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Full text of "Die Fackel"

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oppel-Hmnmer  (Preis  60  hgiibo 

Nr.  270—271.      19.  Jänner  1909  X.  Jahr 


Die  Fackel 

Herausgeber: 

KARL  KRAUS 


INHALT: 

Grimassen  über  Kultur  und  Bühne.  Von  Karl 
Kraus.  —  Schlafwandler.  Von  August  Strind- 
berg.  —  Tagebuch.  Von  Karl  Kraus.  —  Weih- 
nacht. —  Glossen.  Von  Karl  Kraus.  —  Der  Fall 
des  Max  E.  Von  Otto  Soyka.  Erdbeben.  Von 

Karl   Kraus.  —  Vita  nuova.  Von  Oskar  Wilde. 


Erscheint  in   zwangloser   Folge. 


Nachdruck  und  gewerbsmäßiges  Verleihen  verböte« ;  gerichtliche 
Verfolgung  vorbehalten. 


WIEN. 

t/Arider     nie    ffnr»  wm  <   m     »««— » *»  _.. .  ...» ..  ....      .»  .    — , 


In  zweiter  Auflage  erschienen: 


Sittlichkeit  m  Kriminalität 

I.  Band  der  Ausgewählten  Schriften 

von 

KRRL  KRRÜS 

Broschiert K  7.20  =  Mk.  6.— 

Ganzleinen „   0.70  =     „     7.25 

Bestellungen  auf  das  im  Verlag  der  Buchhandlung 
L.  Rosner,  Wien  und  Leipzig,  erschienene  Werk  nimmt 
jede  Buchhandlung,  sowie  der  Verlag  der  »Fackel*, 
::   Wien,  III  2.  Hintere  Zollamtsstraße  3,  entgegen.  :: 

Demnächst  erscheint  im  unterzeichneten  Verlag: 

Die  weltlichen  Gesänge  des 
PfanzelterGidi  von  Polykarpszell 

-:-      Herausgegti  -:- 

GEORG    QUER  X. 

Mit  Umschlagszeichnung  von  Karl  Arnold  (München). 


Zu  beziehen  durch  jede  bessere  Buchhandlung. 

»reis   Mk.   1.50  Verlagsgesellschaft  München 

leg.  kartonniert.  c-  m  b-  H- 

München,   Franz    Josefstraße    Nr.    9/ 


• 


Die  Fackel 

NR.  270-71  19.  JÄNNER  1909  X  JAHR 


Grimassen  über  Kultur  und  Bühne. 

Bin  Feuilleton-Korrespondent,  einer  von  jenen, 
die  mit  einer  schweißigen  Beobachtungsgabe  aus 
dritter  Hand  unser  Geistesleben  im  Ausland  reprä- 
sentieren, beklagt  in  einer  Münchner  Zeitung  den 
Wiener  Komödiantenkultus.  Nichts  Neues  habe  ich 
zu  solcher  Armseligkeit  zu  bemerken.  Es  gibt  Wahr- 
heiten, durch  deren  Entdeckung  man  noch  immer 
nicht  mehr  beweisen  muß,  als  daß  man  keinen  Geist 
hat.  »Wohl  dem  Manne«,  ruft  er,  »der  (in  Wien) 
Schauspieler-Histörchen  zu  erzählen  weiß !  Er  wird 
rasch  gesellschaftlich  beliebt;  kennt  er  aber  sogar 
einen  der  Lieblinge  persönlich,  dann  wird  es  ihm  an 
Einladungen  nie  fehlen,  und  die  Huld  schöner  Frauen 
ist  ihm  sicher«.  Das  wäre  also  ein  ausgeleiertes  Ge- 
dankenwerkel,  wenn  nicht  die  immerhin  neue  Auf- 
fassung mitspielte,  wie  man  in  Wien  die  Huld  schöner 
Frauen  erringt.  Doch  läßt  sich  über  subjektive  Vor- 
urteile nicht  streiten,  und  die  Wahrheit,  daß  die  ver- 
hätschelten Schauspieler  »in  den  Grössenwahn  hinein- 
getrieben werden«,  ist  unbestreitbar.  Bemerkenswert 
ist  lediglich  die  Wahl  des  Beispiels,  an  dem  die  Er- 
kenntnis demonstriert  wird. 

Welcher  Wiener  Komödiantentypus  wäre  wohl 
so  recht  bezeichnend  für  das  übel,  auf  das  unsere 
Sozialkritiker  ihr  schärfstes  Auge  haben  ?  Ich  denke, 
es  müßte  einer  sein,  dessen  Popularität  ein  Maß  für 
den  kulturellen  Tiefstand  der  Gesellschaft  wäre,  die 
ihm  übertriebene  Ehren  erweist,  und  Kunst  und 
Begeisterung  müßten  zu  einem  Gesamtbilde  des 
Ekels  verschmelzen,  das  uns,  wie  aus  dem  Schaufenster 


jeder  Ansichtskartenhandlung,  in  höchster  Vollkom- 
menheit noeh  angrinste,  wenn  man  einen  Querschnitt 
durch  die  soziale  Struktur  machen  könnte.  Wir  for- 
men den  Ausdruck  unseres  kulturellen  Bewußstseins, 
und  wir  haben  den  Schauspieler,  den  wir  lieben. 
Besehen  wir  die  Figur,  die  beim  Bleigießen  unserer 
Lebenswünsche  zustande  kam.  Bei  Gott,  wenn  sie 
nicht  einem  Handlungsreisenden  gleicht,  dann  gleicht 
sie  dem  Schauspieler,  dem  Dichter,  dem  Advokaten, 
dem  Komponisten,  dem  Zeichner,  den  wir  lieben. 
Aber  es  stellt  sich  heraus,  daß  sie  alle,  alle  dem  Hand- 
lungsreisenden gleichen.  In  Manufaktur  oder  Litera- 
tur, in  Juristerei  oder  Musik,  in  der  Medizin  oder  auf 
der  Bühne  —  immer  ist  es  der  sieghafte  Überkom- 
mis,  der  den  »Platz«  beherrscht.  An  dem  unermeß- 
lichen Wandel  der  Vorstellung  etwa,  die  einst  mit  dem 
Namen  Siegfried  verknüpft  war,  mag  man  die  Über- 
legenheit seines  heutigen  Trägers  erkennen.  Seine 
Haut  hat  auch  nicht  eine  Stelle,  die  nicht  hörnen 
wäre,  und  den  Weg  zum  goldenen  Hort  kennt  er 
besser  als  der  andere,  denn  seine  Platzkenntnis  ist 
verblüffend.  Mühelos  hat  er  sogar  den  deutschen  Leut- 
nant verdrängt,  der  nach  Sedan  schlecht  und  recht 
den  heroischen  Ansprüchen  des  Publikums  genügte, 
bis  er  in  die  Karikatur  entartete,  und  es  ist  eine  über- 
holte Anschauung,  die  das  deutsche  Leben  heute  noch 
vom  zweifarbigen  Tuch  verhängt  glaubt.  Nicht  die  es 
tragen,  sondern  die  in  dem  Artikel  reisen,  sind  nunmehr 
die  Repräsentanten  des  Welt  Warenhauses  unserer  Kul- 
tur. Der  Offizier  und  der  Beamte  freilich  haben  noch 
etwas  vorgestellt;  der  Kommis  und  der  Redakteur 
empfehlen  bloß.  Gehört  ihnen  aber  die  Welt,  so  will 
es  mich  bedünken,  daß  ihnen  auch  die  Bühne  zu 
gehören  habe.  Wie  hat  sich  das  Leben  verändert, 
seitdem  > Gottes  Segen  bei  Kohn«  sich  einstellte! 
Über  unseren  Tragödien  senkt  sich  ein  Vorhang,  und 
schon  erfahren  wir,  wo  man  die  billigste  Kunstbutter 
bekommt.  Und  dabei  wird  sie  wahrscheinlich  gar 
nicht  erzeugt,  sondern  nur  verkauft.    Ehedem    hatte 


—    3    — 


ein  kleiner  Schuster  ein  persönliches  Verhältnis  zu 
seinen  Stiefeln;  heute  hat  der  Dichter  keines  zu  sei- 
nen Erlebnissen.  Es  gibt  keinen  Erzeuger  mehr,  es 
gibt  nur  mehr  Vertreter.  Darum  können  wir  ohne 
einen  Girardi  leben;  aber  wehe,  wenn  man  uns  den 
Herrn  Treumann  verhaften  wollte ! 

Die  erhabene  Größe  einer  Natürlichkeit,  die  uns 
durch  ein  Augenzwinkern  in  eine  Welt  des  Froh- 
sinns versetzen  konnte  —  nein,  so  tief  hat  sie 
nicht  in  ihrer  Zeit  gewurzelt,  wie  die  Technik  des 
tanzenden  Kommis  in  der  unseren  wurzelt.  Wir 
verzichten  auf  die  erdgewachsene  Kunst  und  schätzen, 
was  am  Platz  begehrt  ist.  Jene  geben  wir  an 
den  Berliner  Bazar  ab,  wo  zwischen  Hausrat  und 
Schmückedeinheim  gewiß  zeitweise  auch  Leoparden 
verlangt  werden.  Girardi  in  Berlin  —  und  uns  begrüßt 
an  allen  Plakatsäulen  das  bedeutende  Antlitz 
eines  wiedereroberten  Herrn  Josephi.  Das  Mutter- 
aug'  hat  ihn  doch  erkannt!  Und  wie  würde 
es  erst  jenen  flotten  Geist  entbehren,  um  den 
jetzt  die  Exekutionsbeamten  mit  den  Enthusiasten 
raufen  müssen?  Das  ist  mein  Wien,  die 
Stadt  der  Lieder!  dürfte  eine  Girardische  Be- 
tonung lauten.  Hat  dieser  Götterliebling  wirk- 
lich je  so  gut  das  Wiener  Volkstum  repräsentiert 
wie  jener  Ghettoliebling  (wieder  nur  eine  falsche 
Aussprache)  die  herrschende  Engros-Kultur?  Girardi 
hat  nichts  repräsentiert;  er  war.  Aber  die  En- 
grossisten,  für  die  heute  Theater  gespielt  wird, 
wollen  für  ihr  Geld  auch  etwas  sehen,  was  einer 
nicht  ist,  aber  was  er  eben  kann.  Der  Kommis  muß 
heute  gesellschaftlichen  Schliff  haben,  er  muß  perfekt 
Konversation  führen,  er  muß  tanzen  können:  sonst 
geht  die  Partie  zurück.  Die  Töchter  und  die  übrige 
Partie  wäre  an  den  Mann  zu  bringen,  das  ist  Lebens- 
inhalt. Das  Theaterspiel,  das  immer  nur  eine  Es- 
komptierung  der  Lebenswünsche  bedeutet,  hat  an 
keine  anderen  Probleme  zu  rühren.  Vor  zwanzig 
Jahren  noch  saß  eine  Gesellschaft  im  Parkett,  deren 


Väter  die  Kaution  in  der  Brust  höher  gehen  fühlten, 
wenn  der  Leutnant,  der  Schwerenöter,  auf  der  Szene 
erschien.  Dann  kam  die  Zeit  der  schweren  Not,  die 
Weber  aßen  Hundebraten  und  das  Bürgertum  rief: 
Die  Kunst  soll  uns  erheben,  den  Schmutz  der  Gasse 
habe  ich  zuhause!  Endlich  wird  es  wieder  hell,  ver- 
irrte Wünsche  finden  in  den  Hafen  und  zu  neuen 
Ufern  lockt  ein  neuer  Tag.  Der  tanzende  Prokurist 
erobert  sich  lustige  Witwen  und  Dollarprinzessinnen, 
er  wird  sich  auch  noch,  der  Schwerenöter,  die 
Tochter  der  Firma  Bachstelz  &  Bunzl  erobern,  die 
ohnedies  schon  nach  einem  Autogramm  vom 
Fritz  Werner  fiebert,  aber  bisher  mit  einem  Brief 
von  Peter  Altenberg  vorliebnehmen  mußte.  (Dessen 
Pathos  wahrlich  seine  eigene  Unterschrift  hat, 
wenn  es  sich  auch  öfter  in  der  Adresse  irrt, 
und  dessen  Humor  zu  dem  Besten  gehört,  was 
wir  heute  nicht  verstehen.  Auch  einer,  den  die 
Zeit  in  schlechte  Gesellschaft  gebracht  hat;  einer 
für  sich  und  darum  keiner  für  alle.  Seine  Trivialität 
wird  gezüchtet,  aber  sein  Unvergleichliches  bleibt 
unbeachtet.  Das  Gesindel  nimmt  ihn  nicht  ernst,  weil 
er  heiter  ist,  und  um  ernst  genommen  zu  werden, 
muß  er  mit  dem  Gesindel  wetteifern.  Bliebe  er  bei 
der  Kunst,  so  würde  sein  Ton  nicht  gehört.  Darum 
ist  er  gezwungen,  unter  die  Abdominalpropheten  zu 
gehen  oder  sich  gar  als  Variete-Messias  zu  verdingen.) 
Gott,  wie  fesch  1  rief  Fräulein  Isolde  Bunzl,  während 
der  Dichter  sie  auf  die  adelige  Seele  hin  untersuchte ; 
Gott,  wie  fesch,  rief  sie,  als  die  Devise  aufkam:  Der 
Zeit  ihren  Treumann  I 

Es  war  der  Augenblick,  da  man  das  kolossale 
Defizit  an  Humor,  das  die  moderne  Salonoperette 
belastet,  als  einen  Überschuß  an  Psychologie  zu 
deuten  begann.  Unseren  Feuilletonisten  gelang  es, 
den  Viktor  Leon  für  die  Kultur  zu  retten.  Sie  waren 
nicht  so  ehrlich,  zu  bekennen :  was  sich  da  oben  auf 
der  Operettenszene  abspielt,  gefalle  ihnen,  weil  es 
nach  der  Branche  riecht.    Nein,  der  Pofel,  der  es  zu 


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Jubiläen  brachte,  weil  die  Volksseele  jetzt  der 
Hausiererfrechheit  applaudiert,  war  ein  Versuch 
zur  Psychologisierung  der  Operette.  Dem  Dichter  der 
>Lustigen  Witwe«,  dessen  Einfluß  auf  das  Geistes- 
leben der  Gegenwart  ja  unbestreitbar  ist,  wurde 
nachgesagt,  seine  biegsame  Natur  sei  »halt  .von 
der  Epoche  langsam  gemodelt  worden«.  Denn  er 
habe  den  Stoff  des  »Attache^  nicht  bloß  genommen, 
sondern  in  eine  exotische  Sinnlichkeit  getaucht 
und  es  sei  ihm  nicht  so  sehr  um  die  Tantiemen, 
als  um  die  »Enthüllung  des  Triebhaften«  zu 
tun  gewesen.  In  Herrn  Treumann  gar  tanzte 
Dionysos  selbst  über  die  Bretter,  die  wieder 
eine  lichtere  Welt  bedeuten  sollten;  wenn  ich  mich 
recht  erinnere,  wurde  Nietzsche  als  Claquechef  bemüht, 
und  ich  weiß  nur,  daß  der  Typus  des  Feintuch- 
reisenden irgendwie  als  das  Idealbild  kommender 
Kulturen  hingestellt  wurde.  Es  war  ganz  die  Meinung, 
die  mich  selbst  erfüllt,  wenn  ich  von  unserem  Theater 
auf  unser  Leben  schließe;  nur  mit  dem  Unterschied, 
daß  sie  mich  lebensüberdrüssig  macht,  während  ein 
perfekter  Feuilletonist  alle  Engel  den  dummen,  dummen 
Keitersmann  singen  hörte.  »Etwas  so  restlos  Freies, 
Schwerloses,  Schwebendes,  das  wie  eine  große  Schön- 
heit ist«,  wurde  damals  an  Herrn  Treumann  bemerkt,  und 
die  Fähigkeit,  »einen  erhöhten  Zustand  des  Mensch- 
lichen zu  geben«.  Ohne  Zweifel:  um  die  Reste  her- 
unterzuholen, auf  der  Leiter  zu  schweben,  und  im 
nächsten  Moment  wieder  unten  zu  sein  und  die 
Kundschaft  zu  bedienen,  dazu  ist  schon  eine  gewisse 
Gelenkigkeit  notwendig.  Ob  das  aber  gerade  eine 
schauspielerische  Fähigkeit  bedeutet,  mag  zweifelhaft 
sein.  »Vom  Psychologischen  läßt  er  nicht«,  hieß 
es  damals  vom  Herrn  Treumann.  Nein,  das  tut  er 
nun  einmal  nicht.  Weil  er  zum  Beispiel  eine  ein- 
gelegte Ballade  nicht  singen  kann,  wie  es  die  früheren 
Operettenhelden  konnten,  so  wird  er  wohl  oder 
übel  zum  »Menschendarsteller«:  »er  packt  die  ganze 
schöne  Einlage,  sprengt  sie  mit  seiner  Eifersucht  aus- 


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einander,  zerfetzt  sie  und  wirft  sie  der  Geliebten 
keuchend,  stückweise,  abgerissen  ins  Gesicht;  er 
singt  keine  Ballade,  er  ist  dazu  im  Augenblick  nicht 
gelaunt .  .  .«  Welch  ein  eigenwilliger  Moderner!  Er 
verschmäht  die  billigen  Mittel  einer  angebornen 
Komik,  mit  der  Andere  arbeiten.  Er  hat  keine 
Stimme,  er  hat  Psychologie;  er  ist  kein  Sänger,  er 
ist  ein  rasender  Balladenschwengel.  Auch  findet  seit 
langer  Zeit  bekanntlich  ein  Ausverkauf  mit  dem  Worte 
»schlamperte  Graziec  statt,  und  es  schwebt  mir  dunkel 
vor,  daß  es  zu  den  »abfallenden  Schulternc  jener  gewis- 
sen müden  Kulturen  paßte  und  zu  der  »karessanten 
Sinnlichkeit«,  die  damals  gleichfalls  an  Herrn  Treu- 
mann beobachtet  wurde.  Es  hieß,  er  sei  »so  lyrisch, 
daß  sich  alle  Mädchen  in  ihn  verlieben  müssen«, 
und  anderseits  »so  aus  dem  Geblüt  geschmackvoll, 
daß  er  auch  auf  alle  Männer  wie  eine  Erquickung 
wirkt«,  und  ich  erinnere  mich,  daß  das  Um- 
kippen seiner  Stimme  in  dem  Ausruf  »Niegus  . .  . 
Ge  .  .  lieb  .  .  ter,  komm  her«  —  beiläufig  das  Wider- 
wärtigste, was  ich  je  in  einem  Theater  erlebt 
habe  —  in  vielen  Wiederholungen  als  ein  Echo  des 
Lebensrufes  gepriesen  wurde.  »Und  hat  man's  nur 
einmal  von  ihm  gehört,  dann  sagt  man's  ihm  tage- 
lang alle  Augenblicke  unwillkürlich  nach:  Njegus... 
Ge  .  .  lieb  .  .  ter  .  .«  Beneidenswert,  wen  die  Gehirn- 
qual dieser  Lustigkeit,  die  das  Wiener  Publi- 
kum fünfhundertmal  bestanden  hat,  zu  einer  neuen, 
rosigeren  Weltbetrachtung  stimmen  konnte !  Ich 
möchte  mich  aus  solcher  Gedankenwelt  nach 
Hallstatt  flüchten,  um  wieder  Sprudelgeistern  zu  be- 
gegnen, und  wenn  ich  dort  einen  Kretin  fände,  der 
Tag  und  Nacht  seine  Katze  streichelt,  ich  fände  den 
Glauben   an    die   Menschheit  wieder. 

Aber  diese  wahrlich  scheint  den  Lärm  der  Geistes- 
armut zu  ihrem  Glücke  zu  brauchen,  und  die  tanzende 
Huraorlosigkeit  ist  das,  was  sie  heute  auf  der  Bühne 
zu  sehen  verlangt.  Hat  schon  einer  einmal  untersucht, 
welche  Elemente  es  sind,   die  die  unaussprechliche 


Gemeinheit  dieses  neuen  Operettenwesens  zusammen- 
setzen, und  was  im  Grunde  jene  tobsüchtige  Be- 
geisterung in  allen  Kulturzentren  bewirkt,  auf  welche 
die  Erde  mit  einem  Beben  antwortet?  Man  bedenke, 
daß  die  charmante  Pracht  einer  Offenbachschen 
Welt  versunken  ist,  und  daß  sie  einst  mit  allen 
ihren  Wundern  nicht  entfernt  das  Entzücken  ver- 
breitet hat,  das  heute  ein  bosniakischer  Gassen- 
hauer findet,  den  ein  Musikfeldwebel  geschickt  in- 
strumentiert, oder  die  Erinnerung  an  den  Tonfall, 
mit  dem  ein  humorloser  Komiker  die  Worte  »Njegus, 
Geliebter,  komm  her!«  spricht.  Man  bedenke,  daß  die 
Anmut  Johann  Strauß'scher  Walzer  nicht  bühnenfrem- 
der war  als  die  Kitschigkeit  ihrer  Nachahmungen. 
Man  sage  sich,  daß  die  lieblichen  Werke  der  Lecoque, 
Audran,  Planquette,  Sullivan  heute  durchfallen,  wenn 
sie  neu  in  Szene  gehen ;  daß  der  echtesten  Soubretten- 
leistung wie  der  der  Zwerenz  in  einem  Werk  wie  Supp^s 
»Donna  Juanita«  der  Schmarren  einer  »Försterchristel«, 
in  dem  die  überschätzte  Frau  Niese  ihre  Varietö- 
talente  zeigt,  hundertmal  vorgezogen  wird;  daß  kein 
Direktor  es  wagt,  die  guten  Theaterstücke  Millöckers, 
»Apajune«,  »Gasparone«,  »Vice-Admiral«  auf  dem 
Repertoire  zu  erhalten  und  alle  die  anderen, 
die  schon  durch  einen  gewissen  Mehlzusatz  dem 
musikalischen  Geschmack  des  heutigen  Wiener- 
tums  entgegenkamen  . .  .  Kein  Zweifel,  diese  Fülle 
von  Wohlklang,  Grazie  und  Humor  hat  sich  über- 
lebt. Wir  mögen  es  glauben,  daß  die  Zeit  noch 
kommen  wird,  in  der  der  Freudengenius  eines  Offen- 
bach an  die  Seite  Mozarts  tritt:  heute  wünschen  wir 
ihn  von  dem  dürftigsten  Walzerspekulanten  verdrängt; 
und  daß  kein  Ton  jener  Heiterkeit  mehr  aufkomme, 
die  einst  von  den  Namen  Orpheus,  Helena,  Blau- 
bart, Gerolstein  und  Trapezunt  in  unsere  Herzen 
schlug,  dafür  sorgt  der  von  der  Mischpoche  ge- 
modelte Herr  Viktor  Leon.  Man  vergleiche  nicht  »Pariser 
Leben«  mit  der  »Lustigen  Witwe«;  man  höre  nur  ein 
paar  Takte  aus  einer  der  unberühmten,  stets  verstoßenen 


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Operetten  am  Klavier, etwadas  Lied  vom  heiligen  Chry- 
sostomus  aus  Offenbaehs  »Schönröschenc,  und  w^nn 
mau  solchen  Schimmer  von  den  Reichtümern  empfan- 
gen hat,  die  ehedem  mit  dem  Tage  verschüttet  wurden, 
frage  man  sich,  warum  wir  unsere  Armut  so  hoch 
in  Ehren  halten  .  . .  Der  Grund  von  all  dem :  Die 
Welt  wird  vernünftiger  mit  jedem  Tag.  Wodurch 
naturgemäß  ihre  Blödsinnigkeit  immer  mehr  zur 
Geltung  kommt.  Sie  beschnuppert  die  Kunst  auf 
ihren  Wahrscheinlichkeitsgehalt  und  wünscht  ihn  von 
allen  Symbolen  entkleidet.  Darum  hat  sie  das  Märchen 
und  die  Operette  in  die  ästhetische  Rumpelkammer 
geworfen. 

Die  Punktion  der  Musik:  den  Krampf  des  Le- 
bens zu  lösen,  dem  Verstand  Erholung  zu  schaffen 
und  die  gedankliche  Tätigkeit  entspannend  wieder 
anzuregen.  Diese  Funktion  mit  der  Bühnenwirkung 
verschmolzen,  ergibt  die  Operette,  und  sie  hat  sich 
mit  dem  Theatralischen  ausschließlich  in  dieser 
Kunstform  vertragen.  Denn  die  Operette  setzt  eine 
Welt  voraus,  in  welcher  die  Ursächlichkeit  aufgehoben 
ist,  nach  den  Gesetzen  des  Chaos,  aus  dem  die 
andere  Welt  erschaffen  wurde,  munter  fortgelebt  wird 
und  der  Gesang  als  Verständigungsmittel  beglaubigt 
ist.  Vereinigt  sich  die  lösende  Wirkung  der 
Musik  mit  einer  verantwortungslosen  Heiterkeit, 
die  in  diesem  Wirrsal  ein  Bild  unserer  realen  Ver- 
kehrtheiten ahnen  läßt,  so  erweist  sich  die  Operette 
als  die  einzige  dramatische  Form,  die  den  theatrali- 
schen Möglichkeiten  vollkommen  ebenmäßig  ist.  Das 
Schauspiel  kann  immer  nur  trotz  oder  entgegen  dem 
Gedanken  seine  Bühnenhaftigkeit  durchsetzen,  und 
die  Oper  führt  durch  die  Inkongruenz  eines  menschen- 
möglichen Ernstes  mit  der  wunderlichen  Gewohnheit  des 
Singens  sich  selbst  ad  absurdum.  In  der  Operette  ist  die 
Absurdität  vorweg  gegeben.  Hier  klaffi  kein  Abgrund, 
in  dem  der  Verstand  versinkt,  die  Bühnenwirkung 
deckt  sich  mit  dem  geistigen  Inhalt.  Im  Schauspiel 
siegt  das  Schauspielerische  auf  Kosten  des  Dichteri- 


sehen,  denn  um  uns  zu  Tränen  zu  rühren,  ist  es 
ganz  gleichgiltig,  ob  Shakespeare  oder  Ohnet  die 
Gelegenheit  bietet;  in  der  Oper  spottet  das  Musi- 
kalische des  Theatralischen,  und  die  natürliche 
Parodie,  die  im  Nebeneinander  zweier  Formen  ent- 
steht, macht  auch  den  tatkräftigsten  Vorsatz  zu  einem 
»Gesamt kunst werk«  lächerlich.  Das  Theater  ist  die 
Profanierung  des  unmittelbaren  dichterischen  Ge- 
dankens und  des  sich  selbst  bedeutenden  musikali- 
schen Ernstes;  es  ist  der  Hemmschuh  jedes  Wirkens, 
das  eine  »Sammlung«  beansprucht,  anstatt  sie  durch  die 
sogenannte  »Zerstreuung:«  erst  herbeizuführen.  Sopho- 
kles wird  an  dem  Ausbreitungsbedürfnis  des  letzten 
Komödianten  zu  schänden,  und  die  Andachtsübungen 
einer  Wagneroper  sind  ein  theatralischer  Nonsens. 
Zu  einem  Gesamtkunstwerk  im  harmonischesten  Geiste 
aber  vermögen  Aktion  und  Gesang  in  der  Operette 
zu  verschmelzen,  die  eine  Welt  als  gegeben  nimmt, 
in  der  sich  der  Unsinn  von  selbst  versteht  und  in 
der  er  nie  die  Reaktion  der  Vernunft  herausfordert. 
Offenbach  hatte  in  seinen  Reichen  phantasiebelebender 
Unvernunft  auch  für  die  geistvollste  Parodierung  des 
Op^rn wesens  Raum:  die  souveräne  Planlosigkeit  der 
Operette  kehrte  sich  bewußt  gegen  die  Lächerlichkeit 
einer  Kunstform,  die  im  Rahmen  einer  planvollen  Hand- 
lung den  Unsinn  erst  zu  Ehren  bringt.  Daß  Operetten- 
verschwörer singen,  ist  selbstverständlich,  aber  die 
Opern  Verschwörer  meinen  es  ernst  und  schädigen 
den  Ernst  ihres  Vorhabens  durch  die  Unmotiviertheit 
ihres  Gesanges.  Wenn  nun  der  Gesang  der  Operetten- 
verschwörer zugleich  den  Gesang  der  Opernver- 
schwörer  parodiert,  so  ergibt  sich  jene  doppelwendige 
Vollkommenheit  der  Theaterwirkung,  die  den  Werken 
Offenbachs  ihren  unvergänglichen  Charme  verleiht, 
weit  über  die  Dauer  jener  politischen  Anzüglichkei- 
ten hinaus,  auf  welche  die  Nichtversteher  seines 
Wesens  den  größten  Wert  legen.  An  der  Regellosig- 
keit, mit  der  sich  die  Ereignisse  in  der  Operette  voll- 
ziehen, kann  nur  ein  rationalisiertes  Theaterpublikum 


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Anstoß  nehmen.  Der  Gedanke  der  Operette  ist 
Rausch,  aus  dem  Gedanken  geboren  werden ;  die 
Nüchternheit  geht  leer  aus.  Dieses  graziöse  Weg- 
spülen aller  logischen  Bedenken  und  dies  Ent- 
rücken in  eine  Konvention  übereinander  purzelnder 
Vorgänge,  in  der  das  Schicksal  des  Einzelnen  bei  einem 
Chorus  wildfremder  Passanten  die  unwahrscheinlichste 
Teilnahme  findet,  dieses  Aufheben  aller  sozialen 
Unterschiede  zum  Zwecke  der  musikalischen  Eintracht, 
und  diese  Prompt heit,  mit  der  der  Vorsatz  eines  Aben- 
teuerlustigen: »Ich  stürz'  mich  in  den  Strudel,  Strudel 
hineinc  von  den  Unbeteiligten  bestätigt  und  neidlos 
unterstützt  wird,  so  daß  die  Devise:  »Er  stürzt  sich 
in  den  Strudel,  Strudel  hinein  I«  lauffeuerartig  zu  einem 
Bekenntnis  der  Allgemeinheit  wird  —  diese  Summe  von 
heiterer  Unmöglichkeit  bedeutet  jene  reizvolle  Gelegen- 
heit, uns  von  den  trostlosen  Möglichkeiten  des  Lebens 
zu  erholen.  Indem  aber  die  Grazie  das  künstlerische 
Maß  dieser  Narrheit  ist,  darf  dem  Operettenunsinn 
ein  beträchtlicher  erzieherischer  Wert  zugesprochen 
werden.  Ich  kann  mir  denken,  daß  ein  junger  Mensch  von 
den  Werken  Offenbachs,  die  er  in  einem  Sommertheater 
zu  sehen  bekommt,  entscheidendere  Eindrücke  empfängt 
als  von  jenen  Klassikern,  zu  deren  verständnisloser 
Empfängnis  ihn  die  Pädagogik  antreibt.  Vielleicht 
könnte  ihm  sogar  das  Zerrbild  der  Götter  den  wahren 
Olymp  erschließen.  Vielleicht  wird  seine  Phantasie 
zu  der  Bewältigung  jener  Pleißaufgabe  gespornt,  sich 
aus  der  »Schönen  Helena«  das  Bild  jener  Heroen  zu 
formen,  das  ihm  die  Uias  noch  vorenthält.  Und  er  zieht 
aus  der  bukolischen  Posse,  die  die  Wunderwelt  des 
»Blaubart«  einleitet,  mehr  lyrische  Stimmung,  von  dem 
spassigen  Frauenmord  mehr  echtes  Grauen  und  Roman- 
tik, als  ihm  Dichter  bieten  können,  die  es  darauf  abgese- 
hen haben.  Von  dem  Entr^e  eines  Aleaden,  den  zwei 
Dorfschönen  um  seine  Perücke  herumdrehen,  mag 
ihm  das  Bild  der  lächerlichen  Hilflosigkeit  in  Er- 
innerung bleiben,  wenn  sich  ihm  einst  die  Kluft 
zwischen  Gesetz   und  Leben   öffnen   sollte,    und  alle 


11 


Ungebühr  in  Verwaltung  und  Politik  offenbart  sich 
ihn  schmerzlos  in  der  Verwirrung,  welche  die  Staats- 
aktionen der  Operette  zur  Folge  haben. 

Eine  Gesellschaft  aber,  die  das  Lachen  geistig 
anstrer.gt  und  die  gefunden  hat,  daß  sich  mit 
dem  Ernst  des  Lebens  mehr  Geld  verdienen 
läßt,  hat  den  blühenden  Unsinn  der  Operette 
zum  Welken  gebracht.  Sie  imponierte  sich  mit 
ihrer  Pfiffigkeit,  als  sie  die  Unwahrscheinlichkeit 
einer  Operettenhandlung  entdeckte.  Wie  sollte  es 
auch  möglich  sein,  den  im  Verdienerleben  unauf- 
hörlich tätigen  Verstand  für  einen  ganzen  Abend  aus- 
zuschalten? Zudem  ist  der  Feuilletonlektüre  eine 
vordem  nie  geahnte  Ausbreitung  der  Bildung  gelungen, 
und  diese  läßt  sich  mit  Schäferspielen  und  märchen- 
blauen Unmöglichkeiten  nicht  mehr  abspeisen.  Der  auf- 
geweckte Verstand  hat  den  Unsinn  entlarvt  und  seine 
Rationalisierung  durchgesetzt.  Was  geschieht?  Der  Un- 
sinn, der  früher  das  Element  war,  aus  dem  Kunst  ge- 
boren wurde,  brüllt  losgebunden  auf  der  Szene.  Unter 
dem  Protektorat  der  Vernunft  entfaltet  sich  eine  Gehirn- 
schande, welche  die  dankbaren  Empfänger  ärger 
prostituiert  als  die  spekulativen  Bereiter.  Die  alten 
Operettenformen,  die  an  die  Bedingung  des  Unsinns 
geknüpft  bleiben,  werden  mit  neuer  Logik  ausgestopft, 
und  der  Effekt  läßt  sich  etwa  so  an,  als  ob  jetzt  die 
opernhafte  Lächerlichkeit  von  einer  Bande  entfesselter 
Tollhäusler  demonstriert  würde.  Die  Forderung,  daß  die 
Operette  vor  der  reinen  Vernunft  bestehe,  ist  die 
Urheberin  des  reinen  Operettenblödsinns.  Der  Komi- 
ker, der  keine  Komik  hat  und  sein  Lied  schlecht 
singt,  muß  freilich  ein  Menschenschicksal  darstellen ; 
wer  aber  ein  Menschenschicksal  darstellt,  macht  die 
Narrheit,  dabei  zu  singen,  erst  komplett,  und  das 
Gedudel  im  Orchester  setzt  den  Respekt  vor  einem 
Seelendraraa  wie  der  »Lustigen  Witwe«  beträcht- 
lich herab.  Doch  die  ernstgenommene  Sinnlosigkeit  auf 
der  Bühne  entspricht  durchaus  der  Lebensauf- 
fassung  einer  Gesellschaft,    die   auf  ihre   alten  Tage 


12 


Vernunft  bekommen  hat  und  dadurch  ihren  Schwach- 
sinn erst  bloßstellte.  Und  ihren  Blößen  die  Stcffe 
zurechtzumachen,  ist  eine  Legion  talentloser  Flick- 
schneider am  Werke.  Der  Drang,  das  Leben  der  musika- 
lischen Burleske  zu  verifizieren,  hat  die  Gräßlichkeiten 
der  Salonoperette  erschaffen,  die  von  der  Böhe  der 
»Fledermaus«  —  des  Übels  Urquell  —  über  die  Mit- 
telmäßigkeit des  »Opernballs«  in  die  geizige  Nieder- 
ung der  »Lustigen  Witwe«  führen.  Von  der  natürlichen 
Erkenntnis  verlassen,  daß  ein  phantastisches  oder 
exotisches  und  jedenfalls  ein  der  Kontrolle  entrücktes 
Kostüm  notwendig  ist,  um  das  Singen  in  allen 
Lebenslagen  glaubhaft  zu  machen,  und  ahnungslos, 
daß  ein  singender  Kommis  im  Smoking  eine  Gesell- 
schaftsplage sei,  wagt  diese  neue  Industrie  das 
Äußerste. 

Aber  sie  darf  es  wagen.  Denn  ihrem 
Publikum  dient  die  heutige  Operette  bloß  als  ein 
Vorwort  zu  den  gröhlenden  Freuden  des  Nacht- 
lebens. Auf  die  weit  aufgesperrten  Mäuler  der  Volks- 
sänger, die  der  Champagnerwurzen  das  Vergnügen 
durch  den  Trost  »Es  muaß  ja  net  der  letzte  sein« 
erhöhen,  will  man  durch  den  Theatergesang  schonend 
vorbereitet  sein.  Vom  Psychologischen  lassen  sie  nicht. 
Und  vielleicht  erklärt  uns  ein  Feuilletonist  diesen 
protzigen  Mangel  an  Genußfähigkeit  als  tiefere  Be- 
deutung. Wir  vermöchten  sonst  in  dem  Tasten  nach 
einer  rohen  Gegenständlichkeit  der  musikalischen 
Genüsse  nur  jenen  vollbusigen  Geschmack  wiederzu- 
erkennen und  jene  Kolatschenweltansohauung,  die 
jetzt  mit  dem  Stolz  der  kulturellen  Überlegenheit 
getragen  werden.  Die  Wiener  Operette  hat  sich  mit 
dem  Geist  des  Drahrertums  verbündet  und  verzichtet 
auf  das  Opfer  der  Phantasie,  das  sie  einmal  ihren 
Genießern  zugemutet  hat.  Ihre  Entartung  ins  Volks- 
sängerische, ihre  neue  Tendenz,  dem  niedrigsten 
Nachtlokalpatriotismus  zu  schmeicheln  und  die  Welt 
als  einen  großen  Guglhupf  aufzufassen  mit  der 
Wienerstadt   als  dem   einzigen  Weinberl  darin,    ihre 


-  13 


Anbiederung  an  den  Stefansturm,  auf  dessen  Spitze 
Herr  Gabor  Steiner  gedacht  wird,  wie  er  eine 
Schenkelparade  der  himmlischen  Heerscharen  in- 
szeniert: diese  ganze  Entwicklung  der  Operette  ins 
Walzerische  und  Drahrerische  würde  ihre  Satire  in 
einer  musikalischen  Burleske  verdienen,  wie  sie 
Offenbach  aus  der  Lächerlichkeit  der  opernhaf- 
ten  Gebärde  geschaffen  hat.  Der  Spott  ergäbe  sich 
umpo  müheloser,  als  die  neue  Operette  auf  der 
Höhe  ihrer  Verknödelung  sich  selbst  des  Opern- 
gestus  bedient  und  einen  Fünf  kreuzertanz  mit 
einem  Posaunenfest  der  Instrumentation  beschließt. 
Die  Satire,  die  hier  einzusetzen  hätte,  wäre 
eine  vollkommene  Rehabilitierung  des  wahren  Kunst- 
wertes der  Operette.  Nun  kehrt  sich  die  Parodie  vom 
»Petroleumkönige,  die  in  einem  Wiener  Kabaret 
großen  Zulaut  findet,  allerdings  gegen  die  volkssänger- 
haften  Allüren  der  modernen  Ausstattungsoperette. 
Aber  es  ist  hundert  Vorstellungen  gegen  eine  zu 
wetten,  daß  die  Verfasser  den  Erfolg,  den  sie  erzielen, 
nicht  diesem  Spott,  der  von  geringer  Dichtigkeit  ist, 
sondern  dem  Interesse  des  Publikums  an  dem  Objekt 
des  Spottes  verdanken.  Da  es  zwei  sind,  die  den 
Text  dieser  Parodieleistung  zustandegebracht  haben  — 
jedem  für  sich  wäre  Witz  nicht  abzusprechen  — ,  so 
wird  das  Publikum  vielleicht  in  dem  Glauben  be- 
stärkt, es  handle  sich  um  eine  jener  fürchterlich 
ernstgemeinten  Operetten,  denen  es  die  Riesenerfolge 
bereitet  hat,  und  es  scheint  entschlossen,  auch  dieser 
hier  seine  Ausdauer  zu  bewähren.  Da  sie  besser  ist  als 
die  anderen,  wäre  den  Autoren  ein  solcher  Lohn  zu 
gönnen,  und  mindestens  könnte,  wer  ihre  Absicht 
durchschaut,  den  Librettisten  und  ihrem  Komponisten 
raten,  einmal  Ernst  zu  machen  und  eine  lustige 
Operette  zu  schreiben.  Diesmal  hatten  sie  den  kunst- 
widrigen Einfall,  die  alten  Operettenformen  zu  ver- 
höhnen, um  ihre  modernen  Mißbraucher  lächerlich  zu 
machen.  Aber  das  Publikum  freute  sich  sogar  an 
jtnen    wieder    und    lachte    über    einen    komischen 


14  — 


Diener,  der  im  Hintergrund  die  Gebärden  seines 
Herrn  mitmacht,  ohne  zu  merken,  daß  diese  Komik 
tiefere  Absicht  sei,  nämlich  ein  Spott  auf  die  Komik. 
Das  Publikum  lachte  unrichtig,  und  daraus  können 
die  Librettisten  die  Lehre  ziehen,  daß  sie  es  das 
nächste  Mal  genau  so  machen  sollen.  Sie  hatten 
den  Vorsatz,  den » Operettenblödsinn c  zu  geißeln.  Was 
jedoch  ausschließlich  gegeißelt  werden  soll,  ist  das 
blödsinnige  Streben  der  heutigen  Operette,  sich  einen 
Sinn  beizulegen,  der  den  Blödsinn  ins  Unmittelbare  rückt, 
ihre  Tendenz,  den  Mangel  an  Komik  durch  Logik  wett- 
zumachen und  die  Stelle,  auf  der  ein  Sänger  stehen 
sollte,  mit  einem  Psychologen  zu  besetzen.  Aber 
Konsequenz  der  Charaktere  und  Realität  der  Be- 
gebenheiten sind  Vorzüge,  zu  denen  nicht  erst 
Musik  gemacht  werden  muß.  Daß  ein  schlafen- 
des Liebespaar  von  einem  Polizistenchor  nicht 
geweckt  wird,  ist  in  der  Welt  der  musikalischen 
Unberechenbarkeit  durchaus  möglich,  und  die  Wahr- 
scheinlichkeit, daß  es  im  Leben  geschieht,  ist  die 
wertlose  Erkenntnis  einer  rationalistischen  Satire, 
die  sich  nicht  zu  hoch  über  das  Niveau  jenes  intel- 
lektuellen Publikums  erhebt,  dem  die  konkrete 
Albernheit  der  modernen  Operette  ihre  spott- 
würdigen Triumphe  verdankt.  Ich  fürchte,  wenn 
dieses  Publikum  bei  der  fünfhundertsten  Aufführung 
des  iPetroleumköuig«  erfährt,  daß  er  eine  Parodie 
sei,  wird's  bei  dieser  Aufführungsziffer  sein  Bewen- 
den haben. 

Was  mich  an  dem  Enthusiasmus  für  die 
Operettenschande  am  tiefsten  berührt,  ist  die  demo- 
kratisierende Wirkung,  die  von  ihr  auszugehen 
scheint.  Man  gewahrt  eine  förmliche  Lust,  sich  mit 
Helden  und  Schicksalen  der  neuen  Operettenwelt  zu 
encanaillieren,  und  eine  Gesellschaftsschicht,  die  ge- 
wiß ihrer  Dienerschaft  winkte,  wenn  befrackte  Kommis 
mit  roten  Schweißtüchern  in  ihre  Salons  eindrängen, 
läßt  sich  von  diesen  ihre  Liebesabenteuer  und  Eifer- 
suchtsszenen keuchend,   stückweise,   abgerissen  vor- 


—  16  — 

singen.  Es  herrscht  eine  Neugierde  nach  den  Privat- 
angelegenheiten der  Kornrais,  die  einen  Menschen,  der 
nach  zwanzig  Jahren  wieder  einmal  in  eine  Operetten- 
vorstellung kommt,  geradezu  peinlich  berühren  muß, 
und  wenn  so  ein  koscherer  Schwerenöter  mit  den  Worten 
des  Meisters  Leon  versichert:  »So  eine  Depesche  ist 
oft  fatal  —  o  Elektrizität  1 —  Es  gibt  Zeiten,  wo  man 
wünschte  —  daß  man  dich  nicht  erfunden  hätt'l«,  so 
ruft  ein  den  besseren  Ständen  angehörendes  Publi- 
kum nicht  »Hinaus!«,  sondern  tobt  vor  Begeisterung. 
Es  gibt  keine  gesellschaftlichen  Vorurteile  mehr.  Das 
Interesse  des  Publikums  für  die  Intimitäten  der 
Operettengestalten  wäre  auch  heute  entschuldbar,  wenn 
Stumpfsinn  und  Gemeinheit  nicht  ohne  hinreichende 
musikalische  Bedeckung  sich  hervorwagten  und  vor 
allem  in  der  bizarren  Tracht  entfernter  Länder  oder 
Zeiten.  Unbegreiflich  ist,  daß  wir  in  der  sozialen 
Nähe  der  Salonoperette  den  Insult  ihrer  Zumutungen 
nicht  spüren.  Und  es  ist  dann  nur  natürlich,  daß 
wir  unser  Interesse  für  die  unvermummten  Träger 
der  Handlung  auch  auf  ihr  Leben  außerhalb  der 
Bühne  erstrecken.  Der  Naturalismus  des  singenden 
Kornrais  erleichtert  die  Identifizierung  mit  der  Privat- 
person des  Darstellers,  und  unser  Schauspieler- 
kultus, der  ehedem  ein  gerechter  Lohn  der  künstleri- 
schen Persönlichkeit  war,  ist  bloß  die  Konsequenz 
einer  einmal  übernommenen  gesellschaftlichen  Ver- 
pflichtung. Ihr  unterwerlen  sich  selbst  jene  Kreise  des 
Publikums,  von  denen  man  annehmen  müßte,  daß  sie  in 
einem  Bankbeamten,  der  tanzen  kann,  noch  nicht  den 
Gipfel  der  kulturellen  Entwicklung  erblicken.  Daß  aber 
jene  Schichten,  die  heute  die  Theaterwerte  kotieren, 
nicht  anders  denken,  ist  begreiflich.  Die  Populari- 
tät des  Herrn  Treumann  unterliegt  keinem  Zweifel; 
seine  Anhänger  sind  über  die  ganze  Welt  zerstreut. 
Überraschend  ist  freilich,  daß  das  Pathos,  mit  dem 
sie  sich  zu  ihm  bekennen,  bis  zu  revolutionären  Stim- 
mungen sich  steigern  kann.  Das  Schicksal  eines  Sängers, 
der   so   verzwickte  Kontraktbrüche  begeht,    daß   die 


—  16  — 


Jurisprudenz  versagen  muß,  weil  sie  nicht  genug 
Mathematik  gelernt  hat,  und  daß  sie  sich  nur  mit  der 
einstweiligen  Verhaftung  helfen  kann,  mag  die  Theater- 
tinterln  und  Freikartenschnorrer  eines  Kaffeehauses 
immerhin  alterieren.  Daß  sich  aber  dieses  Interesse 
bis  zur  Binmengung  in  eine  Amtshandlung,  Gewalt- 
anwendung gegen  die  Schergen  des  Exekutions- 
gerichts und  bis  zu  flammenden  Reden  der  studen- 
tischen Jugend  steigern  kann,  ist  ein  erfreulicher 
Beweis,  daß  in  Wien  der  Kulissenklatsch  die  poli- 
tische Begeisterung  noch  nicht  ertötet  hat  und  daß 
diese  jederzeit  mobil  zu  machen  ist,  wenn  es  den 
Kulissenklatsch  gilt.  Was  wiegt  die  Erinnerung  an 
den  Einzug  der  Wache  in  das  Parlament  gegen  dieses 
Erlebnis  1  Unvergeßlich  bleibt  der  Augenblick,  da  ein 
Tarockspieler  die  Meldung  brachte:  »Das  Kaffeehaus 
ist  von  Polizei  besetzt!«  Als  aber  gar  einer  der  Anhänger 
des  Herrn  Treumann  den  Ruf  ausstieß:  »Es  lebe  die 
Freiheit  1«,  bezog  diesen  einer  der  Direktoren,  denen 
der  Mann  die  Treue  hielt,  auf  den  Eintritt  in  die 
Vorstellung  und  verteilte  auf  der  Stelle  siebzig  Frei- 
karten. Hätte  er  Messina  aufgebaut,  der  Jubel  einer 
Welt  hätte  den  Tumult  der  Dankbarkeit  nicht  über- 
bieten können,  den  solche  Hochherzigkeit  auf  dem 
sicheren  Wiener  Boden  errang.  Aber  warum  duldet 
der  schweigend?  Warum  stellt  sich  kein  Erdstoß 
ein,  der  uns  künftig  eine  Zeitungsnachricht  ersparte 
wie  die,  ein  Theateragent  habe  dem  Volke  zugerufen: 
»Hier  ist  erl  In  Freiheit  vorgeführt!«.  Warum  wurde 
uns  nicht  durch  ein  rechtzeitiges  Elementarereignis  der 
Anblick  jenes  Konterfeis  entzogen,  das  einen  kai- 
serlichen Rat  und  Hoflieferanten  darstellt,  wie  er  eben 
damit  beschäftigt  ist,  bei  der  versuchten  Verhaftung  des 
Herrn  Treumann  dabei  zu  sein?  Für  die  versuchte 
Verhaftung  wird  sich  die  Polizei  vor  den  Billard- 
spielern zu  verantworten  haben.  Aber  warum  erbarmt 
sich  nicht  die  kleinste  Pestilenz  und  verhindert  uns, 
Bulletins  über  den  Gesundheitszustand,  über  Lektüre, 
Wäschebeschaffung,  Auf regungszustände  des  Häftlings 


—   17 


zu  empfangen?  Warum,  warum!  So  sind  wir  den  ent- 
fesselten Zeitungsgewalten  hilflos  preisgegeben.  Was 
ist  der  Mensch!  Und  nichts  erinnert  an  die  gelinderen 
Schrecken  der  Natur  als  höchstens  die  Tatsache, 
daß  bei  solchen  Gelegenheiten  Weiber  zu  Hyänen 
werden.  Mehrere  Damen  benützten  nämlich  das 
Gedränge,  das  bei  der  versuchten  Verhaftung  ent- 
standen war,  um  die  Tränen  des  Herrn  Treumann 
zu  trocknen  und  für  ihn  zu  weinen,  und  eine  Meldung 
besagt  sogar,  daß  sie  sich  zwischen  den  Liebling  und 
die  Staatsgewalt  geworfen  haben.  Dös  war  das  einzige 
Moment,  welches  über  die  Interessen  einer  Staatsaktion 
hinaus  an  das  Walten  der  Naturraächte  erinnerte. 
Aber  sie  sind  blind;  und  ich  möchte  es  bezweifeln, 
daß  der  Liebling  für  die  Damen  eingetreten  wäre, 
wenn  die  Polizei  sie  wegen  Einmischung  in  eine 
Amtshandlung  verhaftet  hätte  .  .  . 

Ohnmächtig  stehen  wir  den  Katastrophen  der 
Kultur  gegenüber  und  wenn  uns  der  Schrecken  des 
Oberstandenen  und  die  Angst  vor  der  Wiederholung 
die  Ruhe  des  Rückblicks  gönnen,  dann  sehen  wir, 
wie  sich  das  Bild  dieser  Stadt  verändert  hat,  seitdem 
sie  sich  den  Zwischenhändlern  des  Geistes  übergab. 
Sind  dies  die  oft  beklagten  Exzesse  des  Schauspieler- 
kultus? Sind  es  nicht  vielmehr  Ausbrüche  jenes  Selbst- 
bewußtseins einer  angelangten  Kaste,  die  an  ihrem 
Weltbesitz  nicht  rütteln  läßt  und  selbst  noch  das 
Recht,  das  dem  Einzelnen  widerfährt,  als  ein  Unrecht 
gegen  ihre  Gesamtheit  abwehrt?  Das  Tbeaterinteresse 
mag  dem  Komiker  zu  Hilfe  eilen,  aber  die  Bedrängnis 
des  Koramis  ruft  jene  große  Solidarität  herbei,  die 
vor  einem  Schuldturra  so  pathetisch  wird  wie  vor 
einer  Teufelsinsel.  Das  sind  nicht  mehr  die  Aus- 
wüchse eines  Kultus,  das  sind  die  Zeichen  einer 
Kultur.  Wenn  aber  der  tiefe  Sozialkritiker,  dessen 
Geist  ich  am  Eingang  dieser  Betrachtung  zitiert 
habe,  in  der  Schauspielerverehrung  unsern  gan- 
zen Jammer  sieht,  wohl  ihm.  Und  wenn  er  be- 
hauptet, der  Inbegriff  dieses    Jammers   sei  die  Ver- 


—  18  — 


ehrung  für  —  Alexander  Girardi,  so  ist  wahrlich 
der  Jammer  größer,  der  jedem  Peuilletonkommis 
Druckerschwärze  an  die  Hand  gibt,  um  den 
Glanz  eines  Künstlernamens  zu  beschmieren.  Er  hat, 
man  glaube  es  nur,  er  hat  wirklich  Girardi  gemeint!  »Es 
gab  nur  Girardi- Stücke  mit  Girardi-Rollen«,  klagt 
dieser  Theaterkenner  und  freudig  stellt  er  fest,  daß 
nach  dem  Abgang  des  seltenen  Menschen,  dem  eine 
Stadt  den  Humor  eines  Vierteljahrhunderts  verdankt, 
»die  Operette  befreit  aufatmete,  daß  sie  »ohne  und 
gegen  Girardi  ihre  Welterfolge  errang«  . . .  Und  das  ist 
schließlich  die  Wahrheit.  Girardi  war  ein  großes  Bei- 
spiel für  die  schöpferische  Möglichkeit  des  Schau- 
spielers, und  sein  bloßes  Dasein  vermochte  von  der 
Nichtigkeit  der  literarischen  Produktion  abzulenken, 
die  ihm  das  Stichwort  gab.  Nun  verlangt  aber  diese 
Nichtigkeit  Beachtung.  Die  Leere  möchte  nicht  mehr 
bloß  Spielraum  einer  Persönlichkeitsein;  die  Gemeinheit 
will  um  ihrer  selbst  willen  geliebt  werden.  Solchem 
Anspruch  ordnen  sich  die  Nullen  des  Operettenthea- 
ters unter.  Dekorateure  und  Tänzer  sorgen  vorerst 
dafür,  daß  das  Publikum  den  Ausfall  an  schauspieleri- 
schem Vermögen  nicht  merke.  Dem  Zug  der  Künstler 
zum  Variete'  entspricht  die  Verpflanzung:  boxender  Kän- 
guruhs auf  das  Theater.  Es  gibt  keine  Girardi-Stücke 
mehr,  aber  es  gibt  Girardi-Stücke  ohne  Girardi,  und 
da  die  Welt  den  Blödsinn  ohne  den  Kommentar  der 
Kunst  verständlicher  findet,  so  atmet  der  Blödsinn 
befreit  auf  und  erringt  seine  Welterfolge.  Die  alte 
Theaterliebe  verfolgte  den  Schauspieler  ins  Privat- 
leben, aber  der  Mißbrauch,  der  die  Person  umlärmte, 
gehörte  zum  guten  Brauch,  die  Persönlichkeit  zu 
verehren.  Und  die  Passion  der  Menge,  dem  Wagen 
eines  Künstlers  die  Pferde  auszuspannen,  schien 
das  natürliche  Verhältnis  der  beiderseitigen  Bestim- 
mungen wiederherzustellen.  Heute  ist  sie  noch  viel 
bescheidener  geworden;  sie  wiehert  schon  begeistert, 
wenn  ein  Pferdehändler  im  Wagen  sitzt. 

Karl  Kraus. 


-  19  - 


Qirardl.*) 

(»Mein  Leopold«,  Thalia-Theater.) 

Du  bist  ein  Sager,  —  kein  Oestalter. 

>Mein  Leopold«,  singst  du,   >mein  Soooohn« 
Bis  in  mein  Wackel-Greisenalter 

Denk'  ich  an  diesen  Menschenton  .  .  . 

Das  Publikum,  vom  Klang  durchschauert, 
Fühlt  dennoch  den  Effekt  nicht  prompt; 

Es  bleibt  erwartend,  sitzt  und  lauert  — 
Und  fragt  sich,  ob  es  balde  kommt. 

Zwei  Akte  durch  gibst  du  dann,  außer 
Dem  einen  Klang,  nicht  allzuviel; 

Du  zeigst  (im  Wohlstand  und  als  Hausherr) 
Halb  tonlos  ein  markiertes  Spiel. 

Das  Geld  zerrann.  ...  Du  bist  jetzunder 
Flickschuster,  greisend  vor  der  Zeit  .  .  . 

Ein  lächelnd-stilles,  weißes  Wunder; 
Armselig  und  gebenedeit. 

Du  hämmerst  mit  den  alten  Händen  — 
Und  zwingst  auch  Den,  der  Manches  kennt, 

Von  dir  die  Blicke  wegzuwenden. 

Das  Haus  ist  totenstill  .  .  .  und  flennt. 


Magst  keine  Mätzchen,  keine  Schlager. 

Ein  Menschenmeister  wandelt  hier. 
Bist  ein  Gestalter  und  ein  Sager  — 

Dein  Schuster  war  der  König  Lear. 

Es  ist  ein  Stück  von  unsrem  Leben. 

Ich  fühl's,  im  Innersten  gepackt. 
Die  großen  Italiener  geben 

Nicht  mehr  als  du  in  diesem  Akt. 


Alfred  Kerr. 


*)  Diese  ieine  und  einprägsame  Theaterkritik  eines  Berliner  Schrift- 
stellers, die  schon  vielfach  zittert  wurde,  verdient  auch  hier  ihren  Platz. 


Schlafwandler.  *) 

Von  August  Strlndberg. 

Es  gibt  Menschen,  die  ihr  ganzes  Leben  im 
Schlaf  gehen;  weckt  man  sie,  werden  sie  böse, 
drehen  sich  um  und  schlafen  wieder  ein.  Sie  leben 
wie  Pflanzen  und  schlafen  wie  Pflanzen. 

Um  einen  Versuch  zu  machen,  will  ich  das 
Wort  lügen  gegen  dichten  austauschen;  vielleicht  ist 
die  Gleichung  auf  diese  schönere  Art  leichter  zu  lösen. 

Sie  haben  sich  eine  Art  Weltanschauung  ge- 
dichtet, wie  sie  eine  Libelle  haben  könnte;  in  Sonne 
und  Luft  schwebend,  aber  in  einem  Sumpf  geboren, 
fliegen  sie  stoßweise  dahin,  bleiben  niemals  sitzen, 
hallen  aber  zuweilen  still,  während  sich  die  Flügel 
bewegen,  vielleicht  back  gebraßt,  da  der  Plug  nicht 
vorwärtskommt ;  dann  rücken  sie  wieder  vor,  halten 
wieder  still.  Sie  suchen  beständig  etwas;  das  ist 
jedoch  nicht  Raub,  vielleicht  ein  Vergnügen,  eine 
Kleinigkeit,  nichts.  Unbeständig,  ohne  ein  fernes 
Ziel,  zufrieden  nur,  wenn  die  Sonne  scheint;  kommt 
aber  eine  Wolke  und  sprüht  Regen,  dann  verbergen 
sie  sich  und  hocken  unter  Blättern;  die  Lebenslust 
ist  fort,  alles  wird  dunkel,  und  wenn  die  Sonne 
untergeht,  so  sterben  sie. 

Sie  stellen  keine  anderen  Forderungen  ans 
Leben  als  Speise  und  Trank  und  Vergnügen,  denn 
»morgen  werden  wir  sterbenc.  Schuld  können  sie 
nicht  empfinden,  denn  alles  Moralische  ist  ihnen 
gleichgültig;  wie  der  Fliege.  Sie  verstehen  nicht, 
wenn  sie  Unrecht  tun,  und  immer  schieben  sie  die 
Schuld  auf  einen  andern.  Sie  dichten  sich  einen 
Charakter  an,  der  hell  und  freundlich  erscheinen 
soll;  aber  im  Innersten  sind  sie  schwermütig;  das 
zeigt  sich,  wenn  sie  allein  sind,  dann  denken  sie 
immer  an  Selbstmord. 

Zuweilen,  wenn  es  ihnen  sehr  gut  geht,  ge- 
brauchen sie  das  Wort:  der  gute  Gott.  Geht  es  ihnen 

*)  Aus  der  schwedischen  Handschrift  übersetzt  von  Emil  Schering. 


21  — 


schlecht,  werden  sie  böse  und  glauben  an  böse 
Mächte,  verstehen  aber  nicht  Hilfe  bei  dem  guten 
Gott  zu  suchen. 

Alles,  was  sie  wünschen,  dichten  sie  in  Wirk- 
lichkeit um;  alles,  was  sie  wollen,  wird  Wahrheit; 
alles,  was  unbequem  oder  unangenehm  ist,  ist  nicht 
wahr.  Sie  können  sich  eine  ganze  Lebensgeschichte 
andichten;  daß  sie  von  Karl  dem  Großen  oder  August 
von  Sachsen  abstammen.  Ich  weiß  von  einer,  die 
sich  einbildete,  sie  sei  Russin,  obwohl  sie  Pinländerin 
war;  schließlich  stammte  sie  von  Matthias  Corvinus, 
der  polnisch  gewesen  sein  soll.  Ich  kann  nicht  sagen, 
daß  sie  log,  denn  sie  glaubte  daran;  hielt  es  für  wahr, 
obgleich  sie  es  gedichtet  hatte. 

Eine  solche  Dichterin  über  eine  Tatsache  auf- 
klären, ist  unmöglich,  falls  diese  Tatsache  im  Ge- 
ringsten unangenehm  ist.  Ihr  eine  richtige  Ansicht 
über  einen  Tatbestand  beibringen,  ist  ebenso  un- 
möglich, falls  nicht  Leidenschaft  oder  Interesse  zu- 
fällig dieselbe  Richtung  einschlagen. 

Wenn  einer  von  ihrem  Hofkreis  einen  Buben- 
streich begangen  hat,  so  leugnet  sie  zuerst  die  Tat- 
sache: »Es  ist  unmöglich!«  Wenn  es  keine  Hilfe 
mehr  gibt,  verteidigt  sie  ihn.  »Er  ist  im  Grunde  ein 
guter  Mensch,  und  ihr  seid  nicht  ein  Bischen  besser!« 
Es  endet  damit,  daß  wir  alle  Schurken  sind  und  dort 
sitzen  müßten,  wo  er  sitzt. 

Sie  ist  dreißig  Jahre  alt,  hat  ein  Kind,  aber  sie 
dichtet  sich  jung,  spricht  von  ihrer  Jugend;  oft  ist 
die  allerdings  geplündert  vom  Mann,  der  nichts  zu 
plündern  fand,  als  sie  vierundzwanzig  war. 

Sie  kann  sogar  noch  jungfräulich  sein,  obgleich 
sie  ein  Kind  bekommen  hat;  ja,  sie  weiß  nicht,  wie 
das  Kind  entstanden  ist .  . . 

Sie  vergißt  eine  vergangene  Tatsache,  die 
reichsbekannt  ist;  aber  die  hat  sie  ausgestrichen,  die 
hat  nie  existiert,  die  ist  ganz  einfach  Lüge  oder 
weniger  als  Lüge. 

Sie  beschäftigt  sich  immer  mit  den  Schicksalen 


22 


der  Menschen;  schlagen  die  Gekränkten  aber  zurück, 
so  beklagt  sie  sich  über  deren  Bosheit  und  Rachgier. 
Sie  selber  kann  nicht  dahinter  kommen,  daß  sie 
unrecht  getan  hat. 

Einmal  weckte  er  sie,  indem  er  das  rechte  Wort 
für  ihren  Charakter  und  ihr  Betragen  benutzte.  Da 
erwachte  sie,  flog  aus  dem  Zimmer  wie  ein  wilder 
Vogel,  ging  davon.  Er  ließ  sie  gehen. 

Sie  dachte,  er  werde  ihr  nachkommen;  das  tat 
er  aber  nicht.  Da  kam  sie  selber,  aber  nicht  wie  eine 
Flehende,  sondern  wie  eine  Königin,  um  die  Huldigung 
entgegen  zu  nehmen.  Die  Huldigung  blieb  aus.  Da 
verlor  sie  den  Verstand  zwei  Tage  lang. 

Er  erbarmte  sich  über  sie.  Aber  sie  konnte  nur 
wieder  aufgerichtet  werden,  wenn  er  sich  ihr  reue- 
voll wieder  näherte.  Es  war  ein  großes  Opfer,  aber 
er  brachte  es  um  des  Kindes  willen.  Da  bekam  sie 
>ihren  Verstände  wieder  und  verzieh  ihm,  nachdem 
sie  die  Bedingungen  diktiert  hatte:  Er  solle  nett 
sein;  das  heißt,  sie  gewähren  lassen,  wie  sie  wollte; 
und  er  sollte  nicht  harte  Worte  gebrauchen. 

Harte  Worte  fürchtete  sie  am  meisten  von 
allem,  denn  die  weckten  sie.  Die  wirkten  wie 
Dynamit  auf  ihr  versteinertes  Herz  und  Gefühl.  Und 
was  sie  »den  Verstand  verlieren«  nannte,  war  gleich- 
bedeutend mit:  den  Verstand  wieder  bekommen, 
zum  Bewußtsein  erwachen,  sich  im  Spiegel  sehen, 
sich  selber  erkennen. 

Ihr  Ich  glich  einem  Ballon  aus  Seide,  der  beim 
geringsten  Riß  zu  Boden  fallen  konnte.  Daher  ihre 
Furcht  vor  Ecken  und  Spitzen. 

Sie  liebte  das  Feine.  Das  bedeutete:  laß  mich 
gewähren,  widersprich  mir  nicht,  sonst  zerstörst  du 
mein  Netz  aus  Spinngewebe,  mit  dem  ich  dich 
gefangen  halte. 

Dann  schlief  sie  wieder  ein,  begann  ihre  Vor- 
stellungen von  ihrer  Jungfräulichkeit,  der  geplün- 
derten Jugend,  der  Geberin,  die  ihm  alles  gegeben 
(wo  nichts  zu  geben  war);  der  Gläubigerin,  der  ein- 


-  28 


gesperrten  Sklavin  (die  frei  ging  und  kam);  dem 
unterdrückten  Weib,  das  keine  eigene  Meinung  haben 
durfte,  dem  er  die  Lebensfreude  geraubt  hatte. 

Jedes  fünfte  Jahr  weckte  er  sie  mit  einer 
Dynamitpatrone.  Dann  aber  schlief  sie  wieder  ein. 
Und  dann  begann  sie  wieder  aus  demselben  Sprach- 
vorrat zu  fabulieren.  Dreißig  Jahre  lang  dichtete  sie 
ihren  Charakter,  ihre  Lebensgeschichte,  ihre  An- 
sichten, ihren  Geschmack,  ihre  Religion.  Da  war  sie 
fünfzig  geworden,  hatte  Hauer  im  Mund,  Muskeln 
und  Fett  in  Überfluß,  graues  aber  gefärbtes  Haar, 
das  nach  Talg  roch.  Sie  war  alt,  und  wußte  es  nicht. 

Sieh  meine  Zähne,  sagte  sie.  Ich  habe  noch 
alle.  (Aber  einer  war  künstlich,  mindestens  einer.) 

Sie  ging  mit  bloßen  Armen  auf  die  Hochzeit 
ihrer  Tochter  und  machte  selber  den  jungen  Herren 
den  Hof.  Zeigte  ihr  schönes  Haar,  das  jetzt  weiß 
war  unter  dem  Schönheitsmittel. 

Bald  darauf  starb  der  Mann;  ermordet,  kann 
man  sagen.  Da  fiel  sie  zusammen  und  ward  ein  altes 
Weib.  Es  war  des  Mannes  »Lebensprana«,  von  dem 
sie  gelebt  hatte,  ohne  es  zu  wissen ;  und  es  war,  als 
nehme  er,  der  im  Grabe  lag,  sein  Eigentum  zurück, 
um  die  Auflösung  aufzuhalten. 

Jetzt  ist  sie  fünfundfünfzig,  kokettiert  aber 
noch  immer  (zeigt  Zähne  und  Haar).  Sie  ist  noch 
nicht  erwacht,  und  scheint  nicht  eher  erwachen  zu 
können  als  im  Tode. 

Zuweilen,  wenn  sie  traurig  ist,  besucht  sie  mich 
zur  Mittagszeit,  bleibt  eine  Stunde  und  lügt  mir 
vor;  dichtet,  hatte  ich  zu  sagen  versprochen. 

Sie  spricht  meistens  davon,  wie  undankbar  die 
Welt  gegen  sie  sei,  die  einem  schlechten  Mann  eine 
gute  Gattin  gewesen,  eine  vortreffliche  Mutter, 
wohlgesinnt,  aufopfernd,  besonders  gegen  den,  der 
>ihre  Jugend  geplünderte 

Balzac  hat  den  Typus  in  >L'art  d'ötre  martyre 
(Petites  miseres  de  la  vie  conjugale)c  geschildert, 
trotzdem  er  nicht  verheiratet  war, 


24  — 


Was  ist  denn  das  für  ein  menschenähnliches 
Wesen,  von  dem  der  Mann  nach  einem  Zusammen- 
leben von  dreißig  Jahren  sagen  konnte:  tDa  ist 
nicht  ein  menschlicher  Zug  zu  finden  !<  Wenn  sie 
Teilnahme  zeigt,  geschieht  es,  um  etwas  zu  gewinnen; 
weint  sie,  will  sie  ein  Kleid  oder  einen  Ring  haben ; 
lacht  sie,  so  benutzt  sie  die  Gelegenheit,  um  die 
Zähne  zu  zeigen;  ist  sie  wirklich  einmal  zugänglich 
für  eine  tatsächliche  Auskunft,  ist  es  aus  Falschheit 
und  Schöntuerei.  Sie  versöhnt  sich  nur,  wenn  man 
Besuch  erwartet;  sie  liebt  nur  ihre  Kinder,  weil  sie 
die  Aussicht  auf  ein  heiteres  Alter  hat,  in  dem  sie 
nicht  allein  zu  sein  braucht;  vom  Mann  wollte  sie 
sich  nicht  scheiden  lassen,  weil  sie  eine  Wohnung 
haben  mußte,  in  der  sie  empfangen  konnte;  und  sie 
hätte  ihn  längst  gemordet,  wenn  sie  nicht  gefürchtet, 
die  Pension  zu  verlieren. 

Nichts  war  bei  ihr  ganz  wirklich.  Ihre  Ergeben- 
heit glich  Ergebenheit,  ihre  Freude  erinnerte  an 
Freude,  war  aber  böse;  ihre  Trauer  besaß  eine  ent- 
fernte Ähnlichkeit  mit  Schmerz.  Es  waren  nur 
Gleichnisse. 

Sie  verstand  nie,  was  er  meinte,  sondern  faßte 
es  auf  ihre  verkehrte  Art,  nach  ihrem  Interesse.  Ich 
verstand  nie,  was  sie  sagte,  denn  sie  muß  Antiphrase 
benutzt,  das  Gegenteil  von  dem  gesagt  haben,  was 
sie  dachte.  Sie  gebrauchte  niemals  die  reinen  ein- 
fachen Worte  ja  und  nein;  sie  wich  ihnen  aus  wie 
einer  Falle,  denn  sie  glich  dem  Tier  eines  Jagd- 
grundes, das  überall  Fallen  sieht.  Sie  selber  aber 
knüpfte  Schlingen  mit  Worten.  Sie  verwandelte  einen 
freien  Vorschlag  in  ein  festes  Versprechen,  sie  stahl 
Blicke  als  Beifall,  verwandelte  ein  Nicken  in  einen 
Revers;  bot  ihre  Dienste  an,  um  später  die  Rechnung 
senden  zu  dürfen. 

Der  Mann  sagte  einmal:  Wenn  mich,  ihren 
Gatten,  nach  dreißig  Jahren  jemand  fragt,  mit  wem 
ich  verheiratet  gewesen  bin,  kann  ich  nur  antworten: 
das   weiß  ich  nicht  1    Ich  habe  dieses  Weib  nie  ge- 


25 


kanntl  Wenn  ich  manchmal  nachts  erwachte,  mußte 
ich  nachdenken,  wen  ich  neben  mir  habe.  Wenn  sie 
schlief,  existierte  sie  nicht  1  Aber  ich  war  an  sie 
gebunden;  sie  wuchs  auf  mir,  nahm  ihr  »Prana«  aus 
mir.  Ich  muß  ihr  einige  Eingeweide  von  mir  gegeben 
haben;  wenn  sie  fortging,  schmerzte  es  in  mir,  ich 
konnte  nicht  atmen  oder  verdauen,  ehe  sie  nicht  mit 
meinen  Eingeweiden  zurückkam.  Sie  gebrauchte  wohl 
einen  Spiegel,  aber  nur  für  das  Äußere;  und  wenn 
ich  zuweilen  den  anderen  Spiegel  vor  ihr  Inneres 
hielt,  entsetzte  sie  sich;  ihr  Gesicht  bekam  Krämpfe 
wie  das  des  Fuchses,  wenn  der  Jäger  ihn  überrascht. 
Sie  verdrehte  die  Augen,  verwandelte  ihre  Züge, 
daß  sich  eine  ganze  Reihe  Gesichter  nacheinander 
zeigten ;  und  statt  ihrer  Blicke  sah  ich  die  eines 
Dämonen  oder  eines  Tieres. 

Ich  habe  eben  in  einer  theosophischen  Zeitschrift 
gelesen,  daß  sich  Tierdevas,  Tierseelen,  in  den  Körpern 
der  Menschen  inkarnieren  können,  sich  durch  Schönheit 
und  natürlichen  Reiz  auszeichnen,  wie  die  meisten  Tiere. 
Ich  fand  die  Theorie  unheimlich  und  glaubte  nicht 
daran,  um  nicht  die  Menschheit  zu  entehren.  Jetzt 
aber  erinnere  ich  mich,  wie  ich  auf  einer  Reise  die 
Gesellschaft  eines  Hundes  erdulden  mußte.  Ich  freute 
mich,  ein  lebendes  Wesen  bei  mir  zu  haben,  fütterte 
ihn  und  ließ  ihn  in  meinem  warmen  Zimmer  schlafen. 
Es  war  ein  scheinbar  gutmütiger  Hühnerhund,  naiv, 
zynisch,  natürlich.  Er  nahm  sein  Essen,  aber  dankte 
nicht;  ließ  es  sich  schmecken,  aber  freute  sich  nicht; 
er  duldete  mich,  liebte  mich  aber  nicht.  Wenn  ich 
seinen  Kopf  nahm,  sah  er  zur  Seite;  und  wenn  sich 
dann  die  Pupillen  nach  außen  drehten,  zeigte  sich  nur 
das  Weiße,  das  jedoch  böse  blinde  Blicke  aussandte. 
Eines  Abends,  als  ich  im  Bett  lag  und  las,  begann 
der  Hund  mir  eine  beunruhigende  Aufmerksamkeit  zu 
zeigen;  als  ich  ihn  abwies,  änderte  er  plötzlich  seinen 
Charakter;  nahm  Formen  wie  ein  Mensch  an,  machte 
Gebärden  und  Bewegungen,  so   daß  ich  vor  Schreck 

270-271 


26  — 


außer  mir  geriet.  Bin  Kampf  entstand,  und  ich  mußte 
das  Tier  mit  meinem  Revolver  töten,  es  zum  Fenster 
hinauswerfen.  Seine  letzten  Blicke  waren  nicht  die 
eines  Tieres,  so  viel  will  ich  sagen. 

Ich  habe  im  Jardin  des  Plantes  zu  Paris  mit 
Tieren  »Bekanntschaft  geschlossen«  während  meiner 
täglichen  Besuche  im  Laufeines  Jahres.  Der  Grisly-Bär 
vonNordamerika,einesderstärksten  und  wildesten  Tiere, 
die  es  gibt,  lernte  mich  auf  eine  Art  kennen,  die  ich  er- 
fand. Ich  allein  gab  ihm  nämlich  Kirschen,  während 
andere  ihm  nur  Brotrinden  gaben.  Er  setzte  sich  auf 
den  Hintern  und  sperrte  das  Maul  auf,  wenn  ich  kam; 
ioh  konnte  ihn  aus  seiner  Höhle  locken.  Er  wollte 
mir  aber  nie  in  die  Augen  sehen,  sondern  schloß 
seine,  wenn  er  das  Maul  aufsperrte.  Ich  aber  hatte 
Geduld  und  kam  täglich  wieder  mit  meinen  Kirschen. 
Schließlich  wollte  er  wohl  sehen,  wer  ihm  das  höchste 
Gut  in  seiner  Gefangenschaft  gab;  vielleicht  eine 
Jugenderinnerung  an  die  großen  Berge  im  Westen 
weckte,  wo  er  in  Freiheit  und  Bergluft  rote  Beeren 
gepflückt  hatte.  Er  versuchte  zu  mir  hinaufzusehen; 
machte  aber  gleich  darauf  eine  Miene,  als  habe  er 
sein  Geheimnis  verraten.  Und  er  wurde  auf  sich 
selber  böse  wegen  dieser  Schwäche,  nicht  auf  mich. 
Er  muß  es  aber  gleich  darauf  bereut  haben  und 
beschloß,  zu  zeigen,  wer  er  sei.  Er  setzte  sich  mit 
dem  Rücken  gegen  die  Gefängnismauer,  wie  ein 
König  auf  seinen  Thron,  machte  eine  Gebärde  mit 
den  Armen,  als  wolle  er  sich  in  seinen  Krönungs- 
mantel hüllen;  aber  er  sah  mich  nicht  an,  sondern 
zeigte  sich  und  sein  Geheimnis.  Das  war  kein  Tier 
mehr;  das  Skelett  machte  menschliche  Bewegungen 
unter  dem  verkleideten  Pelz.  Es  war  ein  Tierdeva, 
ein  König  der  Berge,  eine  Metempsychose,  vielleicht 
eine  frühere  menschliche  Inkarnation  in  einen 
Tierkörper. 

Die  Neger  sagen,  daß  die  Affen  sprechen  können; 
daß  sie  das  aber  geheimhalten,  denn  sonst  würden 
sie  arbeiten   müssen,   und  arbeiten   ist  die  Hölle  für 


-  27  - 


einen  Neger.  Daran  habe  ich  nicht  eher  geglaubt, 
als  bis  ich  ein  Buch  las,  das  die  Leiter  des  Jardin 
des  Plantes,  Forscher  von  Linn^s  und  Buffons  großen 
Zeiten,  herausgegeben  haben.  In  diesem  Buch,  das  ich 
bei  einem  Schiffbruch  auf  festem  Land  verloren, 
standen  lange,  geduldige  Betrachtungen  über  die 
Affen.  Ich  erinnere  mich  dunkel,  wie  sich  einer  der 
Gelehrten  im  Affenhause  verborgen  hatte,  um  die 
Affen  bei  ihren  Geheimnissen  zu  überraschen.  Ein 
Weibchen  hatte  eben  ein  Junges  bekommen.  Nun 
wurde  zuerst  der  offenkundige  Vater  hereingelassen. 
Er  wurde  ziemlich  kühl  und  überlegen  von  der  stolzen 
Mutter  empfangen.  Der  verborgene  Gelehrte  sah,  daß 
sich  die  Gatten  erst  umsahen,  ob  jemand  sie  beob- 
achte. Als  sie  merkten,  daß  sie  allein  seien,  be- 
gannen sie  »einander  in  den  Mund  zu  sprechend 
Das  ist  eine  sonderbare  Art,  die  nur  Schau- 
spieler kennen,  und  die  wahrscheinlich  in  einer 
improvisierten  triebhaften  Labialraethode  besteht. 
Es  waren  keine  artikulierten  Laute,  sondern  die 
Bewegungen  der  Lippen  wurden  von  sprechenden 
Blicken  begleitet.  Dem  Vater  wurde  erlaubt,  den 
Neugeborenen  zu  liebkosen ;  er  mußte  aber  vorsichtig 
dabei  sein.  Darauf  wurden  Verwandte  und  Freunde 
in  die  Wochenstube  gelassen.  Ein  lautloses  Schnattern, 
Komplimentieren,  Bewundern  entstand.  Niemand  aber 
durfte  den  Neugeborenen  anrühren :  wollte  es  doch 
einer,  wurden  die  Zähne  gezeigt,  die  zur  Labial- 
sprache gehören  und  nicht  mißzuverstehen  sind. 

Meine  eigenen  Beobachtungen,  die  ich  später 
als  Epigone  machte,  veranlaßten  mich  zu  dem 
Glauben,  hier  seien  Geheimnisse  vorhanden.  Mit  Teil- 
nahme und  Freundlichkeit  hatte  ich  mit  einem  alten 
Orang  Bekanntschaft  geschlossen,  der  ja  noch  am 
meisten  von  allen  Vierfüßlern  den  Menschen  ähnlich 
ist.  Es  war  das  Gesicht  und  die  Blicke  eines  einge- 
trockneten Greises.  Etwas  sehr  Trauriges,  nicht  über 
die  Gefangenschaft,  denn  er  kannte  nichts  anderes, 
sondern  aus  Schmerz,  daß  er  solch  ein  Vieh  war.  Er 


schien  sich  an  etwas  erinnern  zu  wollen,  konnte  es 
aber  nicht;  und  das  quälte  ihn.  Vielleicht  suchte  er 
ein  verlorenes  Selbst  bewußtsein  wiederzufinden  oder 
wollte  sich  aus  einer  Art  quälenden  Schlafes  wecken. 
Ich  habe  diesen  Ausdruck  einmal  in  einem  Irrenhaus 
gesehen,  wo  Menschen  leben,  welche  die  Erinnerung 
an  sich  selber  verloren  haben. 

Gibt  es  einen  anderen  Beleg  für  die  Annahme 
der  Seelenwanderung,  als  die  Theosophen  uns  jetzt 
aus  der  indischen  Philosophie  geben,  die  uns  ja, 
streng  genommen,  nichts  angehen  dürfte?  Ja,  der 
göttliche  Plato,  dessen  Weisheit  auch  von  den  christ- 
lichen Kirchenvätern  als  ein  Vorchristentum  oder 
offenbarte  Philosophie  angesehen  wurde,  hat  aus- 
führlich das  wichtige  Problem  von  dem  früheren 
Dasein  und  der  Seelenwanderung  hehandelt. 

Im  >Timaios«  sagt  er  ohne  Umschweife :  seitdem 
die  Männer  ensianden,  sind  einige  feige  und  unlauter 
geworden ;  die  wurden  bei  der  zweiten  Geburt  wahr- 
scheinlich in  Frauen  verwandelt.  Zur  selben  Zeit 
schufen  die  Götter  die  Liebe ;  von  der  Flüssigkeit  des 
Lebens  drang  ein  Teil  vom  Kopf  hinunter  durch  das 
Rückgrat  als  Mark.  »Dieses  Mark  ist  beseelt«  und 
weckt  lebengebende  Begierde.  Darum  sind  die  Organe 
der  Liebe  ungehorsam  und  eigenmächtig.  In  der  Gebär- 
mutter steckt  ein  »nach  gebären  verlangendes  Wesen«, 
dem  übel  zu  Mut  wird,  wenn  es  eine  lange  Zeit  ohne 
Frucht  bleibt.  Es  hemmt  das  Atmen,  ruft  Beklem- 
mungen hervor  und  viele  Krankheiten,  muß  deshalb 
befriedigt  werden. 

Aber  wohlgemerkt:  Der  Trieb,  Kinder  zu  ge- 
bären, soll  befriedigt  werden,  nicht  der  andere  Trieb 
(Astartetrieb),  denn  der  kann  nicht  befriedigt  werden, 
der  ist  unersättlich.  Und  der  Trieb  zur  Leibesfrucht 
erzeugt  das  Bedürfnis  nach  einer  Behausung,  in  der 
das  Kind  geboren  wird,  und  verlangt  einen  Mann, 
der  Essen  schafft  und  das  Haus  beschützt!  Das  ist 
die  heilige  Ehe! 

Bei  der  zweiten  Geburt  (Reinkarnation)  wurden 


20  - 


einige  zu  Vögeln.  Das  sind  leichtsinnige,  aber  nicht 
schlechte  Männer  gewesen,  »die  in  ihrer  Einfalt 
glaubten,  die  Erklärung  überirdischer  Dinge  geschehe 
am  sichersten  durch  die  Beobachtungen  des  Auges« 
(Positivisten,  Materialisten  und  ihresgleichen). 

Die  vierfüßigen  Tiere  entstanden  aus  solchen 
Menschen,  die  sich  nicht  mit  Weisheit  und  Tugend 
befaßten,  sondern  mit  der  Nase  auf  der  Erde  herum- 
krochen. 

Die  Fische  sind  die  unvernünftigsten  und  un- 
wissendsten Menschen  gewesen;  darum  dürfen  sie 
nicht  reine  Luft  atmen,  sondern  müssen  schmutziges 
Wasser  schlürfen. 

Und  so  weiter. 

Weise  Männer  aller  Völker  haben  an  eine  zweite 
Geburt  geglaubt,  und  das  Christentum  selber  bezieht 
sich  darauf  wie  auf  eine  axiomatische  Tatsache. 
Priester  und  Leviten  fragten  ja,  ob  Johannes  Elias 
sei;  und  Christus  wurde  oft  für  einen  von  den  gewal- 
tigen Propheten  des  Herrn  gehalten,  der  sich  wieder 
verkörpert  habe.  Wir  Christen  hätten  Grund,  dieses 
Axiom  als  christlich  aufzunehmen,  ohne  darüber  zu 
raisonieren.  Dann  würden  wir  aufhören,  uns  gegen 
ein  mitleidlose«»,  unerklärliches  Schicksal  zu  empören; 
wir  würden  Welten  hinter  dem  Grabe  sehen,  aber 
auch  vor  der  Wiege.  Wir  würden  das  Leben  als  einen 
lehrreichen  Traum  hinnehmen,  auf  unsere  Sorgen 
pusten,  ohne  sie  fort  zu  blasen;  ergeben  unsere  Seele 
und  unser  Leben  in  die  Hand  Gottes  des  Allmächtigen 
befehlen,  denn  er  wird  alles  wohl  machen.  Und  zwar 
ohne  über  die  Rätsel  zu  grübeln,  die  wir  nicht  wissen 
dürfen,  aber  ahnen  können. 

Nach  einer  langen  Abschweifung  komme  ich 
jetzt  zurück  auf  die  Sache,  die  das  Wesentliche  war: 
Schlafwandler,  die  nicht  zum  Seibetbewußtsein  er- 
wachen können.  Ich  habe  dieses  Mal  das  häßliche 
Wort  lügen  vermieden  und  als  Erklärung  das  Wort 
dichten  eingesetzt.  Sich  selber  belügen,  hieße  ja  nie- 


30 


mals  zur  Wahrheit  kommen;  nie  erfahren,  wie  sich 
etwas  in  Wirklichkeit  verhält.  Ich  nehme  an,  der  Wirk- 
lichkeit fehlt  eigentlich  volle  Realität;  sie  ist  eine  Spie- 
gelung, die  durch  eine  rauhe  materielle  Fläche  entstellt 
ist.  Wie  kann  sie  da  erreichbar  für  die  Auffassung  sein, 
besonders  eines  unfixierten  Wesens,  das  vielleicht  aus 
Äthervibrationen  zusammengesetzt  ist,  oder  geschaffen 
ist  wie  eine  Glasscheibe,  die  sowohl  spiegelt  wie  die 
Strahlen  durchläßt.  Die  Wirklichkeit  wird  ja  von 
einem  durchsichtigen  Gegenstand  nur  zum  Teil  wider- 
gespiegelt; wer  aber  dahintersteht,  sieht  überhaupt 
keine  Spiegelung;  mit  anderen  Worten,  es  entsteht 
Totalreflexion,  die  zuweilen  die  Gegenstände  unsicht- 
bar macht. 

Diese  Schlafwandler,  wie  ich  sie  genannt  habe, 
würden  also  andere  Augen  als  wir  besitzen,  ein  anderes 
Wesen  als  wir;  deshalb  könnten  sie  weder  ein  Bild  auf- 
fassen, noch  weniger  sich  selber  sehen.  Das  käme  entwe- 
der von  einer  feineren  Konstitution,  die  keine  Verbin- 
dung mit  dem  Materiellen  eingehen  kann,  weil  es 
außerhalb  ihrer  Sphäre  liegt;  oder  von  einem  nicht 
entwickelten  Auffassungsvermögen  bei  der  materiel- 
len Unterlage  der  seelischen  Existenz. 

Sollten  sie  denn  höhere  Wesen  sein,  und  wäre 
meine  erste  Hypothese  unrichtig?  Nein,  die  der  Pflanze 
gleichen,  die  lebt,  atmet,  sich  ernährt,  sich  fortpflanzt, 
immer  schlafend,  ohne  etwas  wahrzunehmen,  die  können 
keine  höhere  Form  des  Daseins  sein.  Schön  ist  die 
Hyazinthe,  vollendet,  wenn  man  sie  anschaut;  lieb- 
lich ist  ihr  Duft  beim  Einatmen;  vielleicht  nimmt  sie 
etwas  wahr,  das  Schmerz  oder  Freude  gleicht;  aber 
ohne  Vernunft,  ohne  Selbstbewußtsein,  freien  Willen 
kann  ja  kein  Seelenleben  entstehen;  und  ohne  Seele 
sein,  ist  ja  beinahe  tot  sein,  wenigstens  für  uns 
lebendige  Menschen. 

