zeit  ver- 
säumt werden  dürfe.  Von  einer  allgemeinen  Verstockung  der 
Juden  aber  solle  man  nicht  so  schnell  sprechen,  ehe  man  nicht 
und  zwar  den  Einzelnen  in  ihrer  Muttersprache  das  theure 
Evangelium  liebreich,  deutlich,  gründlich,  überzeugend  und  an- 
haltend vorgehalten  habe.  Die  Juden  sollten  uns  auch  am  Tage 
des  Gerichts  nicht  beschuldigen  dürfen,  wir  Christen  hätten  ihnen 
den  Glauben  an  den  Messias  nicht  vorgehalten.  Freilich  dürfe 
man  die  Christen  nicht  liegen  lassen  und  versäumen,  aber  eben- 
so  solle   man    auch    um    die    Errettung   des    armen    Volkes    der 


—     288     — 

Juden  bekümmert  sein.  Paulus  nenne  ja  doch  das  Evangelium 
eine  Kraft  Gottes,  die  Juden  vornehmlich  selig  zu  machen. 
Juden  und  Heiden  sollten  eins  in  Christo  werden,  so  müssten 
denn  auch  beide  die  Predigt  des  Evangeliums  empfangen. 

Von  diesem  Gedanken  beseelt,  durchzog  Manitius  im  Missions- 
berufe Deutschland,  Polen,  Böhmen,  Dänemark,  England,  Preussen, 
Kurland  und  Theile  von  Russland.  Sogleich  im  Anfange  seiner 
Reisen  wurde  er  auf  ernste  Proben  gestellt.  Etwa  einen  Monat, 
nachdem  er  mit  Widmann  Halle  verlassen  hatte,  häuften  sich  die 
Mühen  und  Beschwerden  der  winterlichen  Wanderung  in  solchem 
Maasse,  dass  dies  viele  andere  wohl  für  immer  vom  Missions- 
werke abgeschreckt  hätte. 

In  der  Mitte  November  waren  beide  aufgebrochen,  in  der 
zweiten  Hälfte  des  Dezember  finden  wir  sie  in  Polen.  Manitius 
hatte  bis  dahin  bei  den  guten  Verhältnissen  seines  elterlichen  Hauses 
alle  Bequemlichkeiten  gemessen  dürfen  und  jetzt  zog  er,  dessen 
völlig  ungewohnt,  wie  ein  Hausirer  beladen,  seine  Strasse  dahin.  Der 
polnische  Winter  setzte  ihm  hart  zu.  Im  Schneesturm  wanderte 
er  einmal  mit  seinem  Gefährten  dahin,  beide  verloren  den  Weg 
und  inte :;  umher,  sie  waren  in  grosser  Gefahr;  da  begegnete 
ihnen  0;,-  ich  ein  Mann,  welcher  der  Gegend  kundig  war, 
und  dieser  wies  sie  zurecht.  Wenige  Tage  darauf  sollten  sie 
durch  einen  grossen  Wald  wandern,  der  Weg  jedoch  war  völlig 
verschneit.  Der  Wirth  aber,  bei  welchem  sie  eingekehrt  waren, 
erbarmte  sich  ihrer  und  gab  ihnen  einen  Begleiter  mit,  der  ihnen 
auch  zum  Schutz  gegen  die  Wölfe  dienen  sollte,  welche  in 
jenem  Walde  hausten.  Sie  mussten  dann  aber  über  einen  Fluss 
setzen,  dessen  Eisdecke  noch  nicht  fest  genug  war,  um  sie  sicher 
zu  tragen,  und  nur  mit  Lebensgefahr  kamen  sie  über  dieselbe. 
Mühsam  erreichten  sie  eine  schlechte  Herberge  und  fanden  in 
derselben  wenig  Erholung  von  ihren  Strapazen;  aber  von  seinem 
Vorsatze,  den  Juden  das  Evangelium  hin  und  her  zu  bringen, 
brachte  auch  ein  solcher  Anfang  der  Missionsreisen  Manitius 
nicht  zurück. 

In  die  grösste  Gefahr  jedoch  geriethen  Widmann  und  Mani- 
tius während  ihrer  Reise  durch    Böhmen  im  Jahre    1733*)-     ^1Q 


*)  Callenbergs  Berichte,  Fortsetzung.  II.  Theil  2  S.  47  ff.  Der  Freund 
Israels.  Berlin  1824.  Forts.  1  S.  21  ff.  Dibre  Emeth  1S7S  S.  65  ff.  Saat  1880. 
Forts.  2,  S.  94  ff. 


—     289     — 

Reise  war  von  vornherein  nicht  ohne  Bedenken  gewesen,  da  die 
österreichische  Regierung  überall  in  Böhmen  hussitische  Prediger 
witterte,  welche  die  heimlichen  Protestanten  in  ihrem  Glauben 
stärken  wollten,  und  gegen  solche  Personen  aufs  härteste  ver- 
fuhr. Professor  Callenberg  hatte  daher  den  Wunsch  geäussert, 
dass  seine  Mitarbeiter  nur  die  böhmischen  Grenzorte  besuchen 
möchten,  damit  sie  sich  im  Falle  der  Verfolgung  leicht  auf 
preussisches  Gebiet  retten  könnten.  In  der  preussischen  Grenz- 
stadt Landshut  am  Riesengebirge  aber  ergriff  Manitius  und 
Widmann  ein  so  heisses  Verlangen,  den  Juden  in  Böhmen  den 
Sünderheiland  zu  verkündigen,  dass  sie,  alle  Gefahr  für  ihre  eigene 
Person  vergessend,  in  jenes  Land  hineinzogen  und  dabei  einander 
zuriefen:  „Es  werden  derer  mehr  sein,  die  für  uns,  als  derer, 
welche  wider  uns  streiten". 

Anfangs  ging  die  Reise  auch  gut  von  Statten,  und  sie  traten 
mit  den  Juden  in  den  erwünschten  Verkehr.  Am  18.  Februar 
aber  langten  sie  in  Hohenmauth  an,  wo  sie  einem  Kaiserlichen 
Commissär  auffielen,  der  ihnen  allerlei  Fragen  vorlegte  und  dann 
auch  ihre  Pässe  von  ihnen  forderte.  Sie  überreichten  dieselben, 
aber  der  Beamte  erklärte  sich  durch  die  ihm  übergebenen  Papiere 
nicht  für  zufrieden  gestellt,  sondern  befahl  ihnen,  ihre  Sachen  zu 
öffnen.  Da  erweckten  die  Schriften  in  ihren  Ranzen  und  beson- 
ders die  jüdisch -deutschen  in  ihm  Verdacht;  und  als  sie  ihm 
hierauf  offen  den  Zweck  ihrer  Reise  mittheilten,  verhöhnte  er  sie, 
setzte  Manitius  die  mitten  unter  den  Schriften  vorgefundene 
Perücke  desselben  auf  und  verspottete  ihn:  Sehet  da  den  Mis- 
sionar! Bei  fortgesetzter  Untersuchung  fand  der  Beamte  etwas 
Baumwolle  und  eine  hölzerne  Büchse  mit  Salbe.  Sofort  rief  er 
triumphirend  aus,  dass  dies  Chrisam  sei,  welches  bei  der  Taufe 
von  Juden  angewandt  werden  solle,  —  eine  in  der  That  ganz 
thörichte  Vermuthung,  da  die  Evangelischen  den  Gebrauch  von 
Chrisam  bei  Taufen  gar  nicht  kennen. 

Unterdess  war  der  Stadtrichter  herbeigerufen  worden,  nach 
dessen  Anordnungen  den  Missionaren  ihre  Sachen  weggenommen 
und  vor  ihren  Augen  versiegelt  wurden.  Einer  der  Anwesenden 
flüsterte  jetzt  Manitius  leise  zu:  „Die  Herren  werden  wohl  in 
Arrest  geführt  werden;  gebt  mir  einen  Gulden,  so  will  ich  Fürbitte 
einlegen,  dass  dies  nicht  geschehe."  Manitius  jedoch  entgegnete: 
„Nein,  das  habe  ich  nicht  nöthig.  Wenn  ich  auch  in  Arrest 
komme,  so  habe  ich  doch  nichts  zu  fürchten,  denn  ich  habe  eine 

F.  J.  A.  de   le   Roi,   Missionsbeziehungen.  1 9 


290    — 

gute  Sache."  Der  Richter  aber  befahl  jetzt,  bis  zu  weiterer 
Untersuchung  die  Gefangenen  in  den  Kerker  zu  führen.  Dort 
angelangt,  war  es  ihr  Erstes,  den  Gott,  welcher  sie  diese  Wege 
geleitet,  zu  loben  und  sich  gegenseitig  zu  ermuntern.  Sie  waren 
mit  lüderlichen  Frauenspersonen  und  einem  älteren  Manne  zu- 
sammengethan  worden.  Dieser  Alte  hörte  ihre  lateinisch  geführte 
Unterhaltung  mit  an  und  tröstete  sie  dann;  es  war  ein  Richter 
aus  der  Stadt,  welcher  die  Lage  der  Dinge  bald  durchschaute, 
aber  ihnen  nicht  helfen  konnte. 

Für  die  Nacht  wurden  neben  die  beiden  Gefangenen  zwei 
gepanzerte  Wächter  gestellt.  Während  diese  aber  schliefen, 
kamen  Widmann  und  Manitius  überein:  „nichts  zu  verhalten,  was 
zur  Ehre  Christi  diene,  und  was  vor  der  römischen  Kirche 
bezeugt  werden  müsse;  und  wir  suchten  Waffen  des  Lichts  her- 
vor, mit  denen  wir  zu  kämpfen  haben  würden".  Danach 
schliefen  beide  ein.  Im  Traume  aber  kam  es  Widmann  vor,  als 
höre  er  eine  Stimme:  „Warte  nur  30  und  25  Tage.  Dabei 
däuchte  es  mich,  dass  ich  nach  solchen  Tagen  vor  dem  Richter 
stünde,  herumginge  und  kochte,  aber  doch  noch  gefangen  wäre, 
mehr  Freiheit  zu  haben  und  des  Richters  gar  los  zu  werden 
wünschte."  Und  genau  bis  in  alle  Einzelheiten  so,  wie  er  es  im 
Traume  gesehen,  ist  es  hernach  gekommen.  Widmann  aber  war 
dessen  so  gewiss,  dass  die  Sache  den  Verlauf  nehmen  würde, 
wie  er  es  im  Traume  vernommen  hatte,  dass  er  dann  im  Chru- 
dimschen  Gefängniss  5  5  Striche  mit  Kreide  an  der  Stelle,  wo  er 
schlief,  anbrachte  und  täglich  einen  derselben  auslöschte. 

Am  nächsten  Tage  erschienen  bei  den  Gefangenen  drei 
Richter  und  nahmen  ihnen  all  ihr  Geld  weg,  wobei  sie,  weil 
unter  den  Münzen  auch  sehr  verbrauchte  waren,  die  Missionare 
noch  beschuldigten  Falschmünzer  zu  sein.  Darauf  wurden  ihnen 
Ketten  angelegt.  Widmann  rief  hierbei  aus:  per  aspera  ad  astra, 
auf  rauher  Bahn  geht's  himmelan!  Manitius  aber  küsste  die 
Ketten,  die  man  ihm  anlegte.  Als  die  Richter  hinausgegangen 
waren,  fielen  die  Gefangenen  auf  ihre  Knie  und  schütteten  ihr 
Herz  im  gemeinsamen  Gebet  aus.  Dann  sprachen  sie  einander 
zu,  auf  Christi  Bande  und  Tod  mit  einander  leben  und  sterben 
und  bis  zum  Martertode  beständig  bezeugen  zu  wollen,  dass  es 
ihnen  allein  um  den  gekreuzigten  Heiland  zu  thun  gewesen  sei. 
Sie  bereiteten  sich  aber  auch  auf  die  Stunde  der  Versuchung 
vor,  wo  sie  von  einander  getrennt  werden  sollten,  und  versprachen 


—     291     — 

sich  gegenseitig,  auch  dann  im  Geiste  und  der  Wahrheit  bei  ein- 
ander bleiben,  Gott  loben  und  Christum  verherrlichen  zu  wollen. 

Erneute  Untersuchung  sollte  es  durchaus  zu  Tage  bringen, 
dass  sie  protestantische  Emissäre  an  die  verborgenen  Hussiten 
seien.  Man  vermuthete  bei  ihnen  reiche  Geldmittel  und  unter- 
suchte sie  von  Neuem.  Als  sich  hierbei  in  einer  verborgenen 
Tasche  des  Beinkleides  von  Manitius  ein  Dukaten  und  einige 
Gulden  vorfanden,  wurde  der  Stockmeister,  welchem  die  erste 
Untersuchung  der  Beiden  anbefohlen  worden  war,  wegen  heim- 
lichen Einverständnisses  mit  den  Arrestanten  seines  Amtes 
entsetzt.  Den  Missionaren  wurden  jetzt  auch  ihre  Ueberrröcke 
genommen,  damit  dieselben  aufgetrennt  und  untersucht  würden, 
und  ihnen  so  ihre  Decken  für  die  Nacht  entzogen. 

Von  nun  an  trennte  man  aber  auch  die  Beiden  von  einander, 
und  dies  traf  sie  besonders  hart.  Täglich  empfingen  sie  jetzt  vier 
Kreuzer,  mit  denen  sie  sich  erhalten  "sollten;  thatsächlich  konnten 
sie  damit  kaum  den  Hunger  von  sich  abwehren.  Später  erhielten 
sie  ihre  Röcke  wieder  zurück  und  hatten  so  wenigstens  für  die 
Nacht  eine  Bedeckung. 

Jetzt  begannen  neue  Versuchungen.  Man  wünschte  sie  zum 
katholischen  Glauben  herüberzuziehen  und  hoffte  dies  durch 
freundliche  Zuspräche  zu  erreichen.  Der  Richter  trat  in  eine 
längere  Unterhaltung  mit  Manitius  ein  und  ermahnte  ihn,  zur 
Jungfrau  Maria  zu  beten,  so  werde  ihm  gewiss  geholfen  werden. 
Der  evangelische  Missionar  aber  antwortete  ihm:  „Mein  Vertrauen, 
das  ich  in  Christo  gefasst  habe ,  lasse  ich  nicht  sinken.  Ich 
weiss,  was  geschrieben  steht:  ob  Jemand  sündiget,  so  haben  wir 
einen  Fürsprecher  bei  dem  Vater,  Jesum  Christum,  der  gerecht 
ist;  den  werde  ich  fleissig  anrufen,  dass  er  für  mich  spreche  und 
bitte."  Der  Richter  hielt  ihm  entgegen,  dass  er  aber  durch  das 
Gebet  zur  Maria  eher  aus  dem  Gefängnisse  kommen  werde. 
Manitius  entgegnete  ihm  jedoch:  „Ich  glaube  es  wohl,  dass  ich 
bald  aus  dem  Gefängnisse  kommen  würde,  wenn  ich  solches  thäte, 
aber  ich  darf  es  nicht  thun.  In  Gottes  heiligem  Wort  steht 
geschrieben:  es  ist  nur  ein  Gott  und  ein  Mittler  zwischen  Gott 
und  den  Menschen,  der  Mensch  Jesus  Christus ,  der  sich  selbst 
gegeben  hat  zur  Erlösung  für  alle.  Wie  dürfte  ich  mich  also  zu 
einer  anderen  Fürsprecherin  und  Mittlerin  wenden!"  Der  Richter 
stellte  ihm  in  Aussicht,  dass  ein  anderer  ihm  alles  deutlicher 
machen   werde;    in    der    Untersuchung    solle    er    nur    dann    das 

19* 


—     292     — 

Kreuz  dreimal  von  der  Stirn  bis  auf  die  Brust  herab  machen  und 
bekennen,  dass  er  katholisch  sei,  so  werde  er  gewiss  entlassen 
werden.  Die  Antwort  von  Manitius  lautete:  „Ich  glaube  an  einen 
dreieinigen  Gott,  Vater,  Sohn  und  heiligen  Geist,  den  rufe  ich  in 
meiner  Noth  an  und  hoffe  durch  die  Gnade  Christi  selig  zu  werden." 

Der  Richter  begab  sich  hierauf  zu  Widmann  und  wollte  bei 
ihm  erreichen,  was  er  bei  Manitius  nicht  erreicht  hatte.  Mit 
diesem  liess  er  sich  aber  nicht  in  ein  längeres  Gespräch  ein,  sondern 
redete  ihm  nur  in  freundlicher  Weise  zu  und  machte  ihm  zuletzt 
das  Kreuz  in  katholischer  Weise  vor,  wobei  er  ihm  erklärte,  dass, 
wenn  er  dies  nachmachen  wolle,  er  bald  erlöst  werden  würde, 
und  verliess  ihn  dann. 

Des  nächsten  Tages  mussten  beide  Missionare  gleichzeitig 
vor  vier  Richtern  erscheinen,  um  die  ärgerlichsten  Lästerreden 
über  den  evangelischen  Glauben  und  Luther  anzuhören.  Aber 
die  Gefangenen  blieben  ihnfen  die  Antwort  nicht  schuldig,  so  dass 
sie  der  weltliche  Richter  schliesslich  mit  den  Worten:  „Ihr  seid 
ein  Teufelsgeschlecht"  verliess. 

Nicht  besseren  Erfolg  erzielte  ein  katholischer  Vikar,  den 
man  ihnen  jetzt  über  den  Hals  schickte.  Aber  der  Bericht, 
welchen  derselbe  über  die  beiden  Gefangenen  erstattete,  hatte 
dann  auch  zur  Folge,  dass  man  fortan  noch  härter  mit  ihnen 
verfuhr.  Jetzt  sollten  die  Missionare  mit  Ketten  an  Händen  und 
Füssen  geschlossen  nach  Chrudim  abgeführt  werden.  Als  ihnen 
aber  Jemand  höhnend  zurief:  „Was  habt  ihr  nun  von  eurer 
Sache,  als  dass  ihr  in  Ketten  und  Banden  fortgeschleppt  werdet", 
entgegnete  ihm  Manitius :  „Die  Ketten  sind  mein  grösster  Schmuck. 
So  muss  es  Christen  ergehen,  sie  müssen  auch  um  des  Namens 
Christi  willen  etwas  leiden." 

Die  Gefangenen  wurden  jetzt  auf  einen  Leiterwagen,  der 
mit  Stroh  bedeckt  war,  geschafft  und  mussten  so,  den  Rücken 
gegen  einander  gekehrt,  in  Ketten  die  Fahrt  nach  Chrudim  an- 
treten. Die  Stadt  Hohenmauth  segnend,  fuhren  sie  von  dannen, 
und  vor  dem  Thore  stimmte  Manitius  das  Lied  „Lobe  den  Herren, 
den  mächtigen  König  der  Ehren"  an,  in  das  Widmann  mit  einfiel. 
Auf  dem  Wagen  sassen  zwei  Wächter  mit  Keulen  bewaffnet,  und 
neben  demselben  ritt  der  Stadtrichter  einher. 

Auf  dem  Markte  in  Chrudim  mussten  dann  die  Gefangenem, 
ehe  sie  von  den  Behörden  der  Stadt  übernommen  wurden,  eine 
Weile  warten ,    und  dieser  Umstand    sollte    für  sie   von    erösster 


—     293     — 

Wichtigkeit  werden.  Denn  ein  junger  Mann  aus  Landshut, 
welcher  die  Missionare  daselbst  gesehen  und  kennen  gelernt 
hatte,  wurde  ihrer  gewahr  und  brachte  die  Kunde  von  ihrer 
Gefangenschaft  nach  Schlesien,  von  wo  aus  sie  später  Halle  er- 
reichte. Während  derselben  Zeit  aber,  wo  sie  ihres  weiteren 
Schicksals  harrend  auf  dem  Markte  standen,  trat  ein  Soldat  an 
sie  heran  und  wollte  sie  anwerben;  natürlich  ohne  Erfolg. 

Endlich  führte  man  sie  in  das  Gefängniss  der  Stadt.  Sie 
wurden  jetzt  so  eng  angeschlossen,  dass  sie  sich  nicht  von  der 
Stelle  rühren  konnten.  Mit  ihnen  befanden  sich  in  demselben 
kleinen  Räume  drei  Wilddiebe,  zwei  Mordbrenner,  ein  Deserteur, 
eine  Kindesmörderin,  ein  Hussit  und  ein  Jude ;  der  letztere  allein 
verstand  deutsch.  Auf  harten  Steinen  liegend,  brachten  die  Mis- 
sionare die  Nacht  zu.  Einem  alten  Juden ,  welcher  sich  zum 
Besuche  bei  seinem  Glaubensgenossen  im  Gefängnisse  aufhalten 
durfte,  bezeugten  Widmann  und  Manitius  sogleich  in  der  ersten 
Nacht  Jesum  Christum.  Der  Mann  hatte  bereits  Mo  Hers  jüdisch- 
deutsches Neues  Testament  gelesen  und  wurde  von  dem,  was 
ihm  die  Missionare  an  dieser  Stätte  sagten,  so  ergriffen,  dass  er 
hernach  zu  ihnen  auch  seinen  Sohn  ins  Gefängniss  sandte,  damit 
er  sie  gleichfalls  höre.  Selbstverständlich  wurde  auch  dem  anderen 
mitgefangenen  Juden  von  den  beiden  Glaubensboten  im  Kerker 
das  Evangelium  verkündigt. 

Neue  Richter  führten  nun  die  weiteren  Verhandlungen  mit 
den  beiden.  Der  enge  Raum  des  Zimmers,  in  welchem  die 
Gefangenen  sassen,  wurde  aber  durch  die  Anwesenheit  so  vieler 
Personen,  die  dort  ununterbrochen  sowohl  ihre  Tage  als  ihre 
Nächte  zubrachten,  dermaassen  verpestet,  dass  sich  der  die 
Untersuchung  führende  Richter  beim  Verhöre  beständig  die  Nase 
zuhielt.  Derselbe  beschuldigte  Widmann,  weil  er  auf  der  Schreib- 
tafel desselben  den  Namen  eines  hussitischen  Jägers  aufgezeichnet 
gefunden  hatte,  der  Gemeinschaft  mit  den  Hussiten.  Widmann 
wies  mit  Recht  diese  Beschuldigung  zurück,  forderte  aber  jetzt, 
dass  man  endlich  dem  widerrechtlichen  Verfahren  mit  ihnen  ein 
Ziel  setze.  Statt  ihnen  eine  Antwort  zu  geben,  ging  der  Richter 
mit  höhnischem  Lachen  von  dannen  und  bestimmte  noch  dazu, 
dass  fortan  die  Gefangenen  auch  in  den  Stock  gelegt  würden. 
Ein  römischer  Geistlicher,  der  jetzt  sein  Heil  bei  den  evange- 
lischen Glaubensboten  versuchen  sollte,  erkannte  schnell,  dass  er 
ihnen  nicht  gewachsen  wäre,    und  schlug  vor,    dass  statt    seiner 


—     294     — 

ein  gelehrter  Kapuziner  die  Unterredungen  übernähme.  Tags 
darauf  sandte  er  den  Dechanten  Lehr  zu  ihnen,  um  sie  zum 
Uebertritt  zu  bewegen.  Freundlichkeit  ins  Angesicht  hinein  und 
nichtswürdige  Ränke  hinter  dem  Rücken  waren  die  Waffen,  deren 
sich,  wie  es  später  einer  der  Richter  selbst  bekannt  hat,  dieser 
katholische  Geistliche  gegen  die  beiden  Protestanten  bediente. 

Diejenigen  Gefangenen,  welche  sich  bisher  im  Stock  befunden 
hatten,  wurden  nun  von  demselben  befreit,  damit  die  beiden 
Ketzer  in  denselben  gespannt  werden  könnten.  Widmanns  Füsse 
wollten  sich  zunächst  in  denselben  nicht  einpressen  lassen;  dess- 
halb  erhielt  er  den  untersten  Platz  im  Stock  nahe  dem  Ofen, 
wo  die  Löcher  grösser  waren.  Da  sassen  nun  die  Beiden  auf 
Stroh  und  streckten  die  geketteten  Füsse  durch  den  oberen  und 
den  unteren  Balken,  welche  soweit  ausgehöhlt  waren,  dass  die 
Füsse  darin  liegen  konnten.  Während  der  Nacht  wurden  den 
Gefangenen  noch  die  Hände  in  der  Form  zusammengeschlossen, 
wie  man  sie  zum  Beten  faltet.  Die  Mitgefangenen  baten  den 
Stockmeister  um  Gnade  für  die  Gefangenen,  und  während  der 
Nacht  wenigstens  unterliess  es  dann  derselbe,  die  Missionare  in 
dieser  Weise  zu  quälen. 

Von  dem  Blocke  bis  an  die  Wand  war  ein  Raum  von  i 1  2 
Ellen;  bei  den  Füssen  war  er  erhöht,  bei  dem  Kopfe  abhängig, 
und  es  schien,  als  hingen  sie  an  den  Füssen.  Widmann  erzählt: 
„Das  Blut  schoss  mir  so  sehr  zurück,  dass  die  Augen  anfingen 
roth  zu  werden  und  anzuschwellen.  Gerade  konnte  ich  nicht 
liegen,  weil  der  Raum  vom  Block  bis  zur  Wand  zu  kurz  war; 
auf  die  Seite  konnte  ich  mich  nicht  wenden,  weil  die  Füsse  nicht 
nachgaben.  Endlich  unterstützte  ich  den  ganzen  Leib  mit  zwei 
Rahmen,  bald  von  hinten,  bald  auf  der  Seite,  aber  es  half  nicht 
viel."  Manitius  fügt  hinzu :  „Tag  und  Nacht  sassen  wir  so  volle 
2  Monate  lang.  In  der  ersten  Zeit  hatten  wir  viele  schlaflose 
Nächte.  Das  Ungeziefer  plagte  uns;  die  Krämpfe  meldeten  sich 
oft  in  den  Beinen;  wir  hatten  wenig  zu  essen  und  zu  trinken; 
die  Furcht,  dass  noch  etwas  Härteres  erfolgen  möchte,  blieb 
auch  nicht  aus.  Aber  es  schlug  doch  zu  unserem  Besten  um, 
dass  wir  in  den  Stock  gesetzt  wurden;  denn  wir  konnten  so  die 
2  Monate  vor  dem  Verhör  bei  einander  bleiben,  mit  einander 
beten,  studiren,  uns  ermuntern  und  stärken  und  auf  das  Verhör 
vorbereiten." 


—     295     — 

„In  dieser  Vorbereitung  legten  wir  das  zum  Grunde,  dass, 
wenn  wir  die  Wahrheit  redeten,  unsere  Aussagen  übereinstimmen 
würden.  Unser  grosses  Elend  erregte  aber  auch  grosses  Mitleid, 
so  dass  sich  Manche  unser  erbarmten  und  uns  Almosen  reichten. 
Die  Sache  wurde  weithin  unter  den  Juden,  Katholiken  und  Hus- 
siten  bekannt  und  daraus  konnte  zu  seiner  Zeit  Nutzen  erwachsen. 
Uns  selbst  diente  es  zu  weiterer  Uebung  des  Glaubens,  des  Ge- 
betes und  der  Geduld  und  besserer  Prüfung  unseres  Zustandes 
vor  Gott,  indem  wir  uns  allen  zu  Tage  tretenden  Anzeichen  nach 
zum  Tode  vorbereiten  mussten.  Besonders  ging  unsere  Sorge 
darauf,  dass  wir  an  unserem  Theile  nichts  versäumen  noch  ver- 
sehen möchten  in  unserer  Pflicht  uns  zu  verantworten,  unsere 
gerechte  Sache  gründlich  und  mit  aller  Freudigkeit  vorzustellen 
und  uns  so  zu  verhalten,  dass  man,  wenn  wir  auch  unschuldig 
sterben  müssten,  nach  unserem  Tode  erführe,  dass  wir  in  unserem 
Glauben  standhaft  verharrten  und  in  demselben  fröhlich  aus 
dieser  Welt  gegangen  seien." 

Die  übrigen  Gefangenen  fühlten  Anfangs  ein  Mitleiden  für 
die  beiden  Missionare;  aber  ihre  Bitte,  auch  in  der  Nacht  die- 
selben aus  dem  Stocke  zu  lassen,  erhörte  der  Kerkermeister 
nicht,  während  er  sie  dagegen  des  Tages  über  öfter  von  dieser 
Qual  befreit  hatte.  Zur  Nacht  wurde  der  Stock  mit  2  Eisen 
und  2  Schlössern  verschlossen.  „Wenn  so  die  Nacht  herankam, 
beteten  wir  zusammen  vor  allem  in  dem  Sinn,  Gott  wolle  dieses 
unser  Leiden  dazu  gebrauchen,  dass  sein  Name  geheiligt  werde; 
von  uns  wolle  er  fern  thun  alle  Zärtlichkeit  des  Fleisches;  wir 
wissen  wohl,  dass  wir  verdient  haben,  zur  Hölle  gebeugt  zu 
werden;  er  wolle  uns  mit  diesem  Kreuzblock  (wir  bildeten  mit 
den  Füssen  ein  Kreuz)  so  segnen,  dass  er  eine  Gemeinschaft 
des  Leidens  Jesu  werde." 

Gegen  Ende  Februar  stellte  sich  der  Dechant  und  Doktor 
der  Theologie  Bernhard  Lehr  bei  den  Gefangenen  selbst  ein. 
Er  verkehrte  hoftährtig,  hart  und  höhnisch  mit  denselben,  gerieth 
aber  den  schriftbewanderten  Missionaren  gegenüber  sehr  ins 
Gedränge  und  schickte,  weil  er  selbst  seine  Sache  höchst  unge- 
schickt geführt  hatte,  ihnen  bekannte  römische  Streitschriften 
ins  Gefängniss,  welche  denselben  mehr  beweisen  sollten.  Wieder- 
holt unterhielt  er  sich  dann  mit  ihnen.  Widmann  imponirte  ihm 
hierbei  so,    dass  er  ihm  anbot,    falls   er   römisch   werden   wolle, 


—     296    — 

ihm  eine  Professur  der  Theologie  in  Prag  zu  verschaffen;  das 
half  ihm  aber  so  wenig,  als  seine  Drohungen. 

Besonders  arg  wurde  die  Verlegenheit  dieses  Doktors  der 
Theologie,  als  ihm  nachgewiesen  wurde,  dass  alles,  was  er  für 
seine  römische  Lehre  geltend  mache,  die  Juden  für  ihre  eigene 
ältere  anzögen,  und  dass,  wenn  Gründe  der  Tradition  stichhaltige 
wären,  die  Juden  das  ältere  Recht  vor  den  Katholiken  für  sich 
geltend  machen  könnten.  Als  der  Dechant  aber,  da  er  mit 
ordentlichen  Gründen  nichts  ausrichtete,  Widmann  die  Worte  im 
Munde  verdrehte,  erklärte  der  gefangene  Missionar,  dass  er  mit 
ihm  nicht  weiter  sprechen  werde,  wenn  er  bei  seinem  Verfahren 
verbliebe;  und  erst  als  der  Priester  fortan  ehrlicher  zu  Werke 
gehen  zu  wollen  versprach,  Hess  sich  WTidmann  mit  ihm  in  ein 
weiteres  Gespräch  ein. 

Der  Missionar  forderte  jetzt  eine  methodische  Behandlung  der 
Frage,  ob  Rom  oder  die  evangelische  Kirche  im  Rechte  sei,  und 
der  Dechant  ging  hierauf  ein.  Es  wurde  ein  Protokoll  verfasst 
und  wurden  die  Ergebnisse  des  Gespräches  klargestellt.  Als  es 
sich  aber  hierbei  bald  zeigte,  wie  ungünstig  sich  die  Sache  für 
den  römischen  Theologen  gestaltete,  verzichtete  derselbe  dareuf, 
in  dieser  Weise  die  Verhandlungen  weiter  fortzuführen. 

Manitius  hatte  es  dem  älteren  Collegen  überlassen,  den 
Dechanten  zurechtzuweisen.  Das  Schweigen  desselben  aber  ver- 
stand der  Letztere  falsch  und  wandte  sich  desshalb  an  den 
jüngeren  Gefangenen,  in  der  Hoffnung,  bei  ihm  mehr  zu  erreichen. 
Manitius  aber  erklärte  ihm:  „Ich  bin  von  der  Gnade  Gottes 
in  Christo  und  von  dessen  Gerechtigkeit,  die  allein  vor  Gott  gilt, 
so  lebendig  überzeugt,  dass  alle  Ihre  Vorstellungen  mich  nicht 
abzubringen  oder  irre  zu  machen  vermögen."  „Im  Uebrigen",  fügte 
Manitius  hinzu,  „gereichten  uns  seine  Zusprüche  nur  zur  Befestigung 
im  evangelischen  Glauben." 

Man  Hess  nun  die  Gefangenen  Mangel  leiden,  um  sie  auf 
diesem  Wege  weich  zu  machen.  Später  schickte  ihnen  der  Dechant 
einen  Jesuiten  zu.  Derselbe  setzte  die  traurigen  Bekehrungsver- 
suche  ebenso  unglücklich  fort  und  pries  dann  vor  den  Missionaren 
die  katholischen  Märtyrer  in  Japan,  aber  auch  die  Kunststückchen, 
mit  denen  ein  Pater  daselbst  das  christliche  Bekenntniss  zu  um- 
gehen   und    sich    in    eine    Stadt    einzuchleichen    gewusst    hatte. 

CT)  O 

Widmann  antwortete  dem  Jesuiten  zu  seiner  Beschämung:  „Mit 
List  das  Evangelium  zu   lehren,    will    uns    nicht    anstehen;    man 


—     297     — 

hat  in  der  Anfechtung  keinen  Trost.  Nach  Matthäus  10  hat  man 
ein  öffentliches  Bekenntniss  vorzuziehen,  wenn  man  nicht  einst 
auch  verleugnet  werden  soll.     Wir  leiden  und  schweigen." 

Am  Charfreitage  trat  der  Kaiserliche  Commissar  bei  den 
gefangenen  Missionaren  ein  und  erkundigte  sich  nach  allen  ihren 
Umständen  und  wie  lange  sie  im  Stock  geschlossen  lägen.  Wid- 
mann zeigte  dem  Beamten  die  Einspannung  und  Beklemmung, 
die  ihm  fast  den  Rücken  gebrochen,  nur  etwas  mehr  Schlaf 
wünsche  er  sich.  Bei  diesen  Worten  fiel  es  ihm  ein,  dass  Char- 
freitag  wäre,  und  darüber  rief  Widmann  aus:  „Kreuzige,  kreuzige, 
wir  sind  es  nicht,  die  so  gepresst  werden,  Jesus  selbst  wird  ver- 
folgt; die  Sache  ist  nicht  unser,  sondern  Gottes  und  Christi. 
Jesus  hat  ausgespannt  am  Kreuze  gehangen,  und  wir  werden  um 
seinetwillen  in  diesen  Kreuzblock  gesteckt.  Gott  erbarme  sich 
und  vergebe  denen  ihre  Sünde,  die  mit  uns  als  mit  Uebelthätern 
handeln."  Der  Commissar  war  tief  bewegt,  und  als  er  erfuhr, 
dass  jeder  nur  4  Kreuzer  täglich  zu  seinem  Lebensunterhalt 
empfing,  versprach  er,  ihnen  einen  Trunk  Wein  senden  zu  wollen. 
„Um  3  Uhr,  in  der  Stunde,  da  dem  Heiland  der  Trunk  am 
Kreuze  gereicht  worden  war,  empfingen  wir  ein  köstliches  Glas 
ausländischen  Weines  anstatt  des  Essigs  und  der  Galle,  damit 
Christus  getränket  worden." 

In  ihrer  schmerzlichen  Lage  aber  mussten  die  Missionare 
noch  selbst  für  ihren  Tisch  sorgen.  Sie  Hessen  desshalb  allerlei 
Wirthschafts-  und  Kochgeräthe  für  sich  anschaffen.  Die  Messer 
aber  nahm  man  ihnen  des  Nachts  weg,  damit  sie  sich  nicht 
selbst  entleibten.  Eine  Erhöhung  des  Tagegeldes,  die  ein  mit- 
leidiger Richter  für  sie  beantragt  hatte,  wurde  hintertrieben  und 
ihnen  auch  die  Bitte  um  die  Gewährung  einer  hebräischen  Bibel 
abgeschlagen,  während  dem  mitgefangenen  Juden  dieselbe  be- 
willigt wurde.  Die  stille,  geduldige  Art  aber,  alles  zu  ertragen 
und  nicht  zu  klagen,  machte  auf  einige  der  Richter  allmählich 
einen  besonderen  Eindruck,  so  dass  einer  derselben  einmal  über- 
wältigt ausrief:     „Ich  liebe  Euch  wie  mein  eigenes  Herz." 

Die  Mitgefangenen  ausser  dem  Hussiten  waren  für  die 
Missionare  eine  wahre  Plage;  sie  zankten  sich,  fluchten  und 
redeten  die  ärgerlichsten  Dinge  den  ganzen  Tag  über,  um  bald 
darauf  ihre  römischen  Gebete  und  Lieder  anzuheben.  Anfangs 
schien  das  ganze  WTesen  der  Missionare  ihnen  eine  Gewissens- 
mahnung werden  zu  wollen,   bald   aber  waren  sie  hiergegen  ab- 


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gestumpft;    und    da    Jene   es    abwiesen,    katholisch    zu    werden, 
thaten  sie  ihnen  auch  ihrerseits  alles  mögliche  Herzeleid  an. 

Neugierige,  welche  Zutritt  im  Gefängnisse  fanden,  wo  sie 
die  beiden  evangelischen  Prediger  sehen  wollten,  kamen  nie  zu 
den  Missionaren ,  ohne  dass  sich  dieselben  beeifert  hätten ,  ihnen 
ihre  Christenpflicht  gegen  die  Juden  an  das  Herz  zu  legen.  Sehr 
lieb  war  Widmann  und  Manitius  der  Verkehr  mit  dem  alten 
Hussiten,  der  ihnen  an  seinem  Leibe  die  Spuren  der  barbarischen 
Behandlung,  welche  er  durch  katholische  Geistliche  erfahren  hatte,, 
zeigte.  Eine  Anzahl  seiner  Glaubensgenossen  hatte  man  vor 
ihm  eingefangen  und  aufgehängt  oder  hingerichtet. 

Der  mitgefangene  Jude  hatte  grössere  Freiheit  und  brachte 
die  Kunde  von  den  beiden  Missionaren  unter  die  Seinen.  Viele 
Juden  besuchten  sie  daraufhin  im  Gefängniss,  wo  denn  das  traurige 
Geschick  der  beiden  Glaubensboten  sie  zur  Theilnahme  stimmte 
und  sie  für  das  Wort  derselben  empfänglich  machte.  Aus  den 
Ketten  und  dem  Blocke  heraus  aber  predigten  ihnen  die  Missio- 
nare mit  allem  Eifer  das  Evangelium.  „Mit  Freudenthränen", 
schreibt  Manitius,  „habe  ich  bisweilen  Gott  Dank  gesagt,  dass 
wir  in  unseren  Banden  die  hohe  Gnade  Gottes  in  Christo  Jesu 
den  Juden  beweglich  ans  Herz  legen  konnten." 

Ein  zweiter  Jesuit  mit  Namen  Regius  besuchte  sie  jetzt 
und  hatte  den  Muth,  zu  den  armen,  gequälten,  in  den  Stock 
eingespannten  Missionaren  von  der  vielen  Last,  die  ihm  seine 
Amtsarbeit  verursache,  zu  sprechen,  und  dass  sich  die  Katholiken 
ihren  Glauben  so  viel  mehr  kosten  Hessen  als  die  Evangelischen. 
Die  Missionare  aber,  ohne  ein  Wort  von  sich  selbst  zu  sprechen, 
predigten  ihm  mit  allem  Ernst  die  Notwendigkeit,  rechtschaffene 
Busse  zu  thun,  und  forderten  ihn  auf,  an  das  Heil  der  Juden 
zu  denken;  Aehnliches  thaten  sie  dem  Kaplan  des  Bischofs  von 
Königgrätz  gegenüber,  der  ihnen  jetzt  zugesandt  wurde. 

Endlich  am  16.  April,  an  jenem  55.  Tage,  den  Widmann 
im  Traume  hatte  nennen  hören,  bequemte  man  sich  zum  Verhör 
der  Beiden,  nachdem  alle  Versuche,  sie  katholisch  zu  machen, 
misslungen  waren.  Einzeln  wurden  die  Missionare  vorgefordert 
und  mussten  mit  den  schweren  Ketten  an  den  Füssen  vor  dem 
Richter  erscheinen.  Der  Richter  wollte  nicht  glauben,  dass  die 
Beiden  wirklich  nur  den  Juden  zu  predigen  beabsichtigt  hätten; 
im  Uebrigen  aber  erklärte  er,  dass  die  Juden  wohl  als  Juden  in 
den  Kaiserlichen  Staaten  geduldet   würden,   dass    es   ihnen   aber 


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nicht  erlaubt  wäre,  evangelisch  zu  werden,  weil  dann  auch  viele 
aus  der  römischen  Kirche  verführt  werden  könnten.  Die  möglichste 
Mühe  gab  man  sich,  sie  zu  dem  Bekenntnisse  zu  bringen,  dass 
sie  die  Hussiten  hätten  aufsuchen  und  unter  ihnen  evangelische 
Bücher  vertheilen  wollen.  Der  Richter  erklärte,  dass  man  ihnen 
das  Geständniss  durch  die  Folter  abpressen  werde.  Manitius 
aber  legte  hiergegen  Berufung  auf  den  Kaiser  ein. 

Nach  dem  ersten  Verhöre  rief  übrigens  einer  der  assistirenden 
Richter  dem  Manitius  zu:  „Seid  getrost!"  Am  Schluss  des 
zweiten  Verhörs  bat  Manitius  um  die  Erlaubniss,  mit  dem  Pro- 
tokoll eine  Bittschrift  an  den  Kaiser  und  die  Appellationskammer 
einsenden  zu  dürfen.  Der  Vorsitzende  frag  ihn  hierauf,  ob  er 
noch  an  eine  göttliche  Vorsehung  glaube.  Manitius  antwortete 
getrost:  „Ja,  die  glaube  ich  von  Herzen.  Ich  weiss  wohl,  dass 
Gott  schon  Zeit  und  Stunde  abgemessen  hat,  wie  lange  wir  hier 
sitzen  sollen,  und  werden  Sie  uns  gewiss  nicht  eine  Stunde 
länger  halten  können,  als  Gott  es  haben  will.  Das  weiss  ich. 
Allein  ich  weiss  auch,  dass  Gott  mir  Mund  und  Verstand  nicht 
umsonst  gegeben  hat,  sondern  wenn  ich  in  solcher  Gefahr  bin, 
muss  ich  meine  Unschuld  retten,  den  Mund  aufthun  und  eine 
hohe  Obrigkeit  um  Erlaubniss  bitten,  dass  ich  meine  Vertheidi- 
gung  aufsetzen  darf."  Widmann,  der  nach  Manitius  das  Verhör 
zu  bestehen  hatte,  und  seinen  Richtern  sehr  ernst  ins  Gewissen 
redete,  blieb  nun  wenigstens  auch  den  Tag  über  ausser  dem 
Stock,  aber  von  seinem  Gefährten  getrennt.  Ihre  Bitte,  ganz 
vom  Stocke  erledigt  zu    werden,    wurde    rundweg  abgeschlagen. 

Manitius  litt  jetzt  an  einem  starken  Husten  in  Folge  der 
langen,  entsetzlichen  Verrenkung,  welche  er  im  Stock  hatte 
erdulden  müssen.  Der  Stockmeister  erlaubte  daher  aus  Mitleid 
den  Beiden  des  Tages  über  auf  seiner  Stube  zusammenzukommen, 
doch  blieben  sie  auch  hier  wenigstens  angeschlossen.  Fortwährend 
wurden  sie  überdem  mit  Schriften,  welche  den  Protestantismus 
bekämpften,  gequält.  Ein  Versuch  anderer  Art,  Manitius  zum 
Katholicismus  herüberzuziehen,  misslang  gleichfalls.  Die  Frau 
des  Bürgermeisters  besuchte  denselben  mit  ihrer  erwachsenen 
Tochter.  Letztere  bat  ihn,  katholisch  zu  werden,  und  deutete 
ihm  an,  dass  sie  ihm  dann  die  Hand  reichen  würde.  Manitius 
aber  antwortete  ihr:  „Im  Gefängniss  ist  Zeit  zu  beten  und  nicht 
Zeit  an's  Heirathen  zu  denken".  Widmann  hatte  in  dieser  Zeit 
einmal    Gelegenheit    zu    entfliehen,    aber    er    widerstand    dieser 


—     3Q0     — 

Versuchung.  „Ich  wollte  den  Arrest  nicht  verletzen,  viel  weniger 
meinen  Gefährten  im  Stich  lassen  und  ihn  in  einen  schlimmeren 
Stand  setzen." 

Vor  Pfingsten  schlug  das  Getreide  bedeutend  auf,  so  dass 
die  Missionare  ihre  liebe  Noth  hatten,  täglich  mit  4  Kreuzern 
auch  nur  den  dringendsten  Hunger  zu  stillen.  Juden  und  Jüdinnen 
aber,  welche  von  den  Beiden  gehört  hatten,  besuchten  sie  jetzt  öfters 
im  Gefängnisse  und  reichten  ihnen  Almosen  dar.  Nach  wie  vor 
aber  blieben  die  Missionare  in  der  Ungewissheit  über  den  end- 
lichen Ausgang  ihrer  Haft.  Ihr  Glaube  wurde  jedoch  nicht 
im  Mindesten  erschüttert.  Sie  beteten  viel  mit  einander  und  bei 
ihrer  ungemeinen  Kenntniss  der  Schrift  gingen  sie,  da  ihnen 
eine  Bibel  nicht  gereicht  wurde,  Theile  derselben,  die  sie  sich 
selbst  aus  dem  Gedächtnisse  aufsagten,  betrachtend  durch. 

Zu  dieser  Zeit  drang  aber  auch  ein  Gerücht  zu  den  Ge- 
fangenen, dass  man  von  Halle  aus  ihre  Sache  in  die  Hand 
genommen  habe.  In  der  That  hatte  Callenberg  am  15.  März 
einen  Brief  aus  Schlesien  erhalten,  welcher  ihm  meldete,  dass 
Kaufleute  aus  Brunn,  wie  es  in  dem  Schreiben  hiess,  der 
Gefangennehmung  von  Widmann  und  Manitius  beigewohnt  hätten. 
Ein  evangelischer  Geistlicher  aber  meldete  in  einem  Briefe  vom 
20.  März,  dass  die  Beiden  zu  Chrudim  in  Mähren,  wie  er  irrthüm- 
iicherweise  statt  in  Böhmen  schrieb,  gefangen  gesetzt  worden 
wären.  Callenberg  schrieb  sofort  an  einen  Gönner  des  Institutum 
in  Wien.  Alsbald  geschahen  Schritte  bei  dem  preussischen, 
dem  grossbritannischen  und  hannoverschen  Gesandten  in  Wien, 
denen  sich  auch  der  dänische  anschloss,  um  die  Befreiung  der 
Gefangenen  herbeizuführen.  Die  Verwechselung  der  Orte  hatte 
aber  viele  vergebliche  Nachfragen  zur  Folge.  Erst  am  2.  Mai 
berichtete  der  Minister  aus  Berlin,  dass  die  beiden  Missionare  in 
Chrudim  und  zwar  unter  weltlicher,  nicht  unter  geistlicher  Juris- 
diktion gefangen  sässen.  Letzterer  Umstand  war  von  grosser 
Wichtigkeit,  denn  eine  Befreiung  vom  geistlichen  Gerichte  wäre 
kaum  zu  erhoffen  gewesen,  wie  alsbald  von  Wien  her  mitgetheilt 
worden  war.  Aber  erst  Ende  Juni  wurde  festgestellt,  dass 
Chrudim  in  Böhmen  der  Ort  der  Gefangenschaft  sei.  Ein  Schreiben 
des  preussischen  und  dänischen  Gesandten  an  den  Oberstburggraf 
in  Prag  vom  8.  Juli  hatte  den  gewünschten  Erfolg.  Unter  dem 
1 7.  Juli  langte  in  Chrudim  ein  Entlassungsbefehi  für  die  Gefangenen 
ein,  und  am  18.  wurden  ihnen  die  Ketten  abgenommen,   welche 


—     3°i     — 

sie  22  Wochen  getragen  hatten.  Dass  der  kränkliche  Widmann 
diese  Zeit   überstanden  hatte,    war   ein    rechtes    Wunder  Gottes. 

Am  21.  Juli  verkündigte  ihnen  der  Syndikus  den  Entlassungs- 
befehl: „Aus  den  Inquisitionsakten  habe  man  ersehen,  dass  die 
beiden  Arretirten  zwar  nichts  Ketzerisches  ins  Land  gebracht 
haben,  dass  sie  aber  mit  der  Zeit,  wenn  man  sie  duldete,  dem 
Lande  einen  Schaden  zufügen  möchten.  Desshalb  sollten  sie  aus 
dem  Lande  geschafft  und  unter  sicherem  Geleit  auf  einem  Wagen 
bis  an  die  Grenze  gebracht  werden;  was  an  Geld  nach  Abzug 
der  Unkosten  noch  übrig  bleibe,  sollten  sie  zurückerhalten." 
Das  war  katholische  Gerechtigkeit! 

Der  Kostenersparniss  halber  baten  die  Missionare,  ihnen 
nur  2  statt  4  Männer  als  Wachen  mit  auf  den  Weg  zu  geben. 
Dies  wurde  bewilligt  und  von  ihrem  ganzen  Gelde  ihnen  nur 
11  Gulden  42  Kreuzer  zurückgegeben,  alles  andere  für  die  auf- 
gelaufenen Kosten  verrechnet!  Der  Bürgermeister  und  Stadtrichter 
schämten  sich  dieses  Urtheils  und  bewirtheten  beide  Missionare 
in  ihren  Wohnungen.  Am  22.  Juli  verliessen  sie  nach  einem 
köstlichen  Abschied,  den  sie  von  allen  Mitgefangenen  genommen 
hatten,  die  Stadt.  Und  nun  schreibt  Widmann:  „Darauf  gingen 
wir  in  einem  Sturme  aus  diesem  Ort  der  Gefangenschaft  in  unsere 
Freiheit.  Eine  Jüdin  folgte  uns  nach,  um  zu  sehen,  wie  wir  aus 
dieser  Stadt  kämen.  Also  ist  der  römischen  Kirche  offenbar 
geworden,  man  versuche  evangelischerseits  mit  allem  Ernst  die 
Ungläubigen  zu  überzeugen;  aber  es  steht  auch  zu  fürchten, 
dass  unsere  Hinwegschaffung  ein  schweres  Gericht  nach  sich 
ziehen  werde.     Je  grösser  die  Xoth,  je  näher  Gott." 

Am  6.  August  langten  die  Missionare  bei  Callenberg  an. 
Die  Vergeltung,  welche  Widmann  vorausgesehen  hatte,  kam 
über  jene  Stätten  wenige  Jahre  später  in  dem  Kriege  Friedrichs 
des  Grossen,  aber  auf  eine  merkwürdige  Weise.  Als  die  Preussen 
1741  in  Böhmen  einrückten,  fanden  sie  die  Widmann  und  Manitius 
abgenommenen  Bücher  noch  unter  obrigkeitlicher  Verwahrung 
vor.  Da  wurden  die  Soldaten  in  ihrer  Weise  Missionare,  denn 
sie  streuten,  wie  St.  Schultz  berichtet  („Leitungen  des  Höchsten", 
2,  200)  die  Büchlein  überall  unter  den  Juden  in  Böhmen,  Mähren 
und  Oberschlesien  aus.  Schultz  aber  durfte  in  Teschen  einen 
Proselyten  kennen  lernen,  der  nach  seiner  eigenen  Angabe  durch 
eins  dieser  Büchlein,  das  Evangelium  Lucas  in  jüdisch-deutscher 
Sprache,  zum  christlichen  Glauben  gekommen  war. 


-       302     -- 

Widmann  aber  und  Manitius  hatte  ihre  Gefangenschaft  vom 
Missionsberufe  in  keiner  Weise  abgeschreckt,  sondern  sie  nahmen 
sogleich  nach  ihrer  Rückkunft  ihr  Amt  in  der  bisherigen  Art 
wieder  auf,  und  man  hörte  sie  seitdem  nie  von  dem  besonders 
reden,  was  sie  in  ihrem  Zeugenberufe  erlitten  hatten.  Manitius 
fand  überhaupt  nie  etwas  Ausserordentliches  in  den  vielen  Nöthen 
und  Beschwerden,  welche  ihr  Amt  mit  sich  brachte,  sondern 
blieb  stets  mit  wahrer  Herzenslust  ein  Missionar.  An  dem  Tage, 
wo  er  das  zehnte  Jahr  in  seinem  Missionsberuf  vollendet  hatte, 
dem  16.  November  17-40,  schreibt  er:  „Gelobt  sei  Gott,  der 
mich  die  10  Jahre  meiner  Reisen  hat  zurücklegen  und  mich  in 
diesen  Jahren  meiner  Wallfahrt  so  manches  Gute  hat  erleben 
lassen.  O,  sein  herrlicher  Name  muss  dafür  in  alle  Ewigkeit 
von  mir  und  allen  Gläubigen  gepriesen  werden!" 

Von  eigenen  Leistungen  wollte  dabei  Manitius  nichts 
wissen  und  stellte  seine  Reisegefährten  stets  über  sich  selbst. 
Durch  lautere,  einfältige  Frömmigkeit  überragte  er  alle  anderen 
Missionare  des  Institutum,  besonders  führte  er  ein  tief  innerliches 
Gebetsleben.  Sehr  lebendig  war  sein  evangelisches  Bewusstsein, 
wie  dies  die  Zeit  der  Gefangenschaft  deutlich  bewies;  und  als 
später  ein  römischer  Bischof  die  Juden  seines  Sprengeis  zur 
Lesung  der  Halle'schen  Missionsschriften  zwingen  wollte,  missbilligte 
dieser  evangelische  Glaubensbote  das  durchaus. 

Manitius  gönnte  sich  keine  Ruhe  in  seinem  Berufe,  er  ging 
in  demselben  völlig  auf.  Oft  wenn  er  nach  anstrengendem 
Marsche  ganz  ermüdet  in  einem  Wirthshause  einkehrte,  vergass 
er,  sobald  ihm  in  demselben  Juden  zu  Gesicht  kamen,  alle 
Rücksicht  für  sich  selbst  und  stand  sofort  als  Prediger  des 
Evangeliums  unter  ihnen.  Einmal  wollte  ihn  eine  Jüdin  sprechen, 
als  er  sich  eben  hungrig  und  ermattet  zu  Tisch  gesetzt  hatte. 
„Ich  bat  sie  freundlich,  sie  möchte  nach  einer  Stunde  wieder- 
kommen; sie  versprach  es  zwar,  blieb  aber  doch  aus.  Ich  werde 
das  künftig  nicht  wieder  thun,  sondern  unserem  Heiland  folgen, 
welcher  sagte:  Das  ist  meine  Speise,  dass  ich  thue  den  Willen 
meines  Vaters,  und  welcher  sich  bei  dem  Zulauf  des  Volkes 
öfters  des  Essens  enthielt." 

Wiederholte  Anträge,  ein  Pfarramt  anzunehmen,  schlug  er 
ab,  so  lange  es  ihm  seine  Kräfte  gestatteten,  im  Missionsberufe 
zu  bleiben;  und  er  verwies  z.  B.  den  Bürgermeister  einer  Stadt, 
welcher  ihm  im  Namen  derselben  eine  Stelle  an  ihrem  Orte  an- 


—     303     — 

geboten  hatte,  in  einem  längeren  Schreiben  auf  Lucas  ia,  4: 
Welcher  Mensch  ist  unter  euch,  der  100  Schafe  hat  und  so  er 
eins  derselben  verliert,  der  nicht  lasse  die  99  in  der  Wüste  und 
hingehe  nach  dem  verlorenen,  bis  dass  er  es  finde? 

Bei  sehr  grosser  Schriftkenntniss  besass  Manitius  doch 
nicht  gerade  eine  hervorragende  Gabe  des  Wortes;  er  stand  in 
dieser  Beziehung  sowohl  hinter  seinem  früheren  Gefährten  Wid- 
mann als  hinter  dem  späteren  St.  Schultz  zurück.  Aber  wie 
er  selbst  im  innersten  Herzensgrund  von  der  Wahrheit  des 
Evangeliums  ergriffen  war,  so  verstand  er  es  auch,  dieselbe 
gerade  den  Herzen  der  Juden  nahe  zu  bringen  und  sie  in  die 
Schrift  einzuführen.  Und  hatte  er  trotz  seiner  gewinnenden  Art 
wiederholt  recht  Arges  von  Juden  zu  leiden,  ja  auch  selbst  Miss- 
handlungen durch  dieselben  zu  ertragen,  so  hörten  ihn  diese  der 
Regel  nach  doch  willig  and  gern  an. 

Ebenso  wie  seinen  Gefährten  Widmann  und  St.  Schultz 
wurde  es  ihm  denn  auch  wiederholt  gegeben,  dass  Juden,  mit 
denen  er  in  Verkehr  getreten  war,  das  Christenthum  annahmen; 
unter  Anderem  geschah  dies  mit  einem  jüdischen  Arzte  in  Anspach, 
der  mit  5  Kindern  Christ  wurde,  mit  einem  Rabbi  aus  Hessen  und 
einem  Rabbi  Aron,  der  sich  hernach  als  Christ  besonders  bewährt 
hat.  In  Polen  wurde  eine  grosse  Anzahl  von  Juden  durch  Wid- 
mann und  Manitius  für  das  Christenthum  gewonnen,  in  der  Stadt 
Posen  traten  einmal  in  Folge  der  von  Manitius  und  seinem  Ge- 
fährten entfalteten  Wirksamkeit  18  jüdische  Haushaltungen  über 
und  unter  ihnen  recht  wohlhabende.  Noch  20  Jahre  nach  seinem 
Abgange  vom  Institutum  wurde  Manitius  von  Juden  „ein  gefährlicher 
Mensch"  genannt ,  der  manchen  Juden  zum  Abfall  gebracht  habe. 

In  besonderem  Maasse  war  es  ihm  gegeben,  Christen  für 
das  Missionswerk  zu  erwärmen;  auf  Studirende  verschiedener  Uni- 
versitäten zumal  übte  er  in  dieser  Beziehung  einen  bemerkens- 
werthen  Einfiuss  aus. 

Als  sein  körperlicher  Zustand  ihm  dann  aber  das  fernere 
Wandern  zu  Fuss  unmöglich  machte,  war  es  ihm  der  grösste 
Schmerz,  sein  liebes  Missionsamt  aufgeben  zu  müssen.  Er  hatte 
von  Hause  aus  eine  krankhafte  Anlage  zum  Fettwerden,  welche 
auch  nicht  einmal  durch  die  geringe  und  entbehrungsvolle  Lebens- 
weise im  Missionsamte  überwunden  wurde  und  ihm  grosse  Ath- 
mungsbeschwerden  verursachte,  so  dass  er  hierdurch  schliesslich 
gezwungen   wurde,    den  Missionsberuf  aufzugeben.     Doch    ergab 


—     304     — 

er  sich  erst,  als  er  eben  die  Sache  einfach  nicht  mehr  weiter- 
führen konnte ,  und  nachdem  er  1 4  Jahre  hindurch  mit  unaus- 
sprechlicher Treue  und  Eifer  sein  Werk  gethan  hatte. 

Am  20.  Februar  1744  verabschiedete  er  sich  zum  grössten 
Schmerze  für  Callenberg  und  seinen  damaligen  Gefährten  St. 
Schultz  vom  Institutum  und  nahm  zuerst  die  Schlossprediger- 
stelle in  Nienburg  (Anhalt)  an;  später  wurde  er  Pastor  an  der 
lutherischen  Kirche  Agnus  Dei  in  Cöthen,  wo  er  am  16.  April 
1758  in  einem  Alter  von  51   Jahren  starb. 

Die  Zeit  seiner  Amtswirksamkeit  in  Cöthen  war  auch  die 
der  Blüthe  jener  Gemeinde.  Nie  vor-  und  nachher  war  das 
geistliche  Leben  in  derselben  so  kräftig  als  damals,  wo  Manitius 
an  derselben  wirkte.  Mit  derselben  Unermüdlichkeit,  die  ihn 
vorher  in  seiner  Arbeit  unter  den  Juden  ausgezeichnet  hatte, 
wirkte  er  jetzt  trotz  der  Hindernisse,  die  ihm  sein  körperlicher 
Zustand  und  der  katholische  Fürst  von  Anhalt-Cöthen  bereiteten, 
an  der  christlichen  Gemeinde,  die  seiner  Pflege  anvertraut  war. 

Aber  die  Juden  vergass  er  auch  in  der  neuen  Thätigkeit 
nicht.  Er  blieb  in  stets  regem  Verkehr  mit  dem  Institutum, 
unterrichtete  auch  jüdische  Katechumenen  und  schrieb  noch  vier 
Jahre  vor  seinem  Tode  an  St.  Schultz:  „Die  Arbeit  unter  den 
Juden,  wie  sie  bisher  auf  Reisen  getrieben  worden  ist,  ist  und 
bleibt  mir  alle  Zeit  eine  der  wichtigsten  in  dem  herrlichen  Gnaden- 
reich Jesu  Christi",  und  sorgfältig  führte  er  sein  Proselytenregister 
weiter,  von  dem  nur  leider  nicht  zu  ermitteln  war,  wo  es  geblieben 
sein  mag.  Von  seinen  Kindern  aus  der  Ehe  mit  J.  C.  Ludovici, 
Tochter  des  hessischen  Geheimraths,  Vizekanzlers  und  Professors 
Doctor  juris  J.  F.  Ludovici  in  Giessen  überlebte  ihn  ein  Sohn 
Josua  Gotthelf,  geboren  25.  August  1747  und  eine  Tochter 
Johanna  Christiane. 

Tiefer  als  Johann  Andreas  Manitius  hat  wohl  nie  ein  Juden- 
missionar die  Noth  der  Juden  gefühlt  und  evangelischer  ihnen 
keiner  das  Heil  bezeugt  als  dieser  Mann.  Alle  Arbeiter  der 
Judenmission  sollten  nach  dieser  Richtung  hin  ganz  besonders 
für  ihr  Werk  und  ihre  Arbeit  von  ihm  zu  lernen  suchen. 

h.  Stephan  Schultz. 

Die  Leitungen  des  Höchsten  u.  s.  w.  von  Magister  Stepiian 
Schultz  5  Theile,  Halle  1771  — 1775,  eine  Selbstbiographie  des 
Mannes.     Auszüge  aus  diesem  Werke  haben  häufig  deutsche  und 


—     305     — 

englische  Missionsblätter  gebracht.  Stephan  Schultz,  Fernere 
Nachricht  von  der  zum  Heile  der  Juden  errichteten  Anstalt, 
Stück  i — 15,  1762 — 1776.  Von  demselben  Verfasser:  Kurze 
Nachricht  von  einer  zum  Heile  der  Juden  u.  s.  w.  errichteten 
Anstalt,  2.  Auflage,  Halle  1769.  Stephan  Schultz,  ein  Beitrag 
zum  Verständniss  der  Juden  und  ihrer  Bedeutung  für  das  Leben 
der  Völker,  von  J.  F.  A.  de  le  Roi,  Gotha,  2.  Auflage  1878. 
Stephan  Schultz,  Basel,  Verlag  der  Freunde  Israels. 


Die  Berichte,  welche  Professor  Callenberg  über  die  Reisen 
seiner  beiden  Missionare  Widmann  und  Manitius  herausgegeben 
hatte,  erweckten  in  dem  schwedischen  Staatsminister  Baron  von 
Degenfeld  den  Wunsch,  dass  dem  Werke  des  Institutum  eine 
weitere  Ausdehnung  gegeben  werden  möchte.  Er  schrieb  dess- 
halb  1735  an  Callenberg,  ob  sich  nicht  noch  andere  Candidaten 
finden  Hessen,  welche  in  die  Arbeit  einträten,  und  frug  zugleich 
an,  was  es  kosten  würde,  einen  Candidaten  für  das  Missionsamt 
vorzubereiten.  Callenberg  antwortete,  dass  es  an  geeigneten 
Persönlichkeiten  nicht  fehlen  würde,  und  theilte  zugleich  mit,  wie  viel 
zur  Erhaltung  eines  dritten  Mitarbeiters  nöthig  sei.  Baron  Degen- 
feld erklärte  hierauf,  dass  er  zum  Unterhalt  eines  solchen  jährlich 
50  Thaler  beisteuern  wolle,  und  hat  dieses  Versprechen  auch,  so 
lange  er  lebte ,  gehalten.  Aber  nicht  bloss  bei  seinen  Leb- 
zeiten überwies  er  die  betreffende  Summe  stets  dem  Institutum, 
sondern  setzte  auch  durch  testamentarische  Verfügung  fest,  dass 
nach  seinem  Tode,  der  im  Jahre  1750  erfolgte,  von  seinen  Erben 
jährlich  die  Zinsen  von  1500  Gulden  bis  zur  Aufhebung  der 
Anstalt  an  dieselbe  gezahlt  werden  sollten. 

Callenberg  hat  somit  auch  den  ersten  Schritt  zur  Vermehrung 
der  Missionare  nicht  von  sich  selbst  aus  gethan;  aber  da  die 
Anregung  hierzu  von  aussen  an  ihn  trat,  hat  er  die  Sache  gern 
aufgenommen  und  von  nun  an  auch  selbständig  den  Plan  gefasst, 
die  Zahl  der  Mitarbeiter,  so  viel  es  irgend  angehen  würde,  zu 
vermehren.  Aber  auch  jetzt  hielt  er  an  dem  Gedanken  fest,  dass 
jeder  dieser  Missionare  nur  für  einige  Zeit  im  Dienste  des  Insti- 
tutum bleiben  und  dann  in  eine  andere  Lebensstellung  eintreten 
sollte.  Denn  von  einer  solchen  Praxis  erhoffte  er  noch  immer  den 
doppelten  Vortheil,  dass  einmal  die  fortwährend  neu  eintretenden 
Kräfte  dem  Werke  auch  stets  eine  neue  Frische  verleihen,  und  dass 
anderseits  die  früheren  Missionare  hernach  als  Prediger  oder  als 

J.  F.  A.  de    le   Roi,    Missionsbeziehungen.  20 


_     30<5     -- 

Lehrer  an  Universitäten  und  Gymnasien  den  Trieb  fühlen  würden, 
in  ihren  neuen  Aemtern  selbst  die  Arbeit  an  den  Juden  fort- 
zusetzen, die  Gemeinden  für  die  Juden  zu  erwärmen  und  besonders 
die  jugendlichen  Herzen  für  das  Werk  unter  denselben  zu  gewinnen. 

Zunächst  nun  trug  Callenberg  den  Studirenden,  welche  seine 
Vorlesungen  und  zumal  die  des  Institutum  besuchten,  seinen 
Wunsch  vor,  einen  neuen  Mitarbeiter  aus  ihrer  Mitte  für  die 
Missionsreisen  zu  erlangen;  augenblicklich  aber  war  hierzu  keiner 
bereit,  wenngleich  einer  aus  dieser  Zahl  hernach,  den  durch 
Callenberg  empfangenen  Missionsanregungen  folgend,  zu  den 
Heiden  ging.  Callenberg  beauftragte  daher  Widmann  und 
Manitius,  auf  anderen  Universitäten  sich  nach  einem  geeigneten 
Genossen  umzusehen.  1736  kamen  diese  nach  Königsberg  in 
Ost-Preussen  und  erkundigten  sich  dort,  ob  einer  der  Studirenden 
dieser  Universität  bereit  sei ,  in  das  Missionswerk  einzutreten. 
Professor  Salthenius,  dem  sie  besonders  ihren  Wunsch  vor- 
trugen, dachte  an  einen  Theologie-Studirenden,  Stephan  Schultz, 
welcher  mit  Vorliebe  rabbinische  Studien  trieb.  Durch  seine  Dürftig- 
keit hiezu  gezwungen,  hatte  derselbe  neben  den  Stunden,  die  er 
auf  den  Besuch  der  Collegien  und  auf  die  eigentlichen  theologi- 
schen Fächer  verwendete,  Unterricht  am  Collegium  Friedericianum 
geben  müssen  und  daher  nur  während  der  Nacht  Zeit  zum  Studium 
der  rabbinischen  Werke,  deren  ausserordentlich  feiner  Druck  die 
Augen  sehr  angriff,  gefunden.  Zwei  Jahre  lang  hatte  er  in  jeder 
Nacht  nur  drei  Stunden  geschlafen,  aber  dies  freilich  allein  da- 
durch zuwege  gebracht,  dass  er  die  künstlichsten  Mittel  anwandte, 
um  sich  wach  zu  erhalten. 