Hier  stocke  ich,  einsehend,  daß  das  Problem 
ohne  Sinn  und  deshalb  unlösbar  ist;  während  eine 
schöne  Tatsache  bestehen  bleibt,  die  Freude  und  Duft 
verbreitet,  unwillkürlich  wie  die  Blume,  die  man  nur 


81 


küssen  kann,  mit  der  man  aber  nicht  sprechen  kann; 
die  man  pflegt,  umpflanzt;  der  man  Sonne  und 
Luft  gibt. 

Ich  habe  mit  gutem  Willen  das  Wort  lügen  mit 
dichten  tibersetzt,  und  ich  bin  damit  dem  großen 
Geheimnis  ein  wenig  näher  auf  die  Spur  gekommen. 
Lügen  soll  Schwäche  in  Willen  und  Verstand  an- 
deuten; Schwäche  ist  hier  wohl  vorhanden;  darum 
heißt  es  auch  so  richtig:    Das  schwache  Geschlecht. 


Tagebuch.*) 

Die  männliche  Überlegenheit  im  Liebeshandel 
ist  ein  armseliger  Vorteil,  durch  den  man  nichts  ge- 
winnt und  nur  der  weiblichen  Natur  Gewalt  antut. 
Man  sollte  sich  von  jeder  Frau  in  die  Geheimnisse 
des  Geschlechtslebens  einführen  lassen. 


Nur  ein  Mann  sollte  sich  unglückliche  Liebe 
zu  Herzen  nehmen.  Eine  Frau  sieht  dabei  so 
schlecht  aus,  daß  ihr  Unglück  in  der  Liebe  begreif- 
lich wird.  • 

An  allen  Geschäften  des  Lebens  ist  das  Weib 
mit  seinem  Geschlecht  beteiligt.  Zuweilen  selbst  an 
der  Liebe. 

Die  Ehre  ist  der  Wurmfortsatz  im  seelischen 
Organismus.  Ihre  Funktion  ist  unbekannt,  aber  sie 
kann  Entzündungen  bewirken.  Man  soll  sie  getrost 
den  Leuten  abschneiden,  die  dazu  inklinieren,  sich 
beleidigt  zu  fühlen. 

Eine  gute  volkstümliche  Redensart  spricht 
davon,  daß  einer  »bich  einen  Kren  gibt«.  Die  Würde 


;)  Ans  dem   .Simplicissimus'. 


32 


macht  den  Mann  schmackhaft,    wie   der   Kren  den 
Schinken. 

Der  Aphorismus  deckt  sich  nie  mit  der  Wahr- 
heit; er  ist  entweder  eine  halbe  Wahrheit  oder 
anderthalb. 

Bin  guter  Stilist  muß  bei  der  Arbeit  die  Lust 
eines  Narzissus  empfinden.  Er  muß  sein  Werk  so 
objektivieren  können,  daß  er  sich  bei  einem  Neid- 
gefühl ertappt  und  erst  durch  Erinnerung  darauf- 
kommt, daß  er  selbst  der  Schöpfer  sei.  Kurzum,  er 
muß  i^ne  höchste  Objektivität  bewähren,  die  die 
Welt  Eitelkeit  nennt. 

Geistige  Arbeit  gleicht  so  sehr  dem  Akt  der 
Wollust,  daß  man  darin  unwillkürlich  auch  der  Kon- 
vention des  Geschlechtslebens  gehorcht.  Man  ist 
diskret,  und  wenn  eine  Prau  zu  Besuch  kommt, 
während  man  bei  der  Arbeit  ist,  läßt  man  sie  nicht 
eintreten,  um  eine  peinliche  Begegnung  zu  ver- 
meiden. Der  Philister  ist  mit  einer  Prau  beschäftigt, 
der  Künstler  huldigt  einem  Werk. 

* 

Die  Sprache  ist  das  Material  des  literarischen 
Künstlers;  aber  sie  gehört  ihm  nicht  allein,  während 
die  Parbe  doch  ausschließlich  dem  Maler  gehört. 
Darum  müßte  den  Menschen  das  Sprechen  verboten 
werden.  Diu  Zeichensprache  reicht  für  die  Gedanken, 
die  sie  einander  mitzuteilen  haben,  ganz  und  gar 
aus.  Ist  es  erlaubt,  uns  ununterbrochen  mit  Ölfarben 
die  Kleider  zu  beschmieren  ? 


Daß  einer  sich  der  Sprache  bedient,  um  zu 
sagen,  daß  ein  Minister  unfähig  ist,  macht  ihn  noch 
nicht  zum  Schriftsteller. 


88 


Ungewöhnliche  Worte  zu  gebrauchen,  ist  eine 
literarische  Unart.  Man  soll  dem  Publikum  bloß  ge- 
dankliche Schwierigkeiten  in  den  Weg  legen. 


Witzigkeit  ist  manchmal  Witzarmut,    die    ohne 

Hemmung  sprudelt. 

« 

Je  größer  der  Stiefel,  desto  größer  der  Absatz. 
« 

Das  Merkmal  eines  schlechten  Zeichners  ist  die 
Aussichtslosigkeit,  daß  eine  Figur,  die  er  in  einem 
bestimmten  Moment  mit  offenem  Munde  darstellt,  diesen 
je  wieder  zumachen  wird. 

• 

Eine  merkwürdige  Art  Mensch  ist  der  Beamte 
eines  magistratischen  Bezirksamtes.  Erledige  ich 
eine  Angelegenheit  schriftlich,  so  lädt  er  mich 
vor.  Komme  ich  das  andere  Mal  gleich  selbst,  so 
fordert  er  mich  auf,  eine  Eingabe  zu  machen.  Ich 
muß  rein  auf  die  Vermutung  kommen,  daß  er  das 
eine  Mal  mich  kennen  lernen  und  das  andere  Mal  ein 
Autogramm  von  mir  haben  will. 

• 

Ich  kenne  eine  Bureaukratie,  die  weniger  auf 
Eingebungen  als  auf  Eingaben  hält. 


Jeder  Wiener  ist  eine  Sehenswürdigkeit,  jeder 
Berliner  ein  Verkehrsmittel. 

Ein  Polizist  nimmt  es  meistens  übel,  wenn  man 
ihn  in  eine  Amtshandlung  einmengt. 

« 

Die  Punktion  der  Milz  muß  ähnlich  sein  wie 
die  der  Notare  im  Staate:  notwendig,  aber  über- 
flüssig. 


84 


Am  Chauvinismus  ist  nicht  eo  sehr  der  Haß 
gegen  die  fremden  Nationen  als  die  Liebe  zur  eige- 
nen unsympathisch. 

Die  Vorstellung,  daß  ein  Kunstwerk  Nahrung 
sei  für  den  philiströsen  Appetit,  schreckt  mich  aus 
dem  Schlafe.  Vom  Bürger  verdaut  zu  werden,  ver- 
schmähe ich.  Aber  ihm  im  Magen  liegen  zu  bleiben, 
ist  auch  nicht  verlockend.  Darum  ist  es  vielleicht  am 
besten,  sich  ihm  überhaupt  nicht  zu  servieren. 


Warum  tadeln  mich  so  viele?  Weil  sie  mich 
loben  und  ich  sie  trotzdem  tadle. 

Die  Moral  ist  ein  so  populäres  Ding,  daß  man 
sie  predigen  kann.  Aber  der  Unmoralprediger  ver- 
greift sich  am  Idealen. 

• 

Die  Familie  ist  das,  was  unter  allen  Umständen 
überwunden  werden  muß.  Familiengefühle  zieht  man 
nur  bei  besonderen  Gelegenheiten  an.  Man  liebe 
seine  Verwandten,  wenn  sie  etwas  angestellt  haben. 
Aber  mit  anständigen  Leuten  zu  verkehren,  wenn 
sie  verwandt  sind,  ist  kompromittierend. 


Das  Familienleben  qualifiziert  sich  als  Eingriff 
in  das  Privatleben. 

Jede  Erkenntnis  sollte  so  erschütternd  sein, 
wie  die  eines  Bauern,  der  eines  Tages  erfährt, 
daß  ein  kaiserlicher  Rat  und  ein  Hoflieferant  dem 
Kaiser  nichts  zu  raten  und  dem  Hof  nichts  zu  liefern 
haben.  Er  wird  mißtrauisch. 


—  36 


Wai  einen  foltert,  sind  verlorene  Möglichkeiten. 
Einer  Unmöglichkeit  «eher  zu  sein,  ist  eine  wahre 
Wohltat. 

Zu  allem  lasse  man  sich  Zeit;  nur  nicht  zu  den 

ewigen  Dingen. 

* 

So  lange  es  innere  Deckung  gibt,  können 
einem  die  Verluste  des  äußeren  Lebens  nichts  an- 
haben. 

Aus  Lebensüberdruß  zum  Denken  greifen:  ein 
Selbstmord,  durch  den  man  sich  das  Leben  gibt. 

Karl  Kraus. 


Weihnacht. 

Als  ich  am  Weihnachtsabend  mit  einem  Freunde 
reiste,  um  der  Stimmung  zu  entgehen,  zu  der  uns 
die  Stimmung  fehlte,  erkannte  ich,  wie  merk- 
würdig sich  das  Bild  der  Welt  gestaltet  hat,  seit- 
dem ihr  jene  vorgeschrieben  ist.  Drei  Handlungs- 
reisende, die  in  der  dritten  Wagenklasse  nicht  mehr 
Platz  gefunden  hatten,  drangen  in  unser  Coupe*  ein 
und  begannen  sofort  von  Geschäften  zu  sprechen.  Sie 
sprachen  aber  in  einem  Ton,  der  etwa  den  Ernst  jenes 
Lebens  offenbarte,  aus  dem  die  Jargonschauspieler 
ihren  Humor  schöpfen.  Wir  andern  räumten  das  Feld, 
und  nachdem  wir  eine  Weile  von  außen  einem  Kar- 
tenspiel hatten  zusehen  müssen,  bekamen  wir  Plätze 
in  der  ersten  Klasse  zugewiesen.  Dort  sann  ich  über  die 
tiefere  Bedeutung  dieses  Abenteuers  in  dieser  Nacht: 
Wer  als  Atheist  den  Zug  bestiegen  hat,  wird  ihn 
als  guter  Christ  verlassen.  Ihm,  nur  ihm  wurden 
solch  heilige  drei  Könige  gesendet ...  So  hätten 
auch  wir  unsere  Weihnacht  erlebt,   wenn  nicht  die 


3«  — 


Stimmung,  der  wir  uns  also  ergeben  mußten,  durch 
eben  jene  wieder  gestört  worden  wäre.  Denn  sie  dran* 
gen  nun  auch  in  die  erste  Klasse  und  verlangten 
Genugtuung,  weil  sie  vermuten  zu  können  glaubten, 
daß  wir  uns  über  ihr  morgenländisches  Betragen 
beim  Kondukteur  beschwert  hätten.  Sie  sagten  stolz, 
sie  seien  Kaufleute.  Wir  aber  beugten  uns  jetzt  vor  der 
Übermacht  der  Religion,  für  die  sie  reisten . .  .  Wer 
vermöchte  sich  ihr  zu  entziehen?  Sie  drang  aus  der 
dritten  empor  in  die  zweite  Klasse  und  sie  übt  Ver- 
geltung bis  in  die  erste  Klasse.  Im  Diesseits  und  im 
Jenseits  gewinnt  sie  um  geringern  Lohn  den  bessern 
Platz.  Sie  läßt  das  Leben  nicht  zur  Ruhe  kommen 
und  in  der  Kunst  erreicht  sie  es  mühelos,  daß  man 
ihr  die  bequeme  Geltung  einräumt.  Sie  ist  da,  und 
man  flüchtet  auf  den  Korridor.  Zieht  man  sich 
dann  aber  in  die  Unsterblichkeit  zurück,  so  ver- 
schafft sie  sich  auch  dort  Einlaß.  Sie  ist  da  und  dort. 
Vor  der  Allgewalt  des  Geschäftsreisenden  gibt  es  in 
der  Welt  des  heiligen  Geistes  kein  Entrinnen. 

Karl  Kraus. 


Glossen. 

In  einem  Sexualprozeß  hat  das  Wiener  Landesgericht  (Vor- 
sitzender Herr  Engelbrecht)  wichtige  Aufklärungen  empfangen. 
Ein  Gerichtspsychiater  trat  vor  und  sagte,  daß  »im  menschlichen 
Leben  zwei  Triebe  eine  hervorragende  Rolle  spielen:  der  Erhal- 
tungs-  und  der  Geschlechtstrieb.  Letzterer,  dessen  Grenze  sehr 
schwer  zu  bestimmen  ist,  kann  eine  solche  Stärke  erreichen,  daß 
das  Individuum  ihm  gegenüber  nicht  Widerstand  zu  leisten  ver- 
mag, mit  Ausnahme  weniger  Menschen  von  besonders  hervor- 
ragender Willensstärke  .  .  .<    Der  Senat,  der  aus  eben  diesen  paar 


—  37 


Menschen  bestand,  zog  sich  unter  dem  Eindrucke  des  Gut- 
achtens zur  Beratung  zurück,  und  wiewohl  er  Grund  hatte,  sich 
geschmeichelt  zu  fühlen,  konnte  er  doch  nicht  umhin,  den  homo- 
sexuellen Angeklagten  dafür  verantwortlich  zu  machen,  daß  es  im 
Leben  so  häßlich  eingerichtet  ist.  Die  Sexualität  dieses  Ange- 
klagten war  an  den  Tag  gekommen,  als  er  dem  Gerichte  den  Dienst 
erwies,  ihm  einen  Menschen,  der  ihn  hatte  ermorden  wollen, 
auszuliefern.  Die  Gerichtspsychiater  hatten,  belehrt  von  den 
politischen  Ereignissen  der  letzten  Zeit,  ausdrücklich  die  Meinung 
bekundet,  daß  selbst  die  Strafdrohung  nicht  imstande  sei,  so 
veranlagte  Menschen  in  eine  andere  Geschlechtsrichtung  zu  führen, 
und  es  kam  zur  Sprache,  daß  nicht  einmal  die  Untersuchungs- 
haft den  Angeklagten  auf  andere  Gedanken  gebracht  habe.  Zum 
ersten  Mal  hatten  Gerichtspsychiater  die  Unwiderstehlich keit  des 
sexuellen  Zwanges  behauptet.  Nützte  nichts.  Es  gibt  bloß  einen 
unwiderstehlichen  Zwang :  dem  Gesetze  zu  gehorchen,  und  die 
Natur  wird  mit  ihren  Ansprüchen  auf  den  Zivilrechtsweg  ver- 
wiesen. Als  strafmildernd  komme  wohl  die  Veranlagung  des 
Angeklagten  in  Betracht,  dagegen  wieder  als  straf  erschwerend 
die  Wiederholung  der  Tat.  Er  konnte  nichts  dafür,  daß  er  es 
einmal  tat,  aber  da  er  es  öfter  tat,  hat  er  das  Delikt  der  Willens- 
schwäche begangen.  Immerhin  haben  auch  die  ältesten  Richter 
des  Wiener  Landesgerichtes  bei  dieser  Gelegenheit  erfahren,  daß 
im  menschlichen  Leben  zwei  Triebe  eine  hervorragende  Rolle 
spielen,  der  Erhaltungstrieb  und  der  Geschlechtstrieb  .  .  .  Der  erste 
war  ihnen  bereits  bekannt. 


Wien : 

»Am  8.  d.  M.  gegen  7  Uhr  abends  fand  in  der  Kärntnerstratte 
eine  sittenpolizeiliche  Streifung  statt,  bei  der  acht  junge  Mädchen  als 
»verdächtig«  arretiert  wurden.  Unter  den  beanstandeten  Mädchen  befand 
sich  die  19  jährige  Viktoria  Aloisia  D.,  die  gestern  dem  Bezirksgerichte 
Josefstadt  (Bezirksrichter  Dr.  Kesseldorfer)  vorgeführt  wurde,  um  sich 
wegen  unbefugter  Ausübung  der  Prostitution  zu  ver- 
antworten. Als  die  Angeklagte,  ein  sehr  hübsches  Mädchen,  auf  dem 
Wege  in  den  Verhandlungssaal  ihren  als  Zeugen  erschienenen  Vater  sah, 
rief  sie  ihm  lachend  zu  :  Guten  Moigen,  Vater  I  Den  Gruß  erwiderte  der 
Vater  mit  den  Worten  :  Verflucht  seist  du  dein  ganzes  Leben,  elender 
Hund  I  Auf  den  Vorhalt  der  Anklage  erklärte  die  Beschuldigte,  daß  sie 
derzeit  einen  soliden  Lebenswandel  führe  und  ihren  Lebensunterhalt  auf 


—  38  — 


ehrliche  Weise  bestreite.  Richter :  Wovon  leben  Sie?  —  Angekl.  :  Ich 
arbeite  für  ein  Stickereigeschäft  etwas  und  dann  habe  ich  einen  Freund, 
einen  fünfzigjährigen  Bahnbeamten,  der  mir  alles  gibt,  was  ich  brauche. 
Der  Polizeiagent  hat  mich  in  der  Kärntnerstraße  nur  arretiert,  weil  ich, 
wie  er  sagte,  auffallend  gekleidet  sei.  —  Der  Vater  der  Beschuldigten 
erklärte,  daß  seine  Tochter  vor  drei  Jahren  aus  dem  Elternhause  ent- 
wichen sei.  —  Angekl.  :  Ich  bin  vor  zwei  Jahren  vom  Hause  weg- 
gegangen, weil  mein  Vater  zum  zweitenmal  heiratete,  jetzt  brauche  ich 
niemanden  mehr,  da  ich  einen  Freund  habe.  —  Richter:  Was  für  ein 
Lebenswandel  ist  dies?  Als  neunzehnjähriges  Mädchen  sollten  Sie  so 
viel  Ehrgefühl  noch  haben,  daß  Sie  sich  nicht  einfach  aushalten 
lassen.  Angekl. :  Warum  soll  ich  einen  Freund,  der  von  mir  nichts  verlangt, 
zurückstoßen?  Ich  finde  dabei  nichts  Unanständiges.  -  Richter:  Und  ich 
erlaube  es  mir  Ihnen  öffentlich  zu  sagen,  daß  dies  unan- 
ständig ist.  —  Der  Polizeiagent  Powolny  erklärte  als  Zeuge, 
daß  er  die  Angeklagte,  die  polizeilich  wegen  liederlichen  Lebenswandels 
vorbestraft  ist,  nur  arretierte,  weil  sie  durch  ihre  auffallende  Klei- 
dung (karrierte  Schoß  und  schwarze  Samtjacke  mit  weißem  Pelzkragen) 
verdächtig  erschien.  —  Richter  (zur  Angeklagten):  Gehen  Sie  halt  nicht 
in  so  auffallender  Kleidung  in  der  Kärntnerstraße  spazieren!  Sie  sehen, 
wohin  das  führt!  -  Der  Richter  sprach  schließlich  die  Angeklagte 
mangels  eines  strafbaren  Tatbestandes  frei.  Der  Vater  redete  nun  der 
Tochter  zu,  einer  ordentlichen  Arbeit  nachzugehen,  worauf  letztere  er- 
widerte: Was  will  man  denn  von  mir;  ich  arbeite  ja  und  dann  habe 
ich    einen    anständigen    Freund.  Richter:     Bei    einer     solchen 

Moral  ist  wohl  jede  Mühe  verloren!< 

Messina ! 


Ein  erschütternder  Herzensschrei  dringt  aus  der  Redaktion 
der  .Arbeiter-Zeitung'.  Er  war  als  Neujahrsgruß  an  den  Leser 
gedacht  und  verdient  als  ein  ehrliches  Bekenntnis  der  journalisti- 
schen Unehrlichheit  gehört  zu  werden: 

Du!  Das  ganze  Jahr  denken  wir  an  dich,  in  jeder  Nacht  ist  von 
dir  die  Rede!  Wenn  wir  im  besten  Zuge  sind  und  die  Dinge  denken 
und  schreiben,  die  uns  am  Herzen  liegen,  führt  gewiß  irgend  ein  grau- 
samer Kollege  in  unsere  besten  Gedanken  und  brummt:  »Ja,  das  inter- 
essiert Sie,  aber  nicht  ihn!«  Dieser  andere,  das  bist  du,  der  sogenannte 
liebe  Leser.  Du  schwebst  unsichtbar  und  doch  absolut  beherrschend  in 
allen  Redaktionszimmern;  deinetwegen  strengen  wir  uns  ununterbrochen 
an,  verständlich  und  allwissend  und  unterhaltend  zu  sein.  Will  einer  von 
uns  einmal  ein  Problem  vom  Grund  aus  lösen,  sei  es  die  Frage  der 
Geschäftsordnungsreform  oder  die  Ermordung  des  Malers  Steinheil 
oder  die  Überschätzung  Friedrich  Hebbels  oder  die  Revolution  in 
Venezuela,  sofort  tönt  ihm  aus  irgend  einem  autoritativen  Munde  die 
gebieterische  Mahnung  entgegen:  »Sie  glauben  wohl,  die  Zeitung  ist 
nur  für  Sie  da  und  nicht  für  die  Leser.  <  Tag  und  Nacht  beherrschst  du 


39 


uns,  du  verbindest  uns  das  Maul  mitten  im  besten  Dreschen,  du  zwingst 
uns  zu  schreiben  und  zu  reden,  wenn  wir  uns  am  liebsten  still  aus 
deinem  Dienst  schleichen  wollen  I  Fortwährend  sind  wir  besorgt,  daß  du 
uns,  um  Gottes  willen,  nicht  mißverstehst.  Wie  oft  möchten  wir  in 
unseren  Aufsätzen  (vergleichsweise)  wütend  auf  den  Tisch  hauen,  aber 
das  würde  zur  Verwilderung  deiner  Sitten  beitragen!  Zuweilen  wollen 
wir  auch  einen  Feind,  den  ausnahmsweise  eine  bessere  Regung  überkam 
(vergleichsweise),  freundlich  anlächeln,  aber  du  könntest  das  mißver- 
stehen, es  könnte  deinem  Charakter  schaden.  Immer  und  ewig  denken 
wir  an  dich,  nehmen  Rücksicht  auf  dich,  wählen  die  Worte  für  dich, 
plagen  uns,  um  dir  ein  Lächeln  oder  einen  ernsten  Gedanken  abzuringen. 
Selbstverständlich  denken  wir  auch  heute  an  dich,  den  Leser,  selbstver- 
ständlich sind  wir  auch  heute  die  ersten,  die  dir  ein  Prosit  Neujahr! 
zurufen.  Und  nun,  raff'  dich  auf,  Leser,  und  —  denk'  einmal  an  uns! 
Vielleicht  bist  du  nur  ein  Leser  und  kein  Abonnent,  vielleicht  hast  du 
einen  Vetter,  der  nur  ein  Leser  und  kein  Abonnent  ist ! !  Jetzt  rühr*  du 
dich,  einmal  im  Jahr,  und  denk"  an  deine  Zeitung.  Wir  werben  das 
ganze  Jahr  um  dich.  Jetzt  wirb  du  einmal  für  uns!  .  .  . 

Nun  weiß  der  Leser  für  das  ganze  Jahr,  was  er  von  der 
Selbständigkeit  der  Meinung  und  von  der  Unentwegtheit  der 
Überzeugung,  die  man  ihm  servieren  wird,  zu  halten  habe.  »Fort- 
während sind  wir  besorgt,  daß  du  uns,  um  Gottes  willen,  nicht 
mißverstehst. <  Von  nun  an  ist  jede  Besorgnis  überflüssig.  Wenn 
die  ,Arbeiter-Zeitung'  einen  politischen  Gegner  beschimpfen  wird, 
so  weiß  der  Leser,  daß  sie  es  wider  besseres  Wissen  und  wider 
besseren  Willen  tut,  daß  sie  ihn  ursprünglich  anlächeln  wollte,  aber 
aus  Furcht,  Abonnenten  zu  verlieren,  das  Gegenteil  tun  muß.  Ein 
erschütternder  Herzensschrei  hat  uns  das  verraten.  Die  korrupten 
Redakteure  der  bürgerlichen  Meinung  bewahrt  größere  Klugheit 
davor,  ihre  Prostitution  so  öffentlich  zu  beklagen.  Sie  markieren  ein 
Freudenleben,  während  die  , Arbeiter-Zeitung'  das  Tagebuch  einer 
Verlorenen  schreibt.  Wenn  sie  aber  im  Jahre  1909  die  Frechheit 
haben  sollte,  den  anderen  ihre  Lebensführung  vorzuwerfen,  dann 
wird  man  sie  rücksichtslos  aus  dem  Bordell  hinausjagen  müssen, 
dem  sie  nicht  nur  durch  ihre  Sentimentalität,  sondern  auch  durch 
ihre  Heuchelei  zur  Schande  gereicht. 

Als  ein  drolliges  Pendant  zu  dem  Bekenntnis  der  ,Arbeiter- 
Zeitung'  mag  hier  die  Stelle  wirken,  die  ich  in  meinem  Artikel 
»Bekenntnisse«  (Oktober  1905)  gefunden  habe: 

».  .  .  Aber  habe  ich  denn  nicht  oft  genug  bewiesen,  daß  mir  der 
Wunsch  des  Lesers  lieber  Verbot  als  Befehl  ist?  Nfcht  offen  bekannt, 
daß  ich  die  Abhängigkeit  vom  Publikum  als  die  schlimmste  aller  publi- 
zistischen Unfreiheiten  empfinde,  schlimmer  als  jene,  zu  der  die    Gunst 


—  40  — 


zahlender  Finanzinstitute  verpflichtet?  Ein  anderes  Recht,  als  eine  Zeit- 
schrift, die  ihm  mißfällt,  nicht  zu  lesen,  kann  ich  dem  Leser  nicht  ein- 
räumen, und  die  Reklamationen,  die  er  erheben  kann,  haben  der  Ex- 
pedition, nicht  der  Redaktion  zu  gelten.  Wenn  etwa  ein  Heft,  das  den 
Beitrag  einer  literarischen  Persönlichkeit,  auf  deren  Hilfe  ich  stolz  bin, 
bietet,  von  fünfhundert  Lesern  ignoriert  wird,  so  sehe  ich  darin  bloß 
eine  abfällige  Selbstkritik,  und  die  schlimmste  Erfahrung  könnte  mich 
dann  nur  zu  dem  Entschlüsse  bringen,  lieber  auf  die  Leser,  als  auf  den 
Mitarbeiter  zu  verzichten.  Ein  allzuschlauer  Geschäftsmann  bin  ich  also 
nicht.  Nur  ein  planvoller  Verschwender.  Das  ist  kein  gutgeführtes 
Blatt,  bei  dem  der  Abfall  der  Anhänger  nicht  durch  einen  Willensakt 
des  Herausgebers  geleitet  wird.  Die  Enttäuschung  des  Lesers  darf  nicht 
die  Überraschung  des  Autors  sein.  Kann  er  sie  seiner  Lebensansicht 
nicht  gewinnen,  dann  mag  er  lieber  materiell  an  ihrer  Empörung  als 
geistig  an  seiner  Ergebung  zugrunde  gehen.  Solche  Gemeinschaft  mit 
dem  bauchrutschenden  Gesinde,  das  täglich  zweimal  den  Wünschen 
abonnierender  Familienväter  pariert,  würde  ihn  tiefer  erniedrigen,  als 
der  förmliche  Eintritt  in  die  Sklavenlegion.« 


Unter  dem  Titel  >  Beglückwünschung  des  Korrespondenten 
der  ,Neuen  Freien  Presse'  durch  Abgeordnete  im  türkischen 
Parlament«  läßt  sie  sich  aus  Konstantinopel  depeschieren: 

>Halb  4  Uhr.  Ein  englischer  Diplomat  brachte  in  die  Couloirs 
des  Parlaments  die  Nachricht,  der  Ministen at  habe  soeben  den  Vor- 
schlag Österreich-Ungarns  unverändert  angenommen  ....  Arabische  und 
albanesische  Abgeordnete,  welche  die  festesten  Stützen  des  Kabinetts 
sind,  beglückwünschten  Ihren  Korrespondenten  in  herzlichsten  Worten 
zur  Lösung  .  .  .« 

Das  gehört  sich  auch.  Und  da  die  ,Neue  Freie  Presse' 
vielleicht  zu  bescheiden  ist,  um  es  selbst  mitzuteilen,  so  sei  ver- 
raten, daß  auch  der  österreichisch-ungarische  Botschafter  in  die 
Angelegenheit  verwickelt  ist.  Er  hat  nämlich  offenbar  während  der  Be- 
glückwünschung des  Korrespondenten  die  Depesche  an  die 
,Neue  Freie  Presse'  abgeschickt. 

K.  K. 

* 

Der  Fall  des  Max  E. 

Um  Schuld  oder  Unschuld  eines  Knaben  handelt  es  sie*. 
Er  hatte  jenen  vierzehnten  Geburtstag  erst  um  wenige  Monate 
überschritten,  an  dem  sich  ein  Wunder  ohne  gleichen  im  Gehirn 
des  Menschen  vollzieht:  plötzlich,   innerhalb   von  vierundzwanzig 


41 


Stunden,  erwacht  hierzulande  das  Verständnis  für  Recht  und  Un- 
recht, entwickeln  sich  sämtliche  Voraussetzungen  der  Verantwort- 
lichkeit einer  Person,  und  es  erblüht  mit  einer  Schnelligkeit,  die 
jedes  tropische  Wachstum  weit  hinter  sich  läßt,  aus  dem  Kinde 
eine  ethisch  reife  Persönlichkeit.  Damit  ist  endlich  jene  kostbare 
Reife  erreicht,  die  den  jungen  Menschen  in  den  Stand  setzt,  von 
nun  an  durch  einen  Fehltritt  seine  bürgerliche  Existenz  vernichten 
zu  können. 

Ein  Gerichtshof  hat  über  den  vierzehnjährigen  Max  Ehr- 
mann sein  Schuldig  ausgesprochen.  Der  Vater  und  der  Verteidiger 
des  Verurteilten  halten  an  der  Überzeugung  von  seiner  Unschuld 
fest.  Neue  Umstände  und  Details  werden  durch  ihre  Bemühungen 
zutage  gefördert.  Das  Ansuchen  um  Wiederaufnahme  des  Straf- 
verfahrens wird  trotzdem  zurückgewiesen.  Beschwerden  und  ein 
zweites  Gesuch  um  Wiederaufnahme  bleiben  erfolglos,  obwohl 
ernstliche  Zweifel  an  der  Schuld  des  Verurteilten  unabweisbar  sind. 
Die  Energie  von  entlastenden  Tatsachen,  die  zweifellos  genügt  hätte, 
einer  im  Gange  befindlichen  Untersuchung  eine  durchaus  andere 
Richtung  zu  geben  und  sie  vermutlich  zu  einem  andern  Urleil  zu 
führen,  diese  Energie  reicht  nicht  aus,  die  ruhende  Sache,  die  chose 
jugee,  in  Bewegung  zu  setzen.  In  der  Judikatur  kommt  das  Gesetz 
der  Trägheit  zur  Geltung,  und  wir  sehen  mit  Schrecken,  daß 
auch  hier  zugeführte  Kräfte  scheinbar  spurlos  verschwinden, 
weil  sie  bei  der  Überwindung  der  inneren  Widerstände  des  Appa- 
rates aufgebraucht  werden.  Der  Verteidiger  des  Max,  Doktor 
Markus  Ettineer,  führt  einen  schwierigen  Kampf  in  Eingaben  und 
Broschüren  mit  rücksichtsloser  Schärfe.  Anschuldigungen  gegem 
einzelne  Zeugen  und  Funktionäre  werden  erhoben.  In  Ehrenbeleidi- 
gungsprozessen setzt  sich  der  Straffall  fort.  Eine  gewaltige  Menge 
von  Haß  ist  auf  beiden  Seiten  aufgespeichert,  so  daß  es  dem 
Beurteiler  oft  scheinen  könnte,  vom  Rechtsstreite  sei  nur  der  Streit 
geblieben  und  es  handle  sich  nicht  so  sehr  um  Schuld  oder  Unschuld 
als  um  Sieg  oder  Niederlage. 

Der  Verteidiger  wird  heute  vielfach  als  Rechtsfanatiker  an- 
gesehen und  als  solcher  gelobt  oder  angegriffen.  Wie  sehr  aber 
wird  seine  Bemühung  um  das  Recht  von  den  Leistungen  der 
Gegenseite,  z.  B.  der  Frau  Frieda  A.,  in  den  Schatten  gestellt  1  Er 
will  jemandem  Hilfe  bringen,  die  Führung  von  Rechtssachen  ist  sein 
Beruf,  er  hat  auch  einen  Eid  abgelegt,  seine  Pflicht  zu  tun.  Diese 


42  — 


Dame  aber  leitet  offenbar  kein  anderes  Motiv  als  die  reine  Liebe 
zum  Recht.  Sie  kämpft  für  die  Schuld  des  Knaben;  sie  hat  ihr 
mitleidiges  Gemüt,  ihre  weibliche  Liebenswürdigkeit  aufopferungs- 
voll überwunden.  Sie  wendet  unsägliche  Mühe  auf,  daß  der 
Schuldspruch  zu  Recht  bestehe,  sie  dient  niemandem  als  der  großen, 
starren  Idee  des  Rechtes.  Immer  neue  Zeugen  bringt  sie  für  die 
Schuld  des  Knaben,  immer  neue  Erinnerungen  erweckt  sie  in  ihnen. 
Sie  hat  eine  Lebensaufgabe.  >Sie  müssen  etwas  wissen,  es  wird  Ihr 
Schade  nicht  sein«,  mit  dieser  Formel  wirbt  sie  die  Gerechten 
für  die  Wahrheit.  Nach  einer  Darstellung  im  Verhörsprotokoll. 
Em  einziges  Mal  weicht  sie  von  dem  erhabenen  Gedanken  der 
Sühne  ab,  der  ihr  Leben  beherrscht.  Da  konnte  es  geschehen, 
daß  ihr  Anwalt  in  ihrem  Namen  das  Versprechen  gibt,  ein  Be- 
gnadigungsgesuch für  den  verurteilten  Knaben  zu  befürworten. 
Aber  schon  zwei  Tage  später  findet  sie  sich  wieder,  und  derselbe 
Anwalt  schreibt  an  den  Vater  des  Verurteilten:  >Gelegentlich 
der  heute  erfolgten  Abrechnung  mit  meinen  Klienten  haben 
dieselben  erklärt,  daß  sie  ihre  Zustimmung  zur  Befürwortung  des 
Begnadigungsgesuches  davon  abhängig  machen,  daß  ihnen  diese 
K  82  von  Ihnen  rückvergütet  werden.  Andernfalls  wären  sie  genö- 
tigt beim  Strafgerichte  die  von  mir  abgegebene  Befürwortungs- 
erklärung zurückzunehmen«.  82  Kronen!  So  geringfügig  ist 
oft  der  Anlaß,  der  einen  für  eine  große  Sache  wieder- 
gewinnen kann ! 

Es  ist  hier  unmöglich,  den  verschlungenen  Wegen  des  Be- 
weisverfahrens zu  folgen.  Aber  es  genügt  ein  kurzer  Abriß  der 
Vorgänge,  die  zur  Verurteilung  führten,  um  einen  Schluß  auf 
Schuld  oder  Unschuld  zuzulassen.  Die  Dinge  waren  einmal 
so  ganz  einfach  und  unwichtig,  ehe  sie  anfingen  kompliziert,  be- 
deutungsvoll, also  juridisch  zu  werden. 

Man  war  in  einer  Privatrealschule.  Man  ist  ein  junger  Herr 
von  elf  Jahren,  heißt  Egon  und  ist  der  Sohn  der  früher  erwähnten 
tatkräftigen  Zeugin.  Nun  besuchte  man  die  erste  Klasse  und  hatte 
ungeheuren  Respekt  vor  einigen  Persönlichkeiten,  Persönlichkeiten 
voll  Männlichkeit  und  Kühnheit,  die  in  der  dritten  oder  gar  vier- 
ten Klasse  der  Anstalt  waren.  Wo  ein  Wille  ist,  ist  auch  ein  Weg, 
und  der  Wille  des  kleinen  Egon,  mit  diesen  imponierenden  Wesen 
in  Verkehr  zu  treten,  war  stark.  In  seinem  Interesse  dominiert 
zweifellos   Rudolf   S.,  Schüler    der    vierten    Klasse.      Ein    schnei- 


—  43 


diger  Kavalier!  Er  hat  eine  führende  Rolle  in  der  Anstalt,  ist 
Weltmann  und  ein  sehr  freier  Geist.  Ferner  mußte  auch  Max 
Ehrmanns  Bekanntschaft  ein  heißersehntes  Ziel  für  Egon  sein.  Max 
und  Rudolf  haben  in  seinen  Augen  das  eine  gemein,  daß  ihr  Geist 
auf  höhere  Interessen  gerichtet  ist,  die  das  Schulleben  nicht  be- 
friedigen kann;  sie  führen,  jeder  in  seiner  Art,  neben  diesem 
Schulleben  ein  zweites,  ein  höheres  Dasein.  Und  der  kleine  Egon 
möchte  so  gerne  an  diesem  teilnehmen  dürfen.  Ist  man  doch 
augenblicklich  zu  einer  höchst  trübseligen  Lebensführung  ver- 
urteilt !  Man  sitzt  den  ganzen  Tag  auf  Schulbänken,  soll  Französisch 
lernen  und  kann  es  nicht,  wird  von  Tadelbriefen  und  ähnlichen 
Gemeinheiten  des  Schicksals  bedroht.  Das  höhere  Interesse 
Rudolfs  ist  auf  die  >Hermania«  gerichtet.  Das  ist  ein  Verein, 
dem  er  angehört,  der  sich  aus  Schülern  der  vierten  Klasse 
rekrutiert,  Bänder  und  Kappen  trägt,  Kneipen  abhält  und 
Fecht-  und  Ehrenangelegenheiten  auf  seinem  Programm  hat.  Dort 
gibt  es  Freiheit,  Säbel,  Stierköpfe  und  gar  kein  Französisch.  Es 
ist  offenbar,  daß  dieser  Verein  viel  Ähnlichkeit  mit  dem  Paradiese 
hat.  Und  auch  Max  Ehrmann  hat  hochfliegende  Gedanken  und  ein 
berückendes  Ziel :  reiten!  Seine  ehrgeizigen  Pläne  befassen  sich  mit 
Sporen  und  Gamaschen,  das  Hippodrom  im  Prater  übt  eine  unheim- 
liche Anziehungskraft  auf  ihn  aus.  Der  Vater  hat  nicht  das  richtige 
Verständnis  für  die  Sache.  Er  läßt  den  Max,  der  einigemal  unmotiviert 
von  der  Schule  fortgeblieben  war,  fortan  zum  Unterricht  und 
zurück  begleiten. 

In  diesem  Milieu  spielt  sich  das  Verbrechen  ab,  für  das 
das  Landesgericht  eine  Kerkerstrafe  über  Max  verhängt  hat.  Zur 
Begnadigung  wurde  der  Vierzehnjährige  nicht  empfohlen,  weil  er 
angeblich  systematisch  zum  Diebstahl  verleitet  und  verslockt 
geleugnet  hatte. 

Der  kleine  Egon  A.  wollte  nämlich  gerne  für  voll  angesehen 
werden;  wollte  auch  etwas  abkriegen  von  der  Atmosphäre  der 
»Hermania«  und  jener  des  Hippodroms.  Er  nahm  Portepees 
aus  dem  Geschäfte  der  Eltern  und  später  auch  Geld  aus  dem 
Wäschekasten  der  Mutter.  Erstens,  weil  das  eine  Tat  war  und  man 
durch  Taten  zum  Manne  wird,  dann  wohl  auch,  weil  Geld  und 
Geldeswert  dem  Besitzer  Ansehen  geben;  und  um  dieses  war  es 
ihm  zu  tun.  Herr  Dr.  Ettinger  betont  dieses  Verbrechen  und  nennt  den 
vollen  Namen  des  Verbrechers.  So  rühmenswert  die  Konsequenz  und 


44 


Entschlossenheit  ist,  mit  der  er  für  seine  Überzeugung  eintritt,  so  tut 
er  hier  ein  wenig  zuviel.  Wenn  der  kleine  Egon  in  einigen  Jahren  ein 
Mann  geworden  ist,  möge  man  sich  nicht  mehr  daran  erinnern, 
daß  er,  als  Elfjähriger,  zwischen  der  Heiligkeit  der  »Hermania«,  des 
Hippodroms  und  des  mütterlichen  Waschekastens  die  richtige 
Wahl  nicht  zu  treffen  wußte. 

Abgesehen  von  den  Details,  von  dem  starken  Tatsachen- 
material, das  Dr.  Ettinger  zur  Führung  des  Unschuldsbeweises 
zustande  brachte  —  ist  es  psychologisch  möglich,  daß  in  diesem 
Falle  eine  Verleitung  zum  Diebstahl  durch  Max  Ehrmann  statt- 
gefunden hat?  Neben  Max  verkehrte  auch  der  ältere  Rudolf  S.  mit  Egon. 
Er  mußte  den  weitaus  stärkeren  Eindruck  auf  den  Elfjährigen 
machen.  Er,  der  Führer  in  der  >Hermania«,  der  fünfzehnjährige 
Student  mit  Kappe  und  Band,  ist  eine  jener  Personen,  in  deren 
Kreis  nicht  viel  Raum  für  fremde  Taten  ist.  Geschweige  denn  für 
eine  Oroßtat,  als  welche  er  und  Egon  den  Diebstahl  auffaßten! 

Für  Egon  war  ferner  der  Verkehr  mit  den  älteren  Knaben 
höchst  wertvoll,  und  er  mußte  bestrebt  sein,  für  die  eigene  Jugend 
(das  ist  in  diesem  Falle:  Minderwertigkeit)  notwendig  ein  Äqui- 
valent zu  bieten.  Das  ist  so  selbstverständlich,  daß  die  An- 
nahme, es  sei  von  ihm  aus  dunkeln,  verbrecherischen  Instinkten, 
aufs  Geratewohl  hin  zuerst  Geld  gefordert  worden,  daneben 
völlig  absurd  erscheint.  Die  richterliche  Psychologie  sagt:  Der 
ältere  Knabe  verkehrt  mit  dem  jüngeren,  weil  er  Geld  haben  will.  Aber 
dieser  Schluß  ist  aus  einer  Erfahrung  an  erwachsenen  Verbrechern 
gezogen.  Hier  muß  es  heißen  :  Der  Jüngere  will  dem  Älteren  Geld 
geben,  um  mit  ihm  verkehren  zu  dürfen. 

Und  endlich  geht  geradezu  die  Unmöglichkeit  einer  Ver- 
leitung aus  den  Charaktereigentümlichkeiten  Egons  hervor.  Nicht 
weil  er  ihr  zuviel  Widerstand  entgegensetzte,  sondern  weil  selbst 
das  Minimum  von  Widerstand,  das  sie  erfordert,  bei  ihm  nicht 
vorhanden  war.  Aus  jeder  seiner  Aussagen  geht  die  ungewöhnliche, 
vielleicht  krankhafte  Suggestibilität  des  Knaben  hervor.  Sein  Anleh- 
nungsbedürfnis, seine  psychische  Widerstandslosigkeit  sind  offenbar. 
Dieses  Kind  ist  so  wenig  verleitbar,  als  Wasser  schneidbar  oder  spalt- 
bar ist.  Wenn  er  als  Zeuge  beschuldigt,  heißt  es  einfach:  er  hat  mir 
gesagt,  ich  soll  ihm  Geld  bringen,  am  nächsten  Tag  hab  ich  ihm  das 
Geld  gebracht.  .  .  .  Ohne  Motivierung,  ganz  selbstverständlich, 
eins  folgt  für  ihn  mit  Notwendigkeit   aus  dem  andern:    man  hat 


45 


mir  gesagt  —  ich  habe  gebracht.  Und  das  nennt  man  Beein- 
flussung? Hier  wurde  übersehen,  daß  es  für  einen  älteren  Knaben, 
der  mit  Egon  sprach,  einfach  unmöglich  war,  Egon  nicht  zu  be- 
einflussen. Bloß  weil  er  älter  war,  weil  er  in  der  >Hermania«  war 
oder  weil  er  reiten  konnte. 

Nur  für  die  gekränkte  Mutter  ist  es  selbstverständlich,  daß 
sie  nach  Verleitern  fragt,  daß  sie  nicht  glauben  kann,  ihr  Kind 
hätte  das  aus  Eigenem  getan.  Ungeheuerlich  aber  ist  es,  daß  ihre 
Ansicht  und  die  unsichere  Antwort  des  geängstigten  Knaben  sich 
weitere  Geltung  verschaffen,  von  Advokaten  und  Richter  über- 
nommen und  festgehalten  werden  und  schließlich  als  zurei- 
chende Zeugenaussagen  zu  einer  Verurteilung  führen. 

Aus  der  einfachen  Übersicht  des  Falles  und  ebenso  aus 
dem  eingehenden  Studium  der  von  Doktor  Ettinger  veröffentlichten 
Akten  ergeben  sich  zwei  unabweisbare  Folgerungen:  erstens,  daß 
das  Unterlassen  der  Empfehlung  zur  Begnadigung  auf  eine  offen- 
kundig irrtümliche  Annahme  des  Gerichtes  zurückzuführen  ist 
und  zweitens,  daß  schwerwiegende  Gründe  gegen  die  Richtigkeit 
das  Urteils  sprechen.  Und  mit  diesem  Resultate  hat  der  Anwalt 
teilweise  den  Zweck,  den  er  anstrebt,  die  Rehabilitierung  des 
Knaben,  erreicht.  Nicht  bei  der  großen  Menge  und  nicht  vor  dem 
Gesetze;  aber  bei  jedem,  der  sich  ohne  Voreingenommenheit 
mit  dem  Fall  beschäftigt  hat.  Otto  Soyka. 


Erdbeben. 

In  einem  sehr  berechtigten  Protest  gegen  die  neueste  Art 
von  Parvenütum,  die  sich  in  der  Satire  auf  die  Komtessen  be- 
friedigt, zitiert  ein  Kritiker  die  Worte  Montaignes: 

.  .  .  Warum  schätzen  wir  einen  Menschen  nicht  nach  dem  ab,  was 
ihm  selber  zu  eigen  ist?  Er  hat  ein  großes  Gefolge,  einen  schönen 
Palast,  so  viel  Kredit,  so  viel  Einkommen:  alles  das  ist  nur  um  ihn 
herum,  nicht  in  ihm  .  .  .  Wenn  ihr  nun  einen  Menschen  abschätzet, 
weshalb  schätzet  ihr  ihn  dann  ganz  eingehüllt  und  eingepackt  ab?  .  .  . 
Kr  lege  seine  Reichtümer  und  Würden  beiseite ;  er  erscheine  im  Hemde  .  .  . 
Auf  die  wahren  Abstände  zwischen  den  Menschen  achten  wir  nicht, 
während  wir  hingegen,  wenn  wir  einen  Bauer  und  einen  König,  einen 
Leibeigenen  und  einen  Edelmann,  einen  Privatmann  und  einen  Beamten 
betrachten,  die  sich  sozusagen  nur  durch  die  Beinkleider  von  einander 
unterscheiden,  plötzlich  den  Eindruck  einer  außerordentlichen  Ver- 
schiedenheit erhalten  .  .  . 


46 


Aber  ein  Erdbeben  ist  ein  demokratischer  Faktor.  In  der- 
selben Zeitung,  in  der  das  Zitat  steht,  war  der  Brief  einer  Prin- 
zessin an  einen  Grafen  veröffentlicht: 

»  .  .  .  Die  Schiffe  kommen  an,  die  Bahnzüge  folgen  einander 
und  unaufhörlich  und  führen  uns  tausende  und  abertausende  Verwundete 
zu,  halbnackt,  zitternd  vor  Schreck,  vor  Hunger,  vor  Elend.  Die  ver- 
einten Bemühungen  aller  Gesellschaftsklassen  vermögen  nicht,  dieses 
gebrochenen,  ruinierten,  hoffnungslosen  Leuten,  die  die  teuersten  Familien- 
mitglieder verloren  haben,  zu  helfen,  und  sie  befinden  sich  durchwegs 
in  einem  Zustande,  der  nicht  einmal  den  Schluß  gestattet,  welcher  Ge- 
sellschaftssphäre sie  angehören.  Sie  wurden  von  der  entsetzlichen  Kata- 
strophe im  Schlafe  überrascht  und  sind  geflohen  in  einem  Hemde  .  . 
Ich  gehöre  einem  Damenkomitee  an,  das  den  Verwundeten  hilft,  Nah- 
rung für  alle  die  Halbverhungerten  beschafft  und  sucht,  ihre  Blöße* 
zu  decken  .  .  .< 

• 

Der  Liberalismus  spricht: 

>In  Palermo  ziehen  jetzt  die  Menschenmassen,  Heiligenbilder 
tragend,  durch  die  Straßen,  und  in  Catania  wurde  die  silberne  Büste 
der  heiligen  Agathe  aus  dem  Silberschrein  geholt  ....  Die  fromme* 
Sizilianer  rufen  jetzt  den  Himmel  an,  er  möge  ihnen  helfen  und  sie  vor 
weiterem  Unheil  bewahren  .  .  .« 

Wir  flüchten  zur  Wissenschaft.  Wenn  wir  nämlich  nicht 
gerade  das  Pech  haben,  in  Sizilien  eine  liberale  Zeitung  heraus- 
zugeben. 

> Schon  haben  die  Männer  der  Wissenschaft  Apparate  gebaut, 
die  selbst  in  einer  Entfernung  von  vielen  tausend  Meilen  die  Erdbewe- 
gungen verzeichnen  .  .  ,* 

Je  größer  die  Entfernung,  desto  sicherer  funktionieren  die 
Apparate.  Nur  wenn  sie  sich  am  Orte  des  Erdbebens  befinden,  ist 
Gefahr  vorhanden,  daß  sie  kaput  gehen. 

>Das,  was  Eduard  Sueß  so  geistvoll  den  Pulsschlag  des  Erdballs 
genannt  hat,  wird  mit  wissenschaftlicher  Genauigkeit  bekannt  sein  .  .  .< 

Das  wird  aber  den  Pulsschlag  der  Erde  nicht  weiter  genieren. 

Und  ihre  Bonmots  sind  überraschender. 

• 

Die  Sizilianer  werden  sich  doch  einmal  darüber  aufklären 
lassen,  daß  die  Priester  sie  vor  Erdbeben  nicht  bewahren  können. 
Die  frommen  Redakteure  der  ,Neuen  Fieien  Presse'  werden  dem 
Glauben,  daß  die  Geologen  es  imstande  seien,  nie  abschwören. 

• 

Goethe  habe  geschrieben : 

...  In  Messina  waren  alle  Gebäude  vom  Erdboden  zusammen- 
jjerüttelt,  aber  die  Kirche  und  das  Kloster  der  Jesuiten  standen  ungerührt, 


47  — 


als  wären  sie  gestern  gebaut.  Es  war  nicht  die   Spur  an    ihnen   zu   be- 
merken, daß  die  Erderschütterung  den  geringsten  Effekt  auf    sie  gehabt 

»Mit  diesen  Worten«,  beeilt  sich  die  .Neue  Freie  Presse' 
hinzuzufügen,  »wollte  Goethe  auf  die  vorzügliche  Bauart  der 
Kirche  und  des  Klosters  hinweisen«.  Beileibe  nicht  auf  eine  über- 
natürliche Protektion.  Goethe  war  ja  aufgeklärt. 

• 

Apropos  —  was    sagt  denn  der   »Zivilingenieur  Berdach«  ? 

* 

Eine  tröstliche  Nachricht  aus  Sizilien  hat  man  dem  Spezial- 
korrespondenten  der  ,Neuen  Freien  Presse'  zu  verdanken.  Er  malt 
doch  wenigstens  nicht  durchaus  grau  in  grau: 

>Palmi  ist  zerstört.  Im  Schutt  seiner  Häuser  fanden  6000 
Menschen  ihren  wer  weiß  wie  schmerzhaften  Tod.  Bagnara  ist  ein 
Massengrab.  Scilla  und  Cannitelli  sind  dem  Boden  gleichgemacht.  .  .  . 
Südwestwärts  von  Bagnara  ist  das  Geleise  verschüttet,  der  Tunnel  zwi- 
schen San  Giovanni  und  Reggio  zerstört  ....  Die  dem  Erdbeben 
nachfolgende  Sturmflut  hat  das  Ufergelände,  auf  welchem  die  Baha 
gebaut  ist,  zerissen,  zerklüftet  und  verwüstet.  Drei  Wegstunden  von 
Reggio  liegen  seit  Tagen  dreißig  Lastwagen  mit  Lebensmitteln  und 
können  nicht  durch.  Angesichts  dieser  Umstände  ist  es  ein 
Glück,  daß  der  Abgeordnete  De  Nava  sich  unser  annimmt.  Wir  fahren 
mit  ihm  nach  Neapel  zurück.  .  .« 

Generalleutnant  Mazza  zum  Spezialkorrespondenten :  »Fra- 
ge n  Sie  nicht  zu  viel,  wir  werden  tun,  was  Vernunft  und  Herz 
uns  eingeben«. 

Aus  allen  Berichten,  so  sehr  sie  auch  sonst  divergieren, 
scheint  mit  Sicherheit  hervorzugehen,  daß  sich  die  Handlungs- 
reisenden gerettet  haben. 

• 

»Austria  non  se  muove«,  hatte  ein  italienisches  Lügenblatt 
behauptet.  Aber  es  wird  nicht  nur  Geld  gesammelt,  sondern  der 
Gastwirt  vom  Semmering  hat  auch  dem  Minister  Tittoni  seine 
Teilnahme  ausgedrückt.  Eppur  si  muove ! 

• 

Die  Erde  will  nicht  mehr.  Es  war  bloß  ein  nervöses 
Zucken,  -  und  der  Jammer  ist  unendlich.  Wenn  ihr  aber  wirklich 
einmal  die  Geduld  reißt? 


48 


Die  Erde  macht  mobil,  seitdem  die  Menschen  die  > Erober- 
ung der  Luft«  versuchen. 

• 

Es  gewährt  einige  Beruhigung,  dies  Wüten  der  Natur 
gegen  die  Zivilisation  als  einen  zahmen  Protest  gegen  die 
Verheerungen  aufzufassen,  die  diese  in  der  Natur  angerichtet  hat. 
Was  hat  sie  aus  den  Weibern  gemacht!  Durch  eine  grandiose 
Huldigung  ließe  sich  die  Natur  versöhnen,  durch  ein  Opferfest 
des  Wohltuns  zum  wohltätigen  Zweck.  Christliche  Liebe  vergesse, 
christlich  zu  sein  !  Heran  die  Samariterinnen !  Heran  die  Sama- 
riter! Alle,  die  heute  bloß  mit  Unlust  spenden,  heran!  Man  kann 
an  einem  Tage  Völker  ersetzen.  Man  kann  an  einem  Tage  Reich- 
tümer sammeln  und  Städte  auferbauen.  Ein  Tag  zur  Feier  des  Lebens 
in  der  ganzen  Welt,  die  eine  Totenklage  erfüllt! 

Karl    Kraus. 


Vita  nnova. 
Von  Oskar  Wilde. 

Das  Meer  war  stürmisch,   wo  ich  schweigend  stand, 
bis  mir  der  Schaum  um  Haar  und  Wangen  hing. 
So  traurig  pfiff  der  Wind  —  zu  Ende  ging 
des  Abends  Atem  mit  purpurnem  Brand. 

Der  laute  Schrei  der  Möwen  brach  ins  Land  — 
und  dann  mein  Ruf:  »Wie  schal  ist  dieses  Ding, 
das  ,Leben'  heißt  —  in  diesem  engen  Ring 
voll  Qual  und  Arbeit  erntet  keine  Hand.c  — 

Noch  einmal  warfen  meine  müden  Hände 
zerrissne  Netze  aus  von  alten  Küsten  — 
zum  letzten  Mal  (war  dies  denn  nicht  ein  Ende?) 
trug  meine  tote  Seele  Hoffnungsschauer. 
Als  ach!  aus  dumpfem  Traum  und  dunkler  Trauer 
aufstieg  ein  Glanz  von  siegreich  weißen  Brüsten. 

Übersetzt  von  Felix  Orafe. 


Heransgeber  nnd  verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Kran«. 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3. 


DIE  FACK 

Herausgebor: 

KIARL  KRAU» 

erscheint  in  zwangloser  Folge  im  umfange  von  16—32  Seiten. 

BEZUGSBEDINGUNGEN : 

für  Österreich-Ungarn,  36  Nummern,  portofrei K    9.— 

n  »  „18  „  „  „ 

„    die  Länder  d,  Weltpostv.,  36  Nummern,  portofrei  .   .   .    .   „  12.— 

»        n  »  »  »  lo  n  „  ....„      6. — 

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sondern     auf     eine     bestimmte    Anzahl     von    Nummern. 

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V©rlo.g:stg:esi©lls}0*i£iLft  Mtirnol^eri 

Q    mbH 

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Inhalt  der  vorigen  Nummer  269,  31.  Dezember:  Mehr 
Läuse!  Von  Karl  Kraus.  —Jubel  und  Jammer.  Von  Karl  Kraus.— 
Missa  Solemnis  Tragica.  Von  Karl  Borromäus  Heinrich.  —  Der 
Sexual korrespondent.  Von  Karl  Kraus.  —  CHossen  (Weihnachts- 
fragen. —  Der  thaufrische  Hofrat.  —  Der  Fall  Kuranda-Pergelt.  — 
Mord,  Operette,  Nachtleben  und  Polizei.  -  Eine  Entdeckung.) 
Von  Karl  Kraus. 


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CARL  GOLSDORF 

Karlsbad,  Budapest  V.  Wien  JX 


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Die  Deutsche  Briefqesellschaft  ^S^ss 

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KARL  KRAUS: 


Sine  Erledigung  I    Ein  Nachruf    I  Hardens  Antwoi 


Preis 


Doppel-ZVilmmei1    (Preis  60  Heller) 

Nr.   272 — 273.     15.  Februar  1909  X.  Jübr 


Herausgeber: 

KARL  KRAUS 


INHALT: 

Messina.  Von  Karl  Kraus.  —  Das  Ehrenkreuz. 
Von  Karl  Kraus.  —  Kunst  und  Moral.  Briefe 
Von  Oskar  Wilde.  —  Glossen.  Von  KarlKraus. 
—  Abend.  Von  Otto  Stoessl.  —  Eine  Zuschrift. 
Von  Elisabeth  Förster-Nietzsche.  —  Sprüche 
und  Widersprüche.  Von  Karl   Kraus. 


Erscheint  in    zwangloser   Folge. 


- 


ciidruck  und  gewerbsmäßiges  Verleihen  verboten  ;  gerichtliche 
Verfolgung  vorbehalten. 


WIEN. 


KARL  KRAV 


SPRVECHE 
VND  WID 
SPRVEC 


Verlag  ALBERT  LANGEN  München. 

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Die  Fackel 

Nr.  272-73  15.  FEBRUAR  1909  X.  JAHR 


Messina. 

Als  Stiefmutter  Erde  ihren  Kindern  dort  unten 
übel  mitspielte,  staunte  man  über  nichts  mehr 
als  darüber,  daß  die  Natur  mit  den  Verbrechern  ge- 
meinsame Sache  gegen  die  Gesellschaft  machte.  Die 
Nachricht,  daß  die  Verbrecher  aus  den  Gefängnissen 
ausgebrochen  seien,  schien  unter  jenen,  die  die  Haare 
der  Menschheit  sträuben  machten,  die  stärkste. 
Daß  die  Gelder  der  Wohltätigkeit  gestohlen,  daß 
bis  dahin  unbescholtene  Gauner  verlockt  wurden, 
aus  sich  selbst  auszubrechen,  wirkte  bei  weitem 
nicht  so  beunruhigend  wie  die  Tatsache,  daß  Ver- 
brecher, die  man  schon  so  lange  hatte,  aus 
denGefängnissen  entkommen  waren.  Die  Sträf- 
linge von  Messina  waren  die  einzigen  Men- 
schen, von  denen  man  verlangen  konnte,  daß 
sie  genügend  Besinnung  und  genügend  Respekt 
vor  der  staatlichen  Autorität  haben,  um  die 
destruktiven  Tendenzen  der  Natur  nicht  zu  unter- 
stützen. Die  Enttäuschung,  die  sie  den  euro- 
päischen Zeitungslesern  bereitet  haben,  mag  tief 
sitzen.  In  allen  Kulturzentren  regt  sich  die  Besorgnis, 
daß  man  im  Falle  eines  Erdbebens  gegen  Eigentums- 
delikte nicht  geschützt  sei.  Daraus  spricht  jener 
Heroismus,  der  bei  der  Wahl  zwischen  Leben  und 
Börse  sich  zum  Verzicht  auf  das  Leben  entschließt. 
Die  Gesellschaft  denkt  das  »fiat  justitia,  pereat  raun- 
dus«  mit  äußerster  Konsequenz  zu  Ende  und  bis  zu  dem 
Wunsche,  daß  die  letzten  Häuser,  jene,  die  einem  Erd- 
beben getrotzt  haben,  die  Gefängnisse  sein  mögen. 
Und  wenn  dieser  Wunsch  nicht  in  Erfüllung  gehen 
sollte,  dann  ist's  eine  schmackhafte  Vorstellung,  daß 


die  Leichname  der  Verbrecher  Ketten  tragen  ...  So 
rührt  ein  Brdbeben  die  Gedankenwelt  der  Erwachsenen 
auf.  Sie  denken  an  die  Verbrecher.  Kinder  denken  an  den 
Teufel  und  fürchten  ihn  nicht  mehr.  Die  Größe  des  Un- 
glücks befreit  sie  von  der  Angst,  daß  darüber  hinaus 
noch  etwas  geschehen  könnte.  Die  Erwachsenen  halten 
sich  die  Taschen  zu.  Ein  Kind  findet  vor  der  Größe 
der  Vision  Worte,  wie  sie  ein  Dichter  spricht.  »Der 
Teufelc,  sagt  es,  »hat  ein  Erdbeben  angerichtet,  das 
war  go  groß,  daß  der  Teufel  selbst  dabei  zugrunde- 
gegangen ist!«  Karl  Kraus< 


Das  Ehrenkreuz. 

In  Österreich  gibt  es  für  junge  Mädchen,  die 
sich  dem  Laster  in  die  Arme  werfen,  eine  Klimax 
der  Strafbarkeit.  Man  unterscheidet  Mädchen,  die 
sich  der  unbefugten  Ausübung  der  Prostitution 
schuldig  machen,  Mädchen,  die  fälschlich  angeben, 
daß  sie  unter  sittenpolizeilicher  Kontrolle  stehen,  und 
schließlich  Mädchen,  die  zwar  zur  Ausübung  der 
Prostitution,  aber  nicht  zur  Tragung  eines  Ehren- 
kreuzes befugt  sind.  Diese  Einteilung  wirkt  auf  den 
ersten  Blick  verwirrend,  aber  sie  entspricht  durchaus 
den  tatsächlichen  Verhältnissen.  Ein  Mädchen,  das 
einem  Detektiv  bedenklich  schien  —  nichts  scheint 
in  Wien  einem  Detektiv  bedenklicher  als  ein  Mäd- 
chen — ,  gab  an,  sie  stehe  unter  sittenpolizeilicher 
Kontrolle.  Sie  hatte  sich  einen  Scherz  erlaubt,  aber 
man  ging  der  Sache  nach.  Da  sich  ihre  Angabe  als 
unrichtig  herausstellte,  wurde  sie  wegen  unbefugter 
Ausübung  der  Prostitution  in  polizeiliche  Untersuchung 
gezogen.  Da  sich  aber  dieser  Verdacht  als  unge- 
rechtfertigt erwies  und  sich  also  herausstellte,  daß  das 
Mädchen  überhaupt  nicht  Prostitution  treibe,  so  er- 
hob die  Staatsanwaltschaft  die  Anklage  wegen 
Falschmeldung.     Das  Mädchen  hatte  sich,   wie  es  in 


der  Anklage  hieß,  »gegenüber  dem  Detektiv  eine 
soziale  Stellung  angemaßt,  die  ihr  nicht  zukam«.  Sie 
trieb  weder  erlaubte  noch  unerlaubte  Prostitution,  sie 
war  also  eine  Schwindlerin,  und  nur  weil  sie  bei  der 
Verhandlung  auf  die  Frage  des  Richters,  was  sie 
sich  dabei  gedacht  habe,  die  Antwort  gab:  »Nichts«, 
entging  sie  der  Verurteilung.  Um  also  zu  rekapitu- 
lieren: Sie  hatte  behauptet,  sie  stehe  unter  sitten- 
polizeilicher Kontrolle.  Da  das  eine  Unwahrheit 
war,  wurde  sie  unter  dem  Verdachte  des  unsittlichen 
Lebenswandels  in  Untersuchung  gezogen.  Sie  konnte 
nun  zwar  beweisen,  daß  sie  nicht  unsittlich  genug  sei, 
um  einen  unsittlichen  Lebenswandel  zu  führen,  aber  sie 
konnte  doch  wieder  nicht  beweisen,  daß  sie  sittl  ich  genug 
sei,  um  unter  sittenpolizeilicher  Kontrolle  zu  stehen.  So 
blieb  nichts  übrig,  als  sie  wegen  Falschmeldung  anzukla- 
gen, wegen  deren  ja  schließlich  auch  die  Mörder  in  Öster- 
reich verurteilt  werden,  wenn  man  ihnen  den  Mord 
nicht  nachweisen  kann.  Jetzt  gehen  wir  einen  Schritt 
weiter.  Wenn  ein  Mädchen  zur  Ausübung  der  Prosti- 
tution befugt  ist,  so  könnte  es  vorkommen,  daß  sie  es  ver- 
schweigt und  schwindelhafter  Weise  vorgibt,  sie  sei 
zur  Ausübung  der  Prostitution  nicht  befugt.  Sie 
würde  sich  also  einen  unsittlichen  Lebenswandel  an- 
maßen, den  sie  nicht  deshalb  führt,  weil  sie  dazu  be- 
rechtigt ist,  sondern  den  sie  führt,  wiewohl  sie  dazu 
nicht  berechtigt  ist,  während  sie  in  Wahrheit  bloß 
berechtigt  ist,  einen  unsittlichen  Lebenswandel 
zu  führen,  den  zu  führen  sie  berechtigt  ist.  Solche 
Fälle  kommen  in  der  Praxis  selten  vor,  und  die 
Judikatur  des  Obersten  Gerichtshofes  ist  schwankend. 
Am  schwierigsten  ist  aber  der  Fall,  der  sich  kürzlich 
in  Wiener-Neustadt  zugetragen  hat.  In  einem  dortigen 
Freudenhause  lebt  ein  Mädchen,  das  zur  Ausübung  der 
Prostitution  befugt  ist  und  bisher  noch  keinen 
Anstand  gehabt  hat.  Sie  hat  sich  nie  einen  unsitt- 
lichen Lebenswandel  angemaßt,  den  sie  nicht  führt, 
und  es  ist  ihr  noch  nicht  einmal  nachgewiesen 
worden,  daß  sie  fälschlich  angegeben  hat,   eine  Pro- 


stitution  nicht  zu  treiben,  zu  der  sie  befugt  ist. 
Aber  der  Teufel  reitet  das  bisher  unbescholtene 
Mädchen,  und  sie  geht  eines  Abends  im  Salon  mit 
einem  Militärjubiläumsehrenkreuz  an  der  Brust  herum. 

> Dadurch  erregte  sie  bei  den  Gästen «,  ja  was 

glaubt  man,  hat  sie  dadurch  bei  den  Gästen  erregt? 
Nicht  das,  was  man  glaubt,  sondern  im  Gegenteil: 
Ärgernis.  Und  wenn  ein  Freudenmädchen  bei  den 
Gästen  eines  Bordells  Ärgernis  erregt,  dann  ist  es 
wirklich  höchste  Zeit,  daß  die  Staatsanwaltschaft 
einschreitet.  Tatsächlich  wurde  das  Mädchen  wegen 
einer  Erregung,  zu  der  sie  nicht  befugt  war,  an- 
geklagt. Der  erste  Richter  sprach  sie  frei.  Er  sagte, 
das  Militärjubiläumsehrenkreuz  sei  kein  Orden  und 
das  Ärgernis  sei  bloß  ein  solches  Ärgernis,  das  von 
der  Polizei  zu  ahnden  sei.  Damit  gab  er  freilich  zu, 
daß  das  Mädchen  schuldig  gewesen  wäre,  wenn  sie 
etwa  den  Takowa-Orden  getragen  hätte.  Es  liegt 
zwar  auf  der  Hand,  daß  das  unbefugte  Tragen  eines 
Ordens  immer  nur  einen  Journalisten  und  kein 
Freudenmädchen  strafbar  machen  kann,  aber  in 
Wiener-Neustadt  scheint  die  Frauenbewegung  bereits 
derartige  Fortschritte  gemacht  zu  haben,  daß  man  dort 
beide  Geschlechter  in  gleichem  Maße  der  Ordensstreberei 
für  fähig  hält.  Immerhin  sagte  der  erste  Richter,  ein 
.Jubiläumskreuz  sei  kein  Orden.  Aber  der  Staatsanwalt 
war  anderer  Ansicht,  er  berief  und  das  Landesgericht 
verurteilte  die  Angeklagte  zu  zwanzig  Kronen  Geld- 
strafe. Ein  Jubiläumskreuz,  sagte  das  Landesgericht, 
sei  als  Ehrenzeichen  jedem  Orden  gleichzustellen. 
Als  besonders  erschwerend  nahm  der  Gerichtshof 
»das  Tragen  des  Kreuzes  im  Freudenhause«  an.  Als 
die  Angeklagte  gefragt  wurde,  was  sie  sich  dabei 
gedacht  habe,  gab  sie  zur  Antwort:  »Nichts«.  Aber 
diesmal  nützte  die  Antwort  nichts.  Denn  eher  noch 
dürfte  sich  ein  anständiges  Mädchen  die  Prostitution 
anmaßen  als  eine  Prostituierte  das  Ehrenkreuz. 
Welche  Entschuldigung  hatte  sie?  Ein  Zivilist,  sagte 
sie,  habe  es  ihr  geschenkt.   Er   war  nobel   und   gab 


—    5    — 

ihr  das  Ehrenzeichen  als  Schandlohn.  Aber  dann  hätte 

sie  es  eben  in  den  Strumpf  stecken  sollen.  Das  Tragen 

eines    Ehrenzeichens    im    Freudenhause    steht    nur 

dessen  Gästen  zu,  und  wenn  sie  dadurch  das  Ärgernis 

der  Mädchen    erregen   sollten,    so   würden    sich   die 

Mädchen  einer  strafbaren  Handlung  schuldig  machen. 

Gibt   aber   ein   Gast    einem    Mädchen   statt  zwanzig 

Kronen  ein  Ehrenkreuz,   so  darf  sie  das  Ehrenkreuz 

nicht  tragen  und  muß  die  zwanzig  Kronen  dem  Gericht 

bezahlen.     Denn    die  Justiz   ist  eine  Hure,    die   sich 

nicht   blitzen    läßt   und   selbst   von    der  Armut   den 

Schandlohn  einhebt.  tt«,i  tt-«,^ 

Karl  Kraus. 


Kunst  und  Moral. 
Briefe  von  Oskar  Wilde. 

Vorbemerkung  des  Übersetzers:  Im  letzten  Dritteides 
Juni  1890  erschien  Wildes  >Dorian  Gray«  in  ,Lippincott's  Magazine'; 
noch  in  demselben  Monat  brachten  zahlreiche  angesehene  Tages- 
blätter und  Zeitschriften  Besprechungen  des  Werkes,  und  in 
seinem  Briefe  vom  13.  August  spricht  Wilde  bereits  von  zwei- 
hundertsechzehn Kritiken,  die  von  seinem  Schreibtisch  in  den 
Papierkorb  gewandert  -seien.  Nur  wenige  dieser  Beurteiler  wagten 
das  Werk  ohne  starke  Einschränkungen  zu  loben.  Die  übergroße 
Mehrzahl  der  Kritiker  erhoben  ihre  Stimmen  gegen  den  Autor  in 
allen  Tonstärken  von  würdevoller  Mißbilligung  bis  zum  wütenden 
Geschrei.  Seine  künstlerische  Erwiderung  auf  diese  Kritiken  mag 
man  in  dem  Vorwort  zu  der  etwa  ein  Jahr  später  erschienenen  Buch- 
ausgabe finden.  Damals  jedoch  holte  sich  Wilde  zwei  der  ärgsten 
Schreier,  den  der  ,St.  James's  Gazette'  und  den  des  ,Daily  Chronicle', 
heraus  und  erwies  ihnen  die  Ehre,  sie  zu  widerlegen. 

»Ihr  Kritiker»,  schreibt  er  der  ,St.  James's  Gazette"),  »beginnt 

'•')  Die  Briefe  an  diese  sind  bereits  in  einer  deutschen  Zeitschrift 
erschienen.  Alle  anderen  erscheinen  hier  zum  erstenmale  in  deutscher 
Sprache 


«  — 


damit,  mich  mit  lächerlicher  Heftigkeit  anzugreifen,  weil  die  Haupt- 
personen meiner  Geschichte  Gecken  seien.  Jawohl,  sie  sind  Gecken. 
Glaubt  er,  daß  die  Literatur  auf  den  Hund  gekommen  ist*),  als 
Thackeray  jüber  das  Geckentum  schrieb?  Ich  halte  dafür,  daß 
Gecken  vom  künstlerischen  ebenso  wie  vom  psychologischen  Stand- 
punkt höchst  interessant  sind.  Sie  scheinen  mir  für  alle  Fälle  weit 
interessanter  als  Pedanten,  und  ich  bin  der  Ansicht,  daß  Lord 
Henry  Wotton  ein  vortreffliches  Korrektiv  für  das  hohle  Ideal 
bildet,  das  in  den  halbtheologischen  Romanen  unserer  Zeit  dar- 
gestellt wird.  -  Ihr  Kritiker  macht  ferner  unbestimmte  und 
drohende  Anspielungen  auf  meine  Grammatik  und  meine  Gelehr- 
samkeit. Was  die  Grammatik  betrifft,  so  bin  ich  der  Meinung,  daß, 
zum  mindesten  in  der  Prosa,  die  Korrektheit  stets  der  künstleri- 
schen Wirkung  und  der  musikalischen  Kadenz  untergeordnet 
werden  muß.  Absonderlichkeiten  des  Syntax,  die  im  ,Dorian  Gray' 
etwa  vorkommen  mögen,  sind  daher  wohl  beabsichtigt  und  dienen 
nur  zur  Betätigung  dieser  künstlerischen  Theorie.«  Weiterhin:  >Ihr' 
Kritiker,  wenn  ich  ihm  diesen  ehrenvollen  Titel  zuerkennen  darf 
behauptet,  daß  die  Menschen  meiner  Erzählung  kein  Vorbild  im 
Leben  haben,  daß  sie,  um  mich  seiner  starken,  wenn  auch  ziemlich 
plumpen  Ausdrucksweise  zu  bedienen,  »Schundliteratur  und  Dar- 
stellungen des  Nichtexistierenden'  sind.  Ganz  richtig.  Wenn  sie 
existierten,  so  wäre  es  nicht  der  Mühe  wert,  über  sie  zu  schreiben. 
Die  Aufgabe  des  Künstlers  ist  es,  zu  erfinden,  und  nicht,  zu 
registrieren.  Es  gibt  keine  solche  Menschen.  Wenn  es  deren  gäbe, 
würde  ich  nicht  über  sie  schreiben.  Das  Leben  verdirbt  durch 
seinen  Realismus  stets  der  Kunst  ihren  Gegenstand.  Der  höchste 
Genuß  des  Dichters  ist  es,  das  Nichtexistierende  zu  gestalten«. 
Und  ferner:  »Es  ist  wohlgetan,  der  Tat  Schranken  zu  setzen.  Es 
ist  nicht  wohlgetan,  der  Kunst  Schranken  zu  setzen.  Der  Kunst 
gehören  alle  Dinge,  die  sind,  und  alle  Dinge,  die  nicht  sind,  und 
selbst  der  Herausgeber  einer  Londoner  Tageszeitung  hat  nicht  das 
Recht,  die  Freiheit  der  Kunst  in  der  Wahl  ihres  Gegenstandes  zu 
beschränken«. 

Noch  einem  dritten  Blatte  erwiderte  Wilde:  dem  ,Scots 
Observer'.  Dessen  Kritik  war  allerdings,  verglichen  mit  den  andern, 
ziemlich  maßvoll  und  durch  Komplimente  für  den  Autor  gemildert; 

*)  Anspielung  auf  den  Doppelsinn  des  hier  für  *Geck<  ge- 
brauchten Wortes   »puppy«,  das  auch   >junger  Hund<   bedeutet. 


aber  sie  scheint  Wilde  besonders  nahe  gegangen  zu  sein,  wohl 
deshalb,  weil  der  Herausgeber  der  von  ihm  sehr  geschätzte  Dichter 
W.  E.  Henley  war.  In  diesem  Blatte  setzt  sich  Wilde  auch  mit 
einigen  jener  Zuschriften  aus  dem  Leserkreise  auseinander,  die  die 
englischen  Blätter  —  eine  gute  und  nachahmenswerte  Sitte  — 
immer  dann  empfangen  und  abdrucken,  wenn  irgend  eine  Sache 
die  öffentliche  Meinung  stärker  erregt.  Ich  führe  neben  den  Zunft- 
kritiken auch  diese  La'enurteile  hier  an,  zum  besseren  Verständnis 
der  Erwiderungen  Wildes,  und  weil  ich  glaube,  daß  sie  einen 
interessanten  Beitrag  bilden  zur  Charakteristik  des  Engländers  der 
Intelligenzklassen,  seiner  gesunden  Lebensanschauung,  seines 
prächtigen  Humors  und  seiner  Beschränktheit  in  gewisser  Richtung. 

tines  darf  billigerweise  nicht  unbetont  bleiben:  Wenn  wir 
Wildes  Erwiderungen  kennen,  so  danken  wir  dies  der  Ehrlichkeit 
eben  der  Zeitungen,  gegen  die  sie  sich  wendeten,  und  die  sie  un- 
verkürzt abdruckten.  Die  'St.  James's  Gazette'  hat  zum  Beispiel  selbst 
eine  Stelle  wie  diese:  >Zu  sagen,  daß  ein  Buch  wie  das  meinige 
,ins  Feuer  geworfen  werden  Mite',  ist  einfältig.  Das  tut  man  mit 
Zeitungen«,  nicht  unterdrückt.  Es  gibt  Länder,  wo  das  anders  ge- 
wesen wäre.  —  Und  derselbe  ,Daily  Chronicle',  der  [den  »Dorian 
Gray«  am  brutalsten  angriff,  war  später  das  einzige  Blatt,  das  dem 
aus  dem  Gefängnis  entlassenen,  geächteten  Dichter  Raum  gab  für 
jene  Briefe  über  den  »Fall  Martin<  und  über  die  Gefängnisreform, 
die  neben  »De  Profundis«  als  ein  Denkmal  des  Menschen  Wilde 
vor  uns  stehen.  Leo  Ronig. 

Kritik  des  ,Daily  Chronicle'  vom  30.  Juni  1890. 

Langeweile  und  Schmutz  sind  die  Hauptzüge  der  letzten  Nummer 
von  .Lippincott's  Magazine'.  Das  unsaubere,  allerdings  unleugbar 
auch  amüsante  Element  wird  durch  Oskar  Wildes  Erzählung  >Das 
Bildnis  des  Dorian  Gray«  beigesteuert.  Es  ist  ein  Werk,  bei  dem  die 
Aussatzliteratur  der  französischen  Dexadence  Pate  gestanden  hat,  ein 
giftiges  Buch,  dessen  Atmosphäre  verpestet  ist  von  den  mephitischen 
Dünsten  seelischer  und  moralischer  Fäulnis,  eine  mit  perversem  Behagen 
ausgeführte  Darstellung  des  körperlichen  und  geistigen  Verfalles  eines 
jungen,  schönen  und  vornehmen  Mannes  —  ein  Buch,  das  furchtbar 
und  faszinierend  sein  könnte,  wären  nicht  seine  weibische  Frivolität, 
seine  gesuchte  Unaufrichtigkeit,  sein  theatralischer  Zynismus,  seine 
seichtgeschwätzige  Philosophie,  sein  angeschminkter  Mystizismus  und 
jene  klebrige  Sauce  preziös  tuender  Vulgarität,  die  über  den  ganzen 
ausgeklügelten  Ästhetizismus  des  Herrn  Wilde  und  über  seine  auf- 
dringliche, billige  Wissenschaftlichkeit  gegossen  ist.  Herr  Wilde 
sagt,  sein  Buch  habe  »eine  Moral <.     Soweit    wir    diese    Moral   heraus- 


finden  können,  ist  es  die,  daß  es  der  vornehmste  Daseins- 
zweck des  Menschen  ist,  seine  Natur  dadurch  zur  Vollendung  zu  ent- 
wickeln, daß  er  >stets  nach  neuen  Sensationen  sucht«,  daß,  wenn  die 
Seele  erkrankt,  das  Mittel  zu  ihrer  Heilung  darin  besteht,  >den  Sinnen 
nichts  zu  verweigern«  -  denn  nichts,  sagt  eine  von  Wildes  Gestalten, 
Lord  Henry  Wotton,  »nichts  kann  die  Seele  heilen,  als  die  Sinne, 
ebenso  wie  nichts  die  Sinne  heilen  kann,  als  die  Seele«.  Der  Mensch 
ist  halb  Engel,  halb  Affe,  und  Wildes  Buch  ist  nutzlos,  wenn  es  nicht 
dazu  dient,  die  »Moral«  einzuprägen,  daß  man,  wenn  man  sich  zu 
engelhaft  fühlt,  nichts  besseres  tun  kann,  als  eiligst  ein  Tier  aus  sich  zu 
machen.  Es  gibt  nicht  eine  gute  und  reine  Regung  der  menschlichen 
Natur,  fast  keine  Veredelung  des  Gemütes  oder  des  Instinktes,  die  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  durch  Zivilisation,  Kunst  und  Religion  als  Teil 
der  Scheidewand. zwischen  Mensch  und  Tier  in  uns  entwickelt  worden, 
die  nicht  im  »Dorian  Gray«  der  Lächerlichkeit  und  der  Verachtung  preis- 
gegeben würde  —  wenn  anders  solche  starke  Wirkungen  der  windigen 
Leichtfertigkeit  und  wortgewandten  Anmaßung  des  Herrn  Wilde  über- 
haupt zugeschrieben  werden  können.  Sein  gewaltsamer  Versuch,  am 
Ende  des  Buches  eine  »Moral«  zusammenzustöppeln,  ist  vom  künstleri- 
schen Standpunkt  plump  und  roh,  denn  der  Tod  des  Dorian  Gray  fällt 
aus  dem  Rahmen  der  ganzen  Geschichte  heraus.  Dorians  einziges  Be- 
dauern ist,  daß  zügelloses  Schwelgen  in  jeder  Art  geheimen  und  unnenn- 
baren Lasters,  in  allen  Genüssen  des  Luxus  uud  der  Kunst  und  —  was 
die  entnervten  Modejünglinge,  deren  Leben  der  »Dorian  Gray«  zu  be- 
schreiben vorgibt,  noch  mehr  reizt  —  in  ekelhaftestem  Schmutz  und 
Unrat  —  sein  Bedauern  ist  also,  was?  Daß  alles  dies  Linien  vorzeitigen 
Alters  und  abstoßender  Verlebtheit  in  sein  hübsches  Gesicht  zeichnen 
könnte,  in  das  Gesicht,  dessen  rosige  Schönheit  von  der  Art  ist,  die 
Jünglinge  seiner  widerwärtigen  Gattung  den  paralytischen  Patriziern  des 
byzantinischen  Kaiserreiches  teuer  machte.  Dorian  Gray  betet  also,  daß 
sein  Porträt,  gemalt  von  einem  Künstler,  der  von  ihm  schwärmt,  wie 
Männer  von  Mädchen  schwärmen,  die  ihre  Geliebten  sind,  daß  dieses 
Porträt  an  Stelle  des  Originals  alt  werden  möge.  Dies  geschieht  denn 
auch  durch  die  Einwirkung  einer  übernatürlichen  Macht,  deren  Auftreten 
durchaus  possenhaft  ist;  Dorian  erfreut  sich  Jahr  um  Jahr  unver- 
welklicher  Jugend  und  könnte  bis  in  die  Ewigkeit  fortfahren,  straflos 
seine  Sinne  dazu  zu  gebrauchen,  »seine  Seele  zu  heilen«  und  die 
englische  Gesellschaft  mit  der  moralischen  Verpestung  zu  besudeln,  von 
der  er  durchdrungen  ist,  wenn  nicht  etwas  dazwischen  käme.  Das  ist 
sein  plötzlicher  Impuls,  nicht  nur  den  Maler  zu  ermorden  —  was  künst- 
lerisch damit  verteidigt  werden  könnte,  daß  es  nur  eine  Weiterent- 
wicklung seines  Lebensprinzipes  ist,  jede  Art  von  Erlebnis  auszukosten  — 
sondern  auch  das  Bild  wütend  mit  dem  Dolch  zu  durchbohren,  weil  es, 
obgleich  er  sich  dazu  herbeigelassen  hatte  eine  gute  Tat  zu  tun,  von 
seiner  Abscheulichkeit  nichts  verloren  hatte.  Dies  ist  aber  ganz  unver- 
einbar mit  dem  kalten,  berechnenden,  gewissenlosen  Charakter  des  Dorian 
Gray,  den  Wilde  ziemlich  logisch  in  seinem  »neuen  Hedonismus«  ent- 
wickelt hat.  Der  Autor  beendigt  dann  seine  Geschichte  damit,  daß  er 
uns  erzählt:     -Die  Dienerschaft  eilte  herbei,  als  sie  einen  schweren  Fall 


hörte,  und  fand  das  Bild  an  der  Wand  in  voller  Jugendlichkeit  strahlend, 
während  seine  greisenhafte  Häßlichkeit  auf  den  Elenden  übergegangen 
war,  der  mit  durchbohrtem  Herzen  auf  dem  Fußboden  lag>.  —  Das  ist 
eine  Talmi-Moral,  wie  denn  alles  in  dem  Buche  Talmi  ist,  bis  auf  das 
eine  Element,  daß  jedes  junge  Gemüt,  das  mit  ihm  in  Berührung  kommt, 
unheilvoll  beeinflussen  muß.  Dieses  Element  ist  die  mit  einschmeichelnder 
Logik  verfochtene  Berechtigung  des  Appells  an  die  Sinne,  »die  Seele  zu 
heilen *,  wenn  diese  Seele  unter  zu  großer  Reinheit  und  Selbstver- 
leugnung leidet. 

Wildes  Erwiderung. 
An  den  Herausgeber  des  , Daily  Chronicle*. 
Geehrter  Herr! 

Gestatten  Sie  mir  einige  Irrtümer  zu  korrigieren, 
die  Ihrem  Kritiker  in  seiner  Besprechung  meiner 
Erzählung  »Das  Bildnis  des  Dorian  Gray«  unter- 
laufen sind. 

Ihr  Kritiker  behauptet  vorerst,  daß  ich  einen 
gewaltsamen  Versuch  mache,  am  Schluß  meiner  Er- 
zählung eine  Moral  »zusammenzustöppeln«.  Ich  muß 
gestehen,  daß  ich  nicht  ganz  genau  weiß,  was  unter 
»zusammenstoppeln«  zu  verstehen  ist.  Es  ist  jedoch 
nicht  meine  Absicht,  hier  in  eine  Untersuchung  ein- 
zelner Ausdrücke  des  modernen  Journalisten  Jargons 
einzugehen.  Ich  will  lediglich  folgendes  sagen:  Weit 
entfernt,  irgend  eine  Moral  in  meiner  Erzählung  her- 
vorheben zu  wollen,  war  meine  einzige  Sorge  bei 
ihrer  Verfassung  vielmehr  nur,  die  sich  von  selbst 
aufdrängende  Moral  gegen  die  künstlerische  und 
dramatische  Wirkung  zurückstehen  zu  lassen. 

Als  die  Idee  der  Darstellung  eines  jungen 
Mannes,  der  seine  Seele  gegen  ewige  Jugend  ver- 
kauft —  eine  Idee,  die  alt  ist  in  der  Literatur,  der 
ich  aber  eine  neue  Form  gegeben  habe  —  in  mir 
auftauchte,  fühlte  ich  sofort,  daß  es  schwer  sein 
würde,  die  Moral  so  im  Hintergrunde  zu  halten  wie 
es  vom  ästhetischen  Standpunkt  aus  nötig  ist;  und 
ich  bin  noch  immer  nicht  gewiß,  ob  mir  das  auch 
zufriedenstellend  gelungen  ist.  Ich  halte  die  Moral 
für  zu  offenkundig.  Wenn  die  Erzählung  in  Buch- 
form erscheint,  hoffe  ich  diesen  Mangel  beseitigen 
zu  können. 


10  - 


Was  nun  die  Frage  betrifft,  worin  die  Moral 
besteht,  so  behauptet  Ihr  Kritiker,  sie  bestehe  darin, 
daß,  wenn  ein  Mensch  fühle,  daß  er  zu  engelhaft 
werde,  er  »eiligst  ein  Tier  aus  sich  machen«  solle. 
Ich  kann  nicht  sagen,  daß  mir  dies  eine  Moral  zu 
sein  scheint.  Die  Moral  der  Erzählung  ist  in  Wahr- 
heit die,  daß  jede  Ausschreituns:  ebenso  wie  jede 
Selbstverleugnung  ihre  Strafe  nach  sich  zieht.  Diese 
Moral  ist  mit  künstlerischer  Absicht  so  verborgen, 
daß  sie  nirgends  als  Gesetz  ausgesprochen  erscheint, 
sondern  sich  nur  in  den  Schicksalen  der  handelnden 
Personen  ausdrückt  und  derart  lediglich  ein  drama- 
tisches Element  in  einem  Kunstwerk  darstellt,  und 
nicht  den  Zweck  dieses  Kunstwerkes  selbst. 