Seinen  Zweck  hatte  Stephan  Schultz  damit  erreicht,  aber 
die  Folgen  Hessen  nicht  auf  sich  warten,  und  er  selbst  schreibt: 
„Ich  würde  wohl  dieses  Verfahren  vielleicht  in  Kurzem  mit  dem 
Grabe  beschlossen  haben,  wenn  nicht  Gott  in  seiner  Güte  die 
Missionsreise  veranstaltet  hätte." 

An  St.  Schultz  also  dachte  Salthenius,  als  er  nach  einem 
für  das  Missionswerk  tauglichen  Studirenden  gefragt  wurde,  aber 
der  Gesundheitszustand  desselben  erregte  ihm  Bedenken;  doch 
wandte  er  sich  an  denselben  und  nach  einem  kurzen,  überaus 
charakteristischen  Gespräch  erhielt  er  das  Ja  desselben.  Sofort 
rüstete  sich  Schultz  auch  zum  Aufbruch;  die  Freunde  nahmen 
von  ihm  Abschied,  aber,  wie  sie  glaubten,  auf  Nimmerwieder- 
sehen; denn  allem  Anscheine  nach  musste  Schultz  auf  den  ersten 


—     307     — 

Meilen  seiner  Wanderschaft  zusammenbrechen.  Doch  er  ging, 
und  das  Callenberg'sche  Institutum  hatte  seinen  bedeutendsten 
Mitarbeiter  und  einen  Missionar  gefunden,  mit  dem  sich  bis  in 
unsere  Gegenwart  hinein  keiner  zu  messen  vermag. 

Stephan  Schultz,  geboren  6.  Februar  171 4,  war  ein  Sohn 
des  Obermeisters  der  Schuhmacherinnung  in  Flatow,  einer  damals 
zum  Königreich  Polen  gehörigen  Stadt  der  heutigen  Provinz 
West-Preussen.  Zur  Zeit  seiner  Geburt  waren  die  Eltern  wohl- 
habende Leute.  Durch  ein  Gelübde  hatte  die  Mutter  den  Sohn 
für  den  geistlichen  Stand  bestimmt  und  ihm  den  Namen  Stephan 
gegeben,  „damit  er  das  thue,  was  einst  Stephanus  gethan,  und 
wenn  er  auch  die  Leiden  Stephani  übernehmen  sollte".  Ein 
evangelischer  Geistlicher  zu  werden  bedeutete  aber  freilich  in 
dem  damaligen  polnischen  Reiche  von  vorn  herein  so  viel,  als 
ein  Märtyrerleben  erwählen. 

Im  Dulden  und  Entsagen  hat  sich  St.  Schultz  von  früh 
an  üben  müssen.  Das  3  Monate  alte  Kind  Hess  ein  Brauknecht 
in  die  Braukufe  fallen,  und  1  Va  Jahr  lang  hing  in  Folge  dessen 
sein  Leben  an  einem  Faden.  In  seinem  ersten  Lebensjahre 
brannten  die  Eltern  ab;  2  Jahre  darauf  zerstörte  ein  anderer 
Brand,  als  der  Vater  auf  Reisen  abwesend  war,  das  neu  auf- 
gebaute Haus;  und  was  ihm  noch  geblieben  war,  verzehrte  dann 
der  schwedische  Krieg.  Der  3  Jahre  alte  Knabe  fiel  von  einer 
Treppe  herunter  und  längere  Zeit  hindurch  schwebte  er  jetzt 
zwischen  Leben  und  Tod.  Als  er  wieder  hergestellt  war,  meinten 
alle,  dass  er  sein  Leben  lang  werde  an  Krücken  gehen  müssen, 
aber  nach  einem  Vierteljahre  war  er  wieder  hergestellt  und  hat 
hernach  tausende  von  Meilen  zu  Fuss  zurückgelegt.  Diese  Heim- 
suchungen in  seinen  frühesten  Jahren  lehrten  ihn  aber  auch  bald 
auf  Gottes  Wort  merken,  und  der  Knabe  bereits  führte  recht 
eigentlich  ein  Leben  mit  Gott. 

Krieg  und  Brand  vertrieben  dann  die  Eltern  aus  Flatow 
und  führten  sie  zuerst  nach  Wirzisk,  später  aber  nach  Stolpe  in 
Pommern.  Der  fünfjährige  Knabe  besuchte  in  Wirzisk  während 
seiner  Freistunden  am  liebsten  die  Schule  des  Rabbi.  Der  Muttter 
wurde  dies  bedenklich,  und  sie  frug  ihren  Sohn,  er  wolle  doch 
nicht  etwa  ein  Jude  werden.  Der  Kleine  aber  antwortete:  „O  nein, 
ich  werde  kein  Jude  werden,  sondern  studiren,  den  Talmud 
lernen  und  die  Juden  bekehren"  und  fuhr  fleissig  fort  mit  Juden- 
kindern Umgang  zu  pflegen.     So  wurde  ihm  von  früh  auf  neben 


--     303     - 

dem  Deutschen  und  Polnischen  das  Jüdisch -deutsche  eine  Art 
Muttersprache.  Als  er  nach  zurückgelegtem  1 1.  Jahre  konfirmirt 
wurde  und  das  Abendmahl  empfing,  wurde  ihm  der  Gedanke, 
ein  Tischgenosse  Jesu  gewesen  zu  sein,  so  wichtig,  dass  er  an 
Kinderspielen  fortan  kein  Vergnügen  mehr  fand. 

Bis  zum  14.  Jahre  half  er  dann  seinem  Vater  im  Schuh- 
macherhandwerk, fühlte  aber  dabei  den  Trieb  zum  Studiren  in 
sich  mächtig  erwachen.  Die  Mutter,  welcher  er  das  Herz  erschloss, 
wandte  sich  desshalb  an  einen  Pastor  Pfeifer,  welcher  bereit 
war,  dem  jungen  Menschen  den  Vorbereitungsunterricht  für  eine 
höhere  Schule  zu  ertheilen.  Im  Augenblicke  der  Abreise  zu  jenem 
Geistlichen  wurde  aber  Stephan  Schultz  krank  und  als  er  nach 
mehreren  Monaten  gesund  geworden  war  und  sich  nun  zu  jenem 
Geistlichen  begab,  fand  er  denselben  sterbenskrank.  Der 
Prediger  übergab  ihn  daher  seinem  Bruder,  einem  Arzt  und 
Apotheker  im  pommerschen  Bütow.  Dort  lernte  nun  Schultz 
manches  aus  der  Botanik  und  Apothekerkunst,  aber  die  Schule 
wurde  völlig  vernachlässigt.  Desshalb  ging  der  junge  Mensch 
gern  auf  den  Vorschlag  des  städtischen  Rektors  ein,  der  ihm 
anbot,  Famulus  bei  ihm  zu  werden.  Der  Rektor  war  jedoch  zu- 
gleich Brauer,  Branntweinbrenner  und  Kaufmann,  und  so  hat  nun 
Stephan  Schultz  bei  ihm,  der  ihn  in  seinen  Gewerben  gebrauchte, 
die  Schule  recht  selten  besuchen  können.  „Ich  wurde  bei  dem 
Rektor  ein  Malzmacher,  Branntweinbrenner,  Pfeffer-  und  Herings- 
krämer." Neben  dem  Darrofen  legte  sich  jedoch  der  Jüngling 
platt  auf  die  Erde  und  studirte  so  die  lateinische  Grammatik 
und  andere  Bücher  oder  betete. 

Bis  in  sein  17.  Jahr  brachte  St.  Schultz  in  dieser  Weise 
seine  Zeit  zu.  Dann  hielt  er  dem  Rektor  sein  Versprechen  .vor 
und  derselbe  erbot  sich  nun,  ihn  „einen  Kammmacher"  werden  zu 
lassen.  „So  wird  Gott  helfen",  antwortete  kurz  und  entschieden 
der  Jüngling  und  ging  in  seine  Schlafkammer.  Hier  überlegte 
er,  was  er  jetzt  thun  solle.  Er  hatte  einmal  von  einer  Armen- 
schule in  Stolpe  gehört,  dorthin  wollte  er  gern  kommen.  Der 
Pastor  in  Bütow ,  an  den  er  sich  desshalb  wandte ,  versprach 
ihm,  an  den  Rektor  jener  Schule  seinetwegen  zu  schreiben.  In- 
dess  aber  kam  ein  Stolpe'scher  Kaufmann  durch  Bütow.  Er  bat 
denselben,  ihn  und  seine  wenige  Habe  mitzunehmen.  Der  Fuhr- 
mann wollte  es  für  8  Groschen  thun,  Schultz  aber  hatte  nur 
9  Dreier,  die  bot  er  dem  Fuhrmann  an,  und  derselbe  liess  sich 


—     309     — 

an  den  wenigen  Pfennigen  genügen.  Darauf  meldete  er  dem 
Pastor  sein  Abkommen.  Derselbe  war  bestürzt,  dass  Schultz  die 
Antwort  aus  Stolpe  nicht  abgewartet  hatte,  gab  ihm  aber  seinen 
Segen  auf  den  Weg  und  schenkte  seinem  Schützlinge  auch  einen 
Mantel.     So  ging  es  auf  die  Reise. 

Von  diesem  Augenblicke  an  ebneten  sich  alle  Wege  für 
den  Jüngling.  Unterwegs  theilte  der  Fuhrmann  mit  dem  Darbenden 
sein  Brot  und  seinen  Käse.  Der  Besitzer  des  Wagens  aber, 
der  Stolpe'sche  Kaufmann  fand  an  dem  jungen  Menschen  ein 
Wohlgefallen  und  erlaubte  ihm,  statt  neben  dem  Wagen  einher- 
zugehen, in  demselben  Platz  zu  nehmen,  gab  ihm  dann,  in 
Stolpe  angelangt,  wöchentlich  einen  Tisch  in  seinem  Hause  und 
sandte  ihn,  mit  einem  Billet  von  sich  versehen,  zu  dem  Rektor. 
Dieser  war  erschrocken,  als  der  Jüngling  plötzlich  vor  ihm  stand, 
machte  ihm  allerlei  Vorwürfe,  rechnete  ihm  vor,  was  der  Unter- 
halt auf  der  Schule  koste  und  frug  ihn,  was  er  denn  thun  wolle, 
um  die  Geldmittel  zu  beschaffen,  die  nöthig  seien,  damit  er  sein 
Ziel  erreiche.  Da  streckte  Schultz  seine  Hände  zum  Himmel 
und  sprach:  „Der  Gott,  welcher  Himmel  und  Erde  gemacht 
hat,  wird  auch  noch  ein  paar  Pfennige  für  mich  übrig  haben, 
mich  studiren  zu  lassen"  —  und  der  Rektor  war  entwaffnet. 
Er  prüfte  ihn  und  wies  ihn  in  die  dritte  Klasse,  griff  nun  aber 
auch  zu,  damit  sein  Bleiben  am  Ort  ermöglicht  würde;  und  im 
Laufe  einer  Woche  war  für  den  Mittagstisch  des  neuen  Gymna- 
siasten, für  seine  Wohnung,  Kleidung  und  Bücher  vollständig- 
gesorgt. Privatunterricht,  den  man  ihm  anvertraute,  brachte 
ihm  einiges  Geld  und  so  lebte  er  schliesslich  auf  dem  Gymnasium 
in  ganz  behaglichen  Verhältnissen. 

Diese  Gnadenführungen  Gottes  machten  auf  Schultz  einen 
tiefen  Eindruck  und  er  war  ernstlich  bestrebt,  nicht  bloss  in 
weltlichem  Wissen,  sondern  auch  in  der  Frömmigkeit  zu  wachsen. 
Den  Spott ,  welchen  er  dafür  von  seinen  Mitschülern  zu  ertragen 
hatte,  achtete  er  nicht,  viel  schwerer  waren  ihm  geistliche  An- 
fechtungen, welche  er  in  einer  für  sein  Alter  völlig  ungewöhn- 
lichen Weise  erfuhr.  1732  befiel  ihn  ein  hitziges  Fieber,  so  dass 
er  sein  Ende  nahe  glaubte  und  das  Abendmahl  nahm,  aber  er 
durfte  noch  einmal  genesen.  Bald  darauf  besuchte  er  einmal 
seine  damals  noch  in  Wirzisk  wohnenden  Eltern,  und  der  Jüng- 
ling hielt  daselbst  auf  Vieler  Bitten  in  einer  Stube  eine  Predigt. 
Als  aber  die  Katholiken  das  erfuhren,  wollten  sie  ihn  als  Prädi- 


—     3io     — 

kanten  dem  Gefängniss  überliefern,  und  nur  schleuniger  Flucht 
hatte  er  seine  Rettung  zu  verdanken.  Dem  Jüngling,  welcher 
dies  Alles  in  Stolpe  mittheilte,  bot  man  dort  das  Bürgerrecht 
für  seine  Eltern  an  und  überwies  denselben,  als  sie  gern  dem 
Rufe  folgend  übersiedelten,  ein  Wohnhaus  an,  das  mit  dem 
Nöthigen  wohl  versehen  war. 

1733  konnte  Schultz  die  Universität  beziehen.  Er  ging 
nach  Königsberg,  wo  ihm  Professor  Salthenius  freie  Station 
gewährte,  wofür  er  von  Schultz  nur  forderte,  dass  er  zwei  hebräische 
Stunden  am  Kniphof  sehen  Gymnasium  gäbe.  Mehreren  Studenten 
hielt  er  daneben  privatim  ein  hebräisches  Colleg,  und  die  Pro- 
fessoren baten  ihn,  seine  Studien  dahin  zu  richten,  dass  er 
Docent  an  der  Universität  würde. 

In  dieser  Zeit  aber  las  er  einige  der  Callenberg'schen  Be- 
richte und  dieselben  wurden  ihm  so  wichtig,  dass  er  beschloss, 
Magister  auf  der  Universität  zu  werden  und  sich  durch  Vor- 
lesungen eine  Summe  zu  erwerben,  die  hinreichte,  um  hernach 
Missionsreisen  unter  den  Juden  zu  unternehmen.  Dass  also  der 
Vorschlag  des  Professor  Salthenius,  beim  Institutum  einzutreten, 
angenommen  wurde,  ist  sehr  erklärlich. 

22  Jahre  alt,  begab  sich  dann  St.  Schultz  am  29.  Mai  1736 
mit  Widmann  und  Manitius  zu  einer  Probereise  auf  die  Wanderung. 
Der  körperlich  elende  Mensch,  der  nun  noch  dazu  sein  schweres 
Wanderbündel  tragen  musste,  sah  aus,  als  werde  er  bei  den 
ersten  Schritten  zusammenbrechen;  aber  seine  Kraft  wuchs  mit 
jedem  Tage  und  trotzte  den  grossen  Strapazen,  welche  die 
Wanderung  in  den  jetzt  russischen  Ostseeprovinzen  mit  sich 
brachte.  Eines  Abends  geriethen  alle  drei  Wanderer  ins  Wasser. 
Ueberschwemmungen  hatten  das  ganze  Gebiet  vor  ihnen  in  einen 
See  umgewandelt.  Zurück  wollten  sie  nicht  und  so  blieb  ihnen 
nichts  übrig,  als  sich  auszukleiden,  die  Sachen  zusammenzubinden, 
sie  auf  den  Kopf  zu  nehmen  und,  im  hellen  Mondlicht  nach 
vorn  hin  schauend,  schwimmend  ihrem  Ziele  zuzusteuern.  Um 
1  Uhr  landeten  sie  auf  trockener  Erde  und  erreichten  das  Haus, 
das  sie  aus  der  Ferne  her  erblickt  hatten.  „Brot,  wie  aus  purer 
Streu  gebacken  und  in  warme  Milch  getaucht,  war  die  Haupt- 
nahrung", selten  trat  „ein  wenig  gedörrtes  Fleisch"  hinzu.  Aber 
die  Freudigkeit  an  der  Arbeit  litt  darunter  nicht.  Schultz  fand 
reiche  Gelegenheit  zu  Zeugnissen  unter  den  Juden  und  nur  das 
hatte    er    gesucht,    die  Beschwerden    achtete    er   nicht   und    war 


—     3ii     — 

nun  vielmehr  bereit,  sobald  er  zu  beständiger  Arbeit  in  diesem 
Missionswerk  berufen  würde,  sogleich  zu  folgen. 

Von  1737 — 1739  wirkte  er  dann  noch  einmal  wieder  in 
Königsberg  als  Prediger  am  Zuchthause  und  als  Lehrer  am 
Fridericianum.  Seine  Gesundheit  hatte  sich  inzwischen  gekräftigt. 
Jetzt  gelangte  aber  mehrfach  der  Ruf  an  ihn,  ein  Pfarramt  zu 
übernehmen  und  gerade,  als  er  im  November  1 739  die  Aufforderung 
aus  Halle  erhielt,  sich  von  Neuem  dem  Missionsberuf  zu  widmen, 
ergieng  an  den  erst  25jährigen  jungen  Theologen  der  Antrag, 
die  bedeutende  und  einträgliche  Superintendentur  in  Stallupönen 
zu  übernehmen.  Man  hielt  ihm  denn  auch  vor,  dass  er  die 
Pflicht  habe,  es  wohl  zu  erwägen,  ob  er  eine  so  wichtige  Stelle 
ausschlagen  dürfe,  und  so  antwortete  er,  dass  er  selbst  in  dieser 
Sache  nicht  entscheiden  wolle.  Er  erklärte  sich  bereit,  der 
theologischen  Facultät,  die  besonders  in  ihn  drang,  jenes  Amt 
zu  übernehmen,  zu  gehorchen,  wenn  dieselbe  ihm  seine  Bedenken 
nehmen  könne.  Er  wolle  die  Sache  nur  der  Facultät  so  vor- 
stellen, wie  sie  liege,  und  das  that  er  in  fünf  Punkten,  jene 
Körperschaft  aber  solle  alsdann  den  Entscheid  geben.  Er  schrieb: 
„Wenn  Gott  an  jenem  Tage  mich  fragen  möchte: 

1.  Habe  ich  nicht  von  Kindesbeinen  an  dir  einen  Trieb 
gegeben,  den  Juden  den  Weg  des  Heils  zu  zeigen?  so  würde  ich 
antworten:  Ja,  Herr! 

2.  Habe  ich  dir  nicht  auf  der  Probereise  vor  3  Jahren  ge- 
zeigt, dass  ich  dir  Tüchtigkeit  geben  könnte  zu  arbeiten?  so 
würde  ich  antworten:  Ja,  Herr! 

3.  Habe  ich  dir  nicht  zu  erkennen  gegeben,  dass  die  Ernte 
der  Juden  gross  und  der  Arbeiter  aber  wenige  seien?  so  würde 
ich  wieder  antworten:  Ja,  Herr! 

4.  Habe  ich  dir  nicht  gezeigt,  dass  du  auf  der  Probereise 
manchen  guten  Eingang  bei  den  Juden  hattest  und  dass  du  bei 
fernerer  Reise  und  grösserer  Uebung  hättest  weiteren  Eingang 
haben  können?     Ich  würde  wiederum  antworten:  Ja,  Herr! 

Und  wenn  endlich 

5.  dann  der  Herr  mich  fragen  würde:  Warum  bist  du  dem 
ergangenen  Rufe  nicht  gefolgt?  so  würde  ich  die  hochwürdige 
theologische  Facultät  antworten  lassen." 

Darauf  sagten  Alle:  „Nein,  das  wollen  wir  nicht  verantworten, 
gehe  er  in  Gottes  Namen",  segneten  mich  und  Hessen  mich 
ziehen." 


—     312     — 

Auf  seiner  Reise  nach  Halle  ging  er  über  Stolpe,  wo  er 
von  seiner  verwittweten  Mutter  noch  den  Segen  für  das  neue 
Amt  empfing,  und  über  Berlin.  Hier  besuchte  er  den  Pastor 
Woltersdorf  an  der  Georgenkirche.  Er  frug  die  Kinder  des- 
selben, ob  sie  wohl  Lust  zum  Reisen  hätten?  Der  9jährige 
Albert  Friedrich  antwortete:  „Warum  nicht,  wenn  es  Gottes 
Wille  ist?"  10  Jahre  später  trat  derselbe  in  das  Institutum  ein 
und  begleitete  Schultz  auf  dessen  Missionsreisen  nach  dem  Orient 
als  jugendlicher  Mitarbeiter. 

Anfang  1 740  verliess  dann  Schultz  Halle,  um  in  Begleitung 
von  Manitius  Missionswanderungen  zu  unternehmen. 

Da  es  der  Plan  des  Institutum  war,  dass  womöglich  überall 
die  Juden  einmal  durch  die  Sendboten  desselben  aufgesucht 
werden  sollten ,  galt  es  für  dieselben  auch  manche  fremde  Sprache 
zu  lernen.  Schultz  hatte  ein  angeborenes  Sprachentalent  und 
brachte  es  ausser  seiner  deutschen  und  polnischen  Muttersprache 
auch  zum  Sprechen  im  Lateinischen,  Alt-  und  Neugriechischen, 
Hebräischen  und  Rabbinischen,  Englischen,  Französischen,  Hollän- 
dischen, Italienischen,  Illyrischen,  Türkischen,  Arabischen,  Syrischen, 
Persischen,  Armenischen,  Koptischen  und  der  Lingua  franca  des 
Morgenlandes.  Theils  während  der  Zeit,  welche  er  vorübergehend 
in  Halle  zubrachte,  theils  auf  seinen  Reisen  erlernte  er  diese 
Sprachen.  In  3  bis  4  Monaten  hatte  er  z.  B.  das  Türkische 
bemeistert.  Am  Tage  zog  er  missionirend  umher  und  des  Nachts 
finden  wir  ihn  dann  oft  über  einer  neuen  Sprache  studirend. 

Im  Bayerischen  traf  er  einmal  unter  einer  Anzahl  von 
Juden  einen  polnischen  Rabbi.  Das  Zeugniss  des  Missionars 
von  der  Busse  und  dem  Glauben  war  dem  Manne  unangenehm, 
und  er  stellte  sich  desshalb  an ,  als  ob  er  von  der  ganzen 
Unterhaltung  nichts  verstünde.  Plötzlich  redete  Schultz  ihn  an, 
der  Rabbi  aber  entschuldigte  sich  in  polnischer  Sprache,  dass 
er  deutsch  nicht  verstehe.  Da  setzte  Schultz  die  Unterhaltung 
polnisch  fort,  der  Rabbi  aber  suchte  dem  Gespräch  damit  ein 
Ende  zu  machen ,  dass  er  rabbinisch  zu  reden  begann ;  aber  auch 
hierin  folgte  ihm  der  Missionar.  In  grösster  Verlegenheit  wechselte 
nun  der  Jude  fortwährend  zwischen  den  drei  Sprachen,  aber 
Schultz  hielt  mit  ihm  gleichen  Schritt,  bis  der  Rabbi  die  Waffen 
streckte  und  jetzt  bereitwillig  die  ihm  von  Schultz  angebotenen 
Missionschriften  annahm. 


—     313     — 

Gewöhnlich  waren  es  die  Wintermonate,  welche  eine  Unter- 
brechung des  Reisewerkes  herbeiführten.  Setzte  nun  Schultz 
während  dieser  Zeit  seine  sprachlichen  und  theologischen  Studien 
fort,  so  beschränkte  er  sich  jedoch  darauf  nicht,  sondern  hielt, 
mehrfach  geäusserten  Wünschen  entsprechend,  auch  Vorlesungen 
an  der  Universität  in  Halle  über  arabische  Sprache,  die  muham- 
medanische  Religion,  rabbinische  und  griechische  Sprache,  über 
einige  alt-  und  neutestamentliche  Bücher  und  ein  syrisches  über 
das  Evangelium  des  Matthäus,  so  dass  es  wohl  erklärlich  ist, 
wenn  ihm  zuerst  in  Königsberg  und  hernach  noch  mehrfach 
Universitätsprofessuren  für  die  orientalischen  Sprachen  angetragen 
wurden. 

Missionirend  durchzog  Schultz  dann  von  1740  bis  1741 
das  westliche  und  südliche  Deutschland,  1742  Nordwestdeutsch- 
land, Holstein,  Schleswig  und  Dänemark,  1743  Norddeutschland 
und  Preussen,  1744  Süddeutschland  und  die  Schweiz,  1745  einige 
Theile  Deutschlands,  Schweden  und  Theile  des  heutigen  Russ- 
lands, 1746  zog  er  von  Königsberg  bis  zum  Rhein,  1747  bereiste 
er  Polen,  Schlesien  und  Ungarn,  1748  Dänemark,  1749  Holland, 
England,  hernach  Süddeutschland  und  kam  bis  Venedig,  1750 
Italien  bis  nach  Rom  hin,  die  Schweiz  und  Süddeutschland, 
1751  Elsass  und  Baden,  1752  Oesterreich,  Italien,  die  Türkei 
und  Klein- Asien,  1753  die  Türkei,  Klein- Asien  und  Aegypten, 
1754  Palästina  und  kam  bis  Aleppo,  1755  den  Lybanon,  Syrien 
und  die  Inseln  Klein- Asiens,   1756  kehrte  er  nach  Halle  zurück. 

Der  Tod  seines  Collegen  Woltersdorf  beschleunigte  seine 
Rückkehr.  Der  ursprüngliche  Plan  aber  war  gewesen,  dass  die 
Missionare,  um  gewissermassen  eine  Forschungsreise,  die  fest- 
stellen sollte,  wie  weit  Juden  wohnten  und  wo  überall  also  die 
Arbeit  an  denselben  nöthig  wäre,  auszuführen,  von  Palästina 
durch  Syrien  nach  Armenien  und  weiter  durch  Mittelasien  bis 
nach  China,  von  dort  zurück  über  Ispahan  in  Persien  und  über 
Bagdad  den  Euphrat  und  Tigris  hinunter  nach  Balsora  gehen, 
von  hier  die  indischen  Küsten  Madras  und  Coromandel  besuchen 
und  durch  das  Rothe  Meer  nach  Abessinien  übersetzen  sollten. 
Von  Abessinien  war  es  ins  Auge  gefasst,  den  Rückweg  über 
Aegypten  nach  Jerusalem  zu  nehmen,  von  dort  zu  Schiff  nach 
Italien  zu  gehen,  Frankreich  und  Spanien  zu  besuchen  und  von 
hier  aus  nach  Amerika  überzusetzen.  Die  Rückkehr  nach  Halle 
sollte  dann  zuletzt  über  Eno-land  geschehen. 


—     314     — 

So  sollte  denn  praktisch  der  Anfang  mit  der  Ausführung 
des  Planes,  die  ganze  Judenschaft  der  Welt  in  den  Bereich  der 
Missionswirksamkeit  zu  ziehen,  gemacht  werden.  Die  Reisen 
nach  Asien  und  Afrika  sollten  zunächst  einen  orientirenden 
Charakter  tragen  und  die  Möglichkeit  einer  Missionswirksamkeit 
daselbst  feststellen.  Abenteurerei  lag  hierbei  Niemandem  ferner 
als  dem  prosaischen  Callenberg.  Schon  in  früherer  Zeit  hatte 
ja  der  Professor  die  weiteste  Ausdehnung  der  Missionsreisen  ins 
Auge  gefasst,  weil  ihn  sein  scharfes  Missionspfüchtgefühl  hierzu 
bestimmte.  Aber  dass  nun  der  Plan  in  jenem  grossen  Umfange, 
wie  es  oben  bezeichnet  worden  ist,  zur  Ausführung  kam,  ist 
wesentlich  dem  Einflüsse  von  St.  Schultz  zu  danken.  Callenberg 
hatte  sich ,  als  Schultz  ihm  den  dahin  zielenden  Vorschlag  machte, 
anfangs  gegen  denselben  gesträubt,  weil  er  nach  den  Erfahrungen 
in  Böhmen  für  seine  Missionare  bangte.  Aber  die  Freudigkeit 
von  Schultz  und  der  Hinweis  desselben,  dass  alle  seine  früheren 
Reisen  glücklich  abgelaufen  seien,  überwanden  hernach  seine 
Bedenken  und  er  gab  dann  freudig  seine  Zustimmung  zu  einer 
Missionsreise  in  so  grosser  Ausdehnung. 

Die  Reise  sollte  übrigens  nicht  bloss  den  Juden  gelten,  son- 
dern, der  Grundidee  des  Institutum  entsprechend,  auch  den 
Muhammedanern  und  orientalischen  Christen  zugute  kommen;  und 
eben  daher  ist  es  geschehen,  dass  auch  Gegenden,  in  denen  nur 
wenige  Juden,  dafür  aber  desto  mehr  Muhammedaner  und  orien- 
talischen Christen  wohnten,  in  das  Programm  dieser  Reise  mit 
aufgenommen  wurden.  Die  Berichte  der  Missionare  von  der 
fraglichen  Reise  enthalten  dem  entsprechend  auch  viele  Mitthei- 
lungen, welche  die  Muhammedaner  und  orientalischen  Christen 
betreffen. 

Die  Armseligkeit  der  zur  Ausführung  eines  solchen  Unter 
nehmens  zu  Gebote  stehenden  Mittel  macht  dasselbe  um  so 
bewunderungswürdiger,  und  an  der  Geringfügigkeit  dieser  Mittel 
ist  es  denn  auch  nicht  gescheitert.  Ausgeführt  wurde  ja  vielmehr 
der  oben  erwähnte  Plan  zu  einem  bedeutenden  Theile,  und  ledig- 
lich der  Heimgang  von  Woltersdorf  verhinderte  es,  dass  er 
nicht  noch  weiter  ins  Werk  gesetzt  werden  konnte.  Damit  ist 
aber  zugleich  für  alle  Zeiten  der  Judenmission  der  Beweis  geliefert 
worden,  was  geleistet  werden  kann,  wenn  die  rechten  Leute  sie 
in  die  Hand  nehmen  und  in  ihr  verwandt  werden.     Schultz   war 


—    315     — 

jedesfalls  der  Mann,  mit  welchem  alle  Aufgaben  der  Judenmission 
ausgerichtet  werden  konnten. 

Wie  seine  Genossen,  aber  mit  einer  alle  anderen  über- 
ragenden Begabung  trat  er  überall  an  die  Juden  heran.  Besonders 
gern  lenkte  er  seine  Schritte  zu  den  Synagogen  hin,  und  es 
wurde  dies  damals  von  den  Juden  für  gewöhnlich  nicht  so  übel 
empfunden  wie  heutiges  Tages.  In  der  Synagoge  schlug  er  den 
biblischen  Tagesabschnitt  auf  und  sah  dann  bald  Schaaren  von 
Juden  um  sich  versammelt.  In  Mitau  legte  er  dem  sogenannten 
jüdischen  Landtage  die  Tageslektion  aus  und  sprach  nach  An- 
leitung derselben  über  den  Weg  der  Busse  und  des  Glaubens. 
„Mit  einer  Predigt  habe  ich  so  in  das  ganze  Land  hineingearbeitet." 
In  einer  Londoner  Synagoge  sahen  ihn  die  Juden  den  an  der 
Reihe  befindlichen  Abschnitt  aufschlagen.  Der  Vorsteher  frug 
ihn:  „Woher  weiss  der  Herr  die  Schrift?"  Schultz  antwortete: 
„Woher  vergasst  ihr  die  Schrift?"  Die  unerwartete  Antwort 
machte  alle  begierig  von  dem  Fremden  mehr  zu  hören.  Sie 
baten  ihn,  einige  ihrer  Fragen  über  den  vorliegenden  Text  zu 
beantworten.  „Warum  ruft  der  Herr  im  ersten  Verse  desselben 
Himmel  und  Erde  auf?"  Schultz  entgegenete:  „Weil  ihr  eure 
Ohren  verstopft  und  zwar  mit  Lumpen  oder  Kleidern  oder 
Kupfer,  Blei,  Zinn,  Geldwechseln  und  dergleichen."  So  ging  es 
weiter;  die  einen  waren  voller  Empörung,  die  anderen  fühlten 
sich  ungemein  angeregt,  so  dass  man  den  Missionar  zuletzt  frug, 
woher  er  denn  die  Schrift  so  gut  verstünde?  Schultz  antwortete 
ihnen:  „Darum  weil  der  Messias  oder  seine  Boten  die  Lehre  vom 
Leben  unter  die  Völker  gebracht  haben,  Jesaia  49,  1 — 6."  Und 
hiernach  durfte  er,  während  alle  schweigend  zuhörten,  ihnen  das 
Evangelium  vom  Messias  Jesus  Christus  ausführlich  verkündigen. 
Aehnliches  erlebte  Schultz  wiederholt  in  Synagogen.  Der  Vor- 
steher in  Rheda  (Westfalen)  gebot  geradeswegs  allen  anwesenden 
Juden  Stille,  damit  der  Missionar  ununterbrochen  sein  Zeugniss 
in  ihrer  Mitte  ablegen  könne. 

Die  Juden  vom  Talmud  auf  den  Boden  des  Alten  Testa- 
mentes zurückzuführen,  um  ihnen  von  diesem  her  das  Verständniss 
des  Neuen  Testamentes  zu  erwecken,  erklärte  St.  Schultz  z.  B. 
dem  Grafen  Zaluski  in  Warschau  als  die  erste  seiner  Aufgaben. 
In  den  Gesprächen  mit  den  Juden  gälte  es  dann  vor  allem,  ihnen 
durch  das  Alte  Testament  den  Ernst  der  Heiligkeit  Gottes  zu 
Gemüthe  zu  führen ,   im  Uebrigen  aber  je  nach   den  Umständen 


—     3i6     — 

die  Gelegenheit  zu  benützen,  um  die  Seelen  auf  das  eine  Not- 
wendige hinzuweisen.  Und  Schultz  besass  hierfür  eine  seltene 
Gabe.  Verstand,  Herz  und  Gewissen  wusste  er  in  gleicher 
Weise  zu  erreichen,  und  nicht  leicht  ging  ein  Jude,  der  ihm 
begegnete,  von  dannen,  ohne  dass  er  ihm,  selbst  wenn  er  es  oft 
nur  mit  einem  Worte  hatte  thun  können,  einen  Haken  ins  Herz 
geworfen  hätte. 

Die  Umstände  des  Augenblicks  wusste  dieser  Missionar  in 
seltener  Weise  zu  benützen.  Bei  einem  jüdischen  Kaufmann  in 
Krakau  kaufte  er  einen  Flor  und  kam  mit  ihm  in  ein  Gespräch, 
welches  schliesslich  zu  der  Frage  führte,  was  er  denn  habe,  um 
mit  Gott  versöhnt  zu  werden?  Da  der  Missionar  dem  Manne 
alle  seine  Versöhnungsmittel  zu  Schanden  machte,  berief  sich 
derselbe  schliesslich  auf  die  Herlesung  der  Opfergebete  in  der 
Synagoge,  welche  ihrem  Volke  dieselbe  Sühnung  gewähre,  die 
ihm  sonst  die  wirklich  dargebrachten  Opfer  eingetragen  hätten. 
Schultz  frug  hierauf  nach  dem  Preise  des  Flors,  und  als  ihm 
50  Kreuzer  genannt  waren,  schrieb  er  diese  Summe  auf  eine 
Tafel,  las  etwa  zehnmal  die  Worte  „50  Kreuzer  kostet  der  Flor" 
her  und  schickte  sich  dann  an,  den  Laden  zu  verlassen.  Der 
Kaufmann  jedoch  hielt  ihn  zurück  und  forderte  Bezahlung;  Schultz 
antwortete  ihm,  dass  er  ihm  ja  die  Summe  vorgelesen  und  ihn 
also  bezahlt  habe.  Da  fühlte  sich  der  Jude  beschämt  und  Hess 
sich  nun  nach  Jesaia  53  auf  das  rechte  Opfer  hinweisen,  welches 
die  wahre  Zahlung  für  seine  Sünden  geleistet  habe. 

Die  Einwürfe  der  Juden  wusste  er  mit  eben  so  vieler  Wahr- 
heit und  Gerechtigkeit  als  Ueberzeugungskraft  zu  beantworten 
und  von  den  Menschen  führte  er  sie  stets  zu  Jesu  hin,  den  er 
ihnen  in  der  lebendigsten  Weise  vor  die  Augen  und  vor  das 
Gewissen  stellte.  Dabei  besass  Schultz  eine  merkwürdige  Kraft 
die  Geister  zu  beherrschen;  ja  er  war  es  so  gewöhnt,  sie  in  seine 
Bahnen  hinein  zu  leiten,  dass  er  im  späteren  Leben  -retwas  Her- 
risches und  Rechthaberisches  annahm.  Er  ist  hierdurch  seinen 
Amtsgenossen  wie  den  Missionaren,  welche  während  seines  Direk- 
toriums im  Institutum  unter  ihm  standen,  oft  recht  schwer  geworden. 

Die  Zukunft  des  Volkes  Israel  in  der  Weiterentwicklung 
des  Reiches  Gottes  Hessen  weder  Callenberg  noch  seine  Missionare 
in  ihrem  Werke  besonders  hervortreten  oder  sich  von  derselben 
in  ihrer  Wirksamkeit  bestimmen,  wiewohl  sie  sich  zu  der  Lehre 
der  Schrift  von   derselben    durchaus    nicht   ablehnend   verhielten. 


—     317     — 

Nur  Widmann  wurde  von  dem  Gedanken  an  die  Massenbekehrung 
der  Juden  praktisch  beinflusst  und  Missionar  Bennewitz  durch 
die  Erwartung  des  tausendjährigen  Reiches  verwirrt,  so  dass  er 
an  der  Mission  verzweifelte,  weil  dieselbe  seine  chiliastischen 
Hoffnungen  nicht  erfüllte.  Sonst  verlor  man  im  Institutum  nie 
die  Nüchternheit  über  der  Lehre  vom  Ende  und  wusste  sie  doch 
recht  zu  verwerthen.  „Auf  Hoffnung  Gefangene"  nennt  Schultz 
.die  Juden  gern  und  redete  von  der  letzten  Bekehrung  des  jüdischen 
Volkes  mit  rechter  Bewegung  seines  Herzens.  Einem  grossen 
Kreise  von  Juden  in  Polen  legte  er  auf  ihre  Frage  nach  der 
Zukunft  der  Juden  dieselbe  in  ergreifender  Weise  nach  der 
Schrift  dar,  indem  er  ihnen  zuerst  auseinandersetzte,  wie  es  ihnen 
bisher  ergangen  sei,  sodann,  wie  es  ihnen  jetzt  ergehe,  und  end- 
lich, wie  es  ihnen  hernach  ergehen  werde.  „Ja,  es  ist  alles  so 
gekommen",  hatten  die  Juden  bekannt,  als  sie  die  Worte  von 
Schultz  über  ihre  Vergangenheit  und  Gegenwart  vernommen 
hatten ,  und  sie  drängten  sich  nun  begierig  zusammen ,  um  zu 
hören,  was  er  ihnen  weiter  von  ihrer  Zukunft  verkündigen  werde. 
Das  that  Schultz  nach  Moses  und  den  Propheten:  „Wenn  über 
euch  die  Flüche  kommen  werden,  so  werdet  ihr  in  euren  Herzen 
einkehren,  und  wenn  ihr  die  Ursache  des  Elends  sucht,  werdet 
ihr  sie  finden.  Dann  werden  die  Kinder  Israel  umkehren  und 
den  Herrn,  ihren  Gott  und  ihren  König  suchen  und  zu  der  Güte 
des  Herrn  mit  Furcht  und  Zittern  kommen.  Ihr  werdet  anfangen 
eure  Schmach  zu  tragen  und  nicht  mehr  sagen  „wir  haben  Recht 
gehabt",  sondern  mit  Weinen  und  Heulen  kommen  und  zu  dem 
Herrn  aus  dem  grossen  Feuer  der  Trübsal  wie  aus  der  Tiefe 
rufen.  Ihr  werdet  auf  den  sehen,  den  eure  Väter  und  ihr  selbst 
durchstochen  habt.  Gott  aber  wird  dann  über  euch  den  Geist 
der  Gnade  und  der  Abbitte  ergiessen;  er  wird  das  steinere  Herz 
von  euch  nehmen  und  euch  ein  fleischernes  Herz  geben.  Das 
übriggebliebene  Theil  von  euch  wird  er  ins  Feuer  führen  und  es 
läutern  wie  Silber  und  prüfen  wie  Gold  und  euer  unbeschnittenes 
Herz  wird  sich  demüthigen.  So  werdet  ihr  sehen  das  Zeichen 
des  Menschensohnes  und  werdet  euch  zu  ihm  nahen;  er  aber 
wird  euch,  wie  er  zugesagt,  die  Gnaden  Davids  empfangen  lassen; 
die  Todtengebeine  werden  leben,  und  der  Davidssohn  wird  einen 
ewigen  Bund  des  Friedens  mit  euch  aufrichten." 

Guten    Muths    und    dankbaren    Herzens    verrichtete    dazu 
Schultz   sein   schweres   Missionsamt.     Einem   Professor   in   Leer, 


-     3i3     - 

der  ihn  um  der  Beschwerlichkeit  seines  Berufes  willen  bedauerte, 
antwortete  er,  dass  die  Wagschale  der  Annehmlichkeiten  in  dem- 
selben die  der  Beschwerlichkeiten  weit  überwiege.  Kämen  auf 
die  letztere  immerhin:  die  Armuth,  welche  ihnen  auferlegt  sei, 
das  Wandern  zu  Fuss  durch  Dick  und  Dünn,  über  Berg  und 
Thal,  über  Stock  und  Stein,  oft  in  nassen  Kleidern  und  durch 
grundlose  Wege;  das  schlechte  Lager,  das  man  für  sie,  die  arm- 
selig aussehenden  Menschen  oft  nur  übrig  haben  wolle;  der 
hungrige  Magen,  wenn  das  Geld  knapp  geworden  sei;  die  rohe 
Behandlung  durch  die  Polizei,  welche  sie  oft  für  Vagabunden 
oder  Bettelstudenten  ansehe;  die  Unterredungen  bis  in  die  tiefe 
Xacht  hinein,  so  dass  der  müde  Leib  zuletzt  seinen  Dienst  völlig 
versagen  wolle;  endlich  Schmach  und  Hohn,  Spott  und  Schläge, 
Gefahr  zu  Wasser  und  zu  Lande,  unter  Mördern  und  auch  wohl 
unter  falschen  Brüdern;  der  Aufruhr  unter  den  Juden  und  das 
innere  Leid,  welches  ihr  Beruf  mit  sich  bringe  —  so  müsse  er 
auf  der  andern  Seite  aber  wieder  geltend  machen:  bei  der  armen 
Gestalt  und  dem  wenigen  Gelde  seien  auch  weniger  Sorgen, 
und  der  Eingang  sowohl  bei  Juden  als  bei  Christen  leichter;  mit 
den  Leiden  für  Jesum  verbinde  sich  auch  der  Sieg  desselben; 
und  hielte  das  alles  schon  dem  Unangenehmen  das  Gleich- 
gewicht, so  steige  die  Wagschale  der  Annehmlichkeiten  sofort, 
wenn  er  das  Vergnügen  bedenke,  Land  und  Leute  von 
allerlei  Art,  die  anderen  nur  durch  Bücher  bekannt  seien,  persönlich 
kennen  lernen  zu  dürfen;  dazu  mit  so  vielen  Tausenden  aus 
allen  Kirchen  und  in  allen  Theilen  der  Erde  sich  eins  zu  sehen 
in  dem  Glauben  an  denselben  Jesus;  das  Wort  Gottes  an  grossen 
und  kleinen  Orten,  in  Kirchen  und  Schulen,  bezeugen  zu  können; 
und  endlich  die  selige  Lust,  eine  Saat  unter  den  Juden  auszu- 
säen, die  ihre  Ernte  an  dem  grossen  Tage,  der  alles  offenbart, 
auch  einmal  sichtbar  zeigen  werde. 

Eine  höchst  praktisch  angelegte  Natur  wusste  sich  Schultz 
auch  in  den  schwierigsten  Lagen  zu  helfen.  Durch  seine  medi- 
zinischen Kenntnisse  verschaffte  er  sich  besonders  im  Orient  oft 
auf  die  leichteste  Weise  den  Eingang  bei  den  Leuten.  Die 
Sicherheit  und  Ruhe  seines  Glaubens  führte  wiederholt  auf  See- 
fahrten die  bei  heftigen  Stürmen  verzweifelte  Schiffsmannschaft 
zur  Besonnenheit  zurück  und  rettete  einmal  alle  vom  Schiftbruch, 
als  der  Kapitän  bereits  völlig  den  Kopf  verloren  hatte. 


—     319     — 

Unter  katholischen,  griechischen  und  orientalischen  Christen 
wie  unter  Muhammedanern  wusste  er  durch  seine  ruhige  Klar- 
heit dem  evangelischen  Zeugnisse  oft  Gehör  zu  verschaffen.  Er 
verleugnete  nie  den  Lutheraner,  aber  im  Missionsberufe,  der  ihn 
unter  so  viele  Andersgläubige  geführt  hatte,  war  es  ihm  zur 
Regel  geworden:  „Mit  gegenseitigen  Religionsparteien  unter  den 
Christen  muss  man  nicht  mit  ketzermacherischen  Disputationen 
handeln,  sondern  mit  der  Wahrheit,  die  in  Christo  ist,  und  doch 
braucht  man  dabei  nicht  indifferent  zu  sein.  Der  rechtmässige 
Eifer  für  die  wahre  Religion,  die  in  dem  Worte  Gottes  allein 
gegründet  ist,  kann  bis  aufs  Blut  vertheidigt,  aber  die  Liebe 
gegen  die  Irrenden  und  in  der  Hauptsache,  der  Versöhnung- 
Christi  Stehenden  muss  nicht  geschwächt  werden." 

Zwar  misshandelte  ihn  einmal  ein  Franzose,  dessen  Knechten 
er  ein  evangelisches  Buch  gegeben  hatte,  aber  Fälle  dieser  Art 
waren  die  Ausnahme.  Er  hat  mit  vielen  katholischen  Geistlichen 
eingehende  Besprechungen  über  die  Fragen  des  Glaubens  gehabt 
und  bei  ihnen  gewöhnlich  grosse  Theilnahme  für  sein  Werk 
gefunden.  Der  armenische  Patriarch  in  Constantinopel  wurde 
für  ihn  so  eingenommen,  dass  er  ihm  einen  Empfehlungsbrief 
an  den  Patriarchen  in  Jerusalem  mitgab.  Aehnliches  erlebte  er 
mit  griechischen,  nestorianischen  und  abessinischen  Würdenträgern, 
und  Muhammedaner  haben  sich  vielfach  von  ihm  ruhig  das 
Evangelium  predigen  lassen. 

Im  lebendigen  Gebetsumgange  mit  Gott  hat  er  stets  von 
Neuem  die  Kraft,  um  sein  viele  Ausdauer,  Geduld,  Muth,  Kraft 
und  Weisheit  forderndes  Werk  auszuführen,  gefunden.  Ihm  war 
die  Gabe  des  Glaubens  in  seltenem  Maasse  geschenkt  und  so 
hat  er  denn  auch  ganz  wunderbare  Gebetserhörungen  erlebt. 
Kurz,  Dr.  Kaikar  sagt  mit  gutem  Recht  in  seiner  2.  Auflage 
von  „Israel  og  Kerken"  S.  231,  dass  keiner  von  allen  Juden- 
missionaren so  viele  Vergleichungspunkte  mit  dem  Apostel  Paulus 
bietet  als  Stephan  Schultz.  2.  Corinther  11,  23 — 33  ist  in  der 
That  fast  völlig  auch  auf  diesen  Missionar  anzuwenden. 

Mit  welchen  Entbehrungen  er  oft  zu  kämpfen  hatte,  wird 
klar  werden,  wenn  der  Thatsache  Erwähnung  geschieht,  dass  er 
und  seine  Gefährten  während  ihrer  Reise  in  Lithauen  und  Polen 
stets  einen  Topf  mit  Grütze  und  Brot  bei  sich  tragen  mussten, 
weil  sie  sonst  oft  nichts  zu  essen  gehabt  hätten. 


—     320     — 

An  der  ungarischen  Grenze  wurden  er  und  sein  Genosse 
visitirt.  Die  jüdischen,  arabischen,  türkischen  und  griechischen 
Bücher,  welche  die  Missionare  mit  sich  führten,  erschienen  als 
eine  gefährliche  Waare,  und  die  Beiden  wurden  arretirt.  Ein 
baumstarker  Mensch  trieb  sie  mit  einem  Knittel  meilenweit  vor 
sich  her  und  sperrte  sie  dann  des  Abends  in  eine  polnische 
Hütte  ein,  die  keinen  Ofen  besass,  sondern  durch  ein  auf  der 
Erde  angezündetes  Feuer  erwärmt  wurde.  Der  Rauch,  welcher 
von  diesem  Feuer  aufstieg,  erfüllte  den  ganzen  Raum  und  drohte 
die  Missionare  zu  ersticken.  40  Stunden  brachten  beide  hustend 
in  dieser  Weise  zu.  Trotzdem  begann  Schultz  mit  den  Kindern 
des  Besitzers  der  Hütte  ein  Gespräch  und  redete  ihnen  so  zu 
Herzen,  dass  es  auch  die  Wirthsleute  ergriff  und  sie  den 
Gefangenen  etwas  zu  essen  vorsetzten. 

Am  nächsten  Tage  ging  die  Wanderung  weiter.  Auf  den 
Begleiter  hatte  die  ganze  Art  und  Weise  der  Missionare  nun 
doch  einen  Eindruck  gemacht,  und  er  nahm  schliesslich  von  ihnen 
nicht  Abschied,  als  bis  sie  die  Hände  auf  sein  Haupt  gelegt  und 
über  ihn  die  Absolution  im  Namen  des  dreieinigen  Gottes 
gesprochen  hatten.  Der  Richter,  vor  welchen  sie  dann  geführt 
wurden,  erkannte  sogleich  die  Thorheit  derer,  welche  die  Beiden 
gefangen  genommen  hatten,  und  entliess  sie  mit  grosser  Freund- 
lichkeit. Doch  nicht  immer  verliefen  die  Dinge  so  gut.  Dafür, 
dass  Schultz  in  Pressburg  unter  strömendem  Regen  am  Thore 
stehend,  schnellere  Erledigung  seiner  Passuntersuchung  forderte, 
erhielt  er  von  der  Wache  einen  Schlag  über  den  Kopf,  der  ihm 
eine  tiefe  Wunde  verursachte;  und  als  er  sich  darüber  beschwerte, 
antwortete  ihm  der  Vorgesetzte:  „daran  ist  nicht  viel  gelegen". 
Der  weitere  Versuch  von  Schultz,  sein  Recht  zu  behaupten, 
bekam  ihm  noch  übler,  denn  er  wurde  nun  in  ein  finsteres  Loch 
gesperrt.  Hierdurch  unerschüttert,  Hess  er  sich  ein  Licht  kaufen, 
und  las  dann  sofort  den  die  Wache  haltenden  Soldaten  die 
Schriftstelle  vor:  „in  deinem  Licht  sehen  wir  das  Licht"  und 
setzte  ihnen  den  Unterschied  von  Kindern  des  Lichtes  und  der 
Finsterniss  auseinander.  Beschämt  schlich  sich  einer  der  Soldaten 
von  dannen,  um  dem  Missionar  Bennewitz,  der  in  die  Stadt 
gegangen  war,  mitzutheilen,  wo  Schultz  sich  befände.  Noch 
rechtzeitig  kam  derselbe  mit  einem  evangelischen  Stadtgeistlichen, 
dessen  Hilfe  er  rasch  angerufen  hatte,  herbei  und  befreite  den 
Freund  aus  dem  Gefängniss    und   von  30  Knutenhieben,   die   er 


—     321      — 

soeben  erhalten  sollte.  Unmittelbar  darauf  aber  finden  wir  Schultz 
mit  seiner  Kopfwunde  draussen  stehen  und  sich  mit  2  Jesuiten 
lebhaft  über  religiöse  Dinge  besprechen. 

Die  Reihe  der  Fälle,  in  denen  er  Todesgefahr  zu  bestehen 
hatte,  ist  eine  stattliche.  In  Polen  wurde  er  mit  seinem  Gefährten 
von  berittenen  Räubern  überfallen  und  allein  auf  ganz  wunderbare 
Weise  errettet.  Ebenso  entkam  er  allein  mit  genauer  Noth  aus 
einer  Mörderhöhle  in  Lublin  (Polen)  und  fast  wäre  er  im  Adria- 
tischen  Meere  ertrunken.  1752  sagte  er  dem  holländischen 
Gesandten  in  Konstantinopel,  dass  ihn  Gott  aus  mehr  als  20 
Lebensgefahren  errettet  habe. 

Mitten  in  der  Arbeit,  die  er  unter  solchen  Nöthen  und 
Gefahren  that,  erhielt  er  1745  den  Ruf  an  die  Universität 
Königsberg  als  Professor  der  Theologie,  aber  er  schlug  ihn  aus, 
damit  das  Callenberg'sche  Institutum  nicht  ohne  Arbeiter  wäre. 
Ebenso  lehnte  er  Pfarrstellen  in  Nürnberg,  Smyrna  und  im  Haag 
und  eine  Professur  an  der  neu  zu  errichtenden  Universität  Bützow 
(Mecklenburg)  ab.  Er  wusste  hoch  und  niedrig  zu  sein.  1749 
wollte  ihn  und  seinen  Gefährten  der  Thorschreiber  in  Darmstadt 
nicht  einlassen  und  bot  die  Wache  gegen  die  beiden  Vagabunden 
auf.  Dann  aber  verliessen  die  Missionare  die  Stadt  im  Wagen 
eines  Prinzen,  und  die  WTache  trat  hierbei  vor  ihnen  ins  Gewehr. 
Schultz  aber  setzt,  indem  er  dies  mittheilt,  hinzu:  „Bei  über- 
flüssigen Wohlthaten  nicht  hochmüthig  und  bei  Mangel  nicht 
niederträchtig  zu  sein,  ist  eine  Kunst,  die  allein  das  wahre 
Christenthum  lehrt".  Er  hat  sie  verstanden  und  hat  sie  treulich 
geübt. 

Im  Oktober  1756  kehrte  Schultz  nach  4  Va jähriger  Abwesen- 
heit von  seiner  orientalischen  Reise,  auf  welcher  er  seinen  lieben 
Gefährten  Woltersdorf  verloren  hatte,  nach  Halle  zurück.  Auf 
den  Wunsch  Callenberg's  wirkte  er  dann  ein  Jahr  lang  auf  der 
dortigen  Universität.  Um  diese  Zeit  wurde  ihm  das  Oberdiakonat 
an  der  Ulrichskirche  in  Halle  angeboten.  Callenberg,  welcher 
seine  Kräfte  abnehmen  fühlte,  bat  ihn,  diese  Stelle  anzunehmen, 
damit  er  ihm  am  Institutum  behilflich  sein  könne,  und  Schultz 
that  es.  In  seinem  Predigtamt  sammelte  er  dann  um  sich  eine 
grosse  Gemeinde.  Aber  die  aus  dem  Missionsberufe  her  gewöhnte 
Freiheit  und  die  Selbständigkeit  seines  Charakters,  welche  ihn 
dazu  führten,  sich  manche  Willkür  zu  erlauben,  Hessen  ihn  mehr- 
fach die  engen  Grenzen,    welche    das    Pfarramt   jener    Zeit   zog, 

J.   F.  A.  de  le  Roi,   Missionsbeziehungen.  21 


—      322       — 

überschreiten,  so  dass  er  wiederholt  in  Streitigkeiten  mit  seinen 
Amtsgenossen,  die  über  Eingriffe  in  ihr  Amt  klagten,  verwickelt 
wurde,  und  einige  Zeit  hindurch  die  Stimmung  der  Collegen  an 
der  Kirche  gegen  ihn  eine  ziemlich  erregte  war. 

1760  verlieh  ihm  die  theologische  Facultät  der  Halle'- 
schen  Universität  die  Magisterwürde,  und  nach  dem  im  Jahre 
1760  erfolgten  Tod  Callenbergs  übernahm  er  das  Direktorat 
des  Institutum,  nachdem  Professor  Knapp  dasselbe  abgelehnt 
hatte.  Callenberg  bestimmte  aber,  dass  sein  Sohn  Adjunctus 
von  Schultz  in  der  Verwaltung  des  Institutum  würde.  Die 
Zwistigkeiten  zwischen  Schultz  und  den  Amtsgenossen  im  Pfarr- 
amt scheinen  den  ängstlichen  Callenberg  sehr  bedrückt  und  mit 
der  Furcht  erfüllt  zu  haben,  dass  Schultz  als  Direktor  des  Insti- 
tutum zu  sehr  seinem  eigenen  Kopfe  folgen  werde. 

Im  Jahre  1765  verheirathete  sich  Schultz  mit  Margaretha 
Barbara  Birkmann,  einer  Tochter  des  Seniors  zu  St.  Aegidien 
in  Nürnberg.  Dieselbe  war  eine  zweimal  gekrönte  Dichterin  und 
eine  gelehrte  Frau,  welche  ihren  Mann  in  seinen  Arbeiten  auf's 
trefflichste  unterstützte,  verstand  sie  doch  selbst  die  Grundsprachen 
der  Bibel.     Die  Ehe  blieb  kinderlos. 

Ueber  die  Frucht  der  Missionsarbeit  von  St.  Schultz  wird 
nachher  die  Rede  sein,  wenn  die  Erfolge,  welche  die  Wirksam- 
keit des  Institutum  überhaupt  erzielt  hat,  besprochen  werden. 
Die  direktoriale  Thätigkeit  von  Schultz  an  der  Anstalt  fällt  erst 
in  die  zweite  Hälfte  des  Jahrhunderts  und  wird  also  auch  erst 
dann  behandelt  werden  müssen. 

Nie  aber  wohl  seit  der  Apostel  Tagen  wurde  ein  Juden- 
missionar so  weit  unter  Juden  und  Christen  bekannt  als  Stephan 
Schultz.  Noch  später,  nachdem  er  den  Missionsdienst  verlassen 
hatte,  finden  wir  ihn  im  Briefwechsel  mit  Juden,  denen  er  auf 
seinen  Reisen  begegnet  war.  Und  unter  den  Christen  jener  Zeit 
hat  er  weithin  ein  reges  Missionsinteresse  geweckt.  Die  bedeu- 
tendsten Persönlichkeiten  verkehrten  mit  ihm.  Von  den  5  Theilen 
seiner  „Leitungen  des  Höchsten"  durfte  er  den  ersten  der 
Gemahlin  Friedrich  des  Grossen,  Königin  Elisabeth  Christine 
von  Preussen  widmen,  den  zweiten  der  Königin  Luise  Ulrike 
von  Schweden,  den  dritten  der  Markgräfin  Luise  Karoline  von 
Badcn-Durlach,  den  vierten  dem  Fürsten  Karl  Georg  Leberecht 
von  Anhalt-Cöthen,  und  den  fünften  dem  dänischen  Staatsminister 
Grafen  von  Bernsdorf. 


—     323     — 

Als  Prediger  und  Docent  suchte  er  auch  später  das  Missions- 
interesse besonders  in  Halle  rege  zu  erhalten.  Seine  Vorlesungen 
waren  zahlreich  besucht,  noch  1775  las  er  ein  Collegium  anti- 
judaicum,  ein  jüdisch-deutsches  und  ein  Judaico-Scriptorium  mit 
vielem  Beifall. 

Die  Literatur  des  Institutum  hat  er  nicht  wesentlich  ver- 
mehrt. Vielfach  wurde  sein  hebräisches  Sendschreiben  an  die 
Juden  „Von  der  geistlichen  Pilgrimschaft"  verbreitet,  besonders 
aber  haben  seine  „Leitungen  des  Höchsten"  die  Kenntniss  der 
Mission  des  Institutum  bis  in  die  Gegenwart  hineingetragen.  Er 
starb,  nachdem  seine  Kräfte  zuletzt  völlig  gesunken  waren,  den 
13.  Dezember  1776  am  Marasmus  senilis  in  einem  Alter  von 
62  Jahren  10  Monaten. 

Die  Mission  der  heutigen  Tage  aber  empfängt  noch  immer 
kräftige  Anregung  durch  das  lebendige  Andenken  an  die  Missions- 
thätigkeit  dieses  Mannes;  sein  Einfluss  ist  in  der  That  auf  dem 
Missionsgebiete  noch  heute  ein  fortwirkender  und  hat  alle  Aus- 
sicht, in  der  Folgezeit  des  ferneren  zu  wachsen. 

i.  Zur  weiteren  Geschichte  des  Institutum. 

Im  Jahre  1735  forderte  Callenberg  den  damals  in  Halle 
studirenden  Johann  Caspar  Horst  aus  dem  hessischen  Aisleben 
auf,  als  Mitarbeiter  in  das  Institutum  einzutreten.  Nach  einjähriger 
treuer  Wirksamkeit  in  demselben  wurde  er  aber  auf  die  Bitte 
des  Direktors  der  darmstädtischen  Proselytenanstalt ,  Johann 
Philipp  Fresenius,  diesem  von  Callenberg  überlassen.  Nach 
Auflösung  dieser  Anstalt  hat  Horst  dann  zunächst  als  Lehrer  in 
Lindheim  amtirt  und  hernach,  seit  1745,  eine  Pfälzer  Gemeinde 
Camp  und  Rhynsberg  im  nordamerikanischen  Staate  New- York 
als  Prediger  bedient;  seit  1749  aber  wird  er  wieder  als  Geist- 
licher in  der  Gegend  von  Frankfurt  am  Main  genannt  und  sein 
Eifer,  mit  den  Juden  zu  verkehren,  gerühmt.  Er  ist  denn  auch 
stets  ein  treuer  Förderer  des  Institutum  geblieben  und  hat  mit 
seinem  13jährigen  Sohne  bereits  den  talmudischen  Traktat  „Pirke 
Aboth"  gelesen.  Oeser's  (Glaubrecht)  „Graf  Zinzendorf  in  der 
Wetterau"  enthält  (S.  66  ff.)  eine  liebliche  Geschichte  von  einer 
durch  Horst  während  seines  Pfarramtes  an  einem  Juden  voll- 
zogenen Taufe,  die  hernach  unter  dem  Titel  „Eine  seltene  Juden- 
taufe und  seltene  Judenliebe"  1872,  Barmen,  noch  besonders 
erschienen  ist. 


—     324     — 

Ein  Begleiter  von  St.  Schultz  war  der  Candidat  Hentzen, 
der  i34  Jahre,  von  1743 — 17-15?  am  Institutum  gearbeitet  hat 
und  dann  Stiftsprediger  zu  Fischbeck  bei  Hameln  wurde.  Der 
Missionsanstalt  bewahrte  er  stets  ein  reges  Interesse,  starb  aber 
schon   1753. 

Ein  Jahr  reiste  mit  Schultz  auch  Plessing  oder  Blessing 
in  der  nämlichen  Zeit  wie  Hentzen,  worauf  er  Pastor  im  Anhalti- 
schen wurde.  Gleichfalls  nur  ein  Jahr  wirkte  am  Institutum 
Muthmann  aus  Pösenek,  um  dann  Hofkaplan  in  Grünstadt 
(Pfalz)  zu  werden.  Bennewitz  missionirte  mit  Schultz  während 
der  Jahre  1746  bis  Ende  1748,  wo  er  wegen  chiliastischer  An- 
sichten vom  Institutum  abtrat;  er  war  ein  kränklicher  Mensch 
und  starb  bald  nach  seinem  Abgange  in  Königsberg. 

Zu  den  trefflichsten  der  Halle'schen  Missionare  gehört 
Albrecht  Friedrich  Woltersdorf.*)  Er  ist  1729  geboren  in 
Friedrichsfelde  bei  Berlin,  wo  sein  Vater  Geistlicher  war,  hernach 
bekleidete  der  letztere  das  Pfarramt  an  der  Georgen  -  Kirche  in 
Berlin.  Der  Vater  war  ein  besonders  frommer  Mann  und  sein 
Sinn  herrschte  in  seiner  ganzen  Familie.  Sehr  bekannt  ist  dessen 
Sohn  Ernst  Gottlieb  Woltersdorf,  der  Schöpfer  des  Bunzlauer 
Waisenhauses  und  Verfasser  des  Fliegenden  Briefes  an  die 
Jugend,  geworden;  Albrecht  Friedrich  war  der  jüngere  Bruder. 
Die  erste  Anregung  für  die  Mission  erhielt,  wie  schon  vor- 
her bemerkt,  der  letztere  bereits  als  9 jähriger  Knabe  bei  einer 
Reise  von  Schultz  durch  Berlin.  Als  Bennewitz  vom  Insti- 
tutum abtrat,  studirte  der  damals  erst  19  Jahre  gewordene 
Albrecht  Friedrich  Woltersdorf  in  Halle.  Dort  hatte  er  sich 
unter  Anleitung  eines  Proselyten,  der  nur  mit  dem  Anfangsbuch- 
staben F.  genannt  wird,  Frommann  aber  nicht  sein  kann,  da 
dieser  damals  bereits  todt  war,  mit  besonderem  Eifer  auf  das 
Hebräische  und  Jüdisch-deutsche  gelegt  und  es  hierin  zu  solcher 
Fertigkeit  gebracht,  dass  jener  Proselyt  ihm  einmal  zurief:  „Sie 
müssen  ein  Judenmissionar  werden".  Eben  derselbe  Proselyt 
machte  Callenberg  auf  Woltersdorf  aufmerksam,  und  Anfang 
1749  frug  der  Professor  den  jungen  Studirenden,  ob  er  bereit 
wäre,  ein  Mitarbeiter  an  seiner  Anstalt  zu  werden?  Der  Vater, 
dem  der  Sohn  dies  mittheilte,  war  anfangs  nicht  geneigt,  dem 
jungen   Menschen    die    Erlaubniss    zu    einem    so    beschwerlichen 


r)  Dibre  Emeth   1875  s-  57  ff->   l878  S.  60  ff.     Saat  1863,   1,  23  ff. 


—     325     — 

Berufe  zu  geben;  denn  er  glaubte,  dass  er  in  seinem  Alter  dem- 
selben nicht  gewachsen  sei  und  dass  er  auch  noch  nicht 
die  nöthigen  Kenntnisse  in  den  orientalischen  Sprachen  besitze; 
wenn  er  dagegen  auch  später  noch  denselben  Wunsch  hege  und 
es  Gottes  Wille  sei,  wolle  er  ihm  dann  nicht  in  den  Weg  treten. 
Da  aber  dem  Vater  von  Halle  aus  weitere  Vorstellungen  gemacht 
wurden,  rief  er  den  Sohn  zu  sich,  und  „gleich  den  Abend  war 
die  Sache  richtig." 

Im  Mai  dieses  Jahres  1 749  begann  alsdann  A.  F.  Wolters- 
dorf, also  erst  20  Jahre  alt,  mit  Schultz  seine  erste  Missionsreise, 
welche  sie  über  Holland  nach  England  führte ,  die  zweite  nach 
Italien,  die  dritte  nach  dem  Rhein,  die  vierte  über  Wien  in  die 
europäische  Türkei,  Klein- Asien,  Aegypten  und  von  hier  nach 
Palästina  bis  St.  Jean  d'Acre. 

Der  junge  Mann  war  ein  tiefgegründeter  Christ  und  durch 
edle  Lebhaftigkeit  und  Elastizität  des  Geistes  ausgezeichnet, 
Eigenschaften,  welche  ihn  für  den  Missionsberuf  in  hohem 
Maasse  geeignet  machten.  Auch  wissenschaftlich  und  sprachlich 
war  er  der  Aufgabe  durchaus  gewachsen,  den  Juden  in  so  ver- 
schiedenen Ländern  das  Evangelium  zu  verkündigen.  Ausser  in 
den  alten  klassischen  Sprachen  vermochte  er  sich  mit  den  Juden 
fiiessend  in  den  Sprachen  der  von  ihm  besuchten  Länder  zu 
unterhalten,  und  so  brachte  er  es  denn  auch  im  Englischen, 
Italienischen,  Neugriechischen,  Türkischen,  Arabischen  und 
Armenischen  zum  Sprechen. 