Ihr  Kritiker  begeht  ferner  einen  Irrtum,  wenn 
er  sagt,  daß  es  »unvereinbar  mit  dem  kalten,  be- 
berechnenden, gewissenlosen  Charakter  des  Dorian 
Gray«  sei,  das  Bild  seiner  Seele  zu  zerstören,  bloß 
weil  es  nichts  an  seiner  Häßlichkeit  verlor,  als  er  in 
seiner  Eitelkeit  sich  schmeichelte,  seine  erste  gute 
Tat  getan  zu  haben.  Dorian  Gray  ist  keineswegs  ein 
kalter,  berechnender,  gewissenloser  Charakter.  Er  ist 
im  Gegenteil  ungemein  impulsiv,  töricht  romantisch 
und  wird  sein  ganzes  Leben  hindurch  von  einem 
überempfindlichen  Gewissen  gequält,  das  ihm  seine 
Vergnügungen  vergällt  und  ihn  ermahnt,  daß  Jugend 
und  Genuß  nicht  alles  in  der  Welt  sind.  Und  gerade 
um  dieses  Gewissen  los  zu  werden,  das  ihm  unab- 
lässig auf  Schritt  und  Tritt  nachgeht,  zerstört  er  das 
Bild.  Indem  er  also  versucht,  das  Gewissen  zu  töten, 
tötet  Dorian  Gray  sich  selbst. 

Ihr  Kritiker  spricht  sodann  von  »aufdringlich 
billiger  Wissenschaftlichkeit«.  Nun,  was  immer  ein 
wissenschaftlich  gebildeter  Mann  schreiben  möge,  so 
wird  er  Wissenschaftlichkeit  erkennen  lassen  in  der 
Vornehmheit  seines  S.tils  und  in  der  sorgfältigen 
Wahl  seiner  Worte.  Aber  meine  Erzählung  enthält 
keine  gelehrten  oder  pseudo-gelehrten  Gespräche,  und 
die  Bücher,   deren  darin  Erwähnung  geschieht,   sind 


—  11 


nur  solche,  von  denen  vorausgesetzt  werden  kann, 
daß  ein  Mann  von  Bildung  sie  kennt,  wie  zum  Bei- 
spiel das  »Satiricon«  des  Petronius  Arbiter  oder 
Gautiers  >Emaux  et  Cam^es«.  Bücher  wie  Le 
Consos  »Clericalis  Disciplina«  sind  nicht  Gegen- 
stand der  Wissenschaft,  sondern  der  Liebhaberei.  Es 
kann  niemandem  ein  Vorwurf  daraus  gemacht  werden, 
daß  er  sie  nicht  kennt. 

Z\im  Schlüsse  nur  noch  dies:  Die  ästhetische 
Bewegung  hat  gewisse  eigenartige,  zartduftige,  durch 
ihren  beinahe  mystischen  Ton  faszinierende  Farben- 
mischungen hervorgebracht.  Sie  waren  und  sind 
unsere  Reaktion  gegen  die  rohen  Primärfarben  einer 
zweifellos  ehrbareren,  aber  sicherlich  minder  kultivierten 
Zeit.  Meine  Erzählung  ist  eine  Studie  dekorativer 
Kunst.  Sie  reagiert  gegen  die  rohe  Brutalität  des 
deutlichen  Realismus.  Sie  ist  giftig,  wenn  Sie  wollen, 
aber  Sie  können  nicht  leugnen,  daß  sie  auch  voll- 
kommen ist,  und  Vollkommenheit  ist  es,  was  der 
Künstler  anstrebt. 

Ich  bin,  geehrter  Herr,  Ihr  hochachtungsvoll 
ergebener  .  0.  W. 

16,  Tite  Street,  30.  Juni  1890. 


In    seiner    Nummer    vom     5.    Juli    1890    schreibt    der     »Scots 
Observer« : 

Warum  in  Düngerhaufen  wühlen  ?  Die  Welt  ist  schön,  und  die 
Majorität  gesund  gearteter  Männer  und  ehrenhafter  Frauen  über  die  An- 
gefaulten, Unnatürlichen  und  Gefallenen  ist  groß.  Oskar  Wilde  hat 
wieder  einmal  ein  Ding  geschrieben,  das  besser  ungeschrieben  geblieben 
wäre.  Wohl  ist  seine  Erzählung  »Das  Bildnis  des  Dorian  Gray«  originell, 
interessant,  voll  Geist  und  zweifellos  das  Werk  eines  begabten  S 
stellers;  aber  sie  ist  ein  Werk  falscher  Kunst,  denn  ihr  Held  ist  ein  Teufel; 
und  sie  ist  ein  Werk  falscher  Moral,  d^yj  es  geht  nicht  genügend  klar 
daraus  hervor,  ob  der  Autor  nicht  ein  Leben  widernatürlichen  Lasters 
einem  Leben  der  Gesundheit,  Reinheit  und  Kraft  vorzieht.  Die  Erzählung 
—  die  Gegenstände  behandelt,  welche  nur  für  die  Kriminalgerichtsbar- 
keit oder  für  die  Besprechung  in  camera  geeignet  sind  —  macht  dem 
Autor  eben  so  wenig  Ehre  wie  dem  Verleger.  Herr  Wilde  hat  Geist, 
Talent  und  Stil;  aber  wenn  er  nur  für  deklassierte  Lebemänner  und 
perverse  Kellnerjungen  schreiben  kann,  so  wäre  es,   je  eher  er  sich  der 


12 


Schneiderei*)   (oder  einem  anderen  ehrenhaften  Berufe)  zuwendet,    desto 
besser  für  seinen  Ruf  und  für  die  allgemeine  Sittlichkeit. 

Wildes  Erwiderung. 
An  den  Herausgeber  des  ,Scots  Obs  erver'. 
Geehrter  Herr! 

In  Ihrem  Blatte  erschien  dieser  Tage  eine  Kritik 
meiner  Erzählung  »Das  Bildnis  des  Dorian  Gray*.  Da 
diese  Kritik  mich  als  Künstler  mit  grober  Unge- 
rechtigkeit behandelt,  bitte  ich  Sie,  mir  für  mein 
Recht  auf  Erwiderung  in  Ihren  Spalten  freundlichst 
Raum  zu  geben. 

Obgleich  Ihr  Kritiker  zugesteht,  daß  die  frag- 
liche Erzählung  »zweifellos  das  Werk  eines  begabten 
Schriftstellers c  ist,  »eines  Mannes,  der  Geisf,  Talent 
und  Stil  besitzte,  so  nimmt  er  doch  an,  und  das 
offenbar  in  allem  Ernste,  daß  ich  es  nur  im  Hinblick 
auf  verbrecherische  und  ganz  ungebildete  Leser  ge- 
schrieben habe.  Nun  glaube  ich  aber,  daß  Verbrecher 
und  ungebildete  Menschen  überhaupt  nichts  anderes 
lesen  als  Zeitungen.  Sicherlich  kann  von  ihnen  nicht 
vorausgesetzt  werden,  daß  sie  ein  Buch  wie  das 
meinige  verstehen.  Lassen  wir  sie  also  beiseite,  und 
gestatten  Sie  mir  nur  über  die  große  Frage,  warum 
ein  Dichter  überhaupt  schreibt,  einige  wenige  Worte 
zu  sagen. 

Das  Vergnügen,  das  es  gewährt,  ein  Kunstwerk 
zu  schaffen,  ist  ein  rein  persönliches,  und  nur  um 
dieses  Vergnügens  willen  schafft  der  Künstler.  Er 
arbeitet,  alle  seine  geistigen  Kräfte  auf  den  Gegen- 
stand konzentriert.  Nichts  anderes  interessiert  ihn. 
Was  die  Leute  sagen  werden,  daran  denkt  er  nicht 
einmal.  Er  ist  fasziniert  durch  das  Gebilde  unter 
seinen  Händen.  Alles  andere  besteht  für  ihn  nicht. 
Ich  schreibe,  weil  es  mir  den  denkbar  größten  künst- 
lerischen Genuß  gewährt,  zu  schreiben.  Wenn  mein 
Werk  den  Wenigen  gefällt,  bin  ich  erfreut.  Wenn  es 
ihnen  nicht  gefällt,  bin  ich  nicht  betrübt.  Und  was  die 


•)  Ansphlung  auf  Wildes  Propaganda  für  eine  Reform  der  Kleidung. 

Anm.  d.  Obers. 


—  18  — 


Menge  betrifft,  so  habe  ich  kein  Verlangen,  ein 
populärer  Schriftsteller  zu  werden.  Es  ist  viel  zu  leicht. 

Ihr  Kritiker  begeht  den  ganz  unverzeihlichen 
Fehler,  den  Künstler  mit  seinem  Gegenstande  zu  ver- 
mengen. Für  diesen  Fehler  gibt  es  überhaupt  keine 
Entschuldigung.  Von  dem  Manne,  der  die  gtößte  Er- 
scheinung der  Weltliteratur  seit  den  Tagen  der  alten 
Griechen  darstellt,  sagt  Keats,  daß  es  ihm  ebensoviel 
Freude  machte,  das  Böse  dichterisch  zu  gestalten, 
wie  das  Gute.  Empfehlen  Sie  Ihrem  Kritiker,  Herr 
Redakteur,  diesen  schönen  Satz  Keats*  recht  wohl  zu 
beherzigen.  Denn  dasselbe  gilt  von  jedem  Künstler. 
Dieser  steht  entfernt  von  seinem  Gegenstande.  Er 
schafft  ihn  und  betrachtet  ihn.  Je  weiter  entfernt 
sein  Subjekt  von  dem  Objekt  ist,  desto  freier  schafft 
er.  Ihr  Kritiker  meint,  daß  ich  es  dem  Leser  meines 
Buches  nicht  klar  genug  mache,  ob  ich  die  Tugend 
dem  Laster  oder  das  Laster  der  Tugend  vorziehe. 
Er  möge  sich  gesagt  sein  lassen,  daß  ein  Künstler 
überhaupt  keine  ethischen  Sympathien  oder  Anti- 
pathien hat.  Laster  und  Tugenden  sind  ihm  einfach 
das,  was  dem  Maler  die  Farben  auf  seiner  Palette 
sind.  Nicht  mehr  und  auch  nicht  weniger.  Er  findet, 
daß  durch  ihre  Anwendung  eine  gewisse  künstlerische 
Wirkung  hervorgebracht  werden  kann,  und  er  bringt 
sie  hervor.  Jago  mag  vom  moralischen  Standpunkt 
scheußlich  sein,  und  Imogen  fleckenlos  rein.  Shake- 
speare hatte,  wie  Keats  sagt,  ebensoviel  Freude  an 
der  Schaffung  des  einen  wie  der  andern. 

Um  der  dramatischen  Entwicklung  meiner  Ge- 
schichte willen  war  es  nötig,  Dorian  Gray  mit  einer 
Atmosphäre  sittlicher  Fäulnis  zu  umgeben.  Andern- 
falls hätte  die  Erzählung  keinen  Sinn  und  die 
Handlung  keinen  Ausgang  gehabt.  Diese  Atmo- 
sphäre vag  und  unbestimmt  und  geheimnisvoll  zu 
halten,  war  die  künstlerische  Absicht  dessen,  der  die 
Geschichte  schrieb.  loh  nehme  für  ihn  in  Anspruch, 
daß  ihm  diese  Absicht  gelang.  Jeder  Mensch  sieht 
seine  eigenen  Sünden  in  Dorian  Gray.    Welches  die 


14 


Sünden  Dorian  Grays  sind,  weiß  niemand.  Der,  der 
sie  findet,  hat  sie  mitgebracht. 

Zum  Schlüsse  lassen  Sie  mich  Ihnen  sagen, 
Herr  Redakteur,  wie  tief  ich  es  bedauere,  daß  Sie 
einer  solchen  Besprechung,  wie  die,  zu  deren  Zurück- 
weisung ich  mich  gedrängt  fühle,  Aufnahme  in  Ihr 
Blatt  gewährt  haben.  Daß  der  Herausgeber  der 
,St.  James's  Gazette'  Caliban  zum  Kunstkritiker 
macht,  ist  vielleicht  natürlich.  Der  Herausgeber  des 
,Scots  Observer'  sollte  nicht  zugeben,  daß  Thersites 
in  seinem  Blatte  Grimassen  schneidet.  Es  ist  eines 
so  hervorragenden  Schriftstellers  unwürdig. 

Empfangen  Sie  u.  s.  w.  0.  W. 

London,  16,  Tite  Street,  9.  Juli  lb90. 

* 

* 

Hiezu  bemerkt  das  Blatt: 

Es  war  nicht  zu  erwarten,  daß  Herr  Wilde  mit  seinem  Kritiker 
über  den  künstlerischen  Wert  seines  Werkes  derselben  Meinung  sein 
werde.  Es  sei  ihm  zugestanden,  daß  es  ihm  gelungen  ist,  seinen  Helden 
mit  jener  Atmosphäre  zu  umgeben,  die  er  beschreibt.  Das  ist  sein  Lohn. 
Der  Kritiker  ist  nichtsdestoweniger  berechtigt,  der  Ansicht  zu  sein  und 
sie  auszudrücken,  daß  keine  noch  so  geschickte  Behandlung  diese  Atmo- 
sphäre für  den  Leser  erträglich  machen  kann.  Das  ist  seine  Strafe. 
Zweifellos  ist  es  das  Vorrecht  des  Künstlers,  abscheulich  zu  sein;  aber 
er  muß  dieses  Vorrecht  auf  seine  Gefahr  ausüben. 


Ein  Herr  Charles  Whibley  schreibt  einige  Tage  darauf: 
Der  alte  Streit,  hier  Objekt,  hier  Gestaltung,  dürfte  fortdauern, 
solange  Künstler  und  Kritiker  denselben  Planeten  bewohnen.  Und  da 
eine  endgiltige  Entscheidung  dieser  Frage  die  lebhafteste  und  inter- 
essanteste aller  Diskussionen  vorzeitig  abschließen  würde,  so  wollen  wir 
hoffen,  daß  eine  solche  Entscheidung  niemals  eintreten  wird. 

(Es  folgt  eine  längere  theoretische  Erörterung,  in  deren  Verlauf 
der  Schreiber  Maupassants  »Bei  Ami«  und  Daudets  »Sapho«  scharf 
tadelt  und  ihnen  Dostojewskis  »Verbrechen  und  Sühne«  und  Flauberts 
»Madame  Bovary«  als  Beispiele  künstlerischer  Behandlung  eines  ab- 
stoßenden Stoffes  entgegenhält.) 

.  .  Die  Kunst  ist  also  unmoralisch.  Wenn  diese  Theorie  irgend- 
wie feststeht,  so  scheint  mir  Ihre  Kritik  des  »Dorian  Gray»  zu  wohl- 
wollend in  ihrem  Lobe  und  zu  ungerecht  in  ihrer  Verurteilung  zu  sein. 
Sie  finden  in  der  Erzählung  Kunst  und  keine  Moral;  ich  finde  darin 
Massen  von  Moral  und  keine  Kunst.  Vom  Anfang  bis  zum  Ende  über- 
ließ Wilde  seiner  Liebe  zu  Paradoxen  die  Herrschaft  über  seinen  Sinn 
für  Proportion.     Wenn    ich    den    Gesprächston    des    Lords    Wotton    — 


—  Iß 


sicherlich  eines  der  ermüdendsten  Menschen  der  Literatur  —  parödietep 
darf:  E$  gibt  nichts  so  Langweiliges  wie  ein  Epigramm.  Und  «in 
Roman,  der  aus  nichts  anderem  besteht  als  aus  umgestülpten  Gemein- 
plätzen und  na$ä  ngodioatcv  gewendeten  leeren  Phrasen,  hat  nicht  mehr 
Recht,  künstlerisch  genannt  zu  werden,  als  ein  Gemälde,  das  nur  aus 
farbigen  Punkten  bestünde.*)  Unterbricht  ein  Künstler  den  Gang  seiner 
Erzählung  mit  ermüdenden  Abhandlungen  über  Juwelen  und  mit  Öden 
Möbelkatalogen?  Und  vermeidet  er  nicht,  wenn  er  einen  zugestandener- 
maßen delikaten  Gegenstand  behandelt,  überflüssiges  Detail  und  exotische 
Sentimentalität?  Wilde  hat  bewiesen,  daß  ihm  der  Takt  und  die  Selbstzucht 
fehlen,  einen  Helden  künstlerisch  zu  gestalten,  der  halb  Jack  der  Auf- 
schlitzer, halb  Gaveston**)  ist.  Die  Aufnahme,  die  sein  Buch  gefunden 
hat,  muß  ihm  übrigens  besonders  schmerzlich  gewesen  sein.  Er  erhebt 
Anspruch  auf  einen  künstlerischen  Triumph,  und  er  wurde  zum  mindesten 
von  einer  religiösen  Zeitschrift  als  Sittenreformator  begrüßt.  Hat  e«  je 
eine  unerwünschtere  Apotheose  gegeben? 

* 

Wildes  zweite  Erwiderung. 
Geehrter  Herrl 

In  einer  Zuschrift,  die  vor  einigen  Tagen  in 
Ihrem  Blatte  erschien  und  die  das  Verhältnis  der 
Kunst  zur  Moral  behandelt  —  eine  Zuschrift,  die  mir 
in  vieler  Hinsicht  vortrtffl  ch  zu  sein  scheint,  ins- 
besondere in  ihrer  Betonung  der  Freiheit  des  Künstlers, 
seinen  Stoff  nach  Gefallen  zu  wählen  — ,  sagt  der 
Unterzeichner,  Herr  Charles  Whibley,  es  müsse  be- 
sonders schmerzlich  für  mich  sein,  zu  sehen,  daß  die 
ethische  Bedeutung  des  Dorian  Gray  von  den  hervor- 
ragendsten christlichen  Blättern  Englands  und  Amerikas 
so  stark  betont  wird,  und  daß  ich  sogar  von  mehr  als 
einem  von  ihnen  als  Sittenreformator  begrüßt  werde. 

Gestatten  Sie  mir,  nicht  nur  Herrn  Charles 
Whibley  selbst,  sondern  auch  Ihre  zweifellos  besorgten 
Leser  in  dieser  Hinsicht  zu  beruhigen.  Ich  zögere 
nicht  im  Geringsten  zu  erklären,  daß  ich  eine  solche 
Kritik  als  eine  sehr  willkommene  Huldigung  für  mein 
Werk  betrachte.    Denn  wenn  ein  Kunstweik  reich- 

*)  Herr  Whibley  wußte  wohl  noch  nichts  vom  Pofntillismus, 
der  damals  wohl  schon  erfunden,  aber  noch  nicht  Kunstmode  ge- 
worden war.  Anm.  d.  Übers. 

•*)  Begabter  und  übermütiger  Günstling  Eduards  II,,  der  ihm 
in    blinder    Liebe    zugetan  war.  Anm.   d.  Ob«rs. 


haltig,  lebensvoll  und  vollendet  ist,  so  werden  die, 
die  künstlerischen  Sinn  haben,  seine  Schönheit  fühlen, 
während  die,  auf  die  das  Ethische  mehr  wirkt  als 
das  Ästhetische,  seine  sittliche  Lehre  herausfinden 
werden.  Es  wird  den  Feigen  mit  Schrecken  erfüllen, 
und  der  Unreine  wird  seine  Schande  darin  sehen. 
Es  wird  jedem  das  sein,  was  er  selber  ist.  In  Wahr- 
heit ist  es  der  Beschauer  und  nicht  das  Leben,  was 
sich  in  der  Kunst  spiegelt. 

Und  so  hat  denn  auch  im  Falle  des  Dorian 
Gray  der  rein  literarische  Kritiker,  wie  zum  Beispiel 
der  des  , Speaker',  darin  ein  »ernstes  und  reizvolles 
Kunstwerk«  gesehen;  der  Kritiker,  der  es  in  seiner 
Beziehung  zur  Moral  betrachtet,  wie  zum  Beispiel 
der  des  , Christlichen  Führers'  oder  der  der  Christ- 
lichen Welt',  eine  ethische  Parabel;  das  ,Licht', 
welches,  wie  man  mir  sagt,  das  Organ  der  englischen 
Mystiker  ist,  betrachtet  es  als  »ein  Werk  von  hoher 
spiritualistischer  Bedeutung«;  die  ,St.  James's  Ga- 
zette', die  offenbar  das  Organ  der  Lüstlinge  zu  sein 
bestrebt  ist,  sieht  darin  alle  möglichen  schrecklichen 
Dinge  und  empfiehlt  es  der  Aufmerksamkeit  des 
Staatsanwaltes;  und  Ihr  Herr  Charles  Whibley  sagt 
launig,  daß  er  darin  »Massen  von  Moral«  finde.  Es 
ist  freilich  wahr,  daß  er  hinzufügt,  er  könne  keine 
Kunst  darin  entdecken;  aber  man  kann  billiger- 
weise nicht  von  einem  Kritiker  verlangen,  daß  er 
ein  Kunstwerk  von  allen  Seiten  sehe.  Auch  Gautier 
hatte  seine  Beschränkung,  ebenso  wie  Diderot,  und 
in  dem  heutigen  England  sind  die  Goethes  selten. 
Ich  kann  Herrn  Charles  Whibley  nur  die  Versicherung 
geben,  daß  keine  Moral-Apotheose,  —  der  er  einen 
höchst  bescheidenen  Beitrag  hinzufügt  —  eine  Ur- 
sache des  Harmes  für  einen  Künstler  sein  kann. 

Ich  bin,  geehrter  Herr  Redakteur,  Ihr  sehr  er- 
gebener 0.  W. 

16,  Tite  Street,  Chelsea,  30.  Juli  1890. 


17 


Unterm  9.Augu»tl8yo  «schien  folgender  Brief  des Herrn  Wh a b i •  y  : 
Vor  nicht  viel  lflnger  als  einem  Monat  tat  Herr  Oskar  Wilde 
den  Lesern  des  ,St.  James's  Qazette'  kund,  daß  er  infolge  seines 
Temperaments  oder  seines  Geschmackes  oder  beider  durchaus  nicht  zu 
begreifen  vermöge,  wie  man  ein  Kunstwerk  vom  moralischen  Gesichtspunkte 
aus  beurteilen  könne.  > Das  Gebiet  der  Kunst  und  das  Gebiet  der  Ethik«, 
schrieb  er,  »sind  vollkommen  getrennt  und  verschieden«.  Nun  hat  aber 
seine  Erzählung  den  Beifall  einiger  berufsmäßig  frommer  Blätter  gefunden, 
und  er  akzeptiert  die  Kritik  seiner  neuen  Verbündeten  als  eine  »sehr 
willkommene  Huldigung«  für  sein  Werk.  Wenn  seine  Erklärung  in  der 
,St.  James's  Gazette,  aufrichtig  war,  dann  müßte  er  das  Urteil  eines 
Kritikers  »der  die  Kunst  in  ihrem  Verhältnis  zur  Tugend  bet  achtet«  als 
eine  sinnlose  Anmaßung  zurückweisen.  Hat  er  nicht  erklärt,  daß  »kein 
Kunstwerk  vom  moralischen  Standpunkt  aus  kritisiert  werden  darf«  ? 
»Geschmack  und  Temperament«  des  »Künstlers«  sind  ja  notorisch 
schwankend  und  unberechenbar,  aber  man  sollte  doch  meinen,  daß  sie 
ein  paar  Wochen  ohne  Wechsel  überdauern  könnten.  Aber  die  .Christ- 
liche Welt'  läßt  ihr  salbungsvolles  Lob  auf  Herrn  Wilde  herabträufeln, 
und  stracks  verleugnet  er  seine  teuren  Prinzipien  und  vermengt  Ethik 
und  Ästhetik  mit  einer  Unbekümmertheit,  die  der  Mrs.  Grundy*)  selber 
würdig  wäre.  Wenn  es  der  höchste  Ehrgeiz  jedes  Künstlers  ist,  Seite 
an  Seite  mit  dem  talentierten  Autor  von  »Wir  zwei«  zur  Bewunderung 
aller  derer,  die  sittenverbessernde  Literatur  lieben,  auf  ein  Piedestal 
gestellt  zu  werden,  dann  hat  Herr  Wilde  sicherlich  einen  großen  Triumph 
errungen.  Aber  sein  Erfolg  mag  billigerweise  von  jenen  angezweifelt 
werden,  die  nicht  der  Ansicht  sind,  daß  aufdringliche  Moral  die  unent- 
behrliche Eigenschaft  jedes  Kunstwerkes  sei. 

Es  scheint,  daß,  um  die  Vorzüge  des  »Dorian  Gray«  vollkommen 
würdigen  zu  können,  der  »rein  literarische  Kritiker«  mit  dem  verschmelzen 
muß,  der  »die  Kunst  in  ihrem  Verhältnis  zur  Tugend  betrachtet«.  Weder 
Gautier  noch  Diderot  wären  also  im  Stande,  dieser  Aufgabe  zu  genügen, 
ohne  die  Mithilfe  des  , Licht'  und  der  .Christlichen  Welt'.  Und  Goethe 
ist  tot  und  hat  den  Dorian  Oray  nicht  gekannt  I  Ich  weiß  nicht,  wer 
mehr  zu  bedauern  ist,  der  deutsche  Kritiker  oder  der  englische  Moralist. 
Aber  Herr  Wilde  hat  den  bedauernswerten  Umstand  in  bestmöglicher 
Weise  korrigiert :  da  kein  Goethe  da  ist,  um  ihm  Beifall  zu  spenden, 
ist  er  unermüdlich  in  der  öffentlichen  Belobung  seines  eigenen  Werkes. 


Ein  Herr  J.  E.  Brown  untersucht,  ob  Wilde  im  »Dorian  Gray« 
mit  Kabelais  oder  mit  Swift  zu  vergleichen  sei,  und  verneint  beides.  Er 
findet  ihn  näher  zu  Zola  in  Bezug  auf  die  Wahl  eines  abstoßenden 
Stoffes  und  in  Bezug  auf  seine  moralisierende  Absicht,  stellt  aber  Zola 
viel  höher  und  führt  insbesondere  *La  Terre«  als  Beispiel  der  kraft- 
vollen Behandlung  eines  häßlichen  Gegenstandes  an.  Er  fährt  dann  fort: 

Ich    bin    überzeugt,    er    meint    es    gut.     Er   ist    ebenso 


■*)  Etwa:    Frau    Klatschbase,    Sinnbild    der    urteilslosen  Menge. 

Anm.  d.  •bers 


18 


moralisch  wie  Zola;  «mer  Ihrer  Korrespondenten  hat  ja,  glaube  ich, 
bereits  hervorgehoben,  daß  die  Moral  die  starke  Seite  Wildes  ist,  und 
ich  stimme  diesem  Urteil  vollkommen  zu.  Die  Moral  ist  in  der  Tat 
seine  starke  Seite,  aber  ich  glaube  nicht,  daß  die  Kunst  es  ist.  Darin 
rag:  Zola  weit  über  ihn  hinaus.  Zola  ist  eine  starke  Natur,  Wilde  nicht. 
Zola  meistert  seinen  Stoff  —  kann  man  das  auch  von  Wilde  sagen? 
Schriftsteller  sollten  sich  in  folgender  Weise  befragen  oder  sich  befragen 
lassen:  Bist  du  Rabelaisisch?  Dann  lache  sein  lautes,  derbes  Lachen 
über  alles  dies,  und  Qott  befohlen!  Bist  du  Swiftisch?  Kannst  du  auf 
diesem  furchtbar  gefährlichen  Seil  tanzen,  ohne  zu  stürzen?  Bist  du 
realistisch,  Zolaisch?  Ein  Mann  von  dem  Bau  Zolas  kann  sich  mit 
seinen  Bauern  in  den  Morast  priapischer  Scheußlichkeit  legen  und  sich 
als  ein  Riese  wieder  daraus  erheben.  Nichts  davon  ist  in  ihn  einge- 
drungen. Aber  schwächere  Menschen,  welkere  Menschen,  weichere, 
durchlässigere  Menschen  -  ist  es  geraten  für  sie,  dasselbe  zu  wagen? 
Künstler  müssen  auf  sich  Acht  haben :  der  Künstler  hat  ein  moralisches 
Qefühl,  und  er  muß  es  behüten,  je  ängstlicher,  desto  besser,  wenn  er 
nicht  zu  den  wenigen  Allergrößten  zählt. 

* 

Ein  mit  >H.<  unterschriebener  Brief  polemisiert  gegen  die  von 
Charles  Whibley  in  seiner  Zuschrift  aufgestellte  Forderung,  der  Kritiker 
solle  nur  die  künstlerische  Qestaltung  des  Gegenstandes  beurteilen  und 
den  Qegcnstand  selbst  außer  Acht  lassen.  «H.«  erklärt  dies  für  un- 
möglich, da  der  Gegenstand  sich  dem  Kritiker  ebenso  aufdränge  wie 
seine  Behandlung.  Dann  kommt  folgende  Stelle: 

Nehmen  wir  an,  ein  außerordentlich  begabter  Sänger  trüge  bei 
einem  Konzert  >God  save  Ireland«  ungemein  schön  vor.  Nach  Herrn 
Whibley  müßte  die  Kritik  lauten:  »Herr  Jones  sang  eine  Ballade,  die 
seine  herrliche  Stimme  und  seinen  wunderbaren  Vortrag  in  schönstem 
Lichte  zeigte.  Sein  hohes  /  ist  von  außerordentlicher  Reinheit,  und  seine 
tiefen  Töne  klangen  unendlich  weich  und  sonor«.*)  —  Nach  meiner 
Ansicht  müßte  ein  richtiger  Kritiker  sagen:  »Dann  begann  Herr  Jones 
uns  einige  miserable  Verse  über  drei  feige  Mörder  vorzusingen.  Jeder 
anständige  Mensch  im  Publikum  verließ  sofort  den  Saal.  Die  Konzert- 
leitung verdient  schärfsten  Tadel,  daß  sie  zugab,  daß  das  Auditorium 
durch  diesen  schändlichen   und  verräterischen  Vortrag  beleidigt  werde.« 

Zum  Schlüsse  faßt  >H.«  seine  Ansicht  dahin  zusammen,  der 
Kritiker  habe  selbstverständlich  zuvörderst  die  Aufgabe,  auf  Kunstfehler 
tadelnd  hinzuweisen,  aber  das  enthebe  ihn  nicht  der  Pflicht,  »Verbrechen, 
Roheit,  Radikalismus  (sie!)  und  Obszönität«  zu  verdammen,  wo  er 
sie  finde. 

Ein  Herr  J.  Mac  Laren  Cobban  schreibt: 


*)  »God  save  Ireland«  ist  ein  irisches  Kampflied,  das  drei 
politische  Mörder  glorifiziert,  und  es  ist  auf  den  Durchschnittsengländer 
berechnete  grimmigste  Ironie  von  Seite  »H.s«,  eine  solche  Kritik  für 
möglich  zu  halten.  Zu  erinnern  ist  auch,  daß  Wilde  Irländer  war. 

Anrn.  d.  Übers. 


19  - 


In  der  Kontroverse,  die  sich  in  den  Spalten  ihres  Blattes  eni 
wickelt  hat,  hat  nur  einer  der  Beteiligten  den  Versuch  gemacht,  schö- 
pferisch zu  sein.  Dieser  eine  ist  Herr  Oskar  Wilde,  und  sein  Beitrag  2u 
der  Diskussion  besteht  nur  aus  einem  unverschämten  Paradoxon.  Die 
verschiedenen  Kritiker  haben  einander  mit  der  Ochsenblase  lustig  und 
unermüdlich  über  den  Kopf  gehauen,  daß  es  nur  so  knallte.  Wozu  der 
Lärm?  muß  man  fragen.  Denn  es  will  mir  scheinen,  daß  sie  alle  in 
ihrer  Weise  recht  haben;  der  Unterschied  zwischen  ihnen  beruht  ledig- 
lich auf  dem  Unterschied  der  Gesichtspunkte,  und  der  Streit  wurzelt 
nur  darin,  daß  jeder  von  ihnen  darauf  besteht,  nur  einen  Gesichtspunkt 
gelten  zu  lassen.  Das  ist  aber  weder  weise  noch  förderlich.  Es  gibt, 
hat  immer  gegeben  und  wird  zweifellos  immer  geben,  drei  Gesichts- 
punkte, von  denen  aus  ein  Kunstwerk  beurteilt  wird:  1.  Der  des 
Künstlers.  2.  Der  des  Kritikers.  3.  Der  des  Publikums.  Der  Standpunkt 
des  Künstlers  und  der  des  Publikums  waren  immer  ziemlich  stabil;  der 
des  Kritikers  schwankt  zwischen  beiden  und  nähert  sich  zuweilen  bis 
auf  eine  kaum  merkbare  Entfernung  dem  einen  oder  dem  andern.  Der 
Künstler  hat  stets  das  Recht  gefordert,  seinen  Gegenstand  zu  nehmen, 
wo  er  ihn  fand.  Das  ist  sehr  berechtigt  von  seinem  Standpunkte  aus, 
und  je  mehr  er  Künstler  ist,  desto  mehr  findet  er,  daß  das  Wichtigste 
in  seiner  Kunst  und  in  der  Kunst  anderer  nicht  der  Stoff  sondern  seine 
Gestaltung  ist:  diese  ist  es,  die  seine  ganze  Aufmerksamkeit  und  seine 
ganze  Kraft  in  Anspruch  nimmt.  Das  Publikum  seinerseits  beurteilt  ein 
Kunstwerk  vollkommen  natürlicherweise  nach  dem  einzigen  Werte,  den 
es  schätzen  kann,  nämlich  nach  der  Wirkung  auf  sich  selbst.  Wenn  das 
Publikum  von  einem  Buch,  einem  Stück,  einem  Bild  getroffen,  gepackt 
wird,  wenn  es  zum  Lachen  oder  Weinen,  zum  Mitleid  oder  zum  Mora- 
lisieren gebracht,  wenn  es  unterhalten  oder  erregt  wird,  dann  nennt  es 
das  Buch,  das  Stück  oder  das  Bild  »gut<.  Wie  das  Buch,  das  Stück, 
das  Bild  es  angestellt  haben,  diese  Wirkung  hervorzubringen,  das  weiß 
es  nicht,  und  danach  fragt  es  nicht.  > Stoff«  und  »Gestaltung«,  alle 
die  theoretischen  Streitfragen  der  Kunst,  sind  ihm  ebenso  gleichgiltig, 
und  mit  vollem  Recht;  denn  Kaufen  und  Verkaufen,  Erfolg  und  Miß- 
erfolg, Liebe  und  Heirat,  das  sind  die  Dinge,  die  es  vor  allem  beschäf- 
tigen, und  nicht  die  Kunst.  Zwischen  den  beiden  Extremen,  Künstler 
und  Publikum,  bewegt  sich  dann  der  Berufskritiker  und  einige  wenige 
Menschen  aus  dem  Publikum,  die  ich  Amateure  nennen  will.  Diese, 
Kritiker  und  Amateure,  haben  nicht  die  intime  oder  esoterische  Sach- 
kenntnis des  Künstlers,  aber  sie  interessieren  sich  für  die  Kunst,  und  sie 
haben  einen  gewissen  Geschmack  und  ein  gewisses  Urteil,  mit  deren 
Hilfe  sie  als  Interpreten  zwischen  Künstler  und  Publikum  auftreten.  Aber 
es  ist  natürlich  und  unvermeidlich,  daß  auch  sie  ihre  eigene  Meinung 
haben.  Auch  sie  haben  noch  andere  Interessen  im  Leben  als  die  Kunst, 
und  ihnen  wird  nicht  wie  dem  Künstler  das  Gefühl  der  überragenden 
Wichtigkeit  der  Gestaltung  durch  den  täglichen  Kampf  mit  ihren 
Schwierigkeiten  aufgezwungen.  Wenn  ihnen  also  ein  Kunstwerk  gefällt  oder 
mißfällt,  so  legen  sie  die  Ursachen  davon  In  einer  Weise  dar,  wie  es 
der  Künstler  nicht  tun  würde,  und  nähern  sich  dabei  bald  mehr  dem 
Standpunkt    des  Künstlers,    bald    dem    des   Publikums,    je    nach    Ihrem 


20  — 


Temperament,  üeschmack  und  Verständnis.  Sie  bringen  Erwägungen 
vor,  die,  wir  dürfen  nicht  sagen,  der  Kunst,  aber  der  Anschauung 
des  Künstlers  von  der  Kunst  fremd  sind;  sie  erheben  Anklagen  wegen 
Unmoralität,  und  der  Künstler  ist  erstaunt,  wenn  nicht  erzürnt.  Denn  für 
den  Künstler  als  Künstler  gibt  es  nur  eine  Art  der  Unmoralität :  schlechte 
Kunst,  das  heißt,  schlechte  Gestaltung  des  Stoffes. 

Ich  will  jedoch  nicht  mit  dem  Kritiker  rechten,  obgleich 

er,  wie  mir  scheinen  will,  mit  seinen  Erörterungen  über  die  Kunst  einen 
großen  Teil  der  Aufmerksamkeit  absorbiert,  die  besser  der  Kunst  selbst 
zugewendet  werden  sollte.  Denn  die  Kunst  ist  lang,  aber  die  Kritik 
ist  länger. 

Wildes  dritte  Erwiderung. 
Geehrter  HerrI 

Ich  bin  zu  meinem  Bedauern  nicht  in  der  Lage, 
mich  mit  Herrn  Whibley  in  eine  Zeitungskontroverse 
über  die  Kunst  einzulassen ;  schon  deshalb  nicht, 
weil  ich  nicht  die  Möglichkeit  habe  zu  beurteilen, 
inwieweit  Herr  Whibley  die  Befähigung  zur  Diskussion 
eines  so  wichtigen  Gegenstandes  besitzt.  Ich  habe 
von  seiner  Zuschrift  nur  Notiz  genommen,  weil  er 
—  wie  ich  überzeugt  bin,  ohne  jede  Absicht  —  eine 
Vermutung  über  meine  persönlichen  Gefühle  aus- 
sprach, die  ganz  unzutreffend  war.  Er  sagte,  es  müsse 
peinlich  für  mich  sein,  zu  sehen,  daß  ein  gewisser 
Teil  der  Öffentlichkeit,  bestehend  aus  ihm  selbst  und 
den  Kritiken  einiger  religiöser  Zeitschriften,  durchaus 
das,  was  er  »Massen  von  Moral«  nennt,  in  meiner 
Erzählung  »Das  Bildnis  des  Dorian  Gray«  finden  wollte. 

Da  mir  natürlicherweise  daran  liegen  mußte, 
Ihre  Leser  in  einer  für  den  Literarhistoriker  so  wich- 
tigen Sache  von  der  Wahrheit  zu  unterrichten,  legte 
ich  in  Ihren  Spalten  dar,  daß  ich  jede  solche  Kritik 
als  eine  sehr  erfreuliche  Anerkennung  der  ethischen 
Schönheit  des  Buches  betrachtete;  und  ich  fügte 
hinzu,  ich  sei  vollkommen  bereit  zuzugeben,  daß  es 
unbillig  wäre,  von  jedem  gewöhnlichen  Kritiker  zu 
verlangen,  daß  er  ein  Kunstwerk  von  jedem  Gesichts- 
punkte aus  zu  würdigen  wisse.  Ich  bin  nach  wie 
vor  dieser  Ansicht.  Wenn  jemand  die  künstlerische 
Schönheit  einer  Sache  sieht,  wird  er  sich  vermutlich 
wenig  um  ihre  moralische  Bedeutung  kümmern;    ist 


21  — 


aber  seine  Natur  empfänglicher  für  die  ethischen  als 
für  die  ästhetischen  Wirkungen,  so  wird  er  kein  Interesse 
für  Stil,  Behandlung  des  Gegenstandes  und  der- 
gleichen haben.  Es  bedarf  eines  Goethe,  um  ein 
Kunstwerk  ganz,  vollkommen  und  allseitig  zu  be- 
trachten, und  inh  stimme  Herrn  Whibley  durchaus 
zu,  wenn  er  sagt,  es  sei  schade,  daß  Goethe  den 
Dorian  Gray  nicht  gelesen  hat.  Ich  bin  ganz  überzeugt, 
daß  er  davon  entzückt  gewesen  wäre,  und  ich  kann 
nur  hoffen,  daß  ein  schattenhafter  Verleger  eben  jetzt 
eine  Geisterausgabe  davon  in  den  Elysäischen  Ge- 
filden verteilt,  und  daß  der  Einband  des  Exemplares, 
das  Gautier  in  die  Hand  bekommt,  mit  vergoldeten 
Affodilen  überstreut  ist. 

Sie  könnten  die  Präge  stellen,  warum  mir  daran 
liegen  sollte,  daß  die  ethische  Schönheit  meiner  Er- 
zählung anerkannt  werde.  Darauf  erwidere  ich:  ein- 
fach deshalb,  weil  sie  existiert,  weil  sie  darin  ist. 
Die  hervorragendste  Eigenschaft  von  >Madame  Bo- 
vary<  ist  nicht  die  Morallehre,  die  darin  zu  finden 
ist,  ebenso  wenig  wie  die  hervorragendste  Eigenschaft 
des  »Salammbo«  die  Altertumskunde  ist,  die  es  ent- 
hält. Aber  Flaubert  war  vollkommen  im  Rechte,  wenn 
er  die  Unwissenheit  derjenigen  bewies,  die  das  eine 
Werk  ab  unmoralisch,  das  andere  als  unrichtig  bezeich- 
neten. Und  nicht  nur  war  er  im  Rechte  im  gewöhn- 
lichen Sinne  des  Wortes,  sondern  er  war  künstlerisch 
im  Rechte,  was  das  Entscheidende  ist.  Der  Kritiker 
hat  das  Publikum  zu  belehren;  der  Künstler  hat  den 
Kritiker  zu  belehren. 

Gestatten  Sie  mir  noch  eine  kleine  Richtig- 
stellung, und  dann  nehme  ich  Abschied  von  Herrn 
Whibley.  Er  schließt  seine  Zuschrift  mit  der 
Bemerkung,  ich  sei  unermüdlich  in  der  Öffentlichen 
Belobung  meines  Werkes.  Ich  zweifle  nicht,  daß  er 
mir  damit  eine  Schmeichelei  sagen  wollte,  aber  er 
überschätzt  wirklich  meine  Fähigkeit  ebenso  wie 
meine  Lust  zur  Arbeit.  Ich  muß  offen  gestehen,  daß 
ich  durch  Anlage  ebensosehr  wie  durch  Wahl  außer- 


22 


ordentlich  träge  bin.  Kultivierter  Müßigang  scheint 
mir  die  angemessenste  Beschäftigung  des  Menschen. 
Zeitungskontroversen  jeder  Art  sind  mir  zuwider, 
und  unter  den  zweihundertundsechzehn  Kritiken  des 
»Dorian  Gray«,  die  von  meinem  Schreibtisch  in  den 
Papierkorb  gewandert  sind,  habe  ich  nur  von  dreien 
öffentlich  Notiz  genommen.  Eine  davon  war  die  im 
,Scots  Observer'  erschienene.  Ich  reagierte  darauf, 
weil  sie  dem  Autor  eine  Absicht  bei  Verfassung  des 
Buches  unterschob,  die  berichtigt  werden  mußte.  Die 
zweite  war  ein  Artikel  in  der  ,St.  Jamets's  Gazette*. 
Er  war  beleidigend  und  ungeschlacht  und  schien  mir 
eine  sofortige  Zurechtweisung  zu  erheischen.  Der  Ton 
des  Artikels  war  eine  Unverschämtheit  gegen  jeden 
Schriftsteller.  Die  dritte  war  ein  schwächlicher  An- 
griff in  einem  Blatte,  das  ,The  Daily  Chronicle* 
heißt.  Ich  glaube,  daß  ich  an  den  , Daily  Chronicle' 
schrieb,  war  eine  Handlung  puren  Übermuts.  Ja,  ganz 
sicher  war  es  das.  Ich  weiß  absolut  nicht  mehr,  was 
in  der  Kritik  stand.  Wenn  ich  nicht  irre,  hieß  es 
dort,  der  Dorian  Gray  sei  giftig,  und  ich  glaube,  ich 
hielt  es  für  höflich,  aus  Gründen  der  Alliteration 
darauf  hinzuweisen,  daß  er  auf  alle  Fälle  auch  genial 
sei.  Das  war  alles.  Die  übrigen  zweihundertdreizehn 
Kritiken  habe  ich  nicht  beachtet.  Ja,  ich  habe  kaum 
die  Hälfte  davon  gelesen.  Es  ist  sehr  betrüblich,  aber 
man  wird  selbst  des  Lobes  überdrüssig. 

Was  nun  die  Zuschrift  des  Herrn  Brown  betrifft, 
so  ist  sie  nur  insoferne  interessant,  als  sie  einen  Be- 
weis für  die  Wahrheit  dessen  bietet,  was  ich  oben 
über  die  Stellung  der  beiden  Hauptarten  der  Kritik 
zueinander  gesagt  habe.  Herr  Brown  sagt  oflvn,  daß 
er  die  Moral  die  »starke  Seite«  meiner  Erzählung 
finde.  Herr  Brown  meint  es  gut  und  hat  eine  halbe 
Wahrheit  gefunden,  wenn  er  es  aber  dann  unter- 
nimmt, das  Buch  vom  künstlerischen  Standpunkt  zu 
behandeln,  geht  er  natürlich  weit  in  die  Irre.  Den 
»Dorian  Gray«  auf  eine  Linie  mit  Zolas  »La  Terre< 
zu   stellen   ist   ebenso   töricht,  als   ob   man  Mussets 


23 


»Fortunio*  auf  eine  Linie  mit  den  Melodramen  des 
Adelphitheaters  stellen  wollte.  Herr  Brown  sollte  es 
bei  der  sittlichen  Beurteilung  bewenden  lassen;  da 
ist  er  unbesieglich. 

Herr  Cobban  beginnt  unglücklich,  indem  er 
meinen  Brief,  worin  ich  Herrn  Whibley  in  Bezug  auf 
eine  Tatsache  berichtigte,  ein  »unverschämtes  Para- 
doxon* nennt.  Der  Ausdruck  »unverschämt*  ist  nicht 
verständlich,  und  der  Ausdruck  »Paradoxon*  ist 
unangebracht.  Es  will  mir  leider  scheinen,  als  ob 
das  Schreiben  an  Zeitungen  einen  zerstörenden 
Einfluß  auf  den  Stil  hätte.  Die  Leute  werden  heftig, 
geraten  ins  Schimpfen  und  verlieren  alles  Gefühl  für 
Proportion,  wenn  sie  die  seltsame  journalistische  Arena 
betreten,  in  welcher  stets  der  Lärmendste  das  Rennen 
gewinnt.  »Unverschämtes  Paradoxon*  ist  nun  aller- 
dings weder  heftig,  noch  beschimpfend,  aber  es  ist 
ein  Ausdruck,  der  für  meinen  Brief  nicht  hätte  ge- 
braucht werden  sollen.  Herr  Cobban  tut  jedoch  als- 
bald Buße  für  das,  was  offenbar  nur  ein  Mißgriff  der 
Manieren  war,  indem  er  das  unverschämte  Paradoxon 
als  sein  eigen  adoptiert  und  auseinandersetzt,  daß, 
wie  ich  vorher  gesagt  hätte,  der  Künstler  ein  Werk 
stets  nur  vom  Standpunkt  der  Schönheit  und  der 
Behandlung  der  Form  betrachte,  und  daß  die,  die 
keinen  Schönheitssinn  hätten,  oder  deren  Schönheits- 
sinn durch  ethische  Anforderungen  in  den  Hinter- 
grund gedrängt  werde,  ihre  Aufmerksamkeit  vor  allem 
dem  Stoffe  zuwendeten  und  die  moralische  Wirkung 
als  den  Prüfstein  für  den  Wert  des  Gedichtes  oder 
des  Romanes  oder  des  Bildes  ansähen,  das  sie  zu  be- 
urteilen hätten,  während  der  Zeitungskritiker  bald 
den  einen  und  bald  den  andern  Standpunkt  einnehme, 
je  nachdem  er  kultiviert  oder  unkultiviert  sei.  Kurz, 
Herr  Cobban  münzt  mein  unverschämtes  Paradoxon 
in  eine  platte  Wahrheit  um,  und  ich  glaube,  er  tut 
damit  ein  nützliches  Werk.  Das  englische  Publikum 
liebt  die  Plattheit  und  sieht  es  gern,  wenn  man  ihm 
die  Dinge  in  platter  Weise  erklärt.  Herr  Cobban  be- 


—  24 


dauert,  wie  ich  überzeugt  bin,  bereits  den  mißlungenen 
Ausdruck,  mit  dem  er  debütierte,  ich  will  also  nichts 
mehr  darüber  sagen.  Soweit  ich  in  Betracht  komme, 
ist  ihm  vollkommen  vergeben. 

Und  indem  ich  nun  von  dem  ,Scots  Observer' 
Abschied  nehme,  fühle  ich  mich  gedrängt  Ihnen,  Herr 
Redakteur,  ein  offenes  Geständnis  abzulegen.  Ein 
guter  Freund  von  mir,  ein  geistvoller  und  hervor- 
ragender Schriftsteller,  der  auch  Ihnen  persönlich 
nicht  unbekannt  ist,  sprach  die  Vermutung  aus,  daß  in 
dieser  furchtbaren  Polemik  in  Wirklichkeit  nur  zwei 
Personen  einander  gegenüber  gestanden  hätten,  und 
daß  diese  zwei  Personen  der  Herausgeber  des  ,Scots 
Observer*  und  der  Verfasser  des  »Dorian  Gray«  seien. 
Noch  heute  Abend  beim  Diner,  während  wir  bei 
einer  Flasche  vortrefflichen  Chianiis  saßen,  behaup- 
tete mein  Freund  ganz  zuversichtlich,  daß  Sie  unter 
angenommenen  und  geheimnisvollen  Namen  einfach 
nur  den  Ansichten  der  halbgebildeten  Klassen  unse- 
rer Stadt  dramatischen  Ausdruck  gegeben  hätten, 
und  daß  die  mit  »H«  gezeichneten  Briefe  nur  Ihre 
witzige,  wenn  auch  etwas  bittere  Karikatur  des  Phi- 
listers darstellten,  so,  als  ob  er  sie  selbst  gezeichnet 
hätte.  Ich  muß  gestehen,  daß  ich  selbst  etwas  Ähn- 
liches gedacht  habe,  als  ich  »H«s  ersten  Brief  las, 
—  den,  worin  er  dafür  eintritt,  daß  der  Maßstab  für 
die  Kunst  durch  die  politische  Überzeugung  des 
Künstlers  gegeben  werden  sollte,  und  daß,  wenn 
man  mit  dem  Künstler  über  die  beste  Art  Irland 
schlecht  zu  regieren  verschiedener  Meinung  sei,  man 
verpflichtet  sein  solle,  sein  Werk  schlecht  zu  finden. 
Es  gibt  jedoch  so  unzählig  viele  Abarten  des  Phi- 
listers, und  Nordengland  hat  einen  solchen  fest- 
begründeten Ruf  der  Ernsthaftigkeit,  daß  ich  den 
Gedanken  als  einen  des  Herausgebers  eines  schotti- 
schen Blattes  unwürdigen  wieder  verwarf.  Ich  fürchte 
aber  nun  fast,  daß  ich  darin  unrichtig  urteilte,  und 
daß  Sie  sich  die  ganze  Zeit  her  damit  unterhalten 
haben,  kleine  Puppen  zu  erfinden  und  sie  zu  lehren, 


2ö 


große  Worte  au  gebrauchen.  Nun,  geehrter  Herr, 
wenn  es  so  ist,  —  und  mein  Freund  behauptet  eg 
steif  und  fest  —  so  gestatten  Sie  mir,  Sie  zu  der 
Geschicklichkeit  zu  beglückwünschen,  mit  der  Sie 
sich  jenen  Mangel  an  künstlerischem  Stil  angeeignet 
haben,  der,  wie  man  mir  sagt,  unerläßlich  ist  für 
jede  dramatische  und  lebenswahre  Charakterisierung. 
Ich  gestehe,  daß  ich  vollständig  getäuscht  wurde ; 
aber  ich  trage  Ihnen  nichts  nach,  und  da  Sie  sich 
zweifellos  weidlich  ins  Fäustchen  gelacht  haben,  so 
gestatten  Sie  mir,  nun  laut  in  das  Lachen  mit  ein- 
zustimmen, wenn  es  auch  ein  wenig  auf  meine 
Kosten  geschieht.  Eine  Komödie  ist  zu  Ende,  wenn 
das  Geheimnis  verraten  ist.  Lassen  Sie  den  Vorhang 
fallen  und  legen  Sie  Ihre  Puppen  zu  Bett.  Ich  liebe 
den  Don  Quixote,  aber  ich  habe  kein  Verlangen  län- 
ger mit  Marionetten  zu  kämpfen,  wie  geschickt  auch 
die  Meisterhand  sei,  die  die  Drähte  regiert.  Lassen 
Sie  sie  in  die  Schublade  zurückkehren,  wohin  sie 
gehören.  Zu  einer  künftigen  Gelegenheit  mögen  Sie 
ihnen  neue  Etiketten  aufkleben  und  sie  zu  unserer 
Unterhaltung  wieder  auftreten  lassen.  Sie  bilden  eine 
treffliche  Truppe  und  machen  ihre  Kunststückchen 
vorzüglich,  und  wenn  sie  ein  wenig  unwirklich  sind, 
so  bin  ich  nicht  derjenige,  der  gegen  Unwirklich- 
keit  in  der  Kunst  etwas  einzuwenden  hat.  Der  Spaß 
war  wirklich  gut.  Das  einzige,  was  ich  nicht  ver- 
stehe, ist,  warum  Sie  Ihren  Marionetten  solche  außer- 
gewöhnliche und  unwahrscheinliche  Namen  gegeben 
haben. 

Ich  bin,  geehrter  Herr,  Ihr  sehr  ergebener 

0.  W. 

16,  Tite  Street,  Chelsea,  13.  August  1890. 


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26 


Glossen. 

Dreiviertel  Stunden  lang  sah  ich  einen  Mann  auf  der  Straße 
in  epileptischen  Krämpfen  sich  winden,  ehe  der  Wagen  der  telt  phonisch 
berufenen  Freiwilligen  Rettungsgesellschaft  kam.  Da  die  Humanität 
zu  jeder  Minute  des  Tages  und  der  Nacht  funktioniert,  so  ist  es 
wahrscheinlich,  daß  sie  damals  mehrfach  vergeben  war.  Wahrschein- 
lich ist  aber  auch,  daß  die  Aussicht  auf  den  Segen  der  Presse  und  des 
Papstes  Samariterwerke  zu  beschleunigen  vermag.  Denn  bis  Catania 
ist  immerhin  weiter  als  bis  zum  Schwarzenbergplatz,  und  wiewohl 
der  Transport  auf  den  italienischen  Bahnen  gestört  war,  kam  die 
Barmherzigkeit  ans  Ziel  und  wiewohl  der  telegraphische  Verkehr 
erschwert  war,  haben  wir  überreichliche  Kenntnis  von  den  Wundern 
jener  ausgekochten  Nächstenliebe  erhalten,  die  Herr  Dr.  Charas 
auf  den  Trümmern  der  sizilischen  Städte  verrichtet  hat.  Qewiß 
wäre  diese  Rettungsaktion  auch  unternommen  worden,  wenn  ihre 
Veranstalter,  vor  allem  jener  Herr,  von  dem  sich  das  Wort  Charitas 
direkt  herzuleiten  scheint,  rechtzeitig  erfahren  hätten,  daß  die 
telegraphische  Verbindung  zwischen  Catania  und  Wien  für  alle 
Zeiten  abgebrochen  sei.  Die  Selbstlosigkeit  hätte  sich  auch  betä- 
tigt, wenn  sie  erst  nach  Wochen  Gelegenheit  gehabt  hätte,  in  einem 
Vortragsabend  von  sich  zu  sprechen.  Immerhin  hätte  uns  ihr  aus- 
drücklicher Verzicht  auf  den  Segen  des  Papstes  und  auf  jede  Mög- 
lichkeit, auch  nur  in  absehbarer  Zeit  mit  einem  Orden  belohnt  zu 
werden,  noch  mehr  imponiert  als  ihr  Werk.  Die  Freiwillige  Ret- 
tungsgesellschaft ist  eine  Unternehmen,  gegen  das  selbst  vom 
Standpunkt  der  Inhumanität  nicht  das  geringste  einzuwenden  ist. 
Nur  beachte  man  den  Unterschied  zwischen  ihr  und  einer  Freiwilligen 
Feuerwehr.  Der  Rettungsgescllschaft  gegenüber  hat  man  sich  so  sehr 
ein-  für  allemal  auf  die  Vorstellung  des  Samaritertunis  festgelegt, 
daß  man  das  unaufhörliche  und  plötzliche  Erscheinen  ihres  Chefarztes 
in  der  Lokalrubrik  der  Zeitungen  für  die  Vorzüge  ihres  Betriebs 
hält.  Der  Rettungsbetrieb  würde  zwar  in  jedem  Fall  die  öffentliche 
Anerkennung  verdienen,  aber  er  müßte  mit  dem  Betrieb  der  Popu- 
larität annähernd  gleichen  Schritt  halten,  um  sein  Verdienst  nicht  zu 
kompromittieren.  Allerhand  Hochachtung  vor  den  Samaritern,  aber 
wenn  ihre  Eile  den  Eindruck  macht,  daß  nicht  sie  dem  Unglück, 
sondern  das  Unglück  ihnen  wie  gerufen  kommt,  dann  laufen  sie 
Oefahr,  daß  man  sie  für  Ästheten  hält.  Und  die  Peinlichkeit  dieses 
Eindrucks  wird  vermehrt,  w«nn  die  Ansichten  der  Verunglückten 


27 


über  den  Wert  der  Hilfeleistung  geteilt  sind.  Aus  den  divergieren- 
den Darstellungen  der  italienischen  Presse  geht  nicht  ganz  klar  her- 
vor, ob  der  politische  Haß  oder  bloß  die  Abneigung  gegen  die  Wiener 
Mehlspeisen  die  Begeisterung  der  Italiener  für  die  Wohltat  der 
Feldküchen  gedämpft  hat.  Ich  stelle  es  mir  ja. besonders  gräulich 
vor,  wenn  ein  Catanier  Maccaroni  verlangt  -  was  er  übrigens 
auch  in  erdbebenlosen  Zeiten  zu  jeder  Stunde  des  Tages  und 
gegenüber  jedermann  tut  — ,  und  Herr  Charas  antwortet:  Be- 
daure,  kann  nicht  mehr  dienen;  oder  wenn  ein  Catanier 
Wiener  Maccaroni  verschmäht  und  Herr  Charas  ihn  trotz- 
dem fragt:  Schon  bestellt,  bitte?  Immerhin,  der  Chefarzt  der 
Rettungsgesellschaft  mag  recht  haben,  wenn  er  die  Angriffe  der 
italienischen  Blätter  als  lügenhaft  bezeichnet  und  den  Interviewern 
versichert,  die  Leute  hätten  die  Erzeugnisse  der  Feldküchen 
»geradezu  verschlungen«.  Aber  die  Ärzte,  deren  Kollege  der  Mann 
ist,  sagen,  der  Erfolg,  daß  den  Cataniern  die  Wiener  Maccaroni 
nicht  in  der  Kehle  stecken  geblieben  sind,  sei  der  Ruhm  eines 
Kochs,  vielleicht  der  eines  Kellners,  aber  gewiß  nicht  der  eines 
Arztes.  Und  sie  nehmen  es  übel,  daß  in  Sizilien  die  Wiener 
Speisesitten  selbst  bis  zu  jenem  Punkt  konsequent  befolgt 
wurden,  wo  das  unvermeidliche  Trinkgeld  die  Mühe  der 
Servierung  lohnt. 

* 
Herrn  Dr.  Charas  gehts  gut; aber  schon  seit  mindestens  zwei 
Wochen  war  in  der  Presse  nicht  von  Herrn  Professor  Noorden  die 
Rede.  Darum  sei  wenigstens  hier  seines  Werkes  »Die  Zuckerkrankeit 
und  ihre  Behandlung«  (Berlin,  1907;  gedacht,  und  auf  die  Seiten  206 
und  207  verwiesen,  wo  »allgemeine  prognostische  Anhaltspunkte« 
verzeichnet  werden.  Da  es  sich  um  ein  wissenschaftliches  Werk  han- 
delt, so  hat  der  Verfasser  recht  getan,  unterden  »günstigen«  Anhalts- 
punkten als  11.:  »gute  äußere  Lebensverhältnisse«  anzuführen, 
während  er  ausdrücklich  unter  den  ungünstigen  Anhaltspunkten 
als  6.:  »ungünstige  äußere  Lebensverhältnisse«  bezeichnet.  Leider 
hat  Herr  Noorden  es  verabsäumt,  die  besonderen  Wirkungen  eines 
schlechten  Ultimo  auf  die  Zuckerkrankheit  anzuführen  und 
die  günstigen  Folgen  eines  Konkurses.  Es  versteht  sich  von  selbst, 
daß  die  Klienten  des  Herrn  Noorden  sich  ausschließlich  aus  jenen 
Kreisen  rekrutieren,  in  denen  von  ungünstigen  prognostischen 
Anhaltspunkten  nicht  die    Rede    sein    kann.    Selbstredend!    Das 


28  - 


Oeschäft  floriert  an  allen  Enden,  seitdem  es  sich  mit  der  Wissen- 
schaft assoziiert  hat.  Ein  hoher  Perzentsatz  bei  Zuckerkrankheit 
führt  zu  Stoff  Wechselprolongierungen,  und  wenns  gut  geht,  zu  jenen 

Finanzoperationen,  die  in  den  Sanatorien  ausgeführt  werden. 

*  * 

* 

Ernst  von  Wildenbruch  ist  tot,  und  war  gewiß  ein  ehren- 
werter Mann.  Aber  aus  einer  Danksagung  seiner  Oattin  ersehe 
ich,  daß  ihn  >das  deutsche  Volk  in  Weimar  neben  unseren  Dichter- 
fürsten bestattet«  hat.  Die  Rücksicht  gegenüber  Toten  ist  eine 
Forderung,  die  man  schließlich  auch  den  früher  Verstorbenen 
gegenüber  erfüllen  soll.  Herr  von  Wildenbruch  hat  die 
»Rabensteinerin«  geschrieben.  Das  läßt  sich  nicht  aus  der 
Welt  schaffen.  Aber  seine  Angehörigen  sollten  öffentlich  Verwah- 
rung dagegen  einlegen,  daß  die  .Phonographische  Zeitschrift' 
(Berlin)  behauptet,  Herr  v.  Wildenbruch  habe  einmal  »in  einer 
besonderen  Dichtung«  eine  Walze  besprochen,  und  daß  sie  deren 
Vervielfältigung  anregt.  Die  Dichtung,  die  ihm  unterschoben  wird, 
endet  nämlich  mit  den  Versen : 

Darum  erscheint  mir  der  Phonograph 

Als  der  Seele  wahrhafter  Photograph, 

Der  das  Verborg'ne  zutage  bringt 
Und  das  Vergang'ne  zu  reden  zwingt. 
Vernehmt  denn  aus  dem  Klang  von  diesem  Spruch 
Die  Seele  von  Ernst  von  Wildenbruch. 

*  * 

Im  Blätterwald  so  für  mich  hinzugehen  und  nichts  als  Stilblüten 
zu  suchen,  ist  längst  nicht  mein  Pläsier.  Ich  möchte  sagen,  es  ist 
eine  Aufgabe,  wie  wenn  man  Wasser  in  ein  —  nun,  wie  sagte 
die  ,Neue  Freie  Presse'  kürzlich?  »Wie  wenn  man  Wasser  in  ein 

hohles  Faß  schöpfen  wollte«. 

*  * 
* 

Dagegen  mag  es  noch  hin  und  wieder  interessant  sein,  die 
Unabhängigkeit  der  kritischen  Meinung  zu  bewundern.  Ein  Variet£- 
direktor  beklagte  sich  beim  Administrator  des  Blattes  über  die  un- 
günstigen Referate.  Die  Antwort  war:  »Wozu  laden  Sie  überhaupt 
den  Burschen  ein,  der  bei  uns  das  Ressort  hat?  An  mich  wenden 
Sie  sich  das  nächste  Mal!«  Jetzt  hat  der  Direktor  Ruhe,  schreibt  sein 
Referat  und  zahlt  gern  ein  paar  Oulden  für  die  Erfahrung,  wie 
sehr  noch  immer  das  Lob  der  ,Neuen  Freien  Presse'  dem  Publikum 


w 


imponiert.  Die  Redaktion  würde  ihren  Kritikern  gewiß  keine  Mei- 
nung vorschreiben.  Sie  bewahren  ihre  Unabhängigkeit,  nur  dürfen 
sie  sie  nicht  betätigen.  Sonst  passiert  zwischen  Morgen-  und 
Abendblatt,  was  kürzlich,  am  20.  Jänner,  passiert  ist.  Es  hatte  eine 
Matinee  für  die  Erdbebenopfer  von  Messina  gegeben.  Aber  ein 
Unglück  kommt  selten  allein.  Der  Musikkritiker  schrieb  das 
Urteil  nieder,  ein  Pianist  habe  »auf  einem  von  der  Bühne  herab 
schlecht  klingenden  Klavier  mtt  feurigem  Schwung  zwei  Stücke 
von  Chopin  und  Liszt  gespielt«.  Das  war  im  Morgenblatt.  Wer 
beschreibt  seine  Überraschung,  als  er  schon  im  Abendblatt  die 
folgende  Notiz  las:  »Bei  dem  gestern  im  Theater  an  der  Wien 
veranstalteten  Konzert  des  Wiener  Tonkünstlerorchesters   erregte 

der  Ton  des  herrlichen  Steinwayf lügels,  welcher  von  der  Firma 

in  uneigennützigster  Weise  kostenlos  beigestellt  wurde,  allseitige 
Bewunderung«.  Nicht  alles  wird  freilich  kostenlos  beigestellt.  Aber 
den  Musikkritiker  freute  seine  ganze  schöne  Unabhängigkeit  nicht 
mehr.  In  ein  paar  Minuten  war  sie  zerstört  wie  die  Stadt,  zu  deren 
Gunsten  er  das  Klavier  getadelt  hatte.  Was  ist  der  Mensch !  Ich 
habe  das  tiefste  Mitgefühl  für  diese  armen  Teufel  von  Kunstbürgern, 
die  auf  schwankem  Grunde  ihre  Hütten  bauen.  Immer  wieder 
nehmen  sie  den  Kampf  mit  den  Elementen  auf,  aber  ein  administra- 
tiver Ruck,  und  der  feuerspeiende  Benedikt  macht  allem  organi- 
schen Leben  ein  Ende.    Es   gibt   nämlich   Erdbebeninteressenten. 

*  * 

Wie  anders  wirkt  dies  Zeichen  auf  mich  ein.  Eine  Kata- 
strophe kann  auch  wieder  allen  Beteiligten  Gewinn  bringen.  Wohl- 
tätig ist  des  Feuers  Macht,  wenn  der  Brand  eines  Teppichhauses 
diesem  zum  Ruhme  und  den  Zeitungen  zu  Aufträgen  ver- 
hilft. Brennts  bei  Schein,  so  ist  der  Schein  des  Brandes  wochen- 
lang sichtbar,  die  Presse  ist  die  freie  Tochter  der  Natur,  wehe, 
wenn  sie  losgelassen,  flackernd  steigt  die  Feuerkolumne  und  im 
Textteil  werden  die  schönsten  Brandberichte  veröffeni licht.  Tief 
erschüttert  las  mar.  und  las,  bis  man  allmählich  meikte,  daß  das 
Feuer  von  den  Inseratenagenten  gelegt  und  von  den  Reportern 
gelöscht  worden  war.  Man  wunderte  sich  nun  nicht  mehr, 
daß  es  gelungen  war,  eine  Ausbreitung  des  Brandes  auf  die 
benachbarten  Geschäftshäuser  zu  verhüten:  sie  hatten  nicht 
inseriert.  Überraschend  war  immerhin  eines.  Daß  durch  ein  Brand- 
unglück    reichlich     hereingebracht     werden    kann,     was     durch 


90  - 


ein  Brandunglück  verloren  wurde,  verstand  man.  Daß  aber  nicht 
nur  die  Presse,  sondern  auch  die  Feuerwehr  zur  Löschung 
des  Reklamedurstes  herangezogen  wird,  ist  verblüffend.  »Die 
Wiener  Feuerwehr  besitzt  von  dem  Teppichhaus  S.  Schein  genaue 
Piäne,  und  die  Funktionäre  und  Kommandanten  der  Wiener 
Feuerwehr,  sämtliche  langjährige  Kunden  dieser  Firma,  kennen 
sowohl  durch  ihre  Amtstätigkeit  als  auch  durch  ihre  häufigen 
Besuche  als  Kunden  alle  Räume  des  Teppich-  und  Möbelhauses 
in-  und  auswendig,  Kenntnisse,  die  ihnen  natürlich  in  diesem 
Falle  sehr  zu  statten  kamen.«  Daran  erkennt  man  die  Vorteile 
eines  Einkaufes  bei  Schein.  Wenn  man  zufällig  Feueiwehr- 
mann  ist  und  wenns  einmal  brennt,  so  hat  man  es  nicht 
zu  bereuen,  daß  man  dort  eingekauft  hat.  Die  Leistungsfähigkeit 
der  Feuerwehr  läßt  sich  an  der  Menge  der  geretteten  Waren 
messen.  Was  aber  bedeutet  sie  gegenüber  der  Leistungsfähigkeit 
der  Firma?  Für  diese  sprechen  »die  großen  vernichteten  Roh- 
materialmengen«. Nicht  jede  Firma  kann  von  sich  sagen,  daß 
»6  Ballen  Wolle  für  Steppdecken,  billiger  Qualität,  enorme  Quan- 
titäten der  feinsten  Daunen  für  Plumeaux  und  Polster,  16  Ballen 
Roßhaar  für  Matratzen  und  Polstermöbel,  sehr  große  Quantitäten 
verkupferter  bester  Tapeziererstahlfedern  für  Polstermöbel  und 
zahllose  Sorten  von  Schleißfedern  für  billigere  Bettwaren  ein  Raub 
der  Flammen  wurden«.  War  man  nicht  versichert?  Und  wie! 
»Der  gerettete  Teil  wurde  von  der  Feuerwehr  auf  die  Straße  ge- 
worfen und  von  den  Versicherungsgesellschaften,  die  einer  Firma 
von  dem  Renommee  des  Teppich-  und  Möbelhauses  S.  Schein  die 
Verarbeitung  selbst  auch  nur  teilweise  naß  gewordener  oder  an- 
gerauchter Materialien  gar  nicht  zumuten,  in  vielen  Wagenladun- 
gen von  der  Straße  weg  in  die  Lagermagazine  geführt,  wo  diese 
Materialien  an  Händler  abgegeben  wurden«.  Nun  handelt  es  sich  nur 
noch  um  solche  Waren,  »die,  ohne  beschädigt  zu  sein,  einen  Oeruch 
erhielten,  der  sich  jedoch  bereits  nahezu  verloren  hat«.  Da  aber 
eine  Firma  von  dem  Renommee  dieser  Firma  solche  Waren  regu- 
lär nicht  verkauft,  so  bietet  sich  -  nun,  was  bietet  sich,  wenn 
eine  Stätte  leergebrannt  ist  und  wenn  der  Mensch  fröhlich  dann 
zur  Annonzentabelle  greift?  Ein  Anblick?  Nein,  etwas  ganz  an- 
deres. Was  Feuers  Wut  ihm  auch  geraubt,  ein  süßer  Trost  ist 
ihm  geblieben:  Es  bietet  sich  eine  nicht  wiederkehrende  Gelegen- 
heit zum  Einkauf. 


31   - 


Die  Diskretion  der  bürgerlichen  Presse  berichtet  über  einen 
Skandal,  den  sie  sich  nicht  entgehen  lassen  kann,  etwa  so:  »Der 
Großindustrielle  hatte  eine  verheiratete  Frau  kennen  gelernt . . .  Der 
Großindustrielle  veranlaßte  sie,  sich  von  ihrem  Gatten  scheiden  zu 
lassen ...  Sie  tat  es . . .  Inzwischen  war  aber  in  dem  Großindustriellen 
eine  merkwürdige  Wandlung  vor  sich  gegangen  . . .  Der  Groß- 
industrielle ließ  die  Dame  sitzen  . . .  Der  Großindustrielle  ant- 
wortete ausweichend  .  .  .  Die  Dame  war  lediglich  das  Opfer  einer 
flüchtigen  Laune  des  Großindustriellen  geworden  ...  Da  ging  der 
Bruder  der  Dame,  der  Chemiker  ist,  hin  und  ohrfeigte  den  Groß- 
industriellen .  . .  Der  Chemiker  entschuldigte  sich  beim  Kaffee- 
sieder  wegen  des  Vorfalls.«  So  typisch  gefaßt,  darf  der  Fall  zum 
Nachdenken  über  das  Seelenleben  eines  Großindustriellen,  das 
einen  sonst  nichts  angeht,  wohl  anregen.  Die  gute  Gesellschaft 
erhofft  inzwischen  von  einem  Duell  die  Reparatur  der  Ehre  des 
Großindustriellen.  Das  Duell  findet  statt.  Der  Großindustrielle 
erfreut  sich  wieder  allgemeiner  Hochachtung.  Niemand  kann  dem 
Großindustriellen  die  Ohrfeige  nachsagen.  Und  die  Dame?  Ach 
was,  nach  Jahren  wird's  schon  einmal  heißen,  daß  der  Groß- 
industrielle sich  für  die  geschlagen  hat 

•  * 

In  einer  durchaus  würdigen  Besprechung  von  Thomas 
»Moral«  hatte  der  Kritiker  des, Neuen  Wiener  Tagblatts'  die  Sätze: 

. . .  Das  unterscheidet  ihn  von  unsern  Parvenüs  der  Satire,  die  plötz- 
lich in  ihrem  öden  Hirn  den  Hang  zur  Weltverbesserung  entdeckt  haben. 
Es  gibt  keine  Torheit,  keine  Verkehrtheit,  keine  Lächerlichkeit,  keine 
Mode,  in  die  sie  selbst  nicht  eingeschlichen  sind,  keine  närrische  Clique, 
der  sie  sich  nicht  angebiedert  haben  —  mit  einemmal  aber  ein  Ruck, 
und  sie  fühlen  sich  für  gesellschaftliche  Satire  berufen.  Ihre  Schriften 
starren  von  Eitelkeit,  und  sie  verhöhnen  die  kleinen  Eitelkeiten  andrer 
Menschen.  Doch  man  fühlt,  wie  fremd  ihnen  diese  Wege  sind;  man 
fühlt  es  an  ihrer  eigenen  Überraschung,  an  der  unnatürlichen  Wucht, 
mit  der  sie  auftreten,  um  die  innere  Unsicherheit  zu  verbergen;  man 
merkt  es  an  ihrem  verdickten  Humor,  an  der  erzwungenen  Lustigkeit, 
an  den  Schweißtropfen,  die  von  ihren  Witzen  fallen  .  .  . 

Hätte  es  der  Kritiker  deutlich  gemacht,  daß  er  mich  mit 
dieser  Meinung  treffen  wolle,  so  stünde  meine  bessere  Meinung 
gegen  seine,  ich  würde  nur  die  Kritik  der  Eitelkeit  unterschreiben 
und  hätte  im  Übrigen  nichts  gegen  eine  ungerechte  Absicht,  wenn 
sie  nur  Absicht  wäre.  Was  mich  trifft,  ist  die  fehlende  Absicht. 
Der  Kritiker  hat  die  dramatischen   Dilettanten  gemeint,   die   uns 


-  32 


neuesten»  mit  dem  Nachweis  belästigen,  daß  auch  in  gräflichen 
Familien  nicht  alles  so  ist,  wie  es  in  den  Familien  des  Schotten- 
rings sein  sollte.  Er  hat  allerdings  den  Fehler  begangen,  die  Vor- 
stellung, die  heute  ein  Angriff  auf  einen  nichtgenannten  Wiener  Sa- 
tiriker in  bösartigen  Dummköpfen  erzeugt,  nicht  rechtzeitig  zu 
unterbinden,  und  so  kam  es,  daß  mir  die  Stelle  vielfach  ins 
Haus  geschickt  wurde.  Daß  ich  keinen  Humor  habe,  solche  Ver- 
sicherung entschädigt  viele  dafür,  daß  der  Vorwurf  der  Cliquen- 
anbiederung selbst  sie  von  meiner  Spur  ablenkt.  Aber  schließlich 
muß  man  ihnen  den  guten  Qlauben  zubilligen.  Sie  konnten  es 
für  die  Art  halten,  einen  Schriftsteller  anzugreifen,  der  eben  in 
der  Wiener  Presse  nicht  deutlicher  bezeichnet  werden  darf.  Nun 
ist  nichts  peinlicher  als  ein  Angriff,  der  einem  nicht  gilt.  Man 
fühlt  natürlich  nicht,  daß  man  getroffen  ist.  Aber  man  fühlt  immer* 
hin,  daß  man  nicht  getroffen  ist. 

Über  die  Wiederaufführung  von  »Fatinitza«  schreibt  ein 
Theaterkritiker: 

.  .  .  Also  eine  veritable  Suppee-Renaissance,  die  aus  der  Not 
der  modernen  Operette  eine  Tugend  macht.  Die  unlogische  Operette 
gewinnt  in  der  Zelt  der  Versuche,  das  Genre  zu  »vertiefen«,  und  man 
stürzt  sich  in  den  Unsinn,  den  eine  natürlich  quellende  Musik  ver- 
gessen läßt,  statt  sich  einem  Sinn  zu  bequemen,  dem  wohl  der  größeren 
psychologischen  Wahrhaftigkeit  zuliebe  alle  Melodie  abhanden  gekommen 
ist.  Die  romantischen  UnWahrscheinlichkeiten  der  »Fatinitza«,  sie  spielt 
im  Krimkrieg,  also  gewiß  ein  illustrativ  ergiebiges  Milieu,  stellen  sozu- 
sagen die  Reinkultur  des  Operettenunsinns  dar.  Unmotiviertes  ereignet 
sich,  man  singt,  ohne  vorher  zu  sagen  warum  man  singt,  und  es  bleibt 
lediglich  dem  Temperament,  dem  Spielelan  der  Darsteller  überlassen, 
den  Umschwung  aller  Gefühle  zu  motivieren,  die  Folge  gesprochener 
und  gesungener  Worte  zu  einer  logischen  zu  machen.  Keine  Operetten- 
psychologie kann  es  deuten,  warum  jemand,  der  mit  einer  Dame  soeben 
sehr  angelegentlich  über  Privataffären  gesprochen  hat,  ihr  dieselben  An 
gelegenheiten  noch  einmal  in  Gesangsform  auseinandersetzt,  keine  Psy- 
chologie wird  den  Operettengeneral  zu  einer  menschlichen  Figur  ge- 
stalten können,  weil,  wie  der  Mann  nur  zu  singen  anfängt,  alle  Wahr- 
haftigkeitsillusion verfliegt.  In  >Fatinitza«  ist  eine  ganze  Armee  unwirk- 
licher Soldaten  bemüht,  keine  logischen  Einwände  aufkommen  zu  lassen. 
Und  von  einer  heiteren,  graziösen,  originellen  Musik  bestrahlt,  siegt  der 
Unsinn  mühelos  .     . 

Das  ist  seit  zehn  Jahren  ein  eigenartiges  Schauspiel,  wie 
sich  die  Wiener  Publizistik  zu  mir  stellt.  Der  Heroismus,  mit  dem 
sie  meinen  Namen   ablehnt,   hat  etwas  Ergreifendes.    Es  wäre  ja 


M-H 


gar  keine  Kunst,  mich  zu  nennen.  Und  wie  oft  bietet  sich  nicht 
ein  Anlaß!  Jedes  Heft  der  .Fackel'  bringt  neue  Ideen,  die  sich 
für  das  Feuilleton,  für  Glossen  und  Notizen,  für  die  Kritik  von 
Kunst  und  Gesellschaft  famos  abplatten  lassen.  Es  ist  oft  sehr 
schwer,  meinen  Namen  nicht  zu  nennen,  aber  die  Wiener  Presse 
weiß  sich  zu  beherrschen,  und  das  macht  ihre  Größe  aus.  Da 
habe  ich  neulich  etwas  zur  Ästhetik  der  Operette  geschrieben  — 
hastdunichtgeseh'n,  steht  es  in  einer  Theaternotiz.  Morgen  vielleicht 
in  einem  Essay.  Erscheint  dieser  dann  in  einem  Buch,  so  wird 
die  Originalität  solcher  Ideen  gelobt  werden,  und  von  meinem 
eigenen  Buch  erfahren  ja  die  Leser  nichts.  Die  Presse  ist  in  der 
Tat  oft  schon  nahe  daran,  meinen  Namen  zu  nennen,  immer  glaubt 
der  Leser,  jetzt,  in  der  nächsten  Zeile  müsse  er  kommen.  Aber 
eine  eiserne  Willenskraft  bewahrt  die  spröde  Schöne  vor  dem 
Äußersten,  und  sie  knöpft  mir  bloß  das  Geld  ab.  Es  ist,  als  ob 
ihr  Nachdruck  nur  ohne  Quellenangabe  gestattet  wäre.  Ein  Blatt 
aber,  in  dem  meine  moralsatirische  Betrachtung  tagtäglich  den 
Glossenschreibern  hilft,  tut  noch  ein  übriges.  Es  streicht  sogar  meinen 
Namen  aus  dem  Inhalt  einer  deutschen  Zeitschrift,  den  es  abdruckt. 
Eigentlich  behagt  mir  dieser  Zustand.  Es  wäre  ja  scheußlich, 
wenn  man  mich  wie  alle  anderen  zeitgenössischen  Schriftsteller 
mit  Reklame  dafür  entschädigen  müßte,  daß  man  keine  Ge- 
danken von  mir  nehmen  kann. 

+ 

Wir  glauben  noch  immer,  das  Unmögliche  sei  nicht  mög- 
lich. Aber  neulich  lasen  wir  in  einem  Blatte,  das  allerdings  erst 
erscheint,  wenns  schon  finster  wird,  ein  Referat  über  einen  Vor- 
trag, das  die  folgende  Stelle  enthielt: 

». . .  Und  nun  entwickelte  der  Vortragende  eine  Historie  des  Tanzes ; 
man  vernahm  erstaunt,  daß  diese  fröhliche  graziöse  Kunst  ebenso  eine 
Qeschlchte  habe,  wie  eine  andere  Kunst  und  daß  sie  ebenfalls  Gegen- 
stand ernsten  Studiums  sein  könne.  Der  erste  Tanz,  der  sogenannte 
Promenadentanz,  entstand  zu  Florenz  im  15.  Jahrhundert;  es  tanzte  ein 
Paar  durch  den  Saal,  während  die  übrige  Gesellschaft  bewundernd  zusah. « 

Und  wann  wurde  das  Schreiben  erfunden?  Man  wird  er- 
staunt vernehmen,  daß  auch  diese  fröhliche  graziöse  Kunst  ihre 
Qeschichte  habe,  aber  bedauern,  daß  sie  nicht  ebenfalls  Gegenstand 
ernsten  Studiums  sei.  Denn  der  erste  Artikel,  das  sogenannte  Feuil- 
leton, entstand  zu  Wien  im  19.  Jahrhundert;  ein  Schmock 
schrieb,  während  das  Publikum  bewundernd  zusah. 


—   H4 

Dar  folgende  »Offene  Brief  an  Herrn  Ludwig  Karpath«, 
der  von  der  gesamten  Wiener  Presse  unterdrückt  worden  ist, 
wird  mir  vom  Verfasser  zugesendet.  Er  ist  an  einen  Wiener  Musik- 
reporter gerichtet,  der  kürzlich  in  einem  Konzert  demonstriert 
und  bald  darauf  in  einem  Feuilleton  Wildes  »Salome«  ohne  die 
Musik  des  Herrn  Richard  Strauß  »abstoßend«  gefunden  hat: 

Sie  schreiben  in  den  .Signalen'   vom   6.  Jänner  1909 : 

»Noch  wäre  die  Aufführung  eines  neuen  Streichquartetts  von  Arnold 
Schönberg  zu  erwähnen.  Ich  beschränke  mich  auf  die  Konstatierung,  daß  es 
zu  einem  heillosen  Skandale  kam,  wie  ein  solcher  in  einem  Wiener  Kon- 
zertsaale bisher  noch  nicht  erlebt  worden  war.  Mitten  drin  in  den 
einzelnen  Sätzen  wurde  anhaltend  und  stürmisch  gelacht  und  mitten 
drin  im  letzten  Satze  schrie  man  aus  Leibeskräften  .Aufhören ! 
Schluß!  Wir  lassen  uns  nicht  narren  1'  Ich  muß  zu  meinem  Leidwesen 
konstatieren,  daß  ich  mich  zu  ähnlichen  Rufen  hinreißen  Heß.  Zum 
ersten  Male  in  meine-  zwanzigjährigen  Praxis.  Gewiß,  ein  Kritiker  hat 
im  Konzertsaale  kein  Mißfallen  zu  äußern.  Wenn  ich  aus  meiner  ge- 
wohnten Reserve  trotzdem  heraustrat,  so  will  ich  damit  nur  den  Beweis 
liefern,  daß  ich  physische  Schmerzen  ausstand,  und  wie  ein  arg  Qepel- 
nigter,  trotz  aller  guten  Absicht  selbst  das  Schlimmste  zu  überwinden, 
nun  doch  aufschreien  mußte.  Indem  ich  hier  öffentlich  mich  selber 
tadle,  habe  ich  auch  das  Recht  gewonnen,  über  meine  Angreifer  zu 
lächeln.  Diese,  ungefähr  ein  Dutzend  an  der  Zahl,  behaupten,  daß  das 
Quartett  Schönbergs  ein  Kunstwerk  sei,  daß  wir  anderen  es  nicht  ver- 
stehen, Ja  daß  wir  nicht  einmal  die  Beschaffenheit  der  Sonatenform 
kennen.  Nun,  ich  für  mein  Teil  bin  gern  bereit,  vor  jedem  Areopag 
die  Prüfung  aus  der  Harmonielehre,  Formenlehre  und  allen  anderen 
musikalischen  Disziplinen  abzulegen.  Ich  habe  freilich  noch  nach  dem 
Muster  der  .Alten'  studiert  und  könnte  mithin  meine  Prüfung  nur  bei 
den  Befolgern  des  .alten  Systems'  bestehen.  .Das  gilt  nicht !' 
sagt  das  Dutzend.  Auch  gut.« 

Ich  gehöre  nicht  zu  dem  Dutzend,  welches  sagt:  »Das  gilt 
nicht«  und  will  Ihnen  das  beweisen,  indem  ich  jeden  »Areopag«  an- 
nehme, er  möge  nach  dem  »neuen«  oder  nach  dem  »alten  System«  zu- 
sammengesetzt sein.  Im  Gegenteil,  ich  schlage  Ihnen  für  einen  der- 
artigen »Areopag«  die  folgenden  Herren  vor,  die  hoffentlich  bereit  sein 
werden,  dieses  Amt  zu  übernehmen:  Herrn  Professor  Robert  Fuchs, 
Herrn  Prof.  Dr.  Eusebius  Mandyczewsky,  Herrn  Professor  Richard  Heu- 
berger,  Herrn  Professor  Hermann  Grädener,  Herrn  Professor  Josef  Labor. 
Ich  fordere  Sie  nun  auf  Grund  Ihrer  Erklärung  heraus,  diese  Prüfung 
»aus  der  Harmonielehre,  Formenlehre  und  allen  anderen  musikalischen 
Disziplinen«,  zu  der  Sie  sich  doch  wohl  unter  der  Voraussetzung 
bereit  erklärt  haben,  daß  man  sie  von  Ihnen  verlangen  kann, 
vor     diesem     »Areopag«     abzulegen.    Wie    Sie    es    wünschen     —     ich 


m 


überlasse  Iknen,  wie  Sie  sehen  werden,  auch  die  Wahl  der 
Waffen  — ,  wird  die  Prüfung  nur  nach  dem  > alten  System*  geschehen, 
nach  dem  Sie  ja  studiert  haben,  und  ich  überlasse  es  Ihnen,  die  Theo- 
retiker, die  der  Fragestellung  zugrunde  liegen  sollen,  selbst  zu  nennen. 
Ich  stelle  nur  die  folgenden  Bedingungen:  Die  Prüfung  findet  öffent- 
lich statt  und  die  Fragen  werde  ich  selbst  an  Sie  richten.  Ob  Sie  ent- 
sprochen haben,  mögen  die  Herren  vom  >Areopag«  beurteilen.  Sie  haben 
nun  Gelegenheit,  zu  erweisen,  was  Sie  behaupten.  Entziehen  Sie  sich 
dieser  Prüfung  aus  was  immer  für  einem  Grund,  so  bekräftigen  Sie 
dadurch  zur  Evidenz,  daß  Sie  sie  zu  scheuen  haben. 

Arnold  Schönberg. 
Dieser  Offene  Brief  wurde  von  der  Presse,  an  die  er  ge- 
schickt wurde,  einstimmig  verschwiegen.  Aber  der  Kandidat 
hat  die  Prüfungsfrist  noch  nicht  versäumt.  Er  sollte  sich  doch 
die  Gelegenheit  nicht  entgehen  lassen,  das  alte  Mißtrauen  zu  zer- 
stören und  durch  einen  Durchfall  endlich  den  Befähigungsnachweis 
für  sein  musikkritisches  Amt  zu  erbringen. 