Die  Strapazen,  welche  der  Missionsberuf  mit  sich  brachte,  zu  er- 
tragen, wurde  für  ihn,  der  schwächlichen  Körpers  war,  eine  doppelt 
schwere  Aufgabe.  Aber  die  Liebe  Christi  Hess  ihn  dies  für  nichts 
achten.  Mörderhand  und  Schiffbruch  haben  ihn,  wie  seinen 
Gefährten  Schultz,  wiederholt  bedroht  und  in  Konstantinopel 
wäre  er  beinahe  von  den  wilden  Hunden  jener  türkischen  Haupt- 
stadt zerrissen  worden;  aber  vom  Missionsberufe  schreckte  ihn 
dies  nicht  ab. 

Ueberaus  schön  war  das  Verhältniss  zu  dem  älteren  Reise- 
gefährten; Achtung  und  Liebe  verband  die  Beiden  aufs  innigste 
mit  einander.  Das  Vorbild  von  St.  Schultz  bestimmte  den  jüngeren 
Genossen  in  seiner  Thätigkeit,  von  ihm  lernte  er  und  dies  in 
solchem  Maasse,  dass  man  oft  den  einen  von  dem  andern  in  der 
Weise  des  Wirkens  nicht  unterscheiden  kann.  Woltersdorfs 
Zeugniss  aber  prägte  sich  in  das  Herz  vieler  Juden  tief  ein,  und 


—     326     — 

sie  lernten  an  ihm  die  Macht  einer  christlichen  Persönlichkeit 
empfinden,  an  welche  man  nicht  das  Recht  habe,  das  Maass  der 
Jahre  anzulegen. 

Katholische  Geistliche  insbesondere  mussten  wiederholt  vor 
den  treffenden  Antworten  des  jungen  evangelischen  Missionars 
verstummen  oder  ihr  Heil  in  der  Flucht  vor  ihm  suchen.  Als 
er  mit  St.  Schultz  in  die  Kuppel  der  Peterskirche  in  Rom  hinauf- 
gestiegen war  und  von  dort  oben  herabblickte,  fühlte  er  sein 
evangelisches  Bewusstsein  so  lebendig  in  sich  erwachen,  dass 
er  auf  dem  höchsten  Punkte  des  grossen  Domes  der  päpstlichen 
Kirche  aus  voller  Brust  das  Lutherlied  „Ein'  feste  Burg  ist  unser 
Gott"  anstimmte,  in  das  St.  Schultz  kräftig  mit  einfiel. 

Seiner  Arbeit  wurde  ein  unerwartes  Ende  gesetzt.  Bei  der 
Besteigung  der  Pyramiden  in  Aegypten  hatte  er  sich  einen  Bein- 
schaden zugezogen ,  der  sich  schnell  verschlimmerte.  Die  Aerzte 
von  Cairo,  Aleppo,  Jerusalem  und  St.  Jean  d'Acre  versuchten 
vergeblich  an  ihm  ihre  beste  Kunst.  Nach  jedem  Marsche  zu 
Fuss  oder  zu  Kameel  brach  er  halbtodt  zusammen;  pfundweise 
wurde  ihm  der  Eiter  herausgenommen,  aber  Besserung  stellte 
sich  nicht  ein.  Schultz  pflegte  ihn  4  Monate  hindurch  in  St.  Jean 
d'Acre  mit  der  zärtlichsten  Sorgfalt  und  unterzog  sich  den  ekel- 
haftesten Arbeiten,  die  kein  Dienstbote  mehr  verrichten  wollte, 
für  ihn.  Glücklicherweise  aber  hatten  die  beiden  Missionare 
liebevolle  Aufnahme  in  dem  Hause  des  englischen  Consuls  Usgate 
gefunden,  dessen  Gemahlin  eine  gläubige,  vortreffliche  Proselytin 
aus  dem  Judenthum  war. 

Am  12.  August  1756  erfolgte  die  Auflösung  des  Kranken, 
der  nur  ein  Alter  von  25  Jahren  erreicht  hat.  Woltersdorf  hatte 
mit  eigenen  Gefühlen  und  mit  dem  Gebet,  dass  er  gewürdigt 
werden  möge,  dem  armen  Heilande  in  seinen  Fusstapfen  nach- 
zufolgen, den  asiatischen  Boden  betreten.  Das  Gebet  ist  erhört 
worden.  Er  hat  seinen  Herrn  lebendig  durch  Leiden  bezeugt. 
Die  Nähe  Christi  und  der  heilige  Friede  der  Ewigkeit  erfüllten 
ihn  in  seiner  Krankheit  so  mächtig,  dass  der  ihn  pflegende 
Maronit  Hanna  Me riech  hierdurch  ganz  überwältigt  wurde.  Die 
Kunde  von  diesem  geduldigen  Kranken  drang  zu  den  Ohren  vieler. 
Juden,  Muhammedaner  und  Christen  kamen,  um  es  selbst  mit 
Augen  anzusehen,  wie  dieser  junge  Mann  sterbend  die  Wahrheit 
des  Evangeliums  bezeugte.  Und  wenn  dieselben  nun  zu  ihm 
kamen,  that  sich  sein  Mund  voll  Freudigkeit  auf,  um  ihnen  den 


—     327     — 

Herrn  zu  verkünden,  dessen  friedebringende  Gegenwart  ihm  so 
gewiss  war.  Das  Zeugniss,  welches  er  auf  diese  Weise  that, 
wurde  denn  auch  für  viele  Juden  und  Muhammedaner  zur  herz- 
andringlichsten  Predigt.  Als  er  die  Besinnung  verlor,  rief  er  noch 
einige  Male  in  arabischer  Sprache  aus:  „Ich  bin  dein  Knecht  1" 
und  so  verschied  er. 

An  seinem  Begräbnisse  betheiligte  sich  selbst  der  griechische 
Weihbischof  mit  seiner  Geistlichkeit.  Der  englische  Consul  und 
seine  Gattin  setzten  ihm  als  Denkmal  einen  Marmorstein,  welcher 
den  Namen,  Geburtsort  und  das  Sterbedatum  des  Heimgegangenen 
enthielt.  Ein  Testament  aber  in  Versen,  welches  er  vor  seiner 
Reise  in  den  Orient  aufgesetzt  hatte,  ist  ein  anderes  Denkmal 
von  dem  Leben  in  Gott,  das  dieser  junge  Mann  stets  geführt 
hat.  Er  ist  eine  der  anziehendsten  Erscheinungen  auf  dem  ganzen 
Gebiete  der  Judenmission. 

Allen  seinen  Sendboten  wandte  Callenberg  treue  Sorge  zu. 
Er  forderte  von  ihnen  viel,  aber  das  war  für  die  Sache  nur  gut. 
Treulich  wachte  er  über  ihrem  geistlichen  Leben  und  hielt  z.  B. 
mit  ihnen,  wenn  sie  sich  in  Halle  aufhielten,  regelmässige  Gebets- 
konferenzen ab.  Ebenso  war  er  darauf  bedacht,  dass  sie  Zeit 
zu  innerer  Sammlung  und  Stärkung  fanden,  und  wollte  besonders, 
dass  sie  hierzu  die  Zeit  ihrer  Einkehr  in  Halle  benützten. 

Die  Schriften  des  Institutum  wurden  theils  durch  die  Mis- 
sionare, theils  durch  andere  Christen  in  den  verschiedensten 
Ländern  unter  Christen  und  Juden  verbreitet.  Den  Callenberg'- 
schen  Berichten  zufolge  sind  seit  1731  noch  eine  ganze  Reihe 
von  Schriften  im  Institutum  erschienen.  Ein  Verzeichniss  derselben 
steht  im  Anhange  zur  Fortsetzung  13  der  Berichte,  im  Anhange 
des  6.  Stücks  der  Relationen  und  im  Anhange  zu  der  Nachricht 
über  das  muhammedanische  Institut. 

Früher  bereits  ist  erwähnt  worden,  nach  welchem  Plane 
Callenberg's  diese  Literatur  des  Institutum  entstand.  Eine  Anzahl 
der  von  demselben  herausgegebenen  Schriften  ist  nun  schon 
genannt  worden;  jetzt  sind  noch  hervorzuheben: 

In  Jüdisch-deutsch:  Freylinghausen,  von  der  wahren 
Kindschaft  Abrahams,  die  Augsburgische  Konfession  mit  Anmer- 
kungen, die  von  D.  Zeltner  verfasste  Schrift  „Lehrer  der 
Erkenntniss",  die  Widmann  jüdisch- deutsch  übersetzt  hat,  aber 
auch  hochdeutsch  erschienen  ist,  und  der  Juden -Katechismus 
von  Calvoer,  von  dem  auch  einzelne  Stücke  erschienen. 


—     3=8     — 

Sodann  die  hebräische  Uebersetzung  des  Hebräer-Briefes 
von  Fr.  Alb.  Christiani. 

Kurze  Anleitung  zum  Jüdisch- deutschen  und  ein  jüdisch- 
deutsches Wörterbuch.  Für  Kinder:  „Thor  der  Hoffnung",  Sprüche 
auf  den  Messias  bezüglich. 

Hugo  Grotius,  von  der  göttlichen  Autorität  des  Neuen 
Testamentes  für  die  orientalischen  Juden  und  ebenso  ein  Stück 
aus  seinem  Werke:  „Von  der  Wahrheit  der  christlichen  Religion", 
arabisch. 

Von  Callenberg  selbst:  ein  lateinischer  Brief  an  einen 
Engländer  über  das  Institutum.  Jesaia  53  übersetzt  und  mit  An- 
merkungen. Gregorius  Magnus,  über  die  Bekehrung  der  Juden 
zu  Christo.  Stellen  verschiedener  Skribenten,  die  Bekehrung  der 
Juden  betreffend  (Schadaeus,  Spener).  Jüdische  Zeugnisse,  welche 
die  christliche  Auslegung  der  vom  Messias  handelnden  Weissagun- 
gen des  Alten  Testamentes  bestätigen.  Nachlese,  die  Begeben- 
heiten des  Institutum  betreffend.  Schreiben  eines  verstorbenen 
Proselyten  über  seine  Bekehrung  an  seinen  Gerichtsherrn. 

Nach  einander  erschienen  die  sämmtlichen  Schriften  des 
Neuen  und  Alten  Testamentes  jüdisch-deutsch,  im  Neuen  Testa- 
mente zum  Theil  nach  der  Uebersetzung  Frommanns,  zum  Theil 
nach  Molter,  im  Alten  Testamente  nach  Luthers  Uebersetzung, 
wobei  die  Verbesserungen  des  Lange'schen  Bibelwerkes  berück- 
sichtigt sind. 

Frommanns  hebräische  Uebersetzung  zunächst  der  ersten 
und  alsdann  auch  der  zweiten  Hälfte  des  Evangelium  Lukas  mit 
rabbinischen  Anmerkungen  und  ebenso  eine  Ausgabe  ohne  An- 
merkungen. Frommann,  der  Jude  im  Herzen  oder  geistlich 
gesinnte  Jude.  Von  Frommann  stammt  überhaupt  eine  ganze 
Reihe  zum  Theil  vortrefflicher  jüdisch-deutscher  Schriften.  In  den 
Anfängen  Roms  tritt  er  der  jüdischen  Darstellung  der  Geschichte 
Roms  gegenüber  und  ebenso  Hess  er  eine  Widerlegung  der 
jüdischen  Fabeln  vom  Kaiser  Titus  erscheinen.  Ferner:  Von  der 
in  Rom  ursprünglich  geschehenen  Annahme  des  Messias.  Wie 
man  durch  den  Glauben  gerecht  wird.  Entdeckung  des  skandalösen 
Lebens  einiger  Hauptlehrer  des  verfallenen  Judenthums.  Dass 
ein  Gott  sei.  Wie  unverschämt  sich  oft  die  Rabbiner  eine  Gott 
allein  zukommende  Autorität  anmaassen.  Ueber  die  Abgötterei, 
zur  Abwehr  der  jüdischen  Behauptung,  dass  die  christliche  Lehre 
Abgötterei  einführe.     Vom   Endzweck    des   mosaischen  Gesetzes. 


—     329     — 

Dass  der  Messias  am  jüngsten  Tage  der  oberste  Richter  sein 
werde.  Dass  Gott  eine  genaue  Erfüllung  des  Gesetzes  fordere. 
Was  das  Ebenbild  Gottes  im  Menschen  gewesen  sei.  Vom  falschen 
Vertrauen  auf  die  äusserliche  Beschneidung. 

Heinrich  Horche,  Praeco  salutis  oder  Prediger  des  Heils, 
hebräisch.  Ebenso  hebräisch:  Der  suchende  Messias,  eine  Schrift, 
die  einen  Prälaten  zum  Verfasser  hat,  von  welchem  auch  stammt : 
Jesus  der  Messias  nach  der  Uebereinstimmung  von  Matthäus  und 
den  Propheten. 

Johann  Arndt 's  Erklärung  von  Lukas  24,  13 — 35  jüdisch- 
deutsch.    Theile  von  Bunyan's  Pilgerreise  deutsch. 

Callenberg's  Mission  war  selbst  vorurtheilsfrei  genug,  eine 
Schrift  des  katholischen  Bischofs  Adolf  von  Raab:  Der  Zeuge 
und  Lehrer,  weil  dieselbe  die  allgemeine  christliche  Wahrheit 
trefflich  aussprach,  besonders  unter  den  polnischen  Juden  zu 
verbreiten. 

So  ist  also  die  Schrift  beider  Testamente  im  Ganzen  wie 
in  einzelnen  Büchern  vom  Institutum  besonders  in  jüdisch-deutscher 
Sprache  verbreitet  worden;  unter  den  orientalischen  Juden  aber 
auch  Theile  derselben  in  türkischer,  arabischer,  syrischer  und 
persischer  und  Theile  des  Neuen  Testamentes  in  hebräischer 
Sprache.  Mit  ganz  richtigem  Blick  hatte  es  Callenberg  erkannt, 
dass  es  vor  allem  darauf  ankäme,  den  Juden  die  Heilige  Schrift 
in  die  Hände  zu  legen.  Denn  das  Alte  Testament  war  vom 
Talmud  unter  ihnen  fast  verdrängt,  lasen  doch  die  Juden  dasselbe 
gewöhnlich  nur  als  Kinder,  um  sich  dann  zur  Mischna  und 
Gemara  zu  wenden;  und  das  Neue  Testament  war  unter  ihnen 
so  gut  wie  gar  nicht  gekannt. 

Durch  Selbständigkeit  zeichnen  sich  die  Schriften  Frommann's 
aus,  die  theils  gegen  die  Fabeln,  Thorheiten  und  die  Selbstüber- 
hebung des  rabbinischen  Judenthums  gerichtet  sind,  theils  sich 
bemühen,  den  Herzen  der  Juden  den  heiligen  Ernst  Gottes  fühl- 
bar zu  machen.  Und  ebenso  war  es  zu  loben,  dass  die  Arbeiten 
älterer  und  neuerer  Theologen,  wie  des  Gregorius  Magnus,  Hugo 
Grotius,  Arndt,  Bunyan,  Calvör,  Adolf  und  Freylinghausen  verwerthet 
wurden.  Die  Auflagen  der  Callenberg'schen  Missionsschriften 
zählten  der  Regel  nach  2000  Exemplare,  oft  aber  auch  noch  mehr. 

Bedenkt  man  übrigens,  dass  alle  diese  Schriften  in  einem 
Zeitraum  von  etwa  30  Jahren  erschienen  sind,  und  dass  die 
Mittel  des  Institutum  doch  verhältnissmässig   geringe   waren,    so 


—     330     — 

wird  man  nicht  anders  sagen  können,  als  dass  in  jenem  früheren 
Zeiträume  die  Anstalt  auch  literarisch  sehr  rührig  war  und  mit 
aller  Anspannung  der  Kräfte  arbeitete.  Ebenso  wird  anerkannt 
werden  müssen,  dass  die  vom  Institutum  ausgegebenen  Schriften 
wohl  geeignet  waren,  unter  den  Juden  jener  Zeit  ihren  Missions- 
zweck auszurichten.  Jüdisch-deutsch  war  die  Sprache,  welche  die 
Juden  Deutschlands ,  des  ganzen  mittleren  und  Ost-Europas  ver- 
standen. Sie  musste  gewählt  werden,  wenn  ein  nachhaltiges 
Werk  unter  ihnen  geschehen  sollte. 

War  also  Callenberg  gleich  selbst  literarisch  durchaus  nicht 
schöpferisch,  so  hat  er  doch  der  literarischen  Produktion  des 
Institutum  die  Wege  gewiesen,  sie  angeregt  und  darauf  gehalten, 
dass  sie  den  Bedürfnissen  der  Zeit  angepasst  würde.  Die  Schriften 
dieser  Mission  konnten  ihren  Lesern  denn  auch  sowohl  zur  Gewis- 
sensmahnung als  zur  Erkenntnissförderung  in  hinreichendem  Maasse 
dienen.  Sie  suchten  die  Juden  jener  Zeit  in  der  ihnen  bekannten 
und  von  ihnen  eingenommenen  Geisteswelt  auf  und  waren  bemüht, 
sie  von  dort  aus  auf  das  Evangelium  hinzuweisen. 

Von  Wichtigkeit  waren  sodann  die  Mittheilungen,  die 
Callenberg  in  den  schon  mehrfach  erwähnten  Berichten,  Relationen 
und  ihren  Fortsetzungen  über  die  Weiterentwicklung  des  von  ihm 
ins  Leben  gerufenen  Werkes  gab.  Dieselben  erschienen  gewöhnlich 
in  einer  Auflage  von  2000  Exemplaren,  ein  Beweis,  dass  ihre 
Mittheilungen  immerhin  eine  für  jene  Zeit,  die  nicht  so  viel  und 
allgemein  las,  beachtenswerthe  Theilnahme  fanden.  Stücke  aus 
diesen  Berichten  wurden  ins  Englische,  in  Ostindien  auch  ins 
Holländische  und  Portugiesische  übersetzt,  um  unter  den  dortigen 
Juden  verbreitet  zu  werden. 

Die  Einnahmen  des  Institutum  erreichten  in  diesem  Zeit- 
räume ihre  höchste  Höhe.  Gaben  kamen  aus  der  gesammten 
evangelischen  Christenheit  ein,  selbst  aus  Sibirien  wurden  solche 
wiederholt  nach  Halle  gesandt.  Mehrfach  wurden  Collekten  für  das 
Institutum  veranstaltet  und  Legate  für  dasselbe  ausgesetzt,  ein  Kreis 
von  Handwerksburschen  in  Berlin  hielt  sonntägliche  Erbauungs- 
stunden zur  Förderung  der  Callenberg'schen  Mission  ab,  und 
Aehnliches  wird  mehrfach  vermeldet. 

Dennoch  hat  das  Institutum  nur  über  sehr  bescheidene 
Summen  zu  verfügen  gehabt.  So  weit  die  Jahreseinnahmen  fest- 
zustellen sind,  betrugen  sie  z.  B.  1734  und  1735  etwa  4100  Mark, 
1745   2600  Mark,  also,  wenn  auch  der  Werth  des  Geldes  damals 


—     33i     — 

ein  viel  höherer  war,  durchaus  unbedeutende  Summen.  Aber 
desto  grössere  Bewunderung  verdient  es,  wenn  man  sieht,  was 
bei  diesen  beschränkten  Mitteln  ausgerichtet  worden  ist.  Das 
Haushalten  und  die  beste  Verwerthung  dessen,  was  ihm  in  die 
Hände  gelegt  worden  war,  verstand  Callenberg  in  ausserordent- 
lichem Maasse.  Es  ist  ja  fast  unglaublich  und  gewiss  sonst  noch  nie 
wieder  erreicht  worden,  dass  der  Jahresaufwand  für  einen  Missionar 
nie  350  Mark  überstieg.  Die  Kosten  der  Erhaltung  eines  Mis- 
sionars berechnete  auch  Schultz  später  auf  „nicht  unter  100 
Thalern",  und  findet  es  nöthig,  hinzuzufügen,  dass  diese  300  Mark 
„bei  ihren  mühsamen  Reisen  und  der  jetzigen  durchgängigen 
Theuerung"  schon  aufgewandt  werden  müssten.  Hätte  Callenberg 
eben  so  viel  Muth  zum  Vorwärtsgehen  als  Treue  in  der  Benützung 
des  Gegebenen  gezeigt,  dann  würde  der  Einfluss  des  Institutum 
für  Juden  und  Christen  noch  weit  fühlbarer  geworden  sein,  als 
es  thatsächlich  schon  der  Fall  war. 

1745  konnte  von  den  Ersparnissen  des  Institutum  für  das- 
selbe in  Halle  ein  Haus  angekauft  werden,  und  dies  geschah 
für  den  Preis  von  3450  Mark.  In  demselben  befanden  sich  dann 
die  Anstaltsbuchdruckerei,  die  Bibliothek  und  einzelne  Zimmer 
für  die  Missionare  während  der  Zeit  ihres  Aufenthaltes  in  Halle. 
Die  Bibliothek  erhielt  aus  den  verschiedensten  Ländern  Schriften 
zugesandt,  welche  für  das  Institutum  und  seine  Mitarbeiter  von 
Interesse  sein  mussten,  und  gelangte  allmählich  in  den  Besitz 
einer  stattlichen  Zahl  von  Büchern  der  hier  einschlagenden 
Literatur.  Callenberg  war  auch  im  Stande,  ein  Bauerngut  in 
Lettin  bei  Halle  zu  kaufen,  das  jedoch  durch  den  Krieg  und 
durch  Viehseuchen  sehr  litt,  so  dass  es  beim  Ableben  des  Pro- 
fessors nur  eine  Pacht  von  300  Mark  brachte.  Diese  Pachtsumme 
und  die  150  Mark  des  Degenfeld'schen  Kapitals  bildeten  die 
einzige  feste  Einnahme  des  Institutum. 

Die  Fürsorge  für  die  Katechumenen  und  die  Pflege  der 
Proselyten  wurde  auch  weiter  vom  Institutum  nicht  aus  den 
Augen  gelassen.  Stets  war  die  Anstalt  bemüht,  Juden,  die  den 
empfangenen  Eindrücken  folgend,  weitere  Belehrung  über  das 
Christenthum  oder  den  Taufunterricht  bei  ihr  erbaten,  hierzu 
behülflich  zu  sein;  und  es  gelang  auch  Callenberg  immer  wieder, 
Städte  und  Kirchenkollegien  zu  finden,  welche  die  geistliche  und 
leibliche  Versorgung  von  Katechumenen  bis  zu  ihrer  Taufe  über- 
nahmen. Ebenso  aber  hielt  er  darauf,  dass  man  diese  Personen  dann 


—     332     — 

auch  in  irgend  einen  Lebensberuf,  zu  dem  sie  taugten,  einführte. 
An  das  Studium  wurde  fast  gar  nicht  für  sie  gedacht,  sondern 
man  wollte,  dass  sich  die  Bekehrten  auf  eine  einfache  Weise  ihr 
Brot  erwerben  lernten. 

Ueberhaupt  hat  man  in  der  Behandlung  der  Katechumenen 
sehr  gesunde  Grundsätze  verfolgt.  Ein  Aufsatz  „Von  Besorgung 
der  Katechumenen"  in  Fortsetzung  10,  52  ff.  der  Nachrichten 
spricht  sich  über  diesen  Punkt  des  Näheren  aus.  Hier  erklärt 
Callenberg,  dass  keinem,  welcher  Unterricht  begehre,  derselbe 
abzuschlagen,  dann  aber  auf  gründliche  Bekehrung  zu  dringen 
sei.  Heuchelei  und  Abfall  dürften  nicht  an  der  Verbindlichkeit 
gegen  andere  irre  machen,  üble  Nachrede  scheue  man  nicht. 
Den  Katechumenen  werde  das  Notwendigste  verabreicht,  aber 
nicht  mehr,  damit  alles,  was  zum  Uebertritt  locken  und  reizen 
könne,  vermieden  werde.  Man  gehe  auch  nicht  alsbald  zu  weit 
im  Vertrauen  gegen  solche  Personen,  sondern  sei  sehr  vorsichtig. 
Jeder  Katechumene  müsse  sogleich  in  eine  Profession  eingeführt 
werden  und  dürfe  nicht  eher  die  Taufe  erlangen,  als  bis  er  sich 
hier  treu  und  fleissig  bewiesen  habe.  Das  Pathengeld  gebe  man 
dem  Täufling  nicht  in  die  Hände,  sondern  lege  es  für  ihn  an. 
Keinem  Proselyten  gebe  man  einen  Taufschein  oder  Empfehlungs- 
brief, damit  er  nicht  auf  Grund  desselben  betteln  gehe.  An  Orte, 
wo  man  für  einen  Katechumenen  Aufnahme  gefunden  habe, 
sende  man  nicht  sobald  einen  anderen,  sondern  suche  andere 
Städte  dafür  zu  gewinnen ,  dass  sie  einem  solchen  den  Unterhalt 
gewährten;  selbstverständlich  aber  falle  dem  Ortsgeistlichen  der 
Unterricht    und    die    hauptsächliche    Pflege    dieser    Personen    zu. 

Nach  wie  vor  wurden  sodann  an  den  Orten,  welche  die 
Missionare  bereisten,  die  dort  wohnhaften  Proselyten  von  den- 
selben besucht,  und  das  haben  ihnen  die  meisten  von  ihnen 
herzlich  gedankt.  Die  Arbeiter  des  Institutum  redeten  dabei 
den  Christen  vielfach  dafür  ernst  ins  Gewissen,  dass  sie  die 
Proselyten  in  ihrer  Umgebung  nur  zu  oft  vernachlässigten  oder 
verkümmern  liessen,  oder  dass  man  denselben  wohl  gar  ihr  früheres 
Judenthum  fort  und  fort  vorwürfe. 

Viele  Proselyten  erkannten  das  Verdienst  des  Institutum  an 
und  erwiesen  demselben  herzliche  Theilnahme.  So  mancher  der- 
selben unterstützte  die  Anstalt  durch  Geldbeiträge;  andere 
wünschten,  dass  ihre  Söhne  derselben  dienen  möchten,  sie  gingen 
Callenbere  in  ernsten  Fällen  um  seine  Vermittlung  an  und  holten 


—     333     — 

sich  in  ihren  Gewissensnöthen  bei  ihm  Rath.  Der  Professor  er- 
hielt z.  B.  einmal  von  einem  Proselyten  240  Thaler,  damit  er 
dieselben  einem  Manne  zurückgäbe,  den  der  Absender  früher 
übervortheilt  hatte. 

Es  that  den  Proselyten  überaus  wohl,  dass  sie  nunmehr  der 
Gegenstand  der  Sorge  und  liebenden  Aufmerksamkeit  eines 
ganzen  Instituts  geworden  waren.  So  mancher  unter  ihnen  hat 
sein  Herz  den  Missionaren  ausgeschüttet  und  hat  in  seinem  geist- 
lichen Leben  einen  neuen  Aufschwung  genommen,  nachdem  er 
mit  den  Halle'schen  Sendboten  zusammengetroffen  war;  so  mancher 
hat  danach  bösen  Gewohnheiten  entsagt  und  es  wieder  gelernt, 
sich  treuer  an  Gottes  Wort  zu  halten.  Uebrigens  aber  versichert 
Callenberg,  dass  obwohl  er  manchen  Proselyten  kenne,  der  nicht 
lebe,  wie  er  solle,  doch  nur  verschwindend  selten  der  Fall  vor- 
gekommen sei,  dass  Proselyten  wieder  zum  Judenthum  zurück- 
gekehrt wären;  ihm  selbst  und  seinen  Missionaren  sei  überhaupt 
ein  sicherer  Fall  dieser  Art  nicht  begegnet,  und  beide  kannten 
doch  die  Verhältnisse  in  besonderem  Maasse. 

In  etwas  besserte  sich  auch  die  Lage  mancher  Proselyten. 
Aber  freilich  eine  verhältnissmässig  bedeutende  Zahl  und  besonders 
unter  denen,  welche  sich  um  ihres  vorgerückteren  Alters  oder 
um  ihres  bisherigen  Lebensganges  willen  nicht  mehr  recht  in 
einen  neuen  Lebensberuf  schickten,  suchte  sich  von  Betteln  zu 
ernähren. 

Die  Sache  hat  Callenberg  und  seine  Freunde  sowohl  unter 
den  Christen  als  unter  den  Proselyten  vielfach  beschäftigt,  aber 
Callenbergs  Zaghaftigkeit,  welche  ihn  ein  entschiedenes  Hervor- 
treten immer  gern  vermeiden  Hess ,  hat  es  verhindert ,  dass  er 
für  diesen  wichtigen  Zweig  der  Judenmission  etwas  Erhebliches 
geleistet  hat. 

Doch  würde  es  ungerecht  sein,  wenn  man  die  erste  Schuld 
in  diesem  Stücke  auf  ihn  würfe;  denn  die  christliche  Gemeinde 
und  die  Kirche  überhaupt  wollten  sich  nicht  recht  aufraffen,  um  dem 
alt  eingefressenen  Uebel  zu  steuern.  Callenberg  hätte  nur  nachdrück- 
licher und  lauter  in  der  Oeftentlichkeit  sein  Zeugniss  gegen  diesen 
Schaden  erheben  sollen.  Das  ganze  Elend  des  Proselytenwesens  war 
ihm  ja  wohl  genug  bekannt.  Er  klagt  im  Jahre  1746  über  dasselbe. 
Die  Einrichtung,  welche  er  getroffen  hatte,  getaufte  Juden,  die 
Halle  durchreisten,  für  kurze  Zeit  daselbst  zu  behalten,  um  sie 
dort    geistlich    zu    stärken    und    sie   womöglich    in    einen    festen 


-      334     — 

Lebensberuf  einzuführen,  hatte  sich  nicht  bewährt.  Schaaren  von 
Proselyten  waren  auf  die  Nachricht  von  Callenbergs  Fürsorge 
für  sie  nach  Halle  gekommen,  die  aber  nur  die  Liebesgaben  des 
Institutum  in  Empfang  nahmen  und  dann  die  Stadt  durchbettelten. 
Als  daher  der  die  Proselyten  unterrichtende  Candidat  Leichner 
1745  starb,  und  viele  Beschwerden  der  Halle'schen  Einwohner 
gegen  den  Proselytenbettel  einliefen,  wurden  von  der  Stadt 
scharfe  Maassregeln  gegen  denselben  ergriffen,  und  Callenberg 
liess  die  frühere  Einrichtung  fallen. 

k.  Wirkungen  der  Halle'schen  Mission  in  diesem 
Zeiträume. 

Die  Bedeutung  dessen,  dass  jetzt  aus  der  evangelischen 
Kirche  her  eine  eigentliche  Mission  unter  den  Juden  getrieben 
wurde,  empfanden  die  letzteren  selbst  und  auch  viele  Christen 
aus  den  anderen  Kirchen  wohl.  Die  Juden  sahen  sich  damit 
lebendig  vor  die  Thatsache  gestellt,  dass  sie  von  der  evangelischen 
Kirche  aufgesucht  wurden  und  dass  man  sie  für  das  Christenthum 
ernstlich  in  Anspruch  nahm.  Was  auch  bisher  geschehen  war, 
um  da  und  dort  einzelne  Juden  mit  dem  Evangelium  zu  erreichen, 
hatte  doch  auf  sie  nicht  den  Eindruck  gemacht,  dass  es  mit  dem 
Gedanken  ein  wirklicher  Ernst  wäre,  sie  für  das  Christenthum 
zu  gewinnen.  Die  überall  unter  ihnen  umherziehenden,  sie  in  so 
verschiedenen  Ländern  aufsuchenden,  ja  ihnen  oft  eigentlich  auf 
Schritt  und  Tritt  nachgehenden  Missionare  dagegen  brachten  es 
ihnen  zum  Bewusstsein,  dass  innerhalb  der  evangelischen  Christen- 
heit die  Ueberzeugung  erwacht  sei,  die  Juden  gehörten  ganz 
ebenso  wie  die  Völker,  unter  denen  sie  wohnten,  in  die  christ- 
liche Kirche. 

Thatsächlich  gehört  es  denn  auch  zu  der  bleibenden  Bedeu- 
tung der  Halle'schen  Mission,  dass  sie  es  der  Judenschaft  weithin 
fühlbar  gemacht  hat,  innerhalb  der  evangelischen  Christenheit 
wenigstens  habe  man  das  Vertrauen  und  den  Willen  und  fühle 
man  auch  die  Kraft,  sie  dem  Christenthum  zuzuführen.  Man 
habe  hier  das  Verlangen,  mit  ihnen  innerlich  verbunden  zu  werden; 
aber  man  wisse  es  auch,  dass  dem  unter  ihnen  verkündigten 
Evangelium  es  gelingen  werde,  bei  einer  immer  grösseren  Schaar 
von  ihnen  dieses  Ziel  zu  erreichen. 

Das  Erscheinen  der  Missionare  in  ihrer  Mitte  wurde  daher 
auch  von  den  Juden  jener  Zeit  lebhaft  empfunden,  und  dieselben 


—     335     — 

sind  bei  den  Glaubensboten  durchaus  nicht  gleichgiltig  vorüber- 
gegangen; vielmehr  hat  man  jüdischerseits  bis  in  die  entlegensten 
Gegenden  hin  von  diesen  Männern  geredet.  Ihre  Bücher  theilte 
man  sich  überall  unter  einander  mit,  ja  Juden  handelten  sogar 
mit  Schriften  des  Institutum,  weil  eben  die  Nachfrage  nach  den- 
selben in  ihren  Gemeinden  eine  sehr  rege  geworden  war.  Oft 
wurden  Warnungen  vor  den  Missionaren  in  ganzen  Distrikten 
durch  die  Rabbiner  erlassen,  ihre  Bücher  wurden  des  öfteren  zer- 
rissen oder  verbrannt,  oder  der  Bann  über  sie  ausgesprochen, 
und  ebenso  der  Verkehr  mit  den  Missionaren  bei  Strafe  des 
Bannes  verboten, 

Heftige  Auftritte  gegen  die  Missionare  kamen  nicht  selten 
vor,  selbst  äusserst  tumultuarische  Scenen  ereigneten  sich,  und 
verschiedene  der  Missionare  geriethen  mehrfach  in  Lebensgefahr 
unter  den  Juden.  Die  Mission  wurde  gewissermaassen  ein  Grad- 
messer dafür,  wie  weit  bereits  in  der  grossen  Masse  der  Juden- 
schaft eine  Empfänglichkeit  für  das  Christenthum  vorhanden  war 
oder  nicht.  Dem  durch  ihre  Boten  klar  und  freundlich,  ernst 
und  eindringlich  gepredigten  Evangelium  gegenüber  trat  es  hand- 
greiflich zu  Tage,  dass  die  grosse  Masse  der  Juden  nach  ihrer 
ganzen  inneren  Verfassung  der  Heilsbotschaft  gegenüber  noch 
immer  die  gleiche  ablehnende  Haltung  einnehme  wie  früher. 

Nicht  auf  dem  geraden  Wege  des  Gehorsams  gegen  das 
ihnen  nunmehr  wirklich  gepredigte  und  bezeugte  Evangelium 
wollte  es  mit  der  grossen  jüdischen  Masse  vorwärts  kommen: 
das  hat  diese  Missionszeit  offenbart,  das  ist  auch  ein  Theii  der 
grossen  geschichtlichen  Bedeutung  derselben  innerhalb  des  Reiches 
Gottes  und  innerhalb  der  Geschichte  der  nachchristlichen  Juden. 
Die  Zeit  war  für  sie  noch  nicht  erfüllt,  dies  trat  jetzt  klar  zu 
Tage,  sondern  es  musste  noch  ein  anderes  hinzukommen,  um 
sie  in  ihrer  Stellung  völlig  zu  erschüttern.  Diese  Missionsperiode 
sollte  nicht  die  letzte  für  das  Christo  widerstrebende  Israel  sein, 
sondern  einer  anderen  die  Wege  bereiten ,  die  zunächst  freilich 
das  Ziel  der  Bekehrung  Israels  ferner  denn  je  rücken  zu  wollen 
schien. 

Doch  zeigte  es  sich  jetzt  gerade  auch,  wo  ein  so  bedeutender 
Theil  der  Judenschaft  von  dem  lebendigen,  dem  einzelnen  persön- 
lich entgegengebrachten  christlichen  Zeugnisse  erreicht  wurde, 
dass  es  höchst  ungerecht  wäre,  an  den  Juden  verzagen  zu  wollen. 
Die  Möglichkeit  einer  Bekehrung   der  Juden   hat  vielmehr   diese 


—     336     — 

Missionszeit  als  unumstössliche  Thatsache  zu  Tage  gebracht,  und 
das  ist  die  andere  Bedeutung  und  der  andere  Gewinn  derselben. 

Empfänglichkeit  für  das  Evangelium  trat  überall  unter  den 
Juden,  sowohl  unter  denen  Europas,  als  unter  denen  Afrikas  und 
Asiens  den  Halle'schen  Missionaren  entgegen,  wenngleich  sich 
dieselbe  in  sehr  verschiedenem  Grade  und  in  mannigfachen  Ab- 
stufungen zeigte.  Mit  jener  Kälte  und  Gleichgiltigkeit,  welche 
gar  nicht  einmal  den  Stachel  des  Evangeliums  empfindet,  hatten 
die  Missionare  verhältnissmässig  selten  zu  thun.  Kalte  Gleich- 
giltigkeit war  so  wenig  als  rauhe,  trotzige  oder  fanatische  Ab- 
weisung die  Regel  für  die  Art  und  Weise,  wie  die  Missionare 
unter  den  Juden  aufgenommen  wurden.  Im  Allgemeinen  konnten 
sie  darauf  rechnen,  dass  man  auf  die  Fragen  einging,  welche  sie 
den  Gemüthern  nahe  brachten. 

Die  grösste  Zahl  der  Juden,  mit  welchen  es  die  Glaubens- 
boten des  Institutum  zu  thun  hatten,  behandelte  also  dieselben 
nicht  als  Eindringlinge  und  wies  sie  nicht  von  vornherein  ab, 
als  hätten  sie  kein  Recht,  sich  um  ihren  Herzenszustand  und  um 
ihr  religiöses  Denken  und  Streben  zu  bekümmern.  Auch  das 
Gefühl,  dass  die  christliche  Religion  tief  unter  der  jüdischen,  und 
die  Christen  selbst  tief  unter  den  Juden  stünden,  so  dass  die 
letzteren  für  die  ersteren  unnahbar  seien,  milderte  sich  da  überall 
unter  den  Juden  ungemein,  wo  die  Halle'schen  Missionare  öfter 
ihre  Wirksamkeit  entfalteten.  Denn  die  Juden  konnten  sich  dort 
dem  Eindrucke  dessen  nicht  entziehen,  dass  diese  christlichen 
Prediger  mit  ihnen  auf  der  gleichen  Grundlage  des  Alten  Testa- 
mentes standen  und  dass  sie  mit  besonderem  Eifer  für  dasselbe 
kämpften.  Dass  die  christliche  Religion,  dass  zumal  der  evangelische 
Glaube  sich  am  Alten  Testamente  nährte ,  und  dass  also  von 
Hause  aus  zwischen  dem  Glauben  der  Christen  und  dem  der 
Juden  eine  Verwandtschaft  bestünde,  lernten  grosse  Schaaren  von 
Juden  eigentlich  erst  durch  die  lebendige  Berührung  mit  den 
Halle'schen  Missionaren  erkennen.  Das  Vorurtheil,  dass  Christen- 
thum  nur  eine  Art  des  Heidenthums  oder  der  Vielgötterei  sei, 
schwand  bei  vielen  Juden,  welche  mit  den  Arbeitern  des  Insti- 
tutum verkehrt  hatten.  Die  Möglichkeit  einer  Verständigung 
zwischen  den  getrennten  Religionsbekenntnissen,  welche  vordem 
den  allermeisten  Juden  gar  nicht  einmal  in  den  Sinn  gekommen 
war,  erschien  jetzt  sehr  vielen  unter  ihnen  nicht  mehr  als  ein 
ungeheuerlicher  Gedanke. 


—     337     — 

Besonders  aber  machten  es  die  Missionare  den  Juden  weit- 
hin wieder  fühlbar,  dass  nur  dann,  wenn  ihre  Religion  die  Prüfung 
des  Alten  Testamentes  ertrage,  dieselbe  einen  Anspruch  auf 
Wahrheit  erheben  könne.  Mit  den  Talmudwaffen  konnten  die 
Juden  gegen  die  Missionare  nichts  ausrichten,  und  ebenso  gaben 
sich  auch  die  Halle'schen  Arbeiter  nur  sehr  wenig  die  Mühe, 
den  Juden  die  Richtigkeit  der  christlichen  Glaubensanschauungen 
aus  dem  Talmud  zu  beweisen.  Nur  nebenbei  machten  sie  von 
der  talmudischen  und  rabbinischen  Literatur,  obwohl  einige  der 
Missionare  dieselbe  sehr  wohl  kannten,  Gebrauch.  Sie  hielten 
grundsätzlich  daran  fest,  dass,  wenn  den  Juden  geholfen  werden 
solle,  sie  vom  Talmud  auf  den  Boden  des  Alten  Testamentes 
zurückgeführt  werden  müssten. 

Zu  den  bedeutendsten  Erfolgen  der  Wirksamkeit  dieser 
Missionare  gehört  es  denn  auch,  dass  durch  dieselben  vielen 
Juden  die  Augen  über  die  Unsicherheit  des  Fundamentes,  auf 
dem  ihr  Glaube  ruhe,  geöffnet  wurde.  Die  Voraussetzung,  dass 
die  Rabbinen  im  Namen  des  Moses  und  der  Propheten  und  im 
Namen  Jehovahs  selber  zu  ihnen  geredet  hätten,  und  dass  die 
Lehre  ihrer  Autoritäten  auf  dem  alten  biblischen  Grunde  ruhe, 
wurde  bei  vielen  erschüttert.  Fiel  auch  die  allergrösste  Zahl  der 
Juden,  welche  die  Missionare  gehört  hatten,  denselben  keineswegs 
zu,  und  waren  gleich  die  allermeisten  durchaus  nicht  geneigt, 
das  anzunehmen,  was  diese  ihnen  Positives  boten,  so  kam  doch 
jetzt  der  Glaube  vieler  Juden  sehr  ins  Schwanken,  dass  sie  die 
Autorität  des  Alten  Testamentes  für  sich  hätten  und  dass  sie 
mit  dieser  Autorität  das  Christenthum  und  seine  Ansprüche  zu 
bekämpfen  im  Stande  wären. 

Ebenso  aber  haben  erst  die  Missionare  des  Institutum  die 
Juden  in  grösserem  Maasse  mit  dem  Neuen  Testamente  bekannt 
gemacht.  Von  da  ab,  wo  dieselben  ihre  Wirksamkeit  entfalteten 
und  die  Bücher  des  Neuen  Testamentes  in  einer  ihnen  verständ- 
lichen Sprache  Jahr  aus  Jahr  ein  unter  ihnen  verbreiteten,  sehen 
wir  die  Juden  viel  mehr  Bekanntschaft  mit  dem  Inhalte  des  Neuen 
Testamentes  gewinnen  als  jemals  vorher.  Die  Missionare  machten 
davon  selbst  die  lebendigste  Erfahrung  in  ihren  Gesprächen  mit 
den  Juden.  Der  christliche  Glaube,  den  die  Juden  nur  aus  den 
Entstellungen  der  Rabbinen  und  aus  dem  thörichten  Gerede  des 
Volksmundes  kannten,  trat  ihnen  jetzt  aus  dem  heiligen  Buche 
der  Christen  in  seiner  wirklichen  Gestalt  entgegen,  und  auch  auf 

J.  F.  A.  de  le   Roi,   Missionsbeziehungen.  22 


333     - 

diese  Weise    gewannen   nunmehr   viele   Juden    eine   ganz   andere 
Vorstellung  vom  Christenthum. 

Man  hat  die  Halle'sche  Mission  in  der  neueren  Geschichte 
der  Juden  ziemlich  übersehen,  weil  man  den  Blick  bei  Beurtheilung 
der  neueren  Entwickelung  der  Juden  nach  einer  falschen  Richtung 
hin  lenkte.  Man  sah  die  Missionare  nicht  mit  Taufen  beschäftigt 
—  dasselbe  überliessen  sie  den  ordentlichen  Geistlichen  der  be- 
stehenden Kirchen  —  und  sah  nicht  viele  angesehene  oder  gelehrte 
Juden  auf  ihr  Zeugniss  hin  zum  Christenthum  übertreten,  und  so 
war  man  schnell  mit  dem  Urtheil  der  Erfolglosigkeit  jener  Missions- 
thätiekeit  fertig.  Aber  freilich  kannte  man  auch  die  Berichte 
des  Institutum  nicht  oder  verstand  sie  nicht  zu  lesen.  Weil  die- 
selben auf  den  ersten  Blick  als  eine  blosse  Häufung  von  Kleinig- 
keiten erscheinen,  gab  man  sich  nicht  die  Mühe,  die  innere 
Tragweite  dessen,  wovon  sie  berichten,  sich  zu  vergegenwärtigen. 

Thatsächlich  steht  die  Sache  so,  dass  besonders  das  deutsche 
Judenthum  nicht  so  schnell  und  so  plötzlich  in  der  folgenden 
Periode  dem  neueren  philosophischen  Humanismus  verfallen  wäre, 
wenn  es  nicht  die  Halle'sche  Mission  ein  Vierteljahrhundert  hin- 
durch wohl  bis  in  seine  letzten  Gemeinden  und  Gemeindlein 
hinein  so  gewaltig  zu  erschüttern  geholfen  hätte. 

Die  Mission  hatte  ja  ebensowohl  die  gelehrtesten  und 
berühmtesten  Führer  der  damaligen  deutschen  Juden  als  die  ein- 
fachsten und  ungelehrtesten  unter  ihnen  aufgesucht;  und  vielfach 
hatten  die  Juden  selbst  sich  nicht  anders  zu  helfen  gewusst,  als 
dass  sie  gerade  ihre  Leiter  gegen  die  Missionare  aufboten,  um 
ihre  Sache,  welche  sie  unter  den  Angriffen  derselben  wanken 
sahen,  zu  halten  und  zu  stützen. 

Es  verhält  sich  in  der  That  so,  dass  die,  wie  wir  es  jetzt 
wissen,  am  Schlüsse  der  eigentlichen  talmudischen  und  rabbi- 
nischen  Periode  des  Judenthums  auftretende  Halle'sche  Mission 
das  Ende  derselben  und  zumal  in  Deutschland,  dem  Hauptplatz 
der  Wirksamkeit  des  Institutum,  beschleunigt  hat.  Diese  Mission 
hat  unleugbar  dazu  wesentlich  beigetragen,  die  starke  Position 
des  nachchristlichen  Judenthums  zu  erschüttern  und  so  die  neuere 
Zeit  anzubahnen,  in  welcher  sich  die  Juden  bemühen,  den  Halt, 
welchen  ihnen  das  Alte  bot,  in  unreligiösen  Stützen  anderer  Art 
zu  suchen. 

Der  bedeutendste  Erfolg  der  Wirksamkeit  des  Institutum 
besteht    also    darin,    dass    es    wesentlich    mitgewirkt    hat,    das 


—     339     — 

Ende  der  talmudischen  und  rabbinischen  Periode  des  Judenthums 
zu  beschleunigen,  und  dass  es  einer  anderen  Beurtheilung  des 
Christenthums  inmitten  der  Juden  die  Wege  gebahnt  hat. 

Aber  daneben  treten  uns  auch  manche  beachtenswerthe 
Einwirkungen  der  Halle'schen  Missionare  auf  einzelne  Juden 
entgegen. 

Ganz  besonders  erregt  haben  sich  die  Amsterdamer  Juden 
bei  den  wiederholten  Besuchen  der  Arbeiter  des  Institutum  in 
ihrer  Stadt  gezeigt.  Die  allgemeine  Missionswirksamkeit  und  die 
der  Hallenser  insbesondere  wurden  hier  so  stark  gefühlt,  dass  im 
Jahre  1749  berichtet  werden  kann,  gegen  400  Juden  seien  in 
Amsterdam  eigentlich  mit  dem  Judenthum  zerfallen  und  dem 
Christenthum  geneigt.  Die  übrige  Judenschaft  fürchtete  daher 
die  Missionare  in  dem  Grade,  dass  sie  wiederholt  zu  Tumulten 
gegen  sie  vorschritt.  Taufen  aber  geschahen  gerade  zu  dieser 
Zeit  sehr  häufig  in  der  holländischen  Hauptstadt. 

In  Frankfurt  a.  M.  traten  zu  derselben  Zeit  nach  und  nach 
16  Glieder  aus  einer  Verwandtschaft  zum  Christenthum  über. 
Gegen  den  Missionar  Bennewitz  äusserte  im  Jahre  1746  ein 
Prediger  in  polnisch  Preussen,  dass  in  seiner  Gegend  in  der 
kurzen  Zeit,  welche  das  Institutum  bestehe,  mehr  Juden  getauft 
worden  seien,  als  sonst  wohl  in  einem  Jahrhunderte. 

Oft,  wenn  die  Missionare  und  besonders  St.  Schultz  eine 
Gegend  besucht  hatten,  trafen  danach  Berichte  in  Halle  ein, 
welche  Uebertritte  meldeten.  Nachdem  Manitius  und  Widmann 
in  Franken  gewesen  waren,  wurde  ihnen  von  dort  aus  mit- 
getheilt,  dass  sich  ein  Jude  mit  seinem  Sohne  in  Burg  Farrenbach 
habe  taufen  lassen  und  die  Tochter  eines  jüdischen  Vorsängers. 
Seine  Bekehrung  führt  der  Arzt  David  Isaak  Kahn  aus  Uhlefeld, 
hernach  Christfreund  genannt,  direkt  auf  die  Schriften  des  In- 
stitutum zurück.  Er  wurde  1739  in  Cadolzburg  mit  seinem 
ganzen  Hause  getauft,  auch  der  damals  allein  noch  zurück- 
gebliebene älteste  Sohn  folgte  später  nach.  Aus  Schwabach 
wird  nach  Anwesenheit  der  Missionare  in  jener  Gegend  gemeldet, 
dass  in  derselben  8  Juden  getauft  worden  seien  und  2  andere  im 
Unterricht  stünden.  1736  traten  nach  dem  Aufenthalte  der  Mis- 
sionare in  Posen  8  Juden  und  ein  anderes  Mal  1 8  Haushaltungen 
zum  Christenthum  über.  Die  Zahl  der  Proselyten  in  Berlin, 
welches  damals  nur  eine  kleine  jüdische  Gemeinde  zählte,  wird 
1 73  5  auf  60  Personen  geschätzt. 


—     340     — 

Viele  durch  die  Missionare  zum  Nachdenken  gebrachte  Juden 
kamen  nach  Halle  aus  verschiedenen  Ländern,  um  dort  weitere 
Antwort  auf  die  in  ihnen  erweckten  Fragen  zu  rinden  oder  Unter- 
richt zu  erbitten.  Durch  Schultz  angeregt  stellten  sich  in  Breslau 
anf  einmal  17  Juden  aus  Polen  ein  und  baten  in  der  christlichen 
Religion  unterwiesen  zu  werden. 

In  den  60er  Jahren  des  Jahrhunderts  kann  Schultz  hernach 
erklären  (Kurze  Nachricht  Seite  47):  „Man  könnte  bei  gar  nicht 
mühsamer  Nachrechnung  die  Zahl  der  durch  diese  Anstalt  zuerst 
erweckten  und  dann  getauften  Juden  auf  ein  Tausend  Personen 
setzen."  Und  das  schreibt  dieser  Missionar  eben  nicht  leichtfertig 
hin,  sondern  aus  der  Kenntniss  der  Verhältnisse  heraus,  die  ihm 
noch  dadurch  erleichtert  wurde,  dass  sein  Amtsgenosse  und 
Freund  Manitius  ein  genaues  Register  der  Proselyten  führte. 

Auch  tiefer  haben  die  Missionare  des  Institutum  wenigstens 
in  einem  Falle  eingegriffen  und  zwar  unter  polnischen  Juden.*) 

Widmann,  Manitius,  St.  Schultz  und  Bennewitz  hatten  in 
Polen  mehrfach  eine  sehr  rege  Thätigkeit  entfaltet.  Gerade  in  jener 
Zeit  aber  standen  die  Gemüther  jener  Juden  noch  recht  lebhaft 
unter  den  Nachwirkungen  der  Sabbathai-Zebischen  Bewegung  und 
der  Chasidismus  gewann  dort  immer  zahlreichere  Anhänger. 
Die  Erscheinung  der  Missionare  in  ihrer  Mitte,  die  mit  neuen 
religiösen  Fragen  unter  sie  traten,  erregte  sie  daher  in  ausser- 
ordentlichem Maasse.  Es  fand  ein  förmliches  Zusammenströmen 
zu  ihnen  statt,  und  man  wurde  nicht  müde,  ihnen  immer  neue 
Fragen  vorzulegen.  Viele  sogen  ihnen  die  Worte  förmlich  von 
den  Lippen,  überall  daselbst  wusste  und  erzählte  man  von  ihnen, 
und  dankbarere  Zuhörer  haben  die  Halle'schen  Sendboten  in  der 
That  nirgends  als  unter  den  Juden  des  Ostens  gefunden. 

1747  nun  zog  Schultz  mit  Bennewitz  unter  den  Juden  Polens 
und  Lithauens  hin  und  her;  selbst  viele  Dörfer,  in  denen  Juden 
wohnten,  wurden  von  ihnen  besucht.  Im  polnischen  Chronice 
hatte  St.  Schultz  besonders  eingehende  Unterredungen  mit  Juden. 
Ein  Rabbiner  zumal  hörte  ihm  mit  der  grössten  Andacht  zu,  und 
als  Schultz  in  hebräischen  Worten  den  Segen  bei  Tische  sprach, 
erbat  sich  der  Rabbi  von  ihm  dieses  Gebet.  Schultz  erfüllte  die 
Bitte.     Aber  nun  wünschte    der  Rabbi    noch    ein    anderes   Gebet 


*)  Frank    und    die    Frankisten    Dr.  H.  Graetz   1868.     Dibre    Emeth    1869. 
S.  19  ff.  46  ff.     St.  Schultz  von  J.  de  le  Roi  S.   102  ff. 


—     341     — 

vom  Missionar  zu  erhalten,  das  er  täglich  beten  könne.  Schultz 
setzte  ihm  darauf  folgendes  Gebet  in  hebräischer  Sprache  auf 
(„Leitungen  des  Höchsten"  2,  161  ff.,  „Christliche  Bereisung  der 
Judenörter"  i,  156  ff.):  „Gelobet  seist  du  Gott,  du  Herr  Himmels 
und  der  Erde,  der  du  mich  erschaffen  hast  in  deinem  Bilde. 
Da  ich  aber  in  Adam  dieses  kostbare  Bild  verloren  habe  und 
noch  täglich  dazu  sündige,  so  sollte  ich  ewig  verloren  gehen. 
Aber  du  hast  dich  in  Gnaden  erbarmet  und  den  andern  Adam, 
den  Menschen,  in  Gnaden  zu  senden  verheissen  durch  deine 
Knechte  Moses  und  die  Propheten,  und  hast  ihn  in  der  Fülle 
der  Zeit  gesandt.  Ich  aber  habe  ihn  noch  nicht  erkannt.  So 
bitte  ich  dich  Herr  um  Gnade  und  um  den  Geist  der  Gnaden 
und  des  Gebets,  dass  ich  möge  um  die  Vergebung  meiner  Sünden 
recht  beten  lernen  und  dass  ich  den  Mann  erkenne,  durch  welchen 
die  Welt  versöhnt  ist,  damit  ich  zu  der  Gerechtigkeit  komme, 
welche  vor  dir  gilt.  Und  weil  ich  höre,'  dass  Jesus  von  Nazareth 
derselbe  Mann  ist,  so  bitte  ich  in  seinem  Namen  und  auf  sein 
Verdienst,    du    wollest   mir   Gnade  zur  rechten  Busse  schenken." 

Der  Rabbi  aber  nahm  dieses  Gebet  mit  Dank  an,  versprach 
es  sorgfältig  zu  verwahren  und  es  fieissig  zu  beten. 

Wenige  Jahre  darauf  entstand  in  eben  diesen  von  religiösen 
Fragen  erfüllten  und  erregten  Gegenden  Polens  und  Lithauens 
eine  grosse  Bewegung,  welche  dann  aber  der  falsche  Messias 
Jakob  Frank  in  seine  Bahnen  zu  lenken  wusste.  Zunächst  freilich 
ging  diese  Bewegung  nicht  von  ihm  aus,  sondern  er  fand  sie 
bereits  vor,  aber  er  hat  sie  hernach  benutzt  und  sie  in  seine  Hände 
zu  spielen  gewusst.  Und  dass  ihm  dies  gelang,  war  kein  Wunder; 
denn  Niemand  hat  den  von  halb  christlichen  und  halb  jüdisch- 
mystischen Gedanken  bewegten  Leuten  mit  hinreichender  Unter- 
weisung beigestanden. 

Jene  Juden  schwankten  damals  hin  und  her,  ehe  sie  Frank 
zufielen  und  wussten  nicht,  wohin  sich  wenden.  Das  bezeugt 
z.B.  eine  Nachricht  aus  dem  Jahre  1753.  Unter  dem  5.  November 
dieses  Jahres  theilte  der  frühere  Rabbi  Leopold  Emmanuel  Jakob 
de  Dort,  Lektor  der  orientalischen  Sprachen,  der  1745  in  Aachen 
katholisch  getauft  und  1752  zur  evangelischen  Kirche  übergetreten 
war,  aus  Osnabrück  dem  Herrn  von  Loen  in  Lingen  mit,  ein 
polnischer  Edelmann  habe  an  ihn  geschrieben,  dass  er  eine  Zu- 
schrift von  vielen  Juden  in  Polen  erhalten  habe,  die  das  Judenthum 
verlassen  möchten,  aber  nicht  wüssten,  wohin  alsdann  sich  wenden. 


—     342     — 

Sie  wollten  desshalb  ihn,  den  Proselyten  um  Rath  fragen  und 
von  ihm  zumal  erfahren,  welche  denn  die  wahre  christliche  Kirche 
sei.  de  Dort  war  aber  von  der  Sektirerei  des  Herrn  von  Loen 
angesteckt  und  wollte  nun  das  Buch  desselben:  „Die  einzige 
Religion",  welches  die  verkehrten  Meinungen  Loens  zum  Ausdrucke 
brachte,  mit  den  jüdischen  Abgeordneten,  die  er  aus  Polen  er- 
wartete, übersetzen  und  die  Juden,  welche  jene  obige  Anfrage 
an  ihn  gerichtet  hatten ,  zu  der  hier  gepredigten  Religion 
bekehren. 

Gleichzeitig  berichtet  übrigens  de  Dort  auch  von  einem 
Concil,  in  welchem,  nach  den  ihm  aus  Polen  zugegegangenen 
Mittheilungen,  eine  grosse  Anzahl  von  Rabbinen,  die  dem 
Christenthum  geneigt  wären,  ein  Bekenntniss  zur  Dreieinigkeit 
und  zur  Messianität  Jesu  aufgestellt  hätten.  Abgesandte  derselben 
sollten  besonders  nach  Danzig  und  Amsterdam  gehen  und  dort 
ihre  Ueberzeugungen  bekannt  machen. 

Ganz  unabhängig  hiervon  und  doch  damit  im  Wesentlichen 
übereinstimmend  lesen  wir  aber  in  den  nicht  gedruckten,  sondern 
als  Manuscript  im  Archiv  der  Brüdergemeine  zu  Herrnhut  vor- 
handenen Mittheilungen  der  älteren  Brüdergemeine,  von  ganz 
ähnlichen  Ereignissen  in  jenen  polnischen  Gegenden.  Es  heisst 
in  diesen  Nachrichten:  „In  Folge  einiger  Nachrichten,  welche 
über  Bewegungen  unter  den  Juden  in  Polen  einliefen,  bekam  der 
Bruder  David  Kirchhoff,  selbst  ein  geborener  Jude,  der  nach 
seiner  Taufe  Mitglied  der  Brüdergemeine  geworden  war,  1758 
den  Auftrag,  diejenigen  unter  ihnen  aufzusuchen,  die  dem  erhaltenen 
Bericht  zufolge  gläubig  geworden  sein  sollen.  Er  kam  auch  an 
einen  Ort  in  Klein-Polen,  wo  er  eine  Anzahl  Juden  beisammen 
fand,  die  ihm  bezeugten,  dass  sie  glaubten,  der  Messias  müsse 
schon  gekommen  sein,  übrigens  aber  Jesum  als  den  Messias  noch 
nicht  erkannten.  Er  beschrieb  ihnen  denselben  nach  Jesaia  53 
als  den  Versöhner  der  Sünden  aller  Welt  und  gab  ihnen  eine 
Nachricht  von  der  Brüdergemeine,  wofür  sie  sich  dankbar  erzeigten 
und  versprachen,  Gott  zu  bitten,  dass  er  ihnen  den  rechten 
Messias  offenbaren  wolle.  Er  hätte  sich  länger  bei  ihnen  auf- 
gehalten in  Hoffnung,  dass  sein  Zeugniss  von  Jesu  ihnen  zum 
Segen  sein  könne;  allein  die  widrig  gesinnten  Juden  fingen 
schon  Unruhen  an,  so  dass  er  es  für  rathsam  hielt,  nach  einem 
kurzen  Aufenthalt  wieder  abzureisen." 


—     343      — 

Die  Nachrichten  von  de  Dort  werden  aber  auch  weiter 
durch  den  Bericht  David  Kirchhofes  bestätigt.  Letzterer  schreibt: 
„Im  Anfange  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  erhielt  man 
Nachricht,  dass  eine  grosse  Anzahl  von  Juden,  die  sich  nach 
einigen  auf  15000  Personen  belaufen  sollten,  worunter  gegen  50 
Rabbiner,  sich  öffentlich  erklärt  haben  sollten,  sie  wären  überzeugt, 
dass  der  wahre  Messias  schon  gekommen,  und  dass  Jesus  von 
Nazareth  der  verheissene  Messias  sei.  Die  gläubigen  Juden, 
welche  in  Polen,  Ungarn,  der  Moldau,  Wallachei  und  anderen 
Ländern  zerstreut  wohnten,  waren  entschlossen,  sich  öffentlich 
zum  Christenthum  zu  wenden  und  in  christliche  Länder  zu  ziehen. 
Weil  sie  aber  bei  der  Verschiedenheit  der  christlichen  Religion 
nicht  gewusst,  in  welcher  sie  die  reine  evangelische  Wahrheit 
antreffen  würden,  so  gingen  ihre  Bemühungen  fürs  erste  dahin, 
davon  Gewissheit  zu  erlangen.  Allein  die  Verfolgungen  der 
übrigen  Juden,  die  durch  ihre  eben  angeführte  Erklärung  aufs 
Aeusserste  erbittert  worden  waren,  Hessen  ihnen  nicht  Zeit,  ihre 
Untersuchung  fortzusetzen.  Bei  diesen  Umständen  erwählten  sie 
den  kürzesten  Weg  und  gingen  grösstentheils  zur  katholischen 
Religion  über." 

Schon  der  eine  Umstand,  dass  unter  den  Juden,  die  sich 
mit  dem  Gedanken  des  Uebertritts  zum  Christenthum  beschäftigten, 
die  Frage  verhandelt  wurde,  wo  die  eigentliche  und  reine  evan- 
gelische Wahrheit  zu  finden  und  welche  der  christlichen  Kirchen 
von  ihnen  zu  erwählen  sei,  weist  darauf  hin,  dass  hier  nicht 
bloss  römische,  sondern  auch  christliche  Einwirkungen  von  anderer 
Seite  her  stattgefunden  haben.  Die  Anfragen  in  Deutschland 
aber  und  bei  jenem  de  Dort,  welcher  den  polnischen  Juden  als 
Protestant  bekannt  war,  lassen  es  erkennen,  dass  jene  von  dem 
Unterschied  katholischen  und  evangelischen  Christenthums  wussten. 
Von  Missionsbemühungen  der  wenigen  Protestanten,  welche  in 
den  fraglichen  Gebieten  wohnten ,  unter  den  Juden  hören  wir  aber 
nichts.  Dieselben  waren  ja  auch  so  ungemein  bedrückt  und  ver- 
folgt, dass  sie  sich  völlig  auf  die  Erhaltung  ihrer  eigenen  Gemein- 
schaft beschränkten  und  an  Missioniren  unter  Andersgläubigen 
gar  nicht  dachten. 

Die  Halle'schen  Missionare  dagegen  waren  durch  mehrere 
Reisen  in  jenen  Gegenden  Tausenden  und  aber  Tausenden  bekannt 
geworden  und  hatten  mit  denselben  eingehend  alle  Fragen  des 
Glaubens  besprochen.     Es  ist  also  gewiss  nicht  eine  zu  gewagte 


—     344     — 

Annahme,  dass  die  christlichen  Anregungen,  welche  unter  den 
Juden  jener  Jahre  zu  bemerken  sind,  ganz  besonders  eine  Folge 
der  Wirksamkeit  der  Missionare  gewesen  sein  mögen,  und  dass 
der  Verkehr  mit  denselben  auch  die  Frage,  welche  Kirche  denn  nun 
die  rechte  christliche  Kirche  sei,  den  Juden  nahe  gelegt  haben  wird. 

Noch  ein  besonderer  Umstand  aber  weist  bei  dieser  Bewegung 
auf  die  Arbeit  der  Missionare  des  Institutum  und  besonders  auf 
St.  Schultz  hin.  Die  brüdergemeindliche  Nachricht  aus  dem  Jahre 
1758  enthält  auch  folgende  Mittheilung: 

„Viele  unter  ihnen  (den  polnischen  Juden)  waren  auf  den 
Gedanken  gekommen,  ob  nicht  Jesus  der  Messias  sei,  weil  sie 
bei  aufmerksamer  Betrachtung  der  Weissagungen  in  den  Propheten 
besonders  des  Daniel  zugestehen  müssen,  dass  die  Zeit,  da  der 
Messias  erscheinen  soll,  längst  verflossen  ist.  An  einigen  Orten 
bedienen  sie  sich,  wiewohl  ganz  im  Geheimen,  eines  von  einem 
ihrer  eigenen  Rabbiner  aufgesetzten  Sterbegebetes,  dass,  wenn 
es  mit  der  Behauptung  der  Christen,  dass  der  Messias  schon 
gekommen  sei,  seine  Richtigkeit  habe,  Gott  ihnen  ihren  Irrthum 
vergeben  wolle." 

Zweierlei  ist  hierbei  merkwürdig.  Weder  Sabbathai  Zebi 
noch  Frank  haben  ein  Interesse  daran  gehabt,  auf  Daniel'sche 
Zeitbestimmungen  über  das  Kommen  des  Messias  hinzuweisen; 
denn  dieselben  hätten  geradeswegs,  wie  man  auch  rechnen  mochte, 
ihre  Ansprüche  völlig  zu  Schanden  gemacht.  Sohar  und  Kabbala 
waren  ihre  Hauptstützen,  von  der  Schrift  und  den  Propheten 
schwiegen  sie  gänzlich.  Ebenso  unbequem  aber  waren  Daniel 
und  alle  Propheten  den  Gegnern  der  neuen  Bewegung,  den  Tal- 
mudisten,  welche  eben  die  Ihrigen  völlig  an  den  Talmud  banden. 
Weder  von  der  einen  noch  von  der  anderen  Seite  trat  das 
Zeugniss  der  Propheten  den  Juden  entgegen.  Wohl  aber  hat 
die  Halle'sche  Mission  die  Juden  überall  mit  besonderem  Nach- 
druck auf  die  Propheten  und  Daniel  hingewiesen;  und  es  ist 
zumal  erklärlich,  dass  jenen  mit  ihren  rabbinischen  Volksgenossen 
zerfallenen  Juden  von  den  Sendboten  des  Institutum  vielfach  die 
Propheten  und  Daniel  vorgehalten  wurden. 

Ebenso  aber  wird  man  ganz  unwillkürlich,  wenn  man  die 
Angaben  der  brüdergemeindlichen  Nachrichten  über  das  in  jenen 
Gegenden  unter  den  Juden  aufgekommene  Sterbegebet  liest,  an 
das  Gebet  erinnert,  das  St.  Schultz  dem  Rabbi  in  Chronice  auf- 
setzte und  hebräisch  geschrieben  übergab.    Freilich  wird  in  jenem 


—     345     — 

Berichte  ein  Rabbi  als  Verfasser  desselben  genannt,  aber  das  darf 
nicht  Wunder  nehmen.  Ein  Rabbi  war  es  gewesen,  welcher  von 
Schultz  das  früher  erwähnte  Gebet  erhielt;  und  wenn  es  dann 
von  demselben  auch  seinen  Gesinnungsgenossen  mitgetheilt  wurde, 
und  in  den  Kreisen  derer,  welche  die  Messiasfrage  beschäftigte, 
von  Hand  zu  Hand  ging,  dann  war  nichts  natürlicher,  als  dass 
auch  der  Rabbi  für  den  Verfasser  desselben  gehalten  wurde. 
In  kleinen  Einzelheiten  entspricht  ja  nun  freilich  das  Schultze'sche 
Gebet  den  allgemein  gehaltenen  Angaben  des  brüdergemeindlichen 
Berichtes  nicht,  wohl  dagegen  in  der  Hauptsache,  nämlich  in  der 
bedingungsweisen  Anerkennung  Jesu  Christi  als  des  Messias. 
Dieses  Stück  ist  dem  Schultze'schen  und  dem  Gebet,  von  welchem 
die  Brüdernachrichten  erzählen,  gemeinsam.  Und  so  wird  man 
von  den  verschiedensten  Punkten  aus  dahin  gedrängt,  eine  Ein- 
wirkung der  Halle'schen  Mission  bei  jener  merkwürdigen  Bewegung 
anzunehmen  und  anzuerkennen. 

Doch  freilich  nur  eine  Anregung  evangelischerseits  erhielten 
jene  Juden  und  nicht  auch  evangelische  Pflege.  Die  römische 
Kirche  würde  eine  solche  aber  freilich  auch  sehr  bald  zu  ver- 
hindern gewusst  haben.  Verschiedene  einzelne  Juden  waren  wohl 
durch  das,  was  sie  von  den  Missionaren  gehört  hatten,  innerlich 
tief  bewegt  geworden,  so  dass  diese  z.  B.  bald  nach  ihrer  Heim- 
kehr in  Halle  die  Nachricht  aus  Breslau  erhielten,  es  seien  dort 
17  Juden  aus  Polen  eingetroffen,  welche  ausdrücklich  bekannten, 
durch  das  von  den  Missionaren  des  Institutum  Gehörte  zur  Aus- 
wanderung bewogen  worden  zu  sein.  Denn  es  habe  ihnen  keine 
Ruhe  mehr  gelassen,  sondern  sie  hätten  Klarheit  über  die  in 
ihnen  entstandenen  Fragen  erhalten  müssen;  und  eben  um  solche 
zu  erlangen,  trafen  sie  in  Breslau  ein,  wo  sie  den  Taufunterricht 
erbaten. 

Sich  selbst  in  ihren  religiösen  Fragen  überlassen,  fanden 
nun  natürlich  jene  Juden,  die  in  ihrer  Heimath  blieben,  nicht  ein 
noch  aus,  sondern  geriethen  nur  in  rathlose  Verwirrung.  Da  trat 
Jakob  Frank,  1755  aus  der  Türkei  kommend,  unter  sie.  Er 
deutete  ihnen,  da  er  sah,  dass  sie  eine  bereits  erfolgte  Erscheinung 
des  Messias  glaubten,  an,  dass  er  der  wiedergekommene  Christus 
sei,  und  fand  leicht  bei  ihnen  Eingang.  Das  konnte  aber  um 
so  eher  geschehen,  als  die  römische  Kirche  herzlich  wenig  that, 
um  diesen  in  ihren  Gewissen  beunruhigten  und  in  ihrer  Erkenntniss 
verwirrten   Juden   beizustehen.     Nur    der  Bischof  von   Kaminiec, 


—     346     — 

hernachmaliger  Erzbischof  von  Lemberg,  Graf  Dembowski, 
nahm  sich  ihrer  treulich  und  entschieden  an,  derselbe  starb  aber 
bereits  1757,  und  in  ihm  verloren  sie  ihren  einzigen,  es  auf- 
richtig meinenden  Freund.  Hernach  wussten  die  Talmudisten 
durch  den  jüdischen  Hofagenten  Jawan  den  König  von  Polen 
für  sich  zu  gewinnen.  Den  Talmudisten  wurden  seitdem  ihre 
Gegner  preisgegeben  und  letztere  von  jenen  ausgeplündert,  von 
ihren  Wohnsitzen  vertrieben  und  ins  Gefängniss  geworfen.  Endlich, 
nach  vielen  vergeblichen  Vorstellungen  und  Bitten,  erlangten  sie 
es,  dass  ihnen  eine  Disputation  mit  ihren  Widersachern  in  Lemberg 
bewilligt  wurde,  an  deren  Schluss  einige  Tausende  von  ihnen 
zur  römischen  Kirche  übertraten.  Dies  geschah  im  Juli  1759, 
auch  Jakob  Frank  nahm  etwas  später  die  Taufe  an. 

Hernach  aber  brach  über  Frank  und  seine  Anhänger  eine 
Verfolgung  wegen  geheimer  Ketzerei  aus;  denn  man  hatte  so 
gut  wie  nichts  gethan,  um  gesunde  christliche  Erkenntniss  unter 
ihnen  zu  pflanzen,  sondern  sich  am  Abtaufen  genügen  lassen; 
und  so  verfielen  diese  Leute  theils  den  Machinationen  Frank's, 
der  auf  seine  Messiasrolle  trotz  des  Uebertritts  nicht  verzichtete, 
theils  den  eigenen  verkehrten  Meinungen,  die  ein  trübes  Gemisch 
von  Christenthum,  jüdischer  Kabbala  und  verkehrtem  Messianismus 
waren.  Frank  wurde  mit  vielen  seiner  Genossen  ins  Gefängniss 
geworfen.  Aus  demselben  befreit,  zog  er  nach  Offenbach,  wo 
er  1791  starb.  Seine  Anhänger  sind  allmählich  in  die  katholische 
Bevölkerung  Polens  aufgegangen. 

Das  Beste  in  dieser  ganzen  Bewegung  ist  jedesfalls  von 
der  Halle'schen  Mission  ausgegangen.  Aber  dieser  Fall  zeigt  es 
auch  aufs  Klarste,  dass,  wenn  die  Mission  nicht  einen  Rückhalt 
an  einer  Kirche  hat,  welche  den  zu  Bekehrenden  und  den  Bekehrten 
den  bleibenden  Halt  und  Stützpunkt,  genügende  Geistesnahrung 
und  Pflege,  Erziehung  und  Stärkung,  Ueberwachung  und  Warnung 
zur  rechten  Zeit  angedeihen  lässt,  die  besten  Unternehmungen 
der  Mission  leicht  scheitern  und  hoffnungsvolle  Anfänge  ohne 
befriedigenden  Fortgang  bleiben,  vielmehr  elend  verkümmern 
oder  völlig  zu  Grunde  gehen.  Die  Judenmission  wird  denn  in 
der  That  auch  dann  nur  Rechtes  leisten,  wenn  sie  in  reger  Ver- 
bindung mit  der  Kirche  steht  und  nicht  auf  ihre  eigene  Kraft 
allein  angewiesen  bleibt.  Die  Mission  soll  anregen,  aber  nicht 
das  Ein  und  Alles  bleiben,  sie  soll  den  Acker  autbrechen,    aber 


—     347     — 

den  aufgebrochenen  muss  dann  die  Kirche  weiter  zu  besäen,  zu 
bewässern  und  zu  behüten  sich  angelegen  sein  lassen;  sonst  wird 
das  Unkraut  leicht  alles  wieder  überwuchern  und  das  aufkeimende 
Leben  ersticken.  Jenes  Stück  polnisch-jüdischer  Geschichte  will 
hier  eine  bleibende  Lehre  für  die  Mission   und   die  Kirche  sein. 

Die  Halle'schen  Missionare  waren  sich  denn  auch  dessen 
klar  bewusst,  dass  es  von  der  grössten  Wichtigkeit  sei,  wenn 
die  Sache  an  und  mit  den  Juden  gelingen  solle,  die  christliche 
Gemeinde  zur  Arbeit  an  denselben  'heranzuziehen.  Dieselben 
Hessen  es  sich  aber  auch  ernstlich  angelegen  sein,  überall  die 
Geistlichen  und  die  Gemeinden  für  das  Werk  an  den  Juden  zu 
erwärmen;  und  so  viele  evangelische  Christen  wie  damals  sind 
auch  nie  wieder  mit  der  Judenmission  bekannt  gemacht  worden. 
Bei  vielen  Christen  schwand  aber  auch,  wenn  sie  es  selbst  mit 
Augen  sahen,  welchen  Eingang  die  Missionare  unter  den  Juden 
fanden,  das  Vorurtheil,  als  ob  die  Juden  für  das  Evangelium 
völlig  unnahbar  und  unempfänglich  seien,  und  als  könne  nur 
Strenge  und  Härte  gegen  dieselben  etwas  ausrichten.  Gar  nicht 
selten  haben  die  Missionare  das  Bekenntniss  aus  dem  Munde 
von  Christen  gehört,  dass  sie  es  nun  erkannt  hätten,  es  sei  die 
allgemeine  Aufgabe  und  Pflicht  aller  Christen,  den  Juden  das 
Wort  Gottes  zu  bringen,  und  die  Erfüllung  derselben  werde  auch 
zum  Segen  für  alle  Theile  gereichen. 

Sehr  bereitwillig  wurden  den  Missionaren  der  Regel  nach 
Predigten  in  den  Kirchen  und  Ansprachen  in  Schulen  gewährt, 
damit  so  Alte  und  Junge  mit  dem  Missionswerk  bekannt  gemacht 
würden;  und  der  rege  Briefverkehr,  welcher  in  jener  Zeit  von 
Hohen  und  Geringen  mit  Callenberg  und  seinen  Missionaren 
erhalten  wurde,  zeigt  am  besten,  dass  in  vieler  Herzen  der  Trieb 
erwacht  war,  den  Juden  religiöse  Förderung  angedeihen  zu  lassen, 
und  dass  sie  gern  an  der  Arbeit  des  Institutum  mitwirken  wollten. 

Häufig  fand  nun  auch  in  den  Kirchen  die  Fürbitte  für  die 
Juden  statt.  In  mehreren  grossen  Städten,  wie  z.  B.  in  Augsburg, 
Dresden  u.  s.  w.  finden  wir  jetzt  Proselyten-Katecheten  bestellt, 
denen  die  sich  zum  Unterricht  meldenden  Juden  überwiesen 
wurden.  Der  Frankfurter  Senior  Dr.  Münden,  welcher  die 
Callenberg'sche  Anstalt  besonders  lieb  hatte,  verfasste  ein  köstliches 
Schulgebet,  welches  die  Bekehrung  der  Juden  erflehte,  und  die 
Missionare  fanden  dasselbe  dann   auf  gar  manchem  Gymnasium 


—     343     — 

in  Gebrauch.*)  Im  Cleve'schen  veranstaltete  ein  Pastor  Abend- 
gottesdienste, in  welchen  er  Predigten  hielt,  welche  die  Juden 
mit  dem  Evangelio  bekannt  machen  sollten.  Er  hatte  dieselben 
auf  eine  recht  späte  Stunde  gelegt,  damit  die  Juden,  welche 
kommen  wollten,  sich  vor  den  Ihrigen  und  vor  den  Christen 
weniger  scheuen  sollten,  in  jenen  Predigten  zu  erscheinen,  und  „es 
haben  sich  der  Juden  nicht  wenige  eingefunden." 

Aus  allen  Ständen  meldeten  sich  im  Gebiete  der  evange- 
lischen Kirche  Callenberg-und  seinen  Missionaren  Personen  an, 
die  sich  zur  Mitarbeit  an  ihrem  Werke  auf  die  eine  oder  die  andere 
Weise  bereit  erklärten.  Wir  sehen  Fürsten,  Prinzen,  Prinzessinnen, 
Generäle  und  Offiziere,  wie  z.  B.  im  böhmischen  Kriege,  hohe 
Staatsbeamte,  sehr  viele  Geistliche  und  Lehrer,  sehr  viele  Kauf- 
leute und  einfache  Handwerker  Schriften  des  Institutum  erbitten, 
weil  dieselben  den  WTunsch  hegten,  diese  selbst  unter  den  Juden 
zu  verbreiten.  So  mancher  Prediger  lernte  auch  das  Jüdisch- 
deutsche und  Hess  sich  Schriften  des  Institutum  schicken,  um 
es  aus  ihnen  zu  erfahren,  wie  er  mit  Juden  verkehren  und 
wie  er  ihnen  die  christliche  Wahrheit  bezeugen  solle.  Ein  Juwelier, 
dem  das  Werk  besonders  theuer  geworden  war,  prägte  2  Medaillen 
zu  Ehren  des  Institutum  und  schickte  sie  Callenberg. 

Selbst  Sektirer  empfanden  jetzt  den  Trieb,  den  Juden  nach- 
zugehen. So  wanderte  ein  blinder  Gärtner,  Heinrich  Fitzner, 
aus  der  Blankenburger  Gegend,  1736  unter  den  Juden  umher 
und  verkündigte  ihnen,  dass  die  Zeit  ihrer  Bekehrung  nahe  sei. 
Die  Separatisten  Danzigs  und  der  Wetterau  bewiesen  den  Juden 
viele  Theilnahme  und  zogen  auch  deren  Aufmerksamkeit  auf  sich ; 
und  ganz  im  Allgemeinen  erhielten  überhaupt  die  Juden  der  ersten 
Jahrzehnte  des  Institutum  den  Eindruck,  dass  sich  allerwärts  die 
Augen  in  der  evangelischen  Christenheit  auf  sie  gerichtet  hätten. 

Insbesondere  hat  die  Halle'sche  Mission  den  Vorzug  genossen, 
dass  sie  weithin  unter  den  Evangelischen  der  verschiedensten 
Länder  und  nicht  bloss  Deutschlands,  unter  Lutheranern  wie  unter 
Reformirten  als  ein  der  ganzen  evangelischen  Kirche  gemeinsames 
Werk  betrachtet  wurde,  und  dass  über  der  ersten  Judenmission 
das  Gefühl  evangelischer  Gemeinschaft  vielfach  erwachte.  Das 
Institutum  war  in  der  That  ein  lieber  Pflegling  der  Angehörigen 
sehr  verschiedener  evangelischer  Kirchen.  Die  Gräflich  Stolberer'sche 


*)  Schultz,   Fernere  Nachricht,  Vorrede.     Dihre  Emeth    1879.     S. 


—     349    ~ 

Familie  in  Wernigerode  veranstaltete  eine  lange  Reihe  von  Jahren 
hindurch  zum  Besten  der  Halle'schen  Mission  eine  Tischkollekte, 
deren  Ertrag  sie  monatlich  an  das  Institutum  einsandte.  Bitten 
um  die  Uebersendung  von  Schriften  zur  Vertheilung  unter  den 
Juden  und  um  Ueberschickung  der  Berichte  liefen  nicht  bloss  aus 
ganz  Deutschland,  sondern  auch  aus  England,  Dänemark,  Schweden, 
Italien,  Frankreich,  der  Schweiz,  Oesterreich,  Ungarn,  Polen, 
Russland,  der  Türkei,  Klein-Asien,  Amerika,  Sibirien  und  Ost- 
indien ein  und   diesen   Bitten  wurde    bereitwilligst   stattgegeben. 

Ueber  Taufen  und  was  sonst  Erwähnenswerthes  unter  den 
Juden  geschah,  wurde  fleissig  nach  Halle  berichtet.  Callenberg 
aber  brachte,  was  ihm  mitgetheilt  wurde,  soweit  es  räthlich  er- 
schien, vor  die  Oeffentlichkeit.  So  vielgelesene  Zeitschriften 
wie  die  Weimar'schen  „Acta  ecclesiae  temporis  nostri"  Hessen 
es  sich  angelegen  sein,  durch  fortlaufende  Mittheilungen  aus  den 
Berichten  des  Institutum  die  Theilnahme  für  dasselbe  in  den 
weitesten  Kreisen  und  besonders  auch  in  der  theologischen  Welt 
wach  zu  erhalten.  Ueberhaupt  aber  nahm  die  zeitgenössische 
theologische  Literatur  überall  auf  die  Callenberg'sche  Anstalt 
Rücksicht.  Viele  der  bedeutendsten  Theologen  jener  Tage  sehen 
wir  dieselbe  lobend  erwähnen  und  zur  Unterstützung  empfehlen. 
Die  angesehene  und  bedeutende  Londoner  Society  for  promoting 
Christian  Knowledge  überschickte  Callenberg  ausser  einem  Geld- 
beitrage eine  Anzahl  ihrer  kostbarsten  Werke  für  die  Bibliothek 
des  Institutum  und  gleichzeitig  ihren  Katalog  mit  der  Aufforderung, 
ihr  zu  melden,  was  Callenberg  von  ihren  Büchern  noch  zu  besitzen 
wünsche.  Ihrerseits  erbat  sich  die  Gesellschaft  hinwiederum  die 
Schriften  des  Institutum  und  Hess  von  den  letzteren  „Das  Licht 
am  Abend"  und  den  „Brief  von  der  Vergebung  der  Sünden" 
ins  Englische  übersetzen.  Die  Halle'schen  Missionare  mussten 
bei  ihrer  Ankunft  in  England  vor  der  Gesellschaft  erscheinen 
und  wurden  von  derselben  mit  besonderer  Liebe  und  Hochachtung 
aufgenommen. 

Regelmässig  Hessen  sich  die  Halle'schen  Heidenmissionare 
in  Ostindien  die  Berichte  des  Institutum  zusenden.  Sie  standen 
in  lebhaftem  Briefwechsel  mit  Callenberg,  suchten  auch  unter  den 
Christen  in  jenem  fernen  Lande  Theilnahme  für  das  Werk  an 
den  Juden  zu  erwecken  und  wandten  sich  sowohl  in  Gesprächen 
als  mit  Schriften  des  Institutum  an  die  Juden,  die  in  ihrer  Um- 


—     350    — 

gebung  lebten.*)  Ebenso  berichteten  die  brüdergemeindlichen 
Missionare  in  Surinam  nach  Halle,  was  sie  für  die  dortigen  Juden 
thaten  und  mit  welcher  Begier  oft  ihre  Zeugnisse  von  denselben 
aufgenommen  wurden. 

Aber  selbst  über  den  Bereich  der  evangelischen  Kirche 
hinaus  reichte  der  Einfluss  der  Halle'schen  Mission.  Häufig 
sprachen  Katholiken  ihre  Freude  an  dem  Werke  derselben  aus, 
ja  es  wurden  sogar  Schriften  des  Institutum  von  ihnen  erbeten, 
um  dieselben  unter  den  Juden  zu  verbreiten.  An  Callenberg 
richtete  selbst  eine  ganze  Anzahl  katholischer  Prälaten  Anfragen, 
was  sie  wohl  thun  könnten,  um  das  Missionswerk  unter  den 
Juden  zu  befördern;  und  es  wurde  ihm  alsdann  mitgetheilt,  wie 
man  seine  Schriften,  die  er  freundlichst  übersandt  oder  die  man 
sich  sonst  zu  verschaffen  gewusst  habe,  unter  den  Juden  verbreitet 
oder  welche  Erfahrungen  man  mit  Juden,  denen  man  das  Evan- 
gelium zu  bezeugen  versucht  hatte,  gemacht  habe. 

Ausdrücklich  haben  wiederholt  römische  Bischöfe  und 
Bischöfe  der  orientalischen  Kirche  ihre  Zustimmung  zu  der  Arbeit 
des  Institutum  während  der  ersten  Hälfte  des  iS.  Jahrhunderts 
ausgesprochen.  Besonders  in  Polen  und  Warschau  haben  viele 
römische  und  zum  Theil  sehr  hochstehende  Geistliche  aufs 
freundlichste  mit  den  Missionaren  verkehrt  und  den  Eifer  der- 
selben für  ihr  Werk  rühmend  anerkannt. 

Kurz  die  Thatsache,  dass  es  nun  eine  wirkliche  Mission 
unter  den  Juden  gab,  wurde  in  den  ersten  Jahrzehnten  des 
Institutum  weithin  in  der  Christenheit  und  nicht  bloss  in  der 
evangelischen  Kirche  ziemlich  lebhaft  empfunden,  Im  weitesten 
und  besten  Sinne  hat  also  das  Halle'sche  Institutum  Anregungen 
für  ein  Missionswerk  unter  den  Juden  gegeben;  und  es  ist  eine 
wahrhafte  Freude  zu  sehen,  wie  damals  der  Muth  und  die  Lust 
für  eine  ordentliche  und  ihrem  Zweck  entsprechende  Arbeit  an 
den  Juden  erwachte. 

Verfehlt  hat  also  das  Institutum  am  allerwenigsten  seine 
Aufgabe,  wie  es  kurzsichtige  Beurtheiler  desselben  gemeint  haben; 
und  es  kam  nur  darauf  an,  dass  dem  guten  kleinen  Anfange  ein 
kräftiger  Fortgang  entsprach.  Dass  dies  nicht  geschah,  lag,  wie 
schon  gesagt,  zum  Theil  an  den  Schwächen  Callenbergs  und 
seiner  Nachfolger  in   der   Leitung    der   Anstalt,    zum    grösseren 


*)  Saat  auf  Hoffnung,  Johanni-Heft   64   S.   19  ff. 


—     35i     — 

Theile  jedoch  daran,  dass  die  rationalistische  Folgezeit  je  länger 
desto  unfähiger  wurde,  Missionsgedanken  zu  fassen  und  ein 
Missionswerk  zu  treiben. 

Es  ist  aber  der  früheren  Geschichte  des  Institutum  an  diesem 
Orte  darum  ein  so  weiter  Raum  gegeben  worden,  weil  dieselbe 
das  lehrreichste  Missionsbeispiel  für  alle  Folgezeit  ist,  und  weil 
sie  auf  die  für  unser  Gebiet  wichtigsten  Fragen  ein  helles  Licht 
wirft.  Wer  diese  Geschichte  mit  ihren  merkwürdigen  Einzelheiten 
und  Persönlichkeiten  näher  betrachtet,  wird  in  ihr  einen  bedeutenden 
Beitrag  für  das  rechte  Verständniss  der  Judenfrage  und  für  die 
Wege,  auf  welche  dieselbe  die  christlichen  Völker  und  ihre  Kirchen 
den  Juden  gegenüber  weist,  finden. 

1.  Anderweitige  Missionsbemühungen  des  Zeitraumes. 

Die  vielfältigen  Ermahnungen  der  einflussreichsten  Theologen 
und  besonders  das  praktische  Vorgehen  Callenbergs  führten  in 
der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  nicht  allein  dazu,  dass 
man  in  Deutschland  vielen  einzelnen  Juden  näher  trat,  sondern 
liess  auch  den  Gedanken  erwachen,  dass  man  Einrichtungen 
treffen  möchte,  welche  die  Bekehrung  der  Juden  überhaupt  zu 
befördern  im  Stande  seien. 

Einen  hoffnungsreichen  Anfang  nahm  eine  bedeutend  an- 
gelegte Proselyten- Anstalt,  welche  Johann  Philipp  Fresenius 
ins  Leben  rief,  die  aber  nun  doch  nicht  einen  längeren  Bestand 
hatte.  Callenbergs  Relationen  9  S.  i  ff.,  52  ff.,  Saat  auf  Hoffnung 
1879  Forts.  3,  185  ff.  erzählen  von  ihr.  Johann  Philipp  Fresenius 
theilt  aber  auch  selbst  in  seinen  Betrachtungen  von  Christo, 
Züllichau  1743,  des  Näheren  mit,  wie  er  dazu  gekommen  sei, 
sich  der  Juden  anzunehmen.  Als  er  Prediger  im  pfälzischen 
Niederwiesa  war,  liess  ihn  1732  der  hernachmalige  Rheingraf  zu 
Grumbach  wissen,  dass  er  einen  Juden,  der  unter  seinem  Schutze 
wohne,  taufen  lassen  wolle.  Bei  dieser  Taufe  nun  sollten  alle 
Juden  seines  Gebietes  zugegen  sein,  um  die  Ansprache  zu 
hören,  welche  bei  dieser  Gelegenheit  gehalten  werden  würde. 
Denn  er  wolle  am  Gerichtstage  die  Verantwortung  nicht  tragen, 
als  habe  er  die  Juden  nur  dem  Leibe  nach  geschützt  und  für 
ihre  Seelen  keine  Sorge  getragen.  Fresenius  unterzog  sich  dem 
ihm  gewordenen  Auftrage.  Des  Abends  vorher  in  Grumbach  an- 
gekommen, erschienen  jedoch  bei  ihm  viele  Juden  im  Schlosshofe 
und  baten  ihn,    dass   es   ihnen    nicht    zugemuthet  werden  möge, 


—     352     — 

in  die  Kirche  zu  gehen.  Da  Fresenius  ihnen  aber  zuredete, 
dass  sie  gehorchen  möchten,  suchten  sie  ihn  durch  Geld  der 
Gewährung  ihrer  Bitte  geneigter  zu  machen,  selbstverständlich 
ohne  Erfolg. 

So  stellten  sich  denn  die  Juden  des  Tages  darauf  vor  der 
Kirche  ein  und  hörten  vor  der  Thür  derselben  ein  Schreiben  verlesen, 
dass  sie  nicht  beschimpft  werden  sollten,  sondern  der  Landesherr 
nur  im  Gefühl  seiner  Verantwortung  ihnen  die  Gelegenheit  geben 
wolle,  die  Wahrheit  zu  hören.  Keiner  von  ihnen  solle  gezwungen 
werden,  zum  Christenthum  überzutreten,  sondern  jeder  dürfe  auch 
noch  ferner  als  Jude  unter  seinem  Schutze  wohnen  bleiben;  doch 
wünsche  er,  dass  sie  jetzt  aufmerksam  zuhörten. 

Fresenius  predigte  darauf  vor  ihnen  über  Haggai  2,  7 — 10, 
über  welche  Weissagung  er  schon  früher  wiederholt  ernste  Unter- 
redungen mit  Juden  gehabt  hatte.  Seine  Ansprache  dauerte 
nicht  weniger  als  3  Stunden.  Die  Juden  hörten  jetzt,  da  sie  über 
die  Folgen  beruhigt  waren,  in  der  That  aufmerksam  zu,  und  ein 
Greis  unter  ihnen  wurde  so  bewegt,  dass  die  übrigen  in  Angst 
geriethen  und  ihn  „übertäubten". 

Diesem  Vortrage  von  Fresenius  hatten  auch  viele  Christen 
beigewohnt  und  einen  lebhaften  Eindruck  von  dem  ganzen  Vor- 
gange empfangen ,  insbesondere  aber  war  die  Predigt  selbst 
manchem  Christen  zu  Herzen  gegangen.  Ein  vornehmer  Herr 
schrieb  diesem  Tage  seine  eigene  Bekehrung  zu  und  wurde  das 
Mittel  auch  andere  seiner  Standesgenossen  auf  neue  Wege  zu 
führen.  Fresenius  wurde  von  jenem  Mann  um  den  Druck  seiner 
Predigt  ersucht,  erklärte  demselben  aber,  dass  er  den  Gegenstand 
ausführlicher  behandeln  wolle,  und  schrieb  dem  Geheimrath  zu- 
nächst nur  die  Hauptpunkte  nieder,  welche  er  ihm  auch  zu 
lesen  gab. 

Die  Sorge  um  die  Juden  beschäftigte  dann  Fresenius  noch 
weiter.  Lange,  so  sagt  er  hernach  in  seiner  Schrift,  habe  er 
eine  grosse  Neigung  und  einen  unauslöschlichen  Trieb,  an  den 
Juden  zu  arbeiten,  empfunden.  Ebenso  aber  habe  ihn  der  Gedanke 
gedrückt,  wie  er  selbst  und  wie  die  christliche  Obrigkeit  am 
jüngsten  Tage  bestehen  würden,  wenn  sie  ihre  Pflicht  gegen  die 
in  ihrem  Gebiete  wohnenden  Juden  vergässen.  Christus  und  seine 
Apostel  hätten  keine  Marter  für  uns  gescheut,  und  wir  sollten 
den  Juden  dafür  nicht  auch  eine  Gefälligkeit  erweisen?  Der 
Heiland  habe  sich  nach  seinem    eigenen  Zeugniss    unter   grosser 


—     353     — 

Mühe  zu  sich  zu  sammeln  gesucht.  Dächte  jeder  an  seinem 
Theile  hieran,  so  würden  sich  Tausende  von  Juden  jetzt  sammeln 
lassen. 

Von  Niederwiesa  als  Prediger  nach  Giessen  berufen,  ver- 
folgte Fresenius  alsdann,  durch  die  inzwischen  erschienenen  Berichte 
Callenbergs  hierzu  angeregt,  besonders  die  Frage  der  Eingliederung 
der  Proselyten  in  das  allgemeine  bürgerliche  Leben  der  Christen. 
Ihm  kam  der  Gedanke,  dass  Manufakturen  für  die  zum  Christen- 
thum  sich  wendenden  Juden  angelegt  werden  möchten,  und 
man  versprach  ihm  auch  Beiträge,  wenn  ein  Proselytenhaus  zu 
Stande  käme. 

1736  dann  nach  Darmstadt  als  Hofdiakonus  versetzt,  suchte 
er  nun  die  Kreise  der  Hauptstadt  und  den  Hof  für  ein  weiteres 
Vorgehen  in  dieser  Angelegenheit  zu  erwärmen.  Er  predigte 
1737  einmal  in  der  Schlosskirche  über  Matthäus  9  von  der  Liebe 
Jesu  in  der  Aufnahme  armer  Sünder,  wobei  er  besonders  auch 
der  Fürsorge  für  die  bekehrten  Juden  gedachte  und  die  üblichen 
Einwürfe  gegen  dieselben  widerlegte.  Der  Minister  Wieger 
wurde  durch  diese  Predigt  bewegt  und  bat  Fresenius,  seine 
Gedanken  über  diesen  Gegenstand  schriftlich  aufzusetzen.  Dieser 
that  das,  und  Wieger  legte  dann  den  fraglichen  Aufsatz  dem 
Geheimrathscollegium  vor,  welches  denselben  dem  Fürsten  zur 
Kenntnissnahme  überreichte. 

Der  Fürst  nahm  den  Plan  mit  Freuden  auf  und  erliess  bei 
Gelegenheit  seines  50jährigen  Jubiläums  1 738  eine  Verordnung 
über  eine  nach  den  Vorschlägen  von  Fresenius  zu  errichtende 
Anstalt,  für  deren  Herstellung  er  selbst  15,000  Gulden  spendete. 
Ueber  diese  Anstalt  wurde  ein  Collegium  von  weltlichen  und 
geistlichen  Räthen  gesetzt,  als  geistlicher  Direktor  Fresenius  und 
zu  dessen  Unterstützung  2  Gehilfen,  der  Bruder  des  Direktors, 
Johann  Friedrich  Fresenius,  und  der  bisherige  Mitarbeiter  am 
Institutum  Johann  Caspar  Horst  angestellt.  Ein  Oekonom  sollte 
für  den  leiblichen  Unterhalt  der  Proselyten  sorgen  und  ausserdem 
dem  Rechnungswesen  der  Anstalt  vorstehen. 

Die  Aufzunehmenden,  nämlich  Christen  aus  der  römischen 
Kirche,  welche  zur  evangelischen  übertraten,  und  Juden  sollten 
in  der  Anstalt  so  lange  verweilen  dürfen,  bis  sie  konfirmirt  oder 
weiter  versorgt  wären.  Zur  Erbauung  der  nöthigen  Gebäude 
und  zur  Erhaltung  der  Anstalt  wurden  Liebesgaben  erbeten  und 

J.   F.  A.  de  le  Roi,   Missionsbeziehungen.  2~l 


—     354     — 

solche  kamen  auch  von  vielen  Seiten,   besonders  aber  auf  einer 
Kollektenreise  ein,  welche  der  jüngere  Fresenius  unternahm. 

Nach  den  Regeln  der  Anstalt  sollten  alle  sich  Meldenden, 
so  weit  die  Mittel  reichten,  angenommen  und  Niemand  von  vorn 
herein  abgewiesen  werden.  Jeder  sollte  dann  zunächst  eine 
Probezeit  durchmachen,  in  welcher  er  unter  geistliche  Pflege 
genommen,  aber  auch  zu  körperlicher  Arbeit  angehalten  werden 
sollte.  Die  sich  in  dieser  Zeit  bewährten,  sollten  dann  länger 
in  der  Anstalt  verbleiben  dürfen,  bis  sie  in  die  evangelische 
Kirche  aufgenommen  und  bis  auch  für  ihre  weitere  Unterbringung 
in  irgend  einem  bestimmten  Lebensberufe  gesorgt  wäre. 

Sobald  die  Errichtung  dieser  Anstalt  bekannt  geworden 
war,  schickte  man  nun  von  allen  Seiten  und  aus  allen  Gegenden 
her  ihr  Juden  zu,  welche  die  Aufnahme  in  die  christliche  Kirche 
erbaten.  Natürlich  war  dieselbe  nicht  im  Stande,  so  ungemes- 
senen Ansprüchen  zu  genügen.  Es  wurde  desshalb  die  übrigens 
doch  nur  sehr  massige  Forderung  gestellt,  dass,  wer  eine  Person 
nach  Darmstadt  schicke,  gleichzeitig  1 2  Thaler  einzusenden  habe, 
damit  der  Ankömmling  dafür  12  Wochen  in  der  Anstalt  ver- 
weilen dürfe.  Für  diesen  billigen  Preis  sollten  ihm  Kost,  Quartier 
und  Bett  gewährt  werden.  Zeige  sich  nun  der  Ankömmling 
redlich  und  fleissig,  so  könne  er  in  diesem  Zeiträume  „einen 
genügsamen  Grund  vom  Evangelium  fassen"  und  solle  dann 
weiter  behalten,  im  anderen  Falle  aber  weggeschickt  werden. 
Geschähe  das  letztere,  so  werde  man  das  noch  übrig  gebliebene 
Geld  zum  Besten  eines  anderen,  welcher  von  demselben  Wohl- 
thäter  gesandt  werden  dürfte,  aufbewahrt  werden. 

Betrüger  wurden  in  der  Anstalt  fast  stets  sehr  bald  durch- 
schaut. Praktischerweise  legte  man  ein  Verzeichniss  der  ordent- 
lichen und  unordentlichen  Proselyten  an  und  führte  genaue  Corre- 
spondenz  über  jede  einzelne  Persönlichkeit.  Im  Uebrigen  aber 
hatte  man  den  richtigen  Grundsatz,  dass  man  auch  üble  Erfah- 
rungen nicht  scheuen  dürfe.  „Wolle  man  diese  nicht  ertragen, 
so  müssten  das  Predigt-  und  Lehramt  und  alle  Obrigkeit  auf- 
hören. Christus  und  seine  Apostel  haben  alle  gerufen,  wenn  es 
gleich  vergeblich  war.  Viele  der  Bekehrten  des  Paulus  sind 
wieder  abgefallen.  Das  hat  er  aber  nicht  für  eine  Schmach 
gehalten  und  darum  sein  Amt  nicht  niedergelegt.  Richtig  sei  es, 
dass  viele  in  der  Anstalt  nur  den  leiblichen  Unterhalt  suchten, 
aber  zu  Christo  seien  die  meisten  Leute  auch  nur  aus  demselben 


—     355     — 

Grunde  gekommen,  und  doch  habe  er  sich  ihrer  angenommen. 
Die  Gelegenheit,  den  Herrn  zu  finden,  solle  man  Keinem  vorent- 
halten. Man  lasse  sich  aber  auch  nicht  durch  die  Besorgniss, 
Heuchler  heranzuziehen,  schrecken;  denn  die  Arbeit  der  Anstalt 
ziele  eben  darauf  ab,  alle,  wie  immerhin  ihre  Gesinnung  von 
Hause  aus  sein  möge,  zu  Himmelskindern  zu  machen." 

Thatsächlich  machte  die  Anstalt  auch  ganz  überwiegend 
günstige  und  erfreuliche  Erfahrungen.  Als  Fresenius  am  28.  Ok- 
tober 1742  nach  Giessen  versetzt  wurde,  um  eine  Stelle  als  Pro- 
fessor der  Theologie  an  der  dortigen  Universität  zu  übernehmen, 
konnte  er  in  seiner  Abschiedsrede  bezeugen:  „Endlich  hat  mir 
Gott  an  dem  hiesigen  Orte  eine  grosse  Menge  von  solchen 
Seelen  zugeführt,  welche  vorher  entweder  ganz  in  der  jüdischen 
Finsterniss  oder  in  einem  falschen  Lichte  (Katholiken)  gewandelt 
haben.  An  vielen  hat  mich  Gott  die  Freude  erleben  lassen,  dass 
sie  wahrhaftig  bekehrt  wurden,  und  bei  vielen  anderen  ist  es  zu 
einer  weiteren  besseren  Hoffnung  gekommen,  als  wir  leider  von 
unseren  meisten  Namenchristen  nimmermehr  haben  können." 

Die  Zahl  der  durch  Fresenius  in  seiner  Anstalt  der  evan- 
gelischen Kirche  in  dem  Zeiträume  von  4  Jahren  aus  dem  Katho- 
licismus  und  dem  Judenthum  zugeführten  Personen  beläuft  sich 
auf  nicht  weniger  als  400;  die  grössere  Zahl  derselben  waren 
Katholiken,  aber  ein  ansehnlicher  Theil  auch  Juden. 

Leider  ist  mit  dem  Abzüge  von  Fresenius  aus  Darmstadt 
die  Anstalt  auch  eingegangen.  Wie  dies  gekommen  ist,  wird 
uns  nicht  mitgetheilt.  Möglich,  dass  Ludwig  VIII.,  welcher  1739 
Ludwig  VII.  folgte,  nicht  den  gleichen  Missionssinn  hatte  und 
daher  eine  Fortführung  der  Anstalt  nicht  beliebte.  Die  Fonds 
derselben  wurden  allerdings  zunächst  noch  hauptsächlich  ihrem 
ursprünglichen  Zwecke  entsprechend  verwandt,  im  19.  Jahrhundert 
dann  aber  anderen  Kassen  zugewiesen,  besonders  dem  Pfarrei- 
besserungs-,  dem  Schul-  und  Pädagogenfond.  Den  letzten  Rest 
von  95  Pfennigen  sendet  jährlich  das  Darmstädter  Ober-Consi- 
storium  an  den  Verein  der  Freunde  Israels  in  Basel  ein. 

Ein  solches  Schicksal  hatte  die  Anstalt  nicht  verdient, 
sondern  der  Versuch  von  Fresenius  hätte  wohl  zu  ihrer  Fort- 
setzung ermuntern  können.  Es  kam  nur  darauf  an,  Männer  zu 
gewinnen,  welche  wie  Fresenius  willig  genug  waren,  der  gedul- 
digen Arbeit  der  Erziehung  und  Pflege  der  Taufbewerber  sich 
zu  unterziehen,  dann  versprach  das  Werk  einen  guten  Fortgang. 

23* 


-      35"      — 

Die  Anstalt  war  überdem  auch  dadurch  günstiger  als  andere 
Judenmissionsanstalten  veranlagt,  dass  sie  nicht  bloss  jüdische, 
sondern  ebenso  christliche  Personen  aufnahm.  Unter  diesen 
letzteren  gab  es  viele  ernste  Seelen,  welche  den  jüdischen  Kate- 
chumenen  ein  Halt  wurden.  Jüdische  Taufbewerber  allein  auf 
einander  in  derartigen  Anstalten  angewiesen,  unterliegen  sehr 
vielen  Versuchungen  und  Gefahren  und  finden  in  sehr  vielen 
Fällen  an  einander  nicht  die  genügende  Stütze,  die  rechte  Mahnung 
und  Reizung  zum  Vorwärtsdringen  oder  die  Bewährung,  welche 
sie  in  der  Uebergangszeit  besonders  nöthig  haben ;  sie  haben  vor 
einander  sehr  leicht  auch  nicht  die  nöthige  Scheu.  In  Darmstadt 
war  dies  anders,  wo  sie  eine  erhebliche  Zahl  von  Christen  in 
der  gemeinsamen  Anstalt  neben  sich  sahen,  unter  denen,  neben 
unlauteren  Elementen,  doch  eben  auch  viele  mit  ernst  christlichem 
Sinne  erfüllte  Personen  sich  befanden. 

In  Giessen  blieb  Fresenius  nur  ein  Jahr  und  wurde  hierauf 
Senior  in  Frankfurt  a.  M.  Er  fuhr  aber  auch  in  diesen  beiden 
Stellungen  fort,  für  das  Heil  der  Juden  zu  wirken.  Das  that  er 
besonders  durch  seine  Schrift:  „Betrachtungen  von  Christo". 
Mehrere  dieser  Betrachtungen  sind  ausdrücklich  auf  Juden  berechnet. 
So  die  dritte,  welche  den  Beweis  aus  dem  Alten  Testamente 
führt,  dass  Jesus  der  Messias  sei.  Im  Voraus  bemerkt  Fresenius 
hier,  er  wolle  in  dieser  Schrift  besonders  Studirenden  zeigen, 
wie  man  die  Juden  angreifen  und  sie  zu  überzeugen  suchen  müsse. 
Ebenso  wolle  er  lernbegierigen  Juden  und  Proselyten  gründlich 
und  treulich  in  einem  Büchlein  zusammenstellen,  wie  sie  selbst 
zur  nöthigen  Erkenntniss  gelangen,  andere  in  derselben  befestigen 
und  von  ihren  gewöhnlichen  Ausflüchten  und  Vorurtheilen  befreien 
könnten.  Durch  deutsche  und  kleinere  Bücher  aber  erreiche  man 
diesen  Zweck  eher,  als  durch  lateinische,  grosse  und  gelehrte 
Schriften.  Nach  seiner  Erfahrung  käme  man  mit  den  Juden  am 
weitesten,  wenn  man  sich  ihnen  gegenüber  so  viel  immer  möglich 
allein  der  Heiligen  Schrift  bediene  und  sich  nicht  in  ihre  talmu- 
dischen und  rabbinischen  Schwärmereien  einlasse.  Er  vermeide 
es  daher  möglichst,  in  seinem  Buche  derartige  Zeugnisse  anzu- 
führen. „Hören  sie  Moses  und  die  Propheten  nicht,  so  werden 
sie  auch  den  Zeugnissen  des  Talmud  nicht  glauben." 

Hierauf  tritt  Fresenius  den  Beweis  für  die  Messianität  Jesu 
aus  dem  Alten  Testamente  an.  Er  behandelt  zunächst  die  Natur 
und  Beschaffenheit  der  auf  den  Messias  abzielenden  Weissagungen 


—     357     — 

des  Alten  Testamentes  überhaupt;  sodann,  dass  der  Messias 
nach  den  verschiedenen  Stellen  des  Alten  Testamentes,  auf  die 
besonders  eingegangen  wird,  schon  vor  1 700  Jahren  hätte  kommen 
müssen  und  thatsächlich  auch  gekommen  sei.  Die  Einwendungen 
hiergegen  werden  widerlegt.  Kapitel  3  führt  aus,  dass  Jesus 
der  Messias  sei,  und  auch  der  Beweis  hierfür  wird  aus  dem 
Alten  Testamente  erbracht.  In  der  vierten  Betrachtung  wird  sodann 
das  Neue  Testament  benützt;  denn  man  dürfe  es  bei  dem  Alten 
nicht  bewenden  lassen,  sondern  solle  die  Juden  auch  durch  das 
Neue  überführen,  dass  sie  Jesum  als  ihren  Erlöser  verehren 
müssen.  Was  für  das  Alte  Testament  und  seine  Propheten,  das 
spreche  auch  für  das  Neue  Testament  und  seine  Apostel.  Dre 
Charakter  Jesu  endlich,  die  Gewissheit  seiner  Auferstehung,  welche 
das  Zeugniss  so  vieler  Menschen  für  sich  habe,  und  die  wunder- 
bare Ausbreitung  des  Reiches  Christi  müsse  die  Juden  im  Gewissen 
überführen,  dass  Jesus  ihr  Messias  sei. 

In  seiner  lateinischen  Disputation  „über  die  pastorale  Klug- 
heit, dargestellt  nach  den  Zeichen  der  Zeit",  gedenkt  Fresenius 
ebenfalls  der  Juden  und  des  Callenberg'schen  Instituts,  das  er 
eben  so  sehr  empfiehlt,  als  er  die  Saumseligkeit  der  Christen  bei 
der  Arbeit  an  den  Juden  beklagt.  Stets  blieb  er  ein  warmer 
Freund  der  Halle'schen  Anstalt  und  hat  in  seinem  Wirkungskreise 
auch  immer  der  Juden  gedacht. 

Scheiterte  die  Darmstädter  Anstalt  daran,  dass  man  es 
christlicherseits  nicht  zu  rechter  Beständigkeit  in  der  Sorge  für 
die  Katechumenen  und  Proselyten  brachte,  so  zeigt  auch  noch 
ein  anderer  Fall,  warum  Missionsunternehmungen  unter  den  Juden 
oft  nicht  gelingen  wollen. 

1735  trat  in  Berlin  der  Rabbiner  Wolf  Salomon  zur  refor- 
mirten  Kirche  über  und  erhielt  in  der  Taufe  die  Namen  Christian 
Friedrich  August.  Der  König  Friedrich  Wilhelm  I.  von  Preussen 
ertheilte  ihm  darauf  die  Erlaubniss,  an  der  Universität  Halle  die 
orientalischen  Sprachen  zu  lehren  und  wies  ihm  auf  dem  Refor- 
mirten  Gymnasium  einen  Freitisch  an.  Während  so  für  ihn  selbst 
gesorgt  war,  sah  er  dagegen  viele  andere  Proselyten  wandernd 
umherirren  und  geistlich  wie  leiblich  verkommen.  Er  richtete 
desshalb  1736  eine  Schrift  an  den  König  von  Preussen,  in  welcher 
er  denselben  um  die  Errichtung  eines  Hauses  bat,  in  welchem 
Proselyten  und  Taufbewerber  Aufnahme  finden,  und  so  die  Juden 
nicht  länger  durch  das  Schicksal  ihrer  früheren  Glaubensgenossen 


-     353     - 

von  der  Taufe  abgeschreckt  werden  möchten.  Chr.  Fr.  August 
schlug  die  Errichtung  einer  Leinen-  oder  Wollenfabrik  vor,  in 
welcher  die  Aufgenommenen  sich  ihr  Brod  verdienen  und  zugleich 
geistliche  Pflege  geniessen  sollten.  Auch  weibliche  Personen 
müssten  zugelassen  und  mit  weiblichen  Arbeiten  beschäftigt  werden. 
Für  sich  selbst  erbat  er  die  Stelle  eines  Unterinspectors  an  der 
Anstalt,  um  als  solcher  seinen  Brüdern  geistliche  Handreichung 
zu  thun.  Sein  Vorschlag  fand  bei  König  Friedrich  Wilhelm  I. 
kein  Gehör. 

Später  wiederholte  Chr.  Fr.  August  denselben  dem  Herzog 

Ernst  August  von  Sachsen-Weimar  gegenüber.     Dieser  ging  auf 

den  Plan  ein  und  erklärte  sich  bereit,  in  der  Bergstadt  Dorenberg 

eine    derartige  Manufaktur  zu    errichten   und   für   die    kirchliche 

Versorgung   der  Proselyten    und    Katechumenen    eine    reformirte 

Proselytenkirche  zu  erbauen.  1 74 1  erliess  der  Herzog  eine  öffentliche 

Aufforderung ,  dass  man  ihm  zur  Ausführung  seines  Planes  eine 

Beisteuer  gewähren  wolle,    und   forderte    zugleich    Christen    auf, 

nach  Dorenberg  zu  ziehen,  um  an   der  betreffenden  Manufaktur 

zu  arbeiten.     Die   dem  Rufe  Folge    leisten   würden,  sollten   eine 

zwölfjährige  Abgabenfreiheit  erhalten.     Ein  Kaufmann  Joh.  Heinr. 

Kr  eil  mann  und  Chr.  Fr.  August  sollten  dem  Werke  vorstehen 

und  beide  zunächst  auf  einer  Collektenreise  die  Mittel  für  dasselbe 

sammeln.     Der  Aufruf  des  Herzogs  hatte  aber  einen  sehr  geringen 

Erfolg,  und  dazu  liefen  in  Weimar  beim  Hofe  Gerüchte  ein,  dass 

August,  der  sich  auf  die  Collektenreise  begeben  hatte,  die  Gelder 

veruntreue.    Schon  als  der  genannte  Proselyt  sich  in  Berlin  befand, 

geschah    dies.      Ein    Rechtfertigungsschreiben    desselben   scheint 

die  Besorgniss  des  Herzogs  einstweilen  beschwichtigt  zu  haben. 

Jedesfalls  Hess  er  August  weiter  reisen.    Derselbe  kam  dann  auch 

bis  Holland,    hernach   aber   wird  seiner   nicht   mehr  Erwähnung 

gethan,  sondern  es  heisst,  er  sei  mit  den  ihm  anvertrauten  Geldern 

davongelaufen.     Ob  diess  der  Fall  gewesen  ist  oder  nicht,  lässt 

sich  jetzt  nicht  mehr  ermitteln.     Der  Herzog  war  fest  überzeugt, 

dass    August   ein   Betrüger   war,    Hess    das    Unternehmen   sofort 

fallen    und  hielt  von    da   ab    alle   Proselyten    für   Heuchler   und 

Schurken,  so  dass  er  es  nicht  gestatten  wollte,    einen   Juden  in 

seinem  Lande  zu  taufen. 

Man  war  in  dem  Unternehmen  nicht  mit  der  rechten  Weis- 
heit vorgegangen  und  hatte  den  Plan  desselben  sofort  zu  umfang- 
reich angelegt,    statt  klein  zu   beginnen    und    dann   vorwärts   zu 


—     359    — 

schreiten.  August  hatte  man  in  eine  verführerische  Lage  gebracht 
und  alsdann  unbesehens  dem  allgemeinen  Verdachte  gegen 
Proselyten  Raum  gegeben;  in  ähnliche  Fehler  aber  verfällt  man 
noch  jetzt  sehr  oft  den  Proselyten  gegenüber. 

m.     Die  Brüdergemeine. 

Zinzendorf,  der  Passagier  in  Sonderbare  Gespräche  1739, 
neu  herausgegeben  von  Dr.  A.  Petersen.  Jena,  Fromann  1880. 
Saat  auf  Hoffnung,  Ostern  1864.  Geschichten  und  Charakterzüge 
aus  Graf  Zinzendorfs  und  der  ersten  Brüdergemeine  Verhältnisse 
zu  den  Juden.  Saat  79,  Forts.  3,  177  ff.  Dibre  Emeth  1871, 
43  ff.  Dober,  Lieberkühn  und  andere  S.  65  ff.  S.  97  ff. 
Lieberkühn,  Zinzendorf,  D.  Kirchhof  und  dessen  Frau  (Esther 
Grünbeck)  1880  S.  135  ff.  Graf  Zinzendorf  und  Samuel  Lieber- 
kühn von  C.  Axenfeld.  Köln  1873.  Vormbaum,  Zeitschrift 
1872  Forts.  2.     Rheinisch-westphälisches  Missionsblatt  1875  Nr.  5. 


Der  Einfiuss  von  Spener  und  Franke,  unter  dem  Graf 
Zinzendorf  von  Jugend  auf  stand,  hat  in  demselben  auch  schon 
früh  Missionsgedanken  wach  gerufen.  Der  Knabe  bereits  stiftete 
auf  dem  Halle'schen  Pädagogium  unter  seinen  Altersgenossen 
einen  Senfkornorden,  der  die  Bekehrung  der  Juden  und  Heiden 
auf  das  Herz  nahm.  Und  es  waren  nicht  bloss  jugendliche  Ein- 
fälle oder  Schwärmereien  gewesen,  welche  ihn  zu  solchen  Gedanken 
und  Unternehmungen  brachten,  sondernder  zum  Manne  Herangereifte 
führte  hernach  aus,  was  der  Knabe  geplant  hatte. 

Zinzendorf  hat  denn  auch  später  nicht  bloss  der  Heiden- 
mission seine  Theilnahme  zugewandt,  sondern  die  Bekehrung  der 
Juden  ist  ihm  ein  stetes  Anliegen  geblieben.  Das  Callenberg'sche 
Vorgehen  besonders  zog  seine  Aufmerksamkeit  auf  sich  und  wies 
ihn  in  ernsterer  Weise  auf  die  Juden  hin.  Schon  früh  sehen  wir 
ihn  die  Schriften  des  Institutum  zur  Verbreitung  unter  den  Juden 
erbitten  und  ebenso  den  Juden  selbst  mit  dem  mündlichen 
Zeugnisse  entgegentreten.  Im  Jahre  173 1  wird  z.  B.  nach  Halle 
berichtet  (Bericht  6,  5  ff.),  dass  eine  gewisse  Standesperson  in 
Franken  von  der  Judenschaft  durch  Deputirte  ersucht  worden  sei, 
ihnen  zu  erlauben,  dass  sie  den  erbaulichen  Versammlungen  auf 
dem  Schlosse  beiwohnen  dürften.  Als  sie  die  Erlaubniss  bekommen, 
seien  bei  20  Juden,  Jüdinnen  und  Kinder  erschienen,  zu  deren 
Unterricht  eine  vornehme  Person  eine  Rede    gehalten  über  Mel- 


—     36o     — 

chisedek  nach  i  Mose  14,  17 — 20  und  den  110.  Psalm  von 
ihrem  ewigen  Mittler  und  Hohenpriester.  Sie  habe  alle  ihre 
Beweisgründe  aus  dem  Alten  Testamente  genommen  und  dabei 
immer  auf  das  Zeugniss  des  Herzens,  den  Busskampf  und  den 
Sieg  mit  Jakobs  Waffen  nach  Hosea  2,  2.  4  gedrungen.  Die 
Juden  seien  theils  bis  zu  Thränen  gerührt  worden. 

Unter  dieser  vornehmen  Person  ist,  wie  es  Spange nberg 
und  hernach  Zinzendorf  selbst  mitgetheilt  haben,  der  Graf  zu 
verstehen,  der  1730  in  Berleburg  verweilte. 

Von  da  ab  blieb  Zinzendorf  im  Verkehr  mit  vielen  Juden, 
besonders  in  jener  Gegend.  1736  kam  er,  aus  Sachsen  verbannt, 
nach  der  Wetterau.  In  den  verfallenen  Mauern  der  Ronneburg, 
welche  ihm  der  Graf  Isenburg  als  Wohnsitz  anwies,  hatten  sich 
56  Familien  Juden,  Zigeuner  und  verdächtige  Leute  angesiedelt. 
An  diesen  allen  und  besonders  an  den  Juden  arbeitete  er  nun 
mit  der  ganzen  Kraft  und  Innigkeit  seines  liebewarmen  und  um 
die  Seligkeit  Aller  ringenden  Herzens.  Es  war  ihm  wie  wenigen 
Menschen  gegeben,  die  Herzen  Anderer  zu  bewegen;  das  erfuhren 
auch  die  Juden,  welche  dort  sein  Zeugniss  vernahmen.  Glaub- 
recht schildert  in  seinem  Buche:  „Zinzendorf  in  der  Wetterau" 
diesen  Verkehr  Zinsendorfs  mit  den  dortigen  Juden  und  die 
Bekehrung  eines  alten  Israeliten  Abraham. 

In  dieser  Zeit  und  in  Folge  der  hier  gemachten  Erfahrungen 
richtete  Zinzendorf  an  die  Juden  jener  Gegend,  zu  denen  besonders 
auch  ein  gewisser  Nunez  d'Acosta  gehörte,  den  er  unter  grossen 
eigenen  Entbehrungen  aus  Amerika  mit  herüber  genommen  hatte, 
einen  Brief,  welcher  seinen  Verkehr  mit  den  Juden  und  seine 
eigentliche  Geistesart  in  besonderem  Maasse  kennzeichnet,  über- 
dem  aber  zu  den  bedeutendsten  Zeugnissen  gehört,  die  jemals 
wahrer  Missionssinn  den  Juden  entgegengebracht  hat.  Derselbe 
lautet : 

„Ihr  lieben  Juden  in  dieser  Gegend.  Ich  wollte  euch  gern 
sehr  loben  wegen  eurer  bisherigen  und  nun  so  vielhundertjährigen 
Pünktlichkeit  in  eurem  Gesetz;  ich  wollte  mich  mit  euch  über 
unseres  Königs  und  Gottes  erstaunliche  Härte  wundern,  der  euch 
nach  eurem  grossen  und  himmelschreienden  Götzendienst,  Ver- 
gehungen und  Greueln  nie  über  70  Jahre  hat  zappeln  lassen,  nun 
aber  bald  1700  Jahre  in  der  äussersten  Verlegenheit  ohne  Tempel 
und  Opfer  lässt,  da  ihr  gar  nichts  gethan  habt  und  nur  eifriger 
in  eurer  Religion  gewesen  seid  als  vor  und  nach  eurer  Verstörung: 


—     3öi     — 

wenn  euch  nicht  euer  eigenes  Herz  sagte  —  so  viel  euer  vor 
Nahrungssorgen,  vor  Blindheit  oder  Widrigkeit  gegen  die  soge- 
nannten, auch  mit  allem  Recht  abominablen  Christen  zum  Nach- 
denken fähig  sind  —  dass  eure  jetzige  hartnäckige  Andacht  die 
Ursache  seines  Grimmes  über  euch  sei. 

Denn  weil  es  der  eigentliche  Charakter  der  Juden  ist,  alle- 
mal zu  widerstreben  —  das  Zeugniss  geben  euch  eure  eigenen 
Propheten,  Moses  nennt  euch  schon  ein  halsstarriges  Volk  — 
so  habt  ihr  immer,  wenn  ihr  einen  Gott  habt  anbeten  sollen, 
etliche  haben  wollen;  wenn  ihr  hörtet,  er  wäre  unsichtbar,  so 
wolltet  ihr  ihn  sehen.  Seitdem  ihr  hört,  er  habe  sich  dreifach 
geoffenbart,  so  dringt  ihr  auf  die  Einigkeit  seiner  Natur;  und 
seitdem  man  euch  sagt,  er  habe  sich  unter  den  Menschen  sehen 
lassen,  so  dringt  ihr  darauf,  dass  Niemand  ihn  sehen  könne. 
Als  er  euch  in  den  Tempel  wies,  so  liefet  ihr  auf  alle  Berge 
hinaus;  nun  er  euch  Freiheit  giebt,  allenthalben  zu  beten,  so  hättet 
ihr  gern  einen  besonderen  Ort. 

Da  er  euch  seine  Gebote  und  Rechte  lehrte,  sagten  eure 
Väter  zu  Mose:  „wir  wollen",  und  es  war  nicht  ihr  Ernst;  zu 
Jeremia:  „wir  wollen  nicht",  und  was  sie  auch  thaten,  das  hiess 
Last,  unerträgliche  Last.  Seitdem  er  euch  versprochen  hat,  er 
wolle  euch  nicht  mehr  zwingen,  sondern  einen  Bund  mit  euch 
machen,  der  ganz  anders  sein  soll,  als  der  vorige,  euer  Herz 
solle  willig  und  heilig  werden,  so  wollt  ihr  lieber  600  Gesetze 
halten,  als  das  selige  Herz  annehmen,  das  ihr  haben  könnt,  und 
die  Freiheit,  die  euch  gegönnt  ist. 

Ihr  wollt  lieber  Israel,  das  doch  eine  Kreatur  ist,  vergöttern 
und  ihm  Namen  beilegen  (lesaia  53),  die  Niemand  als  Gott  zu- 
kommen, als  dass  ihr  einen  Messias  ansehen  wollt,  wo  er  ist, 
und  erkennen,  dass  er  zuerst  in  einer  armen  Gestalt  und  darnach 
erst  herrlich  erscheinen  wird. 

Das  ist  die  Ursache,  warum  ich  euch  bisher  noch  nichts 
von  meinem  Lamme  gesagt,  das  ich  doch  in  so  vielen  Gegenden 
der  Welt  predige  und  predigen  lasse,  und  das  mir  doch  nie  aus 
Herz  und  Munde  kommt.  Das  ist  die  Ursache,  warum  ich  meinem 
Nunez  d'Acosta  so  wenig  als  euch  davon  vorsage,  ob  er  gleich 
in  meinem  Hause  und  Brote  ist  und  mich  gewiss  als  seine 
Seele  liebt. 

Ihr  müsst  erst  euren  Sinn  ändern,  ihr  müsst  erst  Kinder 
werden,  ihr  rnüsst  erst  eure  Selbstgerechtigkeit  fahren  lassen  und 


—     362     — 

glauben,  dass  ihr  verlorene  Sünder  seid,  die  Jemand  brauchen, 
der  sich  ihrer  erbarme  zeitlich  und  ewig. 

Alsdann,  meine  um  der  Väter  willen  geehrte  Väter,  und  um 
meines  auch  um  euch  geschlachteten  Lammes  willen  innig  ge- 
liebte Freunde,  will  ich  euch  mit  Freuden-  und  Liebesthränen 
von  dem  vorsagen,  ohne  den  ich  weder  leben  noch  selig  werden 
will,  und  mit  dem  ich  lieber  in  der  Hölle,  als  ohne  ihn  im  Himmel 
sein  wollte.    Ihr  wisst  wohl,  wen  ich  meine." 

Dieser  Brief  kennzeichnet  nach  allen  Seiten  die  Art,  wie 
Zinzendorf  Mission  unter  den  Juden  trieb.  Auf  dem  Schiffe,  das 
ihn  mit  Nunez  d'Acosta  nach  Europa  herüberführte,  überliess 
er  diesem  und  seiner  Frau  seine  Cajüte,  weil  die  letztere  leidend 
war,  und  schlief  selbst  schlecht  gebettet  unter  der  ganzen  Menge 
des  gewöhnlichen  Schiffsvolkes.  Er  enthielt  sich  sodann  selbst 
aus  freiem  Entschluss  aller  der  Speisen,  welche  den  Juden  ver- 
boten sind,  und  beobachtete  auch  den  Sonnabend  neben  dem 
Sonntage  als  Ruhetag.  Den  Juden  war  er  recht  eigentlich  ein 
Jude  geworden,  um  ihrer  etliche  zu  gewinnen. 

Den  vielbetretenen  Weg  der  blossen  Verstandesüberführung 
vermied  er,  dafür  wandte  er  sich  desto  ernstlicher  und  eindring- 
licher an  ihre  Gewissen.  Er  hatte  es  klar  erkannt,  dass  ihre 
Selbstgerechtigkeit,  ihre  Hoffahrt  und  die  Vergötterung,  welche 
sie  mit  ihrem  Volke  trieben,  der  Anerkennung  Jesu  als  des 
Heilandes,  Erlösers  und  Versöhners  unter  ihnen  am  meisten  im 
Wege  stünden.  Für  diesen  ihren  tiefsten  und  so  fest  gewurzelten 
Schaden  suchte  er  ihnen  desshalb  vor  allem  die  Augen  zu  öffnen 
und  hierzu  besonders  das  Schriftzeugniss  ihren  Herzen  nahe  zu 
bringen.  Dabei  ging  er  aber  auch  in  pädagogischer  Weise  zu 
Werke.  Er  trat  ihnen  nicht  mit  der  fertigen  Dogmatik  entgegen, 
deren  Anerkennung  er  alsbald  von  ihnen  gefordert  hätte,  sondern 
suchte  in  ihnen  ein  Gefühl  dafür  zu  erwecken,  dass  sich  in  Wahr- 
heit nur  durch  Christum  die  Fragen  des  Herzens  und  die  Räthsel 
des  Lebens,  besonders  aber  auch  die  Räthsel  ihrer  Geschichte  in 
Vergangenheit  und  Gegenwart  lösten,  und  allein  die  Bekehrung 
zu  Jesu  ihnen  Hilfe  zu  bringen  vermöge. 

Von  solchen  Grundsätzen  geleitet,  verfasste  er  auch  die  bei- 
den von  den  Juden  handelnden  Gespräche  (12  und  13)  in  der 
Schrift :  „Der  Passagier  oder  Sonderbare  Gespräche  u.  s.  w." 
2.  Aufl.  Altona  1739.  Tm  12.  Gespräch  tritt  er  zunächst  der 
Missachtung    und  Misshandlung  entgegen,    die   man   damals  den 


—   363   — 

Juden  widerfahren  Hess,  und  zeigt  sodann,  wie  sich  unter  den 
Christen  leicht  eine  pharisäische  Gesinnung  über  die  Juden  erhebe, 
während  man  es  doch  selbst  nicht  besser  mache.  Endlich  weist 
er  aber  darauf  hin,  warum  Christen  Ursache  hätten,  die  Juden 
noch  mit  anderen  Augen  anzusehen. 

Im  13.  Gespräch  wird  die  Sache  mit  einem  Juden  selbst 
geführt.  Das  Elend,  in  welchem  sie  sich  befinden,  werde  aufhören, 
wenn  sie  es  lernen  wollten,  sich  vor  dem  Messias  zu  demüthigen, 
welchen  Jesaia  53  bezeugt.  Dort  sei  der  Messias  verheissen, 
welcher  die  Sünde  davontragen  und  darüber  sein  Leben  zum  Opfer 
darbringen,  auf  diese  Weise  aber  auch  die  Vielen  gerecht  machen 
werde.  Von  eben  solchem  Messias  rede  und  handle  das  Neue 
Testament  und  nenne  also  den,  welcher  nichts  anderes  als  eine 
Bestätigung  der  Propheten  sei,  während  der  Talmud  einen  Messias 
predige,  den  kein  Prophet  so  beschrieben  habe,  und  von  dem  das 
Alte  Testament  nichts  wisse.  Freilich  verklage  man  jüdischer- 
seits  den  Messias  des  Neuen  Testamentes,  dass  er  das  Gesetz 
aufgehoben  habe  und  dass  er  so  ein  Verführer  Israels  habe 
werden  wollen.  Aber  er  habe  vielmehr,  obwohl  er  für  seine 
Person  das  ganze  Gesetz  pünktlich  gehalten,  den  verheissenen  neuen 
Bund  aufgerichtet;  und  also  sei  es  nur  eine  Sache  der  Freiheit 
für  den  einzelnen  Juden,  ob  er  noch  das  alttestamentliche  Gesetz 
beobachten  wolle  oder  nicht.  „Darüber  disputire  ich  nicht,  weil 
ich  z.  B.  gute  Seelen  unter  uns  kenne ,  die  aus  Liebe  zu  euch 
sich  aller  der  Speisen  enthalten,  die  euch  verboten  sind." 

Wiederholt  hat  er  dann  in  seinen  Reden  an  die  Gemeine 
dieselbe  auf  die  Juden  hingewiesen,  und  die  Hindernisse  bezeichnet, 
welche  der  Bekehrung  der  Juden  und  dem  geistlichen  Wachsthum 
der  Getauften  im  Wege  stünden.  Dass  so  viele  Proselyten 
hernach  innerlich  wieder  zurückgingen,  habe  besonders  in  dem 
tiefen  Hochmuth  der  Juden  und  zumal  der  Gelehrten  unter  ihnen 
seinen  Grund.  „Sie  nehmen  die  christliche  Wahrheit  an,  weil  sie 
sich  aus  der  Bibel  legitimirt,  aber  sie  haben  nicht  das  gehörige 
Gefühl,  das  Feuer  in  den  Gebeinen  über  den  auf  ihnen  liegenden 
Fluch  über  der  Blutschuld  an  ihrem  Schöpfer.  Es  muss  bei 
einem  bekehrten  Juden  noch  immer  über  dem  Denkmal  der 
Schuld  seines  Volks  blutige  Zähren  setzen."  Um  so  mehr  Hess 
er  sich  bei  solcher  Erkenntniss  die  geistliche  Pflege  der  zur 
Brüdergemeine  gekommenen  Juden  angelegen  sein. 