Einige  Kabaret-Pensionisten  haben  in  Graz  gastiert.  Sie 
nennen  sich  >E!f  Scharfrichter«.  Und  da  b»gab  es  sich: 

>.  .  .  Das  Galeriepublikum  scheint  den  Charakter  dieser  Künstler- 
vereinigungen mißverstanden  zu  haben  und  erwartete  insbesondere  das 
Erscheinen  wirklicher  Scharfrichter  auf  der  Bühne.  Da  es  sich  enttäuscht 
sah,  begann  es  seinem  Unwillen  Ausdruck  zu  geben,  zunächst  durch 
Murren.  Als  aber  Hugo  Wolf-Lieder  vorgetragen  wurden,  begann  die 
Galerie   laut    ,Pfui!'    zu    rufen.  .  .  .« 

Nun  möchte  ich  ja  gerne  der  Auffassung  beipflichten,  daß  das 
Publikum  empört  war,  weil  Hugo  Wolf-Lieder  von  Kabaretiers  gesun- 
gen wurden,  anstatt  von  Sängern.  Aber  sympathischer  ist  mir  doch  die 
andere  Auffassung,  daß  nämlich  das  Publikum  empört  war,  weil 
die  Kabaretiers  Hugo  Wolf-Lieder  sangen,  anstatt  eine  Hinrichtung 
vorzunehmen.  Man  kann  nicht  genug  Züge  aus  dem  Leben  des 
Publikums  zusammentragen.  Einst  prügelte  es  den  Schauspieler, 
der  den  Franz  Moor  spielte,  jetzt  prügelt  es  ihn,  wenn 'er  unter 
diesem  Pseudonym  Lieder  singt.  Als  ich  einmal  mit  meiner  kleinen 
Nichte  einer  Vorstellung  des  Lustspiels  »Goldfische«  beiwohnte, 
hörte  sie  drei  Akte  lang  mit  gespannter  Aufmerksamkeit  zu,  bis 
ihr  endlich  die  Geduld  riß  und  sie  aus  voller  Kehle  rief:  »Wo 
sind  die  Ooldfische?«  Auf  diesem  Standpunkt  steht  heute  das 
erwachsene  Theaterpublikum.    Seine  Äußerungen  gehören  In  die 


98 


Rubrik  »Aus  Kindermund«.  Immer  ist  es  in  teilnahmsvoller  Spannung, 
und  es  verträgt  nur  nicht,  daß  man  ihm  Rätsel  zu  lösen  gibt.  Wenn 
ein  Dramatiker  zum  Beispiel  im  ersten  Akt  1 00000  Oulden  verschenken 
läßt  und  den  ganzen  Abend  hindurch  von  dieser  großmütigen  Hand- 
lung nicht  mehr  die  Rede  ist,  so  wird  man  im  verzweifelten  Ringen 
um  die  Qarderobe  die  bange  Frage  hören :  »Ich  möcht'  nur 
wissen,  was  mit  den  100.000  Qulden  geschehen  ist!«  Wie  kann  die 
Theaterästhetik  so  herzlos  sein,  von  den  Direktoren  immer  wieder 
zu  verlangen,  daß  sie  Ibsen  spielen !  »Tus  nicht !«  rief  ein  braver  Mann 
von  der  Oallerie  dem  Teil  zu,  als  er  eben  auf  das  Haupt  des  leiblichen 
Kindes  anlegt.  Als  aber  einmal  auf  der  Bühne  des  Burgtheaters 
eine  Person  in  einem  französischen  Sittenstück  den  Satz  aussprach: 
»Es  ist  eine  schöne  Pflicht  der  großen  Banken,  notleidenden  Kaufleu- 
ten beizustehen!«,  rief  eine  Damenstimme  aus  einer  Loge  ein  lang- 
gedehntes, inhaltsschweres  »Bravo!«.  Einen  Kritiker,  der  gern  in 
Bildern  spricht,  traf  dieses  Familienschicksal,  das  wie  ein  Opern- 
gucker ins  Parkett  fiel,  direkt  auf  den  Kopf. 

* 

Da  in  früheren  Jahren  der  mir  feindselige  Kretinismus  zu 
dem  Argumente  gegriffen  hat,  daß  es  meine  Beschäftigung  sei, 
die  Druckfehler  der  Tagespresse  zu  korrigieren,  so  will  ich  diese 
Meinung  einmal  ins  Recht  setzen  und  mitteilen,  daß  ich  bei  der 
Lektüre  eines  Aufsatzes  über  Edgar  Poe  im  ,Fremdenblatt'  den 
folgenden  Satz  gefunden  habe :  »Poe,  der  Instinktmensch,  Poe, 
der  ehrliche  Phantast  im  ehrlichen  Trance  Kleipert,  sein  berühm- 
testes Qedicht  mit  handwerksmäßig  kühler  Berechnung«.  Nach  der 
Lektüre  dieses  Satzes  hatte  ich  sofort  eine  grauenhafte  Poe'sche 
Vi-ion.  Ich  stellte  mir  den  Bildungszuwachs  vor,  der  beim 
Normalleser  in  solchem  Falle  eintritt.  Dieser  Kleipert  beginnt  ihn 
zu  interessieren.  Wer  ist  Kleipert?  Ein  Instinktmensch,  ein  ehrlicher 
Phantast  im  Stile  Poes?  Nein,  sagt  ein  anderer,  der  Satz  ist  zwar 
unklar,  aber  darüber  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  Kleipert  kein 
Autor  ist,  sondern  bloß  der  Titel  eben  jenes  Poe'schen  Gedichtes. 
Aber  er  sucht,  und  findet  es  in  den  Werken  Poes  nicht.  So  muß 
es  doch  wohl  der  Name  eines  ollen  ehrlichen  Phantasten  sein,  den 
das  Konversationslexikon  aus  irgend  einem  Orunde  nicht  nennt? 
Wer  ist  Kleipert?  Man  weiß  es  nicht;  aber  die  Frage  wiid  so  oft 
gestellt  werden,  daß  der  Name  bleibt.  Europa  wird  sich  an  den 
Namen  gewöhnen  und  gerade  weil   niemand  weiß,    wen  er   vor- 


—  37  — 


stellt,  werden  sich  viele  dadurch  hervortun,  daß  sie  es  zu  wissen 
behaupten.  Und  wenn  man  das  Problem  dieses  neuen  Ruhmes 
behorcht,  so  muß  man  sich  fragen,  wie  viele  Meinungen  in  der  Welt 
durch  Druckfehler  entstanden  sein  mögen,  und  ob  nicht  die  Druck- 
fehler überhaupt  der  verläßlichere  Teil  dessen  sind,  was  die  Tages- 
presse bietet.  Man  sagt  viel  zu  wenig,  wenn  man  einen  Autor, 
der  sich  der  Druckpresse  anvertraut,  mit  dem  Tröste  beruhigt, 
das  Publikum  merke  Druckfehler  nicht.  Das  Publikum  beachtet 
gerade  sie  und  zieht  aus  ihnen  den  besten  Gewinn  an  Bildung. 
Ich  erinnere  mich  an  meine  erste  kritische  Arbeit.  Sie  erschien 
und  enthielt  den  Satz:  »Die  Inhaltsangabe  des  ersten  Aktes  sollte  etwas 
weniger  dürftig  sein«.  Es  war  eine  schlichte  Bemerkung,  die  der 
Redakteur  zu  dem  Zwecke  ins  Manuskript  geschrieben  hatte,  um  mir 
eine  Ergänzung  zu  empfehlen.  Das  Manuskript  wurde  aber  vor- 
schnell gedruckt,  und  ich  glaube,  daß  die  Leser  einen  starken 
Eindruck  von  dieser  kritischen  Bemerkung  empfangen  haben.  In 
derselben  Zeitschrift,  die  sich  damals  infolge  ihrer  originellen 
Druckfehler  ein  Publikum  erobert  hatte,  erschien  einmal  die  Kritik 
einer  Burgtheateraufführung,  in  der  die  Schauspielerin  Stella 
Hohenfels  nicht  mit  jener  Anerkennung  bedacht  wurde,  die  sie 
verdiente.  Das  scheint  auch  der  Redakteur  empfunden  zu  haben. 
Denn  an  die  Reihe  kritischer  Bemerkungen  des  Autors  schloß  sich 
der  Satz:  »Wäre  mir  unangenehm  wegen  meiner  Verbindung  mit 
Berger«.  Ich  bin  davon  überzeugt,  daß  gerade  dieser  Satz  seine 
Wirkung  auf  die  Leser  nicht  verfehlt  hat.  Die  Druckfehler  sind 
die  Opposition  des  Setzers  gegen  Lüge  und  Unverstand,  und  der 
Setzer  ist  der  erste  Leser.  Schon  deshalb  ist  es  töricht,  sie  zu 
korrigieren.  Sie  sind  das,  was  von  einem  Artikel  bleibt.  Ich  warf 
einem  Moralisten  einen  »Salto  morale«  vor.  Das  gibts  nicht,  sagte 
der  Setzer,  der  den  Standpunkt  der  Intelligenz  vertrat,  und  wollte 
einen  Salto  mortale  daraus  machen.  Ich  telegraphierte  an  die  Druckerei, 
es  solle  nicht  Salto  mortale,  sondern  Salto  morale  heißen.  Der 
Telegraphenbeamte,  der  der  zweite  intelligente  Leser  war,  fragte 
mich,  ob  ich  das  nicht  umgekehrt  habe  sagen  wollen,  und  als 
ich  dabei  blieb,  ergab  er  sich  mit  einem  Kopfschütteln  in 
seinen  schweren  Dienst.  Der  Leser  hat  immer  recht,  also  auch  der 
Setzer.  Als  ich  einmal  aus  der  Sprache  des  Herrn  Harden  die 
Wendung  übersetzen  wollte:  »Innerer  Hader,  der  sich  an  die  Stelle 
des  Festens   drängt«,  sagte  der   Setzer  nein    und  behauptete,  es 


38  — 


müsse  heißen:  Immer  der  Harden,  der  sich  an  die  Stelle  des 
Fechters  drängt.  Hat  er  nicht  recht  gehabt?  Und  als  einer  sich 
vermaß,  zu  sagen,  daß  Poe,  der  ehrliche  Phantast,  sein  berühm- 
testes Gedicht  mit  Berechnung  klempnert,  half  sich  der  Setzer 
und  sagte:  Kleipert.  Denn  es  ist  besser,  daß  sich  bei  den  Lesern 
des  ,Fremdenblatts'  der  Glaube  an  diesen  als  ein  Mißtrauen  gegen 
Poe  festsetzt. 

* 

In  Charles  Baudelaires  > Tagebüchern*  findet  sich  die 
folgende  Stelle: 

Jede  Zeitung,  von  der  ersten  bis  zur  letzten  Zeile,  ist  nichts 
als  ein  Gewebe  von  Schrecken.  Kriege,  Verbrechen,  Diebstähle,  Scham- 
losigkeiten, Martern,  Verbrechen  der  Fürsten,  Verbrechen  der  Nationen, 
Verbrechen  der  Einzelnen:  ein  Rausch  von  allgemeiner  Scheußlichkeit. 
Ich  begreife  nicht,  wie  eine  reine  Hand  das  anrühren  kann,  ohne  vor 
Ekel  zu  zucken ! 

»Es  bedarf  keines  Hinweises«,  bemerkt  ein  deutsches  Blatt  zu 
diesem  Zitat,  »daß   sich   Baudelaire   auch  hier   in   einer  splendid 

isolation  sondergleichen  befindet«.  Aber  ich  nicht ! 

•  * 

• 

Ultimatum:  Wenn  ich  noch  einmal  in  einem  Blatte  in  der 
Besprechung  eines  Geschwornenurteils  den  Satz  finde,  es  sei  »das 
schöne  Vorrecht  der  Richter  aus  dem  Volke,  auch  dort  noch  Recht 
und  Billigkeit  zu  üben,  wo  der  starre  Buchstabe  des  Gesetzes.. .«, 
haue  ich  die  Zeitungslektüre  definitiv  hin.  Seit  Jahren  nehme  ich 
ängstlich  ein  Abendblatt  zur  Hand,  in  welchem  unter  der  Spitz- 
marke »Ein  Freispruch«  immer  dieselbe  Betrachtung  steht.  Eine 
Abwechslung  wird  nur  darin  geboten,  daß  die  Richter  aus  dem 
Volke  für  die  Anwendung  des  schönen  Vorrechts  entweder  gelobt 
oder  daß  sie  ermahnt  werden,  sich  darin  zu  mäßigen.  Aber  immer 
ist  es  der  gewisse  Buchstabe  des  Gesetzes,  der  mich  anstarrt,  so 
oft  ich  das  Blatt  aufschlage.  Es  ist  eine  fixe  Idee  des  Liberalismus, 
der  starrer  ist  als  alles  Gesetz.  Das  Leben  selbst  ist  zum  Buchstaben 
erstarrt,  und  was  bedeutet  neben  solchem  Zustand  die  Leichenstarre 
der  Gesetzlichkeit!  Karl  Kraus. 


—  39  — 


Abend. 


»Nieder  tauchte  die  Sonn'  und  schattiger  wurden  die 

Pfade«, 
Dies  las  ich  heut,  am  Abend  eines  Sommertags 
Und  ließ  das  alte  Buch  Homer  aut  meine  Kniee 
Hinsinken,  also  sinnend:  Allen  Erdenkindern 
Mißt  diese  heitre  Sonn'  ihr  holdes  Maß  von  Licht, 
Ein  Schicksal  reifend  nach  verschwiegenem  Gesetze 
Vom  Aufgang  bis  zum  Schatten  eines  Menschenpfads. 
Ich  wuchs  in  Zeiten,  trüber  als  die  Nacht, 
Ein  Jüngling,  feind  mir  selbst  und  im  Gemüt  bedrängt, 
Nun  endlich  ruft  auch  mir  die  liebe  Sonne: 
Gibst   du,  erhellt,   dein  eignes   Licht   dem   Lichte 

wieder?  — 
Doch  hinter  jedem  Strauch  im   Garten   wachsen 

Schatten, 
Was  war  mein  Maß  an  Tag  gering!  Ihr  Götter  wägts 
Den  Menschen,   wollt  mir  diesen  späten  Strahl  nicht 

neiden, 
Laßt  mir  den  Abend,  dem  der  Morgen  war  geweigert, 
Gönnt  mir  den  Blick  der  herbstlich  tiefen,    klaren 

Stunden, 
Den  letzten  Glanz,  den  ich  mit  fleh'nden  Augen  halte, 
Laßt  mir  den  Abend,  seht,  die  Pfade  dunkeln  schon. 

Otto  Stoessl. 


Zuschrift : 

Weimar  d.  21.  Jan.  1909.  Sehr  geehrter  Herr!  Verbindlichen 
Dank  für  die  liebenswürdige  Erwähnung  jenes  Zitats.  Ich  möchte 
hinzufügen,  daß  in  diesen  Worten  in  der  Tat  meine  bescheidene 
Stellung,  die  ich  stets  zu  den  Lehren  meines  Bruders  einge- 
nommen habe,  ausgedrückt  ist.  Die  Qegner  haben  hier,  wie  in 
hundert  andern  Fällen,  diese  einfache  Wahrheit  auf  den  Kopf 
gestellt.  Ich  habe  mich  immer  alles  Urteils  über  meinen 
Bruder  enthalten.    Mit  vorzüglicher  Hochachtung  Ihre 

Elisabeth  Förster-Nietzsche. 


40 


Sprüche  und  Widersprüche.*) 

Ein  Weib,  dessen  Sinnlichkeit  nie  aussetzt,  und 
ein  Mann,  dem  ununterbrochen  Gedanken  kommen : 
zwei  Ideale  der  Menschlichkeit,  die  der  Menschheit 
krankhaft  erscheinen. 

• 

Die  Begierde  des  Mannes  ist  nichts,  was  der 
Betrachtung  lohnt.  Wenn  sie  aber  ohne  Richtung 
läuft  und  das  Ziel  erst  sucht,  so  ist  sie  wahrlich  ein 
Greuel  vor  der  Natur. 

* 

Den  Vorzug  der  Frau,  immer  erhören  zu  kön- 
nen, hat  ihr  die  Natur  durch  den  Nachteil  des 
Mannes  verrammelt. 

Für  den  Nachteil  des  Mannes,  nicht  immer  er- 
hören zu  können,  wurde  er  mit  der  Feinfühligkeit 
entschädigt,  die  Unvollkommenheit  der  Natur  in  je- 
dem Falle  als  eine  persönliche  Schuld  zu  empfinden. 

• 

Als  die  Zugänglichkeit  des  Weibes  noch  eine 
Tugend  war,  wuchs  dem  männlichen  Geiste  die  Kraft. 
Heute  verzehrt  er  sich  vor  der  Scheidemauer  einer 
verbotenen  Welt.  Geist  und  Lust  paaren  sich  wie 
ehedem.  Aber  das  Weib  hat  den  Geist  an  sich  ge- 
nommen, um  dem  Draufgänger  Lust  zu  machen. 

* 

Wie  schnell  kam  der  Mann  an  sein  Tagewerk, 
als  er  noch  den  bis  auf  Widerruf  eröffneten  Durch- 
gang benützen  durfte.  Der  neue  Hausherr  der 
Menschheit  duldets  nicht. 

• 

Griechische    Denker     nahmen    mit  Huren  vor- 


*)  Unter  diesem  Titel  wird  demnächst  mein  Aphorismenbuch 
im  Verlag  Albert  Langen,  München  erscheinen.  Es  hat  neun  Abteilungen: 
1.  Weib,  Phantasie.  11.  Moral,  Christentum.  III.  Mensch  und  Neben- 
mensch. IV.  Dummheit,  Demokratie,  Intellektualismus.  V.  Der  Künstler. 
VI.  Über  Schreiben  und  Lesen.  VII.  Länder  und  Leute.  VIII.  Stimmungen, 
Worte.  IX.  Sprüche  und  Widersprüche. 


—  41  — 

lieb.  Germanische  Komrais  können  ohne  Damen  nicht 
leben. 

• 

Das  vom  Mann  verstoßene  Weibchen  rächt  sich. 
Es  ist  eine  Dame  geworden  und  hat  ein  Männchen 
im  Haus. 

• 

Der  christliche  Tierpark :  Eine  gezähmte  Löwin 
sitzt  im  Käfig.  Viele  Löwen  stehen  draußen  und 
blicken  mit  Interesse  hinein.  Ihre  Neugierde  wächst 
an  dem  Widerstand  der  Gitterst  äbe.  Schließlich  zer- 
brechen sie  sie.  Händeringend   flüchten   die   Wärter, 

• 

Wenn  der  Geist  der  Weiber  in  Betracht  kom- 
men soll,  dann  werden  wir  anfangen,  uns  für  die 
Sinnlichkeit  der  Männer  zu  interessieren.  Welch  eine 

Aussicht  1 

• 

Die  Frauenemanzipation  macht  rapide  Port- 
schritte. Nur  die  Lustmörder  gehen  nicht  mit  der 
Entwicklung.   Es  gibt  noch  keinen  Kopfaufschlitzer, 

* 

Eine,  die  mit  viel  Vitriol  umgeht,  wäre  auch 
imstande  zur  Tinte  zu  greifen. 

Es  geht  nichts  über  die  Treue  einer  Frau,  die 
in  allen  Lagen  an  der  Überzeugung  festhält,  daß  sie 
ihren  Mann  nicht  betrüge. 

» 

Daß  eine  einen  Buckel  hat,  dessen  muß  sie 
sich  nicht  bewußt  sein.  Aber  daß  sie  einen  Zwicker 
hat,  sollte  sie  doch  nicht  leugnen. 

Der  Philister  verachtet  die  Frau,  die  sich  von 
ihm  hat  lieben  lassen.  Wie  gerne  möchte  man  ihm 
recht  geben,  wenn  man  der  Frau  Schuld  geben  könnte  f 

• 

Die  Unsittlichkeit  der  Maitresse  besteht  in  der 
Treue  gegen  den  Besitzer. 


—  42  — 

Keine  Grenze  verlockt  mehr  zum  Schmuggeln 
als  die  Altersgrenze. 

• 

Die  Moralheuchler  sind  nicht  darum  hassens- 
wert,  weil  sie  anders  tun,  als  sie  bekennen,  sondern 
weil  sie  anders  bekennen  als  sie  tun.  Wer  die  Moral- 
heuchelei verdammt,  muß  peinlich  darauf  bedacht  sein, 
daß  man  ihn  nicht  für  einen  Freund  der  Moral  halte, 
die  jene  doch  wenigstens  insgeheim  verraten.  Nicht  der 
Verrat  an  der  Moral  ist  sträflich,  sondern  die  Moral. 
Sie  ist  Heuchelei  an  und  für  sich.  Nicht  daß  jene 
Wein  trinken,  sollte  enthüllt  werden,  sondern  daß  sie 
Wasser  predigen.  Widersprüche  zwischen  Theorie 
und  Praxis  nachzuweisen  ist  immer  mißlich.  Was 
bedeutet  die  Tat  aller  gegen  den  Gedanken  eines 
einzigen?  Der  Moralist  könnte  es  ernst  meinen  mit 
dem  Kampf  gegen  eine  Unmoral,  der  er  selbst  zum 
Opfer  gefallen  ist.  Und  wenn  einer  Wein  predigt, 
mag  man  ihm  sogar  verzeihen,  daß  er  Wasser  trinkt. 
Er  ist  mit  sich  im  Widerspruch,  aber  er  macht,  daß 
mehr  Wein  getrunken  wird  in  der  Welt. 

* 

In  Deutschland  bilden  zwei  einen  Verein.  Stirbt 
der  eine,  so  erhebt  sich  der  andere  noch  zum  Zeichen 
der  Trauer  von  seinem  Platze. 

• 

Die  »Männer  der  Wissenschaft«!  Man  sagt  ihr 
viele  nach,  aber  die  meisten  mit  Unrecht. 

• 
Die   Religion    wird     die    »gebundene    Weltan- 
schauung«   genannt.     Aber   sie    ist   im  Weltenraum 
gebunden,   und   der  Liberalismus  ist  frei  im  Bezirk. 

* 
Die  Vorsehung  einer  gottlosen  Zeit  ist  die  Presse, 
und  sie  hat  sogar  den  Glauben  an  eine  Allwissenheit 
und  Allgegenwart  zur  Überzeugung  erhoben. 

* 
Das  größte  Lokalereignis,  das  in  allen  Städten 
gleichzeitig   und   unaufhörlich  sich  begibt,  wird  am 


43 


wenigsten   beachtet:     Der  Einbruch   des  Komrnis  in 
das  Geistesleben. 

Die  Mission  der  Presse  ist,  Geist  zu  verbreiten 
und  zugleich  die  Aufnahmsfähigkeit  zu  zerstören. 

Die  Medizin:  Geld  her  und  Leben I 

•  * 

Ein  Agitator  ergreift   das  Wort.     Der  Künstler 

wird  vom  Wort  ergriffen. 

* 

Das  individuelle  Leben  der  Instrumente  ist  von 
übel.  Ich  kann  mir  denken,  daß  sie  eine  politische 
Überzeugung  haben,  aber  daß  sie  atmen  stört  mich. 

* 
Das  Publikum  läßt  sich  nicht  alles  gefallen.  Es 
weist  eine  unmoralische  Schrift  mit  Empörung  zurück, 
wenn  es  ihre  kulturelle  Absicht  merkt. 

• 

Ein  Hausknecht  bei  Nestroy  wird  mit  der  Last 
des  Lebens  fertig  und  wirft  die  Langeweile  zur  Tür 
hinaus.  Er  ist  handfester  als  ein  Professor  der  Philo- 
sophie. 

* 

Stimmung  der  Wiener:  das  ewige  Stimmen 
eines  Orchesters. 

Wenn  man  nicht  weiß,  wovon  einer  lebt,  so  ist 
das  noch  der  günstigere  Fall.  Auch  die  Volkswirtschaft 
hat  ein  wenig  Phantasie  notwendig. 

Ein  Blitzableiter  auf  einem  Kirchturm  ist  das 
denkbar  stärkste  Mißtrauensvotum  gegen  den  lieben 
Gott. 

Nie  ist  größere  Ruhe,  als  wenn  ein  schlechter 
Zeichner  Bewegung  darstellt.  Ein  guter  kann  einen 
Läufer  ohne  Beine  zeichnen. 


44  — 


Bin  armseliger  Hohn,  der  sich  in  Interpunktionen 
austobt  und  Rufzeichen,  Fragezeichen  und  Gedanken- 
striche als  Peitschen,  Schlingen  und  Spieße  ver- 
wendet! 

* 

Nicht  immer  darf  ein  Name  genannt  werden. 
Nicht,  daß  einer  es  getan  hat,  sondern  daß  es  möglich 
war,  soll  gesagt  sein. 

* 

Der  Politiker  steckt  im  Leben,  unbekannt  wo. 
Der  Ästhet  flieht  aus  dem  Leben,  unbekannt  wohin. 

Im  Theater  muß  man  so  sitzen,  daß  man  das 
Publikum  als  eine  schwarze  Masse  sieht.  Dann  kann 
es  einem  so  wenig  anhaben  wie  dem  Schauspieler. 
Nichts  ist  störender  als  die  Individualitäten  der 
Menge  unterscheiden  zu  können. 

* 

Die  einzige  Kunst,  über  die  das  Publikum  ein 
Urteil  hat,  ist  die  Theaterkunst.  Der  einzelne  Zu- 
schauer, also  vor  allem  der  Kritiker,  spricht  Unsinn, 
alle  zusammen  behalten  sie  recht.  Vor  der  Literatur 
ist  es  umgekehrt. 

* 

Die  wahren  Schauspieler  lassen  sich  vom  Autor 
bloß  das  Stichwort  bringen,  nicht  die  Rede.  Ihnen  ist 
das  Theaterstück  keine  Dichtung,  sondern  ein  Spielraum. 

• 

Die  Hausherrlichkeit  des  Schauspielers  im  Theater 
erweist  sich  darin,  daß  die  Veränderungen,  die  er 
mit  der  dichterischen  Gestalt  vornimmt,  dem  Erfolg 
zum  Vorteil  gereichen.  Die  Tantiemen  gebühren  dem 
Schauspieler. 

• 

Wenn  ein  Väterspieler  als  Heinrich  IV.  in  dem 
Satz:  »Dein  Wunsch  war  des  Gedankens  Vater, 
Heinriche  den  Vater  betont,  kann  er  das  Publikum 
zu  Tränen  rühren.  Der  andere,  der  sinngemäß  den 
»Wunsche  betont,  wird    vom    Publikum    bloß    nicht 


45 


verstanden.  Dieses  Beispiel  zeigt,  wie  aussichtslos 
das  Dichterische  auf  dem  Theater  gegen  das  Schau- 
spielerische kämpft,  um  schließlich  von  dessen  Siegen 
zu  leben.  Das  Drama  behauptet  seine  Bühnenhaftig- 
keit  immer  nur  trotz  oder  entgegen  dem  Gedanken. 
Auch  am  Witz  schmeckt  ein  Theaterpublikum  bloß 
den  stofflichen  Reiz.  Je  mehr  Körperlichkeit  der 
Witz  hat,  je  mehr  er  dem  Publikum  etwas  zum  An- 
halten bietet,  um  so  leichter  hat  er  es.  Deshalb  ist 
Nestroys  gedanklicher  Humor  weniger  wirksam  als 
etwa  die  gleichgültige  Situation,  die  ihm  ein  fran- 
zösisches Muster  liefert.  Das  Wort,  daß  »in  einem 
Luftschloß  selbst  die  Hausmeisterwohnung  eine  para- 
diesische Aussicht  hat«,  versinkt.  Wenn  ihm  nicht 
die  vertraute  Vorstellung  des  Hausmeisters  zu  einiger 

Heiterkeit  verhilft. 

* 

Ich  traue  der  Druckmaschine  nicht,  wenn  ich 
ihr  mein  geschriebenes  Wort  überliefere.  Wie  kann 
ein  Dramatiker  sich  auf  den  Mund  eines  Schauspielers 

verlassen ! 

* 

Die  Entfernung  der  schauspielerischen  Persön- 
lichkeit von  der  dichterischen  zeigt  sich  am  auf- 
fälligsten, wenn  die  Figur  selbst  ein  Dichter  ist.  Man 
glaubt  ihn  dem  Schauspieler  nicht.  Ihm  gelingen 
Helden  oder  Bürger. 

* 

Bin  Schauspieler,  der  sich  für  Literatur  inter- 
essiert? Ein  Literat  gehört  nicht  einmal  ins  Parkett. 

* 
Die  modernen  Regisseure  wissen  nicht,  daß  man 
auf  der  Bühne  die  Finsternis  sehen  muß. 

* 
Der    Naturalismus     der    Szene    läßt    wirkliche 
Uhren  schlagen.     Darum   vergeht  einem   die  Zeit  so 
langsam. 

Der  Schauspieler    hat    Talent    zur   Maske.     Die 


4« 


Veränderlichkeit  eines  weiblichen  Antlitzes  ist  das 
Talent.  Schauspielerinnen,  die  Masken  machen,  sind 
keine  Weiber,  sondern  Schauspieler. 

* 

Man  gibt  zu,  die  Kunst  der  Schauspielerin  sei 
8ubliraierte  Geschlechtlichkeit.  Aber  außerhalb  der 
Bühne  muß   das  Feuer  den  Dampf  wieder  in  Körper 

verwandeln  können. 

* 

Nur  eine  Frau,  die  sich  im  Leben  ganz  ausgibt, 
behält  genug  für  die  Bühne.  Komödiantinnen  des 
Lebens  sind  schlechte  Schauspielerinnen. 

• 
Man  kann  eine  Schauspielerin  entdecken,  wenn 
man   sie  die  natürlichste  Situation,   in  die  ein  Weib 
geraten  kann,  darstellen  läßt. 

• 

Das  "Buch  eines  Weibes   kann    gut   sein.    Aber 

ist  dann  auch  das  Weib  zu  loben? 

* 

Es  kommt  gewiß  nicht  bloß  auf  das  Äußere 
einer  Frau  an.  Auch  die  Dessous  sind  wichtig. 

* 

Das  eben  ist  der  Unterschied  der  Geschlechter: 
die  Männer  fallen  nicht  immer  auf  einen  kleinen 
Mund  herein,  über  die  Weiber  immer  noch  auf  eine 
große  Nase. 

Ein  Weib,  das  zur  Liebe  taugt,  wird  im  Alter 
die  Ehren  einer  Kupplerin  genießen.  Eine  frigide 
Natur  wird  bloß  Zimmer  vermieten. 

* 

Hundert  Männer  werden  ihrer  Armut  inne  vor 
einem  Weib,   das  reich  wird   durch  Verschwendung. 

Eine  neue  Erkenntnis  muß  so  gesagt  sein,  daß 
man  glaubt,  die  Spatzen  auf  dem  Dach  hätten  nur 
durch  einen  Zufall  versäumt,  sie  zu  pfeifen. 


Eine  Antithese  sieht  bloß  wie  eine  mechanische 
Umdrehung:  aus.  Aber  welch  ein  Inhalt  von  Erleben, 
Erleiden,  Erkennen  muß  erworben  sein,  bis  man  ein 

Wort  umdrehen  darf! 

* 

Der  Liberalismus  kredenzt  ein  Abspülwasser  als 
Lebenstrank. 

Das  ist  kein  rechtes  Lumen,  das  dem  Verstände 
nicht  zum  Irrlicht  wird. 

♦ 

Der  gesunde  Menschenverstand  sagt,  daß  er  mit 
einem  Künstler  bis  zu  einem  bestimmten  Punkt  »noch 
mitgeht«.  Der  Künstler  sollte  auch  bis  dorthin  die 
Begleitung  ablehnen. 

An  einem  Dichter  kann  man  Symptome  beob- 
achten, die  einen  Kommerzienrat  für  die  Internierung 
reif  machen  würden. 

Der  Philister  möchte  immer,  daß  ihm  die  Zeit 
vergeht.  Dem  Künstler  besteht  sie. 

• 

Witzblätter  sind  ein  Beweis,  daß  der  Philister 
humorlos  ist.  Sie  gehören  zum  Ernst  des  Lebens, 
wie  der  Trank  zur  Speise.  »Geben  Sie  mir  sämtliche 
Witzblätter  I«  befiehlt  ein  sorgenschwerer  Dummkopf 
dem  Kellner,  und  plagt  sich,  daß  ein  Lächeln  auf 
seinem  Antlitz  erscheine.  Aus  allen  Winkeln  des 
täglichen  Lebens  muß  ihm  der  Humor  zuströmen, 
den  er  nicht  hat,  und  er  würde  selbst  die  Zündholz- 
schachtel verschmähen,  die  nicht  einen  Witz  auf 
ihrem  Deckblatt  führte.  Ich  las  auf  einem  solchen: 
»Handwerksbursche  (der  sich  eine  zufällig  in  ein  Ge- 
dicht eingewickelte  Wurst  gekauft  hat):  ,Sehr  gut! 
Nun  ess'  ich  erst  die  Wurst  für  die  körperliche  und 
dann  les*  ich  das  Gedicht  für  die  geistige  Nahrung!'« 
Dergleichen  freut  den  Philister,  und  er  empfindet  die 
Methode  des  Handwerksburschen  nicht  einmal  als 
eine  Anspielung. 


—  4b  — 


Warum  mutet  man  einem  Musiker  nicht  «u, 
daß  er  gegen  einen  Übelstand  eine  Symphonie  ver- 
fasse? Ich  mache  schon  längst  keine  Programm- 
musik mehr. 

• 

Gegen  den  Fluch  des  Gestaltenmüssens  ist  kein 
Kraut  gewachsen. 

* 

Mein  Geist  regt  sich  an  den  Sinnen,  meine 
Sinne  regen  sich  an  dem  Geist  der  Frau.  Ihr  Körper 
gilt  nicht. 

* 

Sinnlichkeit  des  Weibes  lebt  so  wenig  vom 
Stoff  wie  männliche  Künstlerschaft.  Je  lumpiger 
der  Anlaß,  desto  größer  die  Entfaltung.  Der  Geist 
ist  an  kein  Standesvorurteil  gebunden  und  die  Wol- 
lust hat  Perspektive. 

Ich  beherrsche  die  Sprache  nicht;  aber  die 
Sprache  beherrscht  mich  vollkommen.  Sie  ist  mir 
nicht  die  Dienerin  meiner  Gedanken.  Ich  lebe  in 
einer  Verbindung  mit  ihr,  aus  der  ich  Gedanken 
empfange,  und  sie  kann  mit  mir  machen,  was  sie 
will.  Ich  pariere  ihr  aufs  Wort.  Denn  aus  dem  Wort 
springt  mir  der  junge  Gedanke  entgegen  und  formt 
ruckwirkend  die  Sprache,  die  ihn  schuf.  Solche  Gnade 
der  Gedankenträchtigkeit  zwingt  auf  die  Knie  und 
macht  allen  Aufwand  zitternder  Sorgfalt  zur  Pflicht. 
Die  Sprache  ist  eine  Herrin  der  Gedanken,  und  wer 
das  Verhältnis  umzukehren  vermag,  dem  macht  »ie 
sich  im  Hause  nützlich,  aber  sie  sperrt  ihm  den  Schoß. 

* 

O  mark  verzehrende  Wonne  der  Spracherlebnisse! 
Die  Gefahr  des  Wortes  ist  die  Lust  des  Gedankens. 
Was  bog  dort  um  die  Ecke?  Noch  nicht  ersehen  und 
schon  geliebt!    Ich  stürze  mich  in  dieses  Abenteuer. 

Karl  Kraus. 


Heranaeeber  and  verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Krau  s. 
Drock  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollarattatraße  3 


Mitteilung  der  »Fackel«. 

In  der  Nr  239-40  (31.  Dezember  1907)  war  der  Aufsatz:  »Eine  Musik- 
id  Theaterausstellung«  enthalten.  Darin  war  als  der  Leiter  der  Ausstellung 
t  Herr  Korbuly  Herausgeber  der  »Matador«-Zeitung  und  Erfinder  des  Bau- 
stens  »Matador«  genannt.  Tatsächlich  hat  aber  ein  anderer  Herr  dieses  Namens 
tie  Ausstellung  geleitet.  Nicht  dieser  nun,  den  die  Kritik  betraf,  sondern  der  mit 
m  verwechselte  Herr  klagte    den    Herausgeber   der   ,Faekel'   wegen  Ehrenbe- 

ing.  Abt  einer  Berichtigung  des  Irrtums  wollte  sich  der  Klager  nicht  zu- 
eden  aeben.  In  der  Schwurgerichtsverhandlung,  die  am  19.  Janner  19Ü9  - 
ch  einem  Jahr  -  stattgefunden  hat,  wurde  der  Herausgeber  der  ,Fackel  irei- 
Usnrochen  Da  die  Presse  über  den  Prozeß  wegen  des  günstigen  Ausgangs 
cht  berichtet  hat,  so  ist  der  Kläger  um  sein  Recht  einer  Richtigstellung  des 
chverhalts  gekommen.  Deshalb  wird  sie  hier  aus  freien  Stücken  vorgenommen. 


Herausgeber:   KARL    KRATJ^ 

erscheint  in  zwangloser  Folge  im  Umfange  von  16—32  Seiten. 

BEZUGSBEDINGUNGEN : 

für  Österreich-Ungarn,  36  Nummorn,  portofrei K     9.— 

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Das  Abonnement  erstreckt  sich  nacht  auf  einen  Zeitraum, 
sondern     au«     eine     bestimmte    Anzahl    von    Nummern. 

Verlag:  Wien,  III.,  Hintere  Zollamtsstraße  Nr.  3. 

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Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur  Karl  Kraus. 


.  274. 


27.  r  1909 


X.  Jabr 


Herausgeber: 

KARL  KRAUS 


INHALT: 

Peter  Alte&herg.  Von  Karl  Kraus.  —  Eine  Zu- 
schrift von  Detlev  von  Liliencron.  —  Leben. 
Von  Otto  Stoessl.  —  Spiel.  Von  Otto  Soyka.  — 
Glossen,  Notizen,  Aphorismen.  Von  Karl  Kraus. 


Erscheint  in   zwangloser   Folge. 


Preis  der  einzelnen  Nummer  30  h. 

achdruck  und  gewerbsmäßiges  Verleihen  verboten ;  gerichtliche 
Verfolgung  vorbehalten. 


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Die  Fackel, 

NR.  274  27.  FEBRUAR  1909  X.  JAHR 


Peter  Altenberg. 

Zum  9.  März. 

Er  feiert  nun  wirklich  diesen  oft  versprochenen,  oft 
verschobenen  fünfzigsten  Geburtstag.  Aber  mag  das 
Datum  schwankend  sein  wie  das  Urteil  über  den  Mann, 
ja  schwankend  selbst  wie  das  Urteil  des  Mannes, 
die  Gelegenheit,  ihn  respektvoll  zu  grüßen,  möchte 
sich  einer  nicht  versagen,  der  dabei  war,  als  jener 
seine  Haare  ließ,  um  einen  Kopf  zu  bekommen. 
Und  nichts  steht  heute  fester  in  unserm  Geistes- 
leben als  dies  Schwanken,  nichts  ist  klarer  umris- 
sen als  diese  knitterige  Physiognomie,  nichts  bietet 
besseren  Halt  als  diese  Un Verläßlichkeit.  Unter  den 
vielen,  die  hier  etwas  vorstellen,  ist  einer,  der  bedeu- 
tet, unter  den  manchen,  die  etwas  können,  ist  einer, 
der  ist.  Unter  den  zahllosen,  die  ihre  Stoffe  aus 
der  Literatur  geholt  haben  und  Migräne  bekamen, 
als  es  an  die  Prüfung  durchs  Leben  ging,  ist  einer, 
der  im  schmutzigsten  Winkel  des  Lebens  Literatur 
geschaffen  hat,  gleich  unbekümmert  um  die  Regeln 
der  Literatur  und  des  Lebens.  Weiß  der  liebe  Herr- 
gott, wie  die  anderen  ihren  Tag  führen,  ehe  sie  zu 
ihren  Büchern  gelangen,  die  Nächte  dieses  eiüen 
waren  allzeit  der '  öffentlichen  Besichtigung  preis- 
gegeben, und  manch  ein  champagnertrinkender  Pferde- 
jude dürfte  um  die  Zeugung  dessen  Bescheid  wissen, 
was  für  alle  Zeiten  den  Werten  einer  lyrischen  Prosa 
zugerechnet  bleibt.  Dieses  Künstlerleben  hatte  einen 
Zug,  den  in  seiner  Welt  die  Weiber  verloren  haben: 
Treue  im  Unbestand,  rücksichtslose  Selbstbewahrung 
im    Wegwurf,   Unverkäuflichkeit  in  der  Prostitution. 


—    2    — 


Seitdem  und  so  oft  er  vom  Leben  zum  Schreiben 
kam,  stand  das  Problem  dieser  elementaren  Ab- 
sichtslosigkeit,  die  heute  leichtmütig  eine  Perle  und 
morgen  feierlich  eine  Schale  bietet,  in  der  Rätselecke 
des  lesenden  Philisters.  Die  bequemste  Lösung  war 
die  Annahme,  einer  sei  ein  Poseur,  der  zeitlebens 
nichts  anderes  getan  hat  als  die  Konvention  der  Ver- 
stellung zu  durchbrechen.  Oder  es  sei  ein  echter 
Narr.  Denn  das  Staunen  des  gesunden  Verstandes, 
dessen  niederträchtige  Erhabenheit  sich  hier  voll 
entfaltet,  sieht  bloß  die  gelockerte  Schraube  und 
fühlt  die  bewegende  Kraft  nicht,  die  den  Schaden 
schuf,  um  an  ihm  zu  wachsen.  Aber  wenn  die  Dich- 
ter heute  zu  nichts  anderm  taugen,  als  daß  die 
Advokaten  an  ihnen  ihrer  Vollsinnigkeit  inne  wer- 
den, so  haben  sie  ihren  Zweck  erfüllt,  und  die  Advo- 
katen sollten  darauf  verzichten,  in  das  Verständnis 
der  Dichter  weiter  eindringen  zu  wollen,  als  zum 
Beweise  ihrer  eigenen  Daseinsberechtigung  notwen- 
dig ist.  Mag  sein,  daß  der  Altenbergsche  Ernst  diese 
Art  mechanischer  Betrachtung  auf  Kosten  der  leben- 
digen Persönlichkeit  verschuldet  hat.  Im  Altenberg- 
schen  Ernst  kreischt  die  Schraube,  und  verlockt  die 
Neugierde  einer  wertlosen  Intelligenz,  die  man  besser 
ihren  Weg  ziehen  ließe.  Es  ist  dieser  künstlerischen 
Natur  zu  eigen,  das  Unscheinbare  aus  der  Höhe 
anzurufen,  und  solche  Aufmerksamkeit  wird  ihr  un- 
versehens zur  Kunst,  wenn  die  Kontraste  sich  im 
Humor  verständigen.  Er  ist  Lyriker,  wenn  er  sich 
zur  unmittelbaren  Anschauung  seiner  kleinen  Welt 
begibt,  und  er  ist  Humorist,  wenn  er  sich  über  sie 
erhebt,  um  sie  zu  besprechen.  Er  ist  persönlich  und 
reizvoll  in  und  über  den  Dingen,  und  wir  haben 
ihm  hier  und  dort  Kunstwerke  zu  danken,  die  ihm 
keiner  nachmachen  kann,  weil  er  selbst  ohne  Vorbild 
ist.  Aus  einer  Gruadstimmung  zwischen  Überlegen- 
heit und  lyrischem  Befassen,  aus  einer  umkippenden 
Weisheit,  die  vor  einem  Kanarienvogel  ernster  bleibt 


als  vor  sich  selbst,  aus  einer  Bescheidenheit,  die  sich 
nur  vorschiebt,  um  die  Welt  in  einer  Narrenglatze 
sich  spiegeln  zu  lassen,  könnte  er  uns  eine  »Empfind- 
same Reise«  beschreiben,  die  er  aus  Ersparnisrück- 
sichten im  Kinematographentheater  erlebt.  Ich  gebe 
für  die  paar  Zeilen  seiner  »Maus«  oderseines  »Lift«,  sei- 
nes »Spazierstock«  oder  seines  »Gesprächs  mit  dem 
Gutsherrn«  sämtliche  Romane  einer  Leihbibliothek  her. 
Dazu  aber  auch  jenen  P.  A.,  der  die  Distanz  zu 
seiner  Welt  durch  Lärm  ausgleichen  möchte.  Ich 
kann  es  verstehen,  daß  einem  Künstler  die  Geduld 
reißt  und  daß  er  eines  Nachts  dazu  gelangt,  das 
Leben  im  Vokativ  anzusprechen.  Er  scheint  mir  in 
solchen  Augenblicken  ehrwürdig,  aber  nicht  eben 
schöpferisch  zu  sein.  Ich  sehe  ihn  hoch,  aber  der  Ab- 
stand, der  Humor  verlangt,  schafft  sich  ihn  von  selbst, 
wenn  der  Betrachter  pathetisch  wird.  In  dieses 
Kapitel  scheint  mir  die  Altenbergsche  Gastrologie 
zu  gehören  mit  jenem  Materialismus  der  Frauen- 
seelen und  jenem  Spiritualismus  der  Material- 
waren, mit  der  Unerbittlichkeit  jenes  »erstklas- 
sigen« akrobatischen  Evolutionsgedankens,  daß  der 
Affe  vom  Menschen  abstammt.  P.  A.,  der  vor 
einer  Almwiese  zum  Dichter  wird,  wird  vor 
einer  Preisjodlerin  zum  Propheten.  Er  ist  ein  Seher, 
wenn  er  sieht,  aber  er  ist  ein  Rufer,  wenn  er  ein 
Seher  ist.  Seine  Schrullen  sind  schöpferische  Hilfen, 
wenn  sie  sich  selbst  entlarven;  sie  sind  Hindernisse, 
wenn  sie  auf  sich  bestehen.  Die  zarteste  Künstler- 
hand beschwichtigt  sie,  und  zu  einer  widrigen  Un- 
sprache  lassen  sie  sich  alarmieren.  Und  das  ist  der 
Humor  davon.  An  ihn  hält  sich  der  Philistersinn, 
wenn  diese  Fülle  sich  selbst  zu  einer  Sonderbarkeit 
verkleinert,  die  mit  visionärer  Verzückung  Küchen- 
rezepte verfertigt,  tant  de  bruit  pour  une  Omelette 
macht  und  die  Anweisung  von  sich  gibt:  0  nähme 
man  doch  endlich  drei  Eier!!?  Gewiß  bildet  diese  aus- 
fahrende Sucht,  die  eine  alltägliche  Sache  bloß  ver- 


stärkt,  ein  Teil  von  jener  Kraft,  die  eine  alltägliche 
Sache  zu  erhöhen  vermag,  und  ich  möchte  den 
Mißton  in  der  Zigeunermusik  dieses  Geistes  nicht 
entbehren.  In  der  restlosen  Ehrlicheit,  die  das  Unsag- 
bare sagt,  ist  er  wohl  liebenswerter  als  ein  Pre- 
ziösentum,  das  vom  Sagbaren  nur  die  Form  ent- 
hüllt, und  beschleunigte  Herztätigkeit  ist  es,  was 
den  Menschenwert  des  Predigers  über  die  Zweifel  der 
Lehre  erhebt.  Aber  ihr  Lärm  scheint  mir  von  der  Schwer- 
hörigkeit de3  Philisters  gefördert  und  er  bedeutet  jenen 
Trotz,  welcher  die  Konzession  de3  Künstlers  ist,  der 
keine  Konzessionen  macht.  Und  wie  sollte  die  stärkste 
Stimme  nicht  heiser  werden  in  einem  Vaterlande, 
in  dem  der  Prophet  der  Niemand  ist,  aber  der  Poet 
ein  Journalist?  Peter  Altenbergs  Ruhm  ist  aus  dem 
sicheren  Auslande  noch  nicht  nach  Wien  gedrungen 
und  das  intellektuelle  Gesindel  dieser  Stadt  hat  nooh 
nicht  geruht,  ihn  so  ernst  zu  nehmen  wie  ihre  Jour- 
dichter  und  Journalisten.  Dennoch  sollte  man  diesen 
Reichtum  der  Mittel  sich  nicht  auf  Kosten  des  Inhalts 
entfalten  lassen.  Man  müßte  eine  Zeitung,  die  die- 
sem Temperament  die  Interpunktionen  ihrer  Druckerei 
zu  schrankenloser  Verfügung  überläßt,  boykottieren, 
man  müßte  vor  Preisrichtern  der  Literatur,  die  eine 
Persönlichkeit  von  solchem  Wuchs  in  der  Variete*- 
Kritik  exzedieren  lassen  und  jahraus  jahrein  harmo- 
nische Plattköpfe  dekorieren,  auf  der  Straße  aus- 
spucken. Kurzum,  man  müßte  alles  das  tun,  wodurch 
man  den  Zorn  P.  A.'s  auf  sich  laden  könnte,  den  ein- 
zigen stadtbekannten  Zorn,  der  um  seiner  selbst  willen 
wertvoll  ist  und  auch  dort  noch  berechtigt,  wo  der  Eigen- 
tümer fälschlich  annimmt,  man  habe  es  auf  seine  Frei- 
heit abgesehen.  Denn  man  hat  es  in  Wahrheit  darauf 
abgesehen,  ihn  auf  einen  Stand  zu  bringen,  auf  dem 
er  die  wohlverdiente  literarische  Anerkennung  end- 
lich für  die  Ehre  eintauscht,  die  Zielscheibe  der 
Betrunkenheit  zu  sein.  Oder  gar  das  Merkziel  jener 
vollsinnigen    Betrachtung,    welohe    die    Kunst    des 


-     5    - 


Mannes  als  eine  Privatangelegenheit  belächelt,  aber 
vor  seinem  Nachtleben  wie  vor  einer  Praterbude 
steht,  und  die  überglücklich  ist,  wenn  sie  eine  Probe 
Altenbergscher  Urteilswütigkeit  kolportieren  kann. 
Daß  hier  ein  ewig  junges  Temperament  bei  der  Sache 
ist,  ob  es  nun  für  oder  gegen  die  Sache  ist  oder  beides 
zugleich,  schätzt  keiner,  Aber  auch  die  Ansichten 
der  Natur  sind  geteilt,  auf  Schön  folgt  Regen  und 
es  ist  derselbe  Ackerboden,  der  den  Vorteil  von  sol- 
chem Widerspruch  hat.  Dieser  Dichter  hatte  Anhän- 
ger, die  ihm  abtrünnig  wurden,  weil  sie  den  Zufällen 
seiner  klimatischen  Verhältnissenichtgewachsen  waren. 
Nun,  wen  es  trifft,  zwischen  dem  Einerseits  einer 
höchsten  Begeisterung  und  dem  Anderseits  einer 
tiefsten  Verachtung  zu  leben,  der  bleibe  zuhause,  aber 
er  preise  die  Allmacht  des  Schöpfers  und  rümpfe 
nicht  die  Nase  über  die  Natur.  Denn  die  Natur  ist 
weise,  sie  nimmt  ihre  Donner  nicht  ernst  und  ihre 
Sonne  lacht  über  die  eigene  Inkonsequenz.  Ach, 
wir  haben  genug  Dichter,  die  mit  fünfzig  Jahren 
dasselbe  sichere  Urteil  bewähren  werden  wie  mit 
zwauzig.  Gott  erhalte  sie  als  ganze.  Von  Peter  Alten- 
berg genügen  uns  ein  paar   Zeilen. 

Karl  Kraus. 
* 
Einmal  las  ich  in  einem  Buch  von  Peter  Alten- 
berg, ich  glaube  es  war  in  >Wie  ich  es  sehe«,  eine 
Stelle,  wo  ein  Nachen  durch  einen  engen,  mit  Rosen 
und  Ranken  überhangenen  Kanal  fährt  —  seitdem 
liebe  ich  Peter  Altenberg. 

Detlev  Baron  Liliencron. 
Alt-Rahlstedt  bei  Hamburg,  19.  2.  9. 


_     B     _ 


Leben. 

Zwischen  zwei  Nächten  ein  Traum. 

Im  Dunkel  ruht  und  wächst  ans  Licht 

Ein  Baum. 

Hat  ein  wunderbar  Gesicht 

Von  Sonne  in  Säften  und  Ästen, 

Von  Himmelsbläue  und  Wolkenwandern 

Über  dem  Haupt 

Und  glaubt 

Und  lauscht  den  Vogelgästen, 

Die  von  Herrlichkeiten  sagen. 

Alle  seine  Arme  tragen 

Von  Wunsch  und  Weh  die  grüne  Last 

Und  können  den  Schatz  nicht  wahren, 

Ein  Sturmwind  kommt  gefahren, 

Da  zuokt  und  stöhnt  ein  Baum, 

Ein  Halm  am  Saum 

Der  Unendlichkeiten. 

Und  in  das  Wehren  und  Spreiten 

Fährt  ein  Blitz  und  loht, 

Bleibt  und  starrt  der  Tod, 

Bläst  ein  Ding  fort  wie  einer  Feder  Flaum. 

Ein  wunderbar  Gesicht: 

Es  löscht  ein  Licht 

Zwischen  zwei  Nächten  im  Traum. 

Otto  Stoessl. 


Spiel. 

Von  allem  Satanswerk  auf  Erden  hatte  das  Spiel 
das  ärgste  Schicksal,  denn  es  wurde  als  Zerstreuung 
und  Erholungsbeschäftigung  in  die  bürgerliche  Lebens- 
ordnung eingefügt.  Auch  die  andern  Sünden  kamen 
um  Purpurmantel  und  Höllenglanz,  sie  fristen  ein 
armseliges  Dasein  als  simple  Gesetzesverletzung  oder 


—  7 


als  pathologische  Erscheinung.  In  dieser  Stellung 
aber  haben  sie  Frieden  und  müssen  nicht,  wie  das 
Spiel,  dazu  herhalten,  den  Feierabend  eines  bis  sechs 
Uhr  tätigen  Lebens  zu  verschönen.  Es  ist  ein  kläg- 
liches Ding  das  erlaubte,  das  Kombinationsspiel.  Man 
hat  den  Zufall  in  einer  Schlinge  gefangen,  ihm  die 
Krallen  beschnitten  und  ihn  in  einen  Käfig  von 
Regeln  gesetzt.  Da  macht  er  seine  jämmerlichen 
Bewegungsversuche,  seine  Parodien  auf  Gunstbezeu- 
gungen, und  ehrsame  Leute  erfreuen  sich  daran.  Das 
reine  Glücksspiel  aber  ist  selbstverständlich  unter- 
sagt. Hier  entzieht  sich  der  Erfolg  jeder  Berechnung, 
hier  schaltet  ein  Unbekanntes  mit  menschlichen 
Wünschen  und  das  darf  nicht  geduldet  werden.  Gibt 
es  denn  sonst  unbefugte  Einraengungen  des  Schick- 
sals in  das  menschliche  Leben  ?  Gibt  es  sonst  in  der 
Welt  Ereignisse,  die  sich  der  Kontrolle  und  der  so- 
zialen Ordnung  entziehen?  Erdbeben  etwa,  Feuers- 
brünste oder  gar  Todesfälle?  Ein  grobes  Versehen, 
wenn  es  dergleichen  gibt  I  Man  hätte  es  natürlich 
längst  verbieten  sollen.  Oder  sind  diese  Unberechen- 
barkeiten vielleicht  gar  nicht  so  arg,  als  jene  des 
Glücksspieles?  Mag  der  Zufall  über  Tod  und  Leben 
entscheiden,  sein  keckes  Hineinspielen  in  Geldver- 
hältnisse wird  man  ihm  untersagen  müssen.  Den 
Menschen  selbst  kann  er  nach  Gutdünken  vernich- 
ten, aber  in  seine  Taschen  hat  er  nicht  zu  greifen, 
denn  hier  empört  sich  die  gesunde  Vernunft  gegen 
sein  unsinniges  Walten  und  gebietet  ihm  Halt.  Und 
es  ist  merkwürdig  anzusehen,  wie  man  eifrig  bestrebt 
ist,  die  kleinen  und  kleinsten  Zufälligkeiten  des 
Lebens  in  Mausefallen  einzufangen,  während  die 
große  Bestie  Zufall  die  schlauen  Fallensteller  in  ihrem 
Rachen  trägt.  Ein  würdeloses  Schauspiel  ist  diese 
hilflose  Furcht  vor  dem  Unbekannten,  dieses  Zappeln 
in  der  Gewalt  des  Stärkeren;  das  Unberechenbare 
beherrscht  das  Leben,  es  ist  hoffnungslos,  ihm  Dämme 
zu  bauen,  die  Flut  ist  stärker..  Und    Spielen  —  das 


—    8 


heißt,  sich  dieser  Flut  anvertrauen.  Gewiß  stellt  das 
Hazardspiel  eine  der  wirklich  vornehmen  Handlungen 
dar,  zu  welchen  sich  die  Menschen  aufzuschwingen 
vermochten ;  eine  vollständige  Hingabe  an  den  Zufall, 
ein  ehrliches  Waffenstrecken  vor  dem  Schicksal.  Die 
Karte  nimmt,  die  Karte  schenkt.  Geräuschlos,  ohne 
das  Gerassel  des  kommerziellen  Apparates  vollzieht 
sich  der  Wechsel.  Hier  ist  das  Walten  des  Schicksals 
mit  den  allereinfachsten  Mitteln,  es  ist  die  Reduktion 
des  Lebenskampfes  auf  die  allerei nfachste  Form, 
Gewinnen  oder  Verlieren,  der  Rest  von  Mühsal  und 
Arbeit,  von  Zuwarten  und  langwierigem  Sorgen  ist 
Beiwerk,  und  verschwindet.  Das  Glücksspiel  ist  ein 
T6te-ä-Töte  mit  dem  Schicksal,  es  ist  der  außer- 
gewöhnliche und  direkte  Verkehr  mit  einer  hohen, 
dem  Leben  vorgesetzten  Instanz.  Das  Zeitalter  der 
Bureaukratie  wehrt  sich  dagegen,  es  liebt  die  Men- 
schen, die  ihr  Dasein  führen  wollen,  und  der  Spieler  ist 
ein  Mensch,  der  sich  von  seinem  Dasein  führen  läßt. 

Man  erhebt  Vorwürfe  gegen  das  Spiel.  Es  sei 
eine  nichtige  Beschäftigung,  ohne  wertvolles  Resultat. 
Die  Nichtigkeit  dürfte  das  Spiel  mit  manchen  anderen 
Dingen  gemein  haben,  aber  eine  Tätigkeit,  die  den 
andern  nicht  nachsteht,  ist  es  unbedingt.  Repräsentiert 
es  doch  den  einzigen  bedeutenden  Nervensport,  den 
wir  kennen.  Die  Übung  von  Arm-  und  Beinmuskula- 
tur hat  soviel  begeisterte  Aufmerksamkeit  gefunden, 
da  ist  es  nur  Mangel  an  Konsequenz,  den  Sportwert 
des  Spieles  nicht  anzuerkennen.  Es  ist  eine  Art  seeli- 
scher Freiübungen  im  Ertragen  der  Wechselfälle,  das 
Training  der  Nerven  vor  dem  Zufall. 

Ferner  wird  behauptet,  daß  im  Spiel  nicht  die 
Würdigkeit  über  das  Erlangen  des  Gewinnes  ent- 
scheidet. Wenn  dem  so  ist,  so  kann  man  es  nur  be- 
dauern. Die  Krönung  des  Verdienstes  ist  sehr 
wünschenswert.  Aber  solange  die  soziale  Ordnung 
selber  diesen  Wunsch  nicht  berücksichtigt,  solange 
die  wohlerwogenen  Vorschriften   der  Vernunft  nicht 


—    9 


zu  diesem  Resultate  führen,  ist  es  unbillig,  vom 
Zufall  mehr  zu  verlangen.  Eine  blinde  Absichtlichkeit 
darf  keinen  sehenden  Zufall  fordern.  Es  ist  durchaus 
ungerecht,  der  Karte  jenen  Zahlungsauftrag  für  mensch- 
liche Werte  zuzuweisen,  den  man  selbst  nicht 
honorierte. 

Das  Spiel  sei  ein  gar  zu  müheloser,  ein  allzu- 
leichter Erwerb.  Dafür  ist  es  auch  der  reinlichste 
von  allen.  Keine  Art  des  Geschäftes  gibt  es  unter 
Menschen,  keinen  Handel,  wo  Vorteil  und  Nachteil 
so  streng  abgewogen,  so  peinlich  genau  ins  Gleich- 
gewicht gebracht  sind,  wie  beim  Spiel.  Hier  das 
Risiko,  dort  die  Chance.  Nichts  Unbekanntes,  keine 
Möglichkeit  der  Täuschung  gibt  es.  Kein  Vorwurf 
kann  entstehen,  kein  Gefühl  des  Übervorteiltseins  sich 
regen.  Der  Mechanismus  des  Erwerbens  funktioniert 
hüllenlos,  freigelegt  vor  aller  Augen.  Die  bunte  Ver- 
kleidung des  Handels  mit  Waren,  des  Tausches  von 
Werten  ist  abgestreift,  und  in  ihr  allein  kann  sich 
ein  ungerechtfertigtes  Zuviel  für  einen  der  Teile  ver- 
bergen. 

Weiterhin  hätte  das  Spiel  Existenzen  unter- 
graben, Menschen  zu  Grunde  gerichtet.  Das  hat  seine 
Richtigkeit.  Aber  in  dieser  seiner  Wirkung  leistet 
das  Spiel  verhältnismäßig  so  Geringes,  hat  es  so  viele 
überlegene  Konkurrenten,  daß  es  füglich  außer  Be- 
tracht bleiben  darf.  Es  sei  daran  erinnert,  wie  das 
Leben  selbst  mit  seinen  Menschen  verfährt,  wie  viel 
Verluste  ihnen  zuzufügen,  sein  Ernst  sich  vorbehält. 
Ein  Unterschied  ist,  daß  es  beim  Spiele  bis  zur 
letzten  Minute  Erfolge  gibt,  das'  Leben  aber  noch 
niemand  mit  Gewinn  verlassen  hat. 

Unsere  Zeit  sieht  mit  erklärter  Feindschaft  auf 
das  Spiel.  Sie  hat  so  vieles  vergeblich  ausgerechnet, 
sie  fährt  noch  unaufhörlich  fort  zu  rechnen  und 
wittert  in  allem  Unberechenbaren  eine  feindliche 
Verhöhnung-  ihres  Tuns.  Sie  möchte  gerne  das 
Spiel    assimilieren,   seinen  Geist   in   Rechnungen  er- 


—  10  — 


sticken.  Mit  seinem  eigenen  Sinn  und  Wesen  weiß 
sie  nichts  anzufangen  und  hat  es  in  ihrer  Weise  inter- 
pretiert. Sie  faßt  es  als  Geschäft  auf,  und  gegen  Ge- 
schäfte mit  gleicher  Chance  hat  sie  ein  tiefgehendes 
Miß  rauen.  Daher  die  Verachtung.  Sie  weist  dem  Spiel 
als  bloße  Zerstreuung  eine  dienende  Rolle  unter  den 
Beschäftigungen  an,  sie  wacht  strenge  darüber,  daß 
Mdß  gehalten  wird  in  diesem  Genüsse.  Eine  schöne 
sittliche  Entrüstung  hat  sie  für  die  Spielhölle  übrig, 
der  gegenüber  sie  in  den  Fabriksräumen,  die  sie 
baute,  ihren  Arbeitshimmel  geschaffen  hat.  Sie  ver- ' 
weigert  dem  Rechte  des  Spielers  ihren  Schutz,  sie 
erkennt  die  Spielschuld  vor  dem  Gesetz  nicht  an. 
Sie  begünstigt  offen  den  unzweideutigen  Betrug,  der 
damit  gegeben  ist,  daß  jemand,  der  daran  denkt,  als 
Verlierer  nicht  zu  zahlen,  von  der  Möglichkeit  zu 
gewinnen  Nutzen  zieht.  Sie  hat  damit  alles  getan, 
um  das  Spiel  auf  ein  tiefes  Niveau  zu  drücken,  sie 
hat  für  jede  Art  von  Gesindel  eine  Lockung  in  das- 
selbe gelegt.  Und  es  ist  ein  starkes  Zeugnis  für  den 
inneren  Gehalt  des  Spieles,  wenn  es  trotz  solcher 
Maßregeln  immer  wieder  über  die  Zeit  triumphiert 
und  das  bleibt,  was  sie  niemals  war:  vornehm.  Zur 
Arbeit  konnte  man  Tiere  erziehen,  ja  selbst  Menschen 
dressieren.  Niemals  zum  Spiel;  das  konnte  nur  frei  ge- 
wählt werden.  Mühsam  mußte  man  und  lange  für  jene 
Wahrheit  Anerkennung  erkämpfen,  daß  die  Arbeit 
nicht  schändet,  vergeblich  aber  will  man  stets  ver- 
suchen, die  andere  Wahrheit  zu  unterdrücken,  daß 
das  Spiel  adelt. 

Otto  Soyka. 


■I 


Glossen,  Notizen,  Aphorismen. 

Der  Liberalismus  hatte  gesprochen: 

»Schon  haben  die  Männer  der  Wissenschaft  Apparate  gebaut, 
die  selbst  in  einer  Entfernung  von  vielen  tausend  Meilen  die  Erdbewe- 
gungen verzeichnen  .  .  .« 

Darauf  habe  ich  geantwortet: 

»Je  größer  die  Entfernung,  desto  sicherer  funktionieren  die  Appa- 
rate. Nur  wenn  sie  sich  am  Orte  des  Erdbebens  befinden,  ist  Gefahr 
vorhanden,  daß  sie  kaput  gehen.  « 

Das  Erdbeben  hat  das  Wort: 

»In  Reggio  und  Messina  haben  gestern  und  vorgestern  neue 
heftige  Erschütterungen  stattgefunden,  welche  zwar  keinen  Schaden  ver- 
ursachten, aber  furchtbaren  Schrecken  erregten.  Zwei  Seismologen, 
welche  in  Reggio  Beobachtungen  anstellten,  wurden  von  den  Erschüt- 
terungen zu  Boden  geschleudert,  ihre  Instrumente  zerbrachen.  Die  Ge- 
lehrten sind  der  Ansicht .  .  .< 

Die  Ansichten  sind  bis  heute  unbeschädigt. 


Als  ich  letzthin  der  wohltätigen  Bemühungen  des  Herrn 
Dr.  Charas  gedachte,  der  in  Catania  die  Hungernden  gespeist, 
sich  dann  in  Rom  aufgehalten  und  in  Wien  die  Blinden  sehend 
gemacht  hat,  Heß  ich  die  Möglichkeit  offen,  daß  die  Angriffe  der 
italienischen  Presse  auf  chauvinistische  und  nicht  auf  kulinarische 
Vorurteile  zurückzuführen  seien.  Ich  dachte  nämlich,  daß  die  Lei- 
stung der  Wiener  Rettungsgesellschaft  auf  sizilischem  Boden  in  der 
Verteilung  von  Makkaroni  bestanden  hätte.  Nun  weide  ich  darauf 
aufmerksam  gemacht,  daß  ich  das  Maß  jener  Wohltätigkeit 
unterschätzt  und  somit  auch  den  Tadel  der  italienischen  Presse 
mißverstanden  habe.  Oegen  die  Einfuhr  von  Makkaroni, 
die  ja  als  Nudeln  durchaus  in  das  Ressort  des  goldenen 
Wiener  Herzens  fallen,  hat  man  in  Sizilien  füglich  nichts  einzu- 
wenden gehabt.  Aber  der  Unmut  der  Bevölkerung,  von  dem  die 
italienische  Presse  erzählt  und  von  dem  Herr  Dr.  Charas  nichts 
wissen  will,  soll  sich  eben  nicht  gegen  die  Makkaroni,  die  in  der  Tat 
»geradezu  verschlungen«  wurden,  sondern  gegen  ein  wahrhaft 
fürchterliches  Ansinnen  gekehrt  haben :  gegen  die  Wiener  Bohnen. 
Da  mag  man  den  Unwillen  einer  durch  das  Schicksal  genug 
gereizten    Bevölkerung  begreifen,    und    es    müßte    einen    nicht 


12 


wundern,  wenn  die  Italiener  in  solcher  Zumutung  einen  feind- 
lichen Anschlag  Österreichs  gewittert  hätten.  Denn  es  gehört  schon 
eine  tüchtige  Portion  Größenwahn  aus  der  Wiener  Küche  dazu, 
einem  fremdländischen  Magen  jenen  Mehlpapp,  der  hier  Gemüse 
genannt  wird,  anzubieten.  In  der  Stadt  der  Echtheit  wird  natür- 
lich streng  darauf  gesehen,  daß  das  Gemüse  nur  mit  echtem  Mehl 
zubereitet  wird,  und  die  Fremden,  die  etwa  hieher  kommen,  fragen 
in  unseren  Restaurants  vergebens  nach  jenem  Grünzeug,  das  in 
der  ganzen  Welt  als  Surrogat  für  unser  Mehl  auf  den  Tisch 
kommt.  Die  ganze  Welt  versteht  eben  nichts  von  der  Küche,  und 
Wien  ist  in  Wahrheit  der  Einbrennpunkt  der  kulinarischen  Kultur. 
Wer  hierzulande  dennoch  den  Mut  hat,  den  ihm  vorgesetzten 
Kleister  zurückzuweisen,  und  seine  Ansprüche  schließlich  auf 
»kleine  Gurken«  reduziert,  mag  sich  besorgt  erkundigen,  ob  nicht 
auch  die  in  der  Geschwindigkeit  »a  wengerl  eing'stäubt«  werden. 
Ich  kann  die  Wut  der  Cätanier  begreifen.  Zuerst  das  Erdbeben, 
und  dann  die  Hilfe !  Wenn  ich  unter  Trümmern  läge  und  Herr 
Oharas  brächte  mir  eingebrannte  Fisolen,  ich  schickte  ihn  damit 
unverzüglich  in  die  Feldküche  zurück.  Manna  in  der  Wüste,  als 
»Einbrenn<  zubereitet,  ist  eine  Provokation.  Die  Antwort  könnte 
dann  hundertmal  lauten:  »Aber  es  wird  allgemein  gelobt*,  ich 
bliebe  unerbittlich,  und  wenn  der  Papst  mit  den  Köchen  selbst  die 
Mahlzeit  gesegnet  hätte,  ich  würde  ostentativ  verhungern. 

Der  Leser  erliegt  dem  Zauber  des  gedruckten  Wortes,  aber 
er  wird  dieser  Wirkung  nicht  inne.  Sonst  wäre  es  unerklärlich, 
daß  er  noch  nicht  auf  die  Idee  verfallen  ist,  ein  Blatt  zu  gründen. 
Der  verbrecherischen  Suggestion,  die  von  der  Privatmeinung  eines 
beliebigen  Dummkopfes  ausgeht,  sobald  sie  in  Druck  gelegt  ist, 
ließe  sich  nur  dadurch  ein  Ende  machen,  daß  alle  Leser  sich  in 
Redakteure  verwandeln.  Dann  würden  sie  sich  das  Staunen  ab- 
gewöhnen. Für  ein  paar  Gulden  kann  jeder  Kommis  von  jedem 
Drucker  in  jene  höchste  Macht  eingesetzt  werden,  welche  die 
Gesellschaft  heute  zu  vergeben  hat.  Die  Banken  lassen  es  sich  nicht 
nehmen,  Inserate  zu  spenden,  Theater  und  Bahnen  gewähren  Frei- 
karten, Verleger  schicken  Rezensionsexemplare.  Da  in  einer  Groß- 
stadt jährlich  nur  fünfzig  Sudler  auf  die  gute  Idee  kommen,    den 


13 


Kredit  einer  Buchdi  uckerei  und  den  Glauben  des  Publikums  in 
Anspruch  zu  nehmen,  so  floriert  das  Geschäft.  Erstünden  fünf- 
hundert, so  würden  die  Gebrandschatzten  bald  merken,  daß  der 
täuschende  Schein  ein  Verdienst  des  Setzers  ist.  Vor  allem  merk- 
würdig ist,  daß  so  wenige  Druckereien  selbst  die  Gelegenheit  wahr- 
nehmen, Zeitschriften  herauszugeben.  Die  Lettern,  auf  die  es  aus- 
schließlich ankommt,  sind  da,  und  der  Vorwand,  Freikarten  und 
Annoncen  zu  bekommen,  wäre  in  einer  Stunde  hergestellt.  Geradezu 
grotesk  ist  es,  daß  ein  Buchdrucker,  der  seine  Familie  ins  Theater 
oder  auf  das  Land  schicken  will,  in  jedem  einzelnen  Falle  erst  einen 
befreundeten  Redakteur  in  Anspruch  nehmen  soll,  da  er  doch  viel 
rascher  ein  Blatt  drucken  und  sich  ein  für  allemal  das  Recht  auf 
Benefizien  sichern  könnte.  Mir  ist  weit  und  breit  nur  eine  einzige 
Zeitschrift  bekannt,  die  solcherart  dem  Haushalt  eines  Druckers 
dient.  Früher  hatte  er  sich  auch  einen  Redakteur  gehalten,  der  so 
lange  im  Wege  stand,  bis  er  zum  Kaiserjubiläum  ausgezeichnet 
wurde.  Aber  um  Waschzettel  und  Vordrucke  zu  übernehmen,  dazu 
braucht  wahrlich  keine  Druckerei  einen  kaiserlichen  Rat.  Und  jetzt 
erst  wird  der  Leser  sehen,  was  eine  Zeitschrift  zu  leisten  imstande 
ist.  Wie  ein  Alpdruck  lastete  die  Individualität  jenes  Mannes  auf 
ihr.  Das  wird  in  einem  Aufruf  an  das  Volk  durch  die  Versicherung 
angedeutet,  das  Blatt  werde  mit  diesem  Jahre  ein  »frischeres  Aus- 
sehen« bekommen.  Und  dann  heißt  es  wörtlich: 

Wir  haben  vor,  die  von  uns  zur  Schlichtung  des  österreichischen 
Völkerstreites  stets  verfochtene  Idee  der  Autonomie  auch  in  den  redak- 
tionellen Betrieb  einziehen  zu  lassen.  An  Stelle  einer  >Zentralleitung« 
haben  wir  einigen  unserer  bewährten  Mitarbeiter  die  selbständige 
Leitung  der  Ressorts  :  Politik,  Volkswirtschaft,  Schule,  Naturwissenschaft 
und  Philosophie,  Literatur,  Kunst  und  Musik  übertragen  und  hoffen, 
durch  ein  wenn  auch  nur  im  kleinen  gelungenes  Beispiel  die  Richtigkeit 
unser  politischen  Ideen  beweisen  zu  'können.  Wir  stehen  vor  großen 
politischen  Ereignissen  und  Kämpfen,  die  entscheidend  auf  die  Gestaltung 
unseres  Vaterlandes  sein  werden.  Wir  werden  in  diesen  Kämpfen  immer 
offen  und  entschieden  .  .  . 

Merks,  Österreich,  und  kassiere  dir  deine  Steuern  autonomisch 
ein !  Die  Hauptsache  ist,  daß  gedruckt  wird.  Auf  die  Zentralleitung 
wird  gepfiffen. 


274 


14 


». . .  Eine  Zeitschrift  aber  verdient  es,  einmal  an  den  Pranger  gestellt 
zu  werden,  da  sie  aus  dem  verhältnismäßig  anständigen  Rahmen  unserer 
literarischen  periodischen  Veröffentlichungen  ganz  herausfällt,  und  das 
ist  Maximilian  Hardens  .Zukunft*.  Nehmen  Sie  doch  einmal  ein  Heft 
dieser  Wochenschrift  in  die  Hand.  Es  ist  so  ungefähr  das  Schlechteste, 
was  Sie  überhaupt  finden  können;  an  Minderwertigkeit  nicht  einmal  über- 
troffen von  den  Indianer-Schmökern  und  Hintertreppen-Romanen. 

Diese  Kritik  betrifft  nicht  etwa  den  Inhalt  der  .Zukunft', 
sondern  bloß  ihre  Ausstattung.  Sie  steht  im  .Graphischen  Centralblatt'. 

Das  Papier  holzig,  die  Typen  abgenutzt,  der  Druck  so  liederlich, 
daß  eine  Seite  lichtgrau  und  die  andere  wieder  so  rußig  schwarz  er- 
scheint, daß,  wenn  man  mit  dem  Finger  darüber  hinstrefcht,  die 
Druckerschwärze  in  Kometenform  über  die  Seite  fliegt.  Dann  die  unsag- 
bar rohe  Weise,  das  Heft  zu  beschneiden,  so  daß  auf  einer  Seite  der 
Text  in  einem  Abstand  von  2  cm  vom  oberen  Rande  einsetzt  und  auf 
der  Gegenseite  eventuell  nur  in  einem  solchen  von  2  mm.  Ja,  beim 
Inseratenteil  kann  man  es  sogar  häufig  genug  erleben,  daß  gleich  eine 
halbe  Zeile  mit  weggeschnitten  ist! 

Und  nun  meine  Herren,  lassen  Sie  uns  doch  einmal  ein  kleines 
Rechenexempel  bezüglich  der  .Zukunft'  anstellen:  Diese  Zeitschrift  wird 
in  einer  durchschnittlichen  Auflage  von  ungefähr  35.000  Exemplaren 
gedruckt.  Das  Heft  kostet  50  Pfg.  Wir  nehmen  an,  daß  es  die  Abon- 
nenten billiger  haben  und  rechnen  deshalb  nur  einen  Durchschnittspreis 
von  40  Pfg.  pro  Heft.  Das  würde  einen  Umsatz  von  mehr  als  15.000  Mk. 
ergeben.  Von  diesem  Betrage  rechnen  wir  ab  5000  Mk.  für  den  Buch- 
händlerverkehr: bleiben  10.000  Mk.  Davon  ziehen  wir  weiter  ab 
3000  Mk.  für  die  Herstellung  des  Heftes.  Rest:  7000  Mk.  Von  diesen 
wären  dann  weiterhin  noch  in  Abzug  zu  bringen  die  Honorare.  Sie 
wissen,  Harden  schreibt  seine  .Zukunft'  zur  Hälfte  selbst;  es  ist  also 
hoch  genug  gegriffen,  wenn  wir  für  jedes  Heft  1000  Mk.  ansetzen.  Bleiben 
6000  Mk.  Hiervon  rechnen  wir  dann  noch  einmal  1500  Mk.  herunter  für  un- 
verkaufte Exemplare;  doch  haben  wir  diese  auf  der  anderen  Seite  wieder 
voll  und  ganz  hinzuzuzählen  für  Inserate  und  Extrabeilagen.  Es  bleiben 
also  in  jedem  Falle  mindestens  6000  Mk.  blanker  Reingewinn  für  ein 
Heft;  das  heißt  also  jährlich  312.000  Mk.!  Meine  Herren!  Für  312.000  Mk. 
jährlichen  Reingewinn  kann  man,  wenn  man  ein  Kulturförderer  sein 
will,  etwas  mehr  für  die  Buchdruckerkunst  tun;  für  die  Kunst,  der  es 
Harden  doch  in  erster  Linie  verdankt,  daß  er  weit  gekannt,  weit  ge- 
rühmt und  weit  gefürchtet  ist.  So,  nun  hat  Herr  Harden  das  Wort.  Wie 
sagt  er  doch  ?  ,Ich  hab's  gewagt,  bin  unverzagt  und  will  des  Ends 
erwarten.'« 

Daß  jetzt  auch  schon  der  Outtenberg  an  der  Ehrlichkeit 
des  Hütten  zu  zweifeln  beginnt,  das  könnte  einem  alle  Freude  an 
der  historischen  Bildung  verderben.  Wenn  jener  aber  glaubt,  es 
sei  eine  Lust  zu  leben,    wenn    man    bloß  312.000  Mark   jährlich 


—  15  — 


verdient,  so  irrt  er.  Die  Qeister  werden  erst  wieder  wach,  wenn 
man  für  das  Vaterland  eine  Konzerttournee  unternimmt  und  für 
jeden  Vortrag  3000  Mark  bekommt.  Dabei  hat  sich  Herr  Harden 
ursprünglich  die  Entbehrung  auferlegt,  bloß  1500  Mark  zu  verlangen, 
über  die  der  Münchner  Impresario  bei  den  schlechten  Zeiten 
nicht  hinausgehen  konnte.  Erst  als  ein  anderer  Münchner  Im- 
presario von  dem  Plan  erfuhr  und  beherzt  depeschierte:  ich  biete 
3000,  war  er  bereit,  sich  an  das  teurere  Vaterland  anzuschließen 
und  das  deutsche  Volk  zu  erhöhten  Preisen  vor  dem  Kaiser  zu 
warnen.  Aber  auch  das  deutsche  Volk  kommt  dabei  nicht  zu  kurz. 
In  Magdeburg  zum  Beispiel  hat  der  reisende  Patriot  die  vernünf- 
tige Einrichtung  getroffen,  daß  vor  dem  Vortrag  > ergebenste  Ein- 
ladungen« verschickt  und  jene  Einwohner,  die  eine  solche  an  der 
Abendkassa  vorweisen,  eines  Rabatts  von  25  Prozent  teilhaftig 
werden.  Eine  Herrn  Harden  feindliche  Zeitung  meint,  er  habe 
sich  vom  ,Simplicissimus'  inspirieren  lassen,  den  er  zwar  nicht  mehr 
ganz  so  gern  sieht  wie  früher,  dessen  Bild  »Komm  mit,  Kleener 
-  ickjebe  Rabattmarken!«  er  aber  unbedingt  gesehen  haben  müsse. 
Mit  Unrecht  erinnert  das  Blatt  an  die  Belagerung  Magdeburgs 
durch  Tilly;  wir  halten  bei  Hütten.  In  einem  Punkte  aber 
hat  jenes  andere  Blatt,  welches  wieder  die  Erfindung  der 
Buchdruckerkunst  auf  Kosten  der  Kultur  überschätzt,  deren 
entschiedenstem  Bahnbrecher  Unrecht  getan.  Es  wäre  ein 
lächerliches  Mißverhältnis,  wenn  Schäbigkeit  der  Ausstattung 
mit  einer  Noblesse  gepaart  wäre,  die  1000  Mark  für  jedes 
Heft  der  ,Zukunft'  an  die  Mitarbeiter  zahlt.  In  welcher 
Welt  lebt  denn  das  »Graphische  Centralblatt',  und  mit  welchen 
Augen  sieht  es,  daß  es  nur  das  holzige  Papier  wahrnimmt  und 
nicht,  womit  es  bedruckt  ist?  Wenn  die  kostenlosen  Vordrucke 
aus  soeben  erscheinenden  Werken  und  die  Selbstanzeigen  der 
Autoren  noch  Raum  für  einen  Originalbeitrag  lassen,  so  gehört 
die  ganze  Fachverlorenheit  eines  graphischen  Blattes  dazu,  zu 
glauben,  daß  für  ein  Heft  der  ,Zukunft'  mehr  als  hundert  Mark  in 
Honoraren  aufgehen.  Es  gibt  kein  zweites  Beispiel  in  der  Publizistik, 
das  cineso  praktikable  Verbindung  wirtschaftlicher  Zurückhaltung  und 
literarischen  Entgegenkommens  vorstellte.  Und  daß  sich  mit  der  Ein- 
richtung der  Selbstanzeigen  auch  noch  andere  Effekte  herausschlagen 
lassen,  hat  Herr  Harden  kürzlich   bewiesen,  als  er  die  Notiz  eines 


16 


Mitarbeiters  der  »Fackel'  brachte,  der  sie  ihm  lange  vor  den 
Sexual-Triumphen  geschickt  hatte.  Allgemein  ist  die  Ansicht  ver- 
breitet, daß  der  Herausgeber  der  ,Zukunft'  heute  für  gute  Namen 
selbst  Honorar  auszuwerfen  bereit  wäre.  Die  Auflage  —  mag  auch 
die  Schätzung  jenes  Fachblattes  übertrieben  sein  —  hat  sich  gewiß 
nicht  verringert.  Aber  ein  Erlebnis,  das  eine  heroische  Natur  um- 
warf, ist  die  Erfahrung,  daß  Enthüllungen  aus  dem  Leben  hoch- 
gestellter Päderasten  bloß  dem  Qeschäft  nützen,  aber  nicht  zu- 
gleich auch  der  Ehre. 


Daß  die  Seele  der  Schauspielerin  ein  Defekt  ihrer  Schönheit 
sei,  diese  Erkenntnis,  die  hier  oft  geformt  wurde,  fliegt  jetzt  der 
deutschen  Theaterkritik  aus  dem  Auslande  zu.  Der  .Frankfurter 
Zeitung'  wird  aus  Italien  geschrieben: 

>Frau  Düse  gehört  der  Vergangenheit  an.  Wenigstens  in  Italien, 
wo  man  wohl  ihr  ungewöhnliches  Talent  zu  schätzen  wußte,  aber  sich 
doch  stets  einen  zu  starken  Sinn  für  die  Form,  die  schöne  Form  be- 
wahrt hat,  um  in  dem  Charakteristischen  ä  tout  prix  je  die  Kunst  zu 
erblicken.  Die  Vorzüge,  die  man  hier  von  jeher  am  höchsten  einschätzte 
und,  wenn  nicht  alles  täuscht  in  nicht  allzu  langer  Zeit  auch  in  Deutsch- 
land wieder  zu  sehen  lernen  wird,  liegen  in  einer  anderen  Richtung, 
als  die  ist,  welche  Eleonora  Duses  unerhörte  Kunst  notgedrungen  ein- 
schlagen mußte.  Eine  sehr  ernste  Bühnenzeitschrift,  die  Maschera,  hat 
vor  kurzem  eine  Rundfrage  erlassen,  deren  Resultat  jetzt  vorliegt.  Eine 
Rundfrage  ist  nun  nicht  gerade  eine  einwandfreie  Sache ;  aber  die  Ant- 
worten sind  doch  für  den  Kenner  interessant  genug.  Die  Leser  hatten 
darüber  abzustimmen,  welche  Schauspielerin  Italiens  ihrer  Meinung  nach 
die  talentvollste,  welche  die  schönste  und  welche  die  eleganteste  sei. 
Schon  die  Fragestellung  ist  delikat  genug.  Das  Resultat  aber  beweist 
eine  überraschende  Höhe  des  Geschmacks.  Die  talentvollste  ist  danach 
Teresa  Mariani,  die  große  Tragödin,  die  in  gewisser  Weise  mit  der  Düse 
verwandt,  weniger  intensiv  als  diese,  aber  um  vieles  anmutiger  und 
frauenhafter,  nie  vergißt,  daß  die  Kunst,  daß  jede  Kunst  symbolischen 
Charakters  ist.  Den  Preis  der  Schönheit  trug  Tina  di  Lorenzo  davon, 
die  auch  in  Deutschland  Bewunderer  besitzt.  Die  eleganteste  ist  nach 
dem  Urteil  der  Leser  der  Maschera  Lida  Borelli.« 

Das  ist  natürlich  Unsinn,  denn  die  talentvollste  ist  immer 
auch  die  schönste  und  eleganteste  und  umgekehrt.  Und  so  richtig 
es  ist,  daß  die  Kunst  der  Düse  eine  notgedrungene  Kunst  ist,  so 
unmöglich  ist  es,  daß  unerhörte  Kunst  je  notgedrungen  sein  kann 
und  umgekehrt.   Immerhin,  es  mehren  sich  die  Zeichen,  daß  mit 


-     17 


der  Seele  aufgeräumt  wird.  Man  ist  irgendwie  unbefriedigt.  Aber 
man  wird  es  bleiben.  Denn  wenn  das  heutige  Leben  den  Frauen 
bloß  eine  Seele  gestattet,  wie  sollte  das  heutige  Theater  ein 
Höheres  bieten? 

Die  empfängliche  Tageskritik,  die  einen  geistigen  Dukaten 
sofort  in  kleine  Münze  umwechselt  und  mit  frischen  Kreuzern  so 
splendid  herumwirft,  daß  man  rein  glaubt,  es  seien  Dukaten, 
geht  jetzt  ernstlich  daran,  vom  Theater  eine  andere  Meinung  zu 
bekommen.  Daß  eine  Schauspielerin,  die  den  Sinnen  nichts  gibt, 
von  der  Seele  beweint  wird,  daß  der  Unsinn  der  Operette  roman- 
tischer Abkunft  sei  und  dem  Gefühl  zuspreche,  wenn  er  dem 
Verstand  widerstrebt,  es  räuspert  sich  und  spuckt  allerorten  nach 
solcher  Erkenntnis.  Die  Forderung  aber,  daß  der  Schauspieler  wieder 
vom  Theater  Besitz  ergreife  und  daß  man  ihn  mit  allen  literari- 
schen Weisungen  ungeschoren  lasse,  finde  ich  in  einem  deutschen 
Tagesblatt  wie  folgt  vertreten: 

Kann  Schauspielkunst  sich  dämonischer  manifestieren,  als  wenn 
sie  durch  schlechte,  unlebendige  Stücke  wie  ein  Strom  braust,  der  von 
den  Quellen  des  Lebens  kommt,  und  totes  Gestein  mit  Blüten  segnet? 
Und  können  wir  die  Sehnsucht,  die  uns  ins  Theater  treibt,  in  ihrer 
Wesenheit  deutlicher  erfüllen,  als  wenn  uns  eine  schöpferische  Kraft 
aus  den  engen  Buchstabenzäunen  und  dumpfen  Wortgebüschen  mittel- 
mäßiger Autoren  plötzlich  hinaushebt  in  reinere,  sonnenhelle  Lande? 
Dann  wissen  wir:  daß  wir  dieses  eine  nur  wünschen  im  letzten,  für 
dies  eine  uns  an  den  Kassen  balgen,  in  unbequemen  Stühlen  klemmen, 
und  unzählbare  Abendstunden  unseres  Lebens  hingeben,  um  dieses 
einzige  Erlebnis  zu  erhaschen,  dieses  Hinausgehobenwerden  .  .  .  Und 
darum  ist  es  gleichgiltig,  wie  die  Stücke  heißen,  in  denen  sie  auftritt, 
ob  sie  dumm  sind  oder  erhaben,  oder  beides  zusammen.  Und  wie  wir 
dem  amusischen  Schauspieler  den  Vorwurf  als  größten  entgegen  werfen, 
daß  er  immer  derselbe  ist  in  allen  Rollen,  so  haben  wir  einer  Persön- 
lichkeit wie  der  ...  .  gegenüber  den  Wunsch,  sie  möge  uns  immer 
als  die  gleiche,  frische,  urtümliche  Natur  erscheinen,  deren  prachtvolle 
Selbstherrlichkeit  wir  nicht  eingeengt  sehen  wollen. 