—   364    — 

Als  eine  Anzahl  von  Juden  und  Proselyten  zur  Gemeine 
übertrat ,  nahm  die  Hoffnung  Zinzendorfs  für  die  Juden  eine 
weitere,  etwas  überschwängliche  Gestalt  an.  Er  hoffte  aus  den- 
selben eine  besondere  juden-christliche  Gemeinschaft  inmitten  der 
allgemeinen  Brüdergemeine  bilden  zu  können,  welche  dann  eine 
ganz  besondere  Anziehung  auf  die  Juden  ausüben  werde.  Aber 
die  Erfahrung  belehrte  Zinzendorf  und  die  Seinen,  dass  Erwar- 
tungen und  Hoffnungen  solcher  Art  noch  nicht  an  der  Zeit  seien, 
und  so  wurde  denn  auch  der  Plan,  eine  derartige  Gemeinde  zu 
stiften,  hernach  wieder  fallen  gelassen. 

Bis  an  sein  Ende  erhielt  jedoch  Zinzendorf  den  Juden  seine 
Theilnahme.  Noch  am  Jahresschluss  1759,  also  ein  Jahr  vor 
seinem  Tode,  äusserte  er:  „Die  Arbeit  an  den  Juden  ist  auch 
fortgegangen,  und  ich  habe  sie  in  keinem  Jahre  angenehmer  ge- 
funden als  in  diesem.  Es  ist  bei  ihren  Besuchen  in  Zeist  oft 
gründliche  Nachfrage  geschehen,  und  es  ist  ein  merklicher  Unter- 
schied gegen  alle  bisherigen." 

Solche  Gesinnung  gegen  die  Juden  blieb  aber  allerdings  nicht 
auf  Zinzendorf  selbst  beschränkt,  sondern  übertrug  sich  auch  auf 
die  Gemeine,  die  in  seine  Gedanken  und  Bestrebungen  gern 
einging,  weil  sein  Geist  in  ihr  lebte.  Zuerst  von  allen  evangeli- 
schen Kirchen  hat  die  Brüdergemeine  die  Juden  in  ihre  sonntäg- 
liche Litanei  eingeschlossen.  Besonders  wurde  ihrer  während 
der  früheren  Zeit  der  Gemeine  am  Jörn  Kippur,  dem  jüdischen 
Versöhnungstage  gedacht.  Knieend  wurde  hier  für  Israels  Be- 
kehrung von  der  ganzen  Gemeine  gebetet.  Das  tiefergreifende 
Gebet,  welches  Zinzendorf  am  Versöhnungstage  1739  in  ge- 
bundener Rede  vor  der  Versammlung  knieend  darbrachte,  ist 
noch  erhalten,  und  das  Gesangbuch  der  Brüdergemeine  enthielt 
schon  früh  Lieder,  welche  die  Bekehrung  der  Juden  erflehten. 

Ganz  besonders  aber  verdient  es  Erwähnung  und  Aner- 
kennung, dass  die  Brüdergemeine  die  erste  evangelische  Kirche 
gewesen  ist,  welche  die  Judenmission  als  ein  Werk  ihrer  Kirche 
selbst  trieb,  und  welche  es  nicht  der  privaten  Liebesthätigkeit 
überliess.  In  ihrem  Namen  und  Auftrage  gingen  ebenso  wie 
unter  die  Heiden  Missionare  unter  die  Juden.  Hier  zuerst  wurde 
die  Mission  ein  kirchliches  Werk. 

Die  erste  eigentliche  und  direkte  Missionsarbeit  in  der  jungen 
Kirche  wurde  Johann  Leonhard  Dober,  der  auch  ihr  erster 
Heidenmissionar  gewesen  ist,  übertragen.    Nach  seiner  Rückkehr 


-     365     — 

aus  Westindien,  wo  er  unter  den  Negern  gearbeitet  hatte,  er- 
hielt er  den  Auftrag,  1738  nach  Holland  zu  gehen,  um  dort  be- 
sonders den  Juden  das  Evangelium  zu  bezeugen.  Ein  und  ein 
halbes  Jahr  arbeitete  er  denn  auch  unter  den  Juden  von  Amster- 
dam. Mit  demselben  Eifer  und  von  demselben  gewaltigen 
Liebesdrange  getrieben,  wie  zuvor  unter  den  Negern,  sehn  wir 
ihn  im  Judenhoeck  jener  grossen  Stadt  wirken,  während  er  sich 
zu  gleicher  Zeit  mit  seinen  Händen  unter  saurer  Mühe  sein  täe- 
liches  Brod  erwarb;  und  dadurch  nicht  minder  als  durch  sein 
Wortzeugniss  wurde  er  eine  gewaltige  Predigt  an  die  Herzen  der 
Juden.  1739  aber  wurde  er  von  diesem  Arbeitsposten  abgerufen 
und  erhielt  in  Samuel  Lieberkühn  einen  Nachfolger,  der  seiner 
Aufgabe  in  besonderem  Maasse  gewachsen  war  und  nicht  bloss 
der  bedeutendste  Judenmissionar  der  Brüdergemeine  geworden 
ist,  sondern  überhaupt  auch  als  ein  hervorragender  Zeuge  Christi 
unter  den  Juden  stets  genannt  werden  wird. 

Samuel  Lieberkühn  ist  17 10  in  Berlin  geboren.  Als 
Kind  hatte  er  Freundlichkeiten  durch  Juden  erfahren  und  von 
da  ab  stets  eine  besondere  Zuneigung  zu  ihnen  empfunden.  Sein 
Vater,  der  Hofgoldschmied  des  Königs  Friedrich  Wilhelm  I.  von 
Preussen  war,  stand  mit  Spener,  Franke,  Schade  und  den 
bedeutendsten  Pietisten  in  reger  Verbindung.  Desshalb  sandte  er 
denn  auch  später  seinen  Sohn  ins  Franke'sche  Waisenhaus,  von 
welchem  aus  er  auf  die  Universitäten  Halle  und  Jena  ging,  um 
Theologie  zu  studiren.  Schon  während  seiner  Studienzeit  ver- 
kehrte er  mit  mehreren  Gliedern  der  Brüdergemeine.  1732  aber 
sah  er,  auf  der  Universität  Jena  studirend,  seine  Aufmerksam- 
keit von  Neuem  auf  die  Juden  gerichtet.  Die  vertriebenen 
Salzburger  Protestanten  kamen  damals  durch  jene  Stadt,  und 
Lieberkühn  entschloss  sich,  sie  als  ihr  Reiseprediger  bis  nach 
Königsberg  zu  begleiten.  Als  die  Schaaren  der  Emigranten  aber 
durch  Jena  zogen,  legten  die  Juden  für  dieselben  eine  besondere 
Theilnahme  an  den  Tag,  und  einer  derselben  rief  beim  Anblicke 
der  dahinziehenden  Menge  aus,  dass  sie  an  die  Zeit  erinnert  wür- 
den, wo  der  Messias  erscheinen  und  sie  in  solchen  Haufen  nach 
Kanaan  führen  werde. 

Diesen  Ausspruch  jenes  Mannes  hörte  Lieberkühn  und  der- 
selbe führte  ihn  zu  weiteren  Unterhaltungen  mit  Juden,  in  welchen 
sich  dieselben  auf  die  Schrift  dafür  beriefen,  dass  ihnen  noch  eine 
Rückkehr  in   ihr  Land   bevorstehe.     Lieberkühn   las    hierauf  die 


366 

Verheissungen  der  Schrift  für  Israel  nach,  und  das  veranlasste 
ihn,  fortan  den  Juden  eine  weitere  Fürsorge  zuzuwenden.  Schon 
auf  seiner  Reise  mit  den  Salzburgern  trat  er  desshalb  überall  mit 
den  Juden    in  Verkehr  und   erlernte  dazu  das  Jüdisch  -  deutsche. 

Auch  nachdem  er  1735  Mitglied  der  Brüdergemeine  ge- 
worden war,  blieb  er  seiner  Neigung  für  die  Juden  treu.  Er 
begleitete  den  Grafen  Zinzendorf  unter  die  Juden  der  Wetterau 
und  suchte  sie  in  Franken  auf.  Viele  derselben  gewannen  ihn 
bei  dieser  Gelegenheit  so  lieb,  dass  sie  ihm  schriftlich  dankten 
und  es  bekannten,  es  sei  noch  Niemand  mit  ihnen  so  liebreich 
umgegangen.  Im  folgenden  Jahre  besuchte  er  die  Juden  der 
Mark  Brandenburg  und  1737  von  Herrnhut  aus  die  in  Böhmen. 
Hier  erhielt  er  dann  den  Auftrag,  nach  Amsterdam  zu  gehen. 

In  Holland  widmete  er  sich  ganz  dem  Dienste  der  Juden. 
Um  recht  mit  ihnen  verkehren  zu  können,  Hess  er  sich  durch 
einen  Rabbi  in  das  Gebrauchthum  der  Juden  einführen  und  be- 
suchte fast  täglich  ihre  Gottesdienste.  Dadurch  eignete  er  sich 
eine  solche  Kenntniss  alles  Jüdischen  an,  dass  ihn  die  Juden  bald 
für  einen  Proselyten,  der  wieder  zu  ihnen  zurückkehren  wolle,  und 
bald  für  einen  Kundschafter  hielten,  der  Material  gegen  sie  zu 
sammeln  beabsichtige,  bald  wieder  für  einen  Menschen,  welcher 
die  Ihrigen  zum  Abfall  verleiten  wolle,  so  dass  er  einmal  nur  mit 
Noth  grober  Misshandlung  entging. 

Befragt,  was  er  unter  ihnen  wolle,  antwortete  er  den  Juden, 
er  sei  ihr  Freund  und  wolle  sehen,  ob  Jemand  unter  ihnen  den 
Weg  zum  Leben  kenne,  damit  er  sich  mit  demselben  vertraulich 
besprechen  möchte.  Der  Rabbi,  welcher  ihn  unterrichtete,  fühlte 
den  Einfluss ,  welchen  Lieberkühns  Umgang  auf  ihn  ausübte,  so 
tief,  dass  er  ihm  erklärte,  nach  der  Ueberzeugung  seines  Herzens 
könne  er  nicht  Jude  bleiben. 

Allgemein  erwiesen  ihm  die  Juden  ein  besonderes  Vertrauen 
und  er  wurde  selbst  in  eine  jüdische  Gesellschaft  als  ordentliches 
Mitglied  aufgenommen.  Um  ihnen  aber  recht  nahe  zu  kommen, 
vermied  er  alles,  was  ihnen  Anstoss  geben  konnte,  und  genoss 
desshalb  selbst  die  Speisen  nicht,  welche  den  Juden  verboten 
sind.  Durch  das  alles  hatte  er  sich  denn  auch  ein  solche 
Achtung  unter  den  Juden  Hollands  erworben,  dass  ihn  dieselben 
ganz  allgemein  den  Rabbi  Samuel  nannten  und  ihn  einmal  selbst 
in  Groningen  zu  einem  öffentlichen  Vortrage  in  der  Synagoge 
aufforderten. 


—     3^7     — 

174°  fand  Lieberkühn  auch  in  England  Eingang.  Als  er 
1 75 1  in  Zeist  Brüderprediger  wurde,  besuchten  die  dortigen  Juden 
fleissig  seine  Predigten.  1756  reiste  er  unter  den  Juden  Böhmens 
umher.  In  demselben  Jahre  aber  kehrte  er  noch  einmal  nach 
Amsterdam  zurück  und  wurde  von  den  dortigen  Juden  mit  be- 
sondererer Freude  aufgenommen.  Damit  schloss  er  seine  eigent- 
liche Missionsthätigkeit  in  Holland,  die  also  im  Dienst  der  Brüder- 
gemeine 20  Jahre  hindurch  geschehen  war.  Doch  war  er  nun 
durch  sein  Wirken  unter  den  Juden  so  weit  bekannt  geworden, 
dass  er  in  der  Folgezeit  überall,  wo  er  sich  aufhielt,  selbst  von 
ihnen  aufgesucht  wurde,  und  das  geschah  besonders  durch  polnische 
Juden,  als  er  von  1765 — 1777  Prediger  im  schlesischen  Neusalz  war. 

Lieberkühn  hatte  aber  auch  eine  besondere  Weise,  mit  den 
Juden  umzugehen.  Den  Disputationsweg  schlug  er  in  seinem 
Verkehr  mit  ihnen  gar  nicht  ein,  sondern  seine  Erfahrung  führte 
ihn  auf  andere  Bahnen.  Er  hat,  von  der  Brüderunität  hierzu  auf- 
gefordert, im  Jahre  1764  „nach  dreissigjährigem  Umgang  mit  den 
Juden"  selbst  seine  sogenannte  Methode,  mit  den  Juden  umzu- 
gehen, schriftlich  niedergelegt,  und  dieselbe  verdient  bei  allen, 
welche  Mission  unter  den  Juden  treiben  oder  auf  sie  geistlich 
einwirken  wollen,  wenn  auch  nicht  alles  in  ihr  die  gleiche  Zu- 
stimmung finden  kann,  besondere  Beachtung.  Lieberkühn  spricht 
sich  unter  anderem  so  aus : 

„Die  Juden  müssen  fühlen,  dass  man  selbst  eine  brennende 
Liebe  zu  seinem  Heilande  und  eine  aufrichtige  Liebe  zu  seinem 
Volke  Israel  habe.  Die  Methode,  deren  ich  mich  in  den  Unter- 
redungen mit  ihnen  bediene,  habe  ich  aus  der  Apostelgeschichte 
erlernt,  und  sie  besteht  in  folgenden  4  Punkten.  Zuerst:  dass 
Jesus  der  Gekreuzigte  der  Messias  ist,  der  uns  durch  seinen  Tod 
mit  Gott  versöhnt  hat,  und  durch  welchen  wir  allein  Gnade  und 
Vergebung  der  Sünden  erlangen.  Von  diesem  Punkte  lasse  ich 
mich  nicht  abbringen,  und  wenn  sie  mich  in  eine  andere  Materie 
hineinziehen  wollen,  z.  B.  von  der  Dreieinigkeit,  so  zeige  ich 
ihnen,  dass  man  davon  miteinander  nicht  reden  kann,  bis  man 
erst  an  Jesum  glaubt.  Die  Erfahrung,  dass  es  nutzlos  ist,  die 
Messianität  Jesu  aus  den  Weissagungen  zu  beweisen,  weil  die  un- 
gläubigen Juden,  nachdem  sie  gesehen  haben,  dass  die  Christen 
diese  Stellen  gegen  sie  gebrauchen  und  anführen,  dieselben  alle 
verdreht  und  auf  etwas  anderes  gedeutet  haben,  hat  mich  dahin 
geführt,  dass  ich  die  Wahrheit  von  der  Messianität  Jesu  nur  mit 


-     368     - 

dem  Argumente  darthue,  „weil  er  selbst  es  gesagt  hat."  Dieses 
Selbstzeugniss  habe  Jesus  mit  seinem  Tode  besiegelt,  die  Gewiss- 
heit seiner  Auferstehung  aber  trügen  unzählige  Christen  in 
sich  selbst. 

Sodann  gebe  ich  2)  zu,  dass  die  Verheissungen  des  Alten 
Testamentes  von  ihrer  Erlösung  aus  der  jetzigen  Gefangenschaft 
noch  nicht  erfüllt  sind,  aber  in  Erfüllung  gehen  werden,  und  zwar 
wieder  allein  durch  Jesum  Christum,  der  ihnen  alles  Gute  thun 
werde,  ob  sie  ihn  gleich  jetzt  nicht  lieb  haben. 

3)  Soll  man  ihnen  einräumen,  dass  sie  ihr  Gesetz  behalten 
können,  wenn  sie  an  Jesum  gläubig  geworden  sind;  denn  die 
Gerechtigkeit  kommt  nicht  aus  dem  Gesetz,  sondern  bei  Juden 
und  Heiden  aus  dem  Glauben  an  Jesum. 

4)  Müssen  die  Juden  «inen  rechten  Begriff  von  dem  Volke 
Gottes  unter  den  Goim  bekommen,  damit  das  Aergerniss  auf- 
höre, welches  sie  an  den  Christen  haben. 

Nach  dieser  Methode  habe  ich  bisher  meinen  Umgang  mit 
Juden  eingerichtet,  und  es  hat  zuletzt  auch  in  Zeist  einen  schönen 
Anschein  bekommen,  dass  noch  ein  Segen  für  dieses  Volk  her- 
auskommen werde." 

Auch  den  orthodoxen  jüdischen  Glauben  seiner  Zeit  stellte 
Lieberkühn  in  einem  kurzen  Bekenntnisse  dar. 

Zinzendorf  hatte  ganz  recht,  wenn  er  in  der  Jahresschluss- 
ansprache von  1759  über  das  Wirken  Lieberkühns  das  Urtheil 
fällte:  „Ich  glaube  gewiss,  dass  unser  Bruder  Samuel  seinen  Zweck 
erhält,  dass  in  der  ganzen  jüdischen  Nation,  so  weit  er  gelangt 
ist,  ein  Aufmerken  auf  das  ist,  was  der  liebe  Gott  in  Zukunft 
thun  wird." 

Auch  die  Callenberg'schen  Berichte  erzählen  von  lebhafter 
Verhandlung  der  christlichen  Fragen  unter  den  Juden  Hollands 
während  jenes  Zeitraumes.  Und  dass  dies  der  Fall  war,  muss> 
neben  der  Einwirkung  holländischer  Christen  auf  die  Juden  ihrer 
Umgebung,  besonders  den  Bemühungen  der  Halle'schen  Missionare 
und  Lieberkühns  zugeschrieben  werden.  In  den  Callenberg'schen 
Berichten  aus  der  Zeit  der  Wirksamkeit  Lieberkühns  in  Holland 
begegnen  wir  denn  auch  den  Spuren  der  Thätigkeit  desselben  in 
jenem  Lande.  So  wird  Callenberg  1754  von  einem Proselyten  Philipp 
Johann  Christ  aus  Stettin  besucht.  Dieser  erzählt  dem  Professor 
von  einem  Manne  mit  Pockennarben  in  Amsterdam,  welcher  auf 
sein   eigenes   inneres  Leben   und   das   des  jüdischen   Herrn,   be- 


—     369     — 

dem  er  dort  früher  diente,  den  nachhaltigsten  Einfluss  ausgeübt 
hat.  Ob  jener,  der  ein  reicher  Wechsler  war,  auch  zur  christ- 
lichen Kirche  übergetreten  ist,  erfahren  wir  nicht,  wohl  aber  ist 
dies  mit  dem  eben  erwähnten  Christ  geschehen.  Er  hat  das, 
was  er  von  Lieberkühn  gehört  hat,  nicht  mehr  vergessen  können 
und  nicht  eher  Ruhe  gefunden,  als  bis  er  die  Taufe  empfangen 
hatte.  Missionar  Pauli  aber  fand  in  Amsterdam  ein  Jahrhundert 
später  noch  die  Spuren  der  Wirksamkeit  Lieberkühns  vor.  Er 
traf  dort  einen  gelehrten  Juden  an,  dessen  Grossvater  durch 
Lieberkühns  Zeugniss  für  das  Christenthum  gewonnen  worden 
war,  und  den  die  Juden  dafür  auf  die  Seite  gebracht  haben.  In 
dem  Enkel  desselben  wiederholte  sich  hernach  der  Seelenkampf, 
welchen  der  Grossvater  in  sich  selbst  durchgestritten  hatte. 

Lieberkühn  besass  übrigens  auch  eine  besondere  Gabe,  die 
Jugend    anzufassen.      Er   galt    als    der    tüchtigste    Katechet    der 
Brüdergemeine,  und  sein  Lehrbüchlein  für  Kinder  wie  seine  Har- 
monie der  4  Evangelisten  sind  lange  im  Gebrauch  der  Gemeine 
geblieben.      In    seinen    letzten    Jahren    bediente    er   verschiedene 
Gemeinden,  die  zu  Herrnhag,  Zeist,    Herrnhut  und  Neusalz  und 
starb    1777.      Sein   Name    war   für  die   Brüdergemeine  eine  Er- 
innerung ,    der  Juden    nicht    zu  vergessen.     Nachdem  Lieberkühn 
von   Amsterdam    abgerufen    war,    wurde    in    dieser    Stadt    Otto 
Wilhelm  Hesse   sein   Nachfolger   im   Missionsberuf;    doch   starb 
derselbe  bald.     Der  Diakon  der  Gemeinde  erhielt  dann  von  Zeit 
zu  Zeit  den  Auftrag  sich  auch  der  Juden  in  Amsterdam  anzunehmen. 
Die  Arbeit  der  Brüdergemeine  an  den  Juden  trug  ganz  den 
Charakter   ihrer   übrigen   Thätigkeit      Sie   ging   in   stiller  Weise 
vor  sich,  richtete  sich  mit  grosser  Sorgfalt  auf  einzelne  hin  und 
war  von  dem  Bestreben  geleitet,  den  Juden  möglichst  geräuschlos 
nahezukommen.      Als    etwas    ganz  Besonderes    wird    es    in    den 
brüdergemeinlichen  Berichten   erwähnt,    dass  Lieberkühn    einmal 
in  einer  Synagoge  die  versammelten  Juden  angeredet  habe.    Bei 
den  Missionaren  des  Institutum  kam  dies  so  häufig  vor,  dass  wir 
uns  nicht  erst  die  Mühe  geben  dürfen,  die  einzelnen  Fälle  nach- 
zuzählen.    Die  Hauptaufgabe  der  Brüderkirche  lag  aber  darin,  dass 
sie  bereits  getaufte  Juden    in   ihre  Pflege    und  Erziehung   nahm; 
in  diesem  Stücke  hat  sie  mehr  als  die  anderen  zeitgenössischen 
Kirchengemeinschaften  geleistet.     Und  es  scheint  überhaupt,  als 
ob  der  Brüdergemeine  noch  mehr  als  die  Gabe,  unter  die  Juden 
selbst  missionirend  zu  treten,  jene  andere  verliehen  worden   sei, 

J.  F.  A.  de   le   Roi,   Missionsbeziehungen.  24 


—     370     -- 

unter  treuer  Pflege  das  christliche  Leben  und  den  christlichen 
Charakter  von  Proselyten  zu  bilden.  Je  wichtiger  gerade  dieser 
Theil  der  Mission  ist,  desto  mehr  möchte  man  wünschen,  dass 
die  Brüdergemeine  auch  weiter  auf  denselben  ihr  Augenmerk 
richtete.  Und  zu  bedauern  bleibt  es,  dass  die  erste  evangelische 
Kirche,  welche  die  Arbeit  an  den  Juden  als  eine  Aufgabe  der 
Kirche  selbst  behandelt  hat,  diese  ihre  Stellung  in  späterer  Zeit 
verliess. 

Von  Proselyten  aus  dem  Judenthum  inmitten  der  früheren 
Brüdergemeine  sind  einige  zu  erwähnen.  Aus  jüdischem  Geschlecht 
stammte  Magdalena  Auguste  Navrazky  oder  Naferoffsky. 
Ihr  Vater  war  Johannes  Navrazky  oder  Naferoffsky.*)  Derselbe, 
geboren  1672  in  Posen,  hiess  als  Jude  Isaak  und  war  der  Sohn 
eines  Mosche  Bar  Chaim.  Der  Vater,  Pächter  bei  einem  pol- 
nischen Edelmann,  starb  früh,  und  der  Sohn  genoss  gar  keinen 
Unterricht.  Als  die  Mutter  die  Pacht  aufgeben  wollte,  wurden 
ihr  falsche  Rechnungen  geschrieben,  und  sie  wurde,  nachdem  sie 
ausgeplündert  worden  war,  weggejagt.  Der  Sohn  aber  wurde 
von  einem  Edelmann  mit  Gewalt  zurückbehalten  und  hernach, 
ohne  gefragt  zu  werden,  in  der  katholischen  Kirche  getauft.  Als 
die  Sachsen  nach  Polen  kamen,  tauschte  ihn  ein  sächsischer 
Offizier  von  dem  Edelmann  gegen  einen  Hund  ein.  Bei  dem 
Offizier  genoss  er  nun  eine  sehr  liebreiche  Behandlung,  die  ihm 
nach  der  früheren  barbarischen  doppelt  wohl  that.  Sein  jetziger 
Herr  war  auch  um  sein  Seelenheil  bekümmert,  starb  aber  sehr 
bald.  In  dieser  Zeit  lutherisch  geworden,  zog  er  in  den  nächsten 
Jahren  als  Proselyt  bettelnd  umher,  Hess  sich  dann  in  Gotha  bei 
der  Miliz  anwerben  und  heirathete  später  eine  frühere  Wärterin 
der  herzoglichen  Kinder.  Jetzt  nährte  er  sich  redlich  von  einem 
Handel  und  wurde  ein  wahrhaft  frommer  Christ.     Erstarb  1750. 

Seine  Tochter  Magdalena  Auguste  liess  schon  als  Kind  ein 
sehr  frommes  Gemüth  erkennen.  Darum  und  weil  sie  eine  über- 
aus liebliche  Erscheinung  war,  wurde  sie  an  den  Hof  gezogen 
und  hatte  mit  den  heranwachsenden  Prinzessinnen  den  vertrau- 
testen Umgang.  Von  vielen  Seiten  zur  Frau  begehrt,  reichte 
sie,  17  Jahre  alt,  dem  Bildhauer  Michael  Grünbeck  ihre  Hand. 
Durch  ihre  Brüder  wurde  sie  mit  der  Brüdergemeine  und  Zinzen. 


*)  M.  Fr.  Albr.  August!,  Frommer  Proselyten  Trost  u.  s.  w.  1755.    Lebens- 
bild 15. 


—      J?i      — 

dorf  bekannt,  sammelte  jetzt,  von  Anna  Xit  seh  mann,  dieser 
hervorragenden  Frau  der  damaligen  Brüdergemeine,  dazu  an- 
geregt, viele  Frauen  zu  gemeinsamer  Erbauung  um  sich  und  übte 
auf  viele  Gemüther  einen  grossen,  wohlthuenden  Einfluss  aus. 
Seit  1735  rechnete  sie  Zinzendorf  zur  Brüdergemeine,  in  deren 
Dienst  sie  hernach  mehrere  wichtige  Aemter  verwaltet  hat,  und 
wurde  bald  zur  Aeltesten  der  Schwestern  eingesegnet;  ihr  Mann, 
der  sie  innig  verehrte,  folgte  ihr  gern. 

Erst  in  dieser  Zeit  erfuhr  sie  es,  dass  sie  jüdischer  Ab- 
stammung sei,  zeigte  nun  aber  auch  eine  besondere  Liebe  für 
das  jüdische  Volk.  Als  ihr  erster  Mann  starb,  glaubte  Zinzen- 
dorf die  Sammlung  und  Stiftung  eines  Juden  -  christlichen 
Kreises  in  der  Gemeine  besonders  durch  ihre  Mithilfe  bewerk- 
stelligen zu  können  und  schlug  ihr  desshalb  vor,  den  Proselyten 
Benjamin  David  Kirchhoff  zu  heirathen.  Sie  that  es,  um  das 
Werk,  welches  dem  Grafen  sehr  am  Herzen  lag,  zu  fördern. 
1746  fand  die  zweite  Trauung  statt,  und  bei  dieser  Gelegenheit 
gab  ihr  Zinzendorf  den  Namen  Esther,  unter  dem  sie  noch  heute 
in  der  Brüdergemeine  bekannt  ist.  Die  Trauung  geschah  nach 
einem  Ritus,  der  halb  jüdisch  halb  christlich  war.  Die  aus  dieser 
Ehe  geborenen  Söhne  erhielten  aittestamentliche  Namen.  Sie 
starb  im  Jahre  1796.  In  der  Brüdergemeine  genoss  sie  ganz 
besondere  Liebe  und  Hochachtung  und  ist  vielen  Seelen  inner- 
halb derselben  zum  Segen  geworden.  Durch  ihre  Lieder  lebt  sie 
noch  heute  und  nicht  bloss  in  ihrer  engeren  Kirchengemeinschaft 
fort.  Besonders  bekannt  sind  „Gnade  ist  ein  schönes  Wort"  und 
„Dem  blutigen  Lamme".  Aber  auch  der  Juden  gedachte  sie  in 
ihren  Dichtungen ,  und  als  eigentliche  Judenmissionslieder  sind 
noch  heute  „Ach  blutiger  Immanuel"  und  „Herr,  auf  den  so  viele 
Juden  hoffen"  in  Gebrauch. 

Ihr  zweiter  Mann,  Benjamin  David  Kirchhoff,  ist  1716  zu 
Kunzpolie  in  Polen  geboren.  Um  einer  Heirath,  die  man  ihm,  als 
er  erst  14  Jahre  alt  war,  zugedacht  hatte,  zu  entfliehen,  verliess 
er  sein  Vaterhaus  und  wanderte,  jüdische  Kinder  unterrichtend, 
hin  und  her.  Er  durchzog  Polen,  Deutschland,  Holland,  Däne- 
mark und  Schweden.  Ein  Vetter  von  ihm,  mit  dem  er  auf 
seiner  Wanderung  zusammentraf,  hatte  christliche  Anregungen 
empfangen  und  liess  sich  taufen.  Die  innere  Unruhe,  welche 
während  der  ganzen  Zeit  ihrer  Zerstreuung  so  viele  Juden  an 
ihrem  Orte    nicht   bleiben    lässt,    sondern    sie   auf  Wanderwege 

24* 


—     3/2     — 

führt,  ist  überhaupt  für  Tausende  derselben  das  Mittel  geworden, 
sie  dahin  zu  führen,  dass  sie  in  christliche  Umgebung  kamen, 
christliche  Luft  athmeten,  Vergleiche  zwischen  Judenthum  und 
Christenthum  anstellen  lernten,  die  Falschheit  der  jüdischen  An- 
sichten über  das  Christenthum  erfuhren,  und  die  herzbewegende 
Macht  des  Evangeliums  an  sich  selbst  erlebten.  Nicht  wenige 
Juden,  die  hernach  ausgezeichnete  Männer  in  der  Christenheit 
geworden  sind,  hat  die  christliche  Kirche  dadurch  gewonnen, 
dass  sie  einst  den  Wanderstab  ergriffen  hatten  und  in  die  Welt 
hinausgegangen  waren,  um  etwas,  sie  wussten  selbst  nicht  was, 
zu  suchen,  das  sie  recht  befriedigen  möchte,  da  sie  es  in  ihren 
bisherigen  Verhältnissen  nicht  gefunden  hatten. 

Aehnlich  erging  es  Kirchhoff.  Er  hörte  auf  seiner  Wande- 
rung so  Manches  vom  Christenthum  und  empfand  in  dieser  Zeit 
auch  bereits,  dass  in  demselben  die  Wahrheit  zu  finden  sei, 
wollte  aber  diesem  Eindrucke  nicht  nachgeben  und  in  der  Flucht 
vor  sich  selbst  wechselte  er  fortwährend  seinen  Beruf.  Es  gelang 
ihm  jedoch  nicht,  seine  Ueberzeugung  zu  ersticken  und  so  Hess 
er  sich  1739  in  Leipzig  taufen.  Dort  wurde  er  mit  Studenten 
bekannt,  die  der  Brüdergemeine  angehörten,  und  schloss  sich 
darauf  selbst  1740  dieser  Kirche  an.  Hier  wurde  er  nun  in  ganz 
einfachen  Diensten  verwandt,  1 746  aber  an  Esther  Grünbeck  ver- 
heirathet.  1757  schickte  man  ihn  nach  Polen,  um  sich  über  die 
daselbst  stattfindende  Bewegung  zu  unterrichten,  und  unter  den 
Juden  jener  Gegend  hat  er  bei  dieser  Gelegenheit  missionirend 
gewirkt.     Er  starb   1789. 

n.  Proselyten  in  Deutschland. 

Der  Einfluss  des  Pietismus,  welcher  sich  vor  allem  an  die 
Herzen  und  Gewissen  der  Juden  richtete,  und  die  Missionsarbeit 
des  Halle'schen  Institutum  treten  auch  darin  zu  Tage,  dass  die 
Zahl  der  Proselyten  in  diesem  Zeiträume  eine  entschieden  grössere 
als  früher  ist. 

Besonders  in  Orten  und  Gegenden,  in  denen  der  Pietismus 
ein  regeres  geistliches  Leben  erweckt  hatte,  sehen  wir  viele 
Uebertritte  geschehen.  Recht  lehrreich  hierfür  ist  der  Fall  der 
Bekehrung  von  3  jüdischen  Kindern  in  Berlin*),   von   13,  9  und 


*)  Schuck,    Jüdische    Merkwürdigkeiten    4,  2,    274  ff.      Friedensbote    für 
Israel,  März   1863. 


—     373     — 

8  Jahren,  die  durch  Christenkinder,  welche  mit  ihnen  spielten 
und  sie  dabei  das  Vaterunser,  den  Glauben  und  christliche  Lieder 
lehrten,  bewogen  wurden,  den  Prediger  an  der  Marienkirche, 
M.  Kahmann,  flehentlich  um  die  Ertheilung  der  Taufe  zu  bitten. 
Der  Geistliche  wollte  nicht  eigenmächtig  handeln  und  wandte  sich 
desshalb  an  seine  vorgesetzte  Behörde.  Auf  königlichen  Befehl 
wurde  desshalb  eine  Kommission  bestellt,  welche  die  Sache  unter- 
suchen sollte.  Die  Kommission  that  alles,  um  die  Kinder  auf 
die  Probe  zu  stellen  und  sie  zur  Rückkehr  zu  den  Eltern  zu 
bewegen,  wie  es  denn  auch  den  Eltern  selbst  gestattet  wurde, 
den  Kindern  alle  beliebigen  Vorstellungen  zu  machen.  Als  diese 
aber  auf  ihrem  Vorsatz  beharrten,  entschied  die  Obrigkeit  dahin, 
dass  man  die  Kinder  nicht  zur  Rückkehr  zu  den  Eltern  zwingen 
dürfe,  ihre  Taufe  aber  noch  nicht  vorgenommen,  sondern  bis 
auf  ein  weiteres  Alter  derselben  verschoben  werden  solle.  Zwei 
Jahre  wurden  also  dieselben  unterrichtet  und  am  n.  April  171 7 
getauft,  wobei  sie  Hirtentreu,  Konstantina  Friederika,  Sophia 
Johanna  und  Maria  Christina  genannt  wurden.  Das  Kirchenbuch 
von  St.  Marien  meldet  später  auch  die  Verheirathung  derselben 
mit  christlichen  Handwerksmeistern. 

Uebertritte  geschahen  jetzt  so  häufig,  dass  die  Halle'schen 
Missionare  z.  B.  1749  einen  Proselyten  erwähnen,  aus  dessen 
Familie  bereits  16  Personen  in  das  Christenthum  aufgenommen 
seien.  Aus  der  Hoflieferant  Haynemann'schen  Familie  in  Sachsen 
wurden  nacheinander  9  Personen  getauft.  Ansehnlich  war  die  Zahl 
der  getauften  Juden  in  Berlin  und  in  Hamburg,  wo  Archidiakonus 
Schubart  z.  B.  1744  eine  Familie  von  7  Personen  taufte,  wobei 
er  zugleich  bezeugte,  dass  der  grösste  Theil  der  auch  sonst  von 
ihm  getauften  Juden  „dem  Guten  anhange".  Zahlreichere  Ueber- 
tritte geschahen  ebenso  in  Frankfurt  a.  M.,  wo  besonders  der 
Senior  Dr.  Münden,  welcher  das  Missionswerk  eifrig  förderte, 
viele  Juden  getauft  hat.  Aehnliches  geschah  in  Breslau,  nachdem 
es  zu  Preussen  gekommen  war,  in  Greifswald,  im  Anspach'schen 
und  Fränkischen.  Die  Halle'schen  Missionare  wraren  oft  über  die 
grosse  Zahl  von  Proselyten  verwundert,  welche  sie  in  den  ver- 
schiedensten Städten  fanden.  Trotz  der  äusserlich  ungünstigen 
Verhältnisse,  in  denen  sich  der  grösste  Theil  der  Proselyten  befand, 
geschahen  damals  doch  so  viele  Uebertritte,  weil  der  lebendige 
Hauch,  der  vom  Pietismus  her  Deutschland  durchwehte,  auch 
von  vielen  Juden  empfunden  wurde. 


—     374     — 

Unter  den  zur  evangelischen  Kirche  damals  gekommenen 
Juden  in  Deutschland  verdienen  besonders  die  Proselytengeistlichen 
Beachtung.  Zunächst  begegnet  uns  hier  Christian  Albert  Christ- 
hold.*) Derselbe  ist  1687  geboren.  Seine  Mutter  Hess  sich  mit 
ihm  taufen,  als  er  erst  3  Jahre  alt  war.  Der  überaus  begabte 
Knabe  lernte  schon  ganz  früh  ein  kurzes  christliches  Glaubens- 
bekenntniss  und  legte  dasselbe  öffentlich  ab.  Nachdem  er  die 
Schule  zu  Oettingen  besucht  hatte,  studirte  er  in  Tübingen,  um 
hernach  1709  zuerst  Conrektor  und  1710  Rektor  am  Seminar 
(Gymnasium)  in  Oettingen  zu  werden.  Als  solcher  veröffentlichte 
er  in  einem  Programm  eine  lateinische  Abhandlung  darüber,  dass 
man  die  Juden  im  Staate  dulden  müsse,  und  bekannte  sich  hier 
gleichzeitig  zu  der  Hoffnung  auf  eine  allgemeine  Judenbekehrung. 
1 7 1 6  übernahm  er  die  Pfarrei  Appetzhofen  und  wurde  später 
hierselbst  Superintendent  und  Consistorialrath.  St.  Schultz  berichtet 
in  seinen  „Leitungen  des  Höchsten"  1,  236  von  dem  Eindruck, 
den  dieser  Mann  bei  einem  Besuche  im  Jahre  1744  auf  ihn 
gemacht  habe.  Er  schildert  ihn  als  einen  Geistlichen,  der  es  bei 
hervorragender  Gabe  für  die  Predigt  und  die  Katechese  mit 
seinem  Amte  so  ernst  und  gewissenhaft  nehme,  dass  er  erklären 
muss:  „Ich  habe  bisher  seines  Gleichen  noch  nicht  gefunden'1. 
Selbst  als  er  das  Alter  von  87  Jahren  bereits  erreicht  hatte,  Hess 
er  es  sich  nicht  nehmen,  sein  Amt  ganz  allein  zu  verwalten,  und 
erst  im  letzten  Lebensjahre  gestattete  er  es,  dass  man  ihm  einen 
Vikar  zur  Seite  stellte,  ohne  dass  er  jedoch  zu  wirken  aufgehört 
hätte.  Nach  63Jährigem  Dienst  in  Schule  und  Kirche  starb 
er  1772. 

Eine  Verwandte  Christholds  war  Christiane  Sophie  Magdalena, 
welche  als  Jüdin  Judith  hiess,  hernach  aber  von  ihrem  Verwandten 
den  Namen  Christhold  erhielt.  Nach  dem  Tode  ihrer  Eltern  von 
ihren  Grosseltern  zu  Oettingen  ins  Haus  genommen,  lernte  das 
9 jährige  Kind  bei  einer  christlichen  Familie  das  Nähen  und  fühlte 
bei  dem  Tischgebet  derselben  zuerst  den  Trieb,  Christin  zu  werden, 
in  sich  erwachen.  Derselbe  wuchs  hernach  immer  mehr  unter  den 
Misshandlungen,  mit  welchen  man  die  bald  entdeckte  Neigung 
zu  ersticken  suchte  und  welche  sie  dann  besonders  erfuhr,  wenn 
sie  christliche  Lieder   sang,    die   zu  hören   sie   oft    den   Christen 


*)  Wolff    B.    II.    3    N.    1895    C.     Saat,    Michaelis.    66    S.    89    ff.      Kaikar 
180,   181. 


—     375     — 

nachgeschlichen  war.  Als  sie  hierbei  nach  der  Bedeutung  des 
Namens  Jesu  frug  und  ihr  dieselbe  mitgetheilt  wurde,  kam  sie 
zu  der  Erkenntniss,  dass  auch  sie  selbst  ohne  Jesum  nicht  selig 
werden  könne,  und  entdeckte  sich  darauf  einem  christlichen 
Prediger.  Durch  diesen  hörte  ihr  Verwandter  Christhold  von  ihr. 
Letzterer  und  seine  Frau  nahmen  sich  darauf  in  liebreichster  Weise 
ihrer  an,  in  4  Wochen  lernte  sie  bei  ihnen  Deutsch  lesen  und 
schreiben  und  wurde  von  Christhold  selbst  nach  9  monatlichem 
Unterricht  17 14  getauft.  1721  kam  sie  an  den  Hof  der  Mark- 
gräfin und  heirathete  1730  den  Pfarrer  Ernst  Wilhelm  Christfels, 
Sohn  des  bekannten  Kammerraths.  Das  war  der  erste  Fall  in 
Deutschland,  dass  ein  Proselyt  in  besserer  Lebensstellung  eine 
Proselytin  ehelichte.  Frau  Christfels  ist  übrigens  auch  die  zweite 
Pfarrfrau  unter  den  Proselytinnen  in  Deutschland.  Sie  wurde 
Mutter  von  14  Kindern,  verlor  1758  ihren  Mann  und  starb 
selbst  1781. 

Zu  nennen  ist  sodann  Gottfried  Thomas  Zeit  mann.*) 
Derselbe  ist  der  Sohn  des  Rabbi  Mardochai  in  Krakau  und  wurde 
1696  daselbst  geboren,  mit  seinem  jüdischen  Namen  hiess  er 
Herschel.  Den  Vater  vertrieb  der  schwedische  Krieg  aus  Polen, 
den  Sohn  aber  Hess  er  bei  der  Grossmutter  zurück,  die  ihn  liebevoll 
erzog,  dann  jedoch  während  der  Belagerung  Krakaus  im  Elende 
starb.  Als  der  Vater,  der  inzwischen  Lehrer  in  Lorch  am  Rhein 
geworden  war,  davon  hörte,  Hess  er  die  belagernden  Schweden 
um  Herausgabe  seines  Sohnes  bitten,  aber  vergeblich.  Bei  der 
Uebergabe  der  Stadt  gerieth  der  6jährige  Knabe  selbst  in  grosse 
Lebensgefahr.  Ein  Jude  Chaim  sah  ihn  auf  der  Strasse  umher- 
irren, erbarmte  sich  seiner  und  nahm  ihn  mit  sich  auf  die  Wander- 
schaft, die  der  Kleine  halb  laufend  halb  getragen  durch  ganz 
Deutschland  bis  nach  Frankfurt  a.  M.  mitmachen  musste.  Aus 
Frankfurt  wollte  ihn  dann  1703  sein  Vater  abholen;  doch  Hess 
er,  von  den  jüdischen  Baumeistern  der  Stadt  dazu  bewogen, 
denselben  im  Frankfurter  jüdischen  Armenhause,  bis  1705  der 
Vater  selbst  nach  Frankfurt  zog.     In   diesem    Jahre   verlor    der 


*)  Von  Dr.  Conrad  Hieronymus  Martin  herausgegeben  unter  dem  Titel: 
„Der  treue  Zeuge  Christi  Zeitmann"  die  Selbstbiographie  desselben.  Und 
nach  dieser  Schrift  Acta  eccles.  temp.  nostri.  Band  i  Nachtrag.  Jewish  Intelligence 
März  1873.  Kalkar  173,  174.  Dibre  Emeth  1879,  3  u.  4.  Rheinisch- West- 
phälisches  Missionsblatt   1879,   2,  3. 


—     376    - 

junge  Herschel  seine  Mutter  und  von  dieser  Zeit  an  war  er  stets 
traurig. 

Der  9 jährige  Knabe  aber  fühlte  sich  bereits  von  der  jüdischen 
Religion  abgestossen  und  von  der  christlichen,  insbesondere  von 
den  christlichen  Gesängen  angezogen,  wurde  aber  von  dem  Vater, 
als  derselbe  dies  erfuhr,  dafür  hart  gezüchtigt.  Die  Neigung  zum 
Christenthum  wurde  damit  in  dem  Knaben  nicht  ertödtet,  und 
bei  einem  christlichen  Begräbnisse,  welchem  er  1706  beiwohnte, 
überkam  ihn  so  gewaltig  der  Trieb,  sich  taufen  zu  lassen,  dass 
er  auch  seine  Kameraden  hierzu  laut  aufforderte.  Von  denselben 
dafür  verfolgt,  rettete  er  sich  zu  den  Christen  und  wurde,  da  er 
zu  den  Juden  nicht  zurückkehren  wollte,  durch  den  Bürgermeister 
der  Stadt  dem  christlichen  Armenhause  übergeben.  Die  Be- 
mühungen des  Vaters,  den  Sohn  zur  Rückkehr  zu  bewegen, 
hatten  keinen  Erfolg.  Der  Knabe  wurde  unterrichtet  und  am  3. 
November  1707,  also  11  Jahre  alt,  getauft;  bei  dieser  Gelegenheit 
erhielt  er  den  Namen  Zeitmann. 

Ein  Versuch  des  Vaters,  1709  den  Sohn  mit  Gewalt  zu 
rauben,  misslang;  seine  Wohlthäter  aber  schickten  ihn  jetzt,  seiner 
eigenen  Sicherheit  halber,  aus  Frankfurt  hinweg  und  nach  Augs- 
burg. Dort  wurde  er  auf  das  Gymnasium  Anneanum  gethan 
und  machte  in  den  Wissenschaften  gute  Fortschritte,  litt  aber, 
da  er  über  seine  äussere  Lage  stets  sehr  verschwiegen  war,  die 
grösste  Noth,  die  seinem  vorzüglichsten  Wohlthäter,  dem  Resi- 
denten Gullmann  aus  Frankfurt  erst  bei  einem  Besuche  in  Augs- 
burg offenbar  wurde.  Dies  hatte  zur  Folge,  dass  man  den  fast 
zusammenbrechenden  Jüngling  nach  Frankfurt  zurückbrachte. 
Nachdem  er  hier  wieder  seine  Gesundheit  erlangt  hatte,  vollendete 
er  das  Gymnasium  in  Giessen  und  verliess  17 16  dasselbe,  in  einer 
lateinischen  Abschiedsrede  die  wahre  Weisheit  preisend. 

Inzwischen  war  sein  Vater  gestorben,  der  vor  seinem  Tode 
ein  grosses  Verlangen  nach  dem  Christ  gewordenen  Sohne  ge- 
äussert und  die  Brüder,  freilich  vergeblich,  ermahnt  hatte,  ihm 
alle  Liebe  zu  erweisen. 

Nach  seinem  Abgange  vom  Gymnasium  bezog  Zeitmann 
zuerst  die  Universität  Giessen  und  alsdann  Jena.  1721  wurde 
er  Erzieher  im  Gullmann'schen  Hause  und  predigte  jetzt  vielfach 
in  Frankfurt  und  in  der  Nachbarschaft  desselben.  1725  wurde 
er  als  ordentlicher  Kandidat  am  Frankfurter  Armenhause  angestellt, 
172S  wurde  er  Pastor  in  Oberrode,   1736  in  Sachsenhausen,  kam 


377     ~ 

dann  an  St.  Peter  und  1743  endlich  an  das  Hospital  und  die 
Katharinenkirche.  Aus  seiner  Ehe  mit  Elisabeth  Sophie,  Tochter 
des  Bürgerkapitäns  Bansa,  entsprossen  1 1  Kinder,  von  denen  ihn 
7  überlebten.  Er  starb,  erst  50  Jahre  alt,  1747.  Man  rühmt 
ihn  als  einen  gründlichen  Gelehrten,  einen  mit  Geist  und  Kraft 
begabten  Prediger,  einen  überaus  treuen  Seelsorger  und  einen 
grossen  Wohlthäter  der  Armen.  Auch  das  Heil  seiner  Stammes- 
genossen hat  er  nicht  vergessen,  und  es  ist  ihm  gewährt  worden, 
eine  Anzahl  derselben  zu  taufen. 

Zu  den  besten  Proselyten-Familien  des  Zeitraumes  gehört 
die  Chris tfels'sche.*)  Philipp  Ernst  Christfels  ist  1671  zu  Neu- 
haus im  Aischgrunde  geboren.  Sein  Vater,  Moses  Schemaja, 
nannte  ihn  Mardochai.  Er  wurde  als  Knabe  nicht  bloss  im  He- 
bräischen und  Jüdisch-deutschen,  sondern,  was  damals  nicht 
gewöhnlich  war,  auch  im  Deutsch  Lesen  und  Schreiben  unterrichtet. 
Zur  Fortsetzung  seiner  Studien  begab  er  sich  auf  die  Wanderung 
und  kam  nach  Prag,  Mähren,  Polen  und  der  heutigen  Provinz 
Posen.  Auf  diesen  seinen  Wanderungen  wurde  er  einmal  von 
Räubern  überfallen  und  schwer  verwundet,  aber  durch  einen  aus 
Feuchtwangen  stammenden  frommen  Zimmermann  gerettet  und 
treu  verpflegt.  Von  seinen  Geschwistern,  die  ihn  baten,  für  sie 
zu  sorgen,  nach  Haus  zurückgerufen,  erhielt  er,  da  ihm  der  Rufeines 
grossen  Gelehrten  vorausgegangen  war,  in  der  Heimath  an  ver- 
schiedenen Orten  Schulstellen  und  war  ein  vielbegehrter  Richter 
bei  Rechtshändeln  der  Juden. 

Voll  Eifers  für  sein  Judenthum  suchte  er  in  derselben  Zeit 
öfters  christliche  Lehrer  und  Geistliche  auf,  um  ihre  Lehre  besser 
kennen  und  darlegen  zu  lernen.  Während  seiner  Amtswirksamkeit 
in  Oberndorf  bei  Bopfingen  disputirte  er  besonders  mit  den 
Geistlichen  in  Feuchtwangen  und  Bopfingen.  Das  erschien  den 
Juden  gefährlich  und  sie  brachten  ihn  von  Oberndorf  hinweg 
nach  W"ittelshofen.  Aber  auch  hier  setzte  er  den  Verkehr  mit 
christlichen  Geistlichen  fort.  An  dem  neuen  Orte  nahm  man  ihm 
dies  nicht  so  übel,  und  das  wieder  gewonnene  Vertrauen  der 
Juden  verschaffte  ihm  sogar  eine  Stelle  in  dem  damals  als  Hoch- 
burg des  Judenthums  berühmten  Fürth,  wo  er  sich  auch  verheirathete. 


*)  Acta  eccl. ,  Theil  30,  914.  Das  alte  Judenthum  von  Philipp  Ernst 
Christfels  mit  Vorrede  von  Wibel.  Wolff  B.  H.  3 ,  4  Nr.  1830  b.  Schudt, 
Denkwürdigkeiten  4,  2,  287  ff.  Saat   1866,  Forts.  3  S.  191   ff.  Kaikar,  176,  177, 


-     37S     - 

Sein  strenges  Leben,  besonders  sein  eifriges  Fasten  trug  ihm  hier 
den  Ruf  hoher  Frömmigkeit  ein,  so  dass  ihm  die  Fürther 
Hochschule  als  Hochzeitsgeschenk  den  Titel  eines  Morenu  oder 
Doktor  der  Theologie  verlieh.  Als  solcher  unterrichtete  er  die 
studirende  Jugend,  war  aber,  um  sich  eine  genügende  Existenz 
zu  verschaffen,  gleichzeitig  genöthigt,  einen  Juwelenhandel  zu  treiben. 

Sein  Umgang  mit  Christen,  insbesondere  mit  den  Fürther 
und  Nürnberger  Geistlichen  und  den  Professoren  der  Universität 
Altorf  erlitt  auch  jetzt  keine  Unterbrechung.  Mit  Wagenseil 
zumal  disputirte  er  viel.  In  dieser  Zeit  aber  rieth  ihm  ein  sehr 
gelehrter  Rabbi,  Hirsch  Fromm,  welcher  einen  gewissen  Zug 
zu  den  Christen  empfand,  das  Neue  Testament  zu  lesen.  Mar- 
dochai  folgte  dem  Rath.  Um  aber  ein  Gegengewicht  gegen  diese 
Lektüre  zu  haben,  studirte  er  gleichzeitig  Lippmanns  Sepher 
Nizzachon,  eins  der  schärfsten  Bücher,  welche  wider  das  Neue 
Testament  geschrieben  sind. 

In  dieser  Zeit  nun  kam  ein  kabbalistischer  Rabbi,  Abraham 
Reviga,  aus  Italien.  Christfels  und  2  andere  Juden  nahmen  bei 
demselben  Unterricht.  Zunächst  las  er  mit  ihnen  Sohar  und 
zeigte  ihnen ,  dass  in  demselben  die  3  obersten  Sephiroth  des 
kabbalistischen  Baumes  für  göttlich  und  eins  angesehen  würden, 
die  sogenannte  Binah  aber  für  den  Sohn  Gottes  gehalten  werde. 
Christfels  erklärte,  das  sei  ja  die  christliche  Lehre.  Der  Rabbi 
antwortete  ihm  darauf  nichts,  äusserte  sich  aber  gegen  die  anderen 
Anwesenden,  dass  dieser  Mann  gewiss  noch  ein  Min  (Ketzer) 
und  sich  schmadden  (taufen)  lassen  werde. 

In  Folge  dieses  Ausspruches  jenes  Rabbi  überkam  Christ- 
fels eine  grosse  Unruhe.  Den  Juden  fiel  dies  auf,  und  er  wurde 
ihnen  verdächtig.  Um  ihren  Argwohn  von  sich  abzuwälzen, 
beschnitt  er  selbst  sein  in  dieser  Zeit  ihm  geborenes  Söhnchen, 
konnte  aber  dadurch  den  einmal  gegen  ihn  erwachten  Verdacht 
nicht  mehr  beschwichtigen.  Seine  Frau  zumal  fürchtete  für  ihn 
und  warf  sein  Neues  Testament  ins  Feuer;  nur  mit  Mühe  rettete 
er  dasselbe  aus  den  Flammen. 

Christfels  empfand  diese  Behandlung  durch  die  Seinigen 
sehr  bitter  und  begann  jetzt  einen  gewissen  Ekel  vor  den- 
selben zu  empfinden.  Daher  wandte  er  sich  nun  an  den  im 
Rabbinischen  wohl  erfahrenen  Diakonus  Knoll  in  Fürth.  Letz- 
terer that  sein  Bestes ,  um  ihn  von  der  Wahrheit  des  Christen- 
thums  zu  überzeugen   und    wies    ihn    überdem  wieder    an    einige 


—     379     ~ 

Nürnberger  Prediger,  sowie  an  die  Professoren  Wagen  seil  und 
Lange  in  Altorf,  mit  denen  er  dann  auch  viele  Gespräche  über 
Glaubenssachen  hatte,  die  ihn  schliesslich  völlig  davon  über- 
zeugten, dass  Jesus  Christus  der  von  der  Schrift  verheissene 
Messias  sei. 

In  seinem  Wohnorte,  dessen  Juden  über  ihn  aufs  Furcht- 
barste empört  waren,  wollte  er  seinen  Uebertritt  nicht  vollziehen 
und  wandte  sich  desshalb,  freilich  unter  fortwährenden  und 
schweren  inneren  Kämpfen,  an  den  jetzt  in  Kadolzburg  wohnenden 
Pfarrer  Bernhold.  Dieser  wies  ihn  jedoch,  da  er  fürchtete, 
dass  er  später  im  Anspach'schen  nicht  sein  Fortkommen  finden 
werde,  nach  Wilhelmsdorf,  wo  die  verwittwete  Gräfin  Franziska 
Barbara  von  Hohenlohe  wohnte.  Die  Gräfin  hatte  schon 
verschiedene  Juden ,  die  sich  zur  Taufe  meldeten ,  in  ihrem 
Gebiete  aufgenommen  und  unterstützt.  Zu  ihr  entschloss  sich 
Christfels  zu  gehen  und  verliess  desshalb  Frau  und  Kinder,  nach- 
dem er  3  Monate  lang  einen  ergreifenden  Briefwechsel  mit  dem 
Pfarrer  von  W^ilhelmsdorf,  Andreas  Kliebhahn,  unterhalten 
hatte.  Nach  8/4  jährigem  Unterricht  wurde  er,  jetzt  28  Jahre  alt, 
von  diesem  Geistlichen  am  10.  Juli  1701,  dem  Tage  der  Ver- 
mählung seiner  Beschützerin  mit  dem  Fürsten  von  Hohenlohe- 
Schillingsfürst,  getauft.  Beide  fürstliche  Personen  gehörten  zu 
seinen  Pathen;  den  Namen  Christfels  erbat  er  sich  selbst. 

Die  Juden  machten  verzweifelte  Anstrengungen,  ihn  zu  sich 
zurückzuführen.  Zuerst  freilich  wollten  sie  ihn  ermorden;  aber 
da  sie  sich  selbst  eingestehen  mussten,  dass  sie  hierfür  die  grösste 
Strafe  erleiden  würden,  versuchten  sie  es  mit  Bestechungen,  ohne 
jedoch  damit  zum  Ziele  zu  kommen.  Seine  Frau  sagte  sich  von  ihm 
los  und  floh  mit  beiden  Kindern  nach  Amsterdam.  Aber  man 
unterstützte  sie  dort  nicht  genügend,  so  dass  sie  zurückzukehren 
genöthigt  war.  Auf  ihrer  Durchreise  durch  den  hessischen  Ort 
Butzbach  nahm  ihr  ein  jüdischer  Schulmeister  das  Mädchen  ab, 
um  es  zu  erziehen,  ihren  Sohn  Moses  dagegen  wollte  Niemand 
annehmen.  2  Jahre  zog  die  Mutter  mit  demselben  herum,  ehe 
sie  nach  Fürth  kam.  Als  dies  jedoch  geschehen  war,  verrieth 
ein  alter  Freund  von  Christfels  es  demselben ,  dass  seine  Frau 
und  sein  Sohn  in  jener  Stadt  seien.  Der  Vater  nahm  sofort  die 
Hilfe  der  Obrigkeit  in  Anspruch,  um  sein  Kind  wieder  zu  er- 
langen. Als  die  Mutter  dies  erfuhr,  floh  sie;  ihr  Söhnlein  Hess 
sie  unter  einer  Dachkammer  zurück,  wo  es  beinahe  Hungertodes 


—     38o     — 

gestorben  wäre.  Endlich  wurde  es  bei  der  Durchsuchung  des 
ganzen  Hauses  gefunden  und  hatte  nun  eine  längere  Krankheit  zu 
bestehen,  von  der  es  nur  allmählig  genas.  Gesund  geworden, 
wurde  es  dann  getauft.  Bald  darauf  tauchte  die  Frau  von  Christ- 
fels wieder  auf  und  trug  selbst  auf  Scheidung  an;  von  Versöh- 
nung mit  ihrem  Manne  wollte  sie  nichts  wissen,  und  so  fand  die 
Scheidung  statt.  Seine  Tochter  hat  Christfels  nicht  wieder  finden 
können. 

Er  selbst  verheirathete  sich  dann  1703  mit  einer  vortreff- 
lichen Christin,  einer  geborenen  Unfug.  In  demselben  Jahre 
wurde  er  Verwalter  der  Fürstlichen  Glashütte  und  des  Bauwesens, 
1725  Burgvoigt  und  endlich  fürstlicher  Kammerrath. 

Als  Jude  und  als  Christ  hat  er  verschiedene  Schriften  ver- 
fasst.  Als  Jude  schrieb  er  hebräisch  Rephuah  Hanephesch 
(Seelenarznei).  Nachdem  er  Christ  geworden  war,  wurden  unter 
seiner  Aufsicht  die  5  Bücher  Moses  mit  Targumim  und  dem 
Commentar  von  Jarchi  gedruckt.  17 18  Informationen  über  den 
Judeneid.  Die  Bekehrung  der  Juden  war  ein  Gegenstand  seiner 
eifrigsten  Bemühungen,  wie  er  denn  auch  ein  besonderer  Freund 
und  Beförderer  des  Halle'schen  Institutum  war.  Die  Callenberg'- 
schen  Nachrichten  enthalten  einen  Brief  desselben  an  die  Pro- 
selyten,  in  welchem  er  dieselben  zur  Treue  ermahnt  (9  Forts.  S.  97  ff.). 

Grösseren  Umfangs  ist  sein  Werk  „Das  neue  Judenthum" 
in  6  Theilen  von  1735 — 1738,  mit  Vorrede  von  Zeltner  und 
Wibel.  Aus  dem  Alten  Testamente  wird  hier  bewiesen,  dass 
man  dort  nur  ein  geschriebenes  und  kein  mündliches  Gesetz 
gekannt  hat,  und  dann  in  trefflicher  Weise  einerseits  die  Ver- 
schiedenheit des  alttestamentlichen  und  des  rabbinischen  Glaubens 
an  einer  ganzen  Reihe  von  Lehrstücken  nachgewiesen,  anderseits 
aber  auch  aus  der  eigenen  Literatur  den  Juden  gezeigt,  dass  im 
Christenthum  gerade  die  alte  jüdische  Lehre  zur  Anerkennung 
gekommen  sei,  das  neuere  Judenthum  dagegen  diese  alte  Lehre 
umgestossen  habe. 

Ferner  erschien  1739  „Das  alte  Judenthum",  in  dem  er 
Stellen  des  Alten  Testamentes  über  den  Messias  durchgeht  und 
eine  Bestätigung  der  alttestamentlichen  Lehre  aus  dem  Targum 
Jonathan  und  dem  Jerusalemischen,  Jarchi,  Aben  Esra,  Kimchi 
und  Baal  Haturim  herbeibringt.  Sodann  eine  jüdisch -deutsche 
Uebersetzung  des  Sepher  Sebul  Olam,  1736,  unter  Wagenseils 
Exercitationes    befindlich,    und   1738  Gespräche  aus  dem  Reiche 


-     38i      - 

der  Todten  zwischen  Luther  und  Jarchi.  Hier  stellt  er  die  Thor- 
heit  der  Auslegungen  der  Rabbinen  dar  und  diesen  die  Lehren 
Luthers  gegenüber.  Auch  durch  vielfache  Unterredungen  mit 
Juden  und  durch  Vorträge  in  der  Synagoge,  die  man  ihm  her- 
nachmals  gestattete,  suchte  er  für  die  Bekehrung  seiner  früheren 
Glaubensgenossen,  die  ihn  später  hoch  achteten,  zu  wirken. 

Christfels  starb  1759  in  einem  Alter  von  88  Jahren.  Der 
Sohn  desselben  Ernst  Wilhelm  Christoph  wurde  Pfarrer  in  Ober- 
wechingen.  Er  beschäftigte  sich  fleissig  mit  jüdischen  Studien 
und  legte  davon  schon,  als  er  noch  Student  in  Altorf  war,  1725, 
in  einer  Disputation  ein  Zeugniss  ab.  1730  kam  er  ins  Pfarramt 
Dessen  Sohn  Philipp  Albrecht  war  Rektor  des  Gymnasiums  zu 
Oettingen,  ein  sehr  gelehrter  Mann,  gern  gelesener  Schriftsteller 
und  tüchtiger  Pädagog.  Das  Gymnasium  in  Oettingen  blühte 
unter  ihm  sehr  auf. 

Als  nächster  unter  den  Proselyten,  welche  das  evangelische 
Pfarramt  bekleideten,  begegnet  uns  Anton  August  Pauli.*)  Die 
Nachrichten  über  denselben  sind  aber  ziemlich  dürftige.  Wir 
wissen  nur,  dass  er  sich  noch  mit  18  Jahren  in  Prag  als  Jude 
studirend  authielt.  1733  finden  wir  ihn  im  Pfarramte  an  der 
Claus  bei  Schöningen  im  Herzogthum  Braunschweig,  so  dass  er 
schon  eine  Reihe  von  Jahren  vorher  Christ  geworden  sein  muss. 
Er  wird  als  „ein  aufrichtiger  und  eifriger  Bekenner  der  christ- 
lichen Religion"  gerühmt.  1782  starb  er.  Der  jüngste  Sohn 
desselben,  Johann  Christian,  wurde  Gutspächter  und  Amtsvervvalter 
des  preussischen  Amtes  Schlanstedt. 

Genaueres  ist  uns  über  den  viel  bedeutenderen  Friedrich 
Albrecht  Augusti  bekannt,  welcher  zu  den  hervorragendsten 
Proselyten  dieses  Zeitraumes  gehört.  Das  Leben  desselben  ist 
häufig  beschrieben  worden.**) 

Augusti  hiess  als  Jude  Josua  Herschel  und  ist  1691  ge- 
boren. Sein  Vater  Abraham  Herschel  war  Juwelier  in  Frank- 
furt a.  O.  Die  Eltern  waren  wohlhabende  Leute,  der  Vater  ein 
jüdisch  gelehrter  Mann.  Der  Knabe  musste  bei  ihm  in  jeder 
Woche  einen  Psalm  auswendig  lernen,    und  in  Folge  dessen  hat 


*)  Dibre  Emeth  1880.  S.   129  ff. 
**)  Acta  eccl.  von   1743,  VI.  S.  983  ff.  Saat  66,  3,   148.    Im  Leben  von 
den  Todten    von  Axenfeld,    Barmen   1734    durch  P.  L.  Wesselhoff,    ebenso    in 
Traktaten  der  Londoner  und  Berliner  Gesellschaft  deutsch  und  englisch.    Kalkar 
177    ff. 


382     — 

.sich  Augusti  von  früh  auf  gewöhnt,  nicht  bloss  den  Talmud,  son- 
dern auch  die  Schrift  in  Glaubenssachen  zu  Rathe  zu  ziehen.  Der 
gelehrige  Knabe  erfreute  die  Eltern  öfters  durch  selbstgefertigte 
kleine  Reden  und  wurde  von  den  Bekannten  des  Hauses  seiner 
Begabung  wegen  bewundert.  Beim  Baden  in  der  Oder  wäre  er 
fast  einmal  ertrunken.  Im  10.  Jahre  verlor  er  seinen  Vater;  die 
Mutter  wollte  ihn  da  einen  Handelsmann  werden  lassen,  aber 
vergeblich;  denn  er  wollte  in  Lithauen  studiren  und  dann  nach 
Jerusalem  wandern,  um  alle  die  Vortheile  zu  gemessen,  mit 
welchen  der  jüdische  Aberglaube  den  Aufenthalt  in  der  heiligen 
Stadt  der  Väter  verband. 

Da  kam  ein  babylonischer  Jude,  Aron  Bar  Jekuthiel  als 
Abgeordneter  der  Jerusalemischen  Glaubensgenossen,  um  Gelder 
für  die  in  türkischer  Gefangenschaft  lebenden  Brüder  zu  sammeln, 
auch  nach  Frankfurt  a.  O. ,  und  dieser  gewann  das  ganze  Herz 
des  jungen  Josua.  Nur  mit  Gewalt  konnte  derselbe  davon  zurück- 
gehalten werden,  jenem  Manne  sogleich  zu  folgen.  Als  Jekuthiel 
aber  ein  halbes  Jahr  später  wieder  durch  Frankfurt  kam,  be- 
stürmte der  i  ijährige  kräftige  Knabe  die  Mutter  so  lange ,  bis 
ihm  dieselbe  die  Erlaubniss  erteilte,  dem  verehrten  Manne  zu 
folgen  und  mit  ihm  nach  Jerusalem  zu  reisen.  Beide  wanderten 
nun  durch  Preussen,  Lithauen  und  Galizien,  um  dann  weiter  nach 
dem  Süden  zu  gehen.  Josua  erwarb  sich  unterwegs  von  Jekuthiel 
viele  talmudische  und  kabbalistische,  aber  nicht  diese  allein, 
sondern  auch  naturgeschichtliche  und  ärztliche  Kenntnisse,  mit 
welchen  jener  jüdische  Gelehrte  wohl  ausgerüstet  war. 

Bis  an  die  Grenze  der  Tartarei  kamen  die  beiden  Wanderer 
unversehrt.  Der  Krieg  Karls  XII.  von  Schweden  mit  den  Russen 
hatte  aber  jene  südlichen  Gegenden  so  unsicher  gemacht,  dass 
Jekuthiel  über  Moskau  nach  Astrachan  wandern  wollte.  Er 
schloss  sich  also  einer  grossen  Reisegesellschaft  an  und  zog  mit 
derselben  durch  unwirthliche  Gegenden.  Josua  erkrankte  unter- 
wegs schwer  und  musste  eine  Zeit  lang  bei  einem  Tartaren  zu- 
rückbleiben. Jekuthiel  sah  sich  hernach  genöthigt,  nach  Moskau 
zurückzukehren  und  wollte  nun  auf  einem  anderen  Wege  nach 
der  Türkei  zu  gelangen  suchen. 

Mit  einander  weiterziehend,  kamen  beide  bis  Kiew,  wo  Je- 
kuthiel durch  glückliche  ärztliche  Curen  viel  Geld  erwarb.  Ein 
von  ihm  geheilter  türkischer  Kaufmann  versprach  ihm,  wenn  er 
ihm    bis  Kaffa    folgen   wolle,    ihn    von    dort  nach  Jerusalem  zu 


—     383     - 

schaffen.  Mit  einer  Carawane  machten  sich  also  Jekuthiel  und 
Josua  in  Begleitung  des  Kaufmannes  auf  den  Weg,  wurden  aber 
in  der  Nähe  von  Otschakow  von  tartarischen  Räubern  überfallen 
und  alle  zu  Sklaven  gemacht.  Der  jetzt  13jährige  Josua  wurde 
auf  ein  Pferd  fest  über  den  Sattelknopf  gebunden,  während  |seine 
Hände  gefesselt  herunterhingen,  und  so  fortgeführt.  Die  Stricke 
schnitten  so  fest  ein,  dass  die  Wunden  erst  spät  heilten;  von 
dem  Drucke  des  Sattelknopfes  aber  behielt  er  zeitlebens  eine 
Krümmung  des  Brustbeines. 

Getrennt  von  Jekuthiel,  den  er  nie  wieder  sah,  wurde  er 
dann  unter  beständigen  Misshandlungen  seines  Herrn  an  das 
Schwarze  Meer  gebracht  und  dort  von  demselben  für  3  Va  Thaler 
verkauft.  Auf  einem  Schiffe  weiter  transportirt,  versuchte  es  der 
Dolmetscher  auf  demselben,  ein  alter  Renegat,  vergeblich,  ihn 
durch  Versprechungen  und  Drohungen  zu  bewegen,  auch  ein 
Muhammedaner  zu  werden.  Das  Schiff  aber  strandete  nach  furcht- 
barem Sturme,  Josua  wurde  kaum  ans  Land  gerettet  und  nun 
sogleich  verkauft;  ein  Kaufmann  erstand  ihn.  In  der  Carawane, 
welche  ihn  weiter  führte,  traf  er  mit  einem  Kaufmann  zusammen, 
der  nur  scheinbar  den  Muhammedanismus  angenommen  hatte 
und  im  Geheimen  noch  Jude  war.  Dieser  kaufte  ihn  und  nahm 
ihn  nach  längerer  Zeit  mit  sich  nach  Smyrna.  Die  Juden  dieser 
Stadt  kauften  dann  Josua,  der  inzwischen  22  Jahre  alt  geworden 
war,  für  120  Löwenthaler  los.  6  Monate  darauf  kehrte  er  nach 
Europa  zurück.  Unterwegs  von  der  Pest  befallen,  genas  er  doch 
von  derselben  und  gelangte  im  Frühjahr  171 4  bei  Verwandten 
in  Brzesc  an,  bei  denen  er  sich  zu  seiner  Erholung  einige  Zeit 
aulhalten  wollte.  Der  Verkehr  mit  den  gelehrten  Juden  dieser 
Stadt  aber  befriedigte  ihn  so  wenig,  dass  ihn  die  alte  Sehnsucht 
nach  Jerusalem  und  Jekuthiel  befiel,  und  er  sich  von  Neuem  auf 
den  Weg  nach  der  heiligen  Stadt  machte.  In  Siebenbürgen  aber 
gerieth  er  in  Räuberhände,  wurde  ausgeplündert  und  übel  zuge- 
richtet, so  dass  er  nur  eben  mit  dem  Leben  davon  kam.  Da 
gab  er  den  Plan,  nach  Jerusalem  zu  gehen,  auf.  Hin  und  her 
wandernd,  um  für  seine  unbefriedigte  Seele  etwas  zu  finden,  wäre 
er  dann  fast  wieder  beim  Uebersetzen  über  die  Nidda  ertrunken. 
Das  Studium  auf  den  berühmten  jüdischen  Hochschulen  in  Krakau 
und  Prag  brachte  ihm  auch  nicht,  was  er  suchte;  sein  jüdisches 
Wissen  aber  war  ein  so  tüchtiges  geworden,  dass  er  1 719  in 
Prag  zum  Morenu  ernannt  wurde. 


-     384     - 

Jetzt  beschloss  Josua  Herschel  sich  auf  die  kabbalistischen 
Studien  zu  werfen,  besuchte  aber  vorher,  nunmehr  30  Jahre  alt 
geworden,  seine  Mutter  in  Frankfurt  a.  O.  Auf  seiner  Reise 
nach  Hamburg  kam  er  durch  Halberstadt,  wo  ihn  ein  Fieber  auf 
das  Krankenbett  warf.  In  den  jüdischen  Gemeinden  von  Halber- 
stadt und  der  heutigen  Provinz  Sachsen  walteten  damals  Streitig- 
keiten, und  man  berief  Josua  Herschel,  dieselben  zu  schlichten. 
In  der  That  gelang  es  ihm  auch,  im  Hause  des  Hofjuden  Wallich 
zu  Sondershausen  eine  völlige  Aussöhnung  zwischen  den  streitenden 
Gemeinden  herbeizuführen,  und  Wallich  hielt  ihn  nun  in  seinem 
Hause  zurück,  das  durch  seine  grosse  Bibliothek  einen  besonderen 
Reiz  für  Herschel  bot.  Hier  aber  wurde  er  1720  von  Räubern 
überfallen  und  halb  todt  geschlagen.  Darüber  erwachte  allge- 
meine Theilnahme  für  ihn,  und  auch  Fürst  Günther,  sowie  der 
Leibarzt  und  Hofapotheker  desselben  nahmen  sich  seiner  hilf- 
reich an. 

Die  Liebe,  welche  ihm  viele  Christen  während  seiner  Krank- 
heit erwiesen,  machte  auf  Herschel  einen  eigenthümlichen  Ein- 
druck. Auf  seinen  vielen  Reisen  war  ihm.  obwohl  er  von  ganzem 
Heizen  am  Judenthum  hing,  ein  Licht  darüber  aufgegangen,  dass 
Vieles  in  seiner  Religion  unhaltbar  sei.  Mollers  jüdisch-deutsches 
Neues  Testament,  das  er  in  Prag  gefunden,  hatte  ihm  überdem 
bereits  die  Lehre  des  Evangeliums  in  einem  milderen  Lichte  er- 
scheinen lassen;  aber  der  Gekreuzigte  war  ihm  noch  immer  ein 
Stein  des  Anstosses. 

Zu  derselben  Zeit  starb  ein  Prinz  des  Schwarzburger  Hauses. 
Wallich  bezeugte  dem  Fürsten  sein  Beileid  und  sprach  bei  dieser 
Gelegenheit  vom  „hochseligen  Prinzen."  Fürst  Günther  sah  dies 
als  eine  Heuchelei  an,  Wallich  aber  berief  sich  auf  Herschel  da- 
für, dass  Juden  auch  von  Christen  glaubten,  sie  könnten  selig 
werden.  Dieser  desshalb  vor  den  Fürsten  berufen,  bestätigte 
Wallichs  Aeusserungen,  und  der  Fürst  wies  nun  Herschel  zu 
weiterem  Verkehr  an  den  Superintendenten  Reinhard.  Die 
reichen  jüdischen  und  hebräischen  Kenntnisse  dieses  Geistlichen 
erweckten  bei  Herschel  ein  gewisses  Vertrauen  zu  demselben, 
und  es  entspannen  sich  zwischen  beiden  lebhafte  Unterhaltungen 
über  die  Fragen  des  Glaubens.  Besonders  Jesaia  53  bewies 
wieder  seine  Macht.  Es  folgten  schwere  Seelenkämpfe  für 
Herschel,  und  Reinhard,  der  ihn  auf  die  Probe  stellen  wollte, 
machte  ihm  den  Uebertritt   nicht    leicht.     Aber   nach   und   nach 


-     335     - 

wurde  sich  Herschel  seiner  Sache  völlig  gewiss  und  so  verlangte 
er  selbst,  den  Seinigen  in  der  Synagoge  seinen  Entschluss,  Christ 
zu  werden,  mitzutheilen.  Dies  geschah  auch  in  Gegenwart  von 
Reinhard  und  einem  Hofrath. 

Die  Juden  konnten  diesen  Schlag  nicht  verwinden  und 
forderten  ihn  nach  einigen  Wochen  zu  einer  Disputation  in 
Dessau  auf.  Gern  ging  Herschel  hierauf  ein  und  bekannte  in 
der  Dessauer  Synagoge  seinen  Glauben;  alle  Einwendungen  schlug 
er  vor  der  versammelten  grossen  Gemeinde  siegreich  nieder,  und 
die  Juden  gingen  überwunden  vom  Kampfplatze  heim.  Die  Folge 
war,  dass  auch  zwei  andere  Juden  unter  denen,  welche  der  Ver- 
sammlung beigewohnt  hatten,  das  Christenthum  an  anderen  Orten 
annahmen. 

Die  Zeit  bis  zur  Taufe  war  für  Herschel  noch  eine  Zeit 
vieler  Seelennöthe.  Besonders  suchten  ihn  die  Juden  noch 
fortwährend  für  sich  zurückzuerobern;  aber  in  den  Kämpfen 
mit  ihnen  wurde  er  seiner  selbst  nur  desto  gewisser.  Am  2. 
Weihnachtstage  1722  wurde  er  getauft  und  erhielt  den  Namen 
Friedrich  Albrecht  Augusti,  sechs  fürstliche  Personen  waren  seine 
Pathen.  Einer  derselben,  Friedrich  IL  von  Gotha  wies  ihm  eine 
Freistelle  auf  dem  Gothaer  Cymnasium  an,  das  unter  dem  be- 
kannten Rektor  Vockerodt  stand,  und  schon  nach  3  Jahren 
konnte  er  diese  Schule  verlassen,  bei  welcher  Gelegenheit  er  in 
einer  lateinischen  Abschiedsrede  über  die  Kunst  wohl  zu  leben 
und  wohl  zu  sterben  sprach.  Er  besuchte  dann  die  Universitäten 
Jena  und  Leipzig.  In  letzterer  Stadt  wurde  er  wegen  seiner  aus- 
gebreiteten Sprachkenntnisse  öfters  zu  Rathe  gezogen,  unter- 
richtete Studenten  in  den  orientalischen  Sprachen  und  gehörte 
zu  den  Mitarbeitern  an  Sartorius  ungarischem  Gesangbuch. 

Nach  3  J/2  jährigem  Studium  erwarb  er  sich  die  Freiheit, 
Vorlesungen  zu  halten.  Er  las  über  hebräische  Grammatik,  einige 
biblische  Bücher  und  Theile  der  Mischna.  Den  Ruf  A.  H.  Frankes 
als  Missionar  nach  Indien  zu  gehen,  schlug  er  nur  darum  aus, 
weil  seine  Freunde  dies  widerriethen.  Verschiedene  Anstellungen 
wussten  Verläumder  zu  hintertreiben,  und  nahm  er  dann,  weil 
er  ganz  seine  Wohlthäter  über  sich  entscheiden  lassen  wollte, 
zuerst  mit  einer  Hilfslehrerstelle  am  Gymnasium  zu  Gotha  vorlieb. 
Einer  Berufung  an  die  neu  zu  gründende  Universität  Göttingen 
kam  Herzog  Friedrich  III.  mit  dem  Antrage  zuvor,  die  Stelle 
eines  Pastor   substitutus    in  Eschenberge   zu    übernehmen.     Dort 

J.  A.  F.  d  e   1  e    Roi,   Missionsbeziehungen.  25 


-     386     - 

wurde  er  1734  eingeführt,  5  Jahre  später,  nach  Ableben  des 
alten  Pastors,  erhielt  er  das  Pfarramt  selbst.  Jetzt  verheirathete 
er  sich  auch  und  zwar  mit  einer  Tochter  des  früheren  Amtmanns 
Schaper.  Er  war  ein  überaus  treuer  Geistlicher  und  ein  sehr 
begabter  Prediger.  Die  deutsche  Sprache  wusste  er,  obwohl  er 
das  reine  Deutsch  erst  als  Mann  gelernt  hatte,  vortrefflich  zu 
handhaben  und  übertraf  im  Stil  viele  Zeitgenossen. 

Für  seine  früheren  Glaubensbrüder,  von  denen  er  zwei  selbst 
taufen  durfte,  behielt  er  stets  ein  warmes  Herz,  und  seine  Liebe 
zu  ihnen  minderte  es  nicht,  dass  ihm  von  denselben  viele  Unbill 
zugefügt  wurde  und  zweimal  sogar  durch  solche  ein  Mordversuch 
auf  ihn  geschah.  Mit  Proselyten  blieb  er  in  stetem  Verkehr 
und  Callenbergs  Institutum  begünstigte  er,  so  viel  er  konnte. 
Auch  als  Schriftsteller  war  er  sehr  fleissig  und  wurde  von  der 
Chur  -  Mainzischen  Akademie  der  Wissenschaften  zu  ihrem  Mit- 
gliede  ernannt.  Besondere  Erwähnung  verdient  sein  Buch  „Frommer 
Proselyten  Trost  und  Ermunterung  zur  Glaubensbeständigkeit" 
Erfurt  1755,  in  welchem  er  Biographieen  treuer  Proselyten  liefert. 
Er  starb ,  nachdem  es  ihm  noch  vergönnt  worden  war ,  sein 
50jähriges  Amtsjubiläum  zu  feiern,  im  Jahre  1782. 

Von  seinen  Kindern  heirathete  eine  Tochter  den  Kanzler 
Brückner  in  Gotha  und  eine  andere  den  Archidiakonus  Mirus 
in  Jena.  „Nachrichten"  über  ihn  hat  sein  Sohn  Ernst  Friedrich 
Augusti  hinterlassen,  der  seines  Vaters  Amtsgehilfe  und  dann 
Superintendent  in  Ichterhausen  wurde.  Dessen  Sohn  Johann 
Christian  Wilhelm  Augusti,  geboren  1772  in  Eschwege,  wurde 
nach  einander  Professor  der  Philosophie,  der  orientalischen 
Sprachen  und  der  Theologie ;  er  starb  als  Professor  der  Theologie 
und  Consistorialrath  in  Bonn  im  Jahre   1841. 

Als  Geistlicher  aus  jüdischem  Geschlechte  ist  noch  Christian 
Fürchtegott  Liepmann*)  zu  nennen.  Geboren  1708  zu  Königs- 
berg in  der  Neumark  hiess  er  als  Jude  Copilia  und  studirte  in 
Prag ,  Metz  und  in  anderen  Städten  jüdische  Wissenschaft. 
Fleissiges  Lesen  in  der  Bibel  Hess  ihn  die  Verschiedenheit 
zwischen  derselben  und  dem  rabbinischen  Schriftthum  erkennen 
und  den  Gedanken  in  ihm  erwachen,  dass  der  Messias  schon 
gekommen  sein  müsse.  Als  er  dies  noch  während  seines  Studirens 
auf  der  jüdischen  Akademie    vor   seinen  Gaubensgenossen  aus- 


fj  Acta  eccles.  von    1741.     Theil  27.     Dibre  Emeth   1880  S.   71. 


-     337     - 

sprach,  wurde  er  dafür  empfindlich  gestraft  und  verlor  in 
Folge  dessen  die  Neigung  zum  Amte  eines  Rabbiners  ;  dess- 
halb  wandte  er  sich  jetzt  dem  Handelsstande  zu  und  lernte 
Deutsch  lesen  und  schreiben.  Von  einem  Geistlichen  erhielt  er 
dann  auf  seine  Bitte  eine  deutsche  Bibel,  die  er  auch  auf  seinen 
Handelsreisen  beständig  mit  sich  führte  und  fieissig  las.  Auf 
diese  Weise  kam  er  zu  der  Ueberzeugung,  dass  seine  jüdische 
Religion  unhaltbar  sei. 

In  Cleve  entdeckte  er  sich  dem  Prediger  Johann  Daniel 
von  Mann  und  wurde  durch  dessen  Unterweisung  dahin  geführt, 
die  christliche  Lehre  als  die  biblisch  richtige  anzuerkennen.  Aber 
er  zauderte  noch  eine  ganze  Zeit,  den  entscheidenden  Schritt  des 
Uebertritts  zu  thun,  und  reiste  mit  der  Unruhe  im  Herzen  und 
Gewissen  hin  und  her.  Eine  schwere  Erkrankung  in  Jever,  welche 
ihn  dem  Tode  nahe  führte,  Hess  ihn  das  Unrecht,  das  er  sich 
selbst  zufügte,  erkennen,  und  von  der  Krankheit  genesen,  erbat 
er  desshalb  sofort  vom  Superintendenten  Christian  Reuter  zu 
Jever  die  Taufe.  Dieser  Geistliche  nahm  ihn  auch  in  seinen  Unter- 
richt. Als  die  Juden  dies  erfuhren,  brachten  sie  eine  ganze  Reihe 
von  Verleumdungen  über  ihn  aus,  die  viele  Erkundigungen  des 
gewissenhaften  Geistlichen  nöthig  machten,  welche  14  Monate  in 
Anspruch  nahmen.  Als  auf  diese  Weise  aber  nun  seine  Unschuld 
auch  aufs  klarste  offenbar  geworden  war,  ertheilte  ihm  Reuter 
1736  die  Taufe  mit  desto  grösserer  Bereitwilligkeit. 

Das  Taufexamen,  welches  der  fortan  Christian  Fürchtegott 
Liepmann  heissende  Katechumen  bei  dieser  Gelegenheit  bestand 
brachte  ein  so  grosses  Schriftwissen  und  eine  so  klare  christliche 
Erkenntniss  desselben  zu  Tage,  dass  allgemein  der  Wunsch  aus- 
gesprochen wurde,  der  Täufling  möge  fortan  Theologie  studiren. 
Rektor  Wessel  Eilers  am  Gymnasium  in  Jever  nahm  den  28jährigen 
Liepmann  als  Schüler  an,  und  Prinz  Johann  Ludwig,  Statthalter 
zu  Jever  bewilligte  die  Mittel  für  seinen  Unterhalt  auf  dem  Gym- 
nasium. 1739  durfte  er  die  Schule  verlassen,  bei  welcher  Ge- 
legenheit Rektor  Wessel  Eilers  eine  zuerst  lateinisch  und  dann 
in  deutscher  Uebersetzung  erschienene  Einladungsschrift  zu  der 
feierlichen  Entlassung  der  abgehenden  Schüler  ausgab,  welche 
den  Titel  trug:  „Geschichtlicher  Brief,  in  welchem  der  Schulrektor 
W.  E.  den  ehemaligen  Rabbi  Copilia  und  nachherigen  Christen 
Chr.  F.  L.,  der  von  nun  an  die  evangelische  Theologie  studiren 
will,  darstellt."     Oldenburg   1739. 

25* 


—     333     - 

Liepmann  studirte  dann  die  Theologie  in  Jena  und  Witten- 
berg, wurde  1741  Prediger  auf  der  Insel  Wangeroge,  1751  zweiter 
Prediger  in  Waddewarden  bei  Jever  und  1771  Oberprediger  in 
dem  Nachbarorte  Sillenstede.  Von  seinen  in  zwei  Ehen  ihm  ge- 
borenen Kindern  überlebte  ihn  keins,  er  selbst  starb  1779.  Bei 
seiner  Gemeinde  stand  er  in  hoher  Achtung. 

Ausser  diesen  Geistlichen  verdienen  Männer  in  verschiedenen 
Lebensstellungen  Erwähnung.  Christian  Friedrich  Ka atz ,*)  1702 
in  Berlin  getauft,  gab  1703  heraus  „Des  12jährigen  Jesu  von 
Nazareth  Verstand  im  Fragen  und  Antworten,  darüber  sich  die 
Juden  verwundern";  ferner  „Erkannte  göttliche  Wahrheit  aus 
der  Schrift  Alten  und  Neuen  Testamentes",  Waidenburg  1716 
und  1720  einen  Katechismus  für  Juden.  Sein  Wohnsitz  war 
Meerane  im  Sächsischen.  Ein  Sohn  desselben  studirte  Theologie 
in  Jena.  Wir  wissen  von  dem  letzteren,  dass  er  sein  Studium 
auch  beendet  hat  und  dann  Informator  bei  einem  Minister  war, 
sind  aber  nicht  im  Stande,  etwas  über  seinen  ferneren  Lebens- 
gang zu  sagen. 

Johannes  Christlieb  Heilbrunner**)  aus  Krakau,  als  Jude 
Moses  Prager  genannt,  wurde  1709  in  Heilbronn  vom  Mag.  Jo. 
Phlp.  Storr  getauft,  während  ihm  seine  Frau  1714  in  Pirna 
nachfolgte.  Er  lehrte  an  verschiedenen  Universitäten  das  Hebräische 
und  Talmudische.  Von  ihm  stammt  ein  deutscher  Traktat  über 
Jesaia  53,  Tübingen  1710,  welches  Kapitel  ihn  besonders  zur 
Annahme  des  Christenthums  bewogen  hatte.  Ferner  „Klare 
Beweisthümer  über  Jesum  Christum,  dass  er  der  wahre  Messias 
und  Sohn  Gottes  ist,  aus  dem  Alten  Testamente,  der  Rabbinen 
und  Kabbalisten  Schriften  nachgewiesen  mit  einem  Anhang,  was 
für  einen  Messias  die  Juden  erwarten",  Dresden  171 5.  Eine 
Widerlegung  der  Einwürfe  der  Juden  gegen  die  Geschlechts- 
register Christi,  besonders  wider  die  Schrift  Chisuk  Emunah 
gerichtet,  folgte  Hamburg  171 8.  In  Dresden  fand  er  endlich  sein 
bleibendes  Unterkommen.  Wolf  rühmt  ihn  als  einen  von  der 
christlichen  Wahrheit  vollkommen  überzeugten  und  unter  allen 
Trübsalen  bewährten  Proselyten. 

Einer  der  ausgezeichnetsten  Proselyten  in  der  ersten  Hälfte 
des  1 8.  Jahrhunderts  ist  der  Arzt  Dr.  Heinrich  Christian  Immanuel 


*)  Wolf  15.  II.  II  S.   1008.  IV  N.   1897  d. 
►*)   Wolf  15.  II.  III  N.  823  c!. 


—     389     - 

Frommann.  Sein  jüdischer  Name  und  seine  früheren  Verhältnisse 
sind  nicht  bekannt.  Was  seine  Heimath  betrifft,  so  glaubt  Biesen- 
thal,*) dass  sie  Schlesien  war;  seine  ärztliche  Dissertationschrift 
aber  nennt  ihn  H.  Chr.  Im.  Frommann  aus  Gera.  Durch  den 
Ruf  des  Rabbi  David  Fränkel  in  Dessau  angezogen,  begab  er 
sich  auf  die  dortige  jüdische  Hochschule.  Dort  wurde  er  für  den 
christlichen  Glauben  gewonnen.  St.  Schultz  theilt  hierüber  in 
seinen  „Leitungen  des  Höchsten"  3,  14  das  Nähere  mit.  Ein 
christlicher  Schneider,  bei  dem  sich  der  junge  Student  ein  Kleid 
bestellte,  fing  in  seiner  Gegenwart  zu  weinen  an.  Nach  dem 
Grunde  dessen  gefragt,  erklärte  der  Meister,  dass  ihn  der 
Gedanke,  ein  so  schöner  junger  Mensch  sollte  verloren  gehen, 
innerlichst  beunruhigte.  Die  unwillige  Abweisung,  welche  der 
Schneider  hierauf  erfuhr,  schüchterte  denselben  nicht  ein,  sondern 
er  bat  den  Studenten  dringend,  das  Neue  Testament  zu  lesen, 
weil  ihn  dies  zur  Erkenntniss  der  Wahrheit  führen  werde.  Der 
Vorfall  ging  Frommann  weiter  nach  und  beschäftigte  ihn  innerlich, 
so  dass  er  nach  einigen  Tagen  zu  dem  Schneider  ging,  um  von 
demselben  ein  Neues  Testament  zu  erbitten.  Da  dasselbe  aber 
in  deutscher  Sprache  geschrieben  war,  die  er  nicht  lesen  konnte, 
warf  es  der  Jüngling  ärgerlich  auf  den  Tisch.  Der  Schneider 
jedoch  bat  ihn,  die  deutsche  Schrift  zu  lernen,  da  er  noch  ein 
so  junger  Mensch  sei  und  ihm  dies  nicht  schwer  fallen  könne. 
Frommann  wollte  sich  hierauf  von  einem  christlichen  Buchbinder 
eine  deutsche  Bibel  kaufen;  der  elende  Mann  aber  forderte  von 
ihm  einen  halben  Thaler,  so  dass  ihn  der  junge  Student  voll 
Unwillens  über  die  Betrügereien  der  Christen  verliess.  Aber  die 
Bitten  und  Thränen  des  Schneiders  Hessen  ihm  keine  Ruhe,  und 
so  kaufte  er  später  dennoch  die  Bibel,  lernte  bei  Nacht  Deutsch 
lesen  und  lieh  sich  dann  von  dem  Schneider  das  Neue  Testament. 
Zweimal  24  Stunden  schloss  er  sich  hierauf  bei  Wasser  und  Brot 
ein  und  las  in  dieser  Zeit  das  ganze  Neue  Testament  durch, 
den  Römer-Brief  sogar  zweimal.  Dem  Schneider  gab  er  darauf 
sein  Buch  zurück,  ohne  sich  etwas  merken  zu  lassen;  als  aber 
sein  nächster  Wechsel  einlief,  ging  er  nach  Gotha,  bat  dort 
in  das  Christenthum  aufgenommen  zu  werden,  und  wurde  daselbst 


*)  Biesenthal   in  Dibre  Emeth   1855  N.  I,  2.     Saat,  Ostern   1869  S.   217  ff. 
Biesenthal  in  Axenfelds  Leben  von  den  Todten,  Barmen  1874  S.  1  ff.   Kaikar  268. 


—     39Q     — 

unterrichtet  und  getauft.  Das  wird  in  den  Jahren  1722  bis  1723 
geschehen  sein. 

Er  durfte  hierauf  das  Gymnasium  in  Gotha  beziehen,  dessen 
trefflicher  Rektor  Vockerodt  auf  ihn  sehr  günstig  einwirkte.  Viele 
Wahrscheinlichkeit  hat  die  Vermuthung  Biesenthals  für  sich,  dass 
auf  seinen  Lebensgang  Augusti  nicht  ohne  Einfluss  gewesen  ist. 
Gerade  in  jener  Zeit  hatte  ja  die  Disputation  des  Letzteren  in 
Dessau  stattgefunden,  und  von  dem  damals  alle  jüdischen  Gemüther 
in  jener  Stadt  und  Gegend  beschäftigenden  Ereigniss  wird  auch 
Frommann  nicht  unberührt  geblieben  sein.  Der  Entschluss  des- 
selben, gerade  nach  Gotha  zu  gehen,  spricht  ebenso  für  diese 
Vermuthung;  denn  dass  Augusti  in  Gotha  weilte,  war  bekannt, 
und  dass  Frommann  von  diesem  Manne  Förderung  für  seine 
neuen  Wege  erwartet  haben  wird,  ist  eine  sich  von  selbst  er- 
gebende Annahme.  Mit  Augusti,  der  gerade  in  dieser  Zeit  das 
Gymnasium  in  Gotha  besuchte,  wird  dann  auch  Frommann  näher 
verkehrt  haben  und  von  ihm  innerlich  gefördert  worden  sein. 

Nach  der  Gymnasialzeit  besuchte  Frommann  die  Universität 
Halle.  Sein  anfänglicher  Plan,  Theologie  zu  studiren,  stiess  dort 
auf  Schwierigkeiten,  und  so  wählte  er  das  medizinische  Studium. 
1727  finden  wir  ihn  bereits  in  Halle  und  in  Verbindung  mit 
Callenberg,  der  ihn  seinen  „Freund"  nennt  und  seiner  in  den 
ersten  Nachrichten  des  Institutum  öfters  Erwähnung  thut.  Pastor 
Müller  in  Gotha  und  Vockerodt  mögen  Frommann  an  Callenberg, 
der  ja  gleichfalls  der  Schüler  jener  Beiden  gewesen  war,  gewiesen 
haben,  und  das  lebhafte  Herzensinteresse,  welches  Callenberg 
schon  in  der  früheren  Zeit  seines  Aufenthaltes  in  Halle  für  die 
Juden  empfunden,  wird  durch  den  Verkehr  mit  Frommann 
doppelte  Nahrung  erhalten  haben.  Denn  allerdings  war,  wie  es 
die  Callenberg'schen  Berichte  beweisen,  das  Heil  der  Juden  ein 
steter  Gegenstand  ihrer  gemeinsamen  Besprechungen  und  Bera- 
tungen. Frommann  fühlte  fortwährend  ein  brennendes  Verlangen, 
seinem  Volke  zu  dienen,  und  Callenberg  hätte  sich  von  den 
Schwierigkeiten,  die  dem  Plane,  das  Wohl  der  Juden  zu  befördern, 
entgegentraten,  des  öfteren  übermannen  lassen,  wenn  ihm  nicht 
gerade  in  jener  ersten  Zeit  der  Entstehung  des  Institutum  From- 
mann ermuthigend  und  antreibend  zur  Seite  gestanden  hätte. 
Dass  die  Halle'sche  Mission  ins  Leben  trat,  ist  in  der  That  in 
nicht  geringem  Grade  auch  Frommann  zu  danken.  Und  ein  edler 
Proselyt   ist   in   Wahrheit    mit    der   Geschichte  jenes  Werkes   in 


—     39i     — 

der  Christenheit  ganz  besonders  verknüpft,  das  seines  Volkes 
Heil  ernster,  als  es  Jahrhunderte  hindurch  geschehen  war,  suchte, 
und  das  aller  Folgezeit  die  Noth wendigkeit  und  Pflicht,  der  Juden 
bleibendes  Beste  zu  schaffen,  zum  Bewusstsein  gebracht  hat. 

Zur  Herausgabe  des  Müller'schen  Traktates  „Das  Licht  am 
Abend"  wurde  Callenberg  vornehmlich  auch  dadurch  ermuntert, 
dass  Frommann,  als  sich  kein  Verleger  finden  wollte,  in  den 
Professor  drang,  jüdische  Lettern  zu  kaufen,  und  durch  ihn,  der 
zu  diesem  Zwecke  das  Setzen  lernte,  das  Buch  drucken  zu  lassen. 
Am  Tage  seinen  Studien  obliegend,  verrichtete  Frommann  damals 
in  der  Nacht  die  Arbeit  eines  Druckers.  Von  da  an  aber  stand 
er  überhaupt  ununterbrochen  Callenberg  aufs  Thätigste  zur  Seite 
und  griff  besonders  schriftstellerisch  tief  in  das  Werk  des  Institutum 
ein;  viele  der  wichtigsten,  folgenreichsten  und  wirksamsten 
Schriften  der  Anstalt  stammen  gerade  aus  seiner  Feder. 

Noch  als  Student  übersetzte  er  1730  das  Evangelium  des 
Lukas  ins  Jüdisch-deutsche  unter  Callenbergs  Aufsicht.  Voran- 
geschickt wurde  eine  von  Pastor  Müller  verfasste  Vorrede,  welche 
eine  vollständige  Nachricht  vom  Leben  und  von  der  Lehre  Jesu 
gab  und  eine  Aufforderung  an  die  Juden  richtete,  dieses  Evan- 
gelium nun  auch  zu  lesen.  Schwere  Stellen  des  Evangeliums 
versah  Frommann  mit  Anmerkungen.  Ebenso  übersetzte  er  ins 
Jüdisch -deutsche  die  Apostel-Geschichte  und  Freylinghausens 
Sermon  von  der  wahren  Kindschaft  Abrahams.  Da  in  diese  Zeit 
die  Vertreibung  der  evangelischen  Salzburger  durch  den  Erz- 
bischof Firmian  fiel,  und  dies  viele  Juden  gegen  das  Christenthum 
erregte,  übersetzte  Frommann  das  Augsburgische  Glaubens- 
bekenntniss  der  Evangelischen  ins  Jüdisch-deutsche  und  versah 
es  mit  Bemerkungen;  es  sollten  die  Juden  hierdurch  Gelegenheit 
finden,  den  Unterschied  evangelischer  und  katholischer  Kirche 
kennen  zu  lernen.  Ebenso  verfertigte  er  eine  jüdisch-deutsche 
Uebersetzung  der  Missionsschrift :  „Lehrer  der  Erkenntniss".  Die 
Abhandlung  über  die  jüdisch-deutsche  Schreibart  in  Calvörs 
Juden-Katechismus  verbesserte  er,  übersetzte  1734,  inzwischen 
Doktor  geworden,  das  Evangelium  des  Johannes  ins  Jüdisch-deutsche, 
ebenso  wie  den  Hebräerbrief,  die  er  mit  Erklärungen  versah,  und 
siess  in  gleicher  Uebersetzung  die  zwei  Briefe  an  die  Korinther 
und  den  Brief  an  die  Galater  erscheinen. 

Frommann  veranstaltete  aber  auch   eine    hebräische  Ueber- 
letzung  des  Evangelium  Lucä,  deren  ersten  Theil  er  selbst  noch 


-     392    — 

mit  rabbinischen  Erklärungen  versah.  Diese  Uebersetzung  erntete 
nicht  bloss  in  jener  Zeit  über  Deutschland  hinaus  und  besonders 
in  England  vieles  Lob,  sondern  hat  auch  in  unserer  Zeit  die  An- 
erkennung von  Professor  Delitzsch  gefunden.  Callenberg  erwähnt 
ferner,  dass  Frommann  eine  hebräische  Uebersetzung  der  Apostel- 
geschichte und  christlicher  Lieder,  die  auch  nach  den  betreffenden 
christlichen  Melodieen  zu  singen  waren,  im  Manuskript  hinterlassen 
habe,  aber  dasselbe  ist  nicht  vorgefunden  worden. 

Alle  diese  schriftlichen  Arbeiten  fertigte  Frommann  in  der 
kurzen  Zeit  von  5  Jahren  an,  in  denen  er  zum  Theil  noch  Student 
war,  und  hernach  die  Mühe  der  ersten  Einrichtung  in  seinem 
ärztlichen  Amte  zu  bestehen  hatte.  Beweis  genug  dafür,  dass 
der  ebenso  tüchtige  und  wissenschaftlich  angelegte  als  fromme 
junge  Mann  von  ausserordentlichem  Eifer  für  das  Missionswerk 
unter  seinen  früheren  Glaubensgenossen  erfüllt  war. 

Frommann  übersetzte  dann  1733  noch  den  Brief  an  die 
Römer,  welcher  besonders  entscheidend  auf  ihn  eingewirkt  hatte, 
ins  Jüdisch-deutsche,  und  die  Bemerkungen,  welche  er  dieser 
Uebersetzung  beigab,  haben  sich  hernach  als  eine  wahre  Fundgrube 
für  die  Unterweisung  von  Juden  in  der  christlichen  Lehre  erwiesen. 
Callenberg  zog  aus  diesen  Erklärungen  nicht  weniger  als  14 
besondere  Missionsschriften  heraus,  die  alle  in  jüdisch-deutscher 
Sprache  erschienen  und  bereits  auf  Seite  264  ff.  erwähnt  worden  sind. 

Im  April  1733  erhielt  Frommann  von  der  medizinischen 
Fakultät  in  Halle  die  Doktorwürde.  Seine  Dissertationsschrift 
vom  6.  Juli  jenes  Jahres  handelte  über  das  Thema  De  necessario 
sanis  medico,  dass  der  Arzt  auch  den  Gesunden  nöthig  sei,  und 
enthält  am  Schlüsse  Gedichte  zu  seiner  Ehre  von  Professor  Dr. 
Jo.  Heinr.  Michaelis,  Professor  Callenberg,  dem  Rektor  des  Halle'- 
schen  Gymnasiums  Jo.  Mich.  Gasser  und  dem  Lehrer  am  dortigen 
Pädagogium  Carl  Heinr.  Theune.  Schultz  sagt  in  seinen  „Leitungen 
des  Höchsten"  3,  j6,  dass  Frommann  als  Arzt  eine  gute  Praxis 
gehabt  habe,  obwohl  er  doch  nur  2  Jahre  lang  als  solcher  in 
Halle  wirkte.  Er  war  verheirathet  und  hinterliess  eine  Wittwe, 
sein  Kind  ging  ihm  im  Tode  voran.  Er  selbst  starb  am  2.  Januar 
1735  an  einem  Fleckfieber.  Noch  in  seinen  letzten  Phantasieen 
beschäftigte  er  sich  mit  der  Apostelgeschichte,  die  von  ganz 
besonderer  Bedeutung  für  sein  inneres  Leben  geworden  war. 
Mit  den  Worten:  „Ach  Jesu,  ja  Jesu,  ja  Jesu,  mein  Jesu!"  ent- 
schlief er. 


—     393     — 

Frommann  gehört  zu  den  edelsten  Gestalten  unter  den 
Proselyten  nicht  bloss  seiner  Tage,  sondern  aller  Zeiten;  und  er 
hat  es  wohl  verdient,  dass  sein  Name  noch  fort  und  fort  in  den 
Missionskreisen  mit  liebender,  herzlicher  Anerkennung  genannt 
wird.  Er  hat  sich  völlig  verzehrt  im  Dienste  seines  Gottes  und 
im  Dienste  seiner  Brüder  nach  dem  Fleisch.  Bei  ihm  zeigt  sich 
in  solcher  Reinheit  wie  selten  sonst  volle  christliche  Klarheit, 
unbedingter  Ernst  in  der  Geltendmachung  der  Wahrheit  gegen  sein 
Volk,  völlige  Freiheit  von  allem  Bedecken,  Verschweigen  und 
Entschuldigen  der  jüdischen  Sünde,  völliges  Fernsein  von  aller 
Verherrlichung  der  jüdischen  Rasse  und  ebenso  brünstige  Liebe 
zu  seinen  Volksgenossen,  die  Jesu  zuzuführen  seine  Arbeit  und 
sein  Sehnen  bis  zu  seinem  letzten  Odemzuge  geblieben  ist. 

Auch  in  diesem  Zeiträume  begegnet  uns  sodann  eine  ganze 
Reihe  von  Proselyten,  welche  unter  den  Juden  Rabbiner  oder 
Lehrer  gewesen  waren  und  die  sich  nun  als  Christen  durch  ge- 
lehrte oder  literarische  Thätigkeit  zu  erhalten  suchten.  Wir  finden 
also  wieder  verschiedene  Lektoren  der  orientalischen  Sprachen 
und  der  rabbinischen  Literatur  an  den  Universitäten,  und  andere, 
welche  ihre  Kenntnisse  theils  zur  Erweisung  der  Wahrheit  des 
Christenthums  vor  ihren  Glaubensgenossen,  theils  zu  ihrer  Ueber- 
führung  zu  verwerthen  suchten.  Die  grösste  Zahl  dieser  Prose- 
lyten hat  hierin  nur  sehr  Mittelmässiges  geleistet,  und  recht 
vielen  Erzeugnissen  dieser  Art  merkt  man  es  an,  dass  sie  des 
Broterwerbes  wegen  geschrieben  sind.  Die  Noth  drängte  eben 
in  nur  zu  vielen  Fällen  zur  Feder.  Immerhin  aber  erkennt  man, 
dass  manche  dieser  Proselyten  doch  auch  ein  Eifer  für  die 
Bekehrung  der  übrigen  Juden  erfüllte,  und  dass  ihnen  diese  eine 
Herzenssache  war. 

Wir  erwähnen  nur  beispielsweise  unter  den  Männern,  welche 
auf  solche  Weise  den  schriftstellerischen  Weg  betraten:  Johann 
Friedrich  Mentes  in  Greifswald,  Friedrich  Christian  Meier, 
getauft  in  Altona,  Ernst  Maximilian  Borg,  getauft  in  Breslau, 
Christoph  Gustav  Christian  in  Nürnberg,  ein  sehr  redlicher 
Mann,  Abraham  Ben  Raphael  de  Lonsano,  als  Christ  Wilhelm 
Heinr.  Neumann,  in  Idstein  getauft,  der  Theile  einer  hebräischen 
Grammatik  schrieb,  Walther  Philipp,  getauft  in  Hamburg,  der 
ein  sog.  deutsch-hebräisches  Wörterbuch  verfasste,  das  aber  nur 
von  der  Schreibweise,  dem  Lesen  und  der  Aussprache  des 
Hebräischen  handelt,  und  der  dann  auch  über  den  jüdisch-deutschen 


—     394    — 

Dialekt  schrieb.  Möglicherweise  ist  dieser  Walther  Philipp  der 
Vater  des  Studiosus  der  Theologie  Gottlieb  Georg  Philipp,  den 
1 75 1  die  Schultz'schen  Ferneren  Nachrichten  i,  5,  6  nennen. 
Hier  wird  ein  Philipp  aus  Oberstein,  also  aus  der  Gegend,  da 
der  früher  genannte  lebte,  erwähnt  und  von  ihm  gesagt,  dass  er 
1 73 5  gestorben  sei.  Von  dem  Studenten  schreibt  Schultz,  dass 
er  den  Herrn  redlich  zu  fürchten  scheine,  und  fügt  hinzu,  dass  ein 
Bruder  desselben  das  Halle'sche  Waisenhaus  besuche.  Ueber  beide 
Brüder  aber  waren  nähere  Nachrichten  nicht  zu  erlangen. 

Wir  begegnen  ferner  einem  Karl  Gottlieb  Willig,  der  1723 
mit  Frau  und  sieben  Kindern  in  Greifs wald  getauft  wurde  und  zwei 
Katechismen,  einen  grösseren  und  einen  kleineren  zur  Unterweisung 
der  Juden  verfasste.  Jakob  Michael  August  ist  in  Breslau  getauft. 
Ihm  folgten  später  auch  seine  Frau  und  Kinder,  und  wurde  er 
Lektor  der  orientalischen  Sprachen  in  Leipzig.  Johann  Friedrich 
Gutherz,  getauft  in  Breslau,  und  Christian  Gottlieb  Hamburger, 
171 8  in  Leipzig  getauft,  gaben  eine  Beschreibung  der  jüdischen 
Ceremonien  und  der  Gebräuche  der  heutigen  Juden  heraus. 
Oefters  werden  jetzt  Theologie  studirende  Proselyten  genannt, 
deren  weiteren  Lebensgang  wir  aber  nicht  verfolgen  können. 
So  ein  Rabbi  Israel  Moses  Präger  oder  Prager,  der,  1741  von 
Senior  Münden  in  Frankfurt  getauft,  als  Christ  Johann  Christian 
Neu  mann  hiess.  Derselbe  studirte  Theologie  in  Leipzig  und 
Jena,  hernach  verlieren  aber  wir  ihn  aus  den  Augen.  Er  wie  so  viele 
andere  Proselyten  erhielten  in  der  Taufe  Namen,  welche  ihren 
neuen  Christenstand  recht  deutlich  bezeichnen  sollten;  Und  sehr 
viele  der  heutigen  Neumanns  oder  der  Personen,  welche  mit 
Christ  verbundene  Namen  in  Deutschland  tragen,  sind  Nach- 
kommen von  Proselyten. 

Erwähnt  sei  auch  Mauritius  Wilhelm  Christian  Keys  er*) 
aus  Prag,  Rabbi  in  Schleusingen  und  daselbst  vom  Superintendenten 
Fried.  Ernst  Meis  171 5  getauft.  Er  hielt  als  Christ  Vorlesungen  in 
Altorf  und  später  über  jüdische  Alterthümer  in  Regensburg.  Dort 
hatte  sich  der  Superintendent  Georg  Serpilius  eine  Synagoge 
genau  nach  den  jüdischen  Vorschriften  erbauen  lassen.  Keyser 
beschrieb  dieselbe  und  gab  hierbei  überhaupt  genauere  Nach- 
richten über  die  Einrichtungen  der  jüdischen  Gotteshäuser.  Später 
ertheilte  er  in  Bremen  Unterricht  im  Talmud   und  Rabbinischen. 


Wolf  B.  H.  3,  4,  N.   1365  b. 


—     395     — 

Allem  Anscheine  nach  hat  er  dann  in  der  Anstalt  des  Mercatus 
in  Schleswig  ein  Asyl  gefunden.  Wolf  nennt  ihn  einen  gelehrten, 
redlichen  und  sittenstrengen  Mann. 

Philipp  Nicodemus  Leberecht*)  aus  Calbe  an  der  Saale 
wurde  171 5  von  Pastor  Seufert  in  Pforzheim  getauft.  Seufert 
diktirte  ihm  einen  kurzen  Auszug  seines  Katechismus  in  die 
Feder,  den  er  dann  ins  Jüdisch-deutsche  übersetzte.  Das  Buch 
trägt  den  Titel  „Eckstein  des  wahren  Glaubens"  1 719  Leipzig 
und  Dresden.  Ausserdem  erschien  von  Leberecht  „Der  geistig 
todte  Jude"  in  2  Theilen,  Magdeburg,  die  Lehre  von  den  beiden 
Messiasen  der  Juden  und  ihre  Widerlegung  enthaltend.  Das  Beste 
in  diesen  Schriften  ist  Gersons  Talmud  entnommen,  von  der 
Hardt  aber  in  der  Schrift  Leberechts  „Ein  Zicklein"  über  die 
Osterliturgie  der  Juden  benutzt.  Verständigere  Wege  schlug 
Leberecht  in  einer  Schrift  über  die  Tekuphoth  oder  die  Bluts- 
tropfen, welche  viermal  des  Jahres  zum  Zeichen  und  Denkmal 
unter  den  Juden  vom  Himmel  fallen  sollen,  ein;  denn  er  erklärte, 
dass  er  von  solchen  Blutstropfen  nichts  bemerkt  habe.  Leberecht 
fand  nie  eine  sichere  Existenz  und  gehört  zu  denen,  welche  es  beson- 
ders deutlich  zeigen,  dass  in  jener  Zeit  so  mancher  der  Proselyten, 
wenn  er  selbst  guten  Willen  hatte,  nichtvorwärts  kommen  konnte, 
weil  man  sich  zu  wenig  Mühe  gab,  sie  in  den  socialen  Organismus 
der  christlichen  Gemeinde  einzugliedern,  so  dass  sie  in  der  Luft 
schweben  blieben  und  sich  wesentlich  von  Almosen  erhalten 
mussten.  Aehnliches  ist  von  Joh.  Christ.  Meyer  zu  sagen,  der 
1747  mit  seiner  Frau  in  Hamburg  getauft  wurde  und  ein  wirklich 
inniger  Christ  war,  wie  es  seine  kleine  Schrift  „Die  Gestalt  eines 
gläubigen  Juden  vor,  in  und  nach  seiner  Bekehrung",  Tübingen 
1754,  zeigt.  Auch  dieser  treffliche  Mann  hatte  stets  den  Kampf 
um  das  Dasein  zu  führen. 

Ein  anderer  Christian  Meier**)  war  ein  angesehener,  reicher 
Mann  unter  den  Juden  in  Hamburg  und  Vorsteher  einer  höheren 
jüdischen  Schule  gewesen.  Nachdem  er  zu  der  Ueberzeugung 
gekommen  war,  dass  er  als  Jude  im  Irrthum  lebe,  Hess  er  sich 
in  Bremen  taufen,  suchte  dann  aber  vergeblich  ein  feste  Anstellung 
unter  den  Christen  zu  gewinnen  und  sah  sich  desshalb  zu  wandern 
genöthigt.     So  kam  er  nach  Holland,  wo  er  sich  die  Gunst  von 


*)  Wolf  B.  H.  3,  4,  N.   1830  d. 
►*)  Wolf  B.  H.  3  N.   1897  b. 


—     396     — 

verschiedenen  Gelehrten  erwarb.  D.  Joh.  Meyer  in  Hardenvyk, 
Camp.  Vitringa  in  Franeker,  H.  van  Alphen  in  Utrecht, 
Verbrugge  in  Groningen,  Surenhuis  in  Amsterdam  neben 
Bashuysen  in  Zerbst  lobten  seine  christliche  Lauterkeit  und 
sein  hebräisches  Wissen  und  halfen  ihm  auch  dazu,  dass  mehrere 
seiner  Schriften  gedruckt  wurden,  die  theils  in  holländischer, 
theils  in  deutscher  Sprache  erschienen,  aber  zu  einem  gewissen 
Brote  gelangte  er  trotz  der  Empfehlungen  dieser  Gelehrten  auch 
nicht.  Beachtung  verdient  seine  Schrift  Vera  Immanuelis  gene- 
ratio  ex  virgine  viro  desponsata  secundum  Jesaia  7,  14,  Amster- 
dam 1722.  Die  Londoner  Missionsgesellschaft  hat  eine  neue 
Ausgabe  derselben  veranstaltet,  weil  sie  in  ganz  tüchtiger  Weise 
die  wahre  Gottheit  Christi  gegen  die  jüdischen  Einwürfe  ver- 
theidigt.  Eine  andere  gelehrte  lateinische  Schrift  desselben  Ver- 
fassers behandelt  die  Zeit  des  letzten  Passahmahles  Christi:  Quo 
tempore  Christus  Pascha  celebraverit ,  quod  ex  Joanne  18,  28 
secundum  ritus  ecclesiae  Judaicae  factum  esse  probatur.  Da 
Chr.  Meier  nicht  lateinisch  verstand,  was  denn  auch  seinem  Fort- 
kommen besonders  im  Wege  gestanden  haben  mag,  Hess  Professor 
Johann  Meyer  das  hebräisch  und  jüdisch -deutsch  geschriebene 
Manuscript  erst  ins  Lateinische  übersetzen.  Dies  hat  aber  manche 
Unzuträglichkeiten  mit  sich  gebracht.  Christ.  Meiers  spätere  Schick- 
sale sind  uns  nicht  bekannt,  ein  Vierteljahrhundert  hindurch  aber 
sehen  wir  ihn  mit  den  schwierigsten  Verhältnissen  ringen,  ohne 
desshalb  seinem  Glauben  untreu  zu  werden. 

Zu  den  besseren  Proselyten  des  Zeitraums  gehört  ein  früherer 
Rabbi  im  polnischen  Bar,  der  als  Christ  Christoph  David  Bern- 
hard*) hiess.  Derselbe  wurde  durch  Pfarrer  M.  Storr  in  Heilbronn 
für  das  Christenthum  gewonnen.  Er  war  hernach  Lektor  des 
Hebräischen  in  Jena  und  später  in  Tübingen.  Dr.  Pfaff  gibt  ihm 
das  Zeugniss,  dass  er  ein  aufrichtiger  Israelit  ohne  Falsch  sei 
und  genug  Proben  eines  wahren  Christenthums  gegeben  habe. 
Im  Talmudischen  und  Rabbinischen  besitze  er  eine  unvergleichliche 
Einsicht,  eine  ganz  andere,  als  die  meisten  übrigen  Proselyten, 
und  habe  mit  grossem  Ruhme  docirt.  Der  nachmalige  Professor 
der  morgenländischen  Sprachen,  Joh.  Gottfried  Tympe,  z.  B., 
welcher  ihn  in  Jena  hörte,  erklärte,  dass  er  von  Bernhard  besonders 


*)  Wolf  B.  II.   3  ,    4  N.    1895  d.     4  S.   519,    20.     Kaikar   176.      Wissen- 
schaft, Kunst  u.   s.  \v.   von  Franz  Delitzsch  S.   304. 


—     397     — 

viel  gelernt  habe.  Am  bekanntesten  ist  seine  „Hütte  Davids, 
oder  grammatische  Regeln  der  hebräischen  Sprache",  Tübingen 
1722  geworden.  Das  Werk  ist  eine  kurze  aber  beachtenswerthe 
hebräische  Grammatik  mit  gespaltenen  Kolumnen,  auf  der  einen 
Seite  den  hebräischen  Text,  auf  der  anderen  die  deutsche  Ueber- 
setzung  enthaltend.  Zu  Grunde  gelegt  ist  die  hebräische  Grammatik 
des  R.  Salomon  Ben  Jehuda,  welche  durch  Bernhard  aber  eine 
verbesserte  Gestalt  erhalten  hat. 

Wider  falsche  Beschuldigungen,  die  gegen  die  Juden  erhoben 
wurden,  erhob  er  treulich  seine  Stimme.  So  widerlegte  er  den 
Proselyten  Michael  Paul,  der  die  thörichte  Fabel  von  den  vier 
jüdischen  Blutstropfen  weiter  verbreitete,  und  liess  „Eine  unpar- 
teiische Beurtheilung  des  Eidschwures  eines  Juden  gegen  einen 
Christen"  erscheinen.  Hier  wies  er  gründlich  nach,  dass  ein  solcher 
Eid  auch  Christen  gegenüber  unter  bestimmten  Voraussetzungen 
von  den  Juden  als  durchaus  bindend  betrachtet  werde,  zugleich 
aber,  dass  Vorsichtsmaassregeln  nöthig  seien,  damit  den  allerdings 
vielfach  beliebten  Betrügereien  vorgebeugt  werde.  Ausserdem 
liess  er  noch  verschiedene  andere  Schriften  erscheinen,  welche 
die  Juden  zur  Anerkennung  des  Evangeliums  führen  sollten. 
Genannt  mögen  werden:  „Das  erste  Wort  Davids"  über  die  Mensch- 
werdung Christi  nach  Jesaia  7,  und  „Das  letzte  Wort  Davids" 
oder  eine  Erklärung  von  Daniel  9,  24 — 27  und  über  Jesaia  53. 
Ferner  Makkel  David  über  1  Samuelis  17,  40.  Nicht  in 
den  Druck  gekommen  sind:  Magen  David,  eine  Widerlegung 
des  Buches  Chisuk  Emunah,  sodann  Emunah  David,  eine 
Widerlegung  des  Buches  Ikkarim  von  Jos.  Albo,  eine  Auslegung 
Davids,  eine  Auslegung  von  Hiob  und  ein  Spiegel  Davids,  welcher 
eine  kurze  hebräische  Grammatik  enthielt.  Im  Jahre  1743  wird 
von  Bernhard  in  A.  C.  Zellers  Merkwürdigkeiten  der  Universität 
Tübingen  gesagt,  dass  er  nun  bereits  25  Jahre  Docent  des 
Rabbinischen  und  Talmudischen  sei.     Er  starb   1754  oder  1755. 

Ein  ergreifendes  Beispiel  dafür,  auf  welchen  wunderbaren 
Wegen  Juden  zur  Erkenntniss  Christi  geführt  werden ,  und  mit 
welcher  Treue  dann  auch  so  manche  unter  ihnen  die  einmal 
gewonnene  Glaubensüberzeugung  in  den  einfachsten  Verhältnissen 
festhalten,  ist  Abraham  Herz,*)  als  Christ  Christoph  Leberecht, 


*)  Berichte  von  Beyer  1783,   7,  20  ff.  Dibre  Emeth   1878,  156  ff.  Traktat 
der  Berliner  Gesellschaft. 


—     39S     - 

getauft  174-1  zu  Balga  bei  Königsberg,  gestorben  1776  in 
Königsberg. 

Gegen  den  Vorkämpfer  des  Rationalismus  J.  C.  Edelmann 
und  dessen  Schriften  wider  das  Christenthum  trat  der  Proselyt 
Christian  Immanuel  Reinwolle,  preussischer  Accisebeamter  in 
Berlin,  mit  einer  Schrift:  „Vernünftige  und  gründliche  Widerlegung 
des  berüchtigten  Edelmann"  1747  auf.  Leipzig  und  Frankfurt 
Edelmann  hatte  sich  der  Hilfe  eines  Proselyten  bei  Abfassung 
seiner  Schrift  bedient,  und  diesen  Schimpf  fühlte  Reinwolle  so 
tief,  das  er  mit  jener  Gegenschrift  in  die  Schranken  trat;  sein 
Zeugniss  fand  damals  auch  viele  Zustimmung. 

Adam  Rudolf  Georg  Christoph  Matthaei,*)  als  Jude 
Schimon  genannt,  ist  171 5  in  Fürth  geboren.  Sein  Vater  Jaidel 
war  ein  tüchtiger  Talmudkenner  und  wirkte  als  Lehrer  am 
Bethhamidrasch  des  Rabbi  Bärmann  Frankel  in  Fürth  und  hernach 
in  Prag,  wo  auch  der  Sohn  talmudischen  Studien  oblag.  Später 
wurde  der  Sohn  Lehrer  an  der  Fürther  jüdischen  Hochschule 
und  danach  an  Rabbi  Salomon  Isaak  Fränkels  Bethhamidrasch. 
Seine  Studien  führten  ihn  allmählig  zu  der  Ueberzeugung,  dass 
die  jüdischen  Lehren  und  Gebräuche  sehr  wenig  mit  denen  des 
Alten  Testamentes  übereinstimmten.  Die  Unhaltbarkeit  des  Juden- 
thums  und  die  Wahrheit  des  Christenthums  wurden  ihm  zuletzt 
zu  so  fester  Gewissheit,  dass  er  sich  im  April  1748  zu  den 
Geistlichen  in  Fürth  begab  und  sich  denselben  offenbarte.  Auf 
ihren  Rath  begab  er  sich  nach  Nürnberg  und  nahm  auch  sein 
dreijähriges  Söhnchen  mit  sich.  Als  er  dann  aber  von  hier  aus 
an  seine  Frau  schrieb,  ihm  zu  folgen,  schafften  die  Juden  dieselbe 
an  einen  geheimgehaltenen  Ort,  wo  sie  von  einer  Tochter  ent- 
bunden wurde.  1756  erhielt  der  Vater  durch  die  Bemühungen 
des  Magistrates  von  Nürnberg  auch  dieses  Kind;  einige  tausend 
Gulden  dagegen,  welche  er  sich  früher  erspart  hatte,  wussten 
ihm  die  Juden  vorzuenthalten. 

Am  20.  September  1748  wurden  der  Vater  und  sein  Söhnlein 
getauft.  Vom  Tauftage,  dem  Matthäi-Tage,  erhielten  beide  den 
Xamen  Matthäi.  Der  Sohn  Karl  Johann  Conrad  wurde  später 
auf  das  Aegidien-Gymnasium  in  Nürnberg  gebracht,  der  Vater 
aber  erhielt  die  Stelle  eines  Messners  an  der  dortigen  Dominikaner- 
und  hernach  an  der  Sebaldus-Kirche.     Er  starb  1779- 


*)  Saat.     Ostern   1873.     S.   113  ff. 


—     399     — 

Matthaei  war  ein  frommer  und  gelehrter  Mann.  Seine 
Schriften  über  jüdische  Gegenstände  zeichnen  sich  durch  Selb- 
ständigkeit und  reiche  Kenntniss  der  Literatur  aus.  Der  Zweck, 
für  den  sie  Matthaei  schrieb,  war,  die  jüdischen  Angriffe  gegen 
das  Christenthum  zu  widerlegen  und  die  Seinen  zur  Annahme 
des  Christenthums  zu  bewegen. 

Von  diesen  Schriften,  die  zum  Theil  mehrere  Auflagen  er- 
lebten, verdienen  insbesondere  Erwähnung:  Die  Verderbniss  des 
heutigen  Judenthums  nach  ihrer  wahren  Beschaffenheit  aus  tal- 
mudischen und  rabbinischen  Schriften.  Onolzbach  175 1.  Er 
zeigt  hier  ohne  Bitterkeit,  aber  sehr  klar  in  8  Capiteln,  wie  das 
jüdishe  Gesetz  aus  lauter  Menschensatzungen  bestehe.  Beschreibung 
des  jüdischen  Sabbaths  aus  talmudischen  und  rabbinischen  Schriften. 
Nürnberg  1752.  Hier  weist  er  die  Widersprüche  zwischen  der 
Lehre  der  Schrift  vom  Sabbath  und  den  jüdischen  Sabbathsge- 
setzen  in  13  Capiteln  nach.  1758  erliess  er  am  zehnten  Jahres- 
tage seiner  Taufe  ein  an  die  Scholarchen  von  Nürnberg  gerichtetes 
Danksagungsschreiben,  welches  eine  Beschreibung  des  jüdischen 
Neujahrs-  und  Purim-Festes  enthält,  und  eine  Abhandlung  über 
den  jüdischen  Versöhnungstag.  Dann  vertheidigte  er  unter  an- 
derem die  lutherische  Abendmahlslehre  in  einem  Gespräche 
zwischen  Hermann  und  dem  Proselyten  Frommann,  verfasste 
1768  eine  Erklärung  von  1  Mose  49,  10  zum  Andenken  an  den 
20.  Jahrestag  seiner  Taufe,  wobei  er  den  Nachweiss  führte,  dass 
die  alten  Rabbinen  unter  dem  Schiloh  den  Messias  verstanden 
hätten,  und  1770  „Beweis  der  Uebereinstimmung  der  jüdischen 
und  christlichen  Lehre  über  den  unerschaffenen  Engel."  Im 
Ganzen  werden  19  Schriften  von  Matthaei  genannt,  die  fast  alle 
einen  Missionszweck  hatten,  wie  er  denn  auch  ein  besonderer 
Freund  von  St.  Schultz  war. 

Viele  Theilnahme  fand  Johann  Adam  Gottfried*)  der  seine 
eigene  Lebensgeschichte  veröfi entlicht  hat.  Die  betreffende  Schrift 
desselben  führt  den  Titel  „Wahrhaftiger  Bericht  von  Gottfrieds 
wunderbarer  Bekehrung  vom  Judenthum,  die  im  Jahre  1750  zu 
Christian  Erlangen  geschah,  bis  hierher  von  ihm  selbst  aufgesetzt 
und  dem  Druck  überleben".    Ein  Freund  hat  diesen  Bericht  noch 


*)  Beyer.  Fortgesetzte  Nachrichten,  8,  15  ff.  Freund  Israels.  Berlin 
1825.  Hausmeister,  Merkwürdige  Lebens-  und  Bekehrungsgeschichten.  Saat 
1872.     Michaelis  S.  211   ff.     Kaikar  S.    181. 


—     400     — 

einmal  kurz  wiederholt  und  bis  zum  Tode  Gottfrieds  ergänzt. 
„Kurzgefasste  Lebensgeschichte  des  seligen  Magister  Joh.  Adam 
Gottfried  zu  Anspach  nebst  dessen  letzten  Stunden"  3  Aufl. 
Onolzbach   1780. 

Gottfried  ist  1726  in  Altona  geboren  und  hiess  als  Jude 
Nathan.  Als  er,  9  Jahre  alt,  seinen  Vater  verlor,  schickte  ihn  die 
Mutter  zu  einem  Oheim  in  London,  der  dort  Diamantschleifer 
war,  um  dessen  Kunst  zu  erlernen;  er  wurde  aber  bald  von  ihm 
zurückgesandt.  Mit  der  Mutter  kam  der  Sohn  dann  zunächst 
nach  Eisenstadt  in  Ungarn  und  von  dort  zu  dem  ihm  verwandten 
Rabbi  Koppel  Fränkel  in  Fürth,  bei  dem  er  so  gute  Fortschritte 
machte,  dass  er  von  der  Gemeinde  Roth  im  Anspach'schen 
schon  mit  17  Jahren  als  Lehrer  angenommen  wurde;  von  Roth 
kam  er  später  nach  Sulzberg.  Schon  dem  9jährigen  Knabe  wurde 
in  London  der  Name  Jesu  lieb.  Dem  15jährigen  sagte  sein 
Lehrer,  Rabbi  Ichhausen,  dass  er  sich  noch  einmal  werde 
taufen  lassen,  und  ebenso  erklärte  ihm  sein  anderer  Lehrer,  Rabbi 
Löwe  Hene,  dass  er  sicher  vom  jüdischen  Glauben  abfallen 
werde.  Diese  Zeugnisse  versetzten  Nathan  für  einige  Zeit  in 
tiefe  Unruhe,  über  die  er  erst  allmählig  Herr  wurde. 

Von  dem  Gesänge  in  der  evangelischen  Kirche  zu  Sulzberg, 
bei  welcher  er  während  eines  Gottesdienstes  vorüberging,  wurde 
dann  der  21jährige  so  mächtig  ergriffen,  dass  ihm  fortan  das 
Christenthum  in  einem  freundlichen  Lichte  erschien.  Von 
jetzt  ab  fing  er  an,  über  dasselbe  weiter  nachzuforschen  und  las 
besonders  Jesaia  53,  weil  er  gehört  hatte,  dass  sich  die  Christen 
auf  dieses  Kapitel  besonders  beriefen;  und  dasselbe  wirkte  auch 
entscheidend  auf  ihn  ein.  Sein  Autenthalt  unter  den  Juden  wurde 
ihm  jetzt  unerträglich,  er  wandte  sich  desshalb  1748  nach  Nürn- 
berg und  bat  hier  um  Aufnahme  in  die  evangelische  Kirche; 
aber  dieselbe  wurde  ihm  anfangs  verweigert.  Doch  Hess  er  sich 
dadurch  nicht  abschrecken,  sondern  ging  nach  Erlangen  und 
wurde  dort  auch  1750  von  D.  Pfeiffer  getauft,  wobei  er  den 
Namen  Gottfried  erhielt. 

Gottfried  wollte  nun  Theolog  werden,  und  man  bahnte  ihm 
die  Wege  hierzu.  Er  besuchte  die  Schulen  in  Neustadt  a.  d.  Aisch 
und  zu  St.  Lorenz  in  Nürnberg  und  konnte  bereits  1753  die 
Universität  Erlangen  beziehen.  Der  Tod  des  Lektor  Bernhard 
in  Tübingen  bestimmte  ihn  dann,  sich  um  die  Stelle  desselben 
an  jener  Universität  zu  bewerben,  aber  trotz  der  besten  Empfeh- 


—     401     — 

lungen  wurde  ihm  dieselbe  nicht  zu  Theil.  Nach  2  Jahren  neuen 
Studiums  in  Tübingen  wurde  er  daselbst  Magister  und  trug  an 
jener  Universität  die  hebräische  Formenlehre  vor,  ging  aber  1758 
nach  Gerabronn  im  Anspach'schen ,  um  hier  so  lange  zu  unter- 
richten und  sich  mit  wissenschaftlichen  Arbeiten  zu  beschäftigen, 
bis  er  ein  Pfarramt  erlangen  würde.  Doch  nur  einmal,  im  Jahr 
1759  fand  er  den  Muth  zu  predigen  und  von  da  ab  nicht  wieder; 
er  konnte  seine  angeborene  Schüchternheit  nicht  überwinden. 
Ueberaus  demüthig  schreibt  er  selbst,  dass  Gott  es  damit  nur 
gut  gemacht  habe,  da  er  Jesum  als  den  Sünderheiland  doch  in 
der  früheren  Zeit  seines  Christenlebens  nicht  erkannt  habe,  son- 
dern zu  dieser  Erkenntniss  erst  allmählig  gelangt  sei;  „ohren- 
juckendes Geschwätz"  aber  zieme  sich  nicht  für  die  Kanzel. 

Er  wurde  nun  völlig  Literat  und  verheirathete  sich  1758 
mit  Sibylla  Juliana  de  la  M  a  g  d  a  1  e  i  n  e ,  einer  Tochter  des 
Professor  L.  L.  de  la  Magdaleine  in  Stuttgart,  aus  welcher  Ehe 
5  Kinder  stammten.  Durch  Unterrichtgeben  an  verschiedenen 
Orten  in  lateinischer,  hebräischer,  griechischer  und  französischer 
Sprache  und  durch  Bücherschreiben  erhielt  er  sich  und  seine 
Familie  nur  schwer,  war  aber  stets  dankbar,  und  sein  Sterbebett 
var  ein  wahres  Siegesbett.     Er  starb   1773. 

Es  erschien  eine  Reihe  von  Schriften  aus  seiner  Feder. 
In  Tübingen  1753  „Der  trostlose  Jude  in  der  letzten  Todesstunde", 
nebst  einem  Ermahnungsschreiben  an  Rabbi  Koppel  Fränkel  in 
Fürth.  Hier  spricht  er  seinem  früheren  Lehrer  den  herzlichsten 
Dank  aus  und  bezeugt  auch,  dass  er  sich  gedrungen  fühle,  ihm 
die  schuldige  Liebe  öffentlich  zu  beweisen,  worauf  er  ihn  ehrer- 
bietig bittet,  die  christliche  Lehre  noch  einmal  nach  dem  Alten 
Testamente  zu  prüfen.  Die  Schrecken  aber,  welche  der  Tod 
für  die  Juden  habe,  und  die  vergeblichen  Trostgründe,  mit  denen 
sie  sich  zu  beruhigen  suchten,  sollten  sie  veranlassen,  den  wahren 
Trost  anzunehmen,  welchen  allein  das  Evangelium  ihnen  bieten 
könne. 