Das  unterschreibe  ich  ja  alles,  oder  vielmehr,  das  alles 
unterschreibt  mich,  aber  welchem  weiblichen  Girardi  gilt  die  gute 
Anwendung? 

Diese  Frau  revolutioniert  für  ihre  Person  gewissermaßen  die 
Schulgesetze  der  Schauspielkunst  als  dei  proteischen,  und  schmeißt  das 
dramaturgische  Lehrgebäude  pedantischer  Perücken  mit  einem  Anhauch 
ihres  elementaren  Lachens  über  den  Haufen. 


18  - 


Welche  künstlerische  Macht  ist  es,  die  so  alles  Urteil  über 
den  Haufen  wirft,  daß  von  einem  aufnahmsfähigen  Kritiker  nichts 
übrig  bleibt  als  ein  Schmock? 

...Kann  sein,  dies  war  eine  von  den  Halluzinationen,  wie  sie  die 
Götter  denen  zuweilen  senden,  die  ihre  mechanistische  Weltanschauung 
draußen  in  der  Garderobe  zu  lassen  pflegen  und  gläubigen  Herzens  im 
Parkett  sitzen  wie  im  Vorhof  eines  Mysteriums.  Das  aber  will  ich 
gegen  zwanzig  Professoren  der  Philosophie  verteidigen,  daß  ich  nachher 
gesehen  habe,  wie  gegen  das  Finale  des  Stückes  aus  der  Mitte  des 
beglückten  Saales  etwas  wie  ein  Gehäuse  nach  der  Bühne  sich  hin- 
bewegte und,  einem  gläsernen  Sturz  nicht  unähnlich,  sich  um  die 
lächelnde  Frau  schloß.  Und  sie  saß  darin  und  sang  wie  der  Vogel  im 
..iurchen,  der  erlöst  wurde  aus  quälenden  Träumen  .  .  . 

Die  Dame  heißt  Pepi  Glöckner.  Ich  ziehe  alles  zurück. 

* 

In  den  Zeiten  der  lustigen  Witwenpest  war  auch  die  Kinder- 
sterblichkeit groß.  Einige  Wiener  Lehrer  haben  eine  Statistik  des 
Theaterbesuchs  der  Schuljugend  ausgearbeitet.  Die  »Lustige  Witwe« 
wurde  zwar  nicht  so  oft  besucht,  wie  man  vermuten  sollte,  aber 
auch  ohne  unmittelbare  Berührung  ist  die  ansteckende  Wirkung 
nachweisbar.  In  der  Statistik  werden  nämlich  einige  Titelverstüm- 
melungen vermerkt,  die  sich  die  Schüler  geleistet  haben.  Die  trau- 
rigste, deren  Ursprung  die  unkundigen  Lehrer  nicht  ahnen,  ist  das 
Bekenntnis,  die  »Vilja  Hospitalis«  besucht  zu  haben.  So  peinlich 
nun  die  Tatsache  berühren  mag,  daß  ein  junges  Gemüt  so  ver- 
leitet wurde,  noch  gräßlicher  ist  die  Vorstellung,  daß  ein 
junges  Qehirn  eine  beliebige  Filia  in  jene  berüchtigte  Vilja  ver- 
wandelt, die  als  Waldmägdelein  des  Okkupationsgebietes  uns 
Erwachsenen  fünf  Jahre  lang  den  Aufenthalt  in  jedem  NachtcafS 
verleidet  hat. 

* 

Es  kann  eine  Bosheit  sein,  wenn  ein  Blatt  dem  Lokal- 
redakteur eines  andern,  der  nebenbei  auch  Vorträge  über  »Tausend 
und  Eine  Nacht«  hält,  das  Lob  nachsagt,  er  sei  »ein  Pfadfinder 
im  Labyrinthe  orientalischer  Märchendichtung«. 

* 
Wenn  es  in  einem    Dampfbad     hocharistokratisch   zugeht, 
wendet  die  Presse  eine  eigene  Terminologie  an.    Im  Münchner 
Hofbade  haben  sich  ein  paar   Herren   auf  ihre  Weise   vergnügt, 


19  - 


und  ein  Wiener  Blatt  sagt,  daß  ihnen  >der  Boden  unter  den 
Füßen  zu  heiß  wurde«  und  daß  sie  es  deshalb  vorgezogen 
haben,  >den  Staub  Münchens  von  ihren  Schuhen  zu  schütteln<. 
Dampfbad,  heißer  Boden  trotz  Schuhen,  Staub  trotz  Dampf- 
bad .  .  .  man  sieht,  wie  toll  es  in  der  Heißluftkammer  der 
journalistischen  Gehirne  zugeht.  Aber  auch  besseren  Schrift- 
stellern kann  Hitze  zu  Kopf  steigen.  Einer  schreibt  etwa  gegen 
die  »Nacktkultur«:  »Eine  merkwürdige  Zeit,  die  unsrige.  Sie 
schwitzt  Kultur  aus  allen  Poren,  aber  das  erste  dürftige  Kleidungs- 
stück, das  der  Wilde  auzulegen  pflegt,  wenn  er  zum  Bewußtsein 
seiner  Nacktheit  kommt,  möchte  sie  abschaffen.«  Ja,  wie  denn  auch 
nicht?  Wenn  die  Zeit  schwitzt,  ist  es  doch  natürlich,  daß  sie  die 
Kleidung  ablegt. 


Aus  Milwaukee  (Wiskonsin,  U.  S.  A.)  wird  mir  eine  Zeit- 
schrift ,Der  Einsame'  geschickt,  die  unter  allen  in  zehn  Jahren 
entstandenen  und  vergangenen  Nachahmungen  der , Fackel'  die  weit- 
aus sympathischeste  vorstellt.  Daß  sie  ganz  so  unpraktisch  ist,  wie 
das  Original,  beweist  sie  dadurch,  daß  sie  selbst  die  zwanglose  Folge 
und  das  Erscheinen  in  Doppelnummern  nachahmt.  Aber  der 
Spiegel  ihres  Inhalts  läßt  mich  nicht  vor  meinem  Gesicht  erschrecken, 
das  mir  durch  die  antikorruptionistische  Fratze  meines  Wirkens 
hierzulande  verleidet  wurde.  Es  ist  offenbar,  daß  das  Vorbild 
keinen  anderen  Anteil  an  dem  Werke  hat,  als  daß  es  dem  Be- 
dürfnis, sich  selbst  zu  regen,  einen  Stützpunkt  gab,  und  es  scheint, 
daß  das  deutsche  Geistesleben  Nordamerikas  für  solches  Bedürfnis 
Platz  hat.  Zwischen  mancherlei  Beweisen  eines  angestrengten- 
Wollens  bricht  Unmittelbarkeit,  Frische  und  polemische  Jugendlust 
durch.  Über  ein  Interview  einer  Dame  mit  Häckel  (welch  eine 
Welt,  in  der  dergleichen  möglich  ist!)  wird  ganz  Zutreffendes  ge- 
sagt. Mir  ist  diese  Flachsinnsorgie  entgangen  und  darum  zitiere 
ich  gern  -  mit  kleinen  Abschleifungen  - ,  was  die  deutsch-amerika- 
nische Zeitschrift  darüber  sagt.  Einen  Satz,  der  im  Eingang  steht, 
lasse  ich  stehen,  wiewohl  ich  ihn  selbst  in  diesem  Heft  ge- 
schrieben habe.  Ich  habe  ihn  natürlich  früher  geschrieben  als 
gelesen,  und  vielleicht  hatte  ich  ihn  schon  vor  Jahren  geschrieben. 


20  - 


Aber  gerade   dieser  Satz  und  dieses  Zusammentreffen  sind  für  die 
Stilwirkung  der  ,Fackel'  bezeichnend: 

In  der  Rätselecke  des  .Berliner  Tageblattes'  wurden  am  12.  De" 
zember  des  Vorjahres  die  letzten  Probleme  gelöst.  >Im  Häckel'schen 
Hause  in  Jena,  Gespräche  mit  dem  Meister«,  nennt  sich  das  Zwiege- 
spräch, das  eine  geschäftige  Dame,  Fräulein  Else  Roth  von  Otto,  mit 
dem  Aufdecker  der  »Sieben  Welträtsel«  gepflogen  hat  und  dessen  triple 
extrait  sie  in  fast  vier  Spalten  verspritzt.  Sie  begnügt  sich  nicht  mit 
der  bescheidenen  Wallfahrt  zu  Häckels  Hause  in  der  Bergstraße,  nein 
Exzellenz  muß  erscheinen  und  über  die  letzten  Dinge  befriedigenden 
Aufschluß  geben.  Zwar  konstatiert  Frl.  von  Otto  in  selbstentsagendem 
Tone,  daß  sie  sonst  stillschweigend  neben  Häckel  einhergeht  und  nur 
die  Saale  murmelt;  aber  heute  sind  die  Rollen  vertauscht:  Elsa  —  ach, 
n  i  e  sollst  du  mich  befragen !  —  murmelt  geheimnisvoll,  Häckel  ant- 
wortet und  nur  die  Saale  schweigt,  hurtig  die  Wogen  wegwälzend  .  .  . 
die  freundlich-geschäftige  Fragerin  aber  nennt  das  grausame  Spiel  »den 
Kultus  des  Wahren,  Outen  und  Schönen«.  Nachdem  der  Gelehrte  höflich 
konstatiert  hat,  daß  es  zwar  kein  Paradies  im  Jenseits,  aber  ein  solches 
in  Jena  gibt,  geht  sie  sofort  scharf  ins  Zeug  und  fragt  ihn  die  Gewissens- 
frage, wie  er  es  mit  der  Religion  halte,  indem  sie  ihn  um  einen  kurzen 
Leitfaden  über  den  Monismus  als  Band  zwischen  Religion  und  Wissen- 
schaft bittet.  Häckel  —  der,  nebenbei  gesagt,  nie  den  Mut  des  kon- 
sequenten Atheismus  gehabt  hat  und  stets  bemüht  war,  neuen  Sprudel 
in  alte  Schläuche  zu  gießen  —  antwortet,  daß  »bei  folgerichtiger  Auf- 
fassung des  Monismus  tatsächlich  die  beiden  Begriffe  von  Religion 
und  Wissenschaft  zu  einem  verschmelzen.  Schon  Spinoza  und  Goethe 
haben  dieser  klugen  Weltanschauung  Ausdruck  gegeben.  .  .  Schließlich 
wird  sich  niemand  dem  mehr  verschließen  können.«  Aber  Elsa  Roth  von 
Otto  posiert  den  advocatus  diaboli:  »Sind  Exzellenz  davon  wirklich  so 
fest  überzeugt?  Meiner  Ansicht  nach  gehen  wohl  die  meisten  Menschen 
deshalb  in  die  Kirche,  weil  sie  es  von  altersher  so  gewohnt  sind,  der 
Bureaukrat  aber  glaubt  an  den  Kirchenregeln  festhalten  zu  müssen, 
weil  seine  soziale  Stellung  es  verlangt.«  Mit  elastischer  Nachgiebigkeit 
vollzieht  der  Gelehrte  den  Sprung  von  den  letzten  Fragen  der  Philo- 
sophie zur  ersten  Gesellschaft  Berlins,  gibt  mit  hoher  Befriedigung  die 
tiefe  Erkenntnis  kund,  daß  die  Dummen  in  der  Mehrzahl  sind  und  die 
Gescheidten  in  der  Minderzahl,  spricht  aber  doch  schließlich  seine 
Hochachtung  aus  für  die  heutige  Menschheit,  die  sich  durch  eine  ein- 
heitliche Weltanschauung  auf  eine  höhere  Stufe  —  der  Erkenntnis,  des 
Wissens?  —  nein,  der  Vollendung  erheben  wird.  Hier  kann  Frl.  von 
Otto  es  sich  nicht  verbeißen,  einzuschalten,  daß  der  eigentliche  Reiz, 
den  Häckel  auf  seine  Umgebung  ausübt,  darin  besteht,  die  verschiedensten 
Fragen  geistreich  zu  behandeln,  ohne  langweilig  zu  werden.  Aber 
eine  Dame  fragt  mehr,  als  hundert  Geistreiche  beantworten  können. 
»Glauben  Sie  nicht  auch,  Exzellenz,  daß  jedes  einzelne  Individuum  mit 
seinem  Gemütsleben  der  Religion  anders  gegenübersteht?«  »Gewiß«, 
sagt  Häckel  ernst;  und  er  setzt  ihr  auseinander,    daß  die  verschiedenen 


21    — 


Religionen  »den  Menschen  in  die  Poesie  einer  höheren  idealen  Welt 
versetzen  sollen.«  (In  unserer  Philisterwelt  ist  bekanntlich  alles  zu  einem 
bestimmten  Sollen  da.)  »Aber  der  wirklich  moderne  Mensch  findet  nur 
in  der  freien  Natur  das  wirklich  Gute,  Wahre  und  Schöne.«  Frl.  von 
Otto  nennt  dies  einen  »bedeutenden  geistigen  Standpunkt«  und  konstatiert 
bedauernd,  daß  nicht  alle  Menschen  auf  demselben  stehen.  »Viele  be- 
dürfen der  Kirche,  sie  ist  das  Rückgrat,  das  ihnen  einen  Halt  gibt.» 
Darauf  Häckel:  »Das  verstehe  ich  nicht!«  (Das  bezieht  sich  natürlich  auf 
die  Sache  und  nicht  auf  die  kristallklaren,  fein  zugespitzten  Apercus  der 
scharfen  Dialektikerin.)  Und  er  stellt  fest,  daß  die  Wahrheit  nur  von  der 
Wissenschaft  gelehrt  wird,  »Und  wer  Wissenschaft  und  Kunst  besitzt, 
hat  damit  auch  einen  Ersatz  für  den  streng  orthodoxen  Kirchenglauben 
gefunden.«  —  Was  ist  Wahrheit!  sagt  Pilatus,  aber  Frl.  von  Otto  klappt 
behende  das  Hörrohr  zu  und  das  Sprachrohr  auf;  mit  echt  weiblicher 
Verdrehung  des  Streitgegenstandes  sagt  sie:  »Aber  die  Kirche  will 
doch  keinerlei  wissenschaftliche  Aufklärung  anerkennen«.  Dies  gibt 
Häckel  zu  und  mit  vereinigten  Kräften  wird  in  wenigen  Zeilen  der 
Widerspruch  zwischen  Kants  reiner  und  praktischer  Vernunft  aufgedeckt 
und  nochmals  vernichtet,  sozusagen  mit  zwei  Tritten  ins  Leere;  denn 
Häckel  konstatiert  selbst,  »daß  der  offenkundige  Gegensatz  der  beiden 
Vernünfte  schon  im  Anfange  des  IQ.  Jahrhunderts  erkannt  und  widerlegt 
wurde.«  Jetzt  aber  wird  es  fürchterlich,  denn  Frl.  von  Otto  ist  nicht 
mehr  zu  halten.  Sie  erzählt,  daß  der  Deutsche  Monistenbund  eifrig  be- 
müht ist,  der  neuen  monistischen  Ethik  die  größte  Verbreitung  zu 
sichern ;  fragt,  ob  man  die  christüichen  und  israelitischen  Sagen  nicht 
als  Dichtungen  lehren  könnte;  konstatiert,  daß  dies  auch  für  die  Kinder 
vorteilhaft  wäre  und  das  Substanzproblem  noch  nicht  gelöst  ist  —  was 
Häckel  »lachend«  zugibt  —  und  fragt  »gespannt«,  wie  eigentlich  die 
Aktien  des  Vereines  zur  Zertrümmerung  der  alten  Weltanschauung 
stehen  ....  Wer  für  Häckels  Wirken  jenen  Respekt  hat,  den  das  Schaffen 
dieses  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiete  Großen  hervorrufen  muß,  der 
hat  es  wohl  schon  schmerzlich  empfunden,  daß  er  in  pseudophilosophi- 
schen Werken  am  Schleier  der  Maja  herumzupft,  ohne  ihn  auch  nur 
um  Millimeterbreite  zu  lüften.  Aber  wer  es  lesen  muß,  wie  dieser  Ge- 
lehrte in  Interviews  mit  geschäftigen  Damen  ä  la  Suttner  mit  billigen 
Redensarten  herumwirft,  kaum  gut  genug,  um  in  populären  Vorträgen 
vorgebracht  zu  werden;  und  wer  diese  Brocken,  halbverdaut,  wieder- 
findet in  deutschen  Blättern,  die  vom  intelligenteren  Teil  der  Bevölkerung 
gelesen  werden,  der  wird  solchem  billigen  Zeugs  gegenüber  —  und 
wäre  er  überzeugter  Atheist  -  kaum  die  Meinung  unterdrücken  können: 
Wenn  Gott  nicht  existierte,  man  müßte  ihn  erfinden! 


In  dem  entzuckenden  Buche  »Lichtenbergs  Mädchen« 
(Verlag  der  .Süddeutschen  Monatshefte'),  das  die  Korrespondenz 
mit  Hofrat  Meister   (herausgegeben  von  Erich  Ebstein)    und    das 


22  — 


Faksimile  eines  Gedichtes  bringt  und  das  gewiß  weniger  Deutsche 
gelesen  haben  als  den  Briefwechsel  von  Moritz  und  Rina,  finde 
ich  einen  Brief,  dessen  satirische  Meinung  von  stärkstem  Interesse 
für  das  heutige  Wien  sein  müßte.  Sie  trifft  die  schnöden  Umbau- 
meister  unserer  Stadt  und  befaßt  sich  mit  jener  Architektonik  des 
Überflüssigen  ganz  und  gar  in  dem  Sinne,  in  welchem  heute 
Adolf  Loos  dem  herrschenden  Geschmack  die  Indianerfreude  an 
dem  Ornament  nachweist.  Lichtenbergs  Vorliebe  für  den  engli- 
schen Stil  des  Lebens  verleugnet  sich  hier  nicht: 

»Ew.  Wohlgeb.  sende  ich  hierbey  die  vorgestreckten 
Bücher  rr.it  gehorsamsten  Dank  wieder  zurück.  HE.  Prof. 
Feder,  der  ein  sehr  vertrauter  Freund  des  Ob(er)  Commiss(är) 
Maynberg  ist,  soll  gelegentlich  einmal  meine  Meinung 
über  die  Schönheit  eines  Stadtthors  vernehmen,  und  ob 
ich  gleich  mehrere  schöne  Thore  gesehen,  auch  selbst  dem 
Bau  zweyer  beygewohnt  habe,  die  ebenfalls  mehr  gegen  die 
Feinde  der  Licent-Casse  als  des  Vaterlands  angelegt  worden  sind, 
so  wolte  ich  doch  gern  meine  dunckeln,  oder  höchstens  klaren 
Ideen  ein  bisgen  aus  Büchern  deutlich  machen,  und  diesen  Zweck 
habe  ich  durch  Ihre  Gütigkeit,  so  viel  als  nöthig  erreicht.  Nur 
Schade,  ich  hatte  mich  auf  eine  Rede  geschickt,  die  ich,  wies  zum 
Knoten  kam,  nicht  halten  konnte.  Nemlich  die  Göttingischen 
Thore,  (auf  diese  nemlich  war  es  angesehen),  sollen  keine  Bogen 
und  kein  anderes  Gewölbe  haben,  als  den  blauen  Himmel.  Bey 
solchen  Vorschlägen  weint  freylich  die  architectonische  Muse  und 
überträgt  die  Sache  dem  Mauermeister.  Alles,  was  ich  bey  der 
Sache  gethan  habe,  war  zu  verhindern,  daß  keine  Würfel  auf  die 
Spitze  gestellt  wurden,  daß  keine  Ananas  auf  den  Thorpfosten 
einer  Stadt  blühen  mögten,  wo  die  Cartoffeln  kaum  in  der  Erde 
gerathen.  Auch  den  Artischocken  habe  ich  mich  widersezt  und 
eben  so  den  Urnen  und  Blumentöpfen,  wo  dagegen  gerathen, 
daß  man  ja  Blumentöpfe  da  haben  wolte,  man  lieber  gelben  Lack 
und  die  Viola  matronalis  in  Natura  hinstellen  mögte,  als  die 
Bildung  derselben  unsern  Künstlern  überlassen,  die  ihren  Stil  an 
den  Fußbänken  verdorben  und  sich  daher  selten  über  6  Zolle  über  die 
Gosse  erhöben.  Es  werden  also  wohl  der  Stadt  Leu  und  der  Lüneburg- 
ische Hengst  und  zwar  von  HE.  Nahl  in  Cassel  gearb(eitet)  sich 
einander  Wappen    weisen    und    Gesichter  schneiden,   und  jeder 


28  — 


Pfosten  soll  aus  gekuppelten  Dorischen  Pfeilern  bestehen,  just 
stark  genug,  um  den  blauen  Himmel  zu  tragen.  Ich  hatte  einen 
Plan  im  Kopf,  der  würklich,  recht  wenig  zu  sagen,  von  der  Art 
war,  von  denen  man  zu  sagen  pflegt,  daß  sie  sich  gewaschen 
hätten.  Das  Thor  sollte  einen  Fronton  erhalten,  auf  dessen  schar- 
fer Kante  ich  einen  Globum  coelestem  und  eine  Punsch  Bowle 
nach  Art  der  Würfel  balancieren  wolte,  um  sie  sollte  ein  Krantz 
aus  Coquarden,  Zwieback  und  Rosen  nebst  Citronen  Schaale 
Bändern  geschlungen  seyn  mit  der  Ueberschrift  Omnibus  idem. 
Zwischen  die  Triglyphen  hatte  ich  in  die  Quadrate  Mettwürste, 
ebenfalls  Zwiebäcke  in  Pythagorischen  Triangeln  nebst  Pottkuchen 
gestellt.  In  den  Fronton  nach  dem  Felde  solte  Kulenkamps  Sil- 
houette mit  dem  Matrikulwerk  aufgeschlagen  und  der  deutlichen 
Zahl  999  und  der  Unterschrift  kommt  her  zu  mir  zu  stehen 
kommen;  nach  der  Stadt  zu  solten  Stocks  und  Maynbergs  Sil- 
houette gestellt  wtrden  mit  der  Unterschrift  Stocklo  et  Maynbergio 
in  Philistaea  Leinana  conss.  Im  Schlußstein  nach  dem  Feld  hätte 
ich  eine  Fuchsfalle  abgebildet,  auf  dem  andern  aber  gegen  die 
Stadt  einen  Fuchs  im  Taubenhaus,  oder  auch  den  Storch,  wo  er 
den  Fuchs  auf  eine  Flasche  Milch  invitiert,  in  die  er  mit  seinem 
dicken  Maul  nicht  hineinkann,  oder  so  etwas.  Sagen  Sie  selbst, 
liebster  HE.  Professor,  ob  es  nicht  schändlich  ist,  in  diesen  Tagen 
des  dringenden  Genies  solche  Sachen  zu  unterdrücken,  ja  ich 
habe  sogar  gedacht,  ob  man  nicht  selbst  dem  Orönder  und  Ween- 
der  Thor  Flügeln  das  Ansehen  von  einer  Fuchsfalle  hätte  geben 
sollen,  um  einen  zudringlichen  Postwagen  nicht  sowohl  auszu- 
schließen, als  vielmehr  zu  fernerer  Behandlung  einzuklemmen. 
Allein  nun  Schertz  bey  Seite,  und  (den  Dank  zu  Anfang 
allein  ausgenommen)  zur  eigentlichen  Absicht  meines  Briefs « 


Da  in  den  nächsten  Tagen  mein  Aphorismenbuch  er- 
scheinen wird,  dessen  Durcharbeitung  und  Komposition  jene 
Plage  war,  deren  Wohltat  das  Erscheinen  leider  ein  Ende  setzt, 
so  fühle  ich  mich  gedrängt,  den  Freunden  zu  danken,  die  mir 
als  erste,  wertvollste  Leser  und  Hörer  durch  Urteil,  Rat  und  vielfache 


^  24  — 


Unterstützung  in  den  Korrekturen  beigestanden  sind:  den  —  in 
alphabetischer  Folge  genannten  —  Herren  Karl  Hauer  in  München, 
Ludwig  R.  v.  Janikowski  und  Otto  Stoessl  in  Wien.  Das  Buch 
»Sprüche  und  Widersprüche«  erscheint  zunächst  außerhalb  der 
Reihe  meiner  Ausgewählten  Schriften,  in  die  ich  es  gemäß  einer 
Vereinbarung  mit  dem  Verleger  erst  nach  fünf  Jahren  aufnehmen 
kann.  Die  Arbeit  an  dem  Bande  >Kultur  und  Presse«  (I.  Teil),  die 
ich  lange  aussetzen  mußte,  wird  hoffentlich  In  diesem  Frühjahr 
beendet  sein. 


Das  älteste  Wort  sei  fremd  in  der  Nähe,  neu- 
geboren und  mache  Zweifel,  ob  es  lebe.  Dann  lebt 
es.  Man  hört  das  Herz  der  Sprache  klopfen. 


Ein  Paradoxon  entsteht,  wenn  eine  frühreife  Er- 
kenntnis mit  dem  Blödsinn  ihrer  Zeit  zusammenprallt. 


Ei  sieh,  der  Verwaltungsrat  der  Kretinose- 
Aktiengesellschaft  und  der  Direktor  der  vereinigten 
Banalitätswerke ! 

Er  starb,  von  der  Äskulapschlange  gebissen. 


Bevor  man  das  Leben  über  sich  ergehen  läßt, 
sollte  man  sich  narkotisieren  lassen. 

Karl  Kraus. 


Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Kraut. 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamisciraße  3. 


N  DEN  NÄCHSTEN  TAGEN 


GELANGT  ZUR  AUSGABE: 


KARL  KRAVS 
SPRVECHE 
VND  WIDE 
SPRVECHE 


Verlag  ALBERT  LANGEN  München 


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versendet  Zeitungsausschnitte  über  jedes  gewünschte  Thema.Man  verlange  Prospekte. 

DIE    F  A  C  K  B  I> 

Herausgeber:   KARL  KRAUS. 
erscheint  in  zwar  ifange  von  16—32  Seil 

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sondern     auf     eine     bestimmte    Anzahl    von    Nummern. 

Verlag:  Wien,  III.,  Hintere  Zollamtsstraße  Nr.  3. 

ichland : 

VERLAGSGESELLSCHAFT  MÜNCHEN  G.  m.  b.  H. 

München,  Franz  Josefstraße  9. 


Inhalt  der  vorigen  Doppel-Nummer  272—273,  15.  Fe- 

a.  Von  Karl  Kram     —    Das  Ehrenkreuz.  Von  Karl 
Mi?.  —   Kunst  und  Motal.  n    Oskar    Wi 

■  Karl  Kraus  I.  VonOttoSto  Eine 

Schrift    Von  Elisabeth  che.     -     Sprüche 

liehe.  Von  Karl  Kraus. 

SUBSKRIPTIONS-EINLflDUNG. 

flb  Ende  März  erscheint  bei  der  unterzeichneten  Verlagsgesellschaft  ein  aus 
zwölf  Kunstblattern   erotischen    Charakters  bestehendes  Mappenwerk 
„DER    PHÖNIX".    Die    zwölf    Ein/elkunstblätter   stammen    von     den 
folgenden  Künstlern: 
Th.  Th.  Heine  (München)  Pascin  (Paris) 

Konstantin  Somoff  'St.  Petersburg)    fllbert  Weisgerber  (München) 
Yasuda   Minori  (Tokio)  Willi  Geiger  (München) 

Karl   Arnold    (München)  G.  J  agerspacher  (München) 

Heinrich  Kley  (Karlsruhe)  Luis  Vesco  (Salzburg) 

Otto  Kopp  (München)  Hubert  Wilm   (München) 

Das  Werk  erscheint  in  6  Lieferungen,  die  einander  In  monatlichen  ftbständer 
folgen.   Alles   Nähere  über  Bezugsbedingungen   etc.  enthält  ein  aus- 
führ!icherProspekt,der  auf,Verlangen  umsonstu.  portofrei  zugesandt  wird. 

München,  Verlagsgesellschaft  Münch< 

Franz  Josefstraße  9/0.  G.  m.  b.  H. 


Doppel  Nummer  (Preis  eo  Heiler) 

Kr.  275 — 276.       22.  März  1909  X.  Juhi 


Die  Fackel 

Herausgeber: 

KARL  KRAUS 


INHALT: 

Die  Hundsgrotte.  Von  Karl  Kraus.  —  Mittel- 
schule. Von  Otto  Soyka.  —  Literatur.  Von 
Karl  Kraus.  —  Erotische  Krisen.  Von  Paul 
Barchan.  —  Glossen.  —  Sprüche  und  Wider- 
sprüche. Von  Karl  Kraus.  —  Pascin.  Von  Karl 
Borromaeus  Heinrich.  —  Der  Fortschritt.  Von 
Karl  Kraus. 


Erscheint  in   zwangloser   Folge. 


Nachdruck  und  gewerbsmäßiges  Verleiben  verboten ;  gerichtliche 
▼erfolgung  vorbehalten. 


WIEN. 


SOEBEN  ERSCHIENEN: 


KARL  KRAVS 
SPRVECHE 

VND  WIDER- 
SPRVECHE 


Verlag  ALBERT  LANGEN  München 

DURCH  ALLE  BÜCHHANDLUNGEN  ODER  DIREKT  VOM  VERLAG  ZU  BEZIEHEN. 


Die  Fackel 

Nr.  275-76  22.  MÄRZ  1909  X.JAHR 


Die  Hundsgrotte. 

»Ein  Ort  verborgen  unter  faulem  Nebel, 
Von  Sümpfen,  die  herquellen  vom  Cocytus, 
Aushaucht  er  lauter  heiße  gift'ge  Dämpfe. 
Es  kann   Autumnus    keine  goldnen  Früchte 
Hintragen,  und  der  Frühling  keine  Blumen 
Und  keine  blühnden  Zweige  voll  von  Sängern 
Der  süßen  Liebe,  keine  Nachtigallen. 
Hier  wohnt  das  alte  Chaos  .  .  .« 

Petronius. 

Es  ist  unmöglich,  der  Justiz  Unrecht  zu 
tun.  Aus  dem  flüchtigsten  und  entstelltesten  Gerichts- 
saalbericht gewinnt  man  das  richtige  Bild  einer 
Verhandlung.  Es  mag  der  Fall  sein,  daß  kein  Wort 
so  gesprochen  wurde,  wie  es  der  Bericht  wiedergibt: 
die  Justiz  würde  den  schärfsten  Haß  schon  darum 
verdienen,  weil  sie  selbst  die  Wahrheit  hinter  die 
Reklame  stellt  und  ihr  der  Respekt  vor  der  Tages- 
presse den  Willen  lähmt,  falsche  Tatsachen  durch 
eine  Berichtigung  aus  der  Welt  zu  schaffen.  Die 
polemische  Betrachtung  aber,  die  sich  mit  den  Ver- 
brechen der  Justiz  befaßt,  stützt  sich  mit  Recht  auf 
das  Material  der  Reportage,  nicht  nur  weil  die  Un- 
widersprochenheit für  die  Wahrheit  zeugt,  sondern 
weil  sie  auch  für  eine  Gesinnung  zeugt,  der  noch 
schlimmere  Wahrheit  zuzutrauen  wäre.  Mein  an- 
klägerisches Gewissen  bliebe  ruhig,  wenn  sich  heraus- 
stellte, daß  das  wahre  Bild  der  Sexualjustiz  sich 
nicht  völlig  mit  jenem  deckt,  das  ich  mir  aus 
den  unwiderlegten  Schändlichkeiten  des  Tages  kom- 
poniert habe.  Ich  wüßte,  daß  es  noch  häßlicher  ist.  Bei 
diesem  täglichen  Koi  flikt  zwischen  dem  Leben  und 
der  Borniertheit  ist  die  Unfähigkeit  der  Bericht- 
erstattung eher  ein  versöhnendes  Element.  Ob  sie 
will  oder  nicht,  ob  sie  kann  oder  versagt,  eine  Hand- 


voll  Unmenschlichkeit  holt  sie  aus  diesem  Inferno 
doch  hervor.  Wer  nur  mit  halbem  Ohr  hinhört,  hört 
genug,  und  wer  mit  einem  Stockschnupfen  in  ein 
Gerichtszimmer  tritt,  kriegt  dennoch  eine  Nase  voll 
jener  Gerüche,  die  ein  lebensfeindlicher  Geist  an  einen 
Ort  gebannt  hat,  damit  in  dieser  pflichtenvollen  Welt 
wenigstens    die  Pflicht  zu  stinken  erfüllt  werde. 

In  der  Nähe  von  Bajä  ist  eine  Grotte,  in 
der  giftige  Gase  aufsteigen.  Zur  Ergötzung  der 
Reisenden  wurde  dort  gezeigt,  wie  weit  ein  Hund 
hineingeführt  werden  könne,  bis  er  ohnmächtig 
wird;  denn  die  deutschen  Reisenden  sind  wider- 
standsfähig und  opfern  dem  Genuß  einer  Sehens- 
würdigkeit gern  die  Gesundheit  eines  Hundes. 
Die  grausame  italienische  Regierung  aber  entzog  der 
heimischen  Bevölkerung  eine  Einnahmsquelle  und 
verbot  das  Tierexperiment.  Die  Einrichtungen  der 
Staaten  nun  sind  wie  Sehenswürdigkeiten,  die  der 
Neugierde  höherer  Wesen  dienen,  und  diesen  über- 
weltlichen Reisenden  ist  das  Vergnügen  bis  heute 
nicht  geschmälert  worden,  zu  sehen,  wie  weitMenschen 
in  die  Hundsgrotte  der  Justiz  geführt  werden  müssen, 
um  nicht  mehr  atmen  zu  können. 

Sagt  mir  nun  einer,  so  und  so  hätte  sich 
der  Vorgang  nicht  abgespielt,  so  antworte  ich,  daß 
die  Nachricht  von  einem  Sterbefall  noch  so  über- 
trieben sein  könne,  sie  sei  noch  immer  nicht  über- 
trieben genug,  solange  sie  vom  Tod  bestätigt 
wird.  Die  Lobredner  unserer  Justiz  haben  eine  fatale 
Ähnlichkeit  mit  jenem  Tröster,  der  auf  die  Klage 
einer  Witwe,  ihr  Seliger  habe  an  einer  schweren 
Lungenentzündung  gelitten,  die  beruhigenden  Worte 
findet,  es  werde  hoffentlich  nicht  so  schlimm  gewesen 
sein.  Was  die  Gerichtssaalberichte  melden,  hat  sich 
möglicherweise  nicht  immer  so  schlimm  zugetragen, 
aber  anders  und  schlimmer.  Die  Verkürzung,  in  der  der 
Bericht  ein  Bild  der  Verhandlung  gibt,  ist  sein  Fehler 
und  Vorzug.  Sein  Fehler,  weil  die  Kürze  von  hundert 
Angriffen  gegen  Menschengefühl  und  Takt  kaum  fünf 


—  3     — 

berücksichtigt  und  an  diesen  möglicherweise  durch 
Unterstreichung  einbringt,  was  sie  an  der  Fülle  ver- 
säumt hat ;  weil  sie  den  perspektivenlosen  Leser  nicht 
allein  in  den  Glauben  versetzt,  dieser  Text  sei  der 
Wortlaut,  sondern  er  sei  der  Inhalt  einer  fünfstündigen 
Verhandlung.  Die  Verkürzung  ist  aber  wieder  ein 
Vorzug,  indem  die  Unperspektive  der  Darstellung 
der  passende  Ausdruck  der  Unperspektive  ist,  in 
der  die  Justiz  das  verhandelte  Stück  Leben  sieht. 
Für  den  Schall  der  Lebensfremdheit  hat  gerade 
die  Dummheit  das  beste  Ohr,  und  so  unwahr  sie 
sein  mögen,  so  wahrscheinlich  klingen  diese  lächer- 
lichen Bemerkungen,  die  tagtäglich  den  überlegenen 
Verhandlungsleitern,  den  neugierigen  Votanten  und 
don  achselzuckenden  Anklägern  in  den  Mund  gelegt 
werden.  Ich  habe  um  zweifacher  Kontrolle  willen 
vielen  Verhandlungen  beigewohnt;  und  ich  muß 
bekennen,  daß  mein  allzuscharfes  Gehör  mir  eine  Fülle 
von  Eindrücken  gab,  aber  kein  Bild  sich  entwickeln 
ließ,  und  daß  ich  dieses  erst  in  den  ungenauen  Be- 
richten fand,  die  ich  am  andern  Tage  zu  Gesicht  bekam. 
Kein  besserer  Abdruck  einer  geistlosen  Willkür 
wäre  herstellbar,  und  er  reicht  fast  an  die  Wahr- 
heit jenes  Berichtes  heran,  den  ich  im  Voraus 
über  jede  Verhandlung  vor  einem  Sexualsenat 
verfassen  könnte.  Denn  er  gibt  nicht  bloß 
eine  Vorstellung  von  der  Geraütsbeschaffenheit  der 
Menschen,  die  über  Menschen  richten,  von  einem 
Zustand,  der  Zweifel  macht,  ob  diese  Praxis  schlechter 
sei  oder  diese  Gesetzlichkeit.  Er  stellt  auch 
wieder  das  Gleichgewicht  her  zwischen  einem  gegen- 
wärtigen Jammer  und  der  Aussichtslosigkeit  aller 
Reformen.  Denn  er  vermag  in  zehn  abgerissenen 
Sätzen  eines  Zeugenverhörs  das  Bild  einer  mensch- 
lichen Gesellschaft  zu  zeichnen,  zu  deren  Lumpenhülle 
eine  gefl'.ckte  Justiz  ganz  so  gehört,  wie  zu  dieser 
eine  schleißige  Presse.  Wenn  in  einem  Bericht  von 
zehn  Zeilen  die  gegenseitige  Zufriedenheit,  die  diese 
Institutionen    am    Leben    erhält,    und    weiter  nichts 


zum  Ausdruck  kommt,  dann  sagt  er  die  Wahrheit. 
Der  Bericht  über  die  Verhandlung  gegen  die 
»Hochstaplerin  Berta  Hannemann«  soll  nicht  zeigen, 
daß  die  Merkmale  des  Betruges  auf  die  Tat  der 
Angeklagten  passen,  sondern  er  soll  zeigen,  daß  die 
Merkmale  des  Betruges  auf  eine  Weltordnung 
passen,  die  ein  schönes  Weib  unter  der  falschen  Vor- 
spiegelung des  Paradieses  durch  die  Syphilis  in  den 
Kerker  lockt. 

Daß  sie  sich  in  der  Notwehr  so  weit  vergißt, 
von  der  deutschen  Botschaft  23  Kronen  und  von  einem 
Oberleutnant  30  Kronen  als  Vorschuß  für  eine  Reise 
zu  verlangen,  die  sie  nicht  antritt,  das  bedeutet 
gegen  den  Schwindel,  den  ihr  die  Welt  vorgemacht 
hat,  nichts,  weniger  als  nichts,  aber  immerhin  sechs 
Monate  Kerker.  Sie  war  einst  ein  vielumgeiltes 
Theaterweib  und  zwischen  Petersburg  und  Buenos- 
Ayres  warteten  viele  Botschafter,  Oberleutnants  und 
Staatsanwälte  auf  den  Schluß  der  Vorstellung.  Will 
es  der  Zufall  und  ein  Bankier  steckt  sie  an.  Sie 
verliert  ihre  Stimme,  sie  verliert  ihr  Engagement,  und 
die  Vertreter  der  sittlichen  Ordnung  warten  jetzt 
nur  mehr  auf  das  Ende  ihrer  Schönheit.  Sie  können 
es  gar  nicht  erwarten,  und  bald  werden  dieser  auf- 
geregten Spannung  die  Gerichtssaalreporter  gerecht. 
»Ihr  feingeschnittenes  Profil,  die  funkelnden  schwarzen 
Augen«,  meint  der  eine,  >lassen  trotz  der  Zerstörung, 
die  Ausschweifung  und  Trunksucht  in  ihren  Zügen 
angerichtet,  die  Spuren  einstiger  Schönheit  erkennen«. 
Oh,  frohlockt  ein  anderer,  >in  einem  verwaschenen 
alten  Kattunkleid,  das  Gesicht  verblüht  und  gelb«  steht 
sie  heute  vor  dem  Erkenntnisgericht.  Spuren  einstiger 
Schönheit?,  beruhigt  der  Vertreter  eines  gewissen 
Lippowitz  jenen  Bankier,  der  den  Grund  zu  ihrer  zwei- 
ten Karriere  gelegt  und  ihr  eine  Sinekure  für  ein  soli- 
deres Leben  verschafft  hat:  »die  Angeklagte  ist  heute 
eine  trotz  ihrer  fünfunddreißig  Jahre  schon  sehr  ältlich 
aussehende  Frau«.  »Jugend  und  Schönheit,  mit  denen 
sie   bestach,    sind   dahin«,   triumphiert   der  Vertreter 


6    — 


eines  antikorruptionistischen  Blattes,  >und  es  ist  nicht 
mehr  die  sieghafte  Verve,  mit  der  sie  spielend  leicht 
ihre  Opfer  fand«.  Er  würde  sich  am  Ende  getrauen, 
ähnliches  auch  jenem  Bankier  nachzusagen,  wenn 
er  wüßte,  wo  er  wohnt.  Immerhin  ist  es  tröstlich, 
aus  einem  unabhängigen  Blatte  zu  erfahren,  daß 
»eine  schwere,  jahrealte  Erkrankung  des  Blutes  die 
Elastizität  der  Angeklagten  vernichtet  hat«.  Da  man 
aber  noch  immer  nicht  ganz  sicher  ist  und  auch 
Männer  zu  Falle  kommen  könnten,  die  den  Spuren 
einstiger  Schönheit  errötend  folgen,  so  erklärt  der 
Staatsanwalt  Budinsky,  man  müsse  eine  so  gefährliche 
Person  unschädlich  machen,  und  beantragt  die  Abgabe 
an  eine  Zwangsarbeitsanstait.  Der  Gerichtshof  schließt 
sich  der  Ansicht  der  Reporter  an,  beruhigt  sich  dabei, 
daß  sie  ohnedies  schon  verwese,  und  läßt  es  beim 
Rade  bewenden  .  .  . 

Nichts  vermöchte  das  Verhältnis  der  Justiz  zum 
Leben  besser  auszudrücken,  als  die  Erstarrung  des 
journalistischen  Wortes  zum  Klischee.  Paragraphe  und 
Phrasen  werden  mit  einer  Materie  fertig,  an  der 
Kunst  und  Psychologie  stümpern.  Das  Handwerk 
schöpft  einen  Ozean  aus,  und  es  bleibt  der  »Sumpf 
der  Großstadt«.  Irgendwo  haben  Freude  und  Jammer 
zu  laute  Zwiesprache  geführt:  »Wieder  eine  Laster- 
höhle ausgehoben.«  Zwischen  Strafregister  und  Spitz- 
marke fristen  die  Triebe  ihr  Dasein.  »Dann  begann 
sie  ihre  Laufbahn  als  Kurtisane  und  Betrügerin.«  Als 
Vorsatz  glaubt  man  es  nicht  einmal  der  Justiz  oder 
der  Presse,  aber  von  einer  Frau  muß  es  unbedingt 
gelten.  Denn  sie  rühmte  sich  hoher  Bekanntschaften 
und  »will  sogar  vorübergehend  die  Geliebte  des  serbi- 
schen Kronprinzen  gewesen  sein«.  Man  denke  1  Und 
selbst  dem  sozialdemokratischen  Berichterstatter 
kommt  die  Sache  nicht  geheuer  vor,  da  jener 
Kronprinz  »jetzt  mit  anderen  Dingen  beschäftigt« 
sei.  Man  spürt  deutlich,  daß  an  dieser  Stelle  des 
Berichtes  nur  durch  einen  Zufall  die  Paranthese 
»Bewegung«      ausgelassen      wurde.      Denn     nichts 


—    6 


setzt  die  Kostgänger  der  Strafjustiz  mehr  in 
Erstaunen,  als  daß  die  geschlechtlichen  Beziehungen 
weiblicher  Angeklagten  in  Sphären  reichen  sollen, 
die  ihrer  Kontrolle  entrückt  sind.  Daß  die  De- 
linquentin »den  im  hiesigen  Landesgericht  in  Unter- 
suchungshaft befindlichen  Pfandscheinschwindler  B. 
zur  Heirat  zu  bewegen  suchtet,  scheint  allen  plau- 
sibel, aber  ein  außerehelicher  Verkehr  mit  dem 
serbischen  Kronprinzen  —  darüber  kommt  kein  Votant 
hinweg.  Man  kann  es  als  ein  wahres  Glück  bezeichnen, 
daß  nicht  alle  Frauenzimmer,  die  von  den  Obreno- 
vitsch  und  Karageorgevitsch  um  den  Schandlohn  ge- 
prellt wurden,  gezwungen  waren,  die  deutsche  Bot- 
schaft zu  betrügen,  es  wäre  sonst  des  Staunens  in 
den  Wiener  Gerichtssälen  kein  Ende.  Solch  eine 
Abenteurerin  richtet  genug  Schaden  an,  wenn  sie  in 
die  bürgerliche  Gesellschaft  einbricht  und  für  die  Er- 
regung eines  flüchtigen  Sinnenkitzels  eine  Vermögens- 
leistung begehrt.  Noch  schlimmeren  Schaden,  wenn 
sie  nicht  einmal  bietet,  wofür  sie  im  Voraus  Geld 
empfangen  hat.  Ein  Opfer  meldet  sich  nach  dem  andern, 
sie  alle  haben  annonciert,  daß  sie  eine  Maitresse 
brauchen,  die  Angeklagte  hat  Reisevorschuß  be- 
kommen und  sich  damit  begnügt,  aufregende  Briefe 
zu  schreiben.  Die  Angeklagte  sagt  zu  ihrer  Verant- 
wortung, sie  habe  tatsächlich  die  Absicht  gehabt,  die 
Prostitutionsverträge  zu  erfüllen.  Das  Gericht  aber 
weist  ihr  nach,  daß  sie  auch  dann  sich  eines  Betruges 
schuldig  gemacht  hätte.  Denn  sie  >gab  an,  sie  besitze 
eine  tadellose  Vergangenheit,  ein  sehr  gutes  Herz, 
offenen  und  ehrlichen  Charakter«.  Ist  das  wahr, 
Berta  Hannemann  ?  In  einem  zweiten  Brief  schrieb  sie 
wieder,  »sie  besitze  nichts  als  ihre  Jugend  und  Schön- 
heit«. Herzeigen  1  Aber  selbst  wenn  es  wahr  ist,  über 
den  Widerspruch  der  beiden  Behauptungen  kommt 
kein  Votant  hinweg.  Es  kamen  auch  Briefe  aus  der 
Liebeskorrespondenz  der  Angeklagten  zur  Verlesung, 
in  denen  sie  angab,  »daß  sie  noch  kein  Mann  be- 
rührt   habe«.   Nun,    der   Gerichtshof  nimmt  die  Un- 


Wahrheit  dieser  Behauptung  als  notorisch  an.  Man 
kennt  diese  Sorte  von  Schwindlerinnen;  es  ist  die 
weitaus  gefährlichste.  Und  es  ist  jener  Betrug,  den 
die  Männer  am  schwersten  verzeihen,  und  wenn  der 
Staatsanwalt  ihn  auch  nicht  anklagen  kann,  als 
Illustrationsfaktura  tut  er  seine  Schuldigkeit.  Der 
Gesetzgeber  hat  dieses  Schulsbeispiel  einer  listigen 
Vorstellung,  durch  welche  eine  Person  in  Irrtum  ge- 
führt und  dadurch  in  ihren  Rechten  geschädigt  wird, 
nicht  berücksichtigt,  und  der  Gerichtshof  ist  leider 
nicht  einmal  in  der  Lage,  den  Privatbeteiligten  auf 
den  Zivilrechtsweg  zu  verweisen.  Aber  die  Unglück- 
lichen, die  das  Opfer  des  Betruges  geworden  sind, 
spüren  es,  daß  hier  die  Idealkonkurrenz  zweier  Tat- 
bestände vorliegt:  daß  eine  keine  Jungfrau  mehr  ist 
(lucrum  cessans)  und  daß  sie  behauptet  hat,  es  zu 
sein,  und  sich  das  Gegenteil  herausstellt  (daranum 
emergens). 

Eine  Angeklagte,  die  mit  solchen  Mitteln  ge- 
arbeitet hat,  die  sich  durch  Trotz  dem  körperlichen 
Verfall  und  durch  List  der  sozialen  Verachtung 
zu  widersetzen  versuchte,  muß  sich  der  Hoffnung 
begeben,  daß  ihr  die  irdische  Justiz,  die  in  jeder 
Lage  die  Wahrheit  und  nichts  als  die  Wahrheit  for- 
dert, auch  nur  mildernde  Umstände  zubillige.  Von 
welcher  Verworfenheit  zeugt  es,  einen  annoncieren- 
den reichsunmittelbaren  Fürsten,  schöne  Männer- 
gestalt, der  zehn  Millionen  Mark  zu  besitzen  vorgibt 
und  die  Bekanntschaft  einer  Dame  mit  ebensolchem 
Vermögen  sucht,  derart  hineinzulegen  1  Die  Bertha 
Hannemann  besaß  keinen  Knopf  und  da  der  Fürst 
Bortia  ebensoviel  besaß,  mußte  er  die  Täuschung 
doppelt  schmerzlich  empfinden.  Als  sie  erfuhr,  daß  er 
mittellos  sei,  war  sie  herzlos  genug,  die  Korrespondenz 
abzubrechen.  Aber  der  Fürst  war  noch  nicht  enttäuscht, 
schrieb  glühende  Liebesbriefe  »in  Verzweiflung,  daß 
ich  mit  Innen  die  Verbindung  verliere«,  und  bat,  ihm 
wenigstens  noch  einmal  zu  schreiben,  »wenn  Sie  mir 
nicht  mehr  wünschen«.  Was  tat  sie?  Sie  nützte  diese 


—   8    — 


Korrespondenz  aus,  um  von  der  deutschen  Botschaft 
zuerst  23  Kronen  und  als  ihr  diese  verweigert  wurden, 
3  Kronen  zu  erbetteln.  Man  erkundigte  sich  beim 
reichsunmittelbaren  Fürsten.  Dieser,  von  Bertha  Hanne- 
mann zum  Glauben  verführt,  er  besitze  zehn  Millionen 
Mark,  brachte  eben  noch  so  viel  Geld  auf,  um  zu 
depeschieren,  er  sei  einer  Schwindlerin  zum  Opfer 
gefallen.  »Mir  ist  wirklich  leid,  daß  die  Geschichte  so 
endet«,  hatte  er  ihr  kurz  vorher  geschrieben,  »wir 
hätten  sehr  glücklich  sein  können«.  Aber  weil  sie  die 
zehn  Millionen  nicht  hatte,  die  ihm  gerade  fehlten, 
erstattete  er  die  Anzeige  bei  der  Polizei.  Der  Ober- 
leutnant hätte  dies  wegen  der  30  Kronen  allein 
noch  nicht  getan.  Aber  als  ihm  »die  wirkliche  Photo- 
graphie der  Angeklagten  gezeigt  wurde,  war  er  so 
empört,  daß  er  sich  dem  Strafverfahren  anschloß«. 
Der  Vorsitzende  verliest  diese  und  ähnliche  Pest- 
stellungen etwa  mit  jener  Zufriedenheit  über  eine 
harmonische  Weltordnung,  die  einst  das  Schöpfungs- 
protokoll mit  dem  Eindruck  besiegelte:  Und  er  sähe, 
daß  es  gut  war.  Durch  das  Weib  kam  das  Übel  in  die 
Welt.  Aber  die  Männer  sind  ganz  so,  wie  sie  sein  sollen. 
Solange  der  Mann  noch  nicht  völlig  vom  Weibe  ent- 
täuscht ist,  schreibt  er  einen  Brief,  der  die  Sätze  enthält: 
»Liebe  Freundin ! . . .  Sie  wechseln  zu  oft  Ihre  Pläne,  und 
kurz  vor  Ihrer  Abreise  bekommen  Sie  ein  prächtiges 
Bukett  vom  , Fürsten4,  sind  gerührt,  bleiben  in  Wien 
und  ich  blamiere  mich  und  fahre  umsonst  nach  Fiume! 
Nel  Scherz  bei  Seite,  das  ist  nicht  nach  meinem  Ge- 
schmack! Warum  haben  Sie  sich  denn  die  Haare 
schwarz  gefärbt?  Die  waren  doch  »goldblond'.  Nicht? 
Schade!  Viele  Männer  haben  ein  Faible  tür  blondes 
Haar,  so  auch  ich.  Eigentlich  eine  blöde  Einbildung, 
was?  Im  allgemeinen  sind  aber  die  blonden  Damen 
doch  viel  sanfter  und  etwas  weniger  launenhaft  wie 
die  schwarzen,  nicht?  In  Ihrem  vorigen  Briefe  sagten 
Sie,  der  »Fürst*  möchte  Sie  gern  nackt  sehen.  Schau, 
schau!  Gar  kein  übler  Geschmack,  doch  den  Anblick 
gönnen   Sie  lieber  einem  Ihrer  Freunde,  nicht?  .  .  . 


9    — 


Ich  habe  nämlich  in  Wien  einige  Feindinnen, 
wissen  Sie;  da  dachte  ich  mir  vielleicht,  Sie  haben 
irgend  einen  , Tratsch*  gehört,  nicht?  Eine  nannte 
mich  ,Tiger',  ein  hübsches  Prädikat,  was?  Wahr- 
scheinlich war  ich  ihr  zu  grausam!...  Vielleicht  fahren 
Sie  zuerst  nach  Budapest,  nicht?  Eine  hübsche  Stadt, 
manche  Teile  sogar  schöner  als  Wien!  Und  ein  lusti* 
ges  Nachtleben;  so  eine  fesche  Zigeunerkapelle,  die 
lasse  ich  mir  gefallen ! . . .  Viel  Glück.  Herzliche  Grüsse 
und  einen  Abschiedskuß  von  Ihrem  unglücklichen 
Jules. <  Ein  prächtiger  Brief,  was?  Ein  interessanter 
Mensch,  nicht?  Aber  bald  soll  es  anders  kommen, 
und  der  Tiger  erwacht.  »Madame!«  (Bei  dieser  An- 
rede kann  sich  der  Vorsitzende,  der  ein  Weltmann 
ist,  einer  Kritik  nicht  enthalten.  »Wenn  man  , Madame' 
schreibt«,  meint  er,  »ist  es  immer  aus!«  Heiterkeit.  Die 
hoffentlich  auch  nicht  ausblieb,  als  der  Vorsitzende 
das  reumütige  Geständnis  der  Angeklagten,  sie  habe 
nicht  mehr  singen  können,  durch  die  Peststellung 
ergänzte:  »Ihre  Stimme  war  schon  früher  durch  eine 
Krankheit  beeinträchtigt.«)  »Madame  !  Soeben  erhalte 
ich  Ihre  flüchtigen  Zeilen.  Sie  nehmen  sich  nicht 
einmal  die  Mühe,  mir  einen  ordentlichen  Brief  zu 
schreiben.  Da  bin  ich  ganz  anders  gewöhnt,  ich 
könnte  Ihnen  16  Seiten  lange  Briefe  von  sehr  feinen 
Damen  zeigen,  welche  sich  um  meine  Gunst  bemüh- 
ten !  Sie  glauben  mit  einem  Ihrer  schweifwedelnden 
Freunde  aus  Wien  zu  tun  zu  haben.  Bin  kein 
Gigerl,  das  den  Weibern  nachlauft,  wissen  Sie;  ich 
behandle  diese  Rasse  im  Gegenteil  mit  solenner 
Verachtung,  wie  sie  es  verdient.  Ich  brauche  bei 
meiner  Lebensweise  überhaupt  keine  ,Liebe',  und 
wenn  ich  gerade  einmal  eine  , Liebe*  wollte,  so  habe 
ich  hier  genug  Frauenzimmer,  die  sich  ein  Vergnü- 
gen draus  machen,  wenn  ich  sie  überhaupt  ansehe  ! 
Sie  haben  keine  Nachricht !  Ha!  Ha!  Sie  hätten 
damals  kommen  sollen,  als  ich  Sie  haben  wollte ; 
jetzt  kann  ich  Sie  nicht  mehr  brauchen  und  will 
überhaupt   nichts  mehr  von  Ihnen  wissen!    Ich  hab' 


10 


mich  genug  mit  Ihnen  früher  geärgert  und  pfeif 
auf  so  ein  herz-  und  gefühlloses  Geschöpf!  Lesen 
Sie  die  Zeitung,  dort  steht,  daß  vor  ein  paar  Tagen 
ein  Offizier,  den  ich  zufällig  kenne,  das  Opfer  einer 
Damenbekanntschaft  wurde,  indem  eine  , Freundin' 
8000  K  aus  seiner  Wohnung  geraubt  hat.  So  ein 
Gewürm  sollte  man  zertreten,  durch  welches  ein 
Ehrenmann  durchs  ganze  Leben  ruiniert  wurde.  Ich  rate 
Ihnen,  sich  ehrliche  Arbeit  zu  suchen  und  mich  nicht 
mehr  zu  belästigen,  sonst  zeige  ich  Sie  noch  der 
Polizei  an.  Sie  sind  eine  Komödiantin,  nichts  weiter ! 
Hüten  Sie  sich,  sonst  könnte  es  Ihnen  noch  schlecht 
gehen.  Sie  Schwindlerin!  Mit  verachtungsvollem 
Gruß  Jules.t  Das  ist  der  Tiger;  aber  er  hat  sie 
doch  erst  angezeigt,  als  er  ihre  Photographie  sah. 
Denn  sie  war  nicht  mehr  schön  genug,  um  hinaus- 
geworfene 30  Kronen  verschmerzen  zu  lassen. 

Bin  Reigen  beschädigter  Männlichkeit  zieht  an 
uns  vorüber,  der  sich  trotz  Spesenverlust  und  be- 
trogener Erwartung  noch  sehen  lassen  kann.  Solche 
Prozesse  gegen  Weiber,  die  sich  die  Haare  färben, 
den  Namen  wechseln  und  das  Alter  nicht  wahrheits- 
getreu angeben,  sind  nützlich,  weil  im  Zuge  der 
Enthüllungen  der  wahre  Stand  der  männlichen  Ethik 
bekannt  wird.  Es  ist  ein  untrügliches  Zeichen  einer 
Zeit,  wie  sie  die  Agenden  zwischen  den  Geschlechtern 
verteilt  hat :  ob  sich  mehr  Weiber  dem  Strafverfahren 
gegen  einen  Mann  oder  mehr  Männer  dem  Strafver- 
fahren gegen  ein  Weib  anschließen.  Unsere  bietet 
das  Schauspiel,  wie  ein  Dutzend  Inhaber  eines 
sittlichen  Bewußtseins,  ein  Dutzend  Träger  geistiger 
Verantwortung  und  ein  Staatsanwalt  hinter  einem 
Geschöpf  her  sind,  dessen  ganze  Wehrkraft  gegen- 
über dem  Leben  in  der  Fähigkeit  besteht,  sich  zur 
rechten  Zeit  die  Röcke  aufzuheben.  Das  Weib  ver- 
letzt durch  Gewährung  die  Ansprüche  der  Moral  und 
durch  Versagung  die  Ansprüche  der  Unmoral.  Aber 
die  Moral  läßt  mit  sich  reden,  sie  konzessioniert  Freuden- 
häuser, sie  erteilt  »Erlaubnisscheine«.  Die  Unmoral  ist 


il 


unerbittlich,  ihre  Forderungen  sind  vollstreckbar  und 
aus  jedem  Gerichtszimmer  geht  sie  mit  erhobener 
Stirne.  Was  hätte  unsere  Angeklagte  den  Wartenden 
bieten  können  ?  Vielleicht  hielt  sie  eine  sittliche  Über- 
legung davon  zurück,  jenes  gefährliche  Geheimnis 
an  die  Männer  weiterzugeben,  das  ihr  ein  Mann 
bedenkenlos  anvertraut  hatte.  Sie  wollte  sich  ihre 
paar  Gulden  auch  ohne  diese  Leistung  verdienen, 
und  konnte  glauben,  daß  damit  die  Illusion,  die  zu 
geben  sie  sich  begnügte,  nicht  überzahlt  sei.  Schließ- 
lich möchte  man,  solange  die  Männer  ungestraft  die 
Frauen  anstecken  dürfen,  wenigstens  für  ein  Gesetz 
stimmen,  das  es  den  Frauen  erlaubt,  einen  Tribut 
von  den  Männern  einzuheben,  die  durch  sie  vor 
Ansteckung  bewahrt  bleiben.  Solche  Entschädigung 
sollte  rühmlich  sein,  und  weitab  von  der  Möglichkeit, 
unter  die  Strafsanktion  des  Betruges  zu  fallen,  sollte 
jene  Vorspiegelung  liegen,  die  den  Himmel  auf  Erden 
bloß  verspricht,  anstatt  die  Hölle  zu  gewähren.  Es 
ist  eine  erbarmungslose  Zeit,  in  der  der  Verfall  des 
Frauenkörpers  ein  Ziel  sozialer  Wünsche  bildet,  und 
kein  Reporter  vermöchte  an  ihr  Spuren  einstiger 
Schönheit  zu  entdecken.  Aber  die  namenlose  Gemein- 
heit, die  Wonne  und  Weh  des  Geschlechts  zu  einem 
Prozeß thema  macht,  sollte  uns  erspart  bleiben.  Die 
Humanität  möge  endlich  zu  den  Menschenopfern 
sehen,  die  der  Gerechtigkeit  gebracht  werden.  Das 
Experiment  der  Hundsgrotte  werde  in  allen  Staaten 
verboten  I 

Karl  Kraus. 


Mittelschule. 

Sehr  viel  liebevolles  Interesse  bringt  die  Gegenwart  der 
geistigen  Minderwertigkeit  entgegen.  Das  öffentliche  Mitleid  ist  bei 
der  Not  der  Dummen  angelangt,  die  moderne  Hilfsbereitschaft 


12  - 


hat  die  Qrenzen  des  Verstandes  überschritten;  jene  Achtung  vor 
dem  Schwachen,  die  sich  in  der  Ära  der  Humanität  Ansehen  ver- 
schaffte, macht  längst  vor  den  Geistesschwachen  nicht  mehr  halt. 
Und  als  man  zur  Ansicht  kam,  daß  Geistesarmut  nicht  schändet, 
hörte  sie  auch  auf,  verschämt  zu  sein.  Sie  fordert  heute  bereits 
laut  und  herrisch  Unterstützung.  Die  Reform  der  Schule  macht 
sie  zu  ihrer  Sache  und  ruft  nach  der  Erleichterung  im  Studium, 
die  ihr  naturgemäß  das  Erstrebenswerteste  ist.  Und  gegenwärtig 
ist  der  Geist  der  Zeit  gerne  bereit,  sich  nach  den  Wünschen  der 
Geistlosigkeit  der  Zeit  zu  richten. 

Der  Schule  und  ihrem  Leben  gegenüber  ist  ein  klagender 
Ton,  voll  Wehleidigkeit  und  Sentimentalität  in  Mode  gekommen. 
Das  Wort  Schüler  scheint  förmlich  nach  der  Zusammensetzung 
mit  Selbstmord  zu  verlangen  und  die  Kandidatur  für  diesen  Selbst- 
mord mit  jener  andern  für  die  Matura  aufs  Innigste  verknüpft 
zu  sein.  Der  zartfühlende,  liebenswürdige  und  ungemein  sym- 
patische  Schwachkopf  ist  zum  Repräsentanten  unseres  Schülertums 
ausersehen  worden.  Seine  geduldige,  erfolglose  Arbeit  wird  uns 
immer  wieder  zur  Würdigung  entgegengehalten,  auf  Schritt  und 
Tritt  begegnen  w'ir  in  der  Literatur  seinem  blassen,  übernächtigen 
Antlitz  mit  dem  stets  leidenden  und  anklagenden  Zug.  Wird  es 
nicht  endlich  gelingen,  eine  Mittelschul  type  zu  finden,  die  seine 
Gefühle  nicht  verletzt?  Die  Zahl  der  Noten  mußte  um  seinet- 
willen verringert  werden;  ein  Teil  jener  Leistungsunterschiede,  die 
stets  zu  seinen  Ungunsten  bestanden,  wird  in  Hinkunft  nicht 
mehr  zum  Ausdruck  kommen.  Wird  man  ihm  zuliebe  nicht  bald 
ganz  auf  die  Kritik  »Klassifikation«  verzichten?  Solange  sie 
besteht,  sind  > Elternliebe  und  Kunstinteresse«  bei  ihm  vor  Störungen 
nicht  sicher,  denn  hier  ist  stets  die  Quelle  der  viel  unzarteren 
Empfindungen  des  Ärgers  und  des  Neides  für  ihn.  Die  Abstufung 
der  Noten  ist  ein  Behelf  für  den  Lehrer  und  als  solcher  vielleicht 
entbehrlich,  was  bedeutet  sie  aber  nicht  alles  für  den  Schüler!  An 
diesen  unbedeutenden  Verschiedenheiten  fand  der  Ehrgeiz  seinen 
Halt,  hier  war  Gelegenheit  zum  Wen«%eii,  es  durften  Siege  und 
Niederlagen  gefeiert  werden.WasfacyJÄ|ht  alles  Raum  zwischen  diesen 
wenigen  Ziffern!  Wieviel  vom  ernsten  ölück  und  Schmerz  des  Lebens 
umspannten  sie !  Hier  barg  sich  etwas  von  jenem  schweren  Ernst 
des  Daseins,  der  ein  heißes  Glück  empfindet,  wenn  er  ein  Knopf- 
loch   mit    einem    roten    Bändchen    schmückea    darf,    von    dem 


13 


Schicksalsernst  des  Beamtenlebens,  in  welchem  das  Avancement 
über  Existenzen  entscheidet.  Darf  und  kann  die  Schule  auf  diese 
Macht  verzichten?  Kann  sie  sich  den  Ehrgeiz  weiterhin  dienstbar 
machen,  wenn  sie  ihm  seine  Ziele,  sein  rotes  Bändchen  entzieht? 
Das  Opfer,  es  wird  den  Unfähigen  gebracht  und  auf  Kosten  des 
Eifers  des  Fähigen.  Vollständig  hat  man  vergessen,  daß  die  Haupt- 
sorge der  Schule  die  Ausbildung  eben  jenes  Schülers  zu  sein  hat, 
der  ihr  keine  Sorgen  macht.  Ein  Treibhaus  für  kümmerliche 
Qeistespflänzchen,  eine  Wohltätigkeitsanstalt  für  die  Bedürftigen 
an  Verstand  darf  sie  nicht  werden.  Es  gibt  nämlich  auch 
Schüler,  die  das  Lehrziel  mühelos  erreichen. 

Mancherlei  an  der  Schule  bedarf  der  Änderung.  Es  ist 
gewiß  nicht  vorteilhaft,  daß  das  Recht  zu  strafen  neben  der  Pflicht 
zu  unterrichten  in  der  Hand  des  Lehrers  liegt.  Schon  deshalb  nicht, 
weil  die  Fähigkeiten  der  einzelnen  Lehrer  in  der  Ausübung  dieses 
Rechtes  allzu  verschieden  sind.  Der  eine  stolpert  unaufhörlich  üb'er 
seine  Versuche,  Disziplin  zu  halten,  der  andere  ist  ein  Virtuose,  ein 
Zauberkünstler  des  Strafwesens.  Die  Möglichkeiten  von  Klassen- 
buch, Karzer,  Strafarbeit,  er  läßt  sie  nur  so  durcheinanderwirbeln, 
vereinigt  sie  zu  den  schönsten  und  seltensten  Effekten,  gewinnt 
ihnen  nie  geahnte  Reize  ab  und  wird  dadurch  in  seiner  Art,  Schule 
zu  halten,  einseitig,  wie  jeder  Künstler.  Wenn  das  Disziplinarwesen 
an  jeder  Schule  einem  dazu  eigens  bestellten  Pädagogen  unter- 
stünde, der  es  allein  oder  im  Verein  mit  dem  Direktor  zu 
überwachen  hätte,  wäre  vieles  besser.  Es  würde  vermieden,  daß  der 
Lehrer  langwierige  Strafuntersuchungen  zu  führen  hat,  und  daß  er 
in  eigener  Sache  Richter  ist;  dem  Unterricht  wäre  viel  Zeit  ge- 
wonnen und  seine  Würde  besser  gewahrt  als  jetzt. 

Eine  höchst  überflüssige  Sache  ist  die  Sittennote.  Ist  sie 
ungünstig,  so  bedeutet  das  eine  Unannehmlichkeit,  wie  jede  deut- 
liche Mißbilligung,  die  man  erfährt,  ist  sie  hingegen  gut,  so  ist 
das  geradezu  beschämend.  Ein  taktvoller  Lehrer  wird  es  gewiß 
gerne  vermeiden,  einen  begabten  Schüler  mit  der  besten  Sitten- 
note bloßzustellen.  Der  einzige  Wert  dieser  Kritik  des  sittlichen 
Betragens  liegt  darin,  daß  ein  Ventil  für  etwa  vorhandene  Gehäs- 
sigkeiten des  Lehrers  geschaffen  wird,  die  sich  hier  weit  harm- 
loser manifestieren,  als  wenn  sie  bei  der  Note  im  Qegenstand 
mitsprächen.  Bloß  der  Name  der  Rubrik  führt  irre;  die 
Schule   maßt  sich   auch    nur  scheinbar  eine  Klassifikation  über 


14 


einen  Gegenstand  an,  den  einer  Prüfung  auszusetzen,  ihr  nicht 
gestattet  ist. 

Gerade  der  Punkt  aber,  in  welchem  nichts  erlassen  werden 
kann,  das  ist  die  Arbeit  des  Schülers,  sind  die  Ansprüche  an  seine 
Leistung.  Hier  stellt  die  Zeit  ihre  Forderungen,  und  sie  treibt  sie 
auch  später  im  praktischen  Leben  ein,  ohne  nach  der  Zahl  der 
Unterrichtsstunden  von  einst  zu  fragen.  Das  ist  ein  gehirnloses 
Mitleid,  das  gegen  die  Beschwerden  der  Vorübung  eifert,  die  Auf- 
gabe selbst  aber  nicht  erleichtern  kann.  Es  ist  unnötig,  die  Schar 
der  Geistesproletarier  von  heute  noch  um  solche  zu  vermehren,  die 
im  Reich  des  Geistes  den  Rang  von  Proletariern  haben.  An 
welchem  Lehrfach  die  Arbeitsfähigkeit  des  Schülers  entwickelt  wird, 
ob  an  alten  oder  neuen  Sprachen,  das  ist  von  geringer  Wichtigkeit; 
notwendig  ist  nur,  daß  sie  geübt  wird,  und  heute:  daß  sie  mehr 
geübt  wird,  als  je.  Die  Entwicklung  will  aber  vor  allem  eine 
ernstere  Lehrzeit,  eine  an  Gefahren  und  Erlebnissen  reichere. 
Diese  wird  deshalb  weit  eher  auch  eine  angenehme  sein.  Die 
Forderungen,  die  für  das  tränenfeuchte  Schülerideal  der  Gegenwart 
erhoben  werden,  widersprechen  dieser  Notwendigkeit.  Der  Lehrer 
kann  nicht  »der  Freund  des  Schülers<  sein ;  schon  deshalb  nicht, 
weil  der  begabtere  Schüler  sich  eine  Freundschaft  nicht  auf- 
zwingen läßt.  Der  Lehrer  kann  nicht  Individualitäten  berück- 
sichtigen ;  denn  dem  erwähnten  Schüler  gegenüber  geht  das  möglicher- 
weise über  seine  Kräfte,  und  man  könnte  es  diesem  auch  nicht 
verdenken,  wenn  er  sich  energisch  dagegen  wehren  sollte,  zum 
Überfluß  seine  Individualität  von  ungeschickten  Händen 
betasten  zu  lassen.  Der  Lehrer  möge  der  Vertreter  der  Arbeit 
sein  und  das  allein.  Sein  Gebiet  bleibe  Wissen  und  Verstand.  Man 
braucht  sich  nicht  darum  zu  sorgen,  daß  bei  größerem  Ernst  und 
strengerer  Sachlichkeit  die  Poesie  der  Jugend  zu  kurz  komme. 
Die  läßt  sich  künstlich  nicht  erzeugen,  aber  auch  nicht  verbannen. 
Die  wohnt  zwischen  den  Ereignissen  und  nur  die  Langeweile  tötet 
sie.  Man  verschone  den  guten  Schüler  mit  der  Langeweile  der  Er- 
leichterungen. 

Daß  man  von  den  Reformen,  deren  Notwendigkeit  fühlbar 
wird,  gerade  die  Entbürdung  zur  Verwirklichung  ausersehen  hat, 
mutet  seltsam  an.  Die  anderen  Erfordernisse,  die  Separierung  des 
Disziplinarwesens,  das  Aufgeben  der  Sittenkontrolle,  die  größere 
Sachlichkeit,  das  sind  Rechte,  die  die  Zeit  geltend  macht;  und  an 


—  15  — 

ihrer  Stelle  wird  nun  ein  Oeschenk  gegeben.  Fast  erscheint  es  wie 
eine  Bestechung.  Als  hätte  man  für  den  kleinen  Mann  des  Geistes, 
den  stets  Bedürftigen,  etwas  getan  und  sich  dafür  die  Anhänger- 
schaft und  das  Zuwarten  seiner  Freunde  erkauft. 

Otto  Soyka. 

*  • 

Literatur. 

In  einer  Zeitungsspalte  fällt  mein  Blick  auf  die  typische 
Bemerkung,  daß  die  >zwei  ersten«  Akte  gefallen  haben,  so  daß 
ich  glauben  muß,  der  Rezensent  sei  gleichzeitig  in  zwei  Theatern 
gewesen  und  er  stelle  nun  fest,  daß  hier  und  dort  der  erste  Akt 
gefallen  hat.  Das  ist  journalistischer  Sprachgebrauch,  aber  da  eine 
Zeitung  auch  das  Richtige  treffen  kann,  so  fand  ich  schon  in  der 
benachbarten  Spalte  eine  Nachricht  über  die  > nächsten  zwei«  Ver- 
anstaltungen eines  Vereines.  Und  hier  eben  zeigt  sich,  wie  nichtig 
alle  Form  ist,  wenn  der  Inhalt  von  übel.  Denn  mein  split- 
terrichterisches  Wohlgefallen  wurde  sogleich  erledigt  durch  die 
Enthüllung,  daß  die  erste  der  nächsten  zwei  Veranstaltungen  ein 
>Servaes-Abend«  sei.  Um  Himmelswillen,  was  ist  das  ?  fragte  ich. 
Was  haben  die  Leute  mit  uns  vor  ?  Servaes-Abend  —  es  kann  nicht 
sein !  Qibts  denn  so  etwas  ?  Kann  es  so  etwas  geben  ? 

Aber  es  stand  schwarz  auf  weiß,  ein  Verein,  der  den 
guten  Geschmack  hat,  sich  einen  Verein  für  Kultur  zu 
nennen,  versprach  uns  einen  Servaes-Abend.  Wenn  man  mir  die 
Frage  vorlegte,  was  denn  überhaupt  ein  Verein  sei,  so  würc'  ich 
antworten,  ein  Verein  sei  ein  Verein  gegen  die  Kultur.  Dieser  hier 
aber  möchte  mich  durch  die  Angabe  irreführen,  er  sei  ein  Verein 
für  die  Kultur.  Das  gelingt  ihm  nicht,  denn  die  Rechnung  geht 
schließlich  doch  glatt  auf,  indem  ein  Verein  gegen  die  Kultur  für 
die  Kultur  sich  folgerichtig  als  ein  Verein  herausstellt.  Da  ich 
nun  dem  Vereinsleben  durchaus  fern  stehe,  da  die  bloße  Vor- 
stellung, daß  es  einen  Männergesangverein  gibt,  mir  den  Schlaf 
raubt  und  noch  kein  Turnverein  zur  Erhöhung  meines  Lebens- 
mutes beigetragen  hat,  so  kann  ich  darüber  nicht  urteilen,  ob 
der  Verein,  um  den  es  sich  hier  handelt,  seinen  statutenmäßigen 
Verpflichtungen  betreffs  der  Kultur  gerecht  wird.  Aber  ein  bos- 
haftes Luder,  wie  ich  bin,  habe  ich  natürlich  keine  Anerkennung 
dafür,  daß  sich  in  dieser  Wüste  allgemeiner  Kulturlosigkeit  eine 
Oase  des  Snobtums  gebildet  hat,  daß  sich  endlich  wenigstens  ein 


16  — 


paar  opfermutige  Männer  zusammenfinden,  um  die  Kultur  für 
eröffnet  zu  erklären,  —  vielmehr  nähre  ich  meine  teuflische  Lust  an 
dem  Gedanken,  daß  alles  verruinieret  sein  müsse.  Es  ist  in  der 
Tat  schon  nicht  mehr  mit  mir  auszuhalten.  Jetzt  hasse  ich  die 
Oasen  in  der  Wüste,  weil  sie  mir  meine  fata  morgana  zerstören. 
Publikum  in  jeder  Form  macht  mir  Verdruß,  ich  meide 
die  Konzertsäle,  und  wenn  sich  in  einem  solchen  wirklich 
einmal  Leute  drängen,  denen  man  an  der  schwergebeugten  Nase 
ansieht,  daß  sie  den  Hingang  der  Kultur  betrauern,  Männer,  deren 
Bart  noch  die  Linse  von  vorgestern  trägt,  deren  Gilet  aber  aus 
Sammet  und  Sehnsuchten  komponiert  ist,  Weiber,  denen  man  das 
Haupt  des  Jochanaan  unter  der  Bedingung  geben  möchte,  daß 
sie  nicht  tanzen,  —  dann  bin  ichs  auch  nicht  zufrieden!  Ja,  ich  hasse 
die  Häßlichkeit  einer  genießenden  Menge, die  nach  dem  Sonnenbrand 
des  Arbeitstages  die  verschossenen  Jalousien  des  Gemütes  öffnet,  um 
Kunstluft  hereinzulassen.  Aber  der  ästhetische  Mißwachs,  der  sich 
an  den  Pforten  der  Kultur  drängt,  treibt  mich  in  die  Flucht. 
Wird  mir  schon  totenübel,  wenn  ich  um  elf  Uhr  abends  durch 
die  Augustinerstraße  gehe  und  die  Nachklänge  einer  Wagneroper 
aus  dem  Wigelaweia  des  Ganges  und  der  Hände  einer  zum  Fraß 
strömenden  Begeisterung  heraushöre,  was  steht  mir  erst  bevor, 
wenn  dereinst  Herr  Richard  Strauß  seine  Versteher  findet?  Man 
glaubt  ga-  nicht,  wie  viel  Häßlichkeit  die  angestrengte  Beschäftigung 
mit  der  Schönheit  erzeugt!  Und  ihre  Art  ist  in  allen  Städten 
dieselbe.  Überall,  wo  nur  ein  findiger  Impresario  einen  Tempel  der 
Schönheit  errichtet,  tauchen  jetzt  diese  undefinierbaren  Gestalten 
auf,  die  man  in  früheren  Zeiten  dann  und  wann  im  Fieber  sah, 
aber  nunmehr  im  Gehege  des  Herrn  Reinhardt,  in  irgendeinem  Caf£ 
des  Westens,  in  den  Münchener  Künstlerkneipen  und  in  Wiener 
Kabarets  rudelweise  antreffen  kann.  Plötzlich  steht  ein  Kerl  neben 
dir,  dem  Kravatte  und  Barttracht  zu  einem  seltsamen  Ornament 
verwoben  sind,  das  Motive  aus  Altwien  und  Ninive  ver- 
einigt. Er  sieht  Klänge,  weil  er  sie  nicht  hören  kann,  er  hört 
Farben,  weil  er  sie  nicht  sehen  kann,  er  spricht  durch  die  Nase 
und  riecht  aus  dem  Mund,  seine  Seele  ist  ein  Kammerspiel  und 
man  hat  nur  den  Wunsch,  daß  ihn  so  bald  als  möglich  ein  Bier- 
brauer totschlage.  Denn  vor  diesem  kann  sich  die  Kunst  retten,  vor 
jenem  nicht!  Das  Aufgebot  verquollener  Scheußlichkeit,  das  seit 
Jahren  hinter  den  programmatischen  Mißverständnissen  her  ist,  macht 


17  — 


ein  Entrinnen  unmöglich.  Was  sich  da  im  Berliner  Westen  unter 
allen  möglichen  Marken  als  neue  Gemeinschaft  von  Assyriern, 
Griechen,  Europäern,  Kulturmenschen  oder  Schmarotzern  schlecht- 
weg zusammengetan  hat,  dieses  Gewimmel  von  einsamen  Ge- 
meinsamen, die  nur  Theaterreporter  von  Beruf  und  Baalspriester  aus 
Neigung  sind,  bildet  ein  so  unflätiges  Hindernis  im  Kampf 
gegen  den  Philister,  daß  man  das  Ende  aller  Kunst  und  ein 
Verbot  aller  Freiheit  ersehnt,  um  ein  reines  Terrain  zu  schaffen. 
Lieber  allgemeine  Blindheit  als  die  Herrschaft  eines  Gesindels, 
das  mit  den  Ohren  blinzeln  kann!  Ein  Wiener  Greisler  für 
zehn  Berliner  Satanisten!  Das  Udelquartett  gegen  einen  Verein 
für  Kultur!  Selbst  wenn  er  uns  einen  Servaes- Abend  bringt. 

Denn  wir  wissen  ja  nicht  einmal,  was  das  für  ein 
Abend  ist.  Wir  in  Wien  schätzen  die  Institution  der  Hopfner- 
tage und  der  Riedlnächte,  aber  wir  glauben  nicht,  daß  sich 
die  Servaes-Abende  einbürgern  werden.  Was  bedeutet  das  un- 
gebräuchliche Wort  Servaes?  Ich  erinnere  mich  dunkel,  daß  es 
einst  ein  Merkwort  war,  wenn  man  an  ein  drolliges  Quiproquo 
eines  Kunstkritikers  der  ,Neuen  Freien  Presse'  erinnern  wollte.  Da 
hatte  einer  in  der  Beschreibung  des  Guttenberg-Denkmals  eine 
Buchdruckerpresse  mit  einem  Fauteuil  verwechselt  oder  umgekehrt, 
—  das  weiß  ich  nicht  genau,  da  ich  das  Denkmal  aus  Antipathie 
gegen  den  dargestellten  Mann  und  weil  es  eine  Prostitutierten- 
gasse  verschandelt,  nie  angesehen  habe.  Aber  ich  weiß 
genau,  daß  der  Kunstkritiker,  der  zu  aufmerksamer  Betrachtung 
verpflichtet  war,  irgend  etwas  verwechselt  hat.  Ein  anderesmal  hat 
er  in  der  Beschreibung  eines  ausgestellten  Bildes  Wüstensand  mit 
Schnee  verwechselt,  was  doch  so  bald  keinem  Kamel  passieren 
dürfte.  Infolgedessen  wurde  der  Mann  nur  mehr  dazu  verwendet, 
Berichte  über  Wohnungseinrichtungen  zu  stilisieren,  die  die  Firmen 
der  Administration  bezahlten  und  in  denen  die  Fauteuils  genau 
bezeichnet  waren.  Da  aber,  wie  erzählt  wird,  eine  Verwechslung 
zwischen  den  Herren  Portois  und  Fix  vorkam,  so  sei  nichts  übrig 
geblieben,  als  dem  Mann  die  Literaturkritik  zu  überantworten. 

Hier  kann  einer  machen,  was  er  will,  niemand  wird  daran 
Anstoß  nehmen.  In  der  Literatur  ist  jede  Verwechslung  von 
Wüstensand  und  Schnee,  von  Fauteuil  und  Presse,  von  Port' is 
und  Fix  erlaubt.  Hier  kann  ein  Mensch,  der  keine  blasse 
Ahnuiig    von    Stil    hat,    über   Werke    der    Sprache    in    einem 


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impertinenten  Ton  aburteilen,  für  den  man  ihm  in  jeder  besseren 
Gesellschaft  auf  den  Mund  schlüge.  Hier  dünkt  sich  ein 
Reporter,  dem  man  keinen  Gerichtssaalbericht  anvertraute,  einen 
Gott.  Es  soll  vorkommen,  daß  solche  Leute  an  auswärtige 
Revuen  Beiträge  schicken  und  wenn  sie  ihnen  abgelehnt  werden, 
mit  den  Waffen  ihrer  kritischen  Hausmacht  zu  spielen  beginnen. 
Daß  sie  dann  in  ihrem  eigenen  Gehege  sich  für  alle  Zurück- 
setzungen ,  die  ihrer  Talentlosigkeit  widerfahren ,  für  alle  Ent- 
täuschungen ihres  Ehrgeizes,  für  alle  Verbitterung  schadlos  halten, 
ist  nur  zu  begreiflich.  »Servaes«,  das  ist  die  Chiffre,  die  man 
überall  dort  findet,  wo  sich  Mangel  an  Temperament  austoben 
und  Ledernheit  sprudeln  möchte.  Da  erscheint  zum  Beispiel  ein 
Roman,  zu  dessen  Empfehlung  ich  nicht  mehr  sagen  kann,  als  daß 
ich  ihn  ausgelesen  habe:  >Sonjas  letzter  Name«,  eine  Schelmen- 
geschichte von  Otto  Stoessl.  Aber  die  besten  kritischen  Köpfe  Deutsch- 
lands (S.  Lublinski,  Paul  Ernst  und  andere)  haben  ihn  nicht  nur 
gelesen,  sondern  auch  erhoben.  Stünde  ich  der  epischen  Kunstform 
nicht  wie  einem  mir  Unfaßbaren  gegenüber,  ich  fühlte  mich  wohl 
versucht,  über  die  vielerlei  seltenen  Schönheiten  in  Sprache  und 
Gestaltung,  die  ich  mir  dort  angemerkt  habe,  zu  sprechen;  über  einen 
idqpnvollen  Humor,  der  sich  meinem  Gefühl  nur  in  den  reflektierenden 
Pausen  entrückt,  in  denen  er  sich  nach  sich  selbst  umsieht;  und 
über  jene  herzhafte  Entdeckung  romantischer  Gegenden  in 
einer  konventionellen  Welt,  von  der  dem  kritischen  Flegel  das 
Problem  der  »Unwahrscheinlichkeit«  in  Händen  bleibt.  Darüber 
würde  ich  etwas  sagen  und  nicht  verschweigen,  daß  es  ein  Mitarbeiter 
der  , Fackel'  ist,  dem  ich  solche  Freude  verdanke.  So  aber  ob- 
liegt mir  bloß  die  traurige  Pflicht,  zu  sagen,  daß  die  Mitarbeit 
an  der , Fackel'  einem  Künstler  bei  der  Beschränktheit  geschadet  hat. 
Es  wäre  ein  beruhigender  Gedanke,  daß  kritischer  Unverstand 
keine  Ranküne  braucht,  um  sich  lästig  zu  machen.  Einem  Autor, 
der  heute  in  Deutschland  geachtet  wird,  kann  es  ohnedies  leicht 
zustoßen,  daß  ihm  in  Wien  ein  Ziegelstein  auf  den  Kopf  fällt;  denn 
in  Wien  ärgern  sich  die  Ziegelsteine  darüber,  daß  die  Passanten 
ihren  Weg  gehen.  Ich  bin  der  einzige,  dem  es  nicht  geschehen 
kann,  weil  bekanntlich  der  Dachdecker  den  Auftrag  gegeben 
hat,  mich  mit  stiller  Verachtung  zu  strafen.  Aber  es  könnte  immerhin 
möglich  sein,  daß  es  die  Dummheit  auf  jene  abgesehen  hat,  die 
mit  mir  gehen.    Damit  nun  wenigstens  der  nächste  nicht  stolpert, 


—  19  — 

muß    man    solch  einen  Ziegelstein  mit  einem  Fußtritt  aus  dem 
Wege  räumen. 

Und  wieder  habe  ich  an  ihm  das  Zeichen  >Servaes< 
gefunden.  Was  soll  das  bedeuten?  Ich  komme  schließlich 
dahinter,  daß  es  die  Signatur  einer  Oeistlosigkeit  ist,  die  stets 
verneint.  Dafür  kann  sie  im  allgemeinen  nichts.  Daß  sie  aber  im  be- 
sondern Falle  die  Schöpfung  eines  Autors  als  >  Anregung«  für  die  Sudler 
ieilbietet,  daß  sie  einem  Schriftsteller,  der  jenseits  derfeuilletonistischen 
Gangbarkeit  produziert,  seine  Werte  entwinden  möchte  und  die 
deichte  Hand«  der  Literaturdiebe  herbeiwinkt,  auf  daß  eine  vorrätige 
Icee  nach  dem  Geschmack  des  Gesindels  zubereitet  werde,  ist  beinahe 
dolos.  Als  ob  man  heutzutage  die  Diebe  rufen  müßte!  Freilich, 
um  diesem  Verleiter  zu  folgen,  dazu  werden  sie  sich  zu  vornehm 
dünken.  Kein  Nachahmer  hat  es  nötig,  sich  von  solchem  Geist 
beraten  zu  lassen,  und  ich  wette  hundert  Schelmenromane  gegen 
einen,  daß  zum  Beispiel  Rudolf  Lothar  es  verschmähen  wird,  eine 
Quelle  zu  benützen,  die  ihm  im  Voraus  nachgewiesen  wurde. 
Immerhin  ist  diese  Art  öffentlicher  Hehlerei  ein  Novum  in  der 
Literaturkritik,  diese  Manier,  am  lichten  Sonntag,  wo  sich  die 
jungen  Literaten  auf  dem  Marktplatz  drängen,  den  Ruf  auszu- 
stoßen: Haltet  den  Bestohlenen!  Solche  Gesinnung  ist  schlimmer 
als  Unverstand,  der  nur  die  äußere  Stofflichkeit  benagt. 
Diesem  kann  "man  das  Recht,  lästig  zu  sein,  so  wenig 
absprechen  wie  jedem  andern  Zufall.  Mein  Gott,  es  gibt 
eben  Literaturkritiker,  die  den  Wert  eines  Kunstwerkes  des- 
halb mit  Vorliebe  vom  stofflichen  Gesichtspunkt  beurteilen,  weil 
sie  nach  den  harten  Zeiten  der  Tapezierer-Reklame  endlich 
freie  Hand  haben,  die  Echtheit  von  Stoffen  anzuzweifeln. 
Ihre  kunstkritische  Herkunft  verleugnen  sie  auch  in  der 
Literaturkritik  nicht:  sie  prüfen  die  Leinwand,  wenn  sie  über  ein 
Gemälde  urteilen  sollen.  Aber  sie  sind  nicht  einmal  in  diesem 
Punkte  sachverständig. 

Glaubt  man  nach  all  dem,  daß  unsere  Kritik  im  Argen  liegt? 
Dafür  gedeiht  unsere  Produktion.  Denn  unter  dem  Namen 
Servaes  wird  nicht  nur  gerichtet,  sondern  auch  bewiesen,  daß  man 
es  selber  besser  machen  könne.  Nur  so  ist  die  Gründung  von 
Vereinen  für  Kultur  und  die  Institution  der  Servaes- Abende 
zu  erklären,  an  denen  ja  nicht  Inserate,  sondern  Dichtungen  vor- 
gelesen  werden  sollen.    Wir  haben  einen   Peter  Altenberg,   der 


—  20  — 

fünfzig  Jahre  alt  wird,  die  deutsche  Literaturkritik  leistet  allerorten 
den  Salut,  und  unser  •  Intelligenzblatt  bringt  Feuilletons  und 
Romane  eines  schlechtgefärbten  Blaustrumpfs  und  unser  Kultur- 
verein veranstaltet  einen  Servaes-Abend.  Nein,  es  will  mir  nicht 
sttmmen,  daß  dieses  wundervolle  Wort  >  Abend«,  das  Zeitenende 
und  Sonnenuntergang,  Feste  und  Weihen  einläutet  und  in  dem 
ein  Hauch  aller  deutschen  Dichtung  atmet,  jene  sonderbare  Ver- 
bindung eingehen  konnte.  Ein  schlechtes  Beispiel  mag  einmal  die 
guten   Sitten  des  Wortes  verdorben  haben.  Nun  ja  - 

Eines  Abends  noch  sehr  spöte 

Oingen  Wassermaus  und  Kröte 

Einen  steilen  Berg  hinan. 

Karl  Kraus. 

*  * 

Erotische  Krisen. 

Es  handelt  sich  um  »Ssanin«.  Und  ich  sehe  nicht  ein,  warum 
ich  es  nicht  sagen  soll:  es  ist  ein  schlechtes  Buch,  einfach  ein 
schlechtes  Buch. 

Freilich,  es  wurde  konfisziert,  hüben  und  drüben.  Nun,  auf 
die  Gefahr  hin,  daß  ich  in  den  Verdacht  komme,  den  Staats- 
anwälten gefallen  zu  wollen:  ich  lese  prinzipiell  keine  kon- 
fiszierten Bücher.  Es  ist  stets  eine  Enttäuschung.  Die  guten  Bücher 
bleiben  im  großen  Oanzen  unkonfisziert.  Diese  billigste  und 
wirksamste  Reklame,  die  dennoch  nicht  die  geringsten  Oarantien 
bietet,  wird  hoffentlich  die  Bedeutung  jenes  Buches  nicht  noch 
mehr  aufbauschen,  als  es  schon  durch  die  unzähligen  Kritiken  ge- 
schehen ist. 

Die  moderne  russische  Literatur  macht  so  gute  Anläufe, 
und  da  kommt  solch  ein  ordinäres  Buch  und  diskreditiert  jene, 
die  eben  daran  sind,  uns  vor  Europa  ein  bißchen  zu  rehabilitieren 
und  etwas  von  unserem  Sündenregister  streichen  zu  helfen.  Es 
ist  ein  ärgerlicher  Zwischenfall. 

Von  bleibendem  Kulturwert  soll  dieses  Buch  sein;  alle 
Kritiker  in  Deutschland  sind  sich  darüber  einig.  Tatsächlich  stand 
es  im  Prospekt,  und  die  Einleitung,  die  dieselben  Qualitäten  be- 
sitzt wie  der  Prospekt,  bestätigt  dieses  Urteil.  Aber  ein  schlechtes 
Buch  kann  kein  Dokument  einer  schlechten  Zeit  sein;  ein  ver- 
fehltes Kunstwerk  nicht  ein  Denkmal  einer  fehlerhaften  Kultur- 
epoche; ein  im  ethischen  Sinne  (nicht  im  > moralischen«)  stumpf- 


—  21 


sinniges  Literaturprodukt  -  kein  Zeugnis  ablegen.  Zur  Not 
könnte  dies  noch  beim  Mangel  an  literarischen  Qualitäten  der 
Fall  sein,  wäre  das  Buch  naiv  -  oder  überlegen. 

Die  Kritik  hat  ferner  einen  noch  größeren  Unsinn  fest- 
gestellt, der  freilich  auch  im  Prospekt  stand:  jener  so  versöhnend 
und  doch  so  sinnlos  proklamierte  erotische  Hexensabbath,  den  die 
russische  kampfesüberdrüssige,  ideenenttäuschte  Jugend  auf  dem 
frischen  Grabe  der  unter  Bombengeknatter  und  >  Hände  hoch!«- 
Rufen  eingescharrten  Revolution  aufführte,  jener  erotische  Hexen- 
sabbath sei  durch  Artzybaschews  »Ssanin«  hervorgerufen.  Und  das 
wird  ganz  ernsthaft  wiederholt.  Genau  mit  demselben  Rechte 
könnte  ich  fragen:  Welches  literarische  Werk  hat  es  bewirkt,  daß 
beispielsweise  die  Berliner  Schuljugend,  die  Knaben  mit 
den  sporttendenziösen  Gesichtern  und  die  Mädels  mit  den 
unschuldig-kurzen  Röckchen  und  den  reifen  Waden  hinter  das 
große  Geheimnis  gekommen  sind?  Als  »Ssanin«  erschien,  war  schon 
das  Fest  der  russischen  Jugend  im  vollen  Gange,  man  war  mitten 
drin,  und  man  empfing  jenen  als  willkommenen  Gast.  Sorgte  er 
doch  für  die  geistige  Unterhaltung  und  machte  er  doch  als  über- 
legener Erwachsener  verstohlen  gern  mit,  was  höchst  spaßhaft 
und  pikant  war.  Seine  Gedanken  und  seine  Sprache  waren  grob 
genug,  um  bei  dem  lärmenden  Durcheinander  der  erotischen 
tabula  rasa  für  wahr  und  originell  zu  gelten.  Als  man  aber  am 
folgenden  Tage  mit  einem  schwachen,  doch  freudigen  Katzen- 
jammer und  mit  dem  Vorgefühl  vom  Ernst  der  nun  bevor- 
stehenden Arbeit  und  der  Zukunft  des  Vaterlandes  erwachte,  da 
sagte  man  sich  —  nicht  einmal  ärgerlich,  soweit  war  man  schon 
wieder  weg  —  :  der  Ssanin  von  gestern,  das  war  doch  ein  ekelhafter 
Kerl;  ein  Protz,  ein  Parvenü.  Eigentlich  ein  Spießer  und  dann: 
Leute,  die  bei  solchen  Gelegenheiten  sich  hervortun  und  sich 
Gehör  verschaffen,  denen  soll  man  aus  dem  Wege  gehen.  Und 
wenn  man  ihm  dann  nun  begegnete,  tat  man  kühl  und  wollte 
sich  kaum  erinnern. 

Dies  der  wahre  Sachverhalt. 

Es  ist  klar,  daß  der  Held  Ssanin  nicht  als  russischer  Typus 
gelten  darf,  weil  er  absolut  unrussisch  ist.  Dieser  im  bösesten 
Sinne  romanhafte  Held,  der  immer  obenauf  ist,  stets  überlegen, 
stets  recht  behält,  keine  Zweifelsqualen,  keine  Sehnsuchtslähmung 
kennt,   mag  vielleicht  anderswo  als   Repräsentant  starker  Mann- 


—  22  — 


lichkeit  Geltung  haben;  als  Ausdruck  russischer  Seele  und  russi- 
schen Geistes  (auch  zu  Zeiten  politisch-sozialer  und  erotischer 
Revolutionen)  darf  er  nie  und  nimmer  sich  einschleichen.  Die 
russischen  »Helden <,  die  sind  nicht  fertige  Männer,  die  propa- 
gandieren;  sie  ringen,  geben  sich  Blößen,  machen  sich  lächerlich 
und  ringen.  Sie  haben  einen  Knacks;  nicht  den  Individualitäts- 
knacks Ibsenscher  Menschen,  sondern  den  allgemein  -  russischen 
Knacks  derer  von  Dostojewski  bis  auf  Tschechow. 

So  kommt  es  auch,  daß  Ssanin  gerade  das  repräsentiert,  was 
den  nissischen  Hamletnaturen  fernliegt:  Protzentum  und  Spieß- 
bürgertum. Merkmal  des  Geldes-  oder  des  Geistesparvenu  ist  ewige 
Furcht:  vielleicht  werden  die  andern  an  seinen  Reichtum  nicht 
glauben  -  wie  er  selber  im  Grunde  seines  Herzens  noch  nicht 
recht  daran  glauben  will  — ;  und  er  reibt  es  einem  immer  unter 
die  Nase.  Also  Ssanin  mit  seinen  erotisch-anarchistischen  Über- 
zeugungen und  freiheitlichen  Forderungen. 

Merkmal  des  Spießers:  die  Feigheit,  das  zu  tun,  was  ihm 
im  Innern  imponiert,  verlockend  erscheint;  seine  Gespenster: 
der  Ruf,  die  Verantwortung,  die  Folgen.  Ssanin  hat  eine  Schwester. 
Im  Umkreise  ist  sie  die  Schönste,  die  Klügste,  die  Stolzeste  - 
die  Begehrenswerteste.  Und  das  ist  sie  auch  dem  »freien« 
Bruder.  Er  zerrt  an  den  als  unantastbar  geltenden  erotischen 
Fäden,  die  sich  so  wundersam  zwischen  Bruder  und  Schwester 
spinnen  und  sich  zu  einem  verhängnisvollen  Strick  verweben,  schon 
wenn  sie  bloßgelegt  werden  und  man  ihrer  gewahr  wird  .  .  .  Die 
Voraussetzung  des  inneren  Blutzusammenhanges  und  die  unheim- 
liche Heimlichkeit  der  sündhaften  Liebe  verleihen  dem  erotischen 
Verhältnis  zwischen  Bruder  und  Schwester  jene  Stärke  und  Tragik, 
denen  alle  die  verfallen,  welche  diesem  Problem  in  der  Kunst  oder 
im  Leben  nähergetreten  sind.  Ssanin  hat  nun  die  -  ich  glaube, 
wohltuende  Idee,  all  diese  fatalen  »Irrungen«  der  Instinkte  als  etwas 
einfaches,  natürliches  hinzustellen  und  alle  fatalen  Bedenken  bei- 
seite zu  schieben.  Ähnlich  wie  Fjodor  Sollogub  in  einer  kleinen 
mißglückten  Komödie  einen  lebenslustigen,  kraftbewußten  Vater 
seine  Tochter  verführen  läßt,  nachdem  er  den  Bräutigam  schwank- 
artig an  die  Luft  gesetzt  hat ;  da  ist  die  Charakteristik,  der  Auf- 
bau, die  Intrige  auf  das  Primitivste  reduziert.  Das  Problem  :  »Ach 
was,  es  ist  ja  nichts  dabei.«  So  denkt  auch  Ssanin  und  hat  doch 
nicht  die  Courage,  die  Konsequenzen  zu  ziehen.  Voller  Neugierde 


23 


und  Geilheit  umschleicht  er  seine  Schwester,  er  geht  um  sie  herum 
wie  die  Katze  um  den  Brei.  In  einer  Sommernacht  belauscht  er 
sie,  während  sie  sich  bei  offenem  Fenster  entkleidet  (er  ist  über- 
haupt für  das  Lauschen  mit  den  Augen  und  den  Ohren).  Und 
als  sie  im  Hemde  dasteht  und  er  das  Schauspiel  beendet  sieht, 
ruft  er  sie  an  und  tritt  ans  Fenster;  sie  beugt  sich  zu  ihm  hin- 
über und  er  wird  berauscht  beim  Anblick  ihrer  Reize,  und  stottert 
Worte  mit  heiserer  Stimme.  Die  Schwester  wird  durch  des  Bruders 
Brunst  aufmerksam,  dann  fühlt  sie  sich  abgestoßen  und  zuletzt  wird 
sie  nachdenklich.  Sie  wird  zum  Weibe,  sobald  sie  sich  als  Weib 
angesehen  fühlt.  In  einer  schwachen  Stunde  läßt  sie  sich  vom 
Bruder  an  sich  reißen,  endlos  küssen,  drücken  bis  zur  Besinnungs- 
losigkeit. Es  bedurfte  vielleicht  nur  einer  Arie,  wie  sie  dieser 
räsonierende  Mann  der  Tat  für  alle  Lebenslagen  bereit  hält,  und  die 
Schwester  hätte  sich  ihm  hingegeben.  Aber  der  Maulheld,  der 
die  Liebesfreuden  propagandiert,  ohne  die  Liebe  zu  kennen,  zieht 
nicht  die  Konsequenz  aus  seinen  Lehren  und  aus  seiner  Begierde, 
sondern  sorgt  für  eine  Partie.  Die  Schwester  heiratet,  nachdem  sie 
mit  einem  schneidigen  Leutnant  böse  Erfahrungen  gemacht,  einen 
zwar  ungeliebten,  aber  anständigen  Menschen.  Was  ist  eigentlich 
die  Moral  davon  ?  Mich  dünkt,  daß  dieses  ganze  Getändel  gerade 
dadurch,  daß  sich  der  Bruder  zu  guterletzt  an  die  Schwester 
nicht  heranwagt,  zu  einer  Frivolität  herabsinkt.  -  —   — 

Es  handelt  sich  natürlich  nicht  um  Ssanin.  Ein  Reisender 
in  der  Ideen-Branche  ist  mit  rechter  Krämer-Intimtuerei  und  Un- 
geniertheit in  unser  Haus  gedrungen,  da  die  Tür  gerade  angelehnt 
war,  hat  seine  Musterkarten  gelassen  und  uns  einige  Artikel  auf- 
geschwatzt. Da  wir  uns  endlich  gesammelt,  ihn  an  die  Luft  gesetzt 
und  die  Fenster  geöffnet  haben,  werden  wir  nachdenklich :  Leute 
von  diesem  Schlag  wissen,  was  sie  tun;  sie  haben  einen  feinen 
> Riecher«.  Wenn  er  sich  hier  mit  solcher  Ungebundenheit  breit 
machte,  so  muß  er  herausgeschnüffelt  haben,  daß  er  hinter  der 
angelehnten  Tür  ein  psychologisches  Interregnum  vorfinden  würde. 

Es  gibt  erotische  Krisen.  Ein  jeder  hat  sie  zu  absolvieren.  Die 
erste  Krise,  wenn  die  erste  Vorreife  die  Ahnungen  durchbricht ; 
die  andere,  wenn  die  Vollreife  den  ersten  Knacks  verspürt;  eine 
fernere  dann,  wenn  die  Überreife  einen  verknackst  hat.  Eine  jede 
Krise  hat  ihre  Merkmale.  Je  stärker  die  Krise,  je  erschreckender 
die  Merkmale,     desto   reicher  die   Mittel.      Nicht    jeder  ist   ver- 


_  24  — 

pflichtet  sie  durchzumachen,  geschweige  denn,  sie  bewußt  durch- 
zumachen. Aber  die  erotisch  und,  im  Zusammenhange  damit, 
sonstwie  Begnadeten  kennen  sie. 

Just  solche  Krisen  hat  auch  die  Menschheit,  hat  auch  eine 
Rasse  durchzumachen.  Und  Rußland  macht  jetzt  eine  solche  durch. 
»Ssanin«  und  der  Wohlgefallen  daran  tragen  alle  Merkmale  jener 
der  ersten  Vorreife.  Aber  Rußland  wird  sich  schon  heraushelfen. 
Dieses  Land,  das  manchmal  solche  beängstigende  Sprünge  zu 
machen  beliebt  und  hie  und  da  die  besten  Nationen  zu  überholen 
droht,  wird  vielleicht  sehr  bald  eine  weitere  Krise  erreichen ;  und 
man  wird  staunen,  wie  verzwickt  sie  sein  wird.  Westen,  laß  dich 
begraben,  zu  solchen  Verzwicktheiten  hast  du  viel  zu  viel  Vernunft ! 

St.  Petersburg.  Paul  Barchan. 

*  * 

♦ 

Glossen. 

Eine  Tatsache,  deren  Erfindung  mehr  für  ihre  Möglichkeit 
beweist  als  ihre  zufällige  Wahrheit  bewiese,  wurde  jüngst  in  einer 
Zeitung  gemeldet.  Es  seien  48  Passagiere  des  am  1.  März  von  Wien 
abgelassenen  Luxuszuges  Wien-  Nizza  bis  zum  6.  in  Pontafel 
eingeschneit  gewesen,  ohne  daß  sie  Nachricht  von  ihrem  Verblei- 
ben geben  konnten,  da  auch  die  Telegraphenlinien  nach  Norden 
und  Süden  zerstört  waren.  »Erst  Samstag  kam  eine  militärische 
Skipatrouille  mit  Zeitungen  an,  in  denen  zur  größten  Verwun- 
derung der  Passagiere  vom  Schicksal  ihres  Zuges  noch  keine 
Meldung  enthalten  war.  Auch  wollte  man  nicht  begreifen,  daß  die 
25  Kilometer  lange  Strecke  binnen  einer  Woche  nicht  ausgeschau- 
felt werden  konnte.«  Zu  solchen  Meldungen  pflegen  die  Redak- 
tionen, die  sie  übernehmen,  zu  bemerken:  »Die  Nachricht  klingt 
ganz  unglaublich,  ihre  Bestätigung  bleibt  wohl  abzuwarten«.  Am 
nächsten  Tag  erfolgt  das  Dementi  der  Bahndirektion.  Ob  die 
Meldung  trotzdem  unwahr  ist,  ist  gleichgültig.  Das  Seelenleben 
der  Achtundvierzig  ist  in  einem  Satze  so  gut  erfaßt,  daß  man 
unbedingt  an  die  Beobachtung  eines  realen  Vorfalles  glauben  muß. 
So  und  nicht  anders  würden  sie  sich  geberden,  wenn  sie  die 
Teufelei  der  Natur  auf  einem  Schienenstrang  aus  dem  Verkehrs- 
leben ausgeschaltet  hätte.  Sechs  Tage  schon  von  der  Welt  abge- 
schnitten, die  Vorräte  des  Speisewagens  sind  zu  Ende,  weit  und  breit 
keine  Rettung.  Da,  endlich,  naht  eine  militärische  Skipatrouille.  Was 
bringt  sie?  Zeitungen!  Mit  gierigen  Händen  langen  dieAchtund- 


—  26  — 


vierzig  danach.  Aber  als  ob  die  Rettungsgesellschaft  den  hungern- 
den Opfern  eines  Erdbebens  Maccaroni  aus  Papiermache"  böte, 
—  die  Zeitungen  enthalten  nichts  über  die  Katastrophe!  Man 
sucht  seinen  Namen  und  findet  ihn  nicht.  Und  dafür  liegt  man 
sechs  Tage  auf  der  Strecke!  Wozu  die  ganze  Schneeverwehung? 
Wenn  man  schon  von  der  Außenwelt  abgeschnitten  ist,  so  soll 
sie  es  doch  wenigstens  erfahren !  Die  Achtundvierzig  werden  an 
der  journalistischen  Vorsehung  irre ;  sie  sterben  ohne  Trost.  Haben 
diese  Helden  in  keinem  Augenblick  an  ihre  leibliche  Rettung 
gedacht?  Nur  mit  jener  Wehmut,  die  nach  tieferer  Enttäuschung 
kaum  ein  Achselzucken  für  die  Dinge  des  Lebens  hat.  Die  ,Neue 
Freie  Presse'  bringt  nichts.  Was  kann  da  noch  Schlimmeres  kommen  ? 
Nun  ja,  >auch  wollte  man   nicht  begreifen«,    daß    die   Strecke 

nach  einer  Woche  noch  nicht  ausgeschaufelt  war. 

* 
Ein  Leser  der  Wiener  Tagespresse  wollte  eine  Vorstellung 
des  »Tasso«  besuchen.  Um  sich  aber  schon  vorher  ein  Urteil  zu 
bilden,  hat  er  sämtliche  Kritiken  gelesen.  Nun  flüchtet  er  zu  mir, 
will  durchaus  Antwort  auf  die  Frage  des  Pilatus  und  unterbreitet 
mir  die  folgende  Zusammenstellung: 


.Fremdenblatt'. 

»Herr  Gerasch  ist  kein  Tasso  für 
Wien«. 

,Neues  Wiener  Journal'. 

»Uninteressant  in  der  äußeren 
Erscheinung«. 

.Fremdenblatt'. 

»Herr  Gerasch  ist  nicht  warm«. 

.Neues  Wiener  Journal'. 

»Er  überlud  sie  (die  Rolle)  mit 
allem  Gepränge  komödiantischer 
Äußerlichkeiten«. 

.Fremdenblatt'. 

»Sein    kaltes   gellendes   Organ«. 
.Extrablatt*. 

»Die  Steigerung  im  vierten  Akte 
gelang  überraschend«. 

.Neues  Wiener  Tagblatt'. 

»Nicht  so  hinreißend  und  phos- 
phoreszierend wie  Herr  Kainz'. 


.Arbeiterzeitung'. 
»Die      ewige      Ariensucht 
Hohenfels«. 


der 


.Neues  Wiener   Tagblatt'. 
»Herr   Gerasch  hat   gestern  sehr 
gefallen«. 

.Zeit'. 
>Er  sieht  sehr  gut  aus«. 

.Neues  Wiener   Tagblatt'. 
»Er  gibt  ihn  warm  im  Ton«. 
.Neues   Wiener  Tagblatt'. 
»Er  gibt    ihn    (Tasso)  mit  edler 
Verzichtleistung    auf    alles    schau- 
spielerische Zuviel«. 

.Deutsches  Volksblatt'. 
»Sein  wunderbares  Organ«. 
.Österr.   Volkszeitung'. 
»Der    vierte    Akt   gelingt    Herrn 
Gerasch  nicht«. 

.Deutsches  Volksblatt'. 
»Die  Rolle,    die  Herr  Kainz  mit 
seinen    Mätzchen    und    seiner  Un- 
natur verdarb«. 

, Österr.    Volkszeitung'. 
»Frau  Hohenfels  und  Herr  Hart- 
niann    waren    Olympier,    die    sich 
bei  Sterblichen  zu  Gaste  luden«. 


—  26  — 

Eine  schöne  Bescherung !  Ich  habe  dazu  nur  zu  bemerken, 
daß  ich  Meinungsverschiedenheit  bei  gleichem  Mangel  an  Indivi- 
dualität in  der  Tat  empörend  finde. 

K. 

*2" 


Sprüche  und  Widersprüche.*) 

Der  Mann  hat  den  Wildstrom  weiblicher  Sinn- 
lichkeit kanalisiert.  Nun  überschwemmt  er  nicht  mehr 
das  Land.  Aber  er  befruchtet  es  auch  nicht  mehr. 

• 

Wenn  die  Natur  vor  Verfolgung  sicher  sein 
will,  rettet  sie  sich  in  die  Schweinerei. 

Im  Orient  haben  die  Frauen  größere  Freiheit. 
Sie  dürfen  geliebt  werden. 

Es  gibt  einen  dunklen  Weltteil,  der  Entdecker 
aussendet.  * 

Es  ist  ganz  ausgeschlossen,  daß,  wie  die  Dinge 
heute  liegen,  ein  wiederkehrender  Goethe  nicht  wegen 

unerlaubter  Reversion  ausgewiesen  würde. 

• 

Auf  einem  Kostümfest  hofft  jeder  der  Auffal- 
lendste zu  sein ;  aber  es  fällt  nur  der  auf,  der  nicht 
kostümiert  ist.  Sollte  das  nicht  einen  Vergleich  geben  ? 

• 
Die  Persönlichkeit  hat  ein  Recht  zu  irren.    Der 
Philister  kann  irrtümlich  recht  haben. 

• 
Bei  gleicher  Geistlosigkeit  kommt   es   auf  den 
Unterschied  der  Körperfülle  an.  Ein  Dummkopf  sollte 

nicht  zu  viel  Raum  einnehmen. 

*  ■ 

An  dem  deutschen  Kaffee  habe  ich  eine  über- 
triebene Nachgiebigkeit   gegenüber   der  Milch  beob- 

*)  Diese  Aphorismen,  zuerst  im  ,Simplicissimus'  erschienen,  sind 
in  verschiedenen  Abteilungen  des  Buches  »Sprüche  und  Wider- 
sprüche«  (Verlag  Albert  Langen,  München)  enthalten. 


27 


achtet.  Er  erbleicht,  wenn  sie  nur  in  seine  Nähe 
kommt.  Das  könnte  auch  ein  Bild  von  der  Beziehung 
der  Geschlechter  in  diesem  Lande  sein. 

• 
Der  Friseur  erzählt  Neuigkeiten,  wenn  er  bloß 
frisieren  soll.  Der  Journalist  ist  geistreich,    wenn   er 
bloß  Neuigkeiten  erzählen  soll.    Das   sind  zwei,    die 

höher  hinaus  wollen. 

• 
Nicht  auf  alle  Grüße  muß  man  antworten.  Vor 
allem  nicht  auf  solche,  die  bloß  eine  Bitte  um  Gunst 
ausdrücken.  Der  Gruß  an  einen  Kritiker  ist  der  Gruß 
der  Furcht,  er  ist  nicht  höher  zu  werten  als  der 
Fiakergruß,  der  ein  Gruß  der  Hoffnung  ist :  die 
Grüßenden  wünschen  sich  selbst  einen  guten  Tag. 
Man  soll  die  Gesinnung,  die  eine  Freundlichkeit  zu 
gewinnsüchtigen  Zwecken  mißbraucht,  nicht  auch  nooh 

mit  einer   körperlichen   Unbequemlichkeit   belohnen. 

• 

Gesellschaft:  Es  war  alles  da,  was  da  sein  muß 
und  was  sonst  nicht  wüßte,  wozu  das  Dasein  ist, 
wenn  es  nicht  eben  dazu  wäre,  daß  man  da  ist. 

» 

Es  ist  ein  Unglück,  daß  in  der  Welt  mehr 
Dummheit  ist,  als  die  Schlechtigkeit  braucht,  und 
mehr  Schlechtigkeit,  als  die  Dummheit  erzeugt. 

• 

Das  ist  der  Triumph  der  Sittlichkeit:  Ein  Dieb, 
der  in  ein  Schlafzimmer  gedrungen  ist,  behauptet, 
sein  Schamgefühl  sei  verletzt  worden,  und  erpreßt 
die  Unterlassung  der  Anzeige. 

* 

Jedes  Gespräch  über  das  Geschlecht  ist  eine  ge- 
schlechtliche Handlung.  Den  Vater,  der  seinen  Sohn 
aufklärt,   dieses  Ideal   der  Aufklärung,   umgibt  eine 

Aura  von  Blutschande. 

• 

Daß  eine  Kokotte  nach  sozialen  Ehren  strebt, 
ist  eine  traurige  Erniedrigung ;  aber  sie  entschädigt 
sich  wenigstens  durch  heimliche  Freuden.  Viel  ver- 
werflicher ist  die  Praxis  jener  Frauen,  die  durch  den 


-  28  — 


Schein  eines  Freudenlebens  über  ihre  heimliche  Ehr- 
barkeit zu  täuschen  wissen.  Sie  schmarotzen  an  einer 
sozialen  Verachtung,  die  sie  sich  nicht  verdient 
haben;  und  das  ist  die  schlimmste  Art  von  Streberei. 

■ 
Wie  wenig  Verlaß  ist  auf  eine   Frau,   die    sich 
auf  einer  Treue   ertappen   läßt !    Sie    ist    heute    dir, 
morgen  einem  andern  treu. 

* 
Mancher  rächt  an  einer  Frau  durch  Gemeinheit, 
was  er  durch  Torheit  an  ihr  gesündigt  hat. 

* 
Man  kann  eine  Frau  wohl  in  flagranti  ertappen, 
aber  sie  wird  noch  immer  Zeit  genug   haben,    es   in 

Abrede  zu  stellen. 

« 
Perversität  ist  entweder  eine  Schuld    der   Zeu- 
gung oder  ein  Rocht  der  Überzeugung. 

Wohltätige    Weiber:    solche,     denen    es    nicht 
mehr  gegeben  ist,  wohlzutun. 

* 
Man  tut  ein  gutes  Werk,  wenn  man  dem  Luxus 
des  Nebenmenschen    zu    Hilfe    kommt.    Es   ist  eine 
üble  Anwendung  der  Wohltätigkeit,  die  Bestrebungen 
der  Pauvrete*  zu  unterstützen. 

• 
Es    gibt     Menschen,    welchen    es    gelingt,    die 
Vorteile   der  Welt  mit  den  Benefizien  des   Verfolgt- 
leins  zu  vereinigen. 

• 
Die  stärkste  Kraft  reicht  nicht   an  die  Energie 
heran,  mit  der    manch    einer    seine    Schwäche    ver- 
teidigt. 

* 
Die  wahre  Treue  gibt  eher  einen  Freund  preis 

als  einen  Feind. 

* 

Ich  kann  mich  so  bald  nicht  von  dem  Eindruck 
befreien,  den  ich  auf  eine  Frau  gemacht  habe. 


—  29  — 

Das  ist  noch  immer  nicht  die  richtige  Einsam- 
keit, in  der  man  mit  sich  beschäftigt  ist. 

« 

An  einem  Ideal  sollte  nichts  erreichbar  sein  als 
ein  Martyrium. 

Wer  offene  Türen  einrennt,  braucht  nicht  zu 
fürchten,  daß  ihm  die  Fenster  eingeschlagen  werden. 

# 

Das  Geheimnis  des  Agitators  ist,  sich  so  dumm 
zu  machen,  wie  seine  Zuhörer  sind,  damit  sie  glau- 
ben, sie  seien  so  gescheit  wie  er. 

• 

Ein  guter  Autor  wird  immer  fürchten,  daß  das 
Publikum  am  Ende  merke,  welche  Gedanken  ihm  zu 
spät  eingefallen  sind.  Aber  das  Publikum  ist  darin 
viel  nachsichtiger  als  man  glaubt,  und  merkt  auch 
die  Gedanken  nicht,  die  da  sind. 

• 

Einen  Aphorismus  zu  schreiben,  wenn  man  es 
kann,  ist  oft  schwer.  Viel  leichter  ist  es,  einen 
Aphorismus  zu  schreiben,   wenn  man  es  nicht  kann. 

Es  gibt  Schriftsteller,  die  schon  in  zwanzig 
Seiten  ausdrücken  können,  wozu  ich  manchmal  sogar 

zwei  Zeilen  brauche. 

* 

Man  darf  auf  dem  Theater  die  Natur  einer  Per- 
sönlichkeit nicht  mit  der  Natürlichkeit  einer  Person 
verwechseln. 

Nicht  alles,  was  totgeschwiegen  wird,  lebt. 

• 
Die  Kritik  beweist  nicht  immer  ihren  gewohn- 
ten Scharfblick;    sie  ignoriert    oft    die    wertlosesten 

Erscheinungen. 

* 

In  der  Literatur  gibt  es  zwei  verschiedene  Ähn- 
lichkeiten. Wenn  man  findet,    daß    ein  Autor    einen 


—  30  — 

andern  zum  Verwandten,  und  wenn    man    entdeckt, 
daß  er  ihn  bloß  zum  Bekannten  hat. 

* 

Ein  schöpferischer  Kopf  sagt  auch  das  aus 
eigenem,  was  ein  anderer  vor  ihm  gesagt  hat.  Dafür 
kann  ein  anderer  Gedanken  nachahmen,  die  einem 
schöpferischen  Kopf  erst  später  einfallen  werden. 

• 

Eigene  Gedanken  müssen  nicht  immer  neu  sein. 
Aber  wer  einen  neuen  Gedanken  hat,  kann  ihn  leicht 

von  einem  andern  haben. 

• 

Die  Wissenschaft  tiberbrückt  nicht  die  Abgründe 
des  Denkens,  sie  steht  bloß  als  Warnungstafel  davor. 
Die  Dawiderhandelnden  haben  es  sich  selbst  zuzu- 
schreiben. 

• 
Wahn  verpflichtet  durchs  Leben  wanken  —  das 
könnte  immer  noch  ein  aufrechterer   Gang    sein   als 
der   eines    Wissenden,   der   sich   an  den  Abgründen 
entlang  tastet. 

• 
Die  Unsterblichkeit  ist  das  einzige,  was  keinen 
Aufschub  verträgt. 

* 
Hüte  dich  vor  den  Frauen  I  Du  kannst  dir  eine 
Weltanschauung  holen,    die  dir  das  Mark  zerfressen 
wird. 

• 
Qual  das  Lebens  —  Lust  des  Denkens. 

• 
Wenns  nur  endlich  finster   wäre  in  der  Natur ! 
Dies  elende  Zwielicht  wird  uns  noch  allen  die  Augen 
verderben. 

I  ,  Karl  Kraus. 

* 

Pascin. 

Ich  würde  es  dem  Zeichner  Pascin  von  Her- 
zen gönnen,  daß  das,  was  ich  hier  über  ihn 
schreibe,  für  nicht  gar  so  wenig  Menschen  In- 
teresse hätte.   Indessen    würde    es    mich    selbst    am 


—  31  — 


Geschmack  des  Publikums  irre  machen,  wenn  dieses  für 
einen  so  erstaunlich  tiefen,  kühnen  und  durchaus 
singulären  Künstler  auch  nur  eine  leise  Sympathie 
bezeugte  ...  In  der  Tat  ist  es  recht  unanständig,  zu 
sagen,  daß  man  in  der  Kunst  Pascins  Genuß  findet; 
denn  hier  wie  immer  wird  man  unserm  künstleri- 
schen Entzücken  ein  stoffliches  unterschieben. 

Nun  hat  freilich  bei  Pascin  auch  das  Stoffliche 
an  und  für  sich  schon  psychologische  Bedeutung ; 
und  seine  Kunst  wird  vollkommen  unzugänglich  blei- 
ben für  alle,  die  entweder  nicht  reich  oder  nicht 
ehrlich  genug  sind,  um  —  wenigstens  in  sogenann- 
ten dunklen  Augenblicken  —  auf  dem  untersten 
Grunde  ihrer  Seele  schlummernde  Möglichkeiten  des 
Tierischen,  oder  auch  nur  die  leisen  Schatten  solcher 
Möglichkeiten  herumkriechen  zu  sehen. 

* 

Ein  besonderer  Grund,  warum  es  Pascin  gar 
nicht  gelingt,  das  sonst  den  erotischen  Darstellungen 
heimlich  nicht  abgeneigte  Publikum  für  sich  zu  ent- 
zünden, scheint  mir  darin  zu  liegen,  daß  ihm  das 
keuchende  Pathos  im  Erotischen  gänzlich  fremd  ist. 
Ach,  »er  geht  nirgends  aufs  Ganze«  1  In  der  Gebärde, 
überhaupt  in  der  ganzen  Erfindung  seiner  Figuren 
und  Situationen  liegt  nirgends  etwas  Entschlossenes 
und  Definitives  —  überall  nur  jener, andeutende,  letzte 
feine  Rest  psychologischer  Regung;  nirgends  heftige 
Bewegung,  sondern  höchstens  ein  leiser  Wille  dazu. 

» 

Pascin  ist  der  Darsteller  psychologisch-erotischer 
Grenzgebiete.  Von  den  meisten  erotischen  Künstlern 
unterscheidet  er  sich  dadurch,  daß  er  nie  illustriert. 
Er  ist  ein  viel  zu  guter  Psychologe,  um  Vorgänge 
illustrieren  zu  müssen.  In  einer  matt  herabhängenden 
langen  mageren  Hand  vermag  er  das  Erschauern 
aller  Perversitäten  auf  einmal  auszudrücken.  Er 
zeichnet  nur  irgend  ein  schiefgezogenes  Auge,  und 
läßt  uns  so  schon  einen  tieferen  Blick  in  Abgründe  tun 
als  ein  anderer,  der  diese  Abgründe   selbst   darstellt. 


—  32  — 

Ich  protestiere  daher  nachdrücklich  gegen  eine 
Meinung,  die,  soviel  ich  weiß,  sehr  verbreitet  ist  — 
nämlich  dagegen,  daß  Pascin  einem  »schauerlichen 
Realismus«  huldige.  Diese  Meinung  des  Publikums 
hängt  natürlich  wieder  mit  seiner  öden  Verwechslung 
des  Dargestellten  und  der  Darstellung  zusammen. 
Ich  empfinde  im  Gegenteil  die  Kunst  Pascins  als 
durchaus  mystisch. 

An  jeder  Figur  oder  Situation  führt  Pascin  nur 
soviel  aus,  als  unbedingt  nötig  ist,  die  Idee  der 
Figur  oder  Situation  wiederzugeben.  Vieles  liegt  bei 
ihm  überhaupt  schon  auf  der  Grenze  zwischen 
Mensch  und  reinem  Symbol  eines  Triebes,  zwischen 
animal  und  dem  reinen  Ausdruck,  der  Idee  des  ani- 
mal.  Ich  erinnere  mich  an  jenes  zwischengeschlecht- 
liche nackte  Riesen-Monstrum  im  Kinderwagen,  das  nur 
glotzt .  .  .  glotzt  wie  tausend  eklige  Tiere  aus  einem 
tausend  Jahre  lang  versumpften  Brunnen.  Die  Häß- 
lichkeit dieses  Monstrums  übertrifft  weitaus  alle 
Wirklichkeit;  sie  ist  realistisch  unmöglich,  auch  bei 
den  Hallstättern,  und  muß  als  das  abstrahierte  Symbol 

irgend  eines  grausigen  Sexualtriebes  aufgefaßt  werden. 

• 

Ebenso  fremd  wie  Pascin  das  stoffliche  Pathos 
in  der  Erotik  bleibt,  ist  ihm  das  Pathos  auch  in  der 
künstlerischen  Ausführung.  Alles  ist  leicht,  zart  und 
nachlässig  hingeworfen,  oft  nur  spärlich  skizziert. 
Pascin  hat  unendlich  viel  Sinn  für  Nuancen.  Das 
bedingt  an  und  für  sich  eine  zarte  Technik. 

• 

Reine  Komik,  befreiendes  Lachen  finden  wir 
nie  bei  Pascin.  Auch  hier  wehrt  er  sich  gegen  das 
Pathos  —  ich  meine  gegen  das  Pathos  der  Heiter- 
keit. Komische  Linien  haben  bei  ihm  stets  eine 
Richtung  ins  Grausige  oder  in  eine  degenerierte 
Müdigkeit.  Die  reine  Komik  würde  eine  derbere 
Technik  verlangen,  als  er  anwenden  will.  Wenn 
er  eine  rumänische  Kupplerin  zeichnet,  wie  sie 
ihrer  Tochter  das  Haar  bindet,  läßt  er  aus  dem 
vergrößerten  Weiß  ihrer  Augen,   aus   der  Spannung 


—  33 


ihrer  knöcherigen  Hand  die  sexuelle  Wollust  der 
Kupplerin  fiebern.  Seine  Kunst  erlaubt  ihm,  realisti- 
scheren Vorgängen  aus  dem  Wege  zu  gehen. 

* 

Pascin  ist  Meister  in  der  Erregung  des  Grauens. 
Mein  tiefstes  Grauen  hat  er  mit  einigen  Zeichnungen 
geweckt,  auf  denen  die  dargestellten  Menschen  in 
unendlicher  Müdigkeit  und  Apathie  nur  dasitzen  und 
warten,  immer  nur  warten  ...  Er  hat  Typen  ge- 
zeichnet, die  auch  zum  Sterben  zu  müd  sind.  Ein 
kleiner,  knochiger,  verrunzelter  Hund,  der  auf  diesen 
Zeichnungen  nie  fehlt,  verstärkt  noch,  durch  die 
tierische  Perversität  seines  Blickes,  den  ungeheuren 
Eindruck  vollkommenster  Verlassenheit. 

Auch  zu  solchen  Darstellungen  würde  eine 
kräftige  Technik  nicht  passen;  nur  die  feinsten 
Striche  und  die  abgetöntesten  Farben  vermögen  die 

Idee  zu  retten. 

* 

Manchmal  hat  Pascin  mitten  unter  viehisch 
wüste  und  verwüstete  Balkanweiber  irgend  ein  Mäd- 
chen mit  ausnehmend  hübschem  Gesicht  gezeichnet, 
das  in  naiver  und  unschuldiger  Miene  eine  kindlich 
fromme  Perversität  zum  Ausdruck  bringt.  Diese 
künstlerische  Laune  Pascins  hat  mir  von  jeher  ge- 
fallen. Ich  glaube  nämlich,  daß  er  sich  damit  über 
das  Publikum  moquierte,  indem  er  ihm  lächelnd 
sagte:  >Seht,  ich  könnte  sogar  etwas  Süßes  zeichnenlc 

Zur  Ehre  des  Publikums  sei  festgestellt,  daß  es 
sich  von  diesen  sporadischen  Launen  Pascins  nicht 
hinreißen  ließ.  Diese  Launen  waren  zu  selten,  als  daß 
eine  dauernde  Neigung  darauf  hätte  basieren  können. 

München.  Karl  Borromaeus  Heinrich. 

*  * 

Der  Fortschritt.*) 

Ich  habe  mir  eine  Zeitungsphrase  einfallen 
lassen,     die    eine    lebendige    Vorstellung    gibt.     Sie 

*)  Aus  dem   .Simplicissimus'. 


84  — 


lautet:  Wir  stehen  im  Zeichen  des  Fortschritts.  Jetzt 
erst  erkenne  ich  den  Portschritt  als  das,  was  er  ist,  — 
als  eine  Wandeldekoration.  Wir  bleiben  vorwärts  und 
schreiten  auf  demselben  Fleck.  Der  Fortschritt  ist 
ein  Standpunkt  und  sieht  wie  eine  Bewegung  aus.  Nur 
manchmal  krümmt  sich  wirklich  etwas  vor  meinen 
Augen :  das  ist  ein  Drache,  der  einen  goldenen  Hort 
bewacht.  Öderes  bewegt  sich  nachts  durch  die  Straßen: 
das  ist  die  Kehrichtwalze,  die  den  Staub  des  Tages  auf- 
wirbelt, damit  er  sich  an  anderer  Stelle  wieder  senke. 
Wo  immer  ich  ging:,  ich  mußte  ihr  begegnen.  Ging 
ich  zurück,  so  kam  sie  mir  von  der  anderen  Seite 
entgegen,  und  ich  erkannte,  daß  eine  Politik  gegen 
den  Fortschritt  nutzlos  sei,  denn  er  ist  die  unent- 
rinnbare Entwicklung  des  Staubes.  Das  Schicksal 
schwebt  in  einer  Wolke,  und  der  Fortschritt,  der 
dich  einholt,  wenn  du  ihm  auszuweichen  hoffst, 
kommt  als  Gott  aus  der  Maschine  daher.  Er  schleicht 
und  erreicht  den  flüchtigen  Fuß  und  nimmt  dabei 
so  viel  Staub  von  deinem  Weg,  als  zu  seiner  Ver- 
breitung notwendig  ist,  auf  daß  alle  Lungen  seiner 
teilhaft  werden,  denn  die  Maschine  dient  der  großen 
fortschrittlichen  Idee  der  Verbreitung  des  Staubes. 
Vollends  aber  ging  mir  der  Sinn  des  Fortschritts  auf, 
als  es  regnete.  Es  regnete  unaufhörlich  und  die 
Menschheit  dürstete  nach  Staub.  Es  gab  keinen  und 
die  Walze  konnte  ihn  nicht  aufwirbeln.  Aber  hinter 
ihr  ging  ein  radikaler  Spritzwagen  einher,  der  sich 
durch  den  Regen  nicht  abhalten  ließ,  den  Staub  zu 
verhindern,  der  sich  nicht  entwickeln  konnte.  Das 
war  der  Fortschritt. 

Wie  enthüllt  er  sich  dem  Tageslicht?  In  welcher 
Gestalt  zeigt  er  sich,  wenn  wir  ihn  uns  als  einen 
flinkeren  Diener  der  Zeit  denken?  Denn  wir  haben 
uns  zu  solcher  Vorstellung  verpflichtet,  wir  möchten 
des  Fortschritts  inne  werden,  und  es  fehlt  uns  bloß  die 
Wahrnehmung  von  etwas,  wovon  wir  überzeugt  sind. 
Wir  sehen  von  allem,  was  da  geht  und  läuft  und 
fährt,  nur  Füße,  Hufe,  Räder.  Die  Spuren  verwischen 


35 


sich.  Hier  lief  ein  Börsengalopin,  dort  jagte  ein 
apokalyptischer  Reiter.  Vergebens  . . .  Wir  können  von 
Schmockwitz  nach  Schweifwedel  telephonisch  sprechen, 
und  wissen  noch  nicht,  wie  der  Foitschritt  aussieht! 
Wir  wissen  bloß,  daß  er  auf  die  Qualität  der  Fern- 
gespräche keinen  Einfluß  genommen  hat,  und  wenn 
wir  einmal  so  weit  halten  werden,  daß  man  zwischen 
Wien  und  Berlin  Gedanken  übertragen  wird,  so  wird 
es  nur  an  den  Gedanken  liegen,  wenn  wir  diese  Ein- 
richtung nicht  in  ihrer  Vollkommenheit  bewundern 
können.  Die  Menschheit  wirtschaftet  drauf  los; 
sie  braucht  ihr  geistiges  Kapital  für  ihre  Erfindungen 
auf  und  behält  nichts  für  deren  Betrieb.  Der  Fort- 
schritt aber  ist  schon  deshalb  eine  der  sinnreichsten 
Erfindungen,  die  ihr  gelungen  sind,  weil  zu  seinem 
Betrieb  nur  der  Glaube  notwendig  ist,  und  so  haben 
jene  Vertreter  des  Fortschritts  gewonnenes  Spiel,  die 
einen  unbeschränkten  Kredit  in  Anspruch  nehmen. 
Besehen  wir  das  Weltbild  im  Spiegel  der  Zeitung, 
so  erweist  sich  der  Fortschritt  als  die  Methode,  uns 
auf  raschestem  Wege  alle  Rückständigkeiten  erfahren 
zu  lassen,  die  in  der  weiten  Welt  vor  sich  gehen. 
Was  mir  aber  den  größten  Respekt  abnötigt,  ist  die 
Möglichkeit,  bedeutende  zeitgeschichtliche  Tatsachen 
auf  photographischem  Wege  dem  Gedächtnis  jener 
Nachwelt  zu  überliefern,  die  am  Morgen  des  folgenden 
Tages  beginnt  und  am  Abend  zu  Ende  ist.  Der  Fort- 
schritt ist  ein  Momentphotograph.  Ohne  ihn  wäre 
jener  Augenblick  unwiederbringlich  verloren,  in  dem 
der  König  von  Sachsen  vom  Besuche  einer  Sodawasser- 
fabrik sich  zu  seinem  Wagen  begab.  Wie  sieht  das 
aus?  fragte  man  sich.  Wie  macht  er  das?  Wie  geht 
der  König?  Er  setzt  einen  Fuß  vor  den  andern,  und 
der  Momentphotograph  hat  es  festgehalten.  Aber  dieser 
vermag  vom  Schreiten  nur  einen  Schritt  zu  erhaschen, 
darum  wird  das  Gehen  zum  Gehversuch,  und  der 
Adjutant,  der  auf  die  Füße  des  Königs  sieht,  scheint 
die  Schritte  zu  zählen,  damit  keiner  ausgelassen  wird: 
Eins,  zwei;  eins,  zwei ...  So  weiß  man  immerhin,  wie 


—  36  — 


die  Sohle  des  Königs  von  Sachsen  beschaffen  ist;  aber 
auch  das  mag  dem  deutschen  Volke  genügen.  Mehr 
bietet  die  Momentphotographie,  wenn  sie  sich  »in 
den  Dienst  des  Sports  stellte,  und  ohne  sie  wäre  der 
Sport  am  Ende  gar  kein  Vergnügen.  Eine  Schlitten- 
fahrt —  hei,  das-  macht  Spaß !  » Prinz  Eitel  Friedrich 
bremst«.  Und  was  tut  Prinz  August  Wilhelm?  >Prinz 
August  Wilhelm  hilft  als  galanter  Gatte  seiner  Ge- 
mahlin vom  Schlitten.«  Ist  das  Bild  das  offizielle 
Dementi  eines  Gerüchtes,  daß  Prinz  August  Wilhelm 
ungalant  sei  und  bei  Schlittenfahrten  seine  Gemahlin 
allein  aussteigen  lasse?  Hat  sich  solcher  Argwohn  im 
Gefühlslebendes  deutschen  Volkes  eingenistet?  Nein, 
das  deutsche  Volk  liebt  es  zu  hören,  daß  Prinz 
August  Wilhelm  als  galanter  Gatte  seiner  Gemahlin 
vom  Schlitten  helfe,  auch  wenn  es  nie  daran  ge- 
zweifelt hat  und  das  Gegenteil  nicht  behauptet 
wurde.  Wäre  das  Gegenteil  behauptet  worden,  so 
könnte  man  sagen,  es  sei  kleinlich,  solche  Gerüchte 
zu  widerlegen.  Das  deutsche  Volk  glaubt  sie  ohne- 
dies nicht.  Es  glaubt  nur,  was  es  sieht.  Darum 
glaubt  es  an  die  Galanterie  des  Prinzen  August 
Wilhelm,  wenn  es  eineProbe  zu  sehen  bekommt.  Es  will 
sehen,  wie  sich  dieser  Prinz  benimmt,  wenn  er  mit  seiner 
Gemahlin  aus  dem  Schlitten  steigt.  Da  es  nun  unmöglich 
ist,  das  deutsche  Volk  in  seiner  Gesamtheit  zur  Be- 
sichtigung des  Vorgangs  zuzulassen  und  die  Ver- 
sicherung der  Berichterstatter  nicht  genügt,  so  stellt 
sich  die  Momentphotographie  in  den  Dienst  des  Sports. 
Quälend  wäre  aber  auch  die  Ungewißheit,  ob  der 
Badische  Finanzminister  anders  geht,  wenn  er  das 
Reichsschatzamt  verläßt,  als  der  Hessische  Minister 
der  Finanzen,  oder  ob  Taft,  die  Grüße  der  Volks- 
menge erwidernd,  den  Mund  weiter  öffnet,  als  Roose- 
velt  in  diesem  Falle  gewohnt  war.  Das  eben 
ist  der  Fortschritt,  daß  solches  Interesse  heute 
schnellere  Befriedigung  findet  als  ehedem,  ja  daß 
sogar  die  schnellere  Befriedigung  solches  Interesse 
heute  erzeugen  kann.   Einst  war  der  Geist  auf  Bücher 


-  87  — 

angewiesen  und  der  Atem  auf  Wälder.  Wo  sollen 
wir  heute  in  Ruhe  unsere  Zeitung  lesen?  Die  Papier- 
industrie blüht,  aber  sie  gibt  keinen  Schatten.  Und 
die  Rotationsmaschine  schleicht  nachts  durch  die 
Straßen,  wirbelt  den  Staub  des  Tages  auf  und  setzt 
ihn  für  den  kommenden  Tag  wieder  ab. 

Als  ich  ein  Knabe  war,  sah  ich  den  Fortschritt 
in  der  Gestalt  eines  deutsch-fortschrittlichen  Abge- 
ordneten. Er  vertrat  die  Freiheit,  er  vertrat  die 
böhmischen  Landgemeinden,  er  vertrat  die  Stiefel- 
absätze. Was  wollte  ich  mehr?  Ich  hörte  zum  ersten- 
mal, die  Deutschen  in  Österreich  seien  von  den 
Tschechen  »vergewaltigte  worden.  Ich  verstand  kein 
Wort  davon,  aber  ich  weinte  vor  Erregung.  Es  war 
eine  Phrase,  die  mir  einen  Lebensinhalt  offenbarte. 
Später,  als  die  Vergewaltigung  in  eine  Keilerei  aus- 
artete, sah  ich  selbst  in  dieser  keine  Äußerung  natürlicher 
Kräfte,  sondern  die  Folge  einer  Phrase.  Da  die 
Politik  nicht  mehr  mein  Gefühl  ansprach,  erkannte 
ich,  daß  sie  nicht  zu  meinem  Verstände  spreche. 
Politik  ist  Teilnahme,  ohne  zu  wissen  wofür.  Wenn 
sie  aber  nicht  einmal  mehr  das  ist,  so  kann  es  leicht 
geschehen,  daß  sich  uns  der  Fortschritt  als  die  Welt- 
anschauung des  Obmannes  der  freiwilligen  Feuer- 
wehr von  Pardubitz  enthüllt.  Aus  solcher  Ent- 
täuschung gewöhnte  ich  mich,  das  Prinzip  der  kultu- 
rellen Entwicklung  nur  mehr  in  jenen  Regionen 
des  Lebens  zu  suchen,  die  dem  Sprachenstreit  ent- 
rückt sind.  Ich  fand  den  Fortschritt  in  allen,  ohne 
in  einer  einzigen  seine  Physiognomie  zu  finden.  Ich 
glaubte,  ich  sei  in  eine  Maskenleihanstalt  geraten. 
Jetzt  war  er  ein  Ausgleicher  im  sozialen  Bankrott, 
jetzt  ein  Schaffner  an  jenem  Zug  des  Herzens,  der 
Hoheiten  talwärts  führt;  hier  Wahlagitator,  dort 
Kuppler;  bald  Nervenarzt,  bald  Kolporteur.  Rechts  von 
mir  sagte  einer,  der  keine  gerade  Nase  hatte:  Ich  sitze 
mit  vier  Reichsrittern,  drei  Markgrafen,  zwei  Fürsten 
und  einem  Herzog  im  Verwaltungsrat  der  Konserven- 
fabrik . . .  Das  war  der  Fortschritt.  Links  von  mir  sagte 


—  38 


eine  Dame,  die  Boutons  trug:  Man  kann  die  Neunte 
Symphonie  am  billigsten  im  Arbeiterkonzert  hören, 
aber  mau  muß  sich  dazu  schäbig  anziehen  . . .  Das  war 
der  Portschritt. 

Dann  sah  ich  ihn  als  Ingenieur  am  Werke.  Wir 
verdanken  ihm,  daß  wir  schnell  vorwärts  kommen. 
Aber  wohin  kommen  wir?  Ich  selbst  begnügte  mich, 
es  als  das  dringendste  Bedürfnis  zu  empfinden, 
zu  mir  zu  kommen.  Darum  lobte  ich  den  Fortschritt  und 
wollte  in  einer  Stadt  nicht  fürder  leben,  in  der  mir 
Hindernisse  und  Sehenswürdigkeiten  den  Weg  zum 
Innenleben  verstellen.  Eines  Tages  begann  ich  aber 
neuen  Mut  zu  schöpfen,  weil  das  Gerücht  zu  mir  drang, 
in  Wien  sei  eine  Automobildroschke  zu  sehen  gewesen. 
Die  wird  wohl  schwer  zu  haben  sein,  dachte  ich,  aber 
wenn  ich  sie  doch  einmal  erwische,  so  wird  es  ein  anderes 
Leben  werden  1  Im  Sausewind  an  den  Individualitäten 
vorbei,  die  mich  an  jeder  Straßenecke  belästigen, 
—  das  allein  ist  schon  ein  anregendes  Erlebnis.  Ich 
machte  mich  auf,  den  Portschritt  zu  suchen,  und  fand 
ihn  auf  seinem  Standplatz.  Die  Aulomobildroschke 
stand  da  als  eine  Verlockung  zu  einem  Leben  ohne 
Hindernisse,  der  jeder  Wiener  aus  dem  Wege  ging. 
Aber  wenn  er  geahnt  hätte,  daß  auch  sie  ihm  all 
den  Reiz  des  Umständlichen  bieten  konnte,  den  zu 
entbehren  ihm  so  schwer  fällt,  er  hätte  eine  Fahrt 
riskiert,  umso  mehr  als  der  Chauffeur  durch  die  Frage 
»Pahr'n  m'r  Euer  Onadenc  das  sympathische  Bestreben 
verriet,  an  <lie  Tradition  anzuknüpfen  und  über  den 
Mangel  an  Pferden  taktvoll  hinwegzutäuschen.  Ich, 
ein  Freund  des  Fortschritts,  ließ  mich  nicht  lange 
bitten,  und  ich  kann  heute  sagen,  daß  jeder  Wiener  es 
bedauern  kann,  meinem  Beispiel  nicht  gefolgt  zu 
sein.  Alle  Befürchtungen,  es  könnte  am  Ende  glatt 
gehen,  sind  überflüssig  und  getrost  darf  man  sich  dem 
neuen  Fahrzeug  anvertrauen.  Vor  allem  gab  es  vieles 
zu  sehen.  Denn  zehn  unbeschäftigte  Kutscher  halfen 
dem  Chauffeur,  den  Wagen  flott  zu  machen,  und 
hier  zeigte  es  sich,  daß  unser  Portschritt  nicht  durch 


—  39 


die  Feindschaft  des  Alten  gehemmt  wird,  sondern  im 
Gegenteil  durch  dessen  Unterstützung.  Ein  Wasserer 
eilt  herbei,  um  nach  dem  Rechten  zu  sehen.  Er  will 
nach  alter  Gewohnheit  den  Wagen  waschen,  ehe 
man  fährt.  Aber  als  er  dann  auch  den  Pferden  den 
Futtersack  reichen  wollte,  stellte  es  sich  heraus,  daß 
keine  da  waren.  Man  konnte  sie  also  nicht  einmal 
abdecken  und,  schlimmer  als  das,  man  hatte  nichts 
bei  der  Hand,  um  den  Taxameter  zuzudecken.  Nach- 
dem sich  der  Wasserer,  der  die  Welt  nicht  mehr 
verstand,  kopfschüttelnd  entfernt  hatte,  setzte  sich 
trotzalledem  wie  durch  ein  Wunder  das  Automobil 
in  Bewegung,  nicht  ohne  daß  es  mir  aufgefallen  wäre, 
wie  der  Chauffeur  mit  einem  fremden  Mann  ge- 
heimnisvoll einige  Worte  wechselte.  Als  ich  am  Ziel 
ausstieg,  sah  ich  denselben  Mann  wieder  mit  dem 
Chauffeur  sprechen.  Er  war  vorausgegangen  und  hatte 
das  Automobil  erwartet.  Ich  beruhigte  mich  bei  dem 
Gedanken,  daß  es  ein  Vertreter  der  Firma  sein  könnte, 
die  es  erzeugt  hatte,  und  fand  sogar  Gefallen  an  der 
Vorstellung,  daß  ich  —  als  Vertreter  des  Fortschritts 
—  ausersehen  war,  die  Probefahrt  zu  bestehen.  Den 
Ovationen  der  Menge,  die  sich  inzwischen  angesammelt 
hatte,  entzog  ich  mich,  indem  ich  zu  dem  benach- 
barten Standplatz  ging,  um  die  Rückfahrt  in  einem 
Einspänner  anzutreten.  Der  Standplatz  war  aber  leer, 
weil  sämtliche  Kutscher  zu  dem  Automobil  geeilt 
waren.  Nur  einer  war  auf  seinem  Bock,  der  aber 
schlief  und  als  ihm  ein  Polizist,  den  ich  schon  auf- 
geweckt hatte,  dieses  Benehmen  verwies,  murmelte  er 
aus  dem  Schlaf  die  Worte:  »Jetzt  könnts  mi  alle  mit- 
ananda  — c  Er  meinte  hauptsächlich  den  Fortschritt. 
Nun  erst  war  ich  begierig  ihn  kennen  zu  lernen. 
Ich  reiste,  und  wirklich,  ich  habe  ihn  oft  genug  in 
jener  Tätigkeit  gesehen,  zu  der  er  sich  hierzulande 
nun  einmal  nicht  schicken  wollte,  als  Förderer  des 
Fremdenverkehrs.  Ich  kam  schnell  vorwärts,  aber 
zumeist  auf  falschem  Weere,  und  so  wurde  ich 
in    der     Vermutung    bestärkt,    der     Fortschritt    sei 


—  40 


ein  Hotelportier.  Und  überall  schien  um  seines 
Ehrgeizes  willen  jedes  bessere  Streben  der  Mensch- 
heit zu  stocken.  Es  war,  als  ob  nicht  ein  Ziel  die  Eile 
der  Welt  geboten,  sondern  die  Eile  das  Ziel  bedeutet 
hätte.  Die  Füße  waren  weit  voran,  doch  der  Kopf 
blieb  zurück  und  das  Herz  ermattete.  Weil  aber  so 
der  Fortschritt  vor  sich  selbst  anlangte  und  schließ- 
lich auf  Erden  nicht  mehr  ein  und  aus  wußte,  legte  er 
sich  eine  neue  Dimension  bei.  Er  begann  Luftschiffe 
zu  bauen,  aber  an  Garantien  der  Festigkeit  konnte 
er  es  mit  jenen,  die  bloß  Luftschlösser  bauen,  nicht 
aufnehmen.  Denn  diese  haben  die  Phantasie,  mit  der 
sie  selbst  dann  noch  wirtschaften  können,  wenn  alles 
schiefgeht.  Was  immer  aber  der  Fortschritt  weiter  be- 
ginnen mag,  ich  glaube,  er  wird  sich  bei  den  Kata- 
strophen des  Menschengeistes  nicht  anstelliger  zeigen, 
als  ein  Seismolog  bei  einem  Erdbeben.  Er  wird  uns, 
wie  hoch  er  sich  auch  versteige,  keine  Himmelsleiter 
errichten.  Wenn  er  jedoch  als  Roter  Radler  Briefe  be- 
fördert, könnte  er  immerhin  von  den  Dienstmännern 
als  Satan  verschrien  werden.  Auch  mag  er  dazu  helfen, 
daß  die  Eifersucht  der  Weltstädte  wachse  und  sie  zu 
Kraftleistungen  sporne.  Etwa  so:  Berlin  hat  heute 
schon  fünfhundert  Messerstecher,  Wien  ist  ein  Kräh- 
winkel dagegen;  wenn  man  dort  wirklich  einen  ein- 
mal braucht,  ist  keiner  da!...  Schließlich  überlebt 
sich  auch  diese  Mode.  Nur  der  Tod  stirbt  nicht  aus. 
Denn  der  Fortschritt  ist  erfinderisch  und  dank  ihm 
bedeutet  das  Leben  nicht  mehr  eine  Kerkerhaft, 
sondern  Hinrichtung  mit  Elektrizität.  Wer  es  nicht  erst 
darauf  ankommen  lassen  will,  den  ganzen  Komfort  der 
Neuzeit  zu  erproben,  der  hat  rechtzeitig  Gelegenheit, 
von  jener  primitiven  Erfindung  Gebrauch  zu  machen, 
die  ihm  die  erbarmungsvolle  Natur  an  die  Hand 
gegeben  hat:  von  der  Schnur,  mit  der  der  Mensch 
auf  die  Welt  kommt  1 

Karl    Kraus. 


Herausgebet  and  verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Kraut. 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3. 


ma  fr  ü  rl  icher 

ilkalissher 

JAUERBRUNN 


@K^  *' 


Karlsbad,  Budapest 


Unternehmen  für  Zeitungsausschnitte 

>BS ERVER,    Wien,  I.  Concordlaplati  Nr.  4  (Telephon  Nr.  12801) 

sendet  Zeitungsausschnitte  über  jedes  gewünschte  Thema.Man  verlange  Prospekte. 

I>  X  E>    I^^kOK:E>I^ 

Herausgeber:  KARL  KRAUS. 

erscheint  in  zwangloser  Folge  im  Umfange  von  16—32  Seiten. 

BEZUGSBEDINGUNGEN : 

für  Österreich-Ungarn,  36  Nummern,  portofrei    ....    •  .  K    9.50 

„    die  Länder  d,  Weltpostv.,  36  Nummern,  portofrei  .    .    .    .  „  12.— 

»»in  n  18  n  n  ....„       6.— 

Das  Abonnement  erstreckt  sich  nicht  auf  einen  Zeitraum, 
sondern     auf     eine     bestimmte    Anzahl    von    Nummern. 

Verlag:  Wien,  III.,  Hintere  Zollamtsstraße  Nr.  3. 

Verlag  für  Deutschland : 

VERLAGSGESELLSCHAFT  MÜNCHEN  G.  m.  b.  H. 

München,  Franz  Josef  Straße  9. 


Inhalt  der  vorigen  Nummer  274,  27.  Februar:  Peter 
Altenbsrg.  Von  Karl  Kraus.  —  Eine  Zuschrift  von  Detlev  von 
Liliencron.  -  Leben.  Von  Otto  Stoessl.  -  Spiel.  Von  Otto 
Soyka.    —   Glossen,   Notizen,    Aphorismen.   Von   Karl    Kraus. 


SUBSKRIPTIONS-EINLADUNG. 

lEnde  März  erscheint  bei  der  unterzeichneten  Verlagsgesellschaft  ein  aus 
Ulf  Kunstblättern  erotischen  Charakters  bestehendes  Mappen  werk 
IdER    PHÖNIX".    Die   zwölf   Einzelkunstblätter  stammen   von    den 

folgenden  Künstlern: 
Iffh.  Heine  (München)  Pascin  (Paris) 

itistantin  Somoff  (St.  Petersburg)    Albert  Weisgerber  (München) 
f  $uda  Minori  (Tokio)  Willi  Geiger  (München) 

1  Arnold    (München)  G.  Jagerspacher  (München) 

nrich  Kley  (Karlsruhe)  Luis  Vesco  (Salzburg) 

)  Kopp  (München)  Hubert  Wilm  (München) 

Werk  erscheint  in  6  Lieferungen,  die  einander  in  monatlichen  Abständen 
Igen.   Alles   Nähere  über  Bezugsbedingungen   etc.  enthält  ein  aus- 
hrlicher  Prospekt,  der  auf.Verlangen  umsonstu.  portofrei  zugesandt  wird. 
München.  Verlaasaesellschaft  München 


Mit  dem  nächsten  Hefte  -  am  1.  April  1909 
schließt  der  10.  Jahrgang  der  ,Fackelk  al 
Aus     diesem    Anlasse     gibt     der    Verlaß 
sämtliche  Nummern  der 

Zehn  Jahre  Fackel 

zu  einem  besonders  ermäßigten  Preise  ab,  und 
zwar :  278  Nummern  statt  66  Kronen  20  Hellei 

20  Kronen  portofrei. 

Da  von  vielen  Heften  nur  mehr  eine  geringe 
Anzahl  vorhanden  ist,  müßten  Vormerkungen 
ehestens  erfolgen.   Die  vorläufig  fehlenden 

Nummern  werden  nachgeliefert. 
Der  Verlag  gibt  zugleich  bekannt,  daß  er  dr 
Nummern  2, 152undl62  fürje  1  Kr  0!ie  zurück- 
kauft und  die  Nummern  30,  32,  38  und  48 

fürje  50  Heller. 

d,  Verlitt  der  .FACKEL4 

WIEN,  III.  Hintere  ZollamtsstraDe  S 

Telephon  Nr.  187.  Ij 


Die  Fackel 

NR.  277-78  31.  MÄRZ  1909  X.  JAHR 


KARL  KRAUS. 

Zum  zehnten  Jahrestag   des  Erscheinens  der 

,Fackel<  (1899—1909). 

Von  Robert  Scheu. 

Die  Persönlichkeit  eines  Menschen  ist  ein  fester 
Bezirk,  eine  eherne  Schranke,  über  deren  Peripherie 
kein  noch  so  heißes  Bemühen,  kein  Flug  der  Be- 
geisterung, keine  Investition  von  Bildung  und  Er- 
fahrung hinausführt.  Eine  Persönlichkeit  »entpuppte 
sich,  aber  sie  entsteht  nicht.  An  dieser  meiner  axio- 
matischen  Überzeugung  könnte  ich  irre  werden,  wenn 
ich  mir  die  Entwicklung  Karl  Kraus  vergegen- 
wärtige. Wer  hätte  damals,  vor  etwa  fünfzehn  Jahren, 
in  dem  vergnügt  dreinblickenden  blonden  Knaben- 
kopf diese  vulkanische  Persönlichkeit  mit  ihren 
Leidensmöglichkeiten,  die  verzehrende  Flamme,  den 
unersättlichen  Vernichtungstrieb,  die  leidenschaftliche 
Geistigkeit  ahnen  dürfen?  Ist  das  wirklich  derselbe 
Mensch?  Hat  er  schon  damals  gelitten,  als  er  noch 
im  vertrautesten  Umgang  mit  jenen  Menschen  stand, 
welche  ihn  später  zu  solchen  Visionen  des  Hasses 
inspirierten?  Er  schien  sich  zu  jener  Zeit  recht  be- 
haglich zu  fühlen,  während  er  sich  —  wahrscheinlich 
instinktiv  —  an  seinen  künftigen  Opfern  nährte.  Und 
doch  hat  er  später  Proben  eines  überraschenden  Ge- 
dächtnisses gegeben,  welche  die  Annahme  einer 
naiven  Hingabe  an  seinen  damaligen  Verkehr  nicht 
gut  zulassen.  Hat  er  etwa  die  Musik  zu  dem  Text 
erst  später  gemacht  oder  Unbewußtes  nachträglich 
analysiert?  Es  gibt  Naturen,  welche  naiv  erleben 
und   hinterher  von  analytischen  Dramen   geschüttelt 


—    2 


werden.  Problem  der  »Rache«.  Er  schrieb  schon 
damals  witzige  Wochenübersichten  und  Plaudereien 
und  auffallend  treffende  literarische  Kritiken,  die 
ein  bemerkenswertes  Arsenal  von  Geschossen,  aber 
keinen  Hauptgedanken  erraten  ließen  und  übrigens 
alle  Welt  amüsierten.  .  .  . 

Er  rüstete,  das  war  klar,  aber  gegen  wen? 
Plötzlich  —  die  Kralle  —  »Demolierte  Literatur«. 
Man  sah  auf.  Ein  Glutregen  von  Bosheiten  und 
zum  erstenmal  —  Profil.  Zwar  noch  immer  der 
Witz  Jahresregent,  aber  er  fängt  an,  etwas  zu  sagen. 
Große  Spannung.  Dieser  Mensch  wird  vielleicht  noch 
ein  Schicksal  . .  . 

Und   es   kam Eines   Tages,    soweit   das 

Auge  reicht,  alles  —  rot.  Einen  solchen  Tag  hat 
Wien  nicht  wieder  erlebt.  War  das  ein  Geraune,  ein 
Geflüster,  ein  Hautrieseln  1  Auf  den  Straßen,  auf  der 
Tramway,  im  Stadtpark,  alle  Menschen  lesend  aus 
einem  roten  Heft  ...  Es  war  narrenhaft.  Das  Bro- 
schürchen,  ursprünglich  bestimmt,  in  einigen  hundert 
Exemplaren  in  die  Provinz  zu  flattern,  mußte  in 
wenigen  Tagen  in  Zehntausenden  von  Exemplaren 
nachgedruckt  werden.  Und  dieses  ganze  Heft,  mit 
Pointen  so  dicht  besät,  daß  man  es,  wie  die  Arbeiter- 
Zeitung*  sagte,  behutsam  lesen  mußte,  um  keine 
der  blitzenden  Perlen  zu  verlieren,  war  von  einem 
Menschen  geschrieben. 

In  dieser  ersten  Nummer  war  der  ganze  Akkord 
schon  angeschlagen:  Bekämpfung  der  Cliquen,  der 
Nonvaleurs,  der  nahen,  lebendigen  Tyrannen  an  Stelle 
der  so  beliebten  Zeitungspolemik  gegen  abstrakte 
oder  wehrlose  Gegner.  »Greifen  Sie  den  Ackerbau- 
minister  an!«  hatte  der  Herausgeber  der  ,Wage', 
seinem  kriegslustigen  Mitarbeiter  ins  Ohr  geraunt. 
Von  dem  war  keine  Revanche  zu  befürchten  und 
es  machte  sich  doch  riesig  tapfer.  Karl  Kraus 
wählte  sich  einen  gefährlicheren  Gegner:  die  ,Neue 
Freie     Presse',     der     er     mit     einer     beispiellosen 


—  3 


Vehemenz  an  den  Leib  fuhr.  Es  war  wie  im  Russisch- 
Japanischen  Krieg:  schon  die  Kriegserklärung  sprengte 
die  großen  Schlachtschiffe  in  die  Luft. 

Eine  einzige  Frage  schwirrte  damals  durch 
Wien :  wird  er  noch  einmal  in  seinem  Leben  fünfzig 
Zeilen  schreiben  können  oder  wird  er  jetzt  erschöpft 
zusammenbrechen?  Waren  es  die  Zinsen  oder  das 
Kapital?  Es  waren  die  Zinseszinsen.  Wirklich 
erschien  dreimal  im  Monat,  nunmehr  ein  volles 
Jahrzehnt,  das  rote  Ungetüm,  allemal  ein  Gegen- 
stand fieberhafter  Neugierde.  Die  ,Fackel'  bestritt 
eine  Zeitlang  das  ganze  Geistesleben.  Sie  ver- 
dunkelte Theater,  Politik  und  Literatur,  sie  war 
selbst  Alles  in  Allem.  Wen  wird  es  morgen  treßVn? 
war  die  ständige  Frage  in  der  Zeit  dieser  gedruck- 
ten Schreckensherrschaft.  Die  ,Fackel'  gehörte  zum 
Straßenbild.  Drollig  war  es,  die  jeweils  gewürdigten 
Personen  auf  der  Tramway  oder  verstohlen  unter 
einem  Haustor  in  das  Biatt  vertieft  zu  treffen,  wo 
sie,  ziemlich  »angegriffen«  aussehend,  sich  dem  un- 
gestörten Genuß  ihrer  Charakterisierung  hingaben. 
Der  Hofratj,  der  mit  der  , Fackel'  in  der  Tasche  ko- 
kettierte, wurde  eine  Figur.  Man  grüßte  damals : 
»wie  stehen  Sie  mit  Kraus?«  Ein  ziemlich  wenig 
beachteter,  ganz  unbedeutender  Literat  vertraute  mir 
gelegentlich  an,  er  gewärtige  Tag  für  Tag  in  der 
,Fackel'  seine  »Vernichtung«.  Der  Ärmste  wußte 
nicht,  daß  er  nie  etwas  anderes  als  »vernichtet«  war. 
Aber  in  der  Tat,  es  gibt  eine  Reihe  von  Leuten, 
welche  erst  durch  einen  Angriff  in  der  ,Fackel'  der 
Öffentlichkeit  bekannt  und  im  Verhältnis  zu  ihrem 
bisherigen  Schattendasein  berühmt  wurden.  Bei  vie- 
len wurde  der  Schmerz,  in  der  , Fackel'  havariert 
worden  zu  sein,  durch  das  Vergnügen  gemildert, 
daß  es  einem  guten  Freund  nicht  besser  erging.  Es 
lohnte  sich  fast,  einmal  hingerichtet  zu  werden,  wenn 
man  um  diesen  Preis  der  Zuschauer  vieler  anderer 
Exekutionen  wurde.  Manche  Existenz,  manche  Repu- 


_    4     - 


tation  wurde  durch  einen  einzigen  Federstrich  von 
Kraus,  manchmal  durch  einen  Relativsatz,  abgesetzt. 
Leute,  die  bis  dahin  prinzipiell  Gedrucktes  nicht 
kauften,  holten  sich  aus  der  , Fackel'  ihre  Bildung. 

Andererseits  wuchs  eine  Generation  auf,  eine 
ganz  eigene  Rasse,  welche  die  ,Fackel(  statt  als 
Medizin  als  Nahrung  zu  sich  nahm.  Junge  Leute 
hatten  ihre  »Fackelzeit«  so  gut  wie  ihre  »Burg- 
theaterzeit«. Sie  kombinierten  womöglich.  Auf  der 
Galerie  des  Burgtheaters  sah  man  die  lockigen 
Jungen,  vor  dem  Aufgehen  des  Vorhangs  in  diese 
Lektüre  vertieft.  Im  Gymnasium  verschaffte  es  An- 
sehen bei  den  Mitschülern  und  Mißtrauen  bei  den 
Professoren,   wenn  man   in    diesem    Verdacht   stand. 

Kein  Zweifel,  einen  großen  Anteil  an  dem  wun- 
derbaren Erfolg  der  , Fackel4  hatte  —  außerdem,  daß 
sie  dem  Leser  einen  Rausch  der  geistigen  Überlegen- 
heit verschaffte  und  fabelhaft  lustig  zu  lesen  war  — 
die  Befriedigung,  welche  sie  der  Grausamkeit 
gewährte.  Kraus  hatte  damals  noch  eine  fröhliche, 
gesunde  Grausamkeit,  die  er  später  verlor,  oder  rich- 
tiger, gegen  sich  selber  kehrte,  vergeistigte.  Selt- 
sames Schicksal  I  In  jener  Periode,  da  er  vorwiegend 
Gesellschaftskritik  betrieb,  war  es  das  den  Lesern 
bereitete  formelle  Vergnügen,  welches  von  dem 
hohen  sachlichen  Wert  seines  Kampfes  ablenkte; 
damals  erdrückte  die  Form  den  Stoff.  In  seiner  spä- 
teren Periode,  wo  er  immer  mehr  den  künstlerischen 
und  geistigen  Gehalt  aus  den  Erscheinungen  abzieht 
und  die  Form  ihm  wirklich  heilig  wird,  vergißt  man 
umgekehrt  über  dem  Stoff  den  Schriftsteller.  So  wird 
er  beide  Male  nicht  so  verstanden,  wie  er  es  bean- 
spruchen darf.  Für  das  zweite  Mißverständnis  ist 
allerdings  das  Publikum  weniger  verantwortlich,  da 
es  einmal  gewohnt  war,  in  der  , Fackel'  einen  be- 
stimmten Inhalt  zu  suchen. 

Die  Gemütsunterlage  des  Fackelerfolges  bei 
ihrem  Erscheinen     war     die    aufgespeicherte    Oppo- 


-    5 


sition  gegen  die  ,Neue  Freie  Presse',  welche 
Kraus  erst  ins  volle  Bewußtsein  rückte.  Tiefe 
Psychologen  haben  gemeint,  Kraus  habe  seine 
ganze  Ranküne  gegen  dieses  Blatt  daraus  ge- 
schöpft, daß  er  nicht  als  Redakteur  engagiert 
worden  sei.  Es  ist  das  jene  Gattung  Menschen, 
welche  als  Historiker  den  Ausbruch  eines  Krieges  auf 
ein  unterlassenes  Trinkgeld  zurückführen.  Nach  An- 
sicht dieser  Köpfe  kann  man  Todfeinde  durch  ein 
rechtzeitiges  Buckerl  beschwichtigen  und  zu  lebens- 
länglichen Freunden  umwandeln.  Ziemlich  allgemein 
glaubt  man  einem  Menschen  etwas  Herabsetzendes 
nachzusagen,  wenn  man  erzählt,  er  sei  da  und  dort 
abgelehnt  worden,  wo  er  sich  um  Aufnahme  in  einen 
Kreis  beworben  hat.  Als  ob  es  nicht  tausendmal 
lebendiger  für  den  Charakter  und  die  Persönlich- 
keit eines  Menschen  zeugte,  wenn  die  Anderen  ihn 
als  nicht  zugehörig  erkennen,  als  ob  das,  was  uns 
geschieht,  nicht  erst  recht  unsere  tiefste  Wirkung 
und  eigentliche  Tat  wäre.  In  der  Einschätzung,  die 
wir  uns  selbst  geben,  zeigt  sich  bestenfalls  die  Per- 
spektive, in  der  wir  uns  erscheinen;  diese  kann  auch 
eine  Unterschätzung  enthalten.  In  der  Stellung, 
welche  die  Andern  zu  uns  einnehmen,  liegt  aber  zu- 
mindest Instinkt  und  sie  erweisen  uns  manchmal 
die  Ehre,  uns  für  ihre  Gemeinschaft  zu  gut  zu  fin- 
den. Abgesehen  davon  hat  sich  die  Sache  gar  nie 
zugetragen. 

Es  ist  nicht  zuviel  gesagt,  wenn  man  behauptet, 
Karl  Kraus  habe  die  ,Neue  Freie  Presse*  erst  entdeckt. 
Lange  nach  Kraus  haben  andere,  welche  mit  Ignorie- 
rung des  Preßproblems  politische,  kulturelle  und 
künstlerische  Aufgaben  verfolgten,  erkannt,  daß  es 
ohne  Preßreform  überhaupt  keine  Reform  gibt,  weil 
die  Presse  immer  die  Macht  besitzt,  die  Aufmerksam- 
keit nach  Gefallen  zu  dirigieren,  die  führenden  Per- 
sonen kalt  zu  stellen,  und  dort,  wo  sie  schon  nicht 
die  Kinder  vertauschen  kann,  wenigstens  falsche  Er- 


zeuger  unterzuschieben.  Der  Effekt  ist  der  nämliche : 
Vater  und  Kind  sind  getrennt,  und  erkennen  sich 
vielleicht  niemals  wieder.  Andererseits  kann  sich  trotz 
des  furchtbarsten  Mißbrauchs,  zu  dem  die  Preßmacht 
gelegentlich  verführt,  doch  niemand  entschließen,  ihre 
Notwendigkeit  und  Unersetzlichkeit  schlankweg  zu 
bestreiten.  Es  ist  ein  matter  Trost  in  diesem  Dilemma, 
daß  die  größten  Persönlichkeiten  den  Haß  der  zeit- 
genössischen Presse  ausgehalten  und  siegreich  über- 
standen haben;  denn  er  wird  aufgehoben  durch  die 
Betrachtung,  daß  sie  dieser  Gegnerschaft  auch  immer 
sicher  zu  sein  hatten  und  daß  hier  ein  Reibungs- 
koeffizient in  die  Welt  gekommen  ist,  von  dem  gerade 
die  höheren  Menschen  betroffen  werden.  Will  man 
selbst  resignierend  zugestehen,  daß  die  Presse,  wie 
sie  ist,  nur  der  Exponent  der  bestehenden  Macht-  und 
Tatsachenverhältnisse  ist,  so  kann  man  sich  doch  der 
Erkenntnis  nicht  verschließen,  daß  deren  Schwere  und 
Druck  zugenommen  hat,  seit  sich  die  Gesellschaft 
eine  eigene  Punktion  daraus  gemacht  hat,  die  Dinge 
durch  die  Berichterstattung  zu  annullieren.  Ist  dies 
das  Wesen  oder  nur  eine  Entartung  der  Presse?  Das 
ist  die  Schicksalsfrage.  Vielleicht  haben  wir  es  nur 
mit  der  typischen  Erscheinung  zu  tun,  daß  in  dem 
ungeheueren  Organismus  des  modernen  sozialen  Lebens 
die  Macht  der  jeweils  ausführenden  Funktionäre  weit 
über  jenes  Maß  hinauswächst,  welches  ihnen  von 
der  Organisation  selbst  zugedacht  ist;  in  Osterreich 
zumal  ist  das  Übel,  jedes  Übel  verschärft  durch  den 
monopolistischen  Charakter,  den  hierzulande  alle  Art 
Macht  und  Besitz  gewinnt.  Einen  Kampf  der  Ge- 
sellschaft gegen  ihre  Organe  hat  es  immer  ge- 
geben, aber  niemals  hat  er  eine  solche  schicksals- 
volle Bedeutung  erlangt  wie  in  der  Gegenwart,  wo 
die  Gliederung  aller  sozialen  Funktionen  den  jeweils 
an  der  Klinke  befindlichen  Funktionär  zum  Herrn 
der  Welt  macht.  Heute  hat  es  ein  Delcasse"  in  der 
Hand,    den  Weltkrieg  zu  entflammen,     morgen  viel- 


7  — 


leicht  ein  zufälliger  Telegraphist.  An  allen  Gelenken 
und  Schrauben  der  Maschinerie  sitzen  die  Zufalis- 
Machthaber  und  die  Maschine  heißt  Staat,  Gesell- 
schaft. Karl  Kraus  hat  die  zufälligen  Besitzer  der 
Druckerschwärze  entdeckt  und  auf  die  kolossale 
Macht  hingewiesen,  die  sie  besitzen. 

Es  ist  dies  nur  ein  Teil  jenes  allgemeinen 
Kampfes  gegen  die  Maschinerie,  den  als  immanente 
Aktualität  der  modernen  Welt  erraten  zu  haben, 
keine  schlechte  Witterung  verrät.  »Organisiert  die 
Welt«  ist  ein  herrliches  Wort,  aber  auch  dieses  hat 
seine  Selbstaufhebung  in  sich.  Indem  sich  die 
Welt  organisiert,  liefert  sie  sich  aus.  Die 
Fäden  der  sozialen  Organisationen  vierteilen  —  Per- 
sönlichkeiten. Karl  Kraus  ist  gegen  alle  Organisation 
und  Technik  von  einer  ganz  grandiosen  Ranküne 
erfüllt  und  bekommt  dadurch  einen  Stich  ins 
Reaktionäre.  Er  nimmt  das  in  Kauf.  Die  Lösung  des 
Problems  liegt  gewiß  nicht  in  der  Verhöhnung  der 
Organisationen,  wie  sie  Karl  Kraus  so  vorzüglich 
gelingt,  sondern  in  etwas  Neuem,  Zukünftigem, 
welches  eben  den  Inhalt  künftiger  Geschichte  bilden 
wird.  Bis  dahin  aber  ist  es  wertvoll,  wenn  die 
Position  der  Persönlichkeit  verteidigt  wird,  und  ich 
wüßte  keine  klügere  Taktik  als  die  kühne  Aus- 
spielung einer  starken  Subjektivität.  Ein  gewisses 
Korrektiv  der  geschilderten  Gefahr  liegt  darin,  daß 
sich  die  Organe  der  Gesamtheit  gegenseitig  in  Schach 
halten:  dies  ist  auch,  um  wieder  von  der  Presse  zu 
reden,  in  den  übrigen  Kulturländern  der  Fall,  wo 
sich  allenthalben  einige  einflußreiche  Blätter  unge- 
fähr das  Gleichgewicht  halten  und  eine  immerhin 
erträgliche  Oligarchie  bilden;  in  Österreich  aber  ist 
das  intellektuelle  Leben,  und  um  dieses  handelt  es  sich, 
von  einer  Zeitung  monarchisch  beherrscht,  welche 
noch  dazu  die  Suggestion  ausübt,  daß  sie  die  Intel- 
lektuellen vertritt,  und  das  ist  in  seinen  Konse- 
quenzen unerträglich.    Karl  Kraus  hatte  niemals  die 


—   8 


Absicht,  die  Presse  zu  bessern.  Er  stellte  sichs  nur 
zur  Aufgabe,  ihre  Suggestion  zu  durchbrechen.  Das 
ist  natürlich  nur  eine  Interimsarbeit.  Die  Zeit  wird 
kommen,  wo  die  Gesellschaft  die  Macht  der  Presse 
ebenso  konstitutionell  regulieren  wird,  wie  die  Macht 
des  Staatsoberhauptes.  Derzeit  läßt  sie  jene  ä  dis- 
cretion  schalten.  Wie,  wenn  eines  Tages  die  Gesell- 
schaft auf  den  Gedanken  verfiele,  die  Vertretungs- 
befugnis der  Presse  zu  prüfen?  Man  hat  noch  lange 
nicht  alle  Konsequenzen  aus  der  Konstitution  ge- 
zogen 1  Das  allgemeine  Wahlrecht  führt,  genau  be- 
sehen, zu  der  Forderung,  daß,  nachdem  nun  alle 
im  Lande  vertreten  sind,  niemand  mehr  das  Recht 
hat,  sich  für  einen  befugten  Vertreter  einer  Mehr- 
heit auszugeben,  der  nicht  in  der  Lage  ist,  sein 
Mandat  nachzuweisen.  Die  gegenwärtige  Macht 
der  Presse  beruht  zum  Teil  auf  diesem  Zwitterzustand. 
Sie  genießt  alle  Vorteile  der  Subjektivität,  ins- 
besondere die  Unverantwortlichkeit,  derzufolge  es 
das  Recht  jedes  Blattes  wäre,  zu  verschweigen,  was 
ihm  beliebt,  —  gleichzeitig  wird  aber  die  Fiktion 
festgehalten,  daß  man  im  Namen  irgend  einer  Ge- 
samtheit das  Wort  führt.  Diese  aber,  das  »Volk«, 
die  »Intelligenz«,  oder  wie  das  vorgeschobene  Ding 
heißt,  haben  weder  das  Recht  noch  ein  Mittel,  dieses 
fingierte  Mandat  zu  bestreiten!  Wie,  wenn  die  Ge- 
sellschaft, in  deren  Namen  die  Presse  richtet,  ein- 
mal darauf  dränge,  daß  ihr  Einfluß  geregelt  und 
systemisiert  wird?  Wenn  sie,  gerade  in  Anerkennung 
des  hohen  »Amtes«,  auch  einen  Mißbrauch  der  Amts- 
gewalt konstituierte? 