An  seine  früheren  Glaubensgenossen  richtete  er  aber  auch 
noch  eine  andere  Schrift,  die  in  demselben  gewinnenden  Tone 
geschrieben  ist  und  1753  in  Basel  erschien,  „Der  bussfertige 
Sünder".  1759  kam  in  Anspach  heraus  „Schriftmässige  Vor- 
stellung und  freundschaftliche  Ermahnung  an  sämmtliche  Prose- 
lyten  der  jetzigen  Zeit",  unter  Zugrundelegung  von  Col.  I,  12 — 14» 
und  Rührungen  eines  jüdischen  Proselyten  in  den  ersten  Augen- 

J.   F.  A.  de  Ie  Roi,   Missionsbeziehungen.  26 


—      402 

blicken  seiner  Bekehrung,  Lindau  1759.  Sodann  veröffentlichte 
er  „Venünftiger  Unterricht  über  die  natürliche  Religion  und 
deren  vornehmste  Streitigkeiten  und  über  die  christliche  Religion", 
eine  Schrift,  die  bis  1766  bereits  3  Auflagen  erlebt  hatte.  Schnelle 
Bekehrung  eines  wider  Jesum  erbitterten  Juden  1771.  Welche 
Sünde  der  heutigen  Christenheit  mag  wohl  die  wahre  und  einige 
Ursache  der  jetzt  hereinbrechenden  Gerichte  Gottes  sein.  Frank- 
furt und  Leipzig  1772.  Ein  Charfreitagsconfekt,  und  endlich 
Sammlung  aller  im  gemeinen  Leben  nothwendigen  französischen 
Wörter  und  Redensarten,  Onolzbach   1773. 

Zur  Stellung  eines  ordentlichen  Professors  der  Philosophie 
an  der  Universität  Helmstädt  gelangte  Dr.  Carl  Anton.*)  Der- 
selbe ist  1722  in  Mitau  geboren  und  hiess  als  Jude  Mosche  Gerson 
Kohen.  Er  stammte  aus  einem  priesterlichen  Geschlecht,  das 
viele  berühmte  Schriftsteller  der  Juden  erzeugt  hat,  so  dass  es 
unter  denselben  den  Namen  „der  goldenen  Kette"  führte.  Zu 
seinen  Vorfahren  väterlicherseits  gehörte  z.  B.  Bartenora,  der 
bekannte  Glossator  der  Mischna,  zu  denen  seiner  Mutter  der 
kabbalistische  Rabbi  Chaim  Vital  und  Lipmann  Hell  er.  Anton 
studirte  7  Jahre  in  Prag  unter  Jonathan  Eibeschütz,  der  her- 
nach in  Hamburg  und  Altona  als  Oberrabbiner  wirkte.  Später 
ging  er  auf  Reisen  nach  Constantinopel  und  wurde  dort  sehr 
krank.  In  der  Zeit  seiner  Krankheit  war  er  um  das  Heil  seiner 
Seele  sehr  bekümmert  und  wurde  noch  unruhiger,  als  er  während 
derselben  die  Stelle  im  Daniel  über  die  70  Wochen  las,  welche 
ihm  alle  jüdischen  Erklärungen  nicht  zu  deuten  vermochten.  Er 
vermuthete  damals  schon,  dass  nur  durch  Christum  die  Lösung  zu 
finden  sein  werde,  und  war  entschlossen,  die  christliche  Lehre 
jetzt  sorgfältig  zu  prüfen.  So  kam  er  nach  Wolfenbüttel,  wo  er 
wieder  von  grosser  körperlicher  Schwachheit  befallen  wurde.  Da 
erwachte  die  alte  Angst  von  Neuem  in  ihm,  und  er  entschloss  sich 
daher  jetzt  in  jener  Stadt  um  den  christlichen  Unterricht  zu  bitten. 
Der  Herzog  liess  ihn  durch  P.  Meyers  unterrichten  und  1748 
wurde  er  von  demselben  getauft.  Der  Fürst  wollte  sein  reiches 
rabbinisches  Wissen  verwerthen  und  desshalb  stellte  er  ihn  als 
Lektor  der  rabbinischen  Literatur  an  der  Universität  Helmstädt 
mit  auskömmlichem  Gehalte  an. 


*)  Saat   1S71.     Michaeli  S.  214   ff.     Kaikar   176. 


—     403     — 

Von  Anton  erschien:  Kurzer  Entwurf  der  Erklärung  jüdischer 
Gebräuche  zum  Gebrauche  akademischer  Vorlesungen  entworfen, 
3  Theile,  Braunschweig  1752 — 1754,  mit  einem  Anhange  über 
die  jüdische  Sittenlehre.  Die  Gebräuche  der  Juden  stellt  er  im 
Zusammenhange  nach  den  Kategorien  der  Wolf'schen  Philosophie 
dar  und  vertheidigt  dabei  warm  und  eifrig  die  Juden  gegen  die 
falschen  Beschuldigungen ,  dass  sie  Christenblut  gebrauchten, 
Brunnen  vergifteten  u.  s.  w.  Zeigt  daneben  diese  Schrift  auch 
die  Neigung,  den  Talmudismus  in  manchen  Stücken  mehr,  als 
es  billig  und  recht  ist,  in  Schutz  zu  nehmen,  so  räumt  doch 
Anton  hier  auch  manche  Schäden  desselben,  den  Zwiespalt  in 
seinen  sittlichen  Anschauungen  und  eine  trübe  Mischung  von 
Gutem  und  Bösem  in  demselben  ein.  In  seiner  Kurzen  Nachricht 
von  dem  falschen  Messias  Sabbathai  Zebi,  Wolfenbüttel  1752, 
nimmt  er  sich  seines  Lehrers  Jonathan  Eibeschütz  gegen  die  ihn 
bedrängenden  und  befehdenden  Juden  an;  seine  Vorliebe  für 
diesen  der  Kabbala  ergebenen  jüdischen  Gelehrten  geht  aber 
bereits  über  das  rechte  Maass  hinaus.  1756  gab  er  als  ordent- 
licher Professor  Abraham  Jageis  Gute  Lehre  und  eine  Einleitung 
in  die  rabbinischen  Rechte  nebst  einer  Abhandlung  über  den 
Judeneid  heraus,  Braunschweig.  Diese  Schrift  sollte  sich  besonders 
gegen  das  Eisenmenger'sche  Werk  richten.  Schön  bezeugt 
er  auch  bei  dieser  Gelegenheit  seine  Liebe  zu  seinen  Brüdern 
nach  dem  Fleisch  und  erklärt,  dass  er  täglich  ihre  Bekehrung 
wünsche.  Seine  Verteidigung  der  Juden  gegen  Eisenmenger  ist 
eine  recht  ausführliche,  aber  hier  zeigt  sich  noch  mehr  eine 
bedenkliche  Neigung,  die  Gerechtigkeit  zu  Gunsten  der  Juden  zu 
beugen  und  selbst  das  Unentschuldbare  zu  entschuldigen.  Er 
geht  hier  so  weit,  dass  er  sogar  die  thatsächlich  überaus  laxe 
Auffassung  des  Eides  unter  den  Juden  seiner  Zeit  in  möglichst 
günstigem  Lichte  darzustellen  bemüht  ist. 

Je  älter  Anton  wird,  desto  weniger  vermag  man  ihm  in  seinen 
Schriften  mit  rechter  und  voller  Zustimmung  zu  folgen,  und  eben 
dies  scheint  auch  für  die  Behauptung  zu  sprechen,  dass  Anton 
später  wieder  Jude  geworden  sei.  In  den  ferneren  Nachrichten 
von  St.  Schultz  11,  50  schreibt  ein  Geistlicher  an  diesen,  dass 
es  ihm  an  mehreren  Orten  versichert  worden  sei,  Anton  sei  zum 
Judenthum  zurückgekehrt,  und  Professor  Dav.  Fr.  Meg erlin  in 
Frankfurt  a.  M.  behauptet  1773  in  seiner  Schrift  „Liebreiche  An- 
reizung   der   zerstreuten   Judenschaft    zur   endlichen    Annehmung 

26* 


—     _]04     — 

der  Religion  des  einigen  Mittlers  Jesu"  S.  16  das  Gleiche.  Für 
Anton  ist  dasselbe  verhängnissvoll  geworden,  was  nicht  wenigen 
Proselyten  unserer  Gegenwart  verderblich  zu  werden  droht,  dass 
der  Stammespatriotismus  in  ihnen  über  ihrem  Christenthum  steht. 

Während  aber  für  Anton  die  falsche  Volksvorliebe  zur 
Klippe  geworden  ist,  so  bei  einigen  anderen  Proselyten  ein  trauriger 
Hass  gegen  ihre  früheren  Glaubensgenossen  oder  die  ebenso 
hässliche  Sucht,  sich  durch  Feindseligkeit  gegen  ihr  Volk  die 
Gunst  der  Christen  zu  erwerben.  Die  Proselyten  dieser  Art  haben 
je  und  je  viel  dazu  beigetragen,  dass  die  Antipathie  der  Christen 
gegen  die  Juden  desto  stärker  wurde,  und  man  den  letzteren 
alles  mögliche  Schändliche  zutraute.  Für  sich  selbst  aber  haben 
jene  Menschen  keinen  Gewinn  davon  gehabt,  denn  man  lernte 
sie  bald  als  unzuverlässige  Leute  kennen,  und  viele  Christen 
hielten  nunmehr  am  Liebsten  alle  Proselyten  für  Heuchler  und 
Betrüger. 

Einen  schlechten  Namen  durch  solche  Gehässigkeit  gegen 
die  früheren  Glaubensgenossen  hat  sich  z.  B.  Paul  Wilhelm  Hirsch 
gemacht.*)  Derselbe  unterrichtete  in  den  orientalischen  Sprachen 
in  Berlin  und  schrieb  171 7  ein  Buch:  „Entdeckung  der  Tekuphoth 
oder  des  schädlichen  Blutes,  welches  über  die  Juden  viermal  des 
Jahres  kommt,  laut  ihrer  eigenen  Kalender."  Hirsch  gab  an, 
dass  die  Juden  zur  Strafe  für  die  Kreuzigung  Christi  nicht  bloss 
an  Hämorrhoiden  litten,  sondern  auch  viermal  des  Jahres  ihre 
Gefässe  mit  Blut  sich  füllen  sähen,  welches  alle  Speisen  verdürbe. 
Mit  derselben  Anklage  trat  Michael  Paul  hervor,  welcher  zuerst 
Katholik  war  und  1 726  in  Wittenberg  lutherisch  wurde.  Christian 
Wilhelm  Christlieb**)  gab  1745  in  Fürth  einen  kurzen  Auszug 
aus  den  Selichoth  oder  jüdischen  Bussgebeten  heraus,  in  welchem 
er  die  Juden  der  Lästerung  Christi  und  der  Christenheit  beschuldigt. 
Auf  die  Bitte,  welche  die  Judenschaft  an  die  Halle'sche  theologische 
Facultät  um  ein  Gutachten  über  diese  Schrift  richtete,  lieferten 
die  Professoren  Jakob  Baumgarten  und  Christian  Benedikt 
Michaelis  1745  ein  solches,  und  beiden  stimmte  die  Altorfer 
Fakultät  bei.  Eben  dies<-"i  Gutachten  aber  zeigen,  wie  sich  besonders 
unter  dem  Einflüsse  des  Pietismus  und  des  Institutum  Judaicum 


•)  Wolff  B.  II.  5  Xr.   1S10  b. 
*•)  Kaikar   168. 


—    405     — 

das   Urtheil   über   die   Juden  allmählig   gemildert   hat,    und    wie 
sehr  man  jetzt  geneigt  war,  Gerechtigkeit  gegen  dieselben  zu  üben. 

Die  Schrift  von  Michaelis  trägt  den  Titel:  „Bedenken  über 
des  Proselyten  Christ.  Wilh.  Christlieb  kurzen  Auszug  aus  den 
Selichoth  oder  jüdischen  Bussgebeten,  betreffend  die  Lästerung 
Christi  und  des  Christenthums  auf  Erfordern  der  Judenschaft 
gestellt",  die  von  Baumgarten  „Theologisches  Bedenken  über  die 
gewissenhafte  Duldung  der  Juden  und  ihres  Gottesdienstes  unter 
den  Christen  und  über  den  kurzen  Auszug  u.  s.  w."  Die  Hallenser 
wie  die  Altorfer  sprachen  die  Juden  von  der  Beschuldigung,  dass 
in  den  betreffenden  Gebeten  eine  Lästerung  Christi  und  des 
Christenthums  enthalten  sei,  im  Allgemeinen  frei.  Aber  auch  die 
Leipziger  theologische  Facultät  erkannte  z.  B.  in  einem  Gutachten 
vom  Jahr  1714  die  Grundlosigkeit  der  Beschuldigung,  dass  die 
Juden  Christenblut  gebrauchten,  ausdrücklich  an.  Die  herzlichste 
Theilnahme  für  die  Juden  sprach  sich  besonders  in  dem  Gutachten 
von  Baumgarten  aus.  Zwar  wolle  er,  so  lautet  sein  Bekenntniss, 
nicht  leugnen,  dass  Lästerungen  in  den  von  Christlieb  angezogenen 
Stellen  enthalten  seien,  aber  die  schlimmsten  Stellen  kämen  in 
den  alten  Gebetbüchern  nicht  vor,  und  für  einen  Proselyten 
gezieme  es  sich  am  wenigsten,  die  Obrigkeit  zum  gewaltsamen 
Einschreiten  gegen  seine  früheren  Glaubensgenossen  aufzurufen. 
Hartes  Verfahren  gegen  die  Juden  sei  überhaupt  vom  Uebel,  und 
auch  die  Obrigkeit  müsse  dasselbe  vermeiden,  während  sie  da- 
gegen die  Juden  anders  als  die  Christen  werde  halten  müssen, 
an  denen  sie  freilich  viel  bessere  Unterthanen  habe. 

Auch  unter  den  Proselyten  dieses  Zeitraumes  gab  es  einige 
gewöhnliche  Betrüger.  So  werden  Fälle  erwähnt,  in  denen  Ge- 
taufte noch  einmal  die  Taufe  begehrten,  um  das  übliche  Pathen- 
geld  wiederholt  zu  erlangen.  Paulus  Christianus  Kirchner,  der 
eine  Zeitlang  am  reformirten  Gymnasium  in  Halle  hebräischen 
Unterricht  ertheilte,  und  dessen  jüdisches  Ceremoniel  Sebast.  Jak. 
Jugendres  1724  mit  Bildern  versehen  herausgab,  gehört  zu  jenen 
unlauteren  Menschen  und  soll  zuletzt  wieder  Jude  geworden  sein. 
Fr.  Wilh.  Christoph  Taufenburg,  der  sich  bei  Christen  durch 
Schriften  gegen  die  Juden  einzuschmeicheln  suchte,  endete  im 
Gefängniss. 

Erfahrungen  solcher  Art  haben  das  preussische  Edikt  vom 
Jahre  1744  veranlasst,  welches  für  das  Königreich  bestimmte, 
dass  kein  Jude  mehr  zum  Unterricht  in  der  christlichen  Religion 


—     406     — 

angenommen  werden  solle,  ehe  man  nicht  Gewissheit  über  seinen 
früheren  Wandel  erlangt  habe. 

Ein  Abenteurer  war  Martin  Caspar  Brenk.*)  Von  Hause 
aus  Christ  ging  er  die  verschiedensten  Wandelungen  durch.  Er  war 
zuerst  Jurist,  kam  1736  nach  Anspach,  genoss  die  Gunst  des 
Senatspräsidenten  Frh.  v.  Seckendorf,  arbeitete  an  einer  Wider- 
legung der  Wertheimer  Bibel,  floh,  weil  er  in  Händel  gerieth, 
nach  Norddeutschland  und  wurde  dort  Notar,  dann  Hofmeister, 
ging  1 749  nach  Amsterdam,  wurde  Jude,  dann  aber  wieder  Christ, 
Legationssekretär  in  Kassel  und  wohnte  zuletzt  in  Schobdach  bei 
Wassertrüdingen  bei  der  Gattin  des  Dekans  v.  d.  Lith.  Er  sollte 
in  Halle  Professor,  in  Göttingen  Lektor  des  Hebräischen,  in 
Anspach  Sitteninspektor  aut  dem  Gymnasium,  in  Sicilien  Auditeur 
werden  und  wollte  die  Wallachei  colonisiren  und  dort  ein  König- 
reich errichten. 

Unstät  ist  aber  auch  das  Leben  so  mancher  Proselyten 
dieses  Zeitraumes.  Weil  sie  keine  gewisse  Existenz  fanden,  zogen 
sie  mit  ihrem  Taafzeugnisse  bettelnd  von  Ort  zu  Ort.  Wohl 
besass  Hamburg  in  dem  Vermächtniss  von  Edzard  und  Placcius 
einige  Mittel,  um  einer  gewissen  Anzahl  der  Bekehrten  zu  einer 
neuen  Existenz  zu  helfen;  und  auch  sonst  kommen  Vermächtnisse 
für  Proselyten  vor,  wie  das  von  Hermann  Allendörfer  zu  Frank- 
furt a.  M.  1 703 ,  welches  verordnete ,  dass  die  Zinsen  eines 
Kapitals  von  300  Gulden  stets  zum  Besten  eines  Proselyten  ver- 
wandt werden  sollten.  Aber  auch  nur  entfernt  hinreichende 
Mittel,  um  dem  Proselytenelend  ein  Ziel  zu  setzen,  waren  nicht 
vorhanden.  Um  so  mehr  fordert  es  Beachtung,  dass  die  Zahl 
der  Rückfälligen  nur  eine  ganz  kleine  ist,  während  viele  selbst 
unter  den  in  grösster  Armuth  dahinlebenden  Proselyten  oft  rührende 
Bekenntnisse  von  ihrem  Glauben  abgelegt  und  ihr  Joch  würdig 
getragen  haben.  Das  Christwerden  brachte  den  Proselyten  der 
damaligen  Zeit  keine  Vortheile,  die  zum  Uebertritt  wirklich 
reizen  konnten,  sondern  verschlimmerte  sehr  oft  nur  ihre  bürger- 
liche Lage  und  stürzte  sie  recht  oft  aus  geordneten  in  die  un- 
sichersten Verhältnisse.  Wenn  also  trotzdem  ihre  Zahl  damals 
eine  verhältnissmässig  ansehnliche  war,  so  ist  das  ein  deutlicher 
Beweis  dafür,  dass  es  vielen  von  ihnen  mit  ihrem  Christenthum 
ein  wirklicher  Ernst   war.     In    der    That    war    es   zu   jener    Zeit 

.Saat.     Weihnacht   1868.     S.    172. 


-      407     — 

dem  evangelischen  Deutschland  gegeben,  in  das  Gewissen  vieler 
Juden  mit  der  religiösen  Frage  einzudringen ;  die  Aufgabe  dagegen, 
die  Gewonnenen  christlich  und  bürgerlich  zu  erziehen  und  ihr 
Leben  in  der  rechten  Weise  neu  zu  gestalten,  hat  dasselbe  nur 
in  sehr  geringem  Maasse  gelöst. 

Eine  Thatsache  will  jedoch  noch  besonders  hervorgehoben 
sein,  nämlich  die,  dass  es  das  evangelische  Deutschland  gewesen 
ist,  welches  von  der  Reformation  an  und  in  stets  wachsendem 
Maasse  die  Führerrolle  in  der  Bewegung  übernommen  hat,  welche 
die  Judenfrage  in  heilsamer  Weise  für  Juden  und  Christen  zu 
lösen  bestrebt  war.  Alle  anderen  Länder  traten  auf  diesem 
Gebiete  hinter  dem  evangelischen  Deutschland  der  früheren  Zeit 
entschieden  zurück  und  dies  zumal  in  der  ersten  Hälfte  des  18. 
Jahrhunderts.  Nirgends  ist  auch  ein  innerer  Fortschritt  in  diesem 
Stücke  so  klar  und  deutlich  zu  erkennen  als  hier  und  nirgends 
hat  man  die  Tragweite  dessen,  um  was  es  sich  handele,  so  tief, 
so  nüchtern  und  wahr  als  auf  deutsch-evangelischem  Boden  erkannt. 

Die  allmählige  innere  Erschütterung  des  rabbinischen  Juden- 
thums  ist  denn  auch  in  besonderem  Maasse  durch  die  Einwirkungen, 
die  von  dem  evangelischen  Deutschland  auf  dasselbe  ausgingen, 
geschehen.  Und  es  war  kein  Zufall,  sondern  das  einfache  Er- 
gebniss  der  geschichtlichen  Entwickelung ,  dass  im  deutschen 
Judenthum  jene  neue  Zeit  anbrach,  welche  die  Auflösung  und 
geschichtliche  Ueberwindung  des  rabbinischen  Judenthums  bedeutete. 
Das  neuere  Judenthum  und  seinen  Gang  wird  denn  auch  nur 
derjenige  verstehen,  welcher  die  frühere  evangelische  Kirche  und 
zumal  die  Deutschlands  in  ihrem  Verhältniss  zu  den  Juden  ver- 
stehen eelernt  hat. 


4.  Die  Schweiz. 

Die  Schweiz  blieb,  obgleich  sich  Juden  nur  in  der  Graf- 
schaft Baden  im  Aargau  aufhalten  durften,  nicht  unbetheiligt  an 
dem  Missionswerke  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts. 

Die  Taufe  konnten  dort  freilich  nur  ausnahmsweise  solche 
Juden  erlangen,  denen  zum  Zweck  der  Ertheilung  christlichen 
Unterrichtes  die  Erlaubnis  zum  Aufenthalt  im  Lande  gewährt 
wurde.  Die  Zeit  des  Eifers  für  die  taldmudischen  und  rabbini- 
schen Studien    war    in    der  Hauptsache    vorüber,    und  auch  hier 


—     408     — 

wandte  sich  das  Interesse,  so  weit  es  überhaupt  erwachte,  über- 
wiegend den  Personen  der  Juden  selbst  zu. 

Unter  den  Gelehrten,  welche  noch  das  jüdisch -literarische 
Feld  bebauten,  ist  zunächst  neben  dem  Urenkel  Buxtorfs  der 
zweite  Hottinger  zu  nennen.  Joh.  Jakob  Hottinger  aus  Zürich 
begab  sich  zur  besseren  Erlernung  des  Talmudischen  und  Rabbini- 
schen nach  Amsterdam,  wo  er  mit  gelehrten  Rabbinen  verkehrte, 
ihre  Synagogen  besuchte  und  sich  mit  grossen  Kosten  einen 
Rabbi  hielt,  um  von  demselben  den  Talmud  zu  lernen.  Unter 
dessen  Leitung  hat  er  denn  auch  den  Traktat  Chagiga  der 
Gemara  lateinisch  übersezt  und  ihn  mit  Erläuterungen  aus  den 
Rabbinen  begleitet.  Er  wurde  dann  1705  Professor  in  Marburg, 
wo  er  unter  grossem  Beifall  über  die  Mischna  und  über  jüdische 
Alterthümer  las,  später  reformirter  Pfarrer  in  Frankenthal  und 
endlich  Professor  in  Heidelberg.  Von  ihm  stammt  eine  in 
lateinischer  Sprache  zu  Utrecht  erschienene  Fünfzahl  biblisch- 
chronologischer Untersuchungen,  welche  gegen  die  Juden  und 
besonders  gegen  Orobio  den  Beweis  aus  der  Schrift  erbringen 
sollten,  dass  der  Messias  bereits  erschienen  sei,  und  ebenso  in 
lateinischer  Sprache  eine  zu  Zürich  1709  gedruckte  Abhandlung: 
Wahrheit  der  Auferstehung  Christi  zur  Ueberzeugung  der  Juden 
und  zur  Befestigung  der  Christen. 

Joh.  Jakob  Huldrich  oder  Ulrich,  Pfarrer  am  Waisen- 
hause und  Professor  an  der  Schule  in  Zürich,  der  sich  vielfach 
mit  dem  Talmud  beschäftigte,  Hess  1705  in  Leiden  aus  einem 
nicht  gedruckten  Manuscript  in  lateinischer  Uebersetzung  und 
mit  Erklärungen  ausgestattet  die  jüdische  Lästerschrift  Sepher 
Tholedoth  Jeschu  erscheinen;  aber  der  Christushass,  welchen 
dieselbe  athmet,  erstickte  trotzdem  in  ihm  nicht  die  Hoffnung 
für  die  Juden,  sondern  jenes  Buch  wurde  für  ihn  vielmehr  zum 
Anlass,  desto  ernster  und  eifriger  ihre  Rettung  zu  erflehen,  und 
mit  festem  Glauben  hielt  er  an  der  Hoffnung  der  Bekehrung 
Israels  fest.  Er  blieb  auch  stets  ein  warmer  Freund  der  Juden 
und  gab  noch  1744  eine  Schrift  über  die  Verleumdung  der  Juden 
durch  die  Heiden  heraus. 

Von  Werenfels  stammt  eine  lateinische  Schrift:  Klage 
der  von  den  Papisten  geärgerten  Juden,  Basel  17 10.  Alphons 
Turretin  in  Genf  dagegen  vertheidigte  die  Wahrheit  der  christ- 
lichen Religion  gegen  die  Juden.  Genf  171 7.  Stücke  des  Abra- 
vanelschen  Commentars  bearbeitete  Eggers,  Basel  17 19.     Samuel 


— ■     4°9     — 

Lucius  bespricht  in  seiner  1729  zu  Bern  erschienenen  Schrift  mit 
besonderer  Lebhaftigkeit  die  Bekehrung  des  jüdischen  Volkes 
und  das  neue  Leben,  welches  mit  derselben  in  die  absterbende 
Christenheit  eindringen  werde.  Benedict  Pictet,  Pastor  und 
Professor  in  Genf  verfasste  in  französischer  Sprache  eine  Prüfung 
der  verschiedenen  Religionen,  die  B.  W.  Marperger  deutsch 
übersetzte,  Dresden  und  Leipzig  1730.  Das  Buch  ist  unbedeutend, 
desto  besser  seine  lateinischen  Dissertationen  über  die  Vortreff- 
lichkeit  der  christlichen  Religion,  Genf  17 19,  in  welchen  er  zeigt, 
dass  im  Christenthume  alles,  was  die  jüdische  Religion  Gutes 
habe,  viel  besser  vorhanden  sei.  Joh.  Fr.  Stapfer  zu  Bern  ging 
im  dritten  Theile  der  Institutiones  theol.  polemicae  universae,  Zürich 
1745  auch  auf  das  Judenthum  ausführlich  ein  und  wies  demselben 
gegenüber  die  Wahrheit  des  Christenthums  nach.  Die  Sammlung 
auserlesener  Schweizer  Kanzelredner,  welche  sich  über  wichtige 
Stücke  aus  der  Lehre  Jesu  geäussert  haben,  gesammelt  von  Joh. 
Georg  Altmann,  Zürich  1746,  gedenkt  auch  derjenigen  unter 
den  Schweizer  Theologen,  welche  öffentlich  eine  zukünftige  all- 
gemeine Bekehrung  der  Juden  gelehrt  haben.  Conrad  Herli- 
b erger  in  Zürich  schrieb,  durch  den  Uebertritt  des  hernach  noch 
zu  nennenden  J.  Hirschlein  dazu  veranlasst,  1745  über  denselben 
Gegenstand  und  bekannte  sich  freudig  zu  der  Hoffnung  auf  den 
letzten  friedsamen  Ausgang  der  Geschichte  Israels. 

Ein  anderer  Schweizer  Theolog,  dessen  Name  aber  nicht 
zu  ermitteln  gelungen  ist,  übersetzte  das  Evangelium  des  Marcus  ins 
Hebräische.  Callenbergs  Berichte  nennen  auch  eine  hebräische 
Uebersetzung  des  Evangelium  Matthäi  und  Johannis,  die  ein 
Professor  in  Lausanne,  dessen  Name  nicht  genannt  wird,  veran- 
staltet habe.  Die  Callenberg'sche  Mission  fand  viele  Freunde 
in  der  Schweiz  und  die  Arbeiter  derselben  fanden  desshalb  dort 
sehr  freundliche  Aufnahme.  Professor  Ruchat  in  Lausanne 
übersetzte  das  Licht  am  Abend  ins  Französische 

Von  den  Proselyten  der  Schweiz  erwähnen  wir  Rudolph 
Bernhard,  der  unter  dem  Titel  Lekach  Tob  einen  Brief  1705 
an  die  Juden  richtete,  in  welchem  er  sie  zur  Annahme  des 
Christenthums  zu  bewegen  suchte.  Derselbe  versprach  auch  eine 
jüdisch-deutsche  Uebersetzung  des  Neuen  Testamentes  zu  liefern, 
die  aber  nicht  zu  Stande  gekommen  ist.  Ebenso  forderte  der 
Proselyt  Samuel  Felix  Gunzen burger  aus  Prag,  der  1740  in 
Basel  getauft  wurde,  seine  früheren  Glaubensgenossen  auf,  seinem 


—     410     — 

Beispiel    zu   folgen.     Der  Plan  seiner  Freunde  war,  ihn  studiren 
zu  lassen,  wir  wissen  aber  nichts  über  seinen  weiteren  Lebensgang. 

Ein  innerlich  tief  gegründeter  Christ  wurde  der  in  ganz 
einfachen  Verhältnissen  lebende  Jachiel  Hirschlein  von  Buchau, 
welcher  1746  in  Zürich  getauft  wurde  und  als  Christ  Christian 
Gottleb  oder  Gottlieb  hiess.  Seine  Geschichte,  die  neuerdings 
Dibre  Emeth  1883  No.  9U.  10  gebracht  hat,  erschien  zuerst  in  einer 
eigenen  Schrift  des  Proselyten  „Bezeugung  und  Ermahnung",  die 
er,  von  Callenberg  unterstützt,  1 747  zu  Halle  in  jüdisch-deutscher 
Sprache  zum  Drucke  beförderte.  Dieselbe  wurde  1748  ins  Hoch- 
deutsche und  bald  darauf  auch  ins  Holländische  zu  Rotterdam 
übertragen.  Bereits  1746  war  nach  seinen  Aufzeichnungen  sein 
Lebensgang  in  einer  Schwäbischen  Schrift  mitgetheilt  worden, 
Callenberg  that  dies  noch  ausführlicher  in  Stück  1 — 3  der  fort- 
währenden Bemühungen  um  das  Heil  des  jüdischen  Volkes  über- 
haupt, und  in  einer  Beilage  zum  Briefwechsel  des  Institutum  vom 
11.  Januar  1747.  Oberkonsistorialrath  Süssmilch  in  Berlin  Hess 
endlich  1754  Callenbergs  Schrift  mit  einigen  Veränderungen  neu 
ausgehen.  Schon  hieraus  ersieht  man,  dass  Hirschlein  eine  be- 
sondere Theilnahme  unter  den  Zeitgenossen  gefunden  hat. 

Derselbe  war  1706  im  schwäbischen  Buchau  geboren.  Von 
früh  auf  zeigte  er  sich  sehr  ernst  gerichtet.  Als  er  Mann  ge- 
worden und  verheirathet  war,  befiel  ihn  eine  so  grosse  Angst 
um  seiner  Sünden  willen,  dass  seine  Frau  um  ihn  ordentlich  be- 
sorgt wurde.  Die  gewöhnlichen  jüdischen  Schriften  genügten 
ihm  nicht  mehr  und  er  sah  sich  auf  das  Alte  Testament  ge- 
wiesen. Von  diesem  fühlte  er  sich  gefesselt,  besonders  von 
Jesaia  53.  Aber  der  leidende  Messias  bei  Jesaia  erweckte  nun 
in  ihm  auch  Zweifel  an  der  Richtigkeit  der  jüdischen  Lehre. 
Diese  Zweifel  kamen  ihm  damals  jedoch  als  Gottlosigkeit  vor, 
und  zu  ihrer  Besiegung  entschloss  er  sich  1741  auf  den  Rath 
von  Freunden  3  Jahre  zu  reisen,  um  strenge  Busse  zu  thun.  Er 
casteite  sich  während  dieser  Zeit  oft  und  hart,  enthielt  sich  Tage 
lang  aller  Speise,  schlief  in  keinem  Bette,  sondern  legte  sich  auf 
Holzscheite  am  Boden,  badete  sich  während  des  Winters  im 
kalten  Wasser  und  hoffte  auf  diese  Weise  von  den  zweifelnden 
Gedanken  loszukommen.  Aber  den  verlorenen  Frieden  erlangte 
er  durch  das  alles  nicht  wieder.  Seine  Reisen  führten  ihn  nach 
Frankfurt  a.  M.  Dort  blieb  er  zwei  Jahre  und  war  wegen  seines 
strengen,  exemplarischen  Lebens  bei  den  Juden  sehr  beliebt.    Er 


—     4H     - 

nahm  hier  arme  Judenkinder  bei  sich  auf,  welche  er  verpflegte  und 
unterrichtete.  Als  er  dann  Frankfurt  verliess,  um  für  die  armen 
Waisenkinder  zu  sammeln,  ging  ihm  bereits  der  Ruf  seiner  Heilig- 
keit voraus,  und  so  fand  er  in  Franken,  der  Pfalz,  Schwaben, 
Elsass  und  der  Schweiz  die  freundlichste  Aufnahme.  Ueberall 
trat  er  als  Bussprediger  unter  die  Juden  und  viele  derselben 
wurden  durch  sein  Zeugniss  erschüttert.  Eine  Schrift  desselben 
über  die  Busse  wurde  denn  auch  in  der  ganzen  Judenschaft  jener 
Gegenden  gelesen.  Zur  Ruhe  aber  kennte  er  noch  immer  nicht 
gelangen. 

Auf  einer  Reise  traf  er  dann  in  Wangen  am  Untersee  in 
einem  jüdischen  Hause  Schriften  des  Institutum  an ,  welche  St. 
Schultz  dort  gelassen  hatte.  Hirschlein  wurde  hierüber  sehr  er- 
regt und  verklagte  besonders  den  Rabbi  Benjamin,  welcher  sie 
gelesen  hatte,  bei  einem  berühmten  Rabbinen  ,  der  jenen  auch 
zur  Verantwortung  vor  sich  forderte.  Aber  ein  Traum,  welchen 
Hirschlein  gerade  in  dieser  Zeit  seines  jüdischen  Eiferns  hatte, 
ergriff  ihn  aufs  Tiefste.  Er  erinnerte  sich  jetzt  des  „Licht  am 
Abend",  welches  er  in  Wangen  gelesen,  und  das  ihn  damals 
mit  dem  grössten  Zorn  erfüllt  hatte.  Der  Inhalt  dieser  Schrift 
trat  jetzt  in  einem  ganz  anderen  Lichte  vor  seine  Seele;  er  fühlte, 
dass  er  diesem  Zeugnisse  nicht  widerstehen  könne,  und  dass  ihm 
kein  anderer  Weg  als  der ,  sich  zu  Christo  zu  wenden ,  ge- 
lassen sei. 

Desshalb  begab  er  sich  jetzt  zunächst  zu  einem  katholischen 
Pfarrer,  wie  er  dies  auch  schon  früher  einmal  gethan  hatte.  Dieser 
bot  ihm  aber  nicht,  was  ihn  innerlich  zu  befriedigen  vermochte.  Da- 
her wandte  er  sich  nun  an  einen  evangelischen  Geistlichen  in 
Basel,  von  welchem  er  an  einen  anderen  gewiesen  wurde,  der 
ein  grosser  Freund  der  Callenberg'schen  Anstalt  war.  Dieser  nahm 
ihn  einige  Zeit  bei  sich  auf.  Juden,  die  dort  zu  ihm  kamen,  um 
ihn  zur  Rückkehr  zu  bewegen,  richteten  nichts  mehr  bei  ihm  aus,, 
sondern  er  bezeugte  ihnen  vielmehr  Jesum  als  den  einigen  Heiland 
aller  Menschen.  Später  wurde  er  an  Archidiakonus  Werdmüller 
in  Zürich  gewiesen  und  von  diesem  getauft.  Er  nährte  sich  dann 
von  einem  kleinen  Handel  und  führte,  wie  Berichte  aus  jener  Zeit 
sagen,  ein  erbauliches  Leben.  Seine  Frau  und  Kinder  verliessen 
ihn,  und  so  heirathete  er  als  Christ  eine  andere  Frau. 

Mit  heisser  Liebe  gedachte  er  stets  seiner  jüdischen  Brüder.. 
Ein  junger  Jude,  den  Augusti   1749  taufte,  Joh.  Lud.  Emmanuel 


4 1  2      — 

Hartmann,  und  ein  Rabbi  Schittenhoven,  als  Christ  Darn- 
mann  genannt,  sind  vor  allem  durch  das  Zeugniss  Hirschleins 
gewonnen  worden.  1763  traf  ihn  Missionar  Burgmann  bei 
einem  Besuche  in  der  Schweiz  und  fand  in  ihm  einen  treuen 
Christen,  und  Joh.  Caspar  Ulrichs  Sammlung  jüdischer  Geschichten 
in  der  Schweiz,  Basel  1768,  spricht  ebenso  über  ihn  in  anerken- 
nendster Weise. 

In  verschiedenen  Städten  der  Schweiz  wird  eine  Proselyten- 
Commission  erwähnt,  und  die  reformirte  Kirche  jenes  Landes  hat 
mit  dieser  Einrichtung  also  bezeugt,  dass  sie  auch  an  ihrem 
Theile  Handreichung  zu  dem  Werke  der  Judenmission  thun  wolle. 

5.  Holland. 

Die  äussere  Lage  der  Juden  war  hier  eine  gleich  günstige 
wie  im  vorigen  Jahrhundert  geblieben.  Die  von  Sabbathai  Zebi 
ausgegangene  Bewegung  dauerte  aber  unter  ihnen  auch  noch 
jetzt  fort  und  erregte  viele  Gemüther.  Das  Interesse  der  refor- 
mirten  Kirche  des  Landes  wandte  sich  gleichfalls  den  Juden 
weiter  zu,  wenn  auch  jene  literarische  Thätigkeit,  welche  im 
vorigen  Zeitraum  zu  ihrer  Bekehrung  entfaltet  worden  war,  all- 
mählig  erlahmte.  Mit  Vorliebe  suchte  man  jedoch  noch  unter 
Benützung  der  talmudischen  und  rabbinischen  Literatur  den  Juden 
nahe  zu  kommen.  Man  bediente  sich  hierbei  gewöhnlich  der 
lateinischen  Sprache;  doch  wurde  nun  auch  das  Holländische  in 
wachsendem  Maasse  für  die  den  Juden  geltenden  Schriften  gewählt. 

Justus  Christophorus  Dithmar  aus  Hessen  richtete  seine 
Studien  auf  Maimonides,  über  den  er  auch  schrieb,  Leyden  1 707. 
Desselben  Rabbi  Traktat  über  die  rothe  Kuh  fand  in  Andreas 
Christoph  Zell  er  einen  Bearbeiter;  er  behandelte  diese  Schrift 
des  jüdischen  Gelehrten  aber,  um  den  Juden  zu  zeigen,  dass  die 
rothe  Kuh  ein  Typus  des  Opfers  auf  Golgatha  sei.  Alex.  S ost- 
mann verfasste  eine  lateinische  Abhandlung,  dass  Jesus  der 
wahre  Messias  sei,  und  über  die  wahren  Ursachen  des  Unglaubens 
der  Juden,  Leyden   1710. 

Joh.  Meyer  in  Harderwyk  liess  eine  lateinische  Schrift  über 
das  Geheimniss  der  Dreieinigkeit  nach  der  heiligen  Schrift,  den 
Rabbinen  und  besonders  der  Kabbala  ausgehen.  Letzere  sollte 
vor  allem  die  christliche  Lehre  bestätigen  und  erklären.  Daniel 
le  Roy,  Prediger  in  Rotterdam,  behandelte  1720  in  holländischer 


—     4*3     — 

Schrift  den  jüdischen  Festkalender.  Als  besonderer  Kenner  der 
rabbinischen  Literatur  war  Adrian  Reland  bekannt.  Von  ihm 
stammen  Analecta  rabbinica,  2.  Aufl.  Utrecht  1723,  die  Anwei- 
sungen über  den  Gebrauch  und  die  Erklärung  rabbinischer  Com- 
mentare  enthalten.  Derselbe  empfiehlt  die  jüdischen  Commentare 
und  den  Talmud  zur  Auslegung  des  Alten  und  Neuen  Testa- 
mentes, räumt  aber  ein,  dass  diese  jüdische  Literatur  auch  viel 
Thörichtes  und  Fabelhaftes  enthalte.  Relands  Nachfolger  war 
Dav.  Millius.  Er  gab  Catalecta  rabbinica,  Utrecht  1728,  heraus, 
in  welchen  er  von  der  rabbinischen  Mundart  handelte.  Wie 
Reland  Hess  auch  Millius  Stücke  aus  den  besten  jüdischen 
Schriften  erscheinen,  um  die  Kenntniss  derselben  den  Studirenden 
zu  erleichtern.  Millius  empfiehlt  das  rabbinische  Studium  den 
Theologen  warm.  Allerdings  enthalte  die  rabbinische  Literatur 
viel  Verkehrtes  und  besonders  über  Christum  und  seine  Apostel 
viele  Lügen,  aber  des  Guten  in  denselben  sei  auch  nicht  wenig. 
Für  die  Erklärung  mancher  dunklen  Stelle  der  Schrift  werde  hier 
das  Mittel  geboten,  und  die  Fabeln  im  Talmud  legten  die  Juden 
selbst  bildlich  aus.  Millius  besass  eine  hervorragende  Kenntniss 
der  talmudischen  und  rabbinischen  Literatur,  aber  ähnlich  wie 
.sein  Vorgänger  Reland  nicht  ein  genügend  klares  Auge  für  die 
Schäden  derselben. 

La  Mere  Chretienne,  1723  Haag,  weist  nach,  dass  der 
Messias  die  Hoffnung  der  Sünder  von  Anfang  an  war,  und  dass 
sich  sein  Bild  in  einer  langen  Reihe  von  Personen  des  Alten 
Testamentes  vor  Israel  zunächst  habe  abspiegeln  sollen. 

In  den  30er  und  40er  Jahren  versiegt  allmählig  die  den 
Juden  geltende  Literatur  Hollands,  dieselbe  war  auch  ihrer  Auf- 
gabe zu  wenig  gewachsen  gewesen  und  unterscheidet  sich  un- 
vortheilhaft  von  der  des  vorigen  Jahrhunderts  in  Holland;  es 
herrschte  in  ihr  zu  viel  trockene  Gelehrsamkeit. 

Doch  tritt  in  einigen  der  Missionssinn  lebendiger  zu  Tage. 
Bernh.  Picard  beschrieb  die  Ceremonien  und  religiösen  Gebräuche 
der  Völker  aller  Welt  französich,  Amsterdam  1723.  In.  seinem 
Werke  behandelte  er  auch  die  Juden  und  wandte  sich  hier  sowohl 
gegen  ihre  Verfolger  als  gegen  ihre  Rabbinen,  welche  sie  nicht 
zur  Erkenntniss  der  Schrift  kommen  Hessen.  Ueber  die  Verhältnisse 
der  Amsterdamer  Juden  gibt  er  genauere  Auskunft. 

In  erfolgreiche  Verbindung  trat   Hero   Sibersma,    Prediger 
in  Amsterdam,  mit  den  Juden.     Er  erklärte  das  Evangelium  Jo- 


—     4M     — 

hannis  aus  Mose  und  den  Propheten  zum  Dienst  des  alten  und 
neuen  Israel.  Die  so  betitelte  Schrift  erschien  171 7  in  Amsterdam 
holländisch  und  1718  in  Basel  deutsch.  Hero  Sibersma  Hess  auch 
1724  in  Amsterdam  Merkteekens  van  de  Messias  erscheinen. 
Ueber  die  Merkmale  des  Messias  wird  in  einem  Gespräche  zwischen 
Rabbi  Gamaliel  und  Nikodemus  verhandelt.  Durch  diesen  Geist- 
lichen wurde  der  tüchtige  Proselyt  Fonseca  für  das  Christenthum 
gewonnen.  Um  des  Eifers  willen,  mit  dem  er  das  Werk  der 
Bekehrung  der  Juden  verfolgte,  erschien  ein  Lobgedicht  auf  ihn, 
das  mit  einem  Gebet  um  die  Bekehrung  Israels  endet. 

Zu  nennen  ist  sodann  das  Gespräch  und  der  Briefwechsel 
zwischen  dem  jüdischen  Rabbi  Soesmann  und  einem  früheren 
reformirten  Prediger  Joh.  Wilhelm  Kais  und  dem  Proselyten 
Jakob  Fundam.  Die  zwei  Unterredungen,  welche  174 1  inAmsterdam 
stattfanden,  sind  auch  in  demselben  Jahre  daselbst  gedruckt  worden, 
der  Briefwechsel  enthält  nicht  weniger  als  34  Briefe  aus  dem 
folgenden  Jahre;  an  diesen  Briefen  ist  auch  Fundam  betheiligt. 
Die  zwei  Unterredungen  galten  den  13  jüdischen  Glaubensartikeln, 
dem  Talmud,  dem  jüdischen  Buche  Abkath  Rochel  und  anderen 
Schriften  der  Juden. 

Viele  einzelne  Personen  suchten  religiöse  Gespräche  mit 
Juden  auf,  wie  die  Halle'schen  Missionare  dies  rühmend  hervor- 
heben. Sie  nennen  besonders  eine  unverheirathete  Dame  Ross- 
kampf,  welche  die  lateinische,  griechische,  hebräische  und  ara- 
bische Sprache  verstand  und  Personen  beider  Geschlechter,  besonders 
aber  weibliche,  im  Hebräischen  unterrichtete.  So  lebhaft  war  das 
Interesse  für  die  Juden  in  den  ernsteren  christlichen  Kreisen  Hollands. 

Doch  auch  die  allgemeine  Kirche  beschäftigte  der  Ge- 
danke an  ihre  Pflicht  gegen  die  Juden.  Aus  dem  Jahre  1724 
liegt  ein  Entwurf  der  Beschlüsse  einer  Synode,  die  Arbeit 
an  der  Bekehrung  der  Juden  betreffend,  vor.  Die  Klasse  von 
Gouda  hatte  den  Gegenstand  in  der  allgemeinen  Synode  angeregt 
und  wurde  dafür  von  derselben  ausdrücklich  gelobt.  Beschlossen 
wurden  „öffentliche  und  sonderliche  Gebete",  welche  die  Gemeinden 
erwecken  sollten,  für  die  Bekehrung  der  Juden  zu  wirken,  und 
die  den  Juden  beweisen  sollten,  dass  man  um  ihr  Seligwerden 
Sorge  trage.  Was  ihre  Bekehrung  hindern  könne,  solle  ver- 
mieden, eben  desshalb  alles  papistische  Wesen  von  der  reformirten 
Kirche  fern  gehalten,  der  Entheiligung  des  göttlichen  Namens 
mit  Ernst  entgegengetreten,  die  Sonntagsfeier  und  Sonntagsruhe 


—     41$     — 

mit  Strenge  inne  gehalten,  unnütze  Streitigkeiten  in  der  Kirche 
unterdrückt  und  dem  prophetischen  Worte  grössere  Aufmerksamkeit 
geschenkt  werden.  Sodann  aber  sollten  die  Rabbinen  und  andere 
Juden  „mit  freundlichem  Benehmen"  zu  Konferenzen  genöthigt 
werden,  in  denen  die  Hauptpunkte  des  Glaubens  mit  ihnen 
besprochen  werden  müssten.  Den  Predigern  sei  aufzugeben,  sich 
täglich  in  der  hebräischen  Sprache  zu  üben  und  die  Gemeinden 
wie  die  Jugend  im  Unterricht  und  in  der  Predigt  mit  der  heiligen 
Schrift  genau  bekannt  zu  machen,  damit  so  die  Christen  geschickt 
würden,  selbst  Hand  an  das  Werk  unter  den  Juden  zu  legen. 
Die  Professoren  sollten  die  Studenten  besser  für  das  Zeugniss- 
ablegen  vor  den  Juden  ausrüsten,  und  bei  den  Prüfungen  der 
Studenten  solle  besonders  darauf  geachtet  werden,  ob  sie  sich 
die  nöthigen  Kenntnisse  in  diesem  Fache  angeeignet  hätten.  Der 
Staat  sei  zu  ersuchen,  an  der  Universität  besondere  Lehrstühle 
für  die  Unterweisung  in  den  jüdischen  Wissenschaften  und  ein 
Kollegium  zu  erhalten,  in  welchem  die  Studenten  mit  jenen  be- 
sonders bekannt  gemacht  würden.  Die  Gesetzgebung  aber  solle 
dafür  Sorge  tragen,  dass  die  Bekehrten  von  ihren  Verwandten 
nicht  beschädigt  würden,  und  dass  arme  Proselyten  ihren  Unter- 
halt fänden. 

Wie  viel  von  diesen  Beschlüssen  ins  Leben  getreten  ist, 
wissen  wir  nicht.  Jedesfalls  machte  die  Unsicherheit,  welche  sich 
in  Folge  der  messianischen  Bewegung  vieler  Juden  Hollands 
bemächtigt  hatte,  nicht  wenige  zu  näherem  Verkehr  mit  den 
Christen  geneigt,  der  denn  auch  von  manchen  der  letzteren  mit 
Eifer  gepflegt  wurde.  Als  St.  Schultz  1749  in  Amsterdam  ver- 
weilte, fand  er  dort  und  in  Holland  überhaupt  nicht  bloss  eine 
ziemliche  Anzahl  von  Proselyten  vor,  sondern  auch  die  Juden 
der  Hauptstadt  unter  sich  selbst  sehr  gespalten.  Hunderte  der- 
selben glaubten,  dass  der  Messias  bereits  gekommen  sei,  und 
waren  innerlich  mit  dem  jüdischen  Glauben  zerfallen,  so  dass  sie 
sich  auch  von  der  Synagoge  fern  hielten  und  von  den  übrigen 
als  Ketzer  angesehen  wurden.  Die  grösste  Zahl  derselben  trat 
zwar  nicht  zum  Christenthum  über,  aber  aus  ihrer  Mitte  Hessen 
sich  doch  nicht  wenige  taufen. 

Unter  den  Proselyten  dieser  Zeit  nennen  wir  zuerst  die 
beiden  Brüder  Fonseca,*)    Isaak  Dias   und  Aaron  Dias.     Die- 


Callenberg  Relation  7,  88  ff,    Saat  Johanni  1864  S.   24  ff.     Kaikar  97. 


—     4iö     — 

selben  sind  von  portugiesischen  Eltern  geboren  und  bei  den 
gelehrtesten  Rabbinen  in  den  Unterricht  gegangen.  Bei  fleissigem 
Studium  des  Mosaischen  Gesetzes  und  der  Propheten  erkannten 
de,  dass  die  Rabbinen  die  Festtage  verändert  hätten,  und  also 
das  mündliche  Gesetz,  welches  diese  Aenderungen  getroffen  habe, 
nicht  von  Gott  sein  könne.  Was  sie  selbst  entdeckt  hatten, 
theilten  sie  anderen  ihrer  Freunde  mit.  Dies  erregte  dieselben 
zuerst  gegen  jene  beiden  Brüder;  denn  es  war  ihnen  fremd,  dass 
die  Schrift  gegen  den  Talmud  aufgerufen  wurde,  und  dass  die 
Lehre  der  Schrift  eine  höhere  Bedeutung  als  die  mündliche  Lehre 
der  Juden  haben  sollte,  zumal  sie  gelernt  hatten,  dass  die  Worte 
der  Schriftgelehrten  über  die  des  Gesetzes  gingen.  Allmählig 
aber  fanden  sie  Eingang  bei  einigen  der  Ihrigen. 

Es  kam  dahin,  dass  sich  noch  zehn  andere  mit  ihnen  zu- 
sammenthaten,  die  nun  gemeinsam  Fragen  an  die  Rabbinen  auf- 
setzten, um  deren  Beantwortung  sie  baten.  Die  Antwort  blieb 
man  ihnen  jedoch  schuldig.  Die  Folge  war,  dass  sich  etwa  drei- 
hundert andere  den  beiden  Brüdern  anschlössen,  die  nun  drei 
Jahre  lang  miteinander  ihre  Untersuchungen  und  Forschungen 
fortsetzten.  Auf  eine  Anzeige  beim  Oberrabbi  aber  wurden  die 
Brüder  vor  denselben  geladen  und  ihnen  hier  Abweichungen  vom 
Judenthum  in  4  Punkten  vorgeworfen,  die  besonders  ihre  Ver- 
werfung des  mündlichen  Gesetzes  betrafen;  und  sie  wurden  dann 
um  desswillen  als  widerspenstige  und  gottlose  Ketzer  verurtheilt. 
Eine  Beschwerde  beim  Vorstande  half  ihnen  nichts,  und  es  wurde 
ihnen  zunächst  der  Besuch  der  Synagoge  verboten.  Tags  darauf, 
den  26.  Februar  171 2,  befahl  ihnen  ihr  Vater  aus  seinem  Hause 
7,u  ziehen,  zwei  Tage  später  wurden  sie  in  den  Bann  gethan  und 
jeder  von  ihnen  „als  viermal  verflucht  und  verdammt  ausgerufen", 
so  dass  ausser  ihrem  Vater  und  ihren  Schwestern  Niemand  mit 
ihnen  reden  durfte.  Den  Christen  aber  verdächtigte  man  sie  als 
Atheisten ,  um  sie  auf  solche  Weise  auch  von  diesen  fern 
zu  halten. 

Nachdem  die  Dinge  so  weit  gekommen  waren,  baten  sie 
den  durch  seine  Liebe  zu  den  Juden  bekannten  Prediger  Hero 
Sibersma,  sie  zu  prüfen.  Dieser  that  es  und  erklärte  sie  für 
aufrichtige  Anhänger  des  Alten  Testamentes.  Er  forderte  sie 
nun  zu  weiterem  Verkehre  mit  sich  auf  und  gab  ihnen  auch  zu 
ihrer  weiteren  Belehrung  Schriften,  insbesondere  die  von  ihm 
selbst  geschriebenen.     Auf  diese  Weise   gelangten  sie    allmählig 


—     41/      — 

zu  der  Erkenntniss,  dass  Jesus  der  wahre  Messias  sei.  Sie  er- 
baten nun  die  Taufe.  Man  Hess  sie  deshalb  zunächst  vor  dem 
Kirchenrath  und  dann  auch  vor  den  weltlichen  Abgeordneten 
Rechenschaft  von  ihrem  Glauben  ablegen.  Als  dies  zu  aller  Zu- 
friedenheit geschehen  war,  wurden  sie  am  25.  August  getauft. 
Die  Taufrede  Sibersmas  erschien  im  Druck  unter  dem  Titel 
„Het  oude  Geloof."  Angeschlossen  ist  derselben  das  Bekenntniss 
der  Proselyten  „De  opgaande  Morgenstond  van  Israels  Bekeeringe." 
Hier  werden  die  Lehren  vom  Sabbath,  der  Beschneidung,  dem 
Osterfest  und  der  Dreieinigkeit,  die  in  der  Geschichte  der  beiden 
Brüder  ihre  besondere  Bedeutung  gehabt  hatten,  abgehandelt. 
Sehr  nachdrücklich  ist  ihr  Zeugniss  gegen  das  mündliche 
Gesetz,  und  ernstlich  dringen  sie  in  die  Juden,  nicht  länger  an 
Menschengeboten  zu  halten,  sondern  aufrichtige  Schriftgläubige 
zu  werden.  Dieses  Bekenntniss  hat  denn  auch  nicht  verfehlt, 
manchem  Juden  ins  Gewissen  zu  reden,  und  hat  etliche  derselben 
zu  Christo  geführt,    von    denen   einer  hernach  Geistlicher  wurde. 

Aaron  Fonseca  ist  nach  seinem  Uebertritt  Lehrer  an 
der  portugiesischen  Gemeinde  in  Batavia  und  Isaak  Rathsherr 
im  ostindischen  Negapatnam  geworden.  Einer  der  älteren  Halle'- 
schen  Heidenmissionare  in  Ostindien  Walther  lernte  Isaak  1733 
kennen  und  wurde  ebenso  sehr  durch  die  Freudigkeit  seines  Be- 
kenntnisses zu  Christo  als  durch  seine  herzliche  Sorge  um  die 
Bekehrung  seiner  früheren  Glaubensgenossen  aufs  Angenehmste 
berührt. 

Der  vorher  erwähnte  Geistliche,  welcher  erst  durch  die 
Schrift  Fonseca's  für  das  Christenthum  gewonnen  wurde,  ist  wahr- 
scheinlich Vieri a.  Manitius  erwähnt  (Relation  11,  101)  den- 
selben während  seines  Aufenthaltes  in  Holland.  IJ34  habe 
er  ihn  in  Leyden  gesprochen,  jetzt  aber,  1739,  sei  er 
nach  Surinam  als  evangelischer  Prediger  gegangen.  Ein  an- 
derer Prediger  aus  jüdischem  Geschlecht  wird  uns  in  diesen 
Jahren  in  Holland  nicht  genannt,  und  da  auch  die  Zeitbestim- 
mung passt,  so  wird  gewiss  Vieria  der  hier  genannte  sein.  Leider 
ist  es  nicht  möglich  gewesen,  über  diesen  Mann  Näheres  zu 
erfahren. 

Als  Verwandte  desselben  werden  an  der  nämlichen  Steile 
von  Manitius  2  Brüder  Fun  dam  genannt,  welche  gleichfalls  das 
Christenthum  angenommen  haben.  Jakob  Fundam  wird  auch  in 
Wolfs  B.  H.  4    N.   1095  b   erwähnt.     Derselbe  schrieb  in  hollän- 

J.  F.  A.  de    le    Roi,    Missionsbeziehungen.  27 


—     418     — 

discher  Sprache  eine  Schrift  „Vorst  Messias  opgespoort  uit  de 
Rolle  der  Propheten".  Gezeigt  wird  in  derselben,  wie  die  christ- 
liche Kirche  den  Messias  in  den  Schriften  der  Propheten  gefunden 
und  erkannt  habe,  während  die  Juden  über  denselben  lauter 
Irrthümliches  lehrten.  Wie  auch  sonst  Fundam  bemüht  war,  die 
Seinigen  zum  rechten  Glauben  zu  führen,  ist  bereits  vorher  (S.  414) 
erwähnt  worden. 

Hero  Sibersma  führt  in  seiner  früher  genannten  Taufpredigt 
auch  einen  Proselyten  Daniel  le  Cor e seh*)  an  und  nennt  ihn 
einen  unterrichteten,  in  verschiedenen  Sprachen  und  besonders 
im  Hebräischen  sehr  erfahrenen  Mann.  1727  Hess  derselbe  zu 
Amsterdam  eine  Schrift  in  lateinischer  Sprache :  „Quinque  aperti 
flores  collecti  ex  horto  malogranatorum  et  in  fascicula  digesti" 
erscheinen.  In  diesen  5  geöffneten  und  zu  einem  Strausse  zu- 
sammengebundenen Blüthen  aus  dem  Granatapfelgarten  erwähnt 
er ,  dass  er  bereits  1 5  Jahre  als  Christ  in  Amsterdam  lebe.  Er 
behandelt  in  seiner  Schrift  5  Stellen  des  Alten  Testamentes 
in  kabbalistischer  Weise,  aber  seine  Schreibweise  ist  eine  sehr 
wenig  klare. 

Ein  bald  Paul,  bald  Joh.  Christoph  Gottfried**)  genannter 
Proselyt  verfasste  in  holländischer  Sprache  (Amsterdam  1724) 
eine  Schrift  über  den  ursprünglichen  Glauben  an  den  Messias, 
in  welcher  er  aus  Sohar  Bereschit  die  Gottheit  Christi  beweisen 
wollte.  In  längerer  Vorrede  führt  er  aus,  dass  die  Juden  nur 
durch  den  Messias  von  dem  auf  ihnen  ruhenden  Fluche  erlöst 
werden  können.  Den  Professor  Meyer  in  Harderwyk  hatte  er 
vergeblich  um  ein  Zeugniss  für  sich  in  der  Vorrede  gebeten;  er 
wird  also  wohl  jenem  Gelehrten  nicht  als  eine  recht  zuverlässige 
Persönlichkeit  erschienen  sein. 

Auch  in  Holland  haben  sich  in  der  ersten  Hälfte  des  18. 
Jahrhunderts  die  Judentaufen  gemehrt.  Die  Abnahme  einer  ge- 
lehrten Literatur  auf  dem  Missionsfelde  hat  dem  Missionswerke 
selbst  nicht  geschadet.  In  wie  weit  an  demselben  in  Holland 
auch  die  Mission  Callenbergs  und  der  Brüdergemeinde  betheiligt 
war,  ist  an  den  betreffenden  Stellen  bereits  erwähnt  worden. 


*)  Wolf  B.  II.  4  N.  807  c. 

**)  Wolf  H.  B.  3  N.   1808  und  4823  c. 


—     419     — 

6.  Grossbritannien. 

Nur  allmählich  wuchs  die  Zahl  der  Juden  im  britischen 
Inselreiche.  Man  schätzt  die  jüdische  Bevölkerung  daselbst  während 
unseres  Zeitraumes  auf  nicht  mehr  als  8000  Seelen.  Doch  gab 
es  unter  denselben  einige  sehr  reiche  Familien,  die  mit  ihrer 
Umgebung  in  lebhaften  Verkehr  traten.  Eine  Parlamentsakte  vom 
Jahre  1723  erklärte  sie  für  britische  Unterthanen,  und  zwar  sollten 
sie  als  solche  anerkannt  werden,  auch  wenn  sie  nicht  den  Eid 
auf  den  wahren  Glauben  eines  Christen  schwörten.  Eine  Akte 
vom  Jahre  1 740  verlieh  dasselbe  Recht  den  in  britischen  Kolonien 
Geborenen  und  denjenigen  Juden,  welche  als  Seeleute  während 
des  Krieges  2  Jahre  hindurch  auf  britischen  Schiffen  gedient  hätten. 
Eine  Parlamentsakte  vom  Jahre  171 5  dagegen  setzte  fest,  dass 
jüdische  Eltern  ihren  zum  Christenthum  übertretenden  Kindern 
ein  bestimmtes  Pflichttheil  von  ihrem  Erbe  nicht  entziehen  dürften. 

Der  Methodismus  hatte  in  England  viele  Gemüther  mit  der 
Sorge  um  die  Seligkeit  ihrer  Mitmenschen  erfüllt  und  hat  zur 
Erweckung  des  Missionssinnes  in  jenem  Lande  viel  beigetragen. 
So  war  es  denn  auch  ganz  natürlich,,  dass  die  Juden  für  viele 
fromme  Christen  daselbst  ein  Gegenstand  christlicher  Sorge  wurden. 
Ueberdem  sahen  sie  sich  durch  die  fleissig  von  ihnen  gelesene 
Bibel  stets  von  Neuem  auf  die  Juden  hingewiesen.  In  gesunder 
wie  in  ungesunder  Weise  hatte  dies  auch  während  der  ersten 
Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  wieder  seine  Folgen.  Indem  man 
mit  besonderer  Vorliebe  das  alte  Testament  las,  in  welchem  die 
Juden  überall  als  Nation  erscheinen,  und  in  dem  ihnen  durch  die 
Propheten  grosse  nationale  Verheissungen  gegeben  werden,  übte 
das  ganz  von  selbst  seinen  Einfluss  auf  die  bibelgläubigen  Leser 
aus.  Man  lernte  die  Bedeutung  Israels  als  einer  besonderen 
Nation  im  Reiche  Gottes  erkennen  und  lieben,  und  in  diesem 
Punkte  übertrafen  die  gläubigen  englischen  Kreise  die  anderer 
Völker.  Aber  man  verstand  es  dort  im  Allgemeinen  zu  wenig, 
eine  neutestamentliche  Erfüllung  alttestamentlicher  Verheissungen 
auch  im  neutestamentlichen  Sinne  zu  erfassen  und  so  der  geschicht- 
lichen Entwickelung  im  Reiche  Gottes  gerecht  zu  werden.  Die 
englische  Bibelauffassung  sank  zu  leicht  auf  die  alttestamentliche 
Vorstufe  zurück  und  es  gelang  ihr  oft  durchaus  nicht  genügend, 
die  Hüllen  und  Schranken  des  Alten  Testamentes  zu  durchbrechen. 
Man  fiel  nicht  selten  in  der  Erfüllung  auf  das  Alte  und  Abgethane 

27* 


—     420     — 

zurück  und  glaubte,  der  Inspiration  erst  dann  wahrhaft  gerecht 
zu  werden,  wenn  man  sich  wieder  in  das  Schattenhafte  und 
Elementare  der  alttestamentlichen  Oekonomie  hineinzwängte. 
Das  Zukunftsbild  des  Reiches  Gottes  erhielt  so  hier  vielfach  einen 
alttestamentlich  jüdischen  Anstrich,  der  sich  wenig  von  den 
talmudischen  und  rabbinischen  Erwartungen  unterschied. 

Schlimmer  noch  war  es,  dass  man  die  so  gedachte  Zukunft 
Israels  auf  die  Gegenwart  der  Juden  übertrug  und  diese  daher 
in  einer  Weise  idealisirte,  welche  mit  dem  armen  Sünderevangelium 
in  immer  grelleren  Widerspruch  trat.  Unbesehens  verwandelten 
sich  die  unter  der  furchtbaren  Schuld  und  dem  ernsten  Gericht 
der  Verstockung  dahingehenden  Juden  in  das  Israel,  welches  seine 
letzte  höchste  Stufe  im  Reiche  Gottes  zu  erreichen  auf  dem  besten 
Wege  ist.  Nicht  wenige  betrachteten  die  Juden,  als  wären  sie 
die  lebendigen  Bekenner  des  Glaubens  der  Propheten,  denen  es 
nur  fehle,  dass  sie  auch  noch  die  letzte  Erkenntniss,  die 
der  bereits  erfolgten  Ankunft  des  Messias,  gewännen.  Dass  die- 
selben gerade  den  Glauben  des  Alten  Testamentes  verlassen 
hatten,  und  auf  die  Wege  nationaler  Selbstgerechtigkcit  und 
Selbstvergötterung  abgeirrt  waren,  dass  sie  aus  diesem  Grunde 
hartnäckiger  als  alle  anderen  Völker  Gott  und  seinem  Worte  den 
Gehorsam  versagten,  kam  recht  vielen  britischen  Freunden  der 
Juden  gar  nicht  zum  Bewusstsein.  Sie  sahen  viel  mehr  ein  Israel 
vor  ihren  Augen,  welches  das  letzte  Ende  und  Ziel  seines  Weges 
bald  erreicht  habe,  als  die  Juden,  welche  vor  allem  noch  den 
ersten  Schritt  auf  der  Bahn  des  Heils,  den  Schritt  der  Busse 
thun  sollten. 

Jene  Verherrlichung  der  Juden,  welche  sich  später  in  Gross- 
britannien so  schmerzlich  breit  gemacht  hat,  und  welche  heute  in 
nicht  seltenen  Fällen  bis  an  den  Verrath  der  christlichen  Sache 
streift,  fing  schon  damals  an,  sich  so  mancher  Gemüther  zu  be- 
mächtigen. Aber  allerdings  nur  in  angeregteren  gläubigen  Kreisen 
fand  eine  derartige  Verirrung  statt.  Im  eigentlichen  britischen 
Volke  stand  es  anders.  Hier  hatte  man  entweder  ein  gesunderes 
christliches  Urtheil,  oder  es  herrschte  hier  sogar  noch  gerades- 
wegs  eine  judenfeindliche  Stimmung.  Eine  in  ihrer  Art  fleischliche 
Vorliebe  für  die  Juden  hat  die,  welche  das  Ungesunde  und  Un- 
christliche derselben  erkannten,  desto  mehr  darin  bestärkt,  alle 
ihre  Sympathie  den  Juden  zu  entziehen  und  ihre  Christenpflicht 
denselben  gegenüber  zu  vergessen. 


—       J2I       — 

Jener  Richtung  der  früheren  Zeit,  welche  sich  den  Juden 
vor  allem  in  literarischem  Interesse  zuwandte,  ist  besonders  noch 
Robert  Clavering  ergeben,  der  1705  in  Oxford  Traktate  des 
Maimonides  herausgab,  lateinisch  übersetzte  und  erläuterte. 
J.  Crullius  bearbeitete  die  jüdische  Geschichte  vom  Anfange  bis 
zur  Gegenwart,  London  1708,  und  berücksichtigte  hierbei  auch 
die  rabbinische  Literatur.  Wilhelm  Wotton  lenkte  sein  Studium 
besonders  auf  beide  Talmude;  verschiedene  Schriften  von  Saadja 
Gaon  bearbeitete  zur  selben  Zeit  Jo.  Gagner  in  Oxford. 

Aus  rationalistischen  Beweggründen  trat  Joh.  Toland  für 
die  Juden  wiederholt  ein,  so  in  seinen  Reasons  for  naturalizing 
the  Jews,  London  1714.  Er  fordert  hier  volle  bürgerliche  Gleich- 
stellung für  dieselben,  um  damit  seinen  glaubensfeindlichen  An- 
sichten auf  praktische  Weise  zum  Siege  zu  verhelfen.  1 7 1 8  liess 
er  zu  dem  gleichen  Zwecke  seine  Schrift  Nazarenus  oder  Jewish, 
Gentile  and  Mahometan  Christianity  erscheinen;  alle  Religionen 
sind  nach  seinen  Ausführungen  einander  gleich.  Die  englischen 
Deisten  studirten,  wie  Bischof  Kid  der  bezeugt,  eifrig  die  jüdischen 
Schriften  gegen  das  Christenthum  und  holten  sich  dort  die  Waffen 
gegen  dasselbe.  Die  Juden  aber  verbreiteten  dann  nicht  minder 
angelegentlich  die  deistischen  Bücher,  besonders  die  von  Wool- 
ston,  Collin  und  Morgan. 

Ein  merkwürdiges  Buch  ist  die  englische  Uebersetzung  von 
Theilen  des  Eisenmenger'schen  Werkes:  The  Traditions  of  the 
Jews  von  John  Peter  Stehelin,  London  1732  und  1743.  Die 
Einleitung  des  Verfassers  enthält  eine  fast  ungemessene  Recht- 
fertigung des  rabbinischen  Schriftthums,  während  die  hernach  aus 
Eisenmenger  entnommenen  Proben  dieser  Literatur  erwarten 
Hessen,  dass  über  dieselbe  das  allerschärfste  Urtheil  gefällt 
werden  würde. 

Aus  dem  Janre  1 7 1 7  liegt  vor :  The  Farmers  Advice  to  the 
unbelieving  Jews  von  John  Grind ley,  eine  Bekehrungsschrift, 
die  sich  im  Style  eines  pietistischen  Erbauungsbuches  an  die 
Juden  richtet.  Eine  Dame,  die  Frau  des  Rev.  Newcom  zu 
London  liess  „An  Evidence  of  the  evidence  of  Christian  religion" 
in  jener  Stadt  erscheinen.  1732  erlebte  diese  Schrift  eine  neue 
Auflage,  die  in  Cap.  1 1  den  Juden  den  Nachweis  führt,  dass  sie 
die  Göttlichkeit  des  Alten  Testamentes  nicht  zu  behaupten  ver- 
möchten, wenn  sie  Jesum  Christum  nicht  als  ihren  Messias  an- 
erkennten. 


—       422       

Von  Robert  Miliar  erschien  in  London  1730  eine  Geschichte 
der  Kirche  im  Alten  Bunde.  Es  schliefst  sich  daran  eine 
Geschichte  der  heidnischen  Völker  vor  Christo  und  der  Zustände 
der  Juden  seit  der  babylonischen  Gefangenschaft  bis  zur  Gegen- 
wart. Als  Anhang  folgt:  A  Discourse  to  promote  the  conversion 
of  the  Jews  to  Christianity,  R.  Miliar  beklagt,  dass  die 
für  die  Bekehrung  der  Juden  vorhandene  Literatur  ihrem  Zwecke 
nicht  genügend  entspreche.  Die  Geschichte  selbst  widerlege  die 
Juden  am  meisten,  die  Schrift  verheisse  ihnen  jedoch  noch  eine 
Enderlösung  aus  ihrem  kläglichen  Zustande.  In  der  Gegenwart 
müsse  man  ernstlich  an  ihrer  Bekehrung  arbeiten.  Auf  ihre  Ein- 
würfe sei  sorgfältig  einzugehen,  vor  allem  aber  für  sie  zu  beten 
und  die  Jugend  mit  ihrer  Literatur  bekannt  zu  machen.  Eine 
unbeschränkte  Freiheit  der  Juden  sei  nicht  rathsam.  Mit  einer 
herzlichen  Anrede  an  die  Juden  und  mit  der  Bitte,  Jesum  zu 
ergreifen,  da  sie  ohne  denselben  keine  Versöhnung  für  ihre  Sünden 
fänden,  schliesst  das  Werk.  Eine  eigentliche  Geschichte  der 
Juden  in  England  lieferte  in  dieser  Zeit  D.  Blossiers  Tovey 
zu  Oxford,    1738  unter  dem  Titel  „Anglia  Judaica". 

W.  Warburton,  damals  Hofprediger  des  Prinzen  von 
Wales,  verfasste  ein  Werk:  The  divine  legislation  of  Mose  1738 
und  1741,  das  von  Joh.  Christ.  Schmidt,  Consistorialrath  in 
Baireuth,  1752  ins  Deutsche  übersetzt  wurde.  Der  zweite  Theil 
enthält  eine  Widmung  an  die  Juden,  in  welcher  er  denselben  er- 
klärt, dass  aus  der  Giltigkeit  der  Religion  des  Moses  auch  die 
der  Religion  Jesu  folge.  Die  Juden  hätten  aber  stets  geglaubt, 
dass  die  Religion  des  Moses  hinreiche,  den  geistlichen  Mängeln 
des  Menschen  abzuhelfen  und  die  menschliche  Natur  zum  Genüsse 
des  höchsten  Gutes  zuzubereiten,  sie  hierzu  tüchtig  zu  machen 
und  ihr  den  Besitz  desselben  zu  verschaffen.  Ebenso  hätten  sie 
angenommen,  dass  die  Anwendung  der  Weissagungen  auf  Jesum 
Christum  falsch  sei,  und  dieselben  in  ganz  anderer  Weise  aus- 
gelegt. Ihren  Irrthum  in  beiden  Beziehungen  nun  weist  er  ihnen 
eingehend  nach.  Hierauf  aber  geht  er  dazu  über,  ihnen  zu  zeigen, 
dass  ihre  ganze  alttestamentliche  Vorgeschichte  nur  durch  die 
Erlösung  Jesu  Christi  verständlich  sei.  Jene  habe  den  Zweck 
gehabt,  für  die  Erziehung  der  ganzen  Menschheit  zu  dienen,  und 
gerade  das  sei  ihr  Werth.  Das  sollten  nun  aber  auch  die  Juden 
zu  Herzen    nehmen    und   damit   sich    selber   den  Segen    gönnen, 


—     423     — 

•welchen  ihnen  das  Neue  Testament  noch  für  ihre  Bekehrung 
vorbehalte. 

Ein  anderer  Hofkaplan  des  Prinzen  von  Wales,  Arthur 
Bedford,  hielt  nach  einer  von  Frau  Moyer  errichteten  Stiftung 
aus  den  Zeugnissen  der  ältesten  Juden  und  besonders  aus  den 
Targumim  acht  Predigten  zur  Vertheidigung  der  Dreieinigkeit 
und  der  Menschwerdung  des  Sohnes  Gottes  in  der  St.  Pauls- 
Kirche   zu  London,  die   1741   erschienen. 

Für  die  endliche  Bekehrung  der  Juden  legte  ein  Arzt,  Paul 
Lewis,  London  1744  in  „A  final  call  to  the  Jews"  ein  Zeugniss 
ab.  Dasselbe  Thema  behandelt,  aber  in  wahrhaft  abschreckender 
Weise,  die  Schrift:  „A  Treatise  of  the  future  restoration  of  the 
Jews  and  Israelites  to  their  own  land,  addressed  to  the  Jews" 
1747  London.  Der  ungenannte  Verfasser  hat  nichts  als  honig- 
süsse  Worte  für  die  Juden,  die  er  direkt  anredet,  und  zu  denen 
er  nur  von  der  Herrlichkeit  spricht,  welche  ihnen  demnächst  als 
Erfüllung  der  Verheissungen  werde  zu  Theil  werden.  Die  Juden- 
verherrlichung hat  hier  einen  Grad  erreicht,  wie  nur  in  wenigen 
nicht  jüdischen  Schriften. 

Ins  Deutsche  übersetzte  F.  E.  Rambach  1751  Bischof 
Chandlers  Vertheidigung  der  christlichen  Religion  aus  den 
Weissagungen  der  Propheten.  Unter  Benützung  der  rabbinischen 
Literatur  weist  Chandlers  nach ,  dass  sich  nur  die  christliche 
Auslegung  der  Propheten  als  die  richtige  empfehle,  und  dass 
eine  endliche  Bekehrung  der  Juden  zu  erwarten  stehe.  Zu  dieser 
Hoffnung  bekennt  sich  ebenso  der  Dissenterprediger  Nath. 
L ardner,  dessen  Ausführungen  um  so  bemerkenswerther  sind, 
als  sie  vielfach  bereits  den  Einfluss  des  damaligen  Deismus  ver- 
rathen.  Joh.  Gebhard  P  f  e  i  1  übersetzte  Lardners  Schrift  ins  Deutsche, 
Magdeburg   1754. 

Unter  den  Proselyten,  welche  dieser  Zeitraum  in  Gross- 
britannien aufweist,  ist  Philipp  Levy  zu  nennen.*)  Derselbe  gab 
in  englischer  Sprache  eine  hebräische  Grammatik  für  Anfänger 
heraus.  Oxford  1705.  Am  Schlüsse  derselben  wird  auch  von 
den  Elementen  des  Chaldäischen ,  soweit  dasselbe  für  das  Alte 
Testament  in  Betracht  kommt,  gehandelt.  Erwähnung  verdient 
sonst   Jonas   Ben.  Jakob    Xeres**)    aus    Nordafrika,    der    durch 


*)  Wolf  B.  H.   1,   5  N.   183t  ". 
f*)  Wolf  B.  H.   1,  4  N.  823. 


—     424     — 

d'Allix  für  das  Christenthum  gewonnen  wurde.  Xeres  hatte 
eine  vortreffliche  Erziehung  genossen  und  war  im  Hebräischen, 
Chaldäischen  und  Arabischen  wohl  erfahren.  In  seiner  Heimath 
kam  er  mit  englischen  Kaufleuten  vielfach  in  Verkehr  und  hatte 
mit  denselben  häufig  Unterredungen  über  religiöse  Dinge.  Das 
führte  ihn  zu  der  Frage,  ob  nicht  der  Messias  bereits  gekommen 
sei.  Aber  er  konnte  längere  Zeit  über  dieselbe  nicht  zur  Klar- 
heit kommen,  weil  ihn  das  römische  Christenthum ,  welches  ihm 
auf  seinen  Handelsreisen  in  Spanien  und  Portugal  entgegentrat, 
abstiess.  Das  ganze  Wesen  der  englischen  Kaufieute  dagegen 
hatte  ihn  wohlthuend  berührt,  und  so  beschloss  er  nach  England 
zu  gehen.  1707  kam  er  nach  London  und  wurde  dort  mit 
d'Allix  bekannt,  der  ihn  unterrichtete  und  1709  taufte.  Nach 
seiner  Taufe  richtete  John  Xeres  eine  Ansprache  an  die  Juden 
„Address  to  the  Jews  containing  his  reasons  for  leaving  the  Jewish 
and  embracing  Christian  religion."  London  17 ig.  Er  redet  hier 
seine  früheren  Glaubensgenossen  in  sehr  gewinnender  Sprache 
an.  Sie  hätten  ihm  alle  Liebe  bewiesen,  daher  fühle  er  auch  nur 
Dankbarkeit  gegen  sie  und  wünsche  darum  desto  mehr,  dass  auch 
sie  das  Heil  in  Christo  an  sich  selbst  erlebten.  Er  legt  dann  den 
Seinen  alles  vor,  was  ihm  Zweifel  am  Judenthum  bereitet  und 
was  ihm  zum  Anstoss  an  der  christlichen  Religion  gedient  habe. 
Ueber  das  alles  habe  ihm  d'Allix  den  rechten  Aufschluss  gegeben. 
Jetzt  kenne  er  den  Ungrund  des  talmudischen  Judenthums,  und 
aus  dem  Alten  Testamente  beweist  er  dies  nun  auch  den  Seinen. 
Man  habe  ihm  das  Neue  Testament  gegeben  und  dasselbe  habe 
er  mit  den  jüdischen  Büchern  verglichen.  Da  habe  er  gefunden, 
dass  die  Bücher  des  Neuen  Testamentes  in  einem  ganz  anderen 
Zusammenhange  mit  dem  Alten  Testamente  stünden  als  die 
talmudischen  und  rabbinischen  Schriften.  Aber  selbst  „das  Alte 
Testament  war  nur  das  Gerüst ;  seit  nun  das  Haus  fertig  dasteht, 
ist  das  Gerüst  hinweggenommen  worden." 

Darauf  bespricht  Xeres  die  Messiaslehre,  den  Unterschied 
Jesu  Christi  von  allen  falschen  Messiasen  und  zeigt,  wie  sich  die 
ganze  Geschichte  Israels  und  die  ganze  Prophetie  auf  Christum 
hingestreckt  hätten.  Das  schwerste  Bedenken  gegen  das  Christen- 
thum sei  ihm  die  Lehre  von  der  Dreieinigkeit  gewesen ;  in  desto 
schönerer  Weise  aber  thut  er  jetzt  den  Juden  dar,  wie  sich  ihm 
auch  dieses  Bedenken  nach  der  Schrift  gelöst  habe.  Manche 
Verheissungen    derselben    endlich    stünden    allerdings    noch  aus, 


-     425     — 

aber  dies  allein  darum,  weil  sie  vom  Glauben  abhängig  seien, 
und  zum  Glauben  ruft  er  daher  jetzt  desto  angelegentlicher  die 
Seinigen. 

Die  Halle'schen  Missionare  haben  später  Xeres  wiederholt 
in  England  besucht  und  ihm  stets  das  Lob  eines  frommen  und 
treuen  Christen  ertheilt. 

Ein  Proselyt  Abraham  Bar  Jakob  veranstaltete  eine  Ueber- 
setzung  der  englischen  Liturgie  ins  Hebräische,  welche  die  Biblio- 
thek des  Erzbischofs  Marsh  im  Manuscript  enthielt,  während 
sich  eine  andere,  aber  gleichfalls  nur  im  Manuscript  vorhanden, 
von  einem  anderen  Verfasser  in  der  Bibliothek  des  Trinity 
Colleg  zu  Dublin  befand.  Die  Abraham'sche  Uebersetzung 
wird  als  nicht  frei  von  Fehlern  bezeichnet,  immerhin  aber  als 
ein  Zeugniss   von  der  Gelehrsamkeit  ihres  Verfassers  anerkannt. 

Moses  Marcus,*)  in  London  1701  geboren,  war  der  Sohn 
reicher  jüdischer  Eltern,  die  ihn  zur  Vollendung  seiner  Erziehung 
nach  Hamburg  sandten.  Hier  machte  er  die  Bekanntschaft  mehrerer 
evangelischer  Prediger,  mit  denen  er  sich  viel  über  Glaubenssachen 
unterhielt.  Das  Neue  Testament  wurde  das  Mittel,  ihn  völlig 
zu  überzeugen.  1721  war  indess  sein  Vater  mit  unermesslichem 
Reichthum  aus  Indien  nach  England  zurückgekehrt  und  forderte 
jetzt  den  Sohn  auf,  zu  ihm  nach  London  zu  kommen.  Dort  nun 
theilte  derselbe  seinem  Vater  die  Veränderung,  welche  indess 
seine  religiösen  Ueberzeugungen  erfahren  hatten,  mit;  letzterer 
erschrack  darüber  und  wollte  ihn  gänzlich  enterben,  ja  er  drohte 
ihn  umzubringen,  wenn  er  sich  taufen  Hesse,  und  warf  thatsäch- 
lich  auch  einmal  nach  ihm  mit  einem  grossen  Messer.  Dem 
Sohne  war  jedoch  das  Evangelium  zu  tief  ins  Herz  gedrungen, 
und  1723  empfing  er  die  Taufe.  1724  setzte  er  in  einer  zu 
London  erschienenen  Schrift  „Principal  motives  to  leave  the 
Jewish  faith"  auseinander,  welche  Gründe  ihn  zum  Verlassen  des 
Judenthums  bestimmt  hätten,  obwohl  er  dadurch  in  sehr  be- 
drängte Lage  gerieth.  Er  war  aber  innerlichst  von  der  neu  er- 
langten Erkenntniss  erfüllt  und  suchte  für  dieselbe  nun  auch 
andere  Juden  zu  gewinnen.  In  jener  eben  genannten  Schrift  be- 
wies er  den  Juden  die  Messianität  Jesu  und  mehrere  Lehren  der 
christlichen  Kirche  aus  dem  Alten  Testamente,  während  er  gleich- 
zeitig das  Verkehrte  vieler  talmudischen  Lehren  darthat,  und  be- 


f)  Wolf  B.  H.  4    N.   i6o6d.     Rhem.-Westphäl.  Misslonsblatt   1846    N.  5. 


—     426     — 

sonders  darauf  hinwies,  dass  die  Juden  in  Folge  ihrer  Verwerfung 
Jesu  so  vielen  betrügerischen  Messiasen  verfallen  seien.  Ebenso 
aber  war  Marcus  über  die  Angriffe,  welche  das  Alte  Testament 
in  freidenkerischen  Kreisen  Englands  zu  erfahren  begann,  äusserst 
entrüstet.  Zur  Bekämpfung  von  Will.  Whiston  übersetzte  er 
Theil  2  der  Critica  sacra  des  D.  Jo.  Gottlob  Carpzov  ins  Eng- 
lische, die  Uebersetzung  gleichzeitig  mit  Bemerkungen  für  seine 
Leser  begleitend.    London   1729. 

Callenbergs  Berichte  (1492)  nennen  sodann  einen  Proselyten 
Abraham  Juda,  der  als  Professor  in  Dublin  wirkte  und  dort 
auch  auf  andere  Juden  Einfluss  ausübte,  wie  er  denn  einen 
Christoph  Salomo,  der  aus  Polen  stammte,  zum  Christenthum 
geführt  hat.  Lehrer  der  orientalischen,  italienischen,  spanischen 
und  portugiesischen  Sprachen  in  London  war  David  Abo  ab, 
der  1750  daselbst:  Short,  piain  and  well  grounded  introduction 
to  Christianity  with  the  fundamental  maxims  of  a  true  Christian, 
published  at  first  at  Venice  in  Arabic  and  Italian,  in  lateinischer 
Uebersetzung  herausgab.  Der  eigentliche  Verfasser  des  Buches 
war  ein  Jesuit,  welcher  unter  den  Muhammedanern  als  Missionar 
gewirkt  und  hierbei  erkannt  hatte ,  dass  zur  Bekehrung  der 
Muhammedaner  eine  bessere  Religion  als  die  römisch-katholische 
nothwendig  sei,  dadurch  zum  Protestantismus  geführt  wurde  und 
nun  zur  Unterweisung  von  Muhammedanern  und  Juden  im 
Christenthum  das  genannte  Buch  verfasste.  Die  Beweise  in  dem- 
selben sind  allein  dem  Alten  Testamente  entnommen  und  lassen 
es  deutlich  erkennen,  dass  jener  frühere  Jesuit  zu  einem  inner- 
lichen Christenthum  hindurchgedrungen  war.  Der  Uebersetzer 
Aboab  hat  eine  ziemliche  Meinung  von  sich  selbst,  und  seine 
Uebertragungen  alttestamentlicher  Stellen,  die  er  hinzufügt,  sind 
zum  Theil  wunderlicher  Art.  Dass  er  aber  eine  Schrift,  die  sehr 
ernst  auf  wahre  Busse,  wahren  Glauben  und  wahre  Heiligung 
dringt,  herausgab,  war  ein  Verdienst  desselben.  Im  Anfange  des 
Buches  theilt  er  ein  Gedicht  über  die  Bekehrung  des  Apostel 
Paulus  mit,  welches  Rev.  Sam.  Say  zur  Warnung  der  Juden  ge- 
dichtet hatte. 

Eine  edle  Proselytin  war  die  Frau  des  englischen  Consuls 
Usgate  in  St.  Jean  d'Acre  (Ptolemais),  welche  St.  Schultz  und  den 
erkrankten  Woltersdorf  Monate  lang  überaus  freundlich  in  ihrem 
Hause  beherbergte.  Dieselbe  ist  auf  dem  Berge  Karmel  getauft  wor- 
den und  hatte  zum  Dank  dafür  das  Gelübde  gethan,  alle  Jahre,  wenn 


—     427     — 

es  möglich  wäre,  einmal  ihre  Taufstätte  zu  besuchen.  Von  dem 
Heile,  welches  sie  selbst  erfahren,  legte  sie  auch  vor  anderen  Juden 
Zeugniss  ab,  und  es  gelang  ihr  z.  B.  in  jener  asiatischen  Stadt  einen 
früheren  Glaubensgenossen  für  das  Christenthum  zu  gewinnen. 
Dafür  erntete  sie  freilich  den  bitteren  Hass  der  anderen  dortigen 
Juden,  welche  selbst  die  muhammedanische  Bevölkerung  gegen 
sie  aufzuregen  suchten.  Als  sich  ihr  Gesinde  weigerte,  die  leinenen 
Lappen,  welche  auf  die  eiternden  Wunden  Wolters dorfs  gelegt 
wurden,  weiter  zu  waschen,  weil  dieselben  einen  entsetzlichen 
Geruch  verbreiteten,  that  es  diese  edle  Dame  wiederholt  selbst. 
Schultz  schreibt:  „Sie  that  das,  wovor  die  geringste  Magd  sich 
scheute".  Sie  wollte  den  Missionaren,  welche  ihrem  Volke  das 
Heil  verkündigten,  zeigen,  wie  hoch  sie  dieselben  für  diesen  ihren 
Dienst  schätze.  Nach  Woltersdorfs  Tode  sorgte  sie  dafür,  dass 
dessen  Begräbniss  recht  feierlich  gehalten  wurde,  und  dass  sein 
Grab  einen  schönen  Denkstein  erhielt. 

Trotz  der  kleinen  Zahl  von  Juden  in  England  gab  es  damals 
dort  nicht  wenige  Proselyten,  ein  Beweis  für  den  Eifer,  mit 
welchem  sich  viele  Christen  des  Landes  die  Bekehrung  der  Juden 
angelegen  sein  Hessen.  Die  Callenberg'schen  Missionare  fanden 
denn  auch  in  England  besonders  warme  Freunde,  und  die  dortige 
Gesellschaft  für  Verbreitung  christlicher  Erkenntniss  unterstützte 
Callenberg  gern.  Rev.  Dr.  Doddrige  veranlasste  eine  englische 
Uebersetzung  der  früheren  Nachrichten  des  Institutum  und  sprach 
sich  besonders  über  St.  Schultz  uneemein  lobend  aus. 


7.  Dänemark,  Schleswig  und  Holstein. 

Die  Zahl  der  Juden  blieb  auch  in  diesem  Zeitraum  in 
Dänemark  eine  geringe,  aber  an  Theilnahme  für  sie  fehlte  es  hier 
nicht,  sondern  dieselbe  gewann  in  diesem  Lande,  welches  durch 
den  Pietismus  in  wohithätiger  Weise  beeinfiusst  wurde  und  das 
nun  auch  die  Missionsinteressen  desselben  theilte,  sogar  eine 
rechte  Wärme. 

Johannes  Lundius  aus  Tondern  schrieb  „Jüdische  Heilig- 
thümer",  die  Dr.  H.  Muhlius  mit  einer  Vorrede  vom  Jahre  1701 
versehen  dann  herausgab.  Lundius  wie  Muhlius,  der  holstein'scher 
General-Superintendent  war,  waren  von  lebhafter  Sorge  für  die 
Juden,  mit  deren  Literatur  sie  sich  auch  eifrig  beschäftigten, 
erfüllt.  Doch  hat  Lundius  in  derselben  allerdings  nicht  selbständige 


-     42S     - 

Forschungen  angestellt,  sondern  überwiegend  und  mit  Fleiss  die 
Arbeiten  anderer  benutzt.  Was  aber  Lundius  zum  Studium  der 
jüdischen  Literatur  besonders  trieb,  war  das  Verlangen,  dass 
Israel  bekehrt  werden  möchte ;  seine  Vorrede  sagt  dies  ausdrücklich. 
Nach  einem  Gebete  zu  Gott,  dass  er  bald  eine  allgemeine  Be- 
kehrung Israels  zuwegebringen  und  alle  christlichen  Obrigkeiten 
regieren  möge,  sich  der  Juden  anzunehmen,  bittet  er  alle  jetzt 
lebenden  Juden  und  deren  Nachkommen,  „den  rechten  Messias 
anzunehmen,  auf  dass  endlich  mit  uns  armen  Heiden  das  ganze 
Israel  selig  werde,  um  des  alleredelsten  Juden,  unseres  Herrn 
und  Heilandes  Jesu  Christi  willen,  der  aus  den  jüdischen  Vätern 
herstammt  nach  dem  Fleisch  und  zugleich  Gott  ist  über  alles, 
hochgelobt  in  Ewigkeit". 

Die  talmudische  Literatur  fand  Bearbeiter  in  den  beiden 
W  öl  dicke  zu  Kopenhagen,  Georg  und  Markus,  welche  von  1722 
bis  1738  mehrere  Traktate  ins  Lateinische  übersetzten  und 
commentirten  und  auf  Maimonides  ihre  Studien  richteten. 

J.  W  a  n  d  a  1  i  n  u  s  in  Kopenhagen  sprach  in  einer  lateinischen  Ab- 
handlung 1 722  seine  freudige  Zuversicht  zu  einer  letzten  allgemeinen 
Bekehrung  der  Juden  aus.  Ueber  die  allgemeine  Judenbekehrung 
entstand  ein  lebhafter  Streit  zwischen  den  jütländischen  Geistlichen 
Hans  Guldager  und  Lassen  Tychonius,  von  denen  der  Letztere 
für  dieselbe  energisch  eintrat.  Peter  Wessel  Hess  1721  in 
Kopenhagen  eine  Schrift  „Geistlich  todter  Jude"  erscheinen.  Er 
besprach  in  derselben  besonders  eingehend  die  Gründe,  welche 
der  Bekehrung  der  Juden  entgegen  stünden  und  redete  den 
Christen  ernst  ins  Herz,  dass  sie  sich  die  geistliche  und  leibliche 
Versorgung  der  Prosclyten  mehr  sollten   angelegen    sein   lassen. 

Ein  Beweis  dafür,  dass  den  Juden  zu  dieser  Zeit  besondere 
Aufmerksamkeit  in  Dänemark  geschenkt  wurde,  ist  auch  des 
Freiherrn  Ludwig  Holberg  Jüdische  Geschichte  von  Erschaffung 
der  Welt  bis  auf  die  Gegenwart,  die  Georg  Aug.  Detharding 
aus  dem  Dänischen  1747  ins  Deutsche  übersetzte.  Das  Buch 
aber  enthält  nicht  bloss  die  Geschichte  der  Juden  im  engeren  Sinne, 
sondern  auch  die  ihrer  Gebräuche  und  religiösen  Ansichten;  in 
allen  seinen  Urtheilen  zeigt  es  grosse  Mässigung  und  ist  hierdurch 
ein  Beweis,  wie  weit  schon  die  Umwandlung  zum  Besseren  auch 
in  diesem  evangelischen  Lande  vorgeschritten  war. 

Eine  Verordnung  von  Friedrich  IV.  1728  bestimmte,  dass 
die  Juden  in  Kopenhagen  alle  Donnerstage    das  Waisenhaus  be- 


—     429     — 

suchen  und  eine  christliche  Predigt  daselbst  anhören  sollten.  Die 
Geistlichen  Dürkop,  Schreiber  und  Königsmann  theilten  sich 
in  diese  Predigten.  Die  Gegenvorstellungen  der  Juden  wurden 
auf  den  Betrieb  des  Schlosspredigers  Hersieb  abgewiesen,  aber 
ein  Brand  im  Waisenhause  setzte  den  Predigten  bald  ein  Ziel. 
Die  Einrichtung  derselben  wurde  dem  Einfluss  eines  Professors, 
welcher  vordem  Jude  war,  zugeschrieben.  Wer  dieser  Professor 
gewesen  ist,  wird  aber  nicht  erwähnt,  Clausberg,  der  am  Hofe 
unterrichtete,  kam  erst  1 73  3  nach  Kopenhagen.  Der  letztgenannte 
gehört  zu  den  hervorragenderen  Proselyten  der  früheren  evange- 
lischen Kirche. 

Christlieb  von  Clausberg,*)  dessen  jüdischer  Name  uns  nicht 
bekannt  ist,  wurde  1689  in  Posen  geboren.  Ueber  seine  früheren 
Verhältnisse  als  Jude  lässt  er  sich  in  seiner  Schrift  „Licht  und 
Recht  der  Kaufmannschaft"  Danzig,  1724  bis  1726,  welche  An- 
gaben über  seinen  bisherigen  Lebensgang  enthält,  nicht  aus. 
1716  finden  wir  ihn  in  Clausthal,  wo  er  von  dem  Superintendenten 
Caspar  Calvör,  welcher  17 10  den  bekannten  Juden-Katechismus 
geschrieben  hat,  unterrichtet  wurde.  Diesen  Katechismus  hat 
Calvör  der  Unterweisung  jüdischer  Katechumenen,  die  ihm  öfters 
vorkam,  zu  Grunde  gelegt,  und  auch  Clausberg  hat  aus  demselben 
die  christliche  Lehre  kennen  gelernt.  Seinen  Namen  erhielt  er 
von  der  Stadt,  in  welcher  er  1716  getauft  wurde.  1722  finden 
wir  ihn  dann  in  Danzig,  wo  er  sein  Buch  Licht  und  Recht  der 
Kaufmannschaft  erscheinen  Hess,  welches  Reduktionstabellen  der 
verschiedenen  Münzsorten,  Wechsel  und  Waarentabellen  enthält. 
Er  erhielt  sich  in  dieser  Stadt  durch  Unterrichtgeben  im  Hebräischen, 
Talmudischen,  Rabbinischen  und  der  Rechenkunst.  Seine  mathe- 
matischen Kenntnisse  halfen  ihm  hernach  auch  weiter,  und  seine 
demonstrative  Rechenkunst  erlebte  noch  44  Jahre  nach  seinem 
Tode,   1795,  eine  neue,  die  fünfte  Auflage. 

Er  kam  1733  nach  Kopenhagen,  und  sein  Rechentalent 
zog  dort  die  Aufmerksamkeit  des  Hofes  auf  sich.  Christian  VI. 
bestellte  ihn  zum  Lehrer  des  Kronprinzen  in  der  Arithmetik, 
Finanzwissenschaft  und  hebräischen  Literatur,  später  auch  zum 
Revisor  der  Königlichen  Privatkasse.  In  dieser  Stellung  erwarb 
er  sich  die  Zufriedenheit  des  Monarchen  in  solchem  Grade,  dass 
er  zum  Staatsrath,  Baron  und  Ritter  des  Danebrogordens  ernannt 

*)  Dibre  Emeth  81  S.  26  ff. 


-     43°     — 

wurde.  Dies  scheint  i/.er  erste  Fall  zu  sein,  dass  ein  evangelischer 
Proselyt  geadelt  wurde.  Nach  dem  Tode  des  Königs  aus  dem 
Dienst  entlassen,  starb  er  1 75 1  in  einem  Alter  von  62  Jahren. 
Er  hinterliess  eine  Wittwe,  die  Tochter  eines  Offiziers,  und 
mehrere  Kinder.  Die  Wittwe  heirathete  hernach  einen  Herrn 
v.  Bothmer. 

Ueber  die  Entwicklung  seines  inneren  Lebens  sprach  er  sich 
gegen  die  Halle'schen  Missionare  St.  Schultz  und  Bennewitz 
bei  ihrer  Anwesenheit  in  Kopenhagen  während  des  Jahres  1748 
in  ungemein  schöner  Weise  aus.  „Ich  bin  über  30  Jahre  (dem 
Namen  nach  ein  Christ  gewesen,  aber  ich  habe  wahrlich  nicht 
gewusst,  was  das  wahre  Christenthum  sei.  Nun  ich  aber  in 
die  Stille  komme,  lerne  ich  es  erst.  So  viel  ist  mir  gewiss:  wenn 
auch  kein  Mensch  glaubte,  dass  Jesus  der  Messias  sei,  so  glaube 
ich  es.  Allein  das  wahre  Leben  habe  ich  nicht  erfahren  gehabt, 
darin  bin  ich  jetzt  noch  ein  kleines  Kind."  Mit  besonderem 
Ernst  bekannte  er  es  auch,  dass  man  den  Proselyten  gegenüber 
meistens  zu  sorglos  sei  und  glaube,  dass  sie  keines  weiteren 
Unterrichts  bedürften,  wenn  sie  getauft  seien.  Seine  früheren 
Glaubensgenossen  blieben  ihm  stets  ein  Gegenstand  treuer  Sorge, 
und  wo  sich  die  Gelegenheit  dazu  bot,  bezeugte  er  ihnen  die 
Notwendigkeit  ihrer  Bekehrung. 

Von  dem  reichen  portugiesischen  Juden  Texeira  de  Matos, 
der  Agent  der  Königin  Christine  in  Hamburg  war,  soll  eine  christ- 
liche adlige  Familie  in  Jütland  abstammen.  Ein  Proselyt,  nur 
mit  dem  Anfangsbuchstaben  K  oder  R  bezeichnet,  der  früher  in 
Callenbergs  Druckerei  beschäftigt  war,  wird  1751  als  Katechet 
in  Kopenhagen  angeführt. 

Der  Eifer,  mit  welchem  man  sich  der  Juden  in  Kopenhagen 
annahm,  blieb  nicht  ohne  Frucht.  Obwohl  die  Zahl  der  Juden 
in  dieser  Stadt  nicht  gross  war,  wurden  doch,  wie  St.  Schultz  in 
Leitungen  1,  176  aus  dem  Jahre  1742  erzählt,  in  einigen  Jahren 
daselbst  20  Juden  getauft,  von  denen  aber  freilich  nur  wenige 
rechtes  Vertrauen  erweckten.  Im  Jahre  1750  trat  eine  Familie 
von  fünf  erwachsenen  Personen,  die  den  Namen  Neumann  an- 
nahmen, zum  Christenthum  über.  Kopenhagen  gehörte  damals 
zu  den  Städten,  in  welchen  Judentaufen  ganz  besonders  zahlreich 
stattfanden,  und  die  Halle'schen  Missionare  fanden  in  der  däni- 
schen Hauptstadt  wie  im  ganzen  Lande  für  ihr  Werk  eine 
besonders    herzliche    Theilnahme.      Das    Beispiel,    welches    der 


—     -131     — 

fromme  Hof  gab,  wirkte  hierzu  besonders  mit.  Eine  ungewöhnliche 
Langmuth  und  Liebe  legte  besonders  der  Consistorialrath  Rohn*) 
den  Proselyten  gegenüber  an  den  Tag.  Hätte  es  viele  Männer 
seiner  Art  gegeben,  dann  wäre  der  Eingang  des  Evangeliums 
unter  den  Juden  auch  stets  ein  leichterer  gewesen. 

Die  Sammlungen  zum  Bau  des  Reiches  Gottes,  Leipzig  und 
Frankfurt  vom  Jahre  1732,  berichten  über  eine  Proselyten-  und 
Exulantenanstalt  des  Pastors  an  der  Domkirche  in  Schles- 
wig, Paul  Mercatus,  dessen  Waisenanstalt  schon  mehrere 
Jahre  bestand;  an  die  letztere  schloss  dieser  Geistliche  das  neue 
Unternehmen  an.  Ein  dänischer  Rath  schenkte  ihm  zu  diesem 
Zweck  sein  an  der  Domkirche  gelegenes  geräumiges  und  sehr 
bequemes  Haus  mit  einem  Hofe.  Nachdem  ein  um  seines  Glaubens 
willen  vertriebener  Prediger  hier  ein  Asyl  gefunden,  nahm  Mercatus 
nun  auch  Juden,  die  Christen  werden  wollten,  daselbst  auf  und 
bot  ihnen  in  seiner  Anstalt  die  Gelegenheit,  sich  ihr  eigenes  Brot 
zu  erwerben.  Mercatus  Hess  dann  eine  Nachricht  von  dem,  was 
er  begonnen,  in  die  Öffentlichkeit  ergehen  und  versprach,  sein 
Unternehmen  zu  vergrössern,  wenn  ihm  die  Mittel  hierzu  gewährt 
würden.  In  einer  Fortsetzung  seines  Berichtes  aber  gab  er 
besonders  Mittheilungen  über  zwei  Proselyten,  die  durch  seine 
Anstalt  gewonnen  worden  waren  oder  dort  Aufnahme  gefunden 
hatten,  einen  ehemaligen  Rabbiner  aus  Schlesien,  mit  Namen 
Moritz  Wilhelm  Christian  Keyser  und  Friedrich  Lud.  Gotthold, 
einen  jüdischen  Handelsmann  aus  Wildungen.  Spätere  Nachrichten 
über  den  Fortgang  und  die  Schicksale  dieser  Anstalt  waren  nicht 
zu  ermitteln,  und  wir  finden  derselben  auch  später  nicht  weiter 
Erwähnung  gethan,  so  dass  wir  annehmen  müssen,  dieselbe 
sei  bald  wieder  eingegangen.  Erkundigungen  in  Schleswig  selbst 
führten  gleichfalls  zu  keinem  Ereebniss. 


8.  Die  nordischen  Länder. 

In  Schweden  und  Norwegen  durften  die  Juden  auch  während 
der  ersten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts  sich  noch  nicht  nieder- 
lassen, aber  das  Interesse  an  denselben  erlahmte  trotzdem  nicht. 
Die  rabbinischen  Studien  fanden  nach  wie  vor  in  Upsala  und 
Stockholm    eifrige   Freunde    besonders    unter    den    Professoren. 


')  Freund  Israels.     Berlin   1825,  2,   150.     Dibre  Emeth   1883  S.   1 79- 


—     432      — 

Sal.  Ibn  M e  lech  zumal  war  ihr  Lieb  ling.  Ueber  Theile  seiner  Com- 
mentare  schrieben  Joh.  Schult  in  Upsala  1708  und  in  Stockholm 
J.  Fahlander  1706,  Olav  Norberg  1708  und  N.  Brodberg 
1 7 1 1 .  Stridzberg  bearbeitete  Abarbanel,  dessen  Auslegung 
von  Jesaia  2  er  1731  in  lateinischer  Uebersetzung  und  Erklärung 
herausgab. 

Andreas  Norrelius  verlegte  sich  auf  die  jüdische  Geheim- 
lehre und  Hess  1720  in  Amsterdam  den  Phosphorus  orthodoxae 
fidei  veterum  cabbalistarum  erscheinen,  in  welcher  Schrift  er 
sowohl  die  Gedanken  des  Proselyten  Joh.  Kemper  als  auch 
seine  eigenen  Ansichten  über  das  Geheimniss  der  Dreieinigkeit 
und  der  Gottmenschheit  des  Messias  im  Sohar  niederlegte. 
Beide  waren  fest  überzeugt,  im  Sohar  die  christliche  Lehre  fast 
völlig  wieder  zu  finden,  und  Norrelius  wollte  darum,  dass  seine 
Schrift  als  Missionsschrift  zur  Bekehrung  der  Juden  verwandt  würde. 

Da  es  einer  besonderen  Erlaubniss  für  die  Juden,  die 
Christen  werden  wollten,  bedurfte,  um  Aufnahme  in  Schweden 
zu  finden ,  so  konnte  die  Zahl  der  Proselyten  daselbst  keine 
grosse  sein.  Wir  nennen  von  solchen  Simon  Rosenbohm,*) 
der  früher  Rabbi  unter  den  Seinigen  war  und  sich  dann  um 
1720  als  Lehrer  des  Hebräischen  auf  der  Universität  Upsala 
aufhielt.  Bei  der  Krönung  König  Friedrichs  hielt  er  öffentlich 
eine  rabbinische  Rede,  und  eine  andere  ebensolche  bei  Gelegen- 
heit des  Friedensschlusses  zwischen  den  Königen  von  England, 
Dänemark  und  Preussen. 

Eine  längere  Reihe  von  Jahren  hindurch  war  auch  Christian 
Peter  Löwe  oder  Lebh,**)  Docent  der  orientalischen  Sprachen 
an  der  Universität  Upsala.  Er  unterrichtete  viele  Studenten  in 
diesem  Fache.  Später  wollte  er  in  schwedischer  Sprache  einen 
„Spiegel  der  jüdischen  Religion"  herausgeben,  der,  nach  dem 
vorliegenden  Plane,  in  58  Kapiteln  die  Gebräuche  der  Juden 
jener  Zeit  schildern  sollte.  Ob  das  Buch,  dessen  Erscheinen  da- 
mals die  gelehrten  Zeitungen  vorbereiteten,  wirklich  herausge- 
kommen ist,  war  nicht  zu  ermitteln.  Die  Absicht  von  Löwe  war, 
durch  dieses  Buch  die  Christen  mit  dem  Judenthum  bekannt  zu 
machen,    und   den  Juden    den  Beweis  zu  führen,    das  Jesus    der 


*;•  Wolf  B.  H.  3  N.  2138  c. 
**)  Wolf  B.  H.  4  N.   1897  g. 


—     433     — 

Messias  sei ,  nebst  den  Gründen ,  aus  denen  sie  sich  an  Jesu 
ärgerten. 

Schweden  fehlte  auch  unter  den  Ländern  nicht,  welche  das 
Callenberg'sche  Unternehmen  mit  Freuden  begrüssten  und  dasselbe 
beförderten. 

In  Kurland,  das  den  Juden  die  Thorc  noch  nicht  geöffnet 
hatte,  bestritt  Superintendent  D.  Wölfer  1745  die  Lehre  von 
der  allgemeinen  Bekehrung  der  Juden  am  Ende  der  Zeiten  gegen 
einen  anderen  Geistlichen  des  Landes,  Hesseiberg,  welcher 
dieselbe  in  einer  besonderen  Schrift  vertheidigt  hatte.  Unter  den 
Geistlichen  aber  gab  es  manche,  die  ein  Herz  flir  die  Juden 
hatten,  und  so  kam  es,  dass,  obwohl  im  Herzogthum  Juden 
nicht  wohnen  durften,  man  daselbst  wiederholt  solche  und  be- 
sonders aus  Polen,  die  ein  Verlangen  nach  der  Taufe  äusserten, 
aufnahm.  Alexander  Gräve,  Superintendent  des  Herzogthums, 
Consistorialrath  und  Oberpre-diger  in  Mitau  z.  B.,  der  1 746  starb, 
hat  nicht  weniger  als  18  Juden  getauft. 

9.  Nord-Amerika. 

In  den  britischen  und  holländischen  Besitzungen  Nord-  und 
Süd- Amerikas,  auf  dem  Festlande  wie  auf  den  Inseln  wohnten, 
wenngleich  nicht  viele  Juden,  in  Nord-Amerika  besonders  war 
ihre  Zahl  keine  grosse. 

Der  geistliche  Einfluss  Englands  war  in  Nord-Amerika  immer 
deutlich  zu  verspüren,  und  von  dort  her  wurde  auch  manches 
evangelische  Gemüth  für  die  Juden  erwärmt.  Dass  man  in  den 
ernsteren  Kreisen  Nord-Amerikas  in  dieser  Zeit  ein  Herz  für  die 
Juden  hatte,  tritt  besonders  bei  Gelegenheit  der  ersten  Taufe, 
welche  man  von  dorther  zu  melden  weiss,  an  den  Tag.  Der 
Täufling  hiess  Rabbi  Juda  Monis  in  Boston.*)  Rev.  Benjamin 
C ollmann,  welcher  denselben  taufte,  bezeugt,  dass  man  in 
Amerika  oft  um  die  Erleuchtung  der  Juden  bete,  und  dass  Gott 
wohl  mit  denselben  grosse  Absichten  vorhaben  möge.  Mit 
heiliger  Ungeduld  und  grossem  Verlangen  hofften  sie  auf  die 
täglich  erbetene  Rettung  Israels.    Die  Juden  werden  der  Christen- 


*)  Geschichte  der  Juden  von  Hannah  Adams  in  Boston,  2,  243  ff.  Jewish 
Expositor  von  1821  S.  41.  81.  125.  165.  245.  285.  325  fl*.  Dibre  Emeth  1880 
S.   154.   192   ff. 

J.  F.  A.  d  e    1  e    R  o  i,   Missionsbeziehungen.  28 


—     434     — 

heit  einst  das  Leben  aus  den  Todten  bringen;  was  sie  jetzt 
noch  hindere,  sei,  dass  ihnen  die  Decke  über  dem  Alten 
Testamente  liege. 

Was  Monis  selbst  betrifft,  so  war  er  vorher  ein  Rabbi  ge- 
wesen, in  Algier  geboren  und  in  Italien  erzogen.  Nach  seiner 
Taufe  erhielt  er  das  Amt  eines  hebräischen  Lehrers  am  Harvard 
Collegium  im  amerikanischen  Cambridge.  1761  legte  er  nach 
dem  Tode  seiner  Frau  dieses  Amt  nieder  und  starb  1764  in 
einem  Alter  von  81  Jahren.  Er  war  ein  tüchtiger  Hebräer  und 
auch  in  anderen  Wissenschaften  wohl  bewandert.  Bei  seinem 
Tode  hinterliess  er  ausser  dem  Erbe  für  seine  Frau  5  bis  600 
Dollars  zur  Unterstützung  von  Wittwen  armer  Geistlichen.  Die 
Lauterkeit  seiner  Bekehrung  und  sein  tadelloser  Wandel  werden 
besonders  hervorgehoben. 

Bei  seiner  Taufe  richtete  er  an  seine  früheren  Glaubens- 
genossen eine  Reihe  von  Abhandlungen,  die  den  Titel  „The 
Truth,  The  whole  Truth,  Nothing  but  the  Truth"  trugen.  In 
diesen  Schriften,  welche  also  die  Wahrheit,  die  ganze  Wahrheit 
und  nichts  als  die  Wahrheit  bezeugen  sollten,  stellte  er  9  Gründe 
auf,  mit  denen  die  Rabbinen  die  Ankunft  des  Messias  bestreiten. 
Auf  dieselben  antwortete  er  nicht  allein  mit  christlichen  Gründen, 
sondern  auch  mit  solchen,  die  er  rabbinischen  Schriften  entnahm. 
Der  Anhang  enthält  sein  Glaubensbekenntniss.  Increase  Mather 
hat  das  Ganze  mit  einer  Vorrede  versehen. 

In  der  Zueignung  an  seine  Brüder  nach  dem  Fleisch  spricht 
Monis  die  Hoffnung  aus,  sie  würden  ihn  trotz  seines  Uebertrittes 
nicht  hassen,  sondern  bereit  sein,  aufmerksam  seine  Ausführungen 
zu  prüfen.  Er  habe  im  Alten  Testamente  das  ganze  Leben  und 
Wesen  Jesu  Christi  beschrieben  gefunden.  Die  christliche,  die 
protestantische  Religion  wenigstens  stütze  sich  völlig  auf  die 
Schrift  und  sei  frei  von  Aberglauben;  auch  die  Lehre  von  der 
Dreieinigkeit  sei  dem  Alten  Testamente  gemäss.  Was  für  Mosen 
spreche,  spreche  auch  für  Christum.  Aber  auch  viele  ältere 
Rabbinen  hätten  das  Alte  Testament  so  ausgelegt,  wie  es  christ- 
licherseits  geschehen. 

Danach  geht  er  zur  Abhandlung  über.  Er  führt  aus: 
Jedes  Ding,  das  Bestand  haben  soll,  muss  ein  sicheres  Fundament 
haben.  Die  Kirche  Gottes  hat  Jesum  Christum  zum  Fundament, 
und  dasselbe  hat  sich  bisher  bewährt,  es  werde  sich  aber  auch 
weiter  bewähren.     Früher  hat  die  Kirche  Gottes  an  sein  Kommen 


—     435     — 

hottend  geglaubt,  jetzt  glaubt  sie  an  sein  bereits  erfolgtes  Kommen. 
Die  Juden  behaupten ,  der  Messias  solle  noch  erst  erscheinen. 
Aber  der  Kirche  ist  es  mit  ihrem  Glauben  gelungen,  die  Juden 
dagegen  sind  mit  ihrer  Leugnung  Jesu  Christi  als  religiöse  und 
politische  Gemeinschaft  gesunken;  sie  werden  auch  nicht  eher 
wieder  eine  geistlich  und  leiblich  blühende  Nation  werden,  als 
bis  sie  sich  zu  Christo  bekehren.  Dies  haben  die  Propheten  bereits 
vorausgesagt.  So  Hosea  3,  4.  5.  Die  Juden  sind  nun  schon  so 
viele  Jahrhunderte  alles  dessen  beraubt,  was  nach  dem  Zeugnisse 
Hoseas  ihnen  genommen  werden  sollte,  und  sind  in  den  von 
diesem  Propheten  ihnen  angedrohten  Zustand  gerathen.  Daher 
glaube  er  aber  auch  an  die  Erfüllung  der  eben  daselbst  ausge- 
sprochenen Verheissung,  dass  sie  ihren  König  suchen  und  ihn 
anschauen  würden,  den  sie  durchbohrt  haben. 

Monis  geht  dann  auf  die  jüdischen  Einwürfe  gegen  die  bereits 
erfolgte  Ankunft  des  Messias  ein,  die  er  eben  sowohl  mit  Gründen 
der  Schrift  als  der  jüdischen  Literatur  widerlegt. 

In  der  2.  Abhandlung  The  whole  Truth  bespricht  er  die 
Gründe,  welche  die  Juden  von  der  Person  Jesu  Christi  fern  halten, 
worauf  er  dann  die  Bibel  und  die  jüdischen  Schriften  den  Beweis 
für  die  Gottheit  des  Messias  liefern  lässt. 

In  der  3.  Abtheilung  Nothing  but  the  Truth  führt  Monis 
aus,  dass  die  Lehre  von  der  Dreieinigkeit  im  Alten  Testamente 
und  in  der  kabbalistischen  Literatur  der  Juden  ebenfalls  enthalten 
und  keine  Neuerung  der  Christen  sei.  In  der  kabbalistischen 
Literatur  war  Monis  offenbar  sehr  bewandert  und  dieselbe  hat 
auch  für  ihn  einen  grossen  Reiz  gehabt. 

Später  gab  Monis  eine  hebräische  Grammatik  heraus.  Seine 
Aeusserungen  machen  den  Eindruck  eines  durchaus  aufrichtigen 
und  nachdenkenden  Mannes. 

In  Surinam  liess  es  sich  die  Brüdergemeine  angelegen  sein 
den  dortigen  Juden  das  Evangelium  nahe  zu  bringen,  und  nach 
ihren  Berichten  hat  sie  hiebei  willige  Hörer  gefunden.  In  Nord- 
Amerika  aber  und  in  den  Colonien  Süd-Amerikas  erbat  man  sich 
wiederholt  Schriften  des  Halle'schen  Institutum,  und  wurden  solche 
auch  öfters  dahin  gesandt.  In  der  Unterstützung  des  Institutum 
vereinigten  sich  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  hauptsächlichsten 
evangelischen  Kirchen  jener  Zeit  zu  einem  gemeinsamen  evange- 
lischen Judenmissionswerke. 


—     4$6     — 

10.  Gesammt-Ergebniss  der  älteren  Periode. 

In  dem  ganzen  Zeitraum  bis  zur  Mitte  des  18.  Jahrhunderts 
stand  es  bei  den  evangelischen  Völkern  ebenso  unbedingt  wie  den 
römisch-  und  griechisch-katholischen  fest,  dass  ihre  Zugehörigkeit 
zur  christlichen  Kirche  und  ihr  christlicher  Volkscharakter  auch 
ihr  gesammtes  Verhältniss  zu  den  Juden  in  ihrer  Mitte  entscheidend 
zu  bestimmen  hätten.  Damit  hatte  dieses  Verhältniss  aber  eine 
klare  und  sichere  Grundlage ,  die  auch  allen  Anspruch  auf  Halt- 
barkeit besass,  wenn  man  sich  dessen  nur  recht  bewusst  wurde, 
welche  Aufgaben  und  Forderungen  das  Wesen  einer  christlichen 
Volksgemeinschaft  mit  sich  bringe.  Hierüber  nun  fand  ein  Ringen 
in  dem  ganzen  Zeiträume  der  ersten  2V2  Jahrhunderte  innerhalb 
der  protestantischen  Welt  statt. 

Es  ist  dabei  aber  vor  allem  die  bedeutsame  Thatsache 
geltend  zu  machen,  dass  die  evangelische  Kirche  schon  in  ihren 
allerersten  Anfängen  die  Sorge  für  die  Juden  empfand,  und  dass 
in  ihrem  Bewusstsein  der  Gedanke  an  eine  Missionsaufgabe  an 
denselben  von  Anbeginn  erwachte. 

Nach  der  Zeit  ihres  ersten  Werdens  beschäftigt  man  sich 
alsdann  eingehend  in  der  evangelischen  Kirche  mit  den  Juden 
und  zwar  zunächst  vorherrschend  von  dem  Gesichtspunkte  geleitet, 
wie  stark  die  eigene  evangelische  Sache  und  wie  schwach  die 
der  Juden  sei.  Man  gewinnt  aber  nach  und  nach  eine  immer 
innerlichere  Stellung  zu  den  Juden  und  sucht  nun  vielfach  mit 
herzlichem  Verlangen  ihr  Heil. 

Den  ganzen  früheren  Zeitraum  hindurch  wird  jedesfalls  die 
Judenfrage  als  eine  Frage,  die  einen  religösen  Inhalt  habe  und 
religiöse  Forderungen  stelle,  empfunden,  und  deren  Lösung  be- 
schäftigt stets  wachsende  Kreise  der  evangelischen  Christenheit. 
Die  römisch-  und  griechisch-katholischen  Völker,  welche  doch 
den  grössten  Theil  der  Juden  unter  sich  wohnen  hatten,  sind 
auch  nicht  entfernt  so  tief  von  dem  Gedanken  bewegt  worden, 
was  sie  zu  thun  hätten,  damit  sie  sich  an  den  Juden  als  christ- 
liche Völker  beweisen  möchten.  Das  Inschrankenhalten  der  Juden 
durch  äussere  Mittel  und  das  Gehenlassen  derselben,  so  weit  es 
das  religiöse  Verhältniss  betraf,  waren  dort  offenbar  die  haupt- 
sächlichsten und  die  leitenden  Grundsätze. 

Die  evangelische  Christenheit  dagegen  hat  in  ihren  wichtigtsen 
Gliedern  wenigstens  von  Anfang  an  das  Gefühl  gehabt,  dass  ihr 


—     437     — 

Verhältniss  zu  den  Juden  einen  positiven  Inhalt  haben  müsse. 
Thatsächlich  haben  auch  überall  in  ihr,  wo  eine  lebhaftere  Be- 
rührung mit  den  Juden  stattfand ,  die  verschiedensten  Kreise 
wenngleich  in  verschiedenem  Grade  und  in  sehr  verschiedener 
Weise,  die  Nothwcndigkeit  empfunden,  für  das  Beste  der  Juden 
zu  wirken.  Es  brachte  der  evangelischen  Welt  nun  doch  einen 
Vortheil,  dass  hier  die  Kirche  nicht  allein  die  christlichen  Aufgaben 
zu  bestimmen  und  nicht  sie  allein  anzugeben  hatte,  wie  dieselben 
erfüllt  werden  müssten,  sondern  ihre  einzelnen  Glieder  sowohl  in 
der  bürgerlichen  als  in  der  religiösen  Gemeinschaft  eine  ihnen 
selbständig  zukommende  christliche  Pflicht  kannten.  Viele  Fürsten 
und  Obrigkeiten  in  grossen  wie  in  kleineren  Gemeinwesen 
wussten  daher  auch  von  einer  heiligen  Verantwortung,  die  sie  in 
ihrem  Amte  und  in  ihrer  Aufgabe  den  Juden  gegenüber  hätten, 
und  unter  den  Theologen  empfand  man  dies  in  noch  höherem  Grade. 

Der  Schäden,  an  welchen  das  ganze  Verhältniss  zu  den 
Juden  in  der  bisherigen  Zeit  litt,  wurde  man  sich  unter  den 
Evangelischen  mit  grösserem  Gerechtigkeitsgefühle  bewusst,  und 
dies  sowohl,  wenn  man  die  religiöse,  als  wenn  man  die  bürger- 
liche Seite  desselben  ins  Auge  fasste.  Es  gibt  denn  auch  keinen 
Punkt  desselben,  an  dem  nicht  das  Richtige  des  Oefteren  klar 
und  schön  bezeugt  worden  wäre. 

Die  Wirkung  dessen  blieb  nicht  aus,  sondern  das  Zeugniss 
der  Wahrheit  übte  auch  seine  Macht  hin  und  her.  Zunächst  half 
es  die  eigene  Stellung  der  Juden  wenigstens  in  der  Mitte  und 
im  Westen  Europas  erschüttern,  und  dieser  negative  Erfolg  ist 
ein  überaus  bedeutsamer  ;  denn  er  sollte  einer  besseren  Zukunft 
die  Wege  bahnen.  Das  war,  wenn  die  Gesammtheit  der  Juden 
ins  Auge  gefasst  wird,  die  nächste  Frucht  der  Thätigkcit,  welche 
evangelischerseits  unter  den  Juden  entfaltet  wurde. 

Aber  freilich  lag  in  der  Art,  wie  nun  die  evangelische  Welt 
an  die  Judenfrage  herantrat,  noch  so  manches,  was  ihre  eigene 
Wirksamkeit  und  ihre  Kraft  auf  diesem  Gebiete  auch  lähmte. 
Man  erhob  sich  vor  allem  zu  keinem  Gesammtwirken  und  zu 
keinem  rechten  Aufnehmen  des  hier  gebotenen  Werkes  durch  die 
eigentlich  dazu  verpflichteten  grossen  Gemeinschaften. 

Allerdings  wurden  viele  einzelne  Stimmen,  welche  auf  die 
nothwendig  zu  gehenden  Wege  hinwiesen,  laut,  viele  einzelne 
Bemühungen  geschahen ,  um  etwas  Gesundes  zu  Stande  zu 
bringen,    viele   Samenkörner   wurden    ausgestreut,    die    allmählig 


-     43*     - 

auch  aufgingen.  Die  innere  Stellung  zu  den  Juden  wandelte 
sich  darüber  wahrend  der  ersten  2  l/a  Jahrhunderte  zu  den  Juden 
sichtlich,  und  die  evangelische  Christenheit  becinflusste,  obwohl 
man  sich  gegenseitig  dessen  nicht  immer  so  klar  bewusst  wurde, 
auch  die  katholische  in  diesem  Punkte.  Der  Fortschritt  ist  ein 
ganz  unverkennbarer.  Und  diese  innere  Wandlung  geschah  inner- 
halb der  evangelischen  Welt  allein  dadurch,  dass  man  in  ihr  das 
Schriftwort  die  Macht  sein  lassen  wollte,  der  man  auch  den 
Juden  gegenüber  Gehorsam  leisten  müsse.  Eben  desshalb  kam 
man  hier  in  christlicher  Weise  vorwärts.  Wiewohl  sich  nicht  zu 
einem  gemeinsamen  Werke  zusammenschliessend,  fühlten  sich 
doch  die  Theologen,  die  Männer  der  Wissenschaft,  die  einzelnen 
Kirchgemeinden,  die  weltlichen  Machthaber,  ja  auch  die  einzelnen 
politischen  Gemeinden  zumeist  gedrungen,  eine  Aufgabe  an  den 
Juden,  soweit  sie  dieselbe  verstanden  und  sie  in  ihren  Bereich  zu 
fallen  schien,  auszurichten.  Der  deutsche  Pietismus  besonders 
und  seine  Geistesverwandten  in  anderen  Ländern  aber  verbreiteten 
das  Bewusstsein,  dass  eine  positive  christliche  Pflicht  an  den 
Juden  zu  erfüllen  sei,  auch  in  weitere  Kreise  des  evangelischen 
Volkes  hinein. 

Aber  alles  dies  geschah  nun  eben  doch  viel  zu  vereinzelt 
und  viel  zu  wenig  zusammenhängend,  viel  zu  sehr  als  eine 
jeweilige  da  und  dort  auftauchende  und  nicht  als  ein  beständig 
in  gleicher  Weise  zu  erfüllende  Aufgabe.  Die  Stärke  wie  die 
Schwäche  des  Protestantismus  trat  auch  auf  diesem  Gebiete  zu 
Tage.  Vielen  Eifer  und  Ernst  erblicken  wir  bei  einzelnen 
Personen,  aber  einer  ruhig  und  stetig  fortschreitenden  Arbeit,  die 
von  der  evangelischen  Gesammtheit  getragen  worden  wäre,  be- 
gegnen wir  nicht. 

Das  Gewissen  erwachte,  besonders  seitdem  der  Pietismus 
in  Deutschland  und  seine  Geistesgenossen  unter  anderen  Völkern 
ihren  Einfluss  in  der  evangelischen  Welt  geltend  machten,  in 
vielen  Personen  den  Juden  gegenüber;  und  es  kam  nur  darauf 
an,  dass  die  aufspriessenden  Keime  auch  recht  erwuchsen  und 
erstarkten;  aber  die  Gefahr,  dass  alles  zu  persönlich  blieb,  lag 
überall  nahe.  Der  Pietismus,  dem  es  am  meisten  gelang,  die 
Juden  ihrer  Umgebung  zu  einem  Gegenstande  ernsterer  Herzens- 
sorge zu  machen,  behielt  seine  Kraft  nun  doch  allein  in  der 
persönlichen  Anregung  einzelner  Personen  oder  kleiner  Kreise. 
Er  hat   nie  Kraft    genug  gezeigt,    die   bestehenden  grossen  Ge- 


—     439       — 

mcinschaften  des  kirchlichen  wie  cles  bürgerlichen  Lebens  zu 
einer  Erfüllung  ihres  christlichen  Berufes  aufzurütteln  oder  zu 
befähigen.  Er  beschränkte  sich  darauf,  den  Leitern  dieser  Ge- 
meinschaften sein  Zeugniss  entgegenzuhalten,  schreckte  aber  davor 
zurück,  sie  selbst  in  ihren  Bahnen  vorwärts  zu  führen.  Der 
Pietismus  trug  in  sich  selbst  nicht  die  Zuversicht  und  das  Ver- 
mögen, wegeweisend  und  wegebahnend  an  die  Spitze  der  Kirche 
und  des  evangelischen  Volks  zu  treten ,  sondern  nur  kleinere 
Kreise  des  Gemeinschaftslebens  hoffte  er  tiefer  bestimmen  zu 
können. 

Darum  war  es  nöthig,  dass  der  Pietismus  von  einer  anderen 
religiösen  Strömung  abgelöst  würde,  welche  mit  der  persönlichen 
Gewissenhaftigkeit  und  der  Sorge  für  das  Gedeihen  einzelner 
auch  den  Muth,  die  Zuversicht  und  die  Kraft  verbände,  das  all- 
gemeinere Leben  mit  reicherem  Inhalte  zu  durchdringen  und  mit 
grösserer  Stärke  auszurüsten.  Sollte  insbesondere  die  evangelische 
Christenheit  an  den  Juden  eine  höhere  Macht  beweisen ,  dann 
war  es  noth,  dass  noch  manches  ernstlich  in  Angriff  genommen 
wurde,  woran  man  bis  dahin  höchstens  in  schwächlichen  Versuchen 
getreten  war. 

Freilich  war  es  ein  Fortschritt,  dass  man  im  18.  Jahrhundert 
allmählig  dahingekommen  war,  den  Juden  das  Zeugniss  des 
Evangeliums  auf  eine  praktische  Weise  nahe  zu  bringen.  Aber 
es  war  schon  ein  Mangel,  dass  dies  ganz  überwiegend  eine  blosse 
Privatthätigkeit  blieb,  und  die  Kirche  sich  nicht  dazu  aufraffte, 
selbst  ihren  Zeugenberuf  an  den  Juden  auszurichten.  Manche  welt- 
liche Obrigkeit  hat  in  diesem  Punkte  die  Kirche  beschämt;  denn 
mögen  sie  es  mit  ihren  Judenpredigten  noch  so  verkehrt  ange- 
fangen haben,  so  war  es  doch  ein  grosses  Ding,  dass  sie  ihr 
Amt  als  christliche  Obrigkeit  so  hoch  auffassten.  Weder  die 
erste  Reformationszeit,  noch  die  Orthodoxie  noch  der  Pietismus 
haben  die  Kirche  hier  zur  rechten  Erfüllung  ihrer  Aufgabe  geführt. 

Und  dazu  konnte  man  mit  den  Juden  nicht  weiter  kommen, 
wenn  man  sie  in  den  traurigen  bürgerlichen  Verhältnissen  Hess, 
welche  an  ihrem  Marke  zehrfen.  Gewiss  war  es  ein  schwerer, 
verhängnissvoller  und  für  alle  Theile  gleich  verderblicher  Irrthum 
der  Folgezeit,  es  zu  vergessen,  dass  auch  die  bürgerliche  Gemein- 
schaft und  die  Völker  christliche  Aufgaben  zu  erfüllen  haben,  so 
dass  eben  desshalb  die  Juden  nicht  in  derselben  Weise,  wie  die 
Christen,  als  Glieder  dem  bürgerlichen  Gemeindewesen  eingefügt 


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werden  können  ;  aber  ebenso  gewiss  war  es  für  die  evangelische 
Christenheit  eine  Nothwendigkeit,  sich  eine  völlige  Umgestaltung 
des  verkümmerten  socialen  Lebens  der  Juden  angelegen  sein  zu 
lassen.  Hierin  ist  jedoch  in  unserem  Zeitraum  sehr  viel  weniger 
als  auf  dem  Gebiete  des  Zeugnisses  an  die  Juden  geschehen  und 
blieb  fast  alles  noch  zu  thun,  ja,  an  dieser  Stelle  zeigte  sich  die 
Klippe,  an  welcher  das  Werk  der  früheren  Zeic  immer  wieder  zu 
scheitern  drohte. 

Ungerecht  wäre  es  jedoch,  wenn  man  nicht  anerkennen 
wollte,  dass  von  Anfang  an  in  der  evangelischen  Kirche  gerade 
von  ihren  hervorragendsten  geistlichen  Führern  mit  allem  Nach- 
druck die  Forderung  erhoben  worden  ist,  dass  man  zur  Abstellung 
dieses  Schadens  schreite.  Was  die  Folgezeit  in  dieser  Beziehung 
Gutes  geleistet  hat,  ist  die  Frucht  des  unermüdlichen  Zeugnisses 
jener  Männer.  Entwickelten  sich  also  die  evangelische  Kirche 
und  die  evangelischen  Völker  nur  weiter  nach  dem,  was  die 
gesunden  Grundsätze  in  ihnen  waren,  dann  gelangten  beide  auch 
mit  den  Juden  zu  einem  besseren  Ergebniss,  und  dann  gestaltete 
sich  das  Zusammenleben  mit  denselben  in  der  rechten  Weise. 
Ein  Bruch  mit  den  evangelischen  Grundsätzen  war  das  schlechteste, 
was  geschehen  konnte.  Nothwendig  war  vielmehr  eine  Ueber- 
windung  dessen,  was  noch  unevangelisch  war,  von  innen  heraus 
und  ein  Erstarken  der  eigenen  Principien,  damit  sich  die  christ- 
lichen Lebenskräfte  in  dieser  Kirche  und  ihren  Völkern  weiter 
entfalteten,  und  dies  auch  zum  Heile  der  Juden. 

Aber  es  sollte  anders  kommen,  und  die  Erkenntniss  dessen, 
was  hier  noth  thäte,  erst,  nachdem  viele  falsche  Wege  ein- 
geschlagen waren,  in  den  Gemüthern  zu  erwachen  beginnen. 

Zugleich  jedoch  hat  die  Geschichte  gelehrt,  dass,  wenn 
überhaupt  die  christlichen  Völker  es  lernen  sollen,  die  rechte 
Stellung  zu  den  Juden  zu  finden,  dies  nur  vom  evangelischen 
Boden  aus  geschehen  kann,  das  römische  und  griechische  Christen- 
thum  dagegen  sie  hierzu  nicht  führen  werden. 


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