Die  Gesellschaft  gibt  die  Berichterstattung,  auf 
welche  sie  gewiß  &m  heiliges  Recht  hat,  derzeit  noch 
frei,  sei  es,  daß  sieiihre  Wichtigkeit  nicht  erkennt, 
sei  es,  daß  sie  zu  ihr  volles  Vertrauen  hat.  Die 
Presse  weiß  es  aber  lange  schon,  daß  die  Bericht- 
erstattung wichtiger  ist  als  die  Ereignisse,  und 
macht  sich  diese  Entdeckung  ohneweiters  zunutze. 


—   9 


Die  ,Neue  Freie  Presse*  insbesondere  hat  davon 
einen  so  beherzten  oder  richtiger  so  exzessiven  Gebrauch 
gemacht,  daß  man  von  der  Wiederaufrichtung  der 
Preßzensur  sprechen  kann,  worunter  man  aber 
nicht  etwa  die  an  der  Presse  geübte,  sondern  die 
heute  schon  unendlich  gefährlichere  und  aktuellere: 
von  der  Presse  geübte  Zensur  zu  verstehen  hat.  Sie 
macht  sich  schlankweg  zum  Herrn  der  Ereignisse 
cund  hat  es  soweit  gebracht,  geradezu  Verwaltungs- 
befugnisse zu  arrogieren.  Sie  zensuriert  längst  nicht 
mehr  bloß  den  Wert  literarischer  und  künstlerischer 
Erscheinungen,  sondern  sie  zensuriert  die  Zahl  der 
irgendwo  versammelten  Personen.  Sie  tötet  und  erweckt 
zum  Leben,  sie  verhängt  Boykotte,  die  bis  in  den  privaten 
Verkehr  und  in  das  intimste  Geschäftsleben  reichen, 
und  bald  wird  es  sein,  wie  im  Jesuitenstaat,  wo  das 
Erklingen  von  Glocken  den  Ehepaaren  die  Stunden 
der  erlaubten  Begattung  verkündigte.  Die  ,Neue 
Freie  Presse'  leistet  sich  den  Hohn,  die  von  ihr 
Totgeschwiegenen  wörtlich  zu  zitieren  und  andere 
Autoren  unterzuschieben.  Oder  sie  begrüßtes  mit  einem 
»Endlich  hat  sich  Einer  gefunden,  der  .  .  .«,  wenn 
der  Plagiator  das  Wort  ergreift,  während  sie  den 
Autor  des  Originals  niemals  kennen  mochte.  Die 
Magna  Charta  der  ,Neuen  Freien  Presse'  ist  der 
Absolutismus  der  Bosheit,  gemildert  durch  einen 
administrativen  Tarif.  Ein  früherer  Herausgeber  hat 
es  einmal  rund  herausgesagt:  »Hier  haben  Sie  den 
Kopf  des  Blattes :  ,Neue  Freie  Presse'.  Das  muß  stehen 
bleiben;  alles  andere  ist  gegen  bar  zu  haben.«  Unter 
dem  neuen  Regime  wurde  das  Hausgesetz:  »Alles, 
was  bezahlt  ist,  bringen  wir«,  dahin  verschärft,  daß 
von  nun  an  nur,  was  bezahlt 'istjfcgebracht  wird.  Das 
ist   die  sogenannte    »Benedikt^sche  Formel«. 

Das  Betrübendste  ist,  *daß  selbst  solche 
Blätter,  welche  ursprünglich  als  Opposition  zu  ihr 
gegründet  wurden,  mit  der  Zeit  von  ihr  redigiert 
werden.  Heute  ist  beispielsweise  auch  die  , Arbeiter- 


10  — 


Zeitung',  welche  nach  ihrem  einstigen  Programm 
die  ganze  Journalistik  durch  ihr  bloßes  Dasein  zur 
Wahrheit  zwingen  sollte  und  wirklich  eine  Zeit  hatte, 
wo  sie  machtvoll  schrieb,  nur  mehr  eine  Filiale 
der  , Neuen  Freien  Presse*.  Das  muß  nun  frei- 
lich tiefere  Gründe  haben,  deren  Erforschung 
Aufgabe  eines  österreichischen  Historikers  sein 
wird.  Am  Ende  ist  die  ,Neue  Freie  Presse*  der 
wirkliche,  berufene  Exponent  dieser  Kultur?  Als  wir 
jünger  waren,  meinten  wir  in  unserer  Naivetät 
ernstlich,  man  müsse  der  »Neuen  Freien  Presse*  oder 
etwa  der  , Arbeiter-Zeitung'  nur  ein  ideales  Programm 
zeigen  und  sie  würden  mit  Enthusiasmus  echte  Werte 
vertreten.  Heute  wissen  wir,  daß  sie  es  weder  können 
noch  wollen  können.  Karl  Kraus,  der  niemals  im 
Namen  irgendeiner  Korporation  oder  gar  einer 
Majorität  auftrat,  leistete  nun  gerade  als  Person  das, 
was  die  Gesellschaft  sich  später  einmal  als  Kon- 
stitution des  geistigen  Lebens  erringen  wird  müssen. 
Er  nahm  sich  der  unmündigen  Gesellschaft  an  und 
setzte  der  suggestiven  Macht  der  Presse  seine 
Kritik  und  seine  Suggestion  entgegen.  Es  ging 
nicht  anders,  er  mußte  sie  jahrelang  Tag  um  Tag 
unter  Kontrolle  stellen,  bis  das  Publikum  einiger- 
maßen geschult  war.  Dieser  Kampf  ist  eine  geschicht- 
liche Tat,  ein  Kulturwerk  hohen  Ranges,  eine,  was 
aufgewendeten  Mut  und  Geist  betrifft,  schier  über- 
menschliche Leistung,  für  welche  es  keinen  hin- 
reichenden Dank  geben  kann.  In  diesem  Kampf,  der 
mit  intimster  Kenntnis  des  Gegners  geführt  wurde, 
mit  einer  Wachsamkeit  und  Unermüdlichkeit,  die 
immer  neue  spannende  Wendungen  erfand,  in  diesem 
eigentlichen  und  wahren  »Kulturkampf«  erwuchs 
ihm  ein  ungeahntes~Pathos,  und  es  zeigte  sich,  daß 
Kraus  nicht  nur  Geist,  viel  Geist,  sondern  auch  ein 
Herz  besaß. 

Aber  die  Presse  war  natürlich  nur  eine  jener  Insti- 
tutionen, die  er  kritisierte,  und  wenn  er  sie  am  härte- 


—  li- 


sten anfaßte,  so  tat  er  es,  weil  er  sie  für  den  konzen- 
triertesten Ausdruck  der  öffentlichen  Zustände  hielt. 
Er  verfolgte  aber  daneben  die  kleinen  Dummheiten 
des  Tages  und  spendete  den  tiefsten  Trost,  den  es 
nach  nuysmans'  Ausspruch  gibt:  den  Pessimismus. 
Dieser  Pessimismus  war  von  der  befreienden  Art. 
Das  deprimierendste  Ereignis,  der  Druck  wider- 
wärtiger aber  mächtiger  Personen,  die  Schwächen  der 
Bureaukratie,  die  Widersinnigkeit  von  Einrichtungen 
—  wenn  er  sie  darstellte,  fühlte  man  eine  künstlerisch 
erlösende  Wirkung.  Man  hatte  die  Empfindung,  er 
sei  mächtig  genug,  uns  von  diesen  Leiden  zu  be- 
freien. So  entstand  später  der  lächerliche  Vorwurf, 
•r  habe  die  Welt  doch  nicht  gebessert,  alles  sei  beim 
Alten  geblieben.  In  der  Tat,  es  ist  wirklich  unver- 
zeihlich: Kraus  war  so  pflichtvergessen,  die  Korrup- 
tion  weiter   bestehen   zu  lassen. 

Und  doch,  er  tat  weit  mehr,  als  man  von 
ihm  erwartete  oder  verlangte.  Der  Witz,  um  dessent- 
willen  er  gesucht  wurde,  erhob  sich  immer  mehr  zur 
organischen  Waffe,  hinter  der  Kralle  war  eine  Tatze. 
Er  hatte  ein  Herz  für  Schönheit  und  Genie  und 
für  den  bleichen  Angeklagten  vor  den  Schranken 
des  Gerichts.  Er  brüllte  wie  ein  Löwe,  als  ein  Richter 
einen  armen  Burschen  wegen  eines  gewalttätigen 
Diebstahls  einer  Börse  zu  lebenslänglichem  Kerker 
verurteilte.  So  furchtbar,  wie  im  Fall  Kraft-Feigl  hat 
man  Kraus  nie  wieder  gesehen.  Das  war  Konvent  I 
Dann  wieder  prägte  er  Worte,  in  welchen  sich  sein 
Witz  zu  lapidarer  Größe  steigerte:  > Lynch- Justiz 
für  die  Justiz-Lyncher  c  —  >Irrenhaus  österreichc. 
Was  immer  er  vertrat,  und  wenn  es  auch  unhaltbare 
Dinge  waren,  stets  wußte  er  sich  den  Anschein  des 
letzten,  definitiven  Standpunktes  zu  geben,  welcher 
jede  weitere  Debatte  ausschloß.  Hatte  er  aber  die 
Überzeugung,  sich  vergriffen  zu  haben,  dann  war  es 
ihm  geradezu  eine  Lust,  sich  selbst  zu  desavouieren. 
Durfte  er    doch,     gleich  seinem    Geistesverwandten 


12 


Lichtenberg  von  sich  sagen,  er  sei  oft  wegen 
begangener  Fehler  getadelt  worden,  die  seine 
Tadler  nicht  Kraft  und  Witz  genug  hatten,  zu 
begehen! 

Nun  ja,  er  war  auch  Journalist.  Er  war  es  von 
Geblüt  wie  Marat,  der  kochend  und  schäumend 
herumging  und  schreiben  mußte.  Die  Dinge,  die 
Ereignisse,  die  Menschen  wirken  auf  ihn  wie  Peitschen- 
hiebe. Er  ist  nicht  wie  Heinrich  Heine,  der  vergnügt 
ausruft:  Wieder  ein  Narr, —  der  muß  mir  viele  Gold- 
stücke von  Hoffmann  und  Campe  einbringen,  er  sei 
mir  willkommen  1  Seine  Narren  machen  ihm  keinen 
vergnügten  Tag,  sondern  er  wird  aschfahl  über  eine 
Zeitungsnotiz,  er  zittert  vor  Erregung  und  Ekel  und 
kann  über  eine  Menschen fratze  so  bestürzt  sein,  wie 
ein  Patriot  alten  Schlags  über  eine  Niederlage  des 
Vaterlandes.  Er  schreibt  aus  keinem  System  heraus, 
tritt  an  alle  Dinge  rein  kasuistisch  heran  und  ent- 
deckt sein  System  viel  später.  Als  Chefredakteur 
nimmt  er  einfach  Alles,  was  gut  ist,  —  und  es  paßt, 
wirkt  aktuell.  Er  erzeugt  die  Aktualität.  Seine  Mit- 
arbeiter staunen,  wie  er  durch  das  Wegstreichen 
eines  Wortes  glänzende  Wirkungen  erzielt.  Mit 
welcher  Gestaltungskraft  er  aus  ganz  kleinen  Vor- 
fällen des  Tages,  einer  eingesendeten  Notiz,  eine 
Geschichte  macht  1  Ein  ganzes  Dutzend  von  Courte- 
lines gehen  nur  so  mit  drein.  Schließlich  hat  das  Papier 
der  , Fackel*  sich  so  mit  Geist  durchtränkt,  daß  die 
wörtliche  Reproduktion  einer  Zeitungsnotiz  mit  ge- 
sperrten Lettern  als  zwerchfellerschütternde  Satire 
wirkt,  bloß  weil  sie  die  Perspektive  der  , Fackel' 
erhalten  hat. 

Dem  großen  Publikum  hat  Kraus  am  besten 
behagt,  solange  er  mit  den  Waffen  und  dem 
Ressentiment  einer  intensiven  Geistigkeit  den 
Kampf  gegen  Presse,  Bureaukratie, Universitätsmisere, 
Wucher  und  veraltete  Gesetze  führte,  Schma- 
rotzer    und      Nullen     entlarvte     und    Tageslächer- 


—  13  — 


lichkeiten  ziselierte.  Kein  Zweifel,  es  wäre  eine 
Lebensaufgabe  gewesen  und  er  hätte  sie  ein  Leben 
lang  durchführen  können,  ohne  das  Publikum  zu 
ermüden ;  kein  Zweifel,  wir  alle  haben  es  so  erwartet 
und  wären  umso  lieber  darauf  eingegangen,  als  im 
Rahmen  der  gesellschaftskritischen  , Fackel'  gelegent- 
lich höchst  bedeutungsvolle  Ausführungen  über 
Literatur,  Theater  und  die  anderen  Künste  Raum 
fanden.  Wäre  Kraus  nicht  Gesellschaftskritiker,  so 
müßte  sein  tiefes  Kunsturteil  noch  mehr  auffallen. 
Seine  Autorität  ist  darin  —  ohne  daß  es  der  Öffent- 
lichkeit voll  zum  Bewußtsein  kommt,  gewissermaßen 
kryptogam  —  ganz  außerordentlich.  Ein  Lob  aus 
seiner  Feder,  zwei,  drei  Zeilen,  machen  literarischen 
Ruhm.  Da  hat  er  Witterung,  die  »Eingeweide  riecht«. 
Hier  zeigt  es  sich  auch,  daß  er  gar  nicht  Rationalist 
ist,  als  was  er  vielen  wegen  seiner  zersetzenden 
Kritik  gesellschaftlicher  Zustände  erscheinen  mag. 
Hier  ist  er,  was  man  immer  von  ihm  verlangt,  daß 
er  sein  soll:  positiv.  Hier  ist  er,  was  man  gleich- 
falls von  ihm  verlangt:  liebevoll  und  zärtlich.  Hier 
ist  er  sogar  treu.  Seine  Lieblinge  sind  in  guter  Hut. 
An  ihnen  wird  er  zum  Verschwender,  da  ist  er  weich 
und  feurig  und  was  man  will.  Wie  er  seinen  Alten- 
berg, seinen  Girardi,  seinen  Matkowsky,  seinen 
Baumeister  mit  Blumen  überschüttet,  ist  einfach 
rührend.  Die  großen  Verachtenden  sind  auch  die 
großen  Verehrenden. 

Aber  die  , Fackel'  veränderte  ihren  Inhalt,  ihre 
Gestalt.  In  Wien  beeilt  man  sich,  die  Leute  tot  zu 
sagen.  Der  Tod  der  ,Fackel'  wurde  sogar  ausdrück- 
lich plakatiert.  Der  Österreicher  rächt  sich  an  allem, 
was  ihm  irgend  einmal  imponiert  hat;  auch,  was  ihn 
angeregt,  was  ihn  mitgerissen  hat.  Nirgends  wird 
man  so  schnell  für  abgetan  und  ausgelebt  erklärt. 
Was  war  in  Wirklichkeit  mit  Kraus  geschehen?  Er 
war  von  der  Gesellschaftskritik  zur  Kulturkritik 
weitergeschritten.  Der  Marsch  vollzog  sich  sehr  eigen- 


—  14 


artig.  Er  ging  über  die  Nerven.  Kraus  hatte  einen 
neuen  großen  Gegenstand  entdeckt,  der  nie  zuvor 
die  Feder  eines  Publizisten  in  Bewegung  gesetzt  hat: 
Die  Rechte  der  Nerven.  Er  fand,  daß  sie  ein 
ebenso  würdiger  Gegenstand  einer  begeisterten  Ver- 
teidigung seien  wie  Eigentum,  Haus  und  Hof,  Partei  und 
Staatsgrundgesetz.  Er  wurde  der  Anwalt  der  Nerven 
und  nahm  den  Kampf  gegen  die  kleinen  Belästiger 
des  Alltags  auf,  aber  der  Gegenstand  wuchs  ihm 
unter  den  Händen,  er  wurde  zum  Problem  des  Privat- 
lebens. Es  zu  verteidigen  gegen  Polizei,  Presse, 
Moral  und  Begriffe,  schließlich  überhaupt  gegen  den 
Nebenmenschen,  immer  neue  Feinde  zu  entdecken, 
wurde  sein  Beruf.  Darin  blieb  er  sich  treu  bis  auf 
den  heutigen  Tag.  Er  verfocht  eine  neue  Gruppierung 
der  Begriffe,  indem  er  nachwies,  wie  vieles  unter  dem 
irreführenden  Gesichtspunkt  der  Moral  geht,  was  viel 
ökonomischer  als  Individualrecht  verteidigt  werden 
kann,  und  leistete  eine  langwierige,  mühsame,  ver- 
wickelte Aufklärungsarbeit.  So  kam  er  in  das  Laby- 
rinth der  feineren  geistigen  Konflikte,  welche  man 
bisher  nicht  gewohnt  war,  in  einer  programmatischen 
Zeitschrift  ausgeführt  zu  sehen.  Ja,  wenn  es  auf  Grund 
irgend  einer  Partei  oder  eines  Systems  gewesen  wäre! 
Aber  es  geschah  nur  auf  Grund  der  Persönlichkeit. 
Dieselbe  Eigentümlichkeit  seines  Geistes,  sein  tiefstes 
Wesen,  welches  ihn  zum  Journalisten  machte,  führte 
ihn  schließlich  davon  wieder  ab:  es  besteht  darin, 
die  Dinge  unmittelbar,  ohne  irgendeine  Zwischen- 
instanz auf  seine  Persönlichkeit  wirken  zu  lassen. 
Ist  der  Gegenstand  ein  populärer,  so  ist  man  Jour- 
nalist im  großen  Sinn.  Wird  der  Gegenstand  differen- 
zierter, geistiger,  so  wird  man  —  Aphorist.  Die  Kon- 
flikte, die  ihn  von  da  an  reizen,  liegen  auf  jenem 
großen  Gebiet,  wo  die  gesellschaftliche  Ordnung 
sich  mit  dem  Innenleben  berührt,  also  einem  Gebiet, 
welches  vorwiegend  der  künstlerischen  Bearbeitung 
unterliegt.  Infolgedessen  ist  es  nicht  so  leicht,  in  einer 


15 


Formel  zu  sagen,  was  Kraus  eigentlich  vertritt.  Er  selber 
könnte  seine  Weltanschauung  nicht  so  zusammen- 
fassen, daß  sie  auf  einem  Meldezettel  Platz  hätte.  Für 
die  gegenwärtige  Ordnung  der  Dinge  ist  er  absolut 
nicht  eingenommen.  Er  ist  auch  nicht  bloß  kritisch. 
Utopien  sind  aber  gleichfalls  nicht  seine  Sache.  Er 
entwirft  keine  Gesellschaftsordnung  und  keine  Gesetze. 
Er  ist  kein  Sozialdemokrat,  kein  Anarchist,  aber  am 
allerwenigsten  Bourgeois.  Und  doch  ist  eine  mächtige 
treibende  Kraft  da,  hinter  der  unbedingt  etwas  Posi- 
tives steht.  Die  Sache  läßt  sich  vielleicht  ganz  ein- 
fach sagen:  er  ergreift  die  Partei  der  Naturmacht 
gegen  das  Getriebe  des  Alltags.  Hat  die  Natur  einen 
solchen  Streiter  nötig?  Merkwürdigerweise:  ja.  Die 
zwei  größten  Naturmächte:  Genie  und  Geschlecht 
müssen  tatsächlich  >vertretenc  werden.  Die  Kunst 
tut  nichts  anderes.  Neu  ist  nur,  daß  es  ein  Journalist 
tut.  Und  doch  ist  es  logisch.  Die  Natur  hat  immer 
den  Tag,  die  »Jetztzeit«  zum  Gegner.  Sie  kann  daher 
neben  Dramendichtern  auch  sehr  gut  einen  solchen 
Streiter  brauchen,  der  sie  mit  Tagesmitteln  gegen 
den  Tag  bewaffnet.  Die  konventionelle  Ordnung 
ist  von  zwei  ständigen  Revolutionen  bedroht:  vom 
Geschlecht  und  vom  Genie.  Will  man  ein  einziges 
Wort  —  von  der  Schönheit.  Die  Schönheit  ist  die 
gewaltigste  aller  revolutionären  Mächte.  Die  Gesell- 
schaft kann  nicht  furchtbarer  kritisiert  werden  als 
vom  Standpunkt  der  Schönheit.  Alle  die  unendlichen 
Verzweigungen  der  Korruption  sind  nichts  anderes 
als  Verbrechen  an  der  Schönheit,  lassen  sich  irgend- 
wie darauf  zurückführen.  Es  liegt  etwas  Erd- 
erschütterndes in  der  Schönheit  und  etwas  rasend  Auf- 
reizendes in  dem,  der  sich  unter  ihre  Fittiche  stellt. 
Hier  verknotet  sich  Sozialpolitik  und  Sexualpolitik 
bei  Kraus,  von  jener  ausgehend  landet  er  bei  dieser. 
Dies  das  Leitmotiv,  welches  sich  immer  gebieterischer 
ins  Bewußtsein  drängt.  So  wuchs  er  seinem  neuen 
großen  Problem  entgegen:  Sittlichkeit  und  Krimi- 


—  in  — 


nalität.  Die  Aufsätze,  seither  in  einem  Bande  ge- 
sammelt, haben  uns  erst  die  Augen  geöffnet.  Eine 
Zeitlang  schien  es,  als  habe  er  sich  aus  Liebhaberei 
auf  ein  Nebengeleise  begeben.  Die  Übersicht  belehrt 
uns,  daß  er  auch  hier  einen  Marsch  vollzogen  hat, 
dessen  taktischer  Sinn  sich  erst  dem  rückschauenden 
Blick  enthüllt.  An  hundert  kleinen  Tagesbegeben- 
heiten, zumeist  Gerichtsfällen,  wird  ein  unheilvolles 
Mißverständnis  in  der  Behandlung  der  sexuellen 
Frage  enthüllt.  Der  Gedanke,  daß  der  Staat,  die  Ge- 
setze und  ihre  Organe  sich  notwendig  und  regelmäßig 
vergreifen,  wenn  sie  an  die  Naturgewalt  der  Sexuali- 
tät herantreten,  wird  mit  einer  Vielseitigkeit  der 
Darstellung  und  mit  einem  Reichtum  der  Exempli- 
fikation belegt,  der  einer  wissenschaftlichen  Quellen- 
arbeit Ehre  machen  würde.  Gleichzeitig  wird  Kraus 
zum  Künstler  von  einer  unerschöpflichen  Produkti- 
vität in  der  Darstellung  der  komischen  Konsequenzen 
dieses  Mißverständnisses  und  Mißgriffes.  Die  Polizei 
kommt  dabei  schlecht  weg.  Sie  hat  überhaupt  in 
Kraus  einen  schrecklichen  Antipoden,  einen  wahren 
Racheengel  gefunden. 

Im  Kampf  zwischen  staatlicher  Flickarbeit  und 
der  Naturgewalt  der  Sexualität  erscheint  ihm  da* 
Weib  als  Vertreter  der  inkommensurablen  Macht, 
bei  deren  Bezähmung  die  Satzung  teils  lächerlich, 
teils  widerwärtig,  manchmal  beides  zugleich  wird.  Für 
das  Weib  hat  Karl  Kraus  eine  innige  Zärtlichkeit.  Es 
ist  seine  große  Liebe  und  wenn  er  für  bedrängte 
Frauen  eintritt,  kann  sein  Pathos  eine  pracht- 
volle Höhe  erreichen.  Darin  lehnt  er  jede  soziale 
Betonung  grundsätzlich  ab.  Er  tritt  für  das 
Weib  ein,  weil  es  ein  Weib  ist.  Er  hat  den 
Gedanken,  daß  die  Moral  mit  der  Erotik  nichts 
zu  schaffen  hat,  am  kühnsten,  nachdrücklichsten  und 
konsequentesten  verfolgt.  Er  ist  unermüdlich  in  der 
Darstellung  des  pyramidalen  Nonsens,  brav,  anständig 
charaktervoll  ohneweiters  gleichzusetzen  mit  keusch 


—   17 


oder  gar  enthaltsam.  Diese  Gleichung  hat  sich  in  die 
feinsten  Fugen  der  Sprache  eingenistet  und  muß 
geradezu  ausgeschwefelt  werden.  Nun  ist  gewiß  die 
Erotik  ein  wesentlicher  Faktor  einer  Persönlichkeit. 
Nach  Nietzsche  reichen  Art  und  Charakter  der  Sexuali- 
tät bis  in  die  höchsten  Gipfel  der  Persönlichkeit.  Es 
fragt  sich  nur,  welche  Seiten  der  Sexualität  wir  zu 
bejahen  und  welche  zu  verneinen  haben.  Kraus  geht 
in  der  strengen  Scheidung  zwischen  Erotik  und  der 
übrigen  Persönlichkeit  bis  an  die  äußerste  Grenze  des 
Möglichen.  Wie  weit  er  darin  Recht  hat,  ist  eine 
Frage  für  sich.  Daß  er  aber  die  Verfechter  der  Ver- 
quickung bis  aufs  Blut  zu  verfolgen  versteht,  muß 
man  ihm  lassen.  Es  erregte  Verblüffung,  als  Kraus 
mit  souveräner  Verachtung  der  öffentlichen  Meinung 
daran  ging,  das  Hurentum  vom  Schimpf  zu  erlösen, 
ja  die  Prostitution  selbst  als  natürliche  —  nicht 
soziale  —  Kategorie  proklamierte. 

Er  wurde  dabei  zum  Romantiker  und  geriet 
in  einen  eigentümlichen  Zwiespalt.  Während  er  über  die 
Feministen  die  Lauge  seines  Spottes  ausgoß,  wurde 
er  selbst  zugunsten  des  weiblichen  Geschlechts  un- 
gerecht gegen  den  Mann.  Das  macht,  er  ist  den 
Frauen  gegenüber  zu  viel  Liebhaber,  es  fehlt  ihm 
zur  Übersicht  über  das  weibliche  Geschlecht  selbst 
ein  Ingrediens,  welches  seine  Weibanschauung  erst 
rund  machen  würde.  In  ihm  steckt  kein  Hausvater 
und  nicht  eine  Faser  von  einem  Patriarchen,  darum 
ist  ihm  auch  die  Mutter  uninteressant.  Er  ist  immer 
Page.  Aber  die  Halbwelt  ist  doch  nur  die  halbe  Welt. 
Seine  Art,  das  Weib  zu  sehen,  hängt  vielleicht 
damit  zusammen,  daß  ihm  der  staatenbildende 
Instinkt  fehlt,  der  auf  der  Kontinuität  der  Geschlechter 
beruht  und  im  Familiensinn  seinen  Ausdruck  findet. 
Seine  Abneigung  gegen  die  Politik  kommuniziert  mit 
seiner  Gleichgiltigkeit  gegen  die  Mutter  durch  ver- 
borgene Kanäle  der  Persönlichkeit. 

Sieht  man  von    diesem    notwendigen  Einwand 


—  18  — 

ab,  so  muß  man  zugestehen,  daß  Kraus  den  Frauen 
reiohe  Entschädigung  zu  bieten  hat.  Kraus  rettet  die 
Frauen  umgekehrt  als  es  üblich  is>t.  Nicht,  indem  er  sie 
von  dem  Vorwurf  der 'Sinnlichkeit  reinwäscht  oder  auf 
mildernde  Umstände  plaidiert,  sondern  indem  er  die 
Sinnlichkeit  selbst  preist  und  besingt.  Eine  viel 
wirksamere  und  geistreichere  Rettung  jedenfalls, 
welche  sich  die  Frauen  gefallen  lassen  können.  Er 
akzeptiert  alle  Argumente  der  Weiberfeinde  und 
Weibverächter,  nur  sind  alle  diese  Argumente  für 
ihn  solche  der  Liebe.  Auch  er  meint,  daß  die  Frauen 
unlogisch,  eigensinnig,  oberflächlich  .und  ungebildet 
sind.  Aber  er  findet  das  bezaubernd.  Übrigens  gelingt 
es  ihm,  von  dieser  Seite  in  die  Poesie  des  Weibes 
einzudringen  und  wie  sich  allmählich  seine  Erotik 
vergeistigt  und  raffiniert,  so  landet  er  schließlich  bei 
einem  geistigen  Frauenwesen,  nur  freilich  ist  dieser 
Geist  von  ganz  anderer  Quelle  und  Artung  als  etwa 
der  des  Mannes  oder  einer  Hysterikerin  oder  eines 
Blaustrumpfs. 

Daß  seine  Zärtlichkeit  für  das  Weib  in  tiefere 
Schichten  seiner  Persönlichkeit  hinabreicht,  das  zeigt 
sich  an  dem  Haß,  zu  dem  sie  ihn  gelegentlich  be- 
fähigt. Die  erste  Abwendung  von  Maximilian 
Ha r den  kündigt  Kraus  an,  als  Harden  in  diesem 
Punkt,  im  Weiberpunkt  sein  Mißtrauen  reizt.  Von  da  an 
geht  es  aber  dann  reißend  weiter.  So  weh  hat  Kraus 
niemandem  noch  getan !  Die  Schläge,  die  er  seinem  Ber- 
liner »Rivalen«  versetzte,  waren  so  furchtbar,  unwider- 
stehlich und  rasch,  daß  der  Angegriffene  trotz  seiner 
großen  publizistischen  Mittel  geradezu  den  Eindruck  der 
Wehrlosigkeit  machte.  Er  verfolgte  den  Mann  bis  zu 
den  Schatten  und  gab  ihn  auch  dort  nicht  frei.  Wo 
hat  es  je  eine  solche  Polemik,  eine  ähnliche  Attacke 
gegeben?  Hier  darf  man  selbst  die  größten  Beispiele 
heranziehen,  ohne  daß  Kraus  durch  den  Vergleich 
verdunkelt  wird.  Die  Verfolgung  Platens  durch  Heine 
macht  eher   einen   dürftigen   und  willkürlichen  Ein- 


—  19 


druck,  wenn  sie  mit  dieser  elementaren,  furiosen, 
niederschmetternden  Abrechnung,  diesem  schnau- 
benden >Bsse  delendum«  parallel  gestellt  wird. 
Lassalles  Julian  Schmidt  mag  auf  die  Zeitgenossen 
entfernt  so  gewirkt  haben.  iWien«  siegte  glänzend 
über  >Berlin«.  Es  war  grausig  schön.  Harden  er- 
wachte eines  Morgens  und  war  unberühmt.  Wo  ist 
er?  fragte  man  sich,  die  Augen  reibend.  Der  aber 
war,  wie  bei  einem  Dynamitattentat,  restlos  dahin.  .  .  . 
Was  kann  Kraus  noch  werden  und  wo  ist  der 
Königsgedanke  seines  Schaffens  ?  Ich  sagte  es  schon : 
die   Schönheit.    Man  könnte  aber  auch  sagen:   sein 

?anzes  Leben,  so  mannigfach  verschlungen, gilt  einem 
deal :  der  Persönlichkeit.  Er  betrauert  sie,  wenn 
sie  geknechtet  ist  und  richtet  sie  auf,  wo  er  sie  be- 
drängt findet. 

Kein  moderner  Geist  hat  den  Sturz  der  Per- 
sönlichkeit in  der  modernen  Welt  tiefer  und  bren- 
nender empfunden  als  Karl  Kraus.  Er  hat  diese  Krise 
erraten  und  mit  den  allarmierendsten  Worten  verkün- 
digt. Er  hat  dafür  ein  geradezu  erleuchtetes  Bewußt- 
sein. Ihm  sind  die  Möglichkeiten  der  Persönlichkeit 
bekannt  und  darum  ihre  Gefahren.  Den  wenigsten 
Zeitgenossen  dürfte  auch  nur  eine  Ahnung  davon 
dämmern,  was  da  vorgeht.  Eine  entsetzliche  Verarmung 
des  Menschengeschlechts.  Wir  werden  arm.  Das  ist's, 
wovor  ihm  graut.  Hier  rechtzeitig  zu  warnen,  die 
Verarmung  nachzuweisen,  das  ist  seine  Lebens- 
aufgabe. Alles  was  er  dazu  tut,  ist  nur  Waffe,  Rüst- 
zeug, Konsequenz.  Diese  grausige  Furcht  peitscht 
ihn  zur  vehementen  Kritik  der  Kultur,  während 
sich  andererseits  die  Kultur  selbst  in  ihm  mit  unheim- 
licher Rapidität  entwickelt.  Eis  reißt  ihn  vom  Heute 
zum  Morgen,  läßt  ihn  das,  was  er  heute  noch 
goutiert,  morgen  schon  verstoßen.  Er  konsumiert 
alles,  was  in  seinen  Bereich  kommt,  mit 
unheimlicher  Schnelligkeit  und  dabei  ist  es  seine 
Formel,  daß  er  nichts  übergehen  kann  und  darf.  Er 


20 


lüiiß  alles  an  sich  nehmen,  dann  aber  erlöst  er  sich 
davon  ganz  und  vollkommen.  Daher  wunderliche  Wider- 
sprüche in  seiner  Lebensführung,  welche  seinen 
Freunden  nicht  immer  paßt.  Was  ihm  bestimmt  ist, 
zu  bekämpfen,  muß  er  vorher  suchen;  es  ist  aber 
umgekehrt,  wie  die  Leute  glauben.  Man  sagt,  er 
verrate  seine  Freunde.  Umgekehrt,  er  muß  durch 
seine  Feinde  hindurchgehen.  Das  ist  tragisch,  aber 
es  ist  seine  Formel.  In  seiner  gallopierenden  Kon- 
sumtion liegt  aber  unstreitig  auch  das  Bedeutende, 
das  Dämonische  an  ihm.  Es  macht  ihn  sensitiv  gegen 
alles  Verbrauchte  und  Triviale.  Die  Trivialität,  die 
feste  Schablone  tut  ihm  weh  wie  glühendes  Eisen. 
Wie  er  es  versteht,  auf  ein  Durchschnittspublikum 
diese  seine  Stimmung  zu  übertragen,  ist  ein  Rätsel. 
Aber  ihm  gelingt's.  Er  vermag  es,  irgend  eine 
Tagesmeinung  mit  einer  solchen  Gebärde  der  Ver- 
achtung abzutun,  daß  sie  wie  ein  ausgespuckter 
Standpunkt  erledigt  ist.  Es  gelingt  ihm,  das  Volks- 
tümliche zu  verhöhnen  und  damit  populär  zu  werden. 
Er  ist  nämlich  wirklich  populär,  er  ist  den  Wienern 
unentbehrlich. 

In  dem  Kampf  um  und  für  die  Persönlichkeit 
stößt  er  auf  die  Demokratie.  Von  der  hat  er  nie 
etwas  gehalten.  Er  hat  es  unglaublich  beherzt  heraus- 
gesagt. In  seinem  Kampf  gegen  die  gesellschaftlichen 
Mißstände  gerät  er  mit  ihr  beinahe  wider  Willen  in 
ein  Freundschaftsverhältnis,  aber  er  hat  die  Seelen- 
stärke, alle  Bundesgenossen  zurückzustoßen.  Er  hätte 
sichs  leichter  machen  können.  Es  gab  eine  Zeit,  wo 
man  ihm  von  gewisser  Seite  stark  den  Hof  machte. 
Er  winkte  ab.  Er  will  wirklich  keine  Bundesgenossen. 
Jeder,  scheint  es  ihm,  kompromittiert.  Jedes 
»Komitee«  ist  ihm  ein  Gräuel,  eine  Verwässerung, 
eine  Verkehrung  ins  Gegenteil.  Er  hat  den  Willen 
zur  Einsamkeit.  Es  führt  ihn  dazu,  die  Politik  über- 
haupt zu  negieren.  Jedes  wie  immer  geartete  Kol- 
lektiv-Wirken erscheint  ihm  als  Degradierung.     Die 


—  2t 


Politik  ist  ihm  absolut  problematisch,  geradezu  un- 
verständlich. Ich  gebe  ihm  darin  nicht  recht,  aber 
ich  erinnere  mich,  daß  Karl  Kraus  noch  jedesmal, 
wenn  ich  glaubte,  er  sei  um  eine  Strecke  zurück, 
um  eben  diese  Strecke  voraus  war.  Pest  steht,  daß 
für  einen  Geist,  der  unmittelbar  wirken  kann,  die 
Politik  ein  Umweg  ist.  Wenn  aber  Kraus  in  Bismarck 
beispielsweise  einen  Kopf  sieht,  dessen  künst- 
lerische Materie  gleichsam  nur  zufällig  die  Politik 
war,  so  beweist  er  damit  nur,  daß  ihm  das  Leben 
von  Massen,  Völkern,  Organismen  und  deren  Ex- 
ponenten unendlich  ferne  liegt.  Die  Politik  als  gleich- 
berechtigte Welt  mit  ihren  wunderbaren  zwingenden 
Gesetzen,  dieses  große  Patum  ist  für  ihn  nichts  als 
ein  Monstrum.  Dieser  Welt  nahe  zu  treten,  scheint 
ihm  versagt  zu  sein.  Aber  liegt  die  Schuld  an  ihm? 
Unser  Staat  ist  so  atomisiert,  daß  sich  tatsächlich 
Individuen  in  der  Luft  bilden.  Schwebende  Geister, 
kolossal  anziehende  Erscheinungen,  wie  sie  vielleicht 
nirgends  sonst  auf  der  Welt  vorkommen;  hohe  Kul- 
turen ohne  reale  Unterlage.  Aber  die  Frage  ist,  ob 
es  das  geben  darf;  ob  es  außer  denjenigen,  welche 
aus  ihrer  Isoliertheit  ein  Programm  machen,  irgend- 
eine Fruchtbarkeit  geben  kann,  losgelöst  von  Boden, 
Nation,  Territorium,  Staat.  Hier  beginnt  das  Proble- 
matische an  Karl  Kraus,  freilich  auch  das  Einzig- 
artige einer  Erscheinung,  die  in  England,  Frankreich, 
selbst  Deutschland  nicht  möglich  wäre.  Fragt  sich  nur, 
wie  es  endet,  ob  der  tragische  Unterton  solcher  Per- 
sönlichkeiten nicht  eben  doch  politische  Ursachen 
hat.  Daß  sichs  Kraus  zur  besonderen  Ehre  anrechnet, 
und  daraus  neue  exotische  Farben  für  seine  Palette 
gewinnt,  ändert  nichts  an  der  Tatsache,  daß  ein 
solches  Empfinden  uferlos  ist. 

Jedenfalls  begünstigt  diese  Geistesstimmung 
seine  schon  berührte  Eigenart:  allen  Dingen  un- 
mittelbar gegenübertreten  zu  können.  Zwischen  sich 
und   den  Dingen    keinen    wie  immer  gearteten  Ver- 


—  22 


mittler  zu  haben,  kein  System,  keine  Partei,  keine 
Abstraktion,  keinen  Standpunkt,  kein  Vorurteil,  keine 
Nation,  kein  Vaterland,  keine  > Bildung«,  und  dabei 
doch  eine  leidenschaftlich  bebende  Vollblutpersön- 
lichkeit sein  —  das  muß  eine  ganz  neue  Musik  und 
eine  Form  der  höchsten  Unmittelbarkeit  geben.  Karl 
Kraus  hat  sie  in  seinen  Aphorismen  gefunden 
und  erobert.  Es  ist  in  diesen  »Sprüchen  und 
Widersprüchen«  etwas  von  der  Stimmung,  wie  sie 
Otto  Stoessl  für  den  Skeptiker  definiert:  »dessen 
Pathos  darin  liegt,  nichts  pathetisch  zu  sehen,  son- 
dern allen  Dingen  ihre  Schwere  zu  nehmen,  indem 
er  ihnen  seinen  Geist  einhaucht,  dessen  zartes  er- 
greifendes Lächeln  aus  der  groben  Welt  widerstrahlt, 
die  er  ansieht,  der  nicht  gestaltet,  sondern  nur  eben 
anschaut  und  mit  leisem  Liebhabergeist  das  bittere 
Leben  doppelt  liebt,  weil  er  es  in  all  seiner  Prag- 
würdigkeit und  Blöße  erkennt.«  Diese  Aphorismen 
wölben  sich  wie  ein  goldig-blauer  Septemberhimmel 
nach  langen  bangen  Stürmen.  Die  Sprachkunst  wird 
stoffrei,  materienfrei,  leichtbeschwingt,  hellklingend. 
Der  Stil  ist  konzentriert  und  bietet  sich  dem  Studium 
in  Reinkultur  dar.  Diesen  Stil  meinte  manch  einer 
aus  dem  Handgelenk  nachmachen  zu  können.  Da 
zeigte  sichs  ungefähr,  wie  schwer  das  ist,  so  eine 
kleine  Glosse  von  dreißig  Zeilen  zu  schreiben,  ohne 
daß  der  Leser  früher  durchgeht.  Die  Kunst,  mit  der 
Sprache  so  zu  fesseln,  daß  der  Leser  mit  steigender 
Lust  und  Spannung  ins  Labyrinth  läuft  und  alle  auch 
schweren  Anforderungen  gerne  auf  sich  nimmt — das  hat 
ihm  noch  keiner  abgeguckt.  Das  Geheimnis  liegt 
vielleicht  darin,  daß  Kraus  selber  einem  Sprach- 
labyrinth träumerisch  -  trunken  nach  wandelt;  die 
Sprache  ist  für  ihn  ein  Garten  voll  unverhoffter 
Rosen,  die  aus  allen  Lauben  hervorbrechen.  Er  hat 
Aufsätze  geschrieben,  Essays,  gipfelnd  in  einem 
klirrenden  Witz,  deren  Bau  und  Konstruktion  nicht 
zu   ergründen    und   doch   artistisch -gedanklich    voll- 


—  23 


«ndet  ist.  Ihn  leitet,  scheints,  dieselbe  geheimnis- 
voll« Macht  wie  den  Lyriker.  Darum  gibt  es  bei 
ihm  reine  toten  Stellen,  keine  Lacunen,  sondern  ein 
unwiderstehliches  Weitergleiten,  wie  es  etwa  bei 
der  Wieland'scheii  Prosa  zu  verspüren  ist,  wo  sich 
das  Umblättern  so  ganz  und  gar  im  Husch  und  von 
selber  mtcht.  In  seinen  Aphorismen  tritt  uns  diese 
Sprach  -Produktivität  ganz  leibhaftig  entgegen. 
Karl  Kraus  darf  nun  endlich  erwarten,  daß  er  seinem 
zuständigen  Richter  nicht  mehr  entzogen  wird;  er 
ist  nunmehr  in  der  Gesellschaft  angelangt,  auf  die 
er  ein  Recht  hat:  in  der  Gesellschaft  der  Denker 
und  großen  Herren  vom  Geist.  Er  kann  somit  auf 
seinen  wirklichen  Geschmack  ohne  die  Würze  der 
Tagesaktualität  genossen  werden.  Bei  allem  selbst- 
ständigen Leben  der  einzelnen  Aphorismen  liegt  in 
der  Komposition  dieses  merkwürdigen  Buches  eine 
Wechselwirkung  und  innere  Verkettung  der  Gredanken 
und  eine  jubelnde  Steigerung,  welche  sie  wieder  zu 
einer  höheren  Einheit  verknüpft.  Man  darf  neugierig 
sein,  ob  gegenüber  diesem  Buch,  dessen  geisti- 
ger Schatz  sicherlich  heimlich  aufgegriffen  werden 
wird,  die  österreichischen  »Intellektuellen«  die 
Frechheit  haben  werden,  zu  —  schweigenl  In 
den  Aphorismen  erkenne  ich  einen  vollendeten  Frei- 
geist, der  alle  Schlacken  von  sich  abgetan,  einen 
unverhofften,  edlen  Abschluß  eines  stürmischen  Jahr- 
zehnts. 

Kolossaler  Marsch  einer  Persönlichkeit:  beginnt 
damit,  seine  Mitbürger  durch  gelungene  Scherze  über 
die  Tagesereignisse  zu  amüsieren,  gibt  seinen  Waffen 
allmälig  Objekt  und  Richtung,  stellt  sich  in  den 
Dienst  der  gesellschaftlichen  Gerechtigkeit,  erhebt 
sich  zum  großen  hinreißenden  Journalisten,  wird 
zum  Kulturkritiker  und  Sachwalter  des  Individuums, 
dann  der  Persönlichkeit  und  des  Genies,  wirft  von 
einem  bestimmten  Zeitpunkt  an  alle  Eroberungen, 
Freunde,  errungenen  Positionen  wie  einen  Pappenstiel 


—  24 


von  sich  und  zieht  sich  auf  den  Geist  zurück  *nd 
wird  zum  Künstler  feinster  Weltbetrachtung.  Ihr  be- 
gleiten auf  diesem  Wege  Haß  gegen  Trivialität,  <jegen 
Schmarotzertum,  Demokratie  und  Popularität  —  Liebe 
zum  Weib,  zur  Persönlichkeit  und  Einsamkeit,  wäh- 
rend er  immer  mehr  und  mehr  davon  abkojomt,  für 
Menschen  und  Dinge  einzutreten  und  leidenschaftlich 
sein  Eigenstes  sucht,  um  es  endlich  n*ch  vielen 
Schmerzen  und  seltenen  Triumphen  zu  finden  und 
als  klingendes  Gedankengold  herauszuzeftlen,  endend 
wie  er  begonnen,  mit  neuen  Verheißungen  und  viel- 
sagenden Versprechen 


Die  Memoiren  der  Odilon. 

Anadyomene,  mit  einer  Krücke  dem  Meer  ent- 
stiegen —  so  erschien  sie  mir  auch  in  gesunden 
Tagen.  Erst  ihre  Krankheit,  deren  aphrodisischen  Ur- 
sprung sie  selbst  bekennt,  beglaubigt  sie  als  Weib. 
Ihre  Stimme  war  nicht  wie  Sirenensang,  den  zu  hören 
man  stirbt;  doch  es  klang  auch  kein  tragischer  Orgel- 
ton darin  und  keine  Glocke  zur  christlichen  Nacht. 
Das  Weib  im  Zustand  der  Zivilisation,  aber  ohne  das 
Heimweh  der  Hysterie  und  ohne  Widerspruch  gegen 
die  Gefängnisvorschriften.  Kaum  daß  ein  Dämmer 
jener  Nervennot,  aus  der  das  Gefühl  der  heutigen 
Schauspielerin  schöpft,  die  Ahnung  eines  elemen- 
taren Lebens  weckte.  Hier  war  nicht  das,  was  dem 
Weib  Persönlichkeit  gibt,  das  tiefe  Nichts,  die  zau- 
berische Hülle  aller  Werte,  die  der  Mann  ver- 
leiht und  die  ihn  bereichern :  Hingabe,  die  Rückgabe 
ist.     Diese     Faszinationen    haben    nichts,    was     den 


-  25  — 

Bürger  aus  dem  Weg  der  Korrektheit  reißen 
könnte,  aber  einen  Künstler  möchten  sie  zerstören; 
diese  Betrügereien  vollziehen  sich  innerhalb  der 
Gesellschaftsordnung,  aber  einen  Mann  von  Gnaden 
der  Natur  könnten  sie  um  den  Verstand  bringen.  Das 
ist  die  Mission  solcher  Frauen,  von  denen  man  nicht 
wüßte,  wozu  sie  geboren  werden,  wenn  sie  nicht  zu- 
guterletzt  eine  Erkenntnis  stärkten:  daß  die  Kultur 
das  Chaos  wiederhergestellt  hat,  aus  dem  die  Welt 
erschaffen  wurde  .  .  .  Die  »interessante  Frau«  und 
die  erotische  Posse  bezeichnen  die  geistigen  Grenzen 
der  christlichen  Geschlechtsfreiheit;  nichts  ist  un- 
interessanter als  jene  .und  nichts  trauriger  als  diese. 
Tn  ihnen  huldigt  die  Übertretung  dem  Verbot;  das 
Maß  dessen,  was  gewagt  wird,  ist  das  Maß  dessen, 
was  nicht  gewährt  ist,  und  so  wahr  Freiheit  die 
Feindin  des  Zwanges  ist,  so  ist  Frechheit  die  Ver- 
bündete des  Respekts.  Innerhalb  der  geistigen  Ord- 
nung aber,  die  die  Persönlichkeiten  bricht,  da  sie  sie 
nicht  biegen  kann,  hat  der  Gaukler  Talent  den  weitesten 
Spielraum.  Talent  ist  geschlechtslos  und  daher  welt- 
läufig. Es  täuscht  über  allen  Zwiespalt  eines  Lebens,  das 
die  Geschlechter  gegeneinander  stellt,  esist  eine  Verstän- 
digung von  Mann  zu  Weib.  Sinnengenuß  und  Rausch 
des  künstlerischen  Schaffens  tun  uns  nichts  mehr  zu 
leide;  es  sind  die  Sonn wendfeuer  des  Talents,  die  den 
Schein  eines  Waldbrandes  geben.  Talent  ist  der  Selbst- 
betrug, mit  dem  sich  das  Leben  über  seine  Verar- 
mung tröstet.  Und  durch  nichts  verarmt  es  mehr 
als  durch  die  Entschädigung.  Kraft  ist  schöpferisch, 
aber  Routine,  die  Kraft  ersetzt,  kann  nicht  einmal 
Routine  erschaffen ..  .Sonst  kann  sie  alles.  Denn  das 
Wesen  des  Talentes  ist,  zu  können,  was  es  nicht 
muß.  Ein  Talent  der  Liebe,  ein  Talent  der  Bühne, 
am  zweifachen  Spiel  gehindert,  wird  unschwer  zum 
Talent  der  Feder.  Versagt  die  rechte  Hand,  so  schreibt  die 
linke.  Sie  schreibt  Memoiren  eines  Talents,  die  ebenso 
jedes  andere  Talent  schreiben  könnte,  ohne  erlebt  zu 


26 


haben,  was  sich  schreiben  läßt.  Erinnerungen  an  die 
Tage,  da  eine  Stadt  vor  Frau  Helene  Odilon  auf  dem 
Kopf  stand  und  es  ohne  Rücksicht  darauf  tun  konnte, 
daß  ein  wertvoller  Inhalt  in  Verwirrung  gerate. 

Mir  klafft  kein  Riß  zwischen  der  peinlichen 
Sensation  dieses  Buches  und  dem  Küustlerruhm  dieses 
Lebens.  Und  schwer  wird  es  mir,  die  Autorin  nicht 
gegen  die  enttäuschten  Verehrer  der  Schauspielerin 
in  Schutz  zu  nehmen.  Denn  die  Frage  »Ist  das 
wirklich  notwendig  gewesen?«,  die  sich  schmerzlich 
bewegten  Feuilletonisten  entringt,  darf  frank  bejaht 
werden.  Man  müsse  nicht  die  Odilon  gewesen  sein, 
sagen  sie,  »die  große  Mondäne,  die  Verführerin  einer 
Stadt«,  um  ein  solches  Buch  zu  schreiben,  das  nichts 
enthalte  als  Klatsch  aus  Garderobe  und  Schlafzimmer ;  um 
es  in  einem  saloppen  Komödiantenjargon  zu  schreiben 
und  in  einem  gleichgiltigen  Ton,  der  nichts  inter- 
essant zu  machen  wisse.  Ich  sage,  man  muß  dazu 
die  Odilon  gewesen  sein!  Liegt  die  Enttäuschung 
der  Verehrer  in  der  Erkenntnis,  daß  die  Dame  keine 
hinreichend  geschickte  Feuilletonistin  ist?  Sie  scheint 
tiefer  zu  wurzeln;  denn  der  Tadel  resolviert  zu  der  Er- 
klärung, an  dem  banalen  Buche  sei  »nichts  sonderbar,  als 
das  Wesen  einer  Frau,  die  uns  daraus  entgegentritt: 
kalt,  indezent,  rücksichtslos  und  ohne  Tiefe«.  Dieses 
Buch  sei  danach  angetan,  »das  Bild  der  einst  strahlen- 
den Odilon  zu  zerstören«.  Man  sieht,  wie  verzwickt 
der  psychische  Sachverhalt  ist.  Denn  die  Autorschaft 
der  Frau  Odilon  zugegeben,  bleibt  nichts  übrig  als 
die  Vermutung,  daß  ihre  Persönlichkeit  in  dem 
Augenblick  kläglich  zusammengeschrumpft  ist,  als 
ihr  ein  Verleger  den  Antrag  stellte,  ihre  Memoiren 
zu  schreiben,  —  oder  die  Annahme,  daß  es  einst  der 
faule  Zauber  einer  strahlenden  Routine  war,  der  eine 
kalte,  indezente  und  seichte  Natur  zur  Verführerin 
einer  ganzen  Stadt  machte.  Ich  entscheide  mich  für 
die  Annahme  und  verwerfe  die  Vermutung.  Jene 
Geschicklichkeit   konnte   die  Literaten  täuschen,   so- 


27 


lange  sie  auf  der  Szene  zu  Hause  war.  In  die 
Literatur  übersiedelt,  erregt  sie  das  Bedenken  der 
Fachleute.  Eine  rechte  Frau  mag  in  einem  un- 
gefügen Satz  eines  Briefes  die  Gestaltungskraft  von 
zehn  Schriftstellern  beschämen,  aber  sie  wäre  nie 
imstande,  ihre  Memoiren  herauszugeben.  Es  ist  ein 
unnatürlicher  Tod  der  Weiblichkeit,  die  im  Bett 
stirbt,  wenn  eine  sich  entschließt,  zur  Feder 
zu  greifen.  Dieser  Selbstmord  soll  als  Versuch  der 
Rettung  aus  einem  unbefriedigten  Dasein  nicht 
unterschätzt  werden.  Aber  ein  Weib  schreibt  immer 
sein  Obduktionsprotokoll.  Und  glaubt  man,  daß  das 
Leben  einer  Frau,  die  eines  Tages  der  Literatur  ver- 
fällt, je  etwas  anderes  war,  als  ein  Leben  aus  zweiter 
Hand?  Nur  die  Blindheit  nimmt  eine  Wesensänderung 
wahr,  und  nur  die  Taubheit  hört  aus  den  Memoiren 
der  Frau  Odilon  eine  andere  Sprache  als  aus  ihren 
Bühnengestaltungen.  Wer  bei  dem  »gefühllosen, 
gleichgültigen,  einförmigen  Ton«  ihres  Buches  sich 
nicht  an  die  Glanzzeit  der  Frau  Odilon  erinnert,  um 
eine  Konsequenz  festzustellen,  sondern  um  über  die 
seltsame  Verwandlung  eines  Charakters  nachzudenken, 
der  macht  mit  Unrecht  die  Autorin  für  seine 
Enttäuschung  verantwortlich.  Madame  Sans- 
G§ne  in  Wort  oder  Schrift,  ich  höre  nur  eine 
Stimme,  und  sie  klingt  mir  immer  noch  wie  der  Ton 
einer  stattlichen  Sparbüchse,  einer,  die  klappert  und 
schüttert,  ohne  sich  je  zu  vergeuden,  und  die  unter 
Kuratel  zu  stellen,  bloß  dem  Scharfsinn  einer  öster- 
reichischen Behörde  einfallen  konnte.  Aber  es  ist 
schließlich  kein  Wunder,  daß  in  einem  Staat,  dessen 
Finanzminister  frei  herumlaufen  und  dessen  Abge- 
ordnete davon  leben,  daß  sie  mit  fremdem  Geld  ver- 
schwenderisch umgehen,  die  Kapitalisten  zu  Märtyrern 
der  behördlichen  Aufsicht  werden.  Daß  sich  diese 
eine  Frau  als  Opfer  ausersehen  hat,  die  in  ihrer  ganzen 
Lebensführung  den  holden  Schwachsinn  ihres  Ge- 
schlechts verleugnet,  beweist  die  glückliche  Hand,  die 


28 


dieser  Staat  wie  in  allen  höheren  Kulturproblemen  auch 
bei  der  Kuratelverhängung  bewährt.  Die  Art,  wie  Frau 
Odilon  noch  heute  mit  ihren  Liebhabern  abzurechnen 
versteht,  stärkt  den  Verdacht,  daß  hier  ein  mündiger 
Verstand  unter  der  Kuratel  des  Blödsinns  gehalten 
wird.  Daß  Frau  Odilon  als  Schriftstellerin  noch 
nicht  die  blendende  Routine  hat,  mit  der  sie  als 
Lebenskünstlerin  und  Star  der  Bühne  über  den 
Mangel  an  Persönlichkeit  zu  täuschen  wußte,  ist  ein 
Vorwurf,  den  nur  die  kollegiale  Unduldsamkeit 
erheben  kann.  Aber  daß  ein  Weib  den  Ehrgeiz 
hat,  mit  der  Feder  seinen  Mann  zu  stellen,  ist  keine 
Kritik  am  Buch,  sondern  am  Weib.  Das  ist  keine 
Schwachsinnige,  das  ist  kein  Weib,  die  solche  Proben 
einer  Erinnerungsfähigkeit  ablegt. 

Solange  eine  nicht  schreibt,  bewahrt  sie  den 
Schein  der  Geschlechtswirkung,  und  der  Zusatz  jener 
widerwärtigen  Geistigkeit,  der  sie  später  zur  Schrift- 
stellerin befähigt,  mag  gar  die  verdächtige  Mixtur 
herstellen,  welche  die  Toren  betört.  Aber  eben  diese 
Intelligenz  ist  es,  die  im  rechten  Augenblick  alle  die 
schlechten  Eigenschaften  mobilisiert,  die  im  Friedens- 
stand zum  Reiz  des  Weibes  versammelt  sind.  Die 
Anmut  ist  eine  Maske,  die  das  Weib  vor  dem  wahren 
Antlitz  trägt.  Fällt  die  Maske  —  nichts  außer  ihr  ver- 
mag zu  »fallen«  — ,  so  steht  eine  fragwürdige  Mensch- 
lichkeit vor  deinen  Augen.  Bist  du  nicht  im  Zauber- 
bann, so  kann  die  Erhitzung  deines  Nachbarn  dich 
nicht  von  der  Vision  abbringen,  daß  die  Luxusdame, 
die  da  oben  ihr  Spiel  treibt,  ein  flotter  Weinreisender 
im  Unterrock  ist  oder  ein  Börsenagent  mit  Jupons. 
Und  läßt  sie  selbst  die  Maske  fallen,  gibt  sie  den 
Schein  schöpferischen Frauentums  auf,um  eineMeinung 
zu  vertreten,  um  zu  agitieren,  zu  reden,  zu  schreiben, 
so  erwächst  der  Eindruck  zu  schreckerregendor  Voll- 
ständigkeit. Sie  braucht  sich  dann  von  keinem 
Feuilletonisten  entmutigen  zu  lassen,  der  Ehrgeiz 
allein   beglaubigt  ihre  Zugehörigkeit,  und  das  anere- 


29 


borne  Talent  zur  Routine  führt  sie  bald  über  die 
Schwierigkeiten  des  Anfangs.  Und  sie  hat  ein  Recht 
darauf,  daß  man  ihr  die  Abscheulichkeiten  eines 
Klatschromans  genau  so  verüble,  wie  jedem  Reporter, 
der  die  wahre  oder  fingierte  Kenntnis  des  Privat- 
lebens stadtbekannter  Personen  zu  einer  publizisti- 
schen Sensation  ausschrotet.  Denn  das  ist  der  ehr- 
liche Erfolg  der  Frauenemanzipation,  daß  man  einem 
Weib,  welches  sich  einem  schmierigen  Handwerk 
des  Mannes  gewachsen  zeigt,  heutzutage  nicht 
mehr  die  verdiente  Geringschätzung  vorenthalten 
darf.  Freilich  muß  hier  das  Recht  der  Frau  noch 
immer  in  einem  Punkte  zu  kurz  kommen.  Man 
darf  einer,  die  ehrenrührige  Eingriffe  in  ein  Privat- 
leben begeht,  wohl  von  der  Gesinnung  zumessen,  die 
man  einem  Redakteur  in  solchem  Falle  widerfahren 
läßt;  aber  das  unsäglich  ekle  Erlebnis,  eine  Frau, 
die  Memoiren  geschrieben  hat,  vor  den  Geschwornen  zu 
sehen,  wird  der  erpichteste  Frauenrechtler  nicht  her- 
beisehnen, und  kein  Feminist  wird  wünschen,  daß 
man  an  einem  Weibe  jene  Selbsthilfe  betätige,  die 
man  gegen  den  Verbreiter  der  sexuellen  Intimitäten 
in  der  richtigen  Erkenntnis  anwendet,  daß  die 
judizielle  Genugtuung  nicht  zureiche.  Es  ist  gewiß 
wieder  ein  Unrecht,  daß  man  hier  durch  die  Bevor- 
zugung der  männlichen  Sudler  begeht.  Aber  der 
äußere  Schein,  der  dafür  spricht,  daß  es  Männer  sind, 
während  die  Journalistinnen  noch  immer  keine  Hosen 
tragen,  muß  die  Wahl  entscheiden.  Wenn  auch  in 
Wahrheit  durchwegs  nur  die  Weibernaturen  in  der 
Journalistik  auf  den  trostlosen  Gedanken  verfallen, 
durch  Preisgabe  wahrer  oder  erdichteter  Tatsachen 
des  Privatlebens  eine  Rache  zu  üben,  so  ist  doch 
die  Hose  für  den  Entschluß  maßgebend,  sie  zu 
spannen.  Kein  Mensch,  und  wäre  er  in  seinem 
Innersten  beleidigt  worden,  wird  einen  Weiberrock 
aufheben,  um  eine  unzärtliche  Gesinnung  zu  betätigen. 
Diese    Zurücksetzung  müssen    sich    nun    einmal   die 


30 


schreibenden  Weiber  gegenüber  den  weibischen 
Schreibern  gefallen  lassen.  Aber  weil  sie  ihrer  ganz  und 
gar  sicher  sein  können,  sollte  umso  nachdrücklicher 
der  Versuch  unternommen  werden,  sie  durch  Worte 
einzuschüchtern.  Denn  das  Handwerk  der  Kolportage 
von  Bettgeheimnissen  mag  einen  goldenen  Boden 
haben:  wenn  es  ein  Weib  betreibt,  so  ist  es  eine 
Beleidung  des  eigenen  Geschlechtes,  wie  sie  schimpf- 
licher nicht  gedacht  werden  kann.  Pur  diese,  nicht 
für  die  Beleidigung  der  Männer,  deren  Leben  das 
Unglück  hatte,  von  einer  künftigen  Memoiren- 
schreiberin  gekreuzt  zu  werden,  gilt  es  eine  Sühne 
zu  schaffen.  Es  wäre  lächerlich,  einen  Menschen  wie 
Alexander  Girardi,  der  mit  einem  Wort  einen  Reich- 
tum der  Liebe  spendet  und  gewinnt,  gegen  die  Herzens- 
leere dieser  Enthüllungen  in  Schutz  zu  nehmen,  die 
nebst  ihrer  garstigen  Absicht  nichts  enthüllen, 
als  gerade  die  wertvollsten  menschlichen  und  künst- 
lerischen Eigenschaften  des  Betroffenen.  Aber  man 
würdesich  versucht  fühlen,  sich  selbst  des  unsympathi- 
schesten Opfers  dieser  Ranküne  anzunehmen  und 
einen  Geldbaron  gegen  den  Verdacht  einer  reinen 
Liebe  zu  schützen,  aus  deren  » Glückstraum  c 
Frau  Odilon  durch  drei  Tausender  herausgerissen 
wurde,  wie  anderseits  gegen  die  öffentliche 
Rechnungslegung,  zu  der  sie  sich  gegenüber  dem 
» Unwürdigen c  schließlich  doch  bereit  findet.  Sie 
alle  aber  gegen  die  Zumutung  zu  schützen,  ihre 
Bettgenossenschaft  kulturhistorisch  gewürdigt  zu 
sehen. 

Es  ist  ein  Buch,  das  wirklich  notwendig  war, 
um  der  Öffentlichkeit  und  deren  Wortführern  über 
die  Armut  ihrer  Illusionen  die  Augen  zu  öffnen,  die 
fast  so  billig  herzustellen  sind,  wie  die  Bühnen - 
toiletten  der  Frau  Odilon.  Durch  die  rücksichtslose 
Preisangabe  für  diese  und  durch  das  Preisgeben  der 
uninteressantesten  Geheimnisse  hat  sich  die  Verfasserin 
in  einem   Teil   der  Presse   das  Lob  »Rousseau'schen 


3L  — 


Wahrheitsmutes«  zugezogen.  Gefährlicher  ist  eine 
Kritik,  die  Frau  Odilon  jahrelang  als  dämonisches 
Weib  anerkannt  hat  und  jetzt  die  Hände  über  dem 
Kopf  zusammenschlägt,  weil  sich  der  Zauber  als 
eine  sublimierte  Mischung  aus  den  Interessen  eines 
Reporters  und  den  Berechnungen  eines  Theateragenten 
herausstellt.  Daß  Charlotte  von  Stein  nach  der 
Schätzung  beeideter  literarhistorischer  Sachver- 
ständiger keine  Wertsache  war,  wird  an  ihrem 
Liebhaberwert  für  die  Subjektivität  eines  Goethe 
nichts  ändern;  man  wird  höchstens  in  der  Über- 
zeugung bestärkt  werden,  daß  die  Literaturforschung 
keine  Wertsache  ist.  Aber  die  Objektivierung  der 
Frau  Odilon  ist  durch  ihren  Willensakt  herbeigeführt 
worden,  sie  hat  sich  selbst  enthüllt,  sie  hat  ge- 
schrieben. Die  schmerzliche  Enttäuschung  der  Wiener 
Kulturforscher  ist  so  töricht  wie  die  Überlegenheit 
der  deutschen  Literaturhistoriker. 

Freilich  muß  es  ihrer  Vorstellung  von 
einem  Mondänentum  arg  zusetzen,  wenn  sie  Frau 
Odilon  erzählen  hören,  wie  sie  in  ihrer  Jugend 
»ein  paar  Dachteln«  bekommen  habe,  wie  ihr  dann 
»das  Herz  pumperte«,  als  sie  zum  erstenmal  auf  den 
Presseball  ging;  wenn  sie  hören,  wie  sie  sich  ein 
»armes  Waserl«  nennt,  »gut  is'  gangen«  ruft, 
ein  Erlebnis  »bis  zum  1-Tüpferl  durchmacht«, 
»puraperlgesund«  nachhausekommt,  von  ihrem  »Hirn- 
kastei« spricht,  von  einem  Autor,  »dem  es  das 
Beischel  umdreht«,  von  dem  »krauperten  Haar« 
Lenbachs,  von  dem  »Gerstl«,  das  ihrem  Mann  aus- 
geht, von  den  »Spompanadeln«,  die  sie,  und  von 
den  »Mafökchen«,  die  er  auf  Reisen  macht,  von  dem 
»Riesenschinakel«,  auf  dem  sie  nach  Amerika  fährt, 
von  den  »Fressalien«  an  Bord,  einigemal  vom  »Speiben«, 
und  nur  zur  Abwechslung  davon,  daß  sie  einmal  »ganz 
betropetzt«  war  und  daß  ein  Kollege,  als  er  von  der 
»Benehmität«  einer  Kollegin  hörte,  die  Bemerkung 
machte:  »Ae  solchene  wären  Sie?«  Sonst  aber  durchaus 


—  32  - 


eine  sprachliche  Melange  aus  Grinzing  und  Hoppe- 
garten, ein  Jargon,  der  zugleich  harb  und  »muschlig 
kuschlig«  ist  und  neben  dem  Ruf  »Kruzifix  noch 
einmal!«  nur  die  Beteuerung  vermissen  läßt:  »Ich  denk, 
mich  laust  der  Affe!*  .  .  .  Mir  könnten  solche  Äuße- 
rungen das  Bild  einer  Göttin  nicht  alterieren.  Das  Vor- 
bild der  Iphigenie  bevorzugte  —  Dank  sei  einem  Pro- 
fessor für  die  Enthüllung  —  das  Wort  »Dreck«,  und  jene 
andere  Charlotte,  die  das  vollendetste  Nachbild  der 
Iphigenie  geschaffen  hat,  die  große  Wolter,  befliß  sich 
in  Umgang  und  Briefen  des  rüdesten  Jargons.  Sie 
wären  freilich  nicht  imstande  gewesen,  Bücher  daraus 
zu  machen.  Die  Ausdrucksweise  der  Salondame  mag 
ein  lesendes  Parterre  enttäuschen;  in  die  Linie  ihres 
Wesens  fügt  sich  mir  der  geistige  Stil.  Daß  ihre 
Erinnerung  an  einen  berühmten  Kollegen  sich  darauf 
beschränkt,  daß  er  einmal  plötzlich  von  der  Szene 
verschwunden  sei,  und  in  dem  Satze  gipfelt:  »Des 
Rätsels  einfachste  Lösung'  hätte  die  verschwiegene 
Toilettefrau  geben  können«,  wäre  schließlich  noch 
ein  naturalistischer  Zug,  der  zwar  dem  mondänen 
Ruf  einer  Bühnenkünstlerin  abträglich  ist,  aber  sonst 
von  einem  erfreulichen  Humor  zeugt;  — wozu  schriebe 
man  denn  Memoiren,  wenn  sie  nicht  auch  diese 
letzten  Geheimnisse  der  Zeitgenossenergründen  dürften? 
Und  daß  sie  selbst  auf  dem  Amerikadampfer  »gleich 
nach  der  Suppe  unter  den  Klängen  eines  Strauß'schen 
Walzers  aus  dem  Saal  tänzeln  mußte  und  unter  noch 
ganz  anderen  Klängen  dann  in  die  Kabine  walzte«, 
wäre  auch  noch  harmlos,  wenn  solche  Erinnerung 
nicht  den  penetranten  Verdacht  weckte,  sie  stehe 
in  den  Memoiren  eines  reisenden  Männergesang- 
vereins. Aber  die  geistigen  Übelkeiten,  die  uns  — 
wenigstens  in  der  ersten  Hälfte  des  Buches  —  auf- 
getischt werden,  sind  in  Wahrheit  das,  was  eine 
beliebte  Schauspielerin  zu  einer  der  unsympathischesten 
Erscheinungen  der  deutschen  Literatur  gemacht  hat.  Die 
Grundgesinnung,  die  alle  Andern  mit  Druckerschwärze 


33 


beschmieren  möchte,  weil  man  selbst  der  Schminke 
entsagen  muß, in  Ehren!  Daß  Frau  Odilon  Kolleginnen 
auch  dort  kompromittiert,  wo  sie  nichts  davon  hat,daßsie 
Jugendfreunde  verhöhnt,  weil  sie  ihr  aus  Eifersucht  eine 
ruhmlose  Laufbahn  prophezeiten,  Schneider  durch  üble 
Nachrede  schädigt,  Gatten  des  Diebstahls  ver- 
dächtigt —  Verbitterung  mag  die  Arroganz  solchen 
Schaugerichts  über  eine  private  Welt  erklären.  Aber 
daß  sie  sich  dazu  versteigt,  uns  die  Hämorrhoiden 
eines  Gemahls  vorzusetzen  und  ähnliche  Miseren 
der  Ehe,  die  sie  schließlich  der  goldenen  Ader  eines 
Millionärs  geneigt  machten,  das  ist  mehr,  als  das 
Mitleid  selbst  gestatten  kann.  Widerlich  auch  die 
Art,  wie  sich  die  Lebensroutine  einer  Liebhaberin 
als  die  Ahnungslosigkeit  einer  Naiv-Sentimentalen 
vermummt.  Frau  Odilon  ist  in  ein  neues  Fach  über- 
gegangen. Zerknirscht  nennt  sie  es  einen  »Fehltritt«, 
als  sie  einen  Rennstallbesitzer  mit  einem  Trainer  be- 
trügend bezeichnet  sich  hiebei  als  ein  Opfer  des  bösen 
»Galeotto«,  der's  nun  einmal  wahr  haben  wollte. 
Von  der  ersten  Zusammenkunft  mit  dem  Finanz- 
baron »träumt  sie  mit  geschlossenen  Augen«.  Nach- 
träglich 1  »Wie  ich  unter  einem  Vorwand  in  sein 
Palais  gekommen  war.  Wie  wir  von  gleichgiltigen 
Dingen  gesprochen,  wie  aber  die  Augen  die  Herzen 
nicht  Lügen  strafen  gekonnt .  .  .  Und  wie  es  schließ- 
lich geschah  .  .  .  Damals  hätte  ich  es  in  alle  Welt 
hinausjubeln  wollen  .  .  .«  So  romantisch  ist  das 
Leben,  und  es  gehört  Rousseau'scher  Wahrheits- 
mut dazu,  es  auch  so  darzustellen.  Und  ein  unerbitt- 
liches Ethos  ist  notwendig,  damit  eine  Frau  in 
glaubhafter  Weise  »Unpünktlichkeit«  als  jene  männ- 
liche Untugend  schildere,  die  ihr  die  Ehe  vergällt 
habe,  und  damit  eine  Schauspielerin,  die  sich  fort- 
während über  eine  Rejane,  eine  Sandrock,  eine  Sorraa 
zu  stellen  vermißt,  der  größten  Persönlichkeit  des 
österreichischen  Theaters  »Eitelkeit«  vorwerfen  könne. 
Wenn  es  aber  die  Dekorierung  ihrer  Erlebnisse  gilt, 

277—278 


84 


ist  solch  eine  interessante  Frau  einer  Sinnigkeit 
und  Kitschigkeit  fähig,  die  man  ihr  gar  nicht  zu- 
trauen sollte.  Zur  Erinnerung  an  ihre  erste  Kollegen- 
liebe zitiert  sie  schlicht  das  tiefe  Wort  aus  dem 
Zigeunerbaron:  »Wer  uns  getraut?  Sag  an  —  sag 
du!«  Als  sie  einmal  in  Ems  dem  alten  Kaiser  Wil- 
helm begegnete,  sprach  er  zu  ihr:  »Sie  werden  mich 
doch  nicht  für  so  unhöflich  halten,  daß  ich  einer 
Dame  vorangehe?  Also,  darf  ich  bitten?«  Sie  aber 
ging,  »gerührt  von  dieser  auf  der  Welt  einzig  da- 
stehenden Liebenswürdigkeit,  stumm  ihres  Weges«. 
Und  um  nicht  immer  wieder  die  Folgen  einer  stür- 
mischen Amerikafahrt  beschreiben  zu  müssen,  deutet 
sie  einmal  mit  diskretem  Humor  an:  »Er  zählt  die 
Häupter  seiner  Lieben  —  Statt  hundert  waren's  sieben«. 
Interessante  Frauen  haben  vor  den  Frauen  voraus, 
daß  sie  denken  können,  was  die  uninteressanten 
Männer  schon  gedacht  haben.  Sie  können  also 
Zeitungsklischees  denken.  Sie  freuen  sich  nicht  etwa 
über  die  Blumen,  die  ihnen  bei  einem  Wiederauftreten 
gereicht  wurden,  sondern  sie  konstatieren,  daß  ihre 
Garderobe  »in  einen  Blumenhain  verwandelt«  war.  So 
eine  feiert  nicht  Weihnachten,  sondern  sie  sagt: 
»Wieder  steuerten  wir  auf  das  schöne  Weihnachtsfest 
los,  an  dem  sich  Alt  und  Jung,  Groß  und  Klein  so 
recht  vom  Herzen  freuen  sollen«.  Freilich  rutscht  ihr 
gleich  darauf  der  Satz  heraus:  »Das  dachte  sicher 
auch  der  Herr  v.  Gomperz,  als  er  mir  seine  Geschenke 
überbrachte«.  (Gomperz  ist  der  Name  eines  Licht- 
gottes, der  Frau  Odilon  durch  alle  Fährnisse  dieser 
Welt  von  Schwarzalben  geleitet.)  Sie  geht  nach  Paris, 
also  »nach  diesem  reizenden,  schändlichen  Seinebabel«. 
Sie  geht  nach  Venedig,  also  »nach  dieser  allerliebsten 
Bijoustadt«.  Aber  wenn  es  auch  viele  herrliche  Städte 
gibt,  »'s  gibt  nur  a  Kaiserstadt, 's  gibt  nur  a  Wien!«.  Da 
sich  immerhin  auch  anderswo  leben  läßt,  so  bieten  uns  die 
Memoiren  der  Odilon  eine  Fülle  ethnographischer  Auf- 
schlüsse. Zum  Beispiel:  »Geht  man  durch  die  Straßen 
Roms  spazieren,  sieht  man  alte  Bilder,  alte  Gobelins,  alte 


—  35  — 


Spitzen,  altes  Gold,  altes  Silber,  alte  Bauten.  Alles 
ist  alt,  und  je  älter  das  ist,  desto  mehr  wird  dafür 
bezahlt.  Eine  einzige  Ausnahme  macht  der  Mensch  — 
da  ist  es  gerade  umgekehrt.«  Anders  New- York. 
Frau  Odilon  beschloß,  »das  Land  der  Yankees«  zu 
besuchen.  »Ein  Gastspiel  in  einem  mir  ganz  unbe- 
kannten Weltteil!«  Da  ist  natürlich  das  Lampenfieber 
noch  viel  größer.  Aber  es  steht  dafür.  Die  amerikani- 
schen Eisenbahnen  zum  Beispiel:  »Bei  allem  Komfort 
wird  deshalb  der  Bequemlichkeit  nicht  vergessen«. 
Sehr  anschaulich  tritt  uns  das  Bild  der  Metropole 
entgegen:  »Was  Beleuchtung  anbelangt,  so  steht 
New- York  einzig  da  und  Paris  und  London  können 
sich  mit  ihm  nicht  messen.  Amerika  ist  das  Land 
der  Reklame  .  .  .  Die  Beleuchtung  in  den  Dienst  der 
Reklame  gestellt,  das  war's,  was  mir  sofort  in  die 
Augen  fiel.  An  jeder  Straßenecke  usw.«  Die  Ver- 
pflegung: »So  gefressen  —  pardon — gegessen  hatte 
ich  noch  nie  zuvor«.  Im  Theater  gibts  das  »Weiße 
Rößl«  und  »der  Giesecke«  hält  eine  Ansprache  an 
Frau  Odilon,  die  aus  der  Loge  antwortet.  New-York 
hat  ferner  die  Wolkenkratzer,  man  besucht  das  größte 
Warenhaus  zum  Wannemaker,  ein  Kleid  um  600 
Dollars  ist  eine  »Mezije«,  und  seit  der  Entdeckung 
Amerikas  durch  Conried  ist  kein  Gast  so  gefeiert 
worden,  wie  Frau  Odilon  .  .  .  Aber  hat  nicht  auch 
Mitter  wurzer  in  New-York  gastiert?  Gewiß,  aber  er 
war  —  unpünktlich.  Er  kam  vor  dem  Termin,  und  die 
Folgen :  leere  Häuser  und  kein  Erfolg.  Wie  sie 
doch  die  Männer  kennt  1  Dieser  Mitterwurzer  war 
»ein  Idealmensch,  aber  fürs  Geschäft  ganz  und 
gar  nicht«  ...  Im  New-Yorker  Chinesenviertel 
jedoch  bemerkt  Frau  Odilon  »Damen«,  die  sie  in 
Anführungszeichen  setzen  muß;  denn  es  sind  solche, 
die  mit  den  Chinesenonkeln  Champagner  trinken  und 
ihnen  »noch  dazu  das  nötige  Kleingeld  ablotsen«.  Tout 
comme  chez  nous,  ruftsie,  die  Chinesen  sterben  nicht  aus  I 
Aber  diese  Mädchen  leben  für  die  Freude  und 
wenn  die  Freude  auch  nur  kurz  währt,  so  schreiben 


-  36 


«ie  wenigstens  hinterdrein  keine  Memoiren.  Und 
keine  würde  behaglich  schildern,  wie  sie  die  Psychiater 
herbeigewinkt  hat,  um  Einen,  der  sie  liebte,  ins  Irren- 
haus zu  liefern.  Die  Stelle  des  Buches  »In  schmerz- 
licher Erwartung  saßen  wir  nun  bei  Svetlin,  doch 
Stunde  um  Stunde  verrann,  ohne  daß  Girardi  käme, 
diese  Stelle  ist  der  dunkelste  Fleck  in  einem  Privat- 
leben, bei  dessen  Enthüllung  Frau  Odilon  noch 
schonungsloser  vorging  als  beim  Verrat  fremder  Ge- 
heimnisse. Sie,  die  kein  Hehl  daraus  macht,  daß 
sie  selbst  einmal  den  Schwachsinn  der  Irrenärzte  für 
ihre  Zwecke  mißbrauchen  wollte,  macht  es  einem 
schwer,  auf  ihre  Hilferufe  herbeizueilen,  da  heute  an 
iht  er  geistigen  Freiheit  die  psychiatrischen  Fanghunde 
zerren.  Und  ich  möchte  es  so  gern!  Der  Glanz  der 
Frau  Odilon  muß  mich  nicht  geblendet  haben,  damit 
ich  ihrem  Elend  beistünde,  und  so  gern  möchte  ich 
die  häßliche  Hälfte  des  Buches  vergessen,  um  der 
andern  Teilnahme  zu  schenken.  Denn  diese  Ab- 
rechnung mit  der  österreichischen  Gerechtigkeit, 
deren  erhabenes  Justaraent  auf  alles  menschliche 
Fühlen  tritt,  ist  gut!  Was  die  Frau  hier  sagt,  ist  gut 
gesagt;  also  muß  sie  mit  jedem  Wort  recht  haben. 
Hier  ist  die  Reporterin  erledigt,  hier  schreibt  ein  Weib, 
was  selbst  ein  Weib  schreiben  darf.  Hier  wird  nicht 
geklatscht,  sondern  geklagt,  und  auch  ein  Weib  darf 
schreien,  wenn  ihr  ein  Büttel  an  die  Gurgel  fährt. 
Hätte  sie  nicht  die  unerträgliche  Sensation  ihrer 
Vorlebensstudie  auf  dem  Gewissen,  achtungsvollstes 
Erbarmen  wäre  diesem  durch  alle  Instanzen  des 
Heilbetruges  und  Rechts verschubs  gehetzten  Jammer 
sicher.  Aber  dieses  Kapitel  ist  für  sich  so  stark,  daß 
man  der  Armen  die  Hilfe  gegen  die  Zudringlichkeit 
nicht  versagen  darf,  mit  der  die  österreichische  Amts- 
welt ihre  Fürsorge  an  ihr  erprobt.  Wenn  der 
zehnte  Teil  dessen  wahr  ist,  was  Frau  Odilon  hier 
erzählt  —  die  Wahrheit  dessen,  was  sie  aus  dem 
Privatleben  ihrer  Nächsten  holt  »vermehrt  ihre  Schuld  — , 
dann    ist  diese   kompakte   Sozietät  von  Amtshintern 


St 


wirklich  wert,  daß  sie  bei  wiederkehrender  Gelegen- 
heit die  serbischen  Wanzen  fressen.  Eine  Justiz, 
die  den  Wauwau  spielt,  und  »Bitte  sehr,  bitte 
gleich!«  sagt,  wenn  eine  einflußreiche  Person  sich 
für  das  Opfer  verwendet,  eine  Kommission  von  Rich- 
tern, Psychiatern  und  sonstigen  Punktionären  von 
malerischem  Ansehen,  die  sich  im  Vorzimmer  der 
Prau  Schratt  versammelt  und  sofort  in  die  alte  Ton- 
art zurückfällt,  wenn  die  Gönnerin  aus  irgendeinem 
Grund  die  Hand  von  dem  Schützling  zieht  —  wie 
weit  halten  wir?  Wie  weit  wird  sich  dieses  Komplott 
von  altgedienter  Roheit  und  unverwüstlicher  Streberei 
noch  gegen  die  feineren  Lebensformen  vorwagen? 
Wenn  es  wahr  ist,  daß  ein  Gerichtspsychiater  der 
Prau,  der  er  die  Zärtlichkeit  ihres  Verlobten  als  eine 
Absicht  auf  ihr  Geld  plausibel  machen  wollte  — 
denn  um  die  Behütung  des  Geldes  handelt  es  sich 
in  dieser  Staatsaktion  — ,  daß  er  ihr  ins  Ge- 
sicht die  Worte  gesprochen  hat:  »Ich  weiß  nicht, 
gnädige  Prau,  ob  Sie  sich  besinnen  können,  daß  wir 
Männer  einen  gewissen  körperlichen  Widerwillen 
gegen  Gelähmte  haben!«,  wenn  wirklich  ein  Arzt  das 
gesagt  hat,  so  verdient  er,  daß  ein  gefühlvoller  Polizei- 
hund ihn  zerbeiße.  Wenn  es  aber  wahr  ist,  daß  man 
Prau  Odilon  dieHerausgabe  des  Schmuckes  verweigern 
wollte,  den  sie  in  ihrer  erfolgreichsten  Rolle  trug  und  mit 
dem  sie  sich  jetzt  für  das  Foyer  ihres  Theaters  porträ- 
tieren lassen  sollte,  dann  staunt  man  wirklich,  daß 
im  mechanischen  Betrieb  der  Borniertheit  noch  so 
viel  Spielraum  für  eine  erfinderische  Tücke  bleibt. 
Warum  so  viel  Aktenpapier  beschmiert  wird,  um 
einen  Skandal  zu  verlängern,  der  ohnedies  schon  zum 
jüngsten  Kuratelgericht  aufstinkt,  versteht  kein  Mensch. 
Wie  sich  diese  kranke  Frau  durch  Buropa  schleppt, 
um  von  den  Enttäuschungen  der  Medizin  in  die 
Verzweiflungen  einer  Wunderkur  zu  fallen,  ist  gräß- 
lich. Müssen  zu  der  spekulativen  Anwendung 
der  Unwissenschaft  und  des  Glaubens  noch  jene 
Segnungen  der  Jurisprudenz  treten,  die  auch  ein  ge- 


38 


sunder  Körper  nicht  verträgt?  In  der  Judengasse 
der  europäischen  Zivilisation  stehen,  zwischen  Pur- 
kersdorf  und  Lourdes,  vor  Sanatorien  und  Grotten, 
die  Händler  der  hygienischen  Hoffnung  und  fangen 
den  Kunden  in  ihren  Laden,  aus  dem  sie  ihn  ge- 
lähmt entlassen.  Muß  dieses  Straßenbild  durch 
Richter,  Kuratoren  und  Gutachter  ergänzt  wer- 
den ?  Ein  Gerichtspsychiater  fragt  mehr,  als 
hundert  Weise  beantworten  können,  und  wenn  eine 
Schwachsinnige  nicht  über  die  ungarische  Ehegesetz- 
gebung Bescheid  weiß,  so  bleibt  sie  dem  Kuratel- 
verhängnis ausgeliefert.  »Als  Schauspielerin  lebte 
ich  mein  Leben<,  ruft  sie,  »und  kümmerte  mich  nie 
um  Gesetze,  Beamte,  Psychiater  und  Kuratoren. 
Aber  auf  einmal  falle  ich  in  diese  Sauce.  Wie  ich 
gesund  war,  ließ  man  mich  nach  meiner  Fasson 
selig  werden,  und  jetzt,  in  meinen  kranken  Tagen, 
soll  ich  eine  Gelehrte  und  gescheiter  sein  als  die  Richter, 
Advokaten  und  Ärzte!«  Eine  Frau,  die  das  sagt, 
kann  es  schließlich  noch  mit  einem  Dutzend  von 
dieser  Sorte  aufnehmen.  Das  Drängen,  sich  endlich 
zum  Schwachsinn  zu  bekennen,  entstammt  der 
echt  österreichischen  Überzeugung,  daß  man  sich 
hierzulande  alles  »richten«  kann  und  daß  bei 
einigem  guten  Willen  eines  Mündels  die  Ge- 
richte vor  »Scherereien«  bewahrt  bleiben.  Wir  aber 
wünschen  den  Skandal  nicht  mehrl  Da  Frau 
Odilon  nicht  will,  verschone  man  sie.  Wem 
sie  ihr  Geld  schenken  mag,  ist  schließlich  ihre 
Sache.  Wer  immer  es  bekommt,  dem  hat  sie's  lieber 
gegeben  als  dem  unbekannten  Erben,  dem  es  der 
österreichische  Staat  reserviert.  Der  Vorwurf  der 
Gewinnsucht,  den  sie  gegen  ihren  Kurator  erhebt, 
mag  ungerecht  sein.  Aber  es  ist  mindestens  Zeit, 
daß  er  abtrete,  sobald  ein  anderer  Anwalt  erklärt, 
daß  er  die  Sache  gratis  macht.  Wenn  ein  Kurator 
seine  Schutzbefohlene  nicht  wegen  Ehrenbeleidigung 
klagen  kann,  so  muß  er  abtreten,  wenn  sie  ihn  be- 
leidigt. Er  darf  als  Kurator  das  Wort  nicht  hinnehmen : 


39  - 


»Meine  eigenen  Möbelstücke  läßt  man  verstauben, 
und  außer  meinem  Kurator  sind's  nur  noch  die  Motten 
und  Schaben,  die  aus  meiner  Kuratel  Vorteil  ziehen. c 
Und  ein  Kuratelgericht  hat  eine  Schwachsinnige 
laufen  zu  lassen,  der  das  treffende  Wort  gelang: 
»Wenn  eine  Künstlerin  nicht  mehr  spielen  kann, 
kommt  sie  mir  wie  ein  Fisch  vor,  der  aus  dem  Meer 
in  ein  Lavoir  Wasser  geworfen  wird.  Mein  Leben 
war  die  Bühne,  und  von  den  Brettern  sagt  man,  daß 
sie  die  Welt  bedeuten;  aber  schmeißen  Sie  einmal 
den  Pochmann  aus  seinem  Lavoir  ins  Meer,  passen 
Sie  auf,  wie  er  ertrinkt !<  Jedenfalls  aus  dem  Lavoir 
mit  ihm  !  Es  ist  genug  I  Schon  spüre  ich,  daß  sich  hinter 
dieser  zärtlichen  Sorge  für  ein  Kapital  etwas  von  der 
alten  Ranküne  gegen  eine  Lebensführung  verbirgt, 
die  dieses  Kapital  erwerben  half,  und  das  könnte 
der  Ranküne  übel  bekommen! 

Nur  dieses  Land,  das  seine  Skandale  auch  kalt 
genießen  kann  und  wenn  sie  zur  Rubrik  erstarren, 
erträgt  durch  Jahre  den  lächerlichen  Anblick,  wie 
Diafoirus,  Harpagon  und  Tartüffe  sich  zum  Wohltun 
vereinigen.  Frau  Oülon  empfindet  es  als  Plage ;  aber 
sie  kann  auf  den  Schutz  einer  Öffentlichkeit  nicht 
rechnen,  die  ihren  Lieblingen  kein  Privatleben  gönnt 
und  sie  wenigstens  dauernd  in  der  Gerichtssaalrubrik 
sehen  will,  wenn  sie  sie  schon  in  der  Theaterrubrik 
nicht  mehr  findet.  Diese  Teilnahme  begleitet  Frau 
Odilon  durch  die  unwürdige  Sensation  ihrer  Ent- 
hüllungen und  verläßt  sie  in  ihrem  ehrlichen  Kampf. 
Die  Verfasserin  der  Memoiren  hat  nichts  von  der 
Gerechtigkeit  und  alles  von  der  Heuchelei  zu  er- 
warten, und  die  sittliche  Rolle,  die  sie  sich  gegen- 
über ihrer  Vergangenheit  zurecht  legt,  mag  selbst 
ihren  Wächtern  wohlgefällig  sein.  Die  Bewußtheit, 
die  dem  Leben  und  der  Kunst  dieser  Frau  wie  ein 
Talisman  eignet,  hat  sie  aus  der  Wildnis  sinnlicher 
Gewalten  in  die  Region  zivilisierter  Lustbarkeit  ge- 
leitet; aber  sie  bewahrt  sie  auch  vor  dem  Verdacht 
des    Schwachsinns.    Möge     sie  sie  jetzt   der  Pflicht 


40 


inne  werden  lassen,  ihre  geistige  Freiheit  ohne  Haß 
gegen  jene  zu  erkämpfen,  die  an  ihrer  Entmündigung 
unschuldig  sind,  und  ohne  eine  sittliche  Verteidigung 
ihrer  Vergangenheit.  Das  schafft  eine  klare  Situation, 
man  stellt  sich  zwischen  eine  Frau  und  ein  Dutzend 
Büttel,  und  es  wäre  zu  schön,  wenn  dann  von  den 
Erlebnissen,  die  sie  selbst  verraten  hat,  ein  einziges 
auch  nur  ein  einziger  ihr  vorzuwerfen  wagte! 

Karl  Kraus. 


Beim  Tode  Matkowskys*). 

Nun  wird  es  dunkler  sein. 
Welch  eine  Flamme  fiel! 


War  unser  Tag  nur  Schein? 
Das  Wesen  war  sein  Spiel. 

Entband  sein  Lächeln  nicht 
mit  glücklicher  Gebärde 
verhaltnes  Sonnenlicht 
aus  dieser  harten  Erde? 

Entschüttelte  sein  Zorn 
die  alte  Riesenglut, 
die  treibend  unterm  Korn 
der  Menschenäcker  ruht? 

Trug  er  in  unser  Spiel 
nicht  jede  Welt  hinein  ? 

Welch  eine  Flamme    fiel  I 
Nun  wird  es  dunkler  sein. 


*)  Verse  von  Julius  Bab,  die  in  der  .Schaubühne'  stehen. 


—  41  - 

Die  Verteilung  der  Macht. 

Die  Quelle  aller  Menschenmacht  ist  nicht,  wie 
die  Speichellecker  der  Masse  behaupten,  das  Volk, 
sondern  der  Glaube  des  geistigen  Menschen  an  sich 
selbst.  Die  sogenannte  Macht  der  Menge  ist,  wenn 
sie  nicht  vom  Geist  gelenkt  wird,  lediglich  eine  zer- 
störende Elementargewalt.  Sie  hat  immer  einen  ge- 
meinen Notstand  zur  Voraussetzung,  durch  den  sie 
erst  geschaffen  und  in  Bewegung  gesetzt  wird.  Die 
Macht  der  Menge  ist  imstande,  das  Joch  unver- 
nünftiger Tyrannei  abzuschütteln  oder,  von  Mangel 
getrieben,  schlecht  behüteten  Besitz  an  sich  zu  reißen. 
Sie  ist  immer  nur  Auflehnung  oder  Beraubung  und 
weiß  die  erlangte  Freiheit  und  den  erlangten  Besitz 
weder  zu  nützen  noch  zu  halten.  Die  Menge  kann 
nicht  aus  und  für  sich  bestehen,  sie  sinkt  unweigerlich 
stets  wieder  in  die  Knechtschaft  zurück  und  für  ihre 
Macht  zeugen  immer  bloß  Spuren  der  Verwüstung. 
Die  materiellen  Kräfte  können  nur  unter  der  Führung 
des  Geistes  schöpferisch  wirken,  und  jener  Augen- 
blick, als  die  Erkenntnis  der  Möglichkeit  geistiger 
Macht  wie  ein  Blitz  die  Seele  des  Menschen  durch- 
strahlte und  entzündete,  war  der  höchstgemute  und 
folgenreichste  aller  irdischen  Augenblicke  und  die 
wahre  Geburtsstunde  der  Menschheit.  Der  Menschheit 
und  Gottes.  Denn  so  leuchtend  und  erhaben  erschien 
dem  Menschen  das  Attribut  geistiger  Machtwirksam- 
keit, daß  er  lange  nicht  wagte,  dies  Ungeheure  sich 
selbst  beizulegen.  Er  stellte  es  außer  sich,  hob  es  in 
Sternenferne  empor  und  wurde  selbst  ein  Beispiel 
der  Unterwerfung  unter  den  Geist.  Im  Namen  Gottes 
regierte  zuerst  der  Geist  des  Menschen  auf  Erden. 

Die  ursprünglichste  Form  geistiger  Herrscher- 
gewalt war  das  Priesterkönigtum.  Und  die  Gottesidee 
war  zugleich  der  feste  Anker  hohepriesterlicher 
Autorität  und  die  befreiende  Schwinge  des  geistigen 
Machtwillens.  Je  sicherer  der  Priester  seines  An- 
sehens und  seiner  Heiligkeit  beim  Volke  wurde,  desto 


—  42 


gewisser  wurde  er  auch  des  eigenen  Glaubens  an 
seinen  Beruf,  Hirt  zu  sein  über  die  Menschenherde. 
Dies  nämlich  ist  der  tiefste  Glaube,  der  erst  zum 
wahren  Priester  macht.  Das  innerste  Geheimnis  des 
Hohenpriestertums  ist  dies  eine:  daß  der  Glaube  an 
Gott  für  den  befreiten  Geist  nur  der  königliche 
Mantel  ist,  in  den  der  Glaube  an  seinen  Herrscher- 
beruf sich  hüllt.  Der  moderne  demokratische  Stumpf- 
sinn freilich  vermag  in  dieser  kühnsten  Konzeption 
geistigen  Herrscherwillens,  im  Priester  des  eso- 
terischen Wissens,  nur  den  »betrügerischen  Pfaffen« 
zu  sehen. 

Um  aber  solche  Macht  dauernd  und  unge- 
schmälert zu  erhalten,  ist  rastlose  Wachsamkeit  und 
stete  Willenserneuerung  der  geistigen  Gewalthaber 
vonnöten.  Jedwede  Erschlaffung  ihrer  innern  Energie 
bedeutet  unerbittlich  auch  den  Verfall  ihrer  Macht  durch 
das  Schwergewicht  der  dann  sogleich  und  automatisch 
wirksam  werdenden  materiellen  Kräfte.  Sobald  diese 
Kräfte  nicht  mehr  planvoll  bewegt  werden,  wenden 
sie  sich  planlos  gegen  ihre  Beweger.  Der  geistige 
Herrscher  wird  also  von  seinem  besonderen  Selbst- 
erhaltungstrieb auf  ein  hartes  und  asketisches  Leben 
hingewiesen,  asketisch  im  amoralischen,  spartanischen 
Sinne,  auf  ein  Leben  gesunder  Abhärtung,  stolzer 
Selbstzucht  und  geistiger  Freiheit.  Niemals  darf  der 
Herrschende  der  Knecht  von  Leidenschaften  und  Be- 
dürfnissen sein. 

Neben  dem  herrschenden  Priestertum  entstand, 
als  Vollstrecker  seines  Willens  und  Beschützer  des 
Volkes  vor  äußeren  Gefahren,  eine  Kaste,  die  durch 
den  nahen  Anblick  der  Macht  und  mehr  vielleicht 
noch  durch  ,'ie  impetuosen  Instinkte,  die  ihr  erblich 
innewohnten  und  durch  ihren  Beruf  noch  ver- 
schärft wurden,  allmählich  selbst  nach  der  Macht 
lüstern  wurde:  die  Kriegerkaste  oder  das  kriegeri- 
sche Königtum.  Die  Zunahme  kriegerischer  Unter- 
nehmungen   —    durch    Bedrohung  von    außen;  Auf- 


—  43  — 

lehnung  im  Innern,  Expansionsbedürfnis,  Bedürfnis 
nach  Sklaven  usw.  hervorgerufen  —  stärkte  diese 
sekundäre,  ursprünglich  nur  als  Exekutive  gedachte 
Machtquelle  auf  Kosten  der  priesterlichen  Macht. 
Und  obgleich  das  militärische  Königtum  noch  lange 
Zeit  hindurch  dem  Hohenpriestertum  untergeordnet 
blieb,  war  in  kriegerischen  Perioden  dennoch  die 
allmähliche  Verwandlung  des  theokratischen  Staates 
in  einen  militärisch-aristokratischen  unvermeidlich. 
Der  Kampf  um  die  Macht  zwischen  Priestertum  und 
Rittertum  bildet  den  Hauptinhalt  der  sogenannten 
Weltgeschichte  bis  in  die  neuere  Zeit.  Im  Mittelalter 
erscheinen  diese  beiden  Machtfaktoren  in  zwei  große, 
alles  absorbierende  Verbände  zusammengefaßt:  in  den 
weltlichen  Staat  und  in  die  Kirche.  In  Kaiser  und  Papst 
bekriegten  sich  der  homo  bellicosus  und  der  homo 
contemplativus.  Daß  es  auch  kontemplative  Kaiser 
und  kriegerische  Päpste  gab,  ändert  nichts  an  ihrer 
repräsentativen  Idee.  Die  rechte  Waffe  des  Papstes 
war  der  Glaube  an  die  Macht  des  Geistes,  die  rechte 
Waffe  des  Kaisers  war  das  Schwert.  Und  gelegent- 
liche Verbündungen  der  beiden  Parteien  oder  ein- 
zelner ihrer  Teile  und  gelegentliche  längere  Waffen- 
stillstände beeinträchtigen  kaum  das  grandiose  Bild 
eines  jahrhundertelangen,  mit  beispielloser  Zähigkeit 
geführten  Kampfes  um  die  Weltherrschaft.  Aber 
keiner  der  Gegner  vermochte  den  anderen  endgiltig 
niederzuringen.  Der  weltliche  Staat  konnte  die  wie 
eine  fressende  Flechte  in  ihm  eingenistete  Kirche 
nicht  aus  seinem  Leibe  reißen,  und  die  Kirche  konnte 
es  nicht  verhindern,  daß  weltliches  Gehaben  und 
weltliche  Üppigkeit  ihr  Wesen  verfälschten  und  ihr 
Ansehen  untergruben.  Und  während  diese  beiden 
Gewalten  sich  bekämpften  und  schwächten,  wuchs 
eine  dritte  Gewalt  und  wurde  stark  und  stärker. 

Das  weltliche  Königtum  hat  leibhaftere  und 
kostspieligere  Bedürfnisse  als  das  spartanisch-asketi- 
sche Priestertum.   Was  von  Rittersart  ist,  liebt  stän- 


44 


digen  Prunk  und  unbedenkliche  Verschwendung.  Der 
siegreiche  Krieger  dürstet  nach  Festen,  der  Kampf 
stachelt  die  Lebenslust  und  der  Krieg  verschlingt 
Güter  um  Güter.  Der  Wert  des  Besitzes  steigt  in 
dem  Maße,  als  Werte  verwüstet  und  vergeudet  werden. 
Und  je  grimmer  Staat  und  Kirche  sich  befehden,  desto 
mächtiger  macht  das  Kapital  sich  geltend.  Ein  dritter 
Stand,  der  homo  possidens,  wächst  heran  und  pocht 
als  werteschaffendes  und  wertehäufendes  Bürgertum 
auf  seinen  Anteil  an  der  Macht.  Die  langsame,  aber 
stetige  Entwicklung  der  kapitalistischen  Macht,  der 
Machtzuwachs  des  Bürgertums  auf  Kosten  der  Aristo- 
kratie bildet  die  Geschichte  der  Neuzeit.  Die  Macht 
der  Aristokratie  wurde  durch  die  Revolution  ge- 
brochen. Von  ihr  ab  war  der  Militärdienst  nicht  mehr 
Beruf  und  Privileg  des  Adels,  sondern  allgemeine 
Volkspflicht.  Die  Macht  des  Priestertums  wurde  durch 
die  Preisgabe  der  Wissenschaft  gebrochen.  Die  Wissen- 
schaft wurde  aus  einer  Magd  der  Kirche  ein  Spreng- 
stoff in  den  Händen  Geistloser.  Ein  Hilfslehrer  der 
Physik  ist  heute,  wie  Karl  Kraus  mit  furchtbarer 
Ironie  sagt,  jedem  Verkünder  Gottes  über.  Aber 
Wissenschaft  und  Wissen  sind  zweierlei,  und  der  Geist 
ist  wahrhaftig  nicht  bei  den  Hilfslehrern  der  Physik. 
Es  ist  für  ihn  überhaupt  kein  Raum  mehr  auf  Erden, 
und  was  heute  Geist  heißt,  sind  nur  zerschliffene  und 
zerriebene  Reste  jenes  Geistes,  der  einmal  auf  Erden 
herrschte.  Heute  herrscht  nicht  der  Geist  sondern  der 
Leib.  Oder  vielmehr:  heute  herrscht  nichts  und 
niemand,  sondern  alles  und  jedes  ist  beherrscht  vom 
Verlangen  nach  Besitz  und  leiblicher  Befriedigung. 
Der  Plutokratie  kann  nur  eine  Gewalt  sich  entgegen- 
stellen: die  geeinte  Masse.  Und  dieser  wird  es  ge- 
lingen, die  letzten  Unterschiede  von  Mensch  und 
Mensch  auszuwischen  und  jenen  Brei  darzustellen, 
der  infolge  seiner  Homogeneität  und  Dünnflüssig- 
keit so  gleichmäßig  über  die  ganze  Erdkugel  zer- 
rinnen wird,    daß    ein  ideales  physikalisches   Gleich- 


-  45 


gewicht    jede    psychische     Intervention     überflüssig 
macht  .  .  . 

Theokratie,  Aristokratie,  Plutokratie,  Demokratie. 
Herrschaft  des  Geistes,  Gewalt  der  Kraft,  Einfluß  des 
Besitzes,  Gewicht  der  Masse:  das  ist  der  sogenannte 
Gang  der  Weltgeschichte  oder  der  allmähliche  Sieg 
der  Menschenrechte  oder  der  Fortschritt  der  Ent- 
wicklung. Man  könnte  es  aber  auch  den  allmählichen 
Zerfall  der  Geistesherrschaft  oder  das  Ersticken  des 
Geistes  unter  der  Last  der  Pöbelgesinnung  nennen. 

Karl  Hauer. 


Österreich-Serbien. 

Die  .Vossische  Zeitung'  hat  in  ihrer  Abendausgabe  vom 
20.  März  unter  dem  Titel  >Frühere  und  jetzige  Ansichten  des 
Ministers  Milowanowitsch«  einen  Artikel  veröffentlicht,  der  in  viele, 
deutsche  und  österreichische  Blätter  überging  und  auf  telegraphi- 
schem Weg  sogar  in  ein  Wiener  Blatt  gelangte.  Er  lautet: 

Es  kommt  häufig  vor,  daß  Staatsmänner  ihre  Ansichten  wechseln, 
aber  es  ist  keine  alltägliche  Tatsache,  daß  ein  aktiver  Politiker  nach 
wenigen  Jahren  genau  das  Gegenteil  von  dem  sagt,  was  er  früher  als 
seine  innerste  Herzensmeinung  zum  besten  gab.  In  dieser  Lage  befindet 
sich  der  gegenwärtige  Minister  des  Äußeren  Milowanowitsch.  Man  kennt 
ihn  als  Verfechter  schneidiger,  gegen  Österreich-Ungarn  gerichteter  Noten, 
als  Politiker,  der  sich  in  seiner  Rede  vom  3.  Jänner  1900  auf  den  An- 
kläger der  stets  ländergierigen  Donaumonarchie  hinausspielte.  Wie  anders 
schrieb  der  Mann,  als  er  noch  in  Opposition  gegen  König  Milan  stand, 
an  dessen  Sturz  arbeitete  und  sich  bemühte,  Österreich-Ungarn  von  der 
Unterstützung  des  vorletzten  Obrenowitsch  abzubringen!  Im  April  1900 
veröffentlichte  er  in  der  in  Wien  erscheinenden,  von  Karl  Kraus  ge- 
leiteten .Fackel'  einen  Artikel,  in  dem  er  sich  zu  der  Ansicht  bekannte, 
die  erst  jüngst  wieder  von  dem  ehemaligen  serbischen  Ministerpräsidenten 
Wladan  Georgiewitsch  ausgesprochen  wurde,  daß  es  für  das  serbische 
Volk  am  besten  wäre,  wenn  es  unter  den  Fittichen  Österreich-Ungarns 
völlig  geeinigt  würde.  Die  Kernsätze  des  Aufsatzes  des  Herrn  Dr. 
Milowanowitsch  lauten:  (Folgt  das  Zitat.) 

Wie  sich  doch  die  Zeiten  ändern !  Ob  Milowanowitsch  sich  als 
Minister  König  Peters  noch  daran  erinnert,  was  ihm  im  Kampfe  gegen 
Milan  Obrenowitsch  als  Heil  seines  Vaterlandes  vorschwebte?  Darin 
müßte  er  eine  ganz  andere  Politik  befolgen  als  die  des  Kampfes  gegen 
die  österreichisch-ungarische  Monarchie. 


46  — 


Da  nun  die  ,Vossische  Zeitung'  den  Namen  des 
Autors  jenes  Artikels  erfahren  hat,  der  in  Nr.  38  der  , Fackel' 
(Mitte  April  1900)  unter  dem  Titel  »Goluchowski  und  Milan«  ver- 
öffentlicht und  damals  bloß  »von  einem  Freunde  Österreichs  am 
serbischen  Hofe«  gezeichnet  war,  so  liegt  kein  Grund  vor,  hier 
den  Namen  nicht  auszusprechen.  Wären  die  Gründe  für  die  Ver- 
schweigung nicht  längst  obsolet,  so  geschähe  es  auch  heute  nicht. 
Minister  Milowanowitsch  war  damals  unter  den  Verurteilten  des 
Attentatsprozesses  und  konnte  sich  bei  Lebzeiten  eines  Obreno- 
witsch  zur  Autorschaft  des  vortrefflichen  und  außerordentlich 
heftigen  Aufsatzes  nicht  bekennen.  Sie  war  aber  in  politischen 
Kreisen  bekannt.  Der  Aufsatz  sei  hier  bis  zu  der  Stelle  wieder- 
gegeben, da  die  Charakteristik  des  Königs  Milan  beginnt.  Die  Er- 
eignisse, die  seit  der  Zitierung  durch  die  ,Vossische  Zeitung'  ein- 
getreten sind,  lassen  den  »Widerspruch«,  den  schließlich  neun 
Jahre  erklären  würden,  vielleicht  doch  nicht  zu  auffälligerscheinen. 

Werter  Herr,  Ihre  Sendung  ist  glücklich  angelangt,  trotz  den 
Argusaugen  unserer  Zensur,  und  die  Lektüre  Ihrer  schönen  und  mutigen 
Artikel  über  die  serbischen  Angelegenheiten  war  sowohl  für  mich  als  auch 
für  all  die  Freunde,  denen  ich  die  wertvolle  ,Fackel'-Kollektion  anver- 
trauen konnte,  eine  Genugtuung,  ein  wahrhafter  Genuß.  -  Ich  persön- 
lich war  von  jeher  Austrophile  und  einer  der  überzeugtesten  Mitarbeiter 
des  verstorbenen  Pirotschanatz,  des  Gründers  der  serbischen  Fortschritts- 
partei. Nach  der  Ernüchterung  und  den  Enttäuschungen  des  Berliner 
Vertrages,  nach  der  Inauguration  der  neuen  Orientpolitik  der  öster- 
reichisch-ungarischen Monarchie,  die  jetzt  mit  offenem  Visier  als  Ruß- 
lands Rivale  in  den  Balkanstaalen  auftrat,  hatte  sich  jene  neue  politi- 
sche Partei,  die  in  ihren  Reihen  die  besten  Geister  Serbiens  vereinigte, 
entschlossen,  mit  allen  Traditionen  der  Nationalpolitik  zu  brechen  und 
das  intime  Einvernehmen,  die  vollkommene  Solidarität  der  Ansichten 
und  der  Interessen  Serbiens  mit  der  Habsburger-Monarchie  in  ihr  Pro- 
gramm aufzunehmen.  Die  Idee  Pirotschanatz',  für  die  er  seine  politi- 
schen Freunde  zu  gewinnen  wußte,  war,  daß  es  nach  den  Bestimmungen 
des  Berliner  Vertrages,  hinter  denen  immer  das  Gespenst  von  San 
Stefano  auftauchte,  ein  Anachronismus  sein  würde,  an  eine  Herstellung 
der  nationalen  Einheit  gegen  den  Willen  Österreich-Ungarns  oder  auch 
nur  trotz  ihm  zu  denken,  und  daß  wir  in  Zukunft  vielmehr  unsere 
ganze  Hoffnung  auf  die  Habsburger- Monarchie  setzen  und  begreifen 
müßten,  daß  unsere  nationalen  Träume  in  dieser  oder  jener  Form  nur 
unter  ihrer  Ägide  ihre  mehr  oder  minder  vollkommene  Verwirklichung 
finden  könnten.  Es  dürfte  Sie  vielleicht  überraschen,  wenn  ich  Ihnen 
,  daß  ich  trotz  alldem,  was  sich  im  Laufe  der  letzten  zwanzig 
Jahre  abgespielt  hat  und  selbst  trotz  dem  letzten  Fehler,  der,  ungeheuer- 


47 


licher  und  unsinniger  als  alle  anderen  der  österreichischen  Orientpolitik, 
uns  zu  dem  jüngsten  Bubenstück  des  Königs  Milan  mit  all  seinen  un- 
seligen und  verderblichen  Konsequenzen  verholten  hat  —  nicht  ganz 
daran  verzweifle,  daß  die  Zukunft  Pirotschanatz  Recht  geben  wird.  Und 
was  diese  Hoffnung  in  mir  wieder  aufleben  läßt,  das  sind  die  Gerüchte, 
die  bis  ins  Wartezimmer  des  Hofes  zu  Belgrad  dringen :  daß  die  Stellung 
des  Grafen  Goluchowski  erschüttert  sei,  und  daß  dieser  Minister,  dessen 
Unfähigkeit,  die  Geschicke  der  Monarchie  in  so  bewegten  Zeiten  zu 
leiten,  notorisch  ist,  binnen  kurzem  von  der  ungeheueren  Last  seiner 
Vergehen  erdrückt  werden  wird.  Gebe  es  Gott,  sowohl  im  Interesse 
Österreichs  als  zum  Heile  unseres  unglücklichen  Landes,  daß  diese  Ge- 
rüchte   sich    so    bald    als    möglich  bestätigen  .  .  . 


Der  farblose  Krieg. 

Der  Apparat  des  modernen  Krieges  ist  das  Werk 
der  seltensten  Vollkommenheit.  Die  Technik  des  Zer- 
störens  ist  der  des  Schaffens  weit  vorausgeeilt,  die 
Summe  von  Geist  und  Arbeit,  die  in  Organisation 
und  Ausrüstung  der  Wehrmacht  zum  Ausdruck 
kommt,  hat  kaum  ihresgleichen  im  Bereiche  der  Kultur. 
Besäße  die  Institution  keinen  praktischen  Wert,  als 
vollendetes  Produkt  menschlichen  Verstandes  allein 
müßte  man  ihr  Daseinsberechtigung  zusprechen.  Ge- 
rade diese  kunstvollste  und  befriedigendste  Schöpfung 
des  Geistes  findet  niemanden  bereit,  sie  objektiv  zu 
würdigen,  und  jedes  Urteil,  das  laut  wird,  ist  von 
irgend  einem  Zweckstandpunkt  aus  gesprochen.  Nur 
hier,  wo  Furcht  und  Argwohn  dem  Geiste  keine  Ruhe- 
pausen gönnten  und  wo  der  Haß  sein  Ansporn  war, 
konnte  ein  so  wundervolles  Kompositum  von  Mensen 
und  Technik  entstehen,  das  alle  natürlichen  Unzu- 
länglichkeiten der  Rasse  zielbewußt  zu  korrigieren 
scheint,  Die  Entwicklung  der  Kriegstechnik  gestattet 
unter  anderem  einen  interessanten  Schluß  auf  die  dem 
Menschen  eigene  Fähigkeit,  zu  hassen.  Jene  Geschöpfe, 
die  dem  Haß  am  fernsten  stehen,  sind  zweifellos  die- 


48 


selben,  bei  denen  sich  jeder  Keim  von  Wut  und 
Feindschaft  sofort  in  Klauenhiebe  und  Bisse  um- 
setzen darf.  Tiger  und  Schlangen  sind  gewiß  die 
gutartigsten  Wesen,  deren  Inneres  nichts  von  Feind- 
seligkeit weiß.  Den  Haß  kennt  vermutlich  die  Taube 
am  besten.  Kruppsche  Kanonen  und  Stahlmantel- 
geschosse konnten  nur  von  einer  hochentwickelten 
Taubenart  erfunden  werden. 

Bei  der  Verbesserung  aller  zum  Kampfe  dienenden 
Mittel  ist  heute  nur  eine  Stelle,  die  der  Fortschritt 
nicht  berührte.  Alles,  Waffen,  Kleidung,  Vorschriften, 
es  wurde  geändert,  ist  verstandesmäßiger,  zweck- 
dienlicher geworden.  Nur  eines  blieb.  Das  sind  die 
altehrwürdigen  Kriegs-  und  Schlachtgefühle,  die 
seelischen  Monturstücke,  die  nun  einmal  zur  Aus- 
rüstung des  Mannes  zu  gehören  scheinen.  Da 
muß  stets  eine  gewaltige  Ration  von  Begeisterung 
vorhanden  sein,  eine  ansehnliche  Menge  von  rühren- 
den Gefühlen  und  schönen  Überzeugungen,  die  alle 
als  unantastbar  gelten  wollen.  Der  moderne  Krieger 
schleppt  noch  immer  den  Glauben  im  Tornister 
mit,  für  die  bessere  Sache  zu  kämpfen,  Haus  und 
Herd,  Weib  und  Kind  zu  verteidigen,  für  Symbole 
aller  Art  zu  streiten.  Ja,  er  trägt  so  viele  Fahnen, 
daß  fast  die  Gefahr  vorhanden  ist,  er  könne  das  Tragen 
der  Waffen  vernachlässigen.  Und  allgemein  herrscht 
der  Aberglaube,  daß  dieser  eiserne  Vorrat  von  Ge- 
fühlen eben  mitgeführt  werden  muß,  um  die  Kampfes- 
tüchtigkeit zu  nähren.  Das  ist  ein  Irrtum.  Dringend 
würde  sich  schon  heute  eine  zeitgemäßere,  praktischere 
Kriegsausrüstung  für  die  Gemüter  empfehlen;  die 
noch  geltende  ist  für  Säbel  und  Lanze,  für  Bailiste 
und  Sturmbock  komponiert,  sie  paßt  nicht  mehr  zum 
Infanteriegewehr  und  zur  Feldkanone  M.  6.  Was  hat 
die  Begeisterung  im  modernen  Kriege  zu  suchen  ? 
Als  das  Kriegführen  noch  im  Dreinschlagen  bestand, 
da  hatte  sie  ihren  Zweck.  Begeisterte  Hiebe  waren 
stärkere  Hiebe,  die  Begeisterung  setzte  sich  in  Arbeit 


49  — 


um,  war  nach  Kilogrammetern  zu  messen.  Sie  be- 
deutete ein  Mehr  an  Kraft  für  die  Armee  und  zwar 
einer  Kraft,  deren  Herstellung  im  Vergleich  zu  der 
aus  Fleisch  und  Konserven  erheblich  billiger  war. 
Aber  heute?  Soll  der  Mann  mit  Begeisterung  zielen, 
mit  Begeisterung  den  Hahn  drücken,  begeistert 
jede  Deckung  benützen?  Das  wäre  durchaus 
verfehlt  und  würde  die  Treffresultate  bedeutend 
vermindern.  Und  das  eben  ist  die  Lehre  der  Zeit  für 
den  bürgerlichen  Beruf  und  für  jede  erfolgreiche 
Tätigkeit  gewesen:  Ruhe,  Sachlichkeit,  Pflichtgefühl. 
Kein  Rausch,  kein  Zuviel  an  Wollen  und  Versuchen 
verspricht  Erfolg.  Die  Zeiten  des  Affektes  sind  vor- 
über, und  wo  immer  ernste  Arbeit  geleistet  wird, 
wird  sie  nüchtern  geleistet.  Es  ist  ein  schwerer 
Fehler,  der  Kriegsarbeit  eine  Ausnahmsstellung  zu- 
zuweisen, auf  die  Errungenschaften  von  Nüchternheit 
und  Pflichtbewußtsein  bei  der  Erziehung  des  Soldaten 
zeitweise  zu  verzichten  und  den  traditionellen  Rauschzu- 
stand anzustreben.  Auch  der  Beruf  des  Krieges  erfordert 
heute  jenen  ganzen  Mann,  der  seine  Gedanken  auf 
ihn  und  nur  auf  ihn,  nicht  aber  auf  ideale  Dinge 
richtet,  mögen  diese  nun  an  sich  vorhanden  und  sehr 
wertvoll  sein  oder  nicht.  Das  bürgerliche  Leben  lehrt 
die  Erfüllung  von  Pflichten.  Die  großen  Leistungen 
unserer  Zeit  haben  ihren  Ursprung  fernab  von  allen 
Symbolen  und  aller  Begeisterung  in  der  Pflicht.  Es 
ist  unsinnig,  für  den  Krieg  ein  Gedankenreich  zu 
schaffen,  wo  die  Pflichten  an  zweiter  Stelle  und 
aller  mögliche,  ehrwürdige  Hausrat  an  erster  steht. 
In  jener  ist  der  heute  lebende  Mensch  zuhause, 
hier  hat  er  gelernt,  seinen  Mann  zu  stellen,  und  er 
wird  ihn  im  Kriege  stellen,  wenn  er  merkt,  daß  er 
nicht  plötzlich  in  fremden  Regionen  lebt,  sondern  es 
mit  nichts  anderem  zu  tun  hat,  als  mit  der  alten, 
wohlbekannten,  nüchternen  Pflicht.  Soll  gerade  die 
Armee  für  das  Zuviel  an  Nüchternheit  in  allen 
andern  Lebenskreisen  schadlos  halten?  Überall  sonst: 


-  50  — 


Zahlen,  hier  allein  Gefühl.  Mit  einem  Schlage  steht 
der  Mann  in  einer  andern  Zeit.  Die  poetische  Ein- 
kleidung und  der  ganze  Rausch,  sie  bergen  die 
große  Gefahr  eines  Mißverständnisses  in  sich,  das 
folgenschwer  werden  kann.  Sie  könnten  leicht  zu  der 
Annahme  verleiten,  es  genüge,  Paradegefühle  mit  sich 
zu  führen,  jene  andere  geistige  Montur  aber,  die  sonst 
im  Lebenskampf  getragen  wird,  eben  die  der  Pflicht, 
sei  nicht  erforderlich  für  den  Krieg.  Nichts  ist  be- 
denklicher, als  dem  Soldaten  die  Situation  als  fremd- 
artig und  ungewöhnlich  darzustellen,  den  Krieg  als 
einen  Ausnahmszustand,  der  neue  und  unerhörte  An- 
forderungen an  ihn  stellt.  Krieg  und  Frieden  dürften 
ihm  nicht  als  Gegensätze  erscheinen,  denn  sie  haben 
das  Gemeinsame  der  Arbeit  für  ihn.  Es  ist  höchst 
unnötig,  ihn  außer  mit  Musik  auch  noch  mit  Hoch- 
gefühl marschieren  zu  lassen,  weit  wichtiger  wäre 
es,  ihm  zu  Bewußtsein  zu  bringen,  daß  der  Kampf 
und  die  Selbstverteidigung  keine  Steuer  sind,  die 
ihm  eine  Regierung  auferlegte,  daß  diese  Steuer 
von  alters  her  auf  jedem  lebenden  Wesen  lastet 
und  die  Form,  in  der  sie  heute  entrichtet  werden 
kann  (Einschränkung  auf  die  körperlich  geeigneten 
Personen  und  bei  diesen  auf  eine  bestimmte  Anzahl 
von  Jahren)  bereits  eine  der  wertvollsten  Errungen- 
schaften des  Staates,  eine  der  wichtigsten  Entlastungen 
für  seine  Angehörigen  bedeutet. 

Man  bemüht  sich  in  der  Regel  einer  Armee 
Gutes  nachzusagen,  indem  man  ihre  Gefühle  lobt; 
man  vergißt  dabei  häufig  genug  ihren  eigentlichen 
Wert:  die  Arbeitsleistung,  die  von  ihr  repräsentiert 
wird.  Jahrzehntelang  hat  diese  Organisation  die 
Arbeitsleistung  von  Hunderttausenden  in  sich  auf- 
genommen ;  und  ein  Teil  von  diesen,  der  an  Intelligenz 
und  Arbeitswilligkeit  keiner  anderen  Gesellschaftsklasse 
nachsteht,  hat  die  Arbeitskraft  des  ganzen  Lebens 
in  ihr  niedergelegt.  Diese  ganze  Summe  einer  ernsten 
Arbeit    der  Jahrzehnte     ist     in     der    Armee     auf 


—  51  — 


gespeichert.  Wie  kann  es  dazu  kommen,  daß  man  das 
übersieht  und  plötzlich  anfängt,  Rauschzustände  gegen 
einander  abzuwägen  und  nicht  Arbeitswerte?  Daß 
man  zum  Beispiel  die  Möglichkeit  erörtert,  dieser  stillen 
Arbeit  könnte  durch  eine  andere,  die  sich  geräusch- 
voll und  fieberhaft  in  wenigen  Monaten  vollzieht, 
an  der  eine  weit  geringere  Zahl  von  Menschen  be- 
teiligt ist,  auch  nur  annähernd  die  Wage  gehalten 
werden  ? 

Eine  solche  kindliche  Verkennung  von  Arbeits- 
wert und  Arbeitskraft  wird  sich  diese  Zeit  nirgends 
sonst  zu  Schulden  kommen  lassen,  wo  ihr  die  Arbeit 
in  einem  minder  bunten  Gewände  entgegentritt.  Denn 
diese  Verkennung  schließt  ein  heute  beispielloses 
Unverständnis  für  Arbeit  und  ihren  Wert  in  sich. 
Das  eben  ist  die  Folge  des  Fehlers,  daß  man  den 
Krieg  und  alles  mit  ihm  Zusammenhängende  gar 
nicht  im  Lichte  der  Gegenwart  sieht,  sondern  in 
einem  mystischen  Dunkel  vergangener  Zeit,  und  daß 
man,  zögernd  auch  auf  ihn  die  Lehren  und  das 
Wissen  unserer  Zeit  zu  erstrecken,  mit  veralteten 
Maßstäben  an  seine  Beurteilung  herangeht.  Man  mag 
die  Vergangenheit  ungern  schwinden  sehen,  mag  die 
bisherige  Auffassung  des  Kriegswesens  als  letzten 
Rest  schönerer  Zeiten  bewundern,  in  denen  die  Er- 
eignisse mehr  Glanz  und  Farbe  hatten.  Wer  heut 
den  Erfolg  will,  wird  auch  die  Gesetze  dieses  Heute 
studieren  müssen.  Die  Bilderbogen  des  Krieges  haben 
sich  stark  verändert,  seitdem  in  Europa  die  letzten 
Schlachten  geschlagen  worden  sind,  es  wäre  an 
der  Zeit,  auch  an  den  psychologischen  Bilderbogen, 
die  noch  die  alte  Malerei  tragen,  die  notwendigen 
Korrekturen  vorzunehmen. 

Otto   Soyka. 


r,2 


Anakr  eontisch  es  Liedel. 

Immer  bleibst  du,  Wer  du  bist, 
Nimm  das  Leben,  wie  es  ist. 
Wo  du  Rosen  siehst  im  Garten, 
Brich  sie,  und  laß  sie  nicht  warten. 
Und  im  Sommervollmondschein 
Laß  dein  Mädchen  nicht  allein. 
Trinke  in  der  Freundeskette, 
Trink  mit  ihnen  um  die  Wette, 
Trinke  bis  ans  Morgenrot, 
Trinke  bis  an  deinen  Tod. 
Diese  Regeln  sind  nicht  zierlich, 
Aber  auch  nicht  unmanierlich. 
Jedenfalls,  und  das  bleibt  wahr, 
Wer  nicht  bechert,  bleibt  ein  Narr, 
Wer  nicht  küßt  Marie,  Susann«, 
Heute  Bertha,  morgen  Anne, 
Wer  die  Rosen  läßt  verwehn, 
Eh  er  ihren  Duft  genossen, 
Mag  getrost  zur  Hölle  gehn  — 
Denn  der  Himmel  bleibt  verschlossen 
Allen  denen,  die  auf  Erden 
Unbefriedigt  müssen  sterben. 
Immer  bleibst  du,  wer  du  bist, 
Nimm  das  Leben,  wie  es  ist. 

Detlev  von  Liliencron. 


58  — 


Jugendromane. 

Daß  dem  Esel  Disteln  besser  schmecken,  als 
Himmelsschlüssel  und  Märzenbecher  ist  von  seinem 
Standpunkt  durchaus  begreiflich.  Und  wer  sich  von 
eines  Grautieres  Geschmack  die  eigene  Nahrung 
ordinieren  läßt,  .  .  . 

Der  Yah-Ruf  ist  eine  Kritik,  aber  er  wird 
immer  auch  zur  Parole.  Denn  selbst  die  einsil- 
bigste Dummheit  muß  noch  nachgeahmt  werden. 
In  dem  Rezensentengeschrei  ist  letzthin  ein  ernst- 
liches Widerstreben  gegen  Primeln  und  Märzenbecher 
zum  Ausdruck  gekommen.  Das  graue  Elend  hat  sich 
gegen  die  Jugend  gewehrt,  die  Kritik  hat  sich  gegen 
die  Jugendromane  ausgesprochen.  Immer  wieder  müsse 
man  —  Rezensenten  sind  auch  »man«  —  diese 
Dichter  von  der  Jugend  erzählen  hören.  In  der  ganzen 
Literatur  halle  es  von  Kinderstubengeschrei,  Knaben- 
torheit und  Entwicklungsschmerzen  und  ein  besonders 
Tiefer  meinte,  die  Schuld  daran  liege  wohl  in  der 
mächtigen  Bewegung  unserer  Tage  »für  das  Kind«. 
Wie  viel  wichtiger  seien  doch  die  Schicksale  und 
Kämpfe  des  Mannes  und  was  dergleichen  Stoßseufzer 
nach  den  Disteln  mehr  waren. 

Nichtsdestoweniger  erdreistet  sich  die  Kunst,  nur 
die  Nahrung  zu  nehmen,  die  ihr  zusagt.  Das  ist  das 
naive  Problem  des  »Stoffes«  in  der  Dichtung.  Das 
»Was«  ist  eine  höchst  persönliche,  geheimnisvolle  und 
selbstverständliche  Sache  jedes  Einzelnen,  nur  das 
»Wie«  entscheidet  über  sein  Recht  und  Unrecht.  Die 
siegende  Notwendigkeit  macht  die  einzige  Moral  des 
künstlerischen  Zwanges  aus.  Es  gibt  keinen  guten 
oder  schlechten  Stoff  der  Poesie  an  sich.  Und  viel- 
leicht war  es  die  großartige  Instinktgebundenheit  der 
Kunst,  die  uns  zur  Einsicht  verhalf,  daß  es  auch 
keine    an   sich   gute    oder   schlechte   Handlung  gibt, 


54 


sondern  daß  jede  erst  durch  die  Persönlichkeit  ihr 
Wertzeichen  erhält.  Die  einzige  Unsittlichkeit  der 
Kunst  ist  das  vergebliche  Wollen  und  erst  beim  frag- 
würdigen Werke  gibt  es  eine  gerechte  Frage  nach 
dem  Stoffe. 

Freilich  enthält  das  Leben  selbst,  die  Quelle  und 
Nahrung  und  Bedingung  jedes  Gestaltens,  gewisse 
«ich  unmittelbar  bietende  Motive,  deren  Ergiebigkeit 
unbedingt  nach  der  schöpfenden  Hand  verlangt.  Ver- 
möge ihrer  Sinnfälligkeit  und  Gegebenheit  üben  sie 
den  stärksten  Reiz,  aus  ihrer  typischen  Masse 
das  Besondere,  aus  ihrer  Allgemein  Bedeutung  das 
Individuelle  zu  lösen. 

Zu  diesen  ökumenischen  Motiven  gehören  vor- 
züglich die  Probleme  der  Lebensalter  selbst,  die  ganz 
geheimnisvoll  mit  der  Natur  der  dichterischen  Formen 
verwachsen  sind.  Schon  in  der  äußerlichen  Unter- 
scheidung: Epos  und  Drama,  erkennt  man  Unter- 
schiede von  Lebensstufen  selbst.  Der  jedem  Alter 
innewohnende  Rythmus,  das  jeweils  veränderte  Maß 
von  Instinkt  und  Bewußtheit  bedingt  diese  Ausdrucks- 
forraen.  Die  dialektische  Gegensätzlichkeit  des  Lebens, 
die  dramatische  Nötigung  zum  Austrag  entspricht 
dem  Mannesalter.  Das  unendlich  wechselnde  Vorüber- 
ziehen von  Ereignissen  und  Figuren  an  den  wahllos 
aufnehmenden,  lustvoll  geduldigen  Sinnen  ist  der 
epischen  Natur  der  Jugend  gemäß. 

Wie  selbstverständlich,  daß  der  epische  Dichter 
vor  allem  die  epische  Zeit  erfaßt.  Die  Erlebnisse  der 
Jugend,  das  ungeheuere  Anwachsen  der  Tag  um 
Tag  sich  steigernden  Erscheinungswelt,  die  Macht 
und  Willkür  ihrer  Deutung,  das  Zusammendrängen 
einer  unermeßlichen  Erfahrungsreihe  in  einen  knapp- 
sten Zeitraum,  die  allmähliche  innere  Erleuchtung 
und  Ordnung  der  Bilder  zu  Wesenheiten,  Gliede- 
rungen, Notwendigkeiten,  dies  alles  ist  eine  so  groß- 
artige Gegebenheit  des  Schicksals,  daß  der  Dichter 
an  der  Betrachtung  der  Jugend  des  Weltgeschehens 


55  - 


selber  und  an  der  bewußten  Nachschöpfung  des  Jugend- 
erlebens des  Maßes  der  Realitäten  selbst  inne  wird. 
Es  ist  der  eigentliche  Zauber  des  Epischen: 
Alles  menschliche  Treiben  und  Getriebenwerden,  Tun 
und  Leiden  in  seinem  Neben-  und  Ineinander  wird 
freudig  umfaßt  und  alles  Dunkle,  Grauen,  Tod  und 
Chaos  erscheint  als  lustvolle  Buntheit.  Die  Konflikte, 
und  führten  sie  bis  zur  Vernichtung,  erneuen  sich  in 
unerschöpflicher  Wiedergeburt,  die  Pein  der  Erfah- 
rungen hat  nur  die  freudige  Folge  immer  wieder 
erweckter  Anschaulichkeit.  Im  Epos  triumphiert  alle 
Vielstimmigkeit  und  Unverwüstlichkeit  der  Existenz. 
Und  dies  alles  ist  Wesen  und  Vorrecht  der  Jugend. 
Ihr  allein  ist  die  wunderbare  Widerruflichkeit  und 
Wandelbarkeit  der  Anschauung  und  Wertung  gegönnt, 
nur  von  ihrer  Schultafel  wird  jedes  bittere  Erkennen 
hurtig  ausgelöscht,  während  der  nächste  Eindruck 
eine  neue  geduldige,  reine  Fläche  findet,  sich 
darauf  einzuzeichnen.  Das  treueste  Gedächtnis  ge- 
hört dem  flüchtigsten  Gemüte  an,  welches  aus 
jeder  Nahrung  Gewinn  zieht,  aus  Träumen  Wahr- 
heiten, Hoffnungen  aus  Enttäuschungen,  Erfüllung 
aus  Verzichten,  heiliges  Ungenügen  aus  allem 
Erreichten  schöpft.  Wenn  es  Sache  des  Dichters  ist, 
aus  einer  kleinen  Wirklichkeit  eine  große,  aus  einem 
Tropfen  von  Erlebnis  ein  Weltmeer  von  Inhalt,  aus 
einem  gelegentlichen  Eindruck  eine  Ewigkeit  von 
Stimmung,  aus  einem  vereinzelten  Samenkorn  von 
Geschehen  einen  Baumriesen  von  Schicksal  er- 
wachsen zulassen,  so  gehört  all  diese  geniale  Willkür 
der  Jugend  zu,  als  der  einzigen  Epoche,  wo  jeder 
Mensch,  Freiheit,  Unbewachtheit  und  Gesundheit 
vorausgesetzt,  sich  schöpferisch,  also  genial  bewährt. 
So  scheint  die  Jugend  allein  und  unbedingt  dem 
Dichter  inmitten  der  rationalen  Dürre,  auf  die  er- 
wachende Frage  nach  seinem  Wert  und  Sinn  die 
heitere  Bejahung  zurückzugeben,  deren  er  bedarf. 
In  ihr  findet   er  die   geheimnisvolle   Rechtfertigung 


56 


seiner  Punktion,  seine  menschheitliche  Billigung. 
Ist  dieses  Alter  der  willkürlichen  und  selbstherrlichen 
Wertungen  um,  so  beginnt  der  törichteste  Ernst  des 
Lebens,  der  das  gewaltige  Spiel  des  Schaffens  um 
seiner  selbst  willen  zu  nehmen  unfähig,  fordert  statt 
su  empfangen  und  mit  Nutzbarkeiten  und  Zwecken 
durch  das  Inkommensurable  pflügt. 

Kein  Lebensalter  hat  einen  so  weiten  Horizont 
wie  die  Jugend  und  keines  hat  wie  sie  die  Flügel, 
ihn  ganz  zu  durchmessen.  Dichtung  und  Dichter 
werden  in  ihr  eins  und  mit  der  Sehnsucht  nach  der 
Jugend  strebt  die  Seele  des  Schaffenden  gleichsam 
nach  ihrem  natürlichen  Leibe,  nach  ihrer  wesenhaften 
Erfüllung  zurück. 

Nun  ist  das  mit  dem  Namen  »Jahrhundert  des 
Kindesc  stigmatisierte  Zeitalter  freilich  auf  dem 
besten  Wege,  der  Jugend  ihre  Seele,  der  Dichtung 
ihr  Paradies  zu  verleiden.  Das  kindische  Treiben  der 
Erwachsenen  droht  nachgerade  mit  einer  Sentimen- 
talität, die  Rohheit  und  Dummheit  selbst  ist,  das 
Kindliche  auszurotten,  es  beleuchtet  elektrisch  die 
Märchendämmerung  der  Kinderstube  und  nötigt  der 
Phantasie  innerer  Gesichte  seine  eigenen  Brillen  auf, 
durch  welche  die  Jugend  künstlerische  Bilderbücher 
zu  würdigen  bekommt.  Dem  geheimnisvollen  Ringen 
der  Seele  mit  den  drohenden  Gewalten  der  Sprache 
und  der  Wirklichkeit  antwortet  das  idiotische  Lallen 
und  Nachäffen  der  herablassenden  Erwachsenheit, 
welche  den  Schritt  des  Frühlings  hygienisch  gängelt 
und  die  herrlichen  Schluchten  des  Erlebens  ebnet. 
Human  sollen  die  notwendigen  Schrecknisse  des 
Heranwachsens  vermieden,  aus  dem  Urwald  ein  ärm- 
licher Garten  zugerodet  und  eine  chinesische  Mauer 
vor  die  Unendlichkeit  der  Welt  gebaut  werden,  s« 
daß  all  die  wahrhaften  Ungeheuer,  denen  das  Kind 
allein  mit  dem  gerechten  Entsetzen  der  Intuition 
gegenübersteht,  zu  kümmerlichen  Popanzen  ein- 
dorren. Mit-  und  wehleidig  verdirbt  die  reife  Torheit 


—  5. 


das  erhabene  Grauen  des  Erlebens  zum  Ammen- 
märchen und  ist  drauf  und  dran,  aus  der  Geschichte 
des  menschlichen  Daseins  den  ersten  und  letzten 
Traum  zu  vertreiben.  Die  geistige  Unzucht  des 
Rationalismus  demokratisiert  jene  letzte  sagenhafte 
Welt  der  adeligen  Kämpfe,  Vorrechte  und  Freiheiten 
und  unterwirft  sie  der  eklen  Humanitätsfolter  der 
Bewußtheit,  Zweckmäßigkeit  und  Spitalssterilität. 
Welch  ein  Trost,  daß  es  noch  Bazillen  gibt!  Die 
Bürgschaften  der  Hygiene  breiten  das  graue  Leichen- 
tuch der  Sekurität  über  ein  kindisches  Jahrhundert. 
Sicherlich  ist  es  ein  Zeichen  dieser  Zeit,  daß 
die  Jugend  als  epischer  Urstoff  noch  einmal  mit 
solcher  Vielstimmigkeit  von  allen  Seiten  her  auf- 
klingt, wie  ein  letzter  Ruf,  eine  Frage  des  Schicksals. 
Noch  einmal  wenden  die  Dichter  ihren  Blick  nach 
dem  Morgenrot.  Indessen  weiden  die  Esel  im  Spitals- 
garten und  treten  die  letzten  Primeln  und  Märzen- 
becher als  unnütze  Gewächse  mit  Füßen. 

Otto  Stoessl. 


Tagebuch. 

Mir  träumte  neulich,  die  Völker  Europas 
wahrten  ihre  heiligsten  Güter  gegen  die  schwarz- 
gelbe  Gefahr. 

Sollte  man,  bangend  in  der  Schlachtordnung  des 
bürgerlichen  Lebens,  nicht  die  Gelegenheit  ergreifen 
und  in  den  Krieg  desertieren? 

Es  liegt  nahe,  für  ein  Vaterland  zu  sterben,  in 
welchem  man  nicht  leben  kann.  Aber  da  würde  ich 
als  Patriot  den  Selbstmord  einer  Niederlage  vorziehen. 


—  F>8  — 


Bildung  ist  das,  was  die  meisten  empfangen, 
viele  weitergeben  und  wenige  haben. 

* 

Es  kommt  nur  darauf  an,  sich  zu  konzentrieren, 
dann  findet  man  das  Beste.  Man  kann  aus  dem 
Kaffeesatz  weissagen,  ja  man  kann  sogar  im  Anblick 
einer  Frau  auf  Gedanken  kommen. 

* 

Über  Zeit  und  Raum  wird  so  geschrieben,  als 
ob  es  Dinge  wären,  die  im  praktischen  Leben  noch 
nie  eine  Anwendung  gefunden  haben. 

* 

Philosophie  ist  oft  nicht  mehr  als  der  Mut,  in 
einen  Irrgarten  einzutreten.  Wer  aber  dann  auch 
die  Eingangspforte  vergißt,  kann  leicht  in  den  Ruf 
eines  selbständigen  Denkers  kommen. 

• 

Wer  von  Berufswegen  über  die  Gründe  des 
Seins  nachdenkt,  muß  nicht  einmal  so  viel  zustande- 
bringen, um  seine  Füße  daran  zu  wärmen.  Aber 
beim  Schuhflicken  ist  schon  manch  einer  den  Gründen 
des  Seins  nahegekommen. 

• 

Moral  ist  die  Tendenz,  das  Bad  mit  dem  Kinde 
auszuschütten. 

* 

Daß  Hunger  und  Liebe  die  Wirtschaft  der  Welt 
besorgen,  will  sie  noch  immer  nicht  rückhaltlos  zu- 
geben. Denn  sie  läßt  wohl  die  Köchin  das  große  Wort 
führen,  aber  das  Freudenmädchen  nimmt  sie  bloß 
als  Aushilfsperson  ins  Haus. 

* 

Die  Kinder  würden  es  nicht  verstehen,  warum 
die  Erwachsenen  sich  gegen  die  Lust  wehren;  und 
die  Greise  verstehen  es  wieder  nicht. 


—  59  — 

Wenn  sich  die  Sünde  vorwagt,  wird  sie  von 
der  Polizei  verboten.  Wenn  sie  sich  verkriecht,  wird 
ihr  ein  Erlaubnisschein  erteilt. 

* 

Ich  kannte  einen  Don  Juan  der  Enthaltsamkeit, 
dessen  Leporello  nicht  einmal  imstande  war,  eine 
Liste  der  unnahbaren  Weiber  zusammenzustellen. 

* 

Moderne  Musik :  Im  weiten  Reich  der  Melodien- 
losigkeit  ist  es  schwer,  als  Plagiator  erkannt  zu  werden. 

*'3 

Wenn  ein  Denker  mit  der  Aufstellung  eines 
Ideals  beginnt,  dann  fühlt  sich  jeder  gern  getroffen. 
Ich  habe  den  Untermenschen  beschrieben  —  wer 
sollte  da  mitgehen? 

• 

Ein  Gedankenstrich  ist  zumeist  ein  Strich  durch 
den  Gedanken. 

Als  ich  las,  wie  ein  Nachahmer  das  Original 
pries,  war  es  mir,  als  ob  eine  Qualle  an  Land  ge- 
kommen wäre,  um  sich  über  den  Aufenthalt  im  Ozean 
günstig  zu  äußern. 

Er  hatte  so  eine  Art,  sich  in  den  Hintergrund 
zu  drängen,  daß  es  allgemein  Ärgernis  erregte. 

• 

Ich  stelle  mir  vor,  daß  ein  unvorsichtiger  Kon- 
si3torialrat  bei  der  Liebe  Pech  hat  und  sich  die 
Masern  zuzieht. 

Als  die  Wohnungsmieter  erfahren  hatten,  daß 
die  Hausbesitzerin  eine  Kupplerin  sei,  wollten  sie 
alle  kündigen.  Sie  blieben  aber  im  Hause,  als  jene 
ihnen  versicherte,  daß  sie  ihr  Geschäft  verändert 
habe  und  nur  mehr  Wucher  treibe. 


60 


Der  Skeptizismus  hat  sich  vom  »Que  sais-je?< 
bis  zum  »Weiß  ich?«  entwickelt. 

Ein  modernes  Kind  lacht  den  Vater  aus,  der 
ihm  von  Drachen  erzählt.  Es  ist  notwendig,  daß  das 
Gruseln  ein  obligater  Gegenstand  wird;  sonst  lernen 
sie  es  nie. 

Mit  Leuten,  die  das  Wort  »effektiv«  gebrauchen, 
verkehre  ich  grundsätzlich  nicht. 

Es  tut  mir  im  Herzen  weh,  wenn  ich  sehe,  daß 
der  Nutzen  des  Verrats  an  mir  geringer  ist  als  der 
Schaden  meiner  Verbindung. 

Wenn  einer  keine  Jungfrau  bekommen  hat,  ist 
er  ein  gefallener  Mann,  er  ist  fürs  ganze  Leben 
ruiniert  und  hat  mindestens  Anspruch  auf  Alimente. 

Schein  hat  mehr  Buchstaben  als  Sein. 

Frage  deinen  Nächsten  nur  über  Dinge,  die  du 
selbst  besser  weißt.  Dann  könnte  sein  Rat  wertvoll  sein. 

Ein  Plagiator  sollte   den  Autor  hundertmal  ab- 
schreiben müssen. 
• 

Allerorten  entflieht  man  dem  Druck  des 
Philisteriums.  Ich  kannte  eine,  die  heimlich  vorn 
Theater  durchgegangen  ist,  um  nachhause  zu  kommen. 

Die  Zerstörung  Sodoms  war  ein  Exempel.  Man 
wird  durch  alle  Zeiten  vor  einem  Erdbeben  Sünden 
begehen. 

Der  Teufel  ist  ein  Optimist,  wenn  er  glaubt, 
daß  er  die  Menschen  schlechter  machen  kann. 


61 


Es  muß  einmal  in  der  Welt  eine  unbefleckte 
Empfängnis  der  Wollust  gegeben  haben! 

Wer  weiß,  was  bei  uns  zuhause  vorgeht,  wenn 
niemand  im  Zimmer  ist?  Man  kann  freilich  nicht 
wissen,  ob  es  Geister  gibt.  Denn  sie  sind  eben  in 
dem  Augenblick,  wo  das  Wissen  beginnt,  auch  schon 
vertrieben. 

Die  Sprache  sei  die  Wünschelrute,  die  gedankliche 
Quellen  findet. 

* 

Einer,  der  immer  Aphorismen  schreiben  könnte 
und  sich  in  Aufsätzen  zersplittern  muß ! 

# 

Der  Ekel  findet  mich  unerträglich.  Aber  wir 
werden  erst  auseinandergehen,  wenn  auch  ich  von 
ihm  genug  bekomme. 

Karl  Kraus. 


Offener  Brief  an  den  Herausgeber  der  »Fackel*. 

Ich  habe  schon  immer  das  Bedürfnis  gefühlt, 
die  tiefe  Dankbarkeit,  die  mich  gegen  die  , Fackel' 
beseelt,  auch  einmal  in  der  Öffentlichkeit  auszusprechen. 
Und  ich  hätte  es  schon  längst  getan,  wenn  nicht 
Krankheit  und  widrige  Umstände  denen  zu  Hilfe 
gekommen  wären,  die  sich  heute  dazu  beglück- 
wünschen, Sie  und  Ihr  Werk  nunmehr  zehn  Jahre 
lang  treu  und  unverbrüchlich  totgeschwiegen  zu  haben. 

Freilich  mag  mancher  der  Gratulanten  seufzen : 
»Zehn  Jahre  totgeschwiegen  und  noch  nicht  tot!«... 


62 


Und  es  ertönt  ein  gellendes  Schweigen  an  der  voll- 
besetzten Tafel  der  Reporter. 

Ich  aber,  Herr  Kraus,  bitte  Sie  um  Entschuldi- 
gung, daß  ich,  wo  jene  schon  zehn  Jahre  schweigen, 
heute  zum  erstenmal  über  Ihre  Sache  rede. 

Hier  in  der  ,Packel'  sind  wir  ja  gottlob  unter 
uns.  Und  manchen,  der  im  Wolfspelz  hier  hereinkam, 
haben  Sie,  da  er  sich  als  Schaf  entpuppte,  wieder 
hinausgetrieben.  Die  Luft  ist  also  rein.  Wir  sind  zu 
Hause,  und  ich  kann  meine  Gefühle  äußern,  ohne 
fürchten  zu  müssen,  daß  ungebetene  Gäste  mich 
hören.  Und  eine  Fackel  erleuchtet  wie  immer  das 
Transparent  über  unserer  Türe  —  in  deutlichen 
Lettern  erglänzt  die  liebe  Inschrift:  Odi  profanum 
vulgus  et  arceo  .  .  . 

Wie  ich  dieses  Haus  liebe!  Wie  von  Herzen  ich 
es  liebe!  Erinnern  Sie  sich  noch,  wertgeschätzter 
Freund,  wie  ich  hier  zum  erstenmale  Zuflucht  fand?  — 
Es  ist  eine  schwere  Erinnerung  .  .  . 

Damals  war  es,  als  das  deutsche  Volk  vor 
Freude  grunzte,  weil  es  mit  seinem  Rüssel  an  gräf- 
lichen Ehebetten  schnuppern  durfte.  Und  diese,  schon 
seit  ihrer  Gründung  pensionsberechtigte  Nation  von 
Militäranwärtern,  Assistenten  und  anderen  Dienstboten 
erschauerte  in  Triumphgefühlen,  als  endlich  ein 
wirklicher  Fürst  ins  Gefängnis  geschleift  wurde. 
Wenn  er  auch  schon  halbtot  war  —  es  war  ein  Fürst, 
ein  Fürst.  Und  der  demokratische  Pöbel  forderte,  daß 
das  Gesetz  alle  gleich  gemein  behandle  .  . .  Dank- 
bar schlugen  alle  Herzen  dem  Harden  entgegen. 

Nie  habe  ich  deutlicher  empfunden,  daß  mir 
Gott  wohl  will  und  daß  ich  von  ihm  besonders 
begnadet  bin.  Denn  gerade  zu  dieser  Zeit,  als  ich 
aufschluchzte  vor  Empörung  über  einen  solchen  An- 
schlag gegen  die  Freiheit  des  Privatlebens  und  er- 
glühte vor  Scham,  einer  Nation  anzugehören,  die  ihn 
guthieß  —  gerade  damals  fand  ich  die  ,Fackel*. 

Das  bedeutete  wahrlich  ein  tiefes  Erlebnis.  Und 


—  63  — 


seitdem  weiß  ich  Harden  und  dem  deutschen  Volk 
Dank  für  die  Schande. 

Denn  ein  ungeheurer  Ekel  und  Zorn  waren  die 
stoffliche  Vorbedingung  zu  einer  so  machtvollen 
Polemik  wie  die  es  ist,  die  Sie,  Karl  Kraus,  gegen 
Harden  geführt  haben.  In  dieser  Polemik  wurde 
die  Vornehmheit  Ihrer  Gesinnung  nur  von  der  edlen 
Kunst  Ihrer  Sprache  übertroffen.  In  der  Tat  ist  meine 
Meinung,  daß  die  deutsche  Literatur  keine  polemische 
Leistung  aufzuweisen  hat,  die  an  künstlerischem 
Werte  der  Ihrigen  auch  nur  gleichkäme.  Selbst 
Schopenhauer  hat,  um  von  den  welthistorischen 
Sprachkünstlern  zu  reden,  nicht  besser  polemisiert. 
Das  Entzücken,  mit  dem  ich  damals  die  ,Fackel'  las, 
war  noch  größer  als  meine  Wut  über  die  Kultur- 
schmach der  Deutschen. 

Jemand,  den  Sie  auch  kennen  und  der  Ihnen 
während  Ihrer  Harden-Polemik  auf  eine  noble  Weise 
Reverenz  erwiesen  hat,  sagte  mit  Recht:  wenn  Sie  der- 
gleichen in  Frankreich  geschrieben  hätten,  wäre  dieses 
Land  der  geborenen  Sprachkenner  in  Ekstase  geraten. 

In  dieser  Polemik  offenbarte  sich  mir  auch 
deutlich  Ihre  einzigartige  Stellung  in  der  Literatur. 
Die  Literatur  hat  keinen  Platz  für  das,  was  für  den 
Tag  geschrieben  wird.  Sie  haben  über  den  Tag,  gegen  den 
Tag  geschrieben ,  niemals  für  den  Tag.  Die  Aktualität  war 
Ihnen  nie  Selbstzweck ;  Sie  haben  über  die  Aktualität 
geschrieben,  weil  sie  Ihren  moralischen  und  künstleri- 
schen Ewigkeitswerten  auf  eine  Sie  empörende  Weise 
widersprach.  Was  man  für  den  Tag  schreibt,  vergeht; 
auch  wenn  man  dabei  —  was  sehr  selten  ist  —  den  Stoff 
in  eine  gute  Form  meistert.  Was  man  gegen  den  Tag 
schreibt,  besteht.  Ihre  Harden-Polemik,  Ihre  Schrift 
über  den  Veith-Prozeß  und  soviel  anderes  gehören 
zur  Literatur  und  haben  mit  dem  Journalismus  nichts 
gemeinsam.  Dies  für  alle,  die  Sie  etwa  verwechseln 
und  Ihren  Feldzug  gegen  den  Journalismus  entwerten 
möchten. 


64  — 


Und  nachdem  ich  Ihrem  Kampf  für  die  Sexual- 
freiheit während  der  Prozesse  des  Harden  mit  so 
inniger  Freude  beigewohnt  hatte,  habe  ich  allen  Ihren 
früheren  Kämpfen  nachgespürt. 

Ich  habe  alle  Jahrgänge  der  , Fackel'  in  einem 
Zuge  und  mit  steigender  Dankbarkeit  durchgelesen. 
Man  kann  nicht  sagen,  daß  mich  der  aktuelle  Anlaß 
zu  Ihren  Polemiken  dabei  gefesselt  hätte;  denn  der 
lag  weit  zurück  und  oft  kannte  ich  ihn  gar  nicht. 
Aber  was  Sie  sagten,  interessierte  mich;  denn  ich 
bewunderte,  wie  Sie  es  sagten. 

Freilich,  lieber  Freund,  müssen  Sie  mir  erlauben, 
Ihnen  nicht  nur  meine  ästhetische  Freude  auszu- 
sprechen, sondern  auch  meine  Sympathie  im  Sach- 
lichen. Wenigstens  in  einer  Beziehung  müssen  Sie 
mir  dies  erlauben!  Ich  liebe  die  Frauen.  Und  von 
gestern  auf  heut  hat  mir  geträumt,  daß  mich  alle 
die  Frauen,  denen  während  der  letzten  zehn  Jahre 
die  Schändlichkeit  einer  Sexualjustiz  in  Gericht  und 
Gesellschaft  die  Ehre  abgesprochen  hat,  mich  bitten, 
Sie  in  ihrem  Namen  heute  besonders  herzlich  zu 
grüßen.  Denn  Sie  allein  haben  die  Ehre  dieser  armen 
Opfer  verteidigt.  Es  sind  Frauen  aus  Gefängnissen 
darunter.  Seien  Sie,  Herr  Kraus,  ihnen  gegenüber 
nicht  ein  unerbittlicher  Artist,  dem  die  traurigen 
Erlebnisse  dieser  Frauen  nur  Stoff  zur  künstleri- 
schen Gestaltung  waren  1  Seien  Sie  menschlich  und 
empfangen  Sie  ihre  Grüße  huldvoll!  Und  nehmen 
Sie  auch  meine  und  die  Glückwünsche  einer  Freundin, 
die  ihnen  sagen  läßt,  daß  Sie  der  ritterlichste  Schrift- 
steller sind,    den   sie  jemals   gelesen  hat. 

Ihr  dankbarster  Leser 

Karl  Borromaeus   Heinrich. 


München,  Ende  März  1909. 


Herausgeber  und  verantwortlicher  Redaktetir :  Karl  Kraus. 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3. 


Doppel-Nlämmer   (Preis  60  Heller) 

Nr.  279 — 280.        13.  Mai  1909  XI.  Jahr 


ie 


Herausgeber: 

KARL  KRAUS 


INHALT: 

Tagebuch  (Zehn  Jahre.  —  Geselligkeit.  —«Bildung.  — 
Stil.  —  Variete.  —  Eitelkeit).  Von  Karl  Kraus.  - 
Nachts.  Von  Anton  Tschechow.  —  Sprüche  und 
Widersprüche.  —  Reformen.  Von  Karl  Kraus.  — 
Glossen.   Von   Karl    Kraus.    —    Zur  Dekade    der 

,Fackel'. 


Erscheint  in    zwangloser   Folge. 


ichdruck  und  ,. 'näßiges  Verleihen  verboten  ;  gerichtliche 

Verfolgung  vorbehalten. 


WIEN. 

riap  ,DIE   FACKEL'  III.  Hintere  ZoMstmtsstraSo  3. 


KARL  KRAVS 

SPRVECHE 

VND  WIDER- 

SPRVECHE 


Verlag  ALBERT  LÄNGEN  München 


DURCH  ALLE  BÜCHHANDLUNGEN  ODER  DIREKT  VOM  VERLAG  ZU  BEZI-     N 

nnncrmroT   M  •)  Kn     IM   IFINFW   T.FR     M   d  ^0      IN    HAI.RFRANZ  GEB.  M    7.50 


Die  Fackel 

Nr.  279-80  13.  MAI  1909  XI.  JAHR 


Tagebuch. 
Von  Karl  Kraus. 

Als  man  dieser  schnarchenden  Gegenwart  zurief, 
daß  einer  zehn  Jahre  nicht  geschlafen  habe,  legte 
sie  sich  auf's  andere  Ohr. 

Ich  strebe  inbrünstig  nach  jener  seelischen 
Kondition,  in  der  ich,  frei  von  aller  Verantwortung, 
die  Dummheit  der  Welt  als  Schicksal  empfinden  werde. 

Ich  hoffe,  daß  der  geistige  Nährstoff  der  Ver- 
zweiflung noch  für  ein  elftes  Jahr  reicht. 

Ich  glaube  nicht,  daß  irgendwann  in  der  Welt 
eine  Fülle  schändlicher  Taten  so  viel  sittliche  Ent- 
rüstung ausgelöst  hat  wie  in  der  Stadt,  in  der  icri 
lebe,  die  Unverkäuflichkeit  meines  Denkens.  Ich  sah, 
wie  Menschen,  denen  ich  nie  etwas  zuleide  getan 
hatte,  bei  meinem  Anblick  zerplatzten  und  sich  in 
die  Atome  der  Weltbanalität  auflösten.  Das  Weib 
eines  Redakteurs  bestieg  auf  einem  Bahnhof  ein 
Separatcoupe*  erster  Klasse,  sah  mich  und  starb  mit 
einem  Fluch  auf  der  Lippe.  Und  dies,  weil  ich  keine 
Freikarten  auf  Bahnen  nehme,  was  doch  wahrscheinlich 
mein  geringstes  Verdienst  ist.  Leute,  denen  das  Blut 
träger  fließt,  spucken  aus,  wenn  sie  meiner  ansichtig 
werden,  und  gehen  ihrer  Wege.  Sie  alle  sind  Märtyrer; 
sie  stehen  für  die  allgemeine  Sache,  sie  wissen,  daß 
mein  Angriff  nicht  ihrer  Person  gilt,  sondern  ihrer 
aller  Gesamtheit.  Es  ist  der  erste  Fall,  daß  diese  lahme 


—   2   — 


Gesellschaft,  die  ihre  Knochensplitter  in  der  Binde 
trägt,  sich  zu  einer  Geste  aufrafft.  Seit  Jahrhunderten 
wurde  nicht  gespien,  wenn  ein  Schriftsteller  vorbei- 
ging. Die  Humanität  läuft  in  Messina  zusammen,  die 
Dummheit  fühlt  sich  vor  der  , Fackel'  solidarisch.  Es 
gibt  keine  Klassengegensätze,  der  nationale  Hader 
schweigt,  und  der  Verein  zur  Abwehr  des  Anti- 
semitismus kann  beim  Sprechen  die  Hände  in  den 
Schoß  legen.  Ich  sitze  im  Wirtshaus:  rechts  ein 
Stammtisch  von  schlecht  angezogenen  Leuten,  die  in 
der  Nase  bohren,  also  offenbar  deutschvolkliche  Ab- 
geordnete sind;  links  wilde  Männer  mit  schwarzen 
Umhängebärten,  die  so  aussehen,  als  ob  der  Glaube 
an  den  Ritualmord  doch  eine  Spur  von  Berechtigung 
hätte,  die  aber  bestimmt  bloß  Sozialpolitiker  sind 
und  nur  nach  Schächterart  das  Messer  durch  den 
Mund  ziehen.  Zwei  Welten,  zwischen  denen  es  scheinbar 
keine  Verständigung  gibt.  Wotan  undJehovah  werfen 
einander  feindliche  Blicke  zu,  —  aber  die  Strahlen  ihres 
Hasses  treffen  sich  in  meiner  Wenigkeit.  Daß  eine 
österreichische  Regierung  noch  nicht  auf  die  Idee 
verfallen  ist,  mich  als  ihr  Programm  zu  reklamieren, 
läßt  sich  nur  aus  der  prinzipiellen  Ratlosigkeit  der 
österreichischen  Regierungen  erklären. 


Geselligkeit.  Was  mich  zum  Fluch  der  Gesell- 
schaft macht,  an  deren  Rain  ich  lebe,  ist  die  Plötzlichkeit, 
mit  der  sich  Renommeen,  Charaktere,  Gehirne  vor  mir 
enthüllen, ohnedaß  ich  sie  entlarven  muß.  Jahrelang  trägt 
einer  an  seiner  Bedeutung,  bis  ich  ihn  in  einem  un- 
vorhergesehenen Augenblick  entlaste.  Ich  lasse  mich 
täuschen,  solange  ich  will.  Menschen  zu  »durch- 
schauenc  ist  nicht  meine  Sache,  und  ich  stelle  mich 
gar  nicht  darauf  ein.  Aber  eines  Tages  greift  sich  ein 
Schwachkopf  an  die  Stirn,  weiß,  wer  er  ist,  und  haßt 
mich.  Die  Schwäche  flieht  vor  mir  und  sagt,  ich  sei 
unbeständig.     Ich  lasse  die  Gemütlichkeit  gewähren, 


—  3    — 


weil  sie  mir  nicht  schaden  kann;  einmal,  wenns  um 
ein  ja  oder  nein  geht,  wird  sie  von  selbst  kaput. 
Ich  brauche  nur  irgendwann  Recht  zu  haben,  etwas 
zu  tun,  was  nach  Charakter  riecht,  oder  mich  sonst- 
wie verdächtig  zu  machen,  und  automatisch  offen- 
bart sich  die  Gesinnung.  Wenn  es  wahr  ist, 
daß  schlechte  Beispiele  gute  Sitten  verderben, 
so  gilt  das  in  noch  viel  höherem  Maße  von  den 
guten  Beispielen.  Jeder,  der  die  Kraft  hat,  Beispiel 
zu  sein,  bringt  seine  Umgebung  aus  der  Form, 
und  die  guten  Sitten,  die  den  Lebensinhalt  der 
schlechten  Gesellschaft  bilden,  sind  immer  in  Gefahr, 
verdorben  zu  werden.  Die  Ledernheit  läßt  sich  mein 
Temperament  gefallen,  solange  es  in  akademischen 
Grenzen  bleibt;  bewähre  ich  es  aber  an  einer  Tat, 
so  wird  sie  scheu  und  geht  mir  durch.  Ich  halte  es 
viel  länger  mit  der  Langweile  aus,  als  sie  mit  mir. 
Man  sagt,  ich  sei  unduldsam.  Das  Gegenteil  ist  der 
Fall.  Ich  kann  mit  den  ödesten  Leuten  verkehren, 
ohne  daß  ich  es  spüre.  Ich  bin  so  sehr  in  jedem 
Augenblick  mit  mir  selbst  beschäftigt,  daß  mir  kein 
Gespräch  etwas  anhaben  kann.  Die  Geselligkeit  ist 
für  die  meisten  ein  Vollbad,  in  dem  sie  mit  dem  Kopf 
untertauchen ;  mir  benetzt  sie  kaum  den  Fuß.  Keine 
Anekdote,  keine  Reiseerinnerung,  keine  Gabe  aus  dem 
Schatzkästlein  des  Wissens,  kurz,  was  die  Leute  so 
als  den  Inbegriff  der  Unterhaltung  verstehen,  ver- 
möchte mich  in  meiner  inneren  Tätigkeit  aufzuhalten. 
Schöpferische  Kraft  hat  der  Impotenz  noch  allezeit 
mehr  Unbehagen  bereitet,  als  diese  ihr.  Daraus 
erklärt  sich,  daß  meine  Gesellschaft  so  vielen  Leuten 
unerträglich  wird,  und  daß  sie  nur  aus  einer  übel 
angebrachten  Höflichkeit  an  meiner  Seite  ausharren. 
Es  wäre  mir  ein  leichtes,  solchen,  die  immerfort  an- 
geregt werden  müssen,  um  sich'  zu  unterhalten,  ent- 
gegenzukommen. So  ungebildet  ich  bin  und  so  wahr 
ich  von  Astronomie,  Kontrapunkt  und  Buddhismus 
weniger      verstehe     als      ein     neugeborenes     Kind, 


—    4 


so  wäre  ich  doch  wohl  imstande,  durch  geschickt 
eingeworfene  Fragen  ein  Interesse  zu  heucheln  und 
eine  oberflächliche  Kennerschaft  zu  bewähren,  die 
den  Polyhistor  mehr  freut  als  ein  Fachwissen,  das 
ihn  beschämen  könnte.  Aber  ich,  der  in  seinem 
ganzen  Leben  Bedürfnissen,  die  er  nicht  als  geist- 
fördernd erkennt,  noch  keinen  Schritt  entgegengetan 
hat,  erweise  mich  in  solchen  Situationen  als  voll- 
endeten Flegel.  Und  nicht  etwa  als  Flegel,  der  gähnt 
—  das  wäre  menschlich  — ,  nein,  als  Flegel,  der 
denkt!  Dabei  verschmähe  ich  es,  von  meinen  eigenen 
Gaben  dem  Darbenden  mitzuteilen,  der  vor  seinen 
Lesefrüchten  Tantalusqualen  leidet  und  in  den 
egyptischen  Kornkammern  des  Wissens  verhungern 
muß.  Hartherzig  bis  zur  Versteinerung,  mache  ich 
sogar  schlechtere  Witze  als  mir  einfallen,  und  ver- 
rate nichts  von  dem,  was  ich  mir  so  zwischen  zwei 
Kaffeeschlucken  in  mein  Notizbuch  schreibe.  Ein- 
mal, in  einem  unbewachten  Moment,  wenn  mir  gerade 
nichts  einfallen  wird  und  Gefahr  besteht,  daß  die 
Geselligkeit  in   mein  Gehirn  dringt,  werde  ich  mich 

erschießen. 

* 

Die  geistige  Anregung  des  Kindes  besorgt  die 
Amme  mit  ihrem  >guck,guck  —  da,  da«.  Erwachsenen 
zeigt  man  etwas  aus  Kunst  und  Wissenschaft,  damit 
sie  nicht  schreien.  Kinder  singt  man  mit  »Weißt  du, 
wieviel  Sterne  stehen«  in  den  Schlaf.  Erwachsene 
beruhigen  sich  erst,  wenn  sie  auch  die  Namen  wissen 
und  die  Entfernung  der  Kassiopeia  von  der  Erde, 
sowie  daß  diese  nach  der  Gemahlin  des  äthiopischen 
Königs  Kepheus  und  der  Mutter  der  Andromeda  be- 
nannt ist. 

* 

Es  gehört  zum  guten  Ton,  über  eine  schlechte 
Tat  nicht  zu  sprechen.  Wenn  ein  Lump  dir  die  Ab- 
sicht anvertraut,  deinen  Freund  zu  verraten,  so  ist 
Diskretion  Ehrensache. 


—    5    — 

Ein  Zündhölzchen,  das  ich  angezündet  hatte, 
gab  einen  großen  Schein.  Aber  dann  trat  ichs  aus, 
>und  wir  saßen  im  Dunkeln«. 

Es  gibt  Menschen,  die  es  zeitlebens  einem  Bettler 
nachtragen,  daß  sie  ihm  nichts  gegeben  haben. 

Man  sollte  die  Wohltätigkeit  aus  Weltanschauung 
bekämpfen,  nicht  aus  Geiz. 

• 

Die  Schwäche,  die  den  ohnmächtigen  Drang 
zur  Schlechtigkeit  hat,  traut  mir  diese  ohne  weiteres 
zu.  Sie  würde  es  nicht  begreifen,  wie  man  mit  sol- 
chen Mitteln  so  wenig  Ehrgeiz  verbinden  kann.  Ich 
kannte  einen  betriebsamen  Jungen,  der  durch  Ver- 
rat an  mir  vorwärts  kommen  wollte.  Er  verriet  mich 
aber  schlecht  und  kompromittierte  sich  dabei  so 
sehr,  daß  ich  ihm  beim  besten  Willen  nicht  mehr 
helfen  konnte.  Ich  hätte  ihn  vielleicht  in  die  ,Neue 
Freie  Presse'  gebracht. 

Von  einer  Fackel  fällt  hin  und  wieder  etwas 
ab.  Ein  Klümpchen  Pech. 

* 

Ich  betrachte  es  als  mein  unveräußerliches 
Recht,  das  kleinste  Schmutzstäubchen,  das  mich 
berührt,  in  die  Kunstform  zu  fassen,  die  mir  beliebt. 
Dieses  Recht  ist  ein  dürftiges  Äquivalent  gegenüber 
dem  Recht  des  Lesers,  nicht  zu  lesen,  was  ihn 
nicht  interessiert. 

• 

Ich  habe  noch  nie  eine  Person  um  ihretwillen 
angegriffen,  selbst  dann  nicht,  wenn  sie  mit  Namen 
genannt  war.  Wäre  ich  ein  Journalist,  so  würde  ich 
meinen  Stolz  darein  setzen,  einen  König  zu  tadeln. 
Da  ich  aber  dem  Gewimmel  der  Kärrner  zu  Leib 
gehe,  so  ist  es  Größenwahn,  wenn  sich  ein  Einzelner 


—    6 


getroffen  fühlt.  Nenne  ich  einen,  so  geschieht  es 
nur,  weil  der  Name  die  plastische  Wirkung  der 
Satire  erhöht.  Meine  Opfer  sollten  nach  zehn  Jahren 
künstlerischer  Arbeit  so  weit  geschult  sein,  daß  sie 
das  einsehen  und  das  Lamentieren  endlich  aufgeben. 

• 

Das  Verlangen,  daß  ein  Satz  zweimal  gelesen 
werde,  weil  erst  dann  Sinn  und  Schönheit  aufgehen, 
gilt  für  anmaßend  oder  hirnverbrannt.  So  weit  hat 
der  Journalismus  das  Publikum  gebracht.  Es  kann 
sich  unter  der  Kunst  des  Wortes  nichts  anderes  vor- 
stellen, als  die  Fähigkeit,  eine  Meinung  deutlich  zu 
machen.  Man  schreibt  »über«  etwas.  Die  Anstreicher 
haben  den  Geschmack  an  der  Malerei  noch  nicht  so 
gründlich  korrumpiert  wie  die  Journalisten  den  Ge- 
schmack am  Schrifttum.  Oder  der  Snobismus  hilft 
dort  und  bewahrt  das  Publikum  davor,  zuzugeben, 
daß  es  auch  am  Gemälde  nur  den  Vorgang  erfasse. 
Jeder  Börsengalopin  weiß  heute,  daß  er  anstands- 
halber zwei  Minuten  vor  einem  Bilde  stehen  bleiben 
muß.  In  Wahrheit  ist  er  auch  damit  zufrieden,  daß 
über  etwas  gemalt,  wird.  Die  Heuchelei,  mit  der 
die  Blinden  von  der  Farbe  reden,  ist  schlimm.  Aber 
schlimmer  ist  die  Keckheit,  mit  der  die  Tauben  die 
Sprache  als  Instrument  des  Lärms  reklamieren. 

• 

Wie  komme  ich  dazu,  der  Kollege  von  Leuten 
zu  sein,  die  ohne  inneren  Beruf  über  Probleme  des 
Sexuallebens  schreiben?  Viel  lieber  nenne  ich  den 
meinen  Kollegen,  der  das  schöpferische  Geheimnis 
der  Cacaofabrikation  erlebt! 

• 

Vielwisser  dürften  in  dem  Glauben  leben,  daß 
es   bei    der   Tischlerarbeit   auf  die   Gewinnung   von 

Hobelspänen  ankommt. 

* 

Stil.  Man  kann  nicht  leugnen ,  daß  dem  Schriftsteller 
Bildung  zustatten  kommt.  Wie  schöne  Gleichnisse  lassen 


—    7  — 


sich  nicht  gestalten,  wenn  man  die  Termini  der  ver- 
schiedenen Wissensgebiete  bei  der  Hand  hat !  Es  kommt 
also  darauf  an,  sich  dieses  Material  zu  beschaffen. 
Wahrlich,  man  braucht  es  fast  so  notwendig  wie 
Papier  und  Tinte.  Aber  haben  Papier  und  Tinte  einen 
schöpferischen  Anteil  am  Werk?  Bin  ich  kein  Schrift- 
steller, wenn  ich  nicht  die  Vergleichswelten  selbst 
bereist  habe?  Bin  ich  nicht  imstande,  den  Gedanken 
durch  Beziehung  auf  einen  chemischen  Vorgang 
zu  erhellen,  weil  ich  diese  Beziehung  bloß  ahne  und 
mir  der  Fachausdruck  fehlt?  Ich  frage  einen  Ge- 
lehrten oder  ich  frage  ein  Buch.  Aber  in  solchem 
Falle  leistet  auch  das  Fremdwörterbuch  alle  Dienste. 
Eine  Kennerschaft,  die  ich  mir  aus  einem  Fachwerk 
holte,  würde  die  künstlerische  Fügung  sprengen 
und  dem  Schein  der  Erudition  den  Vorrang  lassen. 
Es  wäre  die  hochstaplerische  Erschleichung  eines 
Makels.  Die  Nahrung  des  Witzes  ist  eine  landläufige 
Ration  von  Kenntnissen.  Es  darf  ihm  nicht  mehr  vor- 
gesetzt werden,  als  er  verdauen  kann,  und  unmäßiges 
Wissen  bringt  die  Kunst  von  Kräften.  Sie  setzt  Fett 
an.  Nun  gibt  es  Literaten,  denen  es  eben  darauf 
ankommt.  Ihnen  ist  die  Bildung  nicht  Material, 
sondern  Selbstzweck.  Sie  wollen  beweisen,  daß  sie 
auch  Chemiker  sind,  wenngleich  sie  es  nicht  sind; 
denn  Schriftsteller  sind  sie  bestimmt  nicht.  Das 
Material  kann  man  sich  beschaffen  wie  man  will, 
ohne  der  geistigen  Ehrlichkeit  etwas  zu  vergeben; 
die  schöpferische  Arbeit  besteht  in  seiner  Ver- 
wendung, in  der  Verknüpfung  der  Sphären,  in  der 
Ahnung  des  Zusammenhanges.  Wer  schreibt,  um 
Bildung  zu  zeigen,  muß  Gedächtnis  haben ;  dann  ist 
er  bloß  ein  Esel.  Wenn  er  die  Fachwissenschaft  oder 
den  Zettelkasten  benützt,  ist  er  auch  ein  Schwindler. 
Ich  kenne  einen  Publizisten,  der  sich  lieber  die  fünf 
Schreibefinger  abhacken  ließe,  ehe  er  in  einem  politi- 
schen Leitartikel,  der  jene  dürrste  Tatsächlichkeit 
der  Welt  behandelt,  die  der  Welt  leider  unentbehrlich 


—   8    — 


ist,  das  Wort  »  Balkan  wirren«  gebrauchte.  Er  muß 
>Hämuskomödie«  sagen.  Und  solche  Geistesschweinerei 
findet  im  heutigen  Deutschland  Anklang!  Eine  typische 
Figur  der  Lokalchronik  ist  jener  »Unhold«,  der  vor 
Schulen  den  herausstömenden  Mädchen  Dinge  zeigt, 
die  sie  in  diesem  Alter  noch  nicht  sehen  sollen.  Was 
bedeutet  aber  seine  Schädlichkeit  gegenüber  einem 
Treiben,  mit  dem  die  Schulweisheit  vor  dem  Leben 
exhibitioniert?  Die  unerhörte  Zumutung,  uns  bei  Be- 
sprechung der  verworrensten  Balkanfragen  auch  noch 
in  die  klassische  Geographie  verwickeln  zu  lassen, 
empfinden  heute  die  wenigsten  als  Plage.  Wäre  es  selbst 
kein  Defekt,  mit  dem  hier  geprotzt  wird,  wäre  der  An- 
blick der  Elephantiasis  eines  Gedächtnisses  nicht  ab- 
scheuerregend, so  bliebe  der  Zustand  noch  immer  als 
jene  ästhetisierende  Sucht  beklagenswert,  die  der  Fluch 
unserer  Tage  ist.  Denn  die  Erörterung  von  Balkan- 
wirren  ist  eine  Angelegenheit  des  täglichen  Haus- 
brauches und  hat  mit  der  Kunst,  also  auch  mit  der 
Literatur  als  der  Kunst  des  Wortes,  nicht  das  geringste 
zu  schaffen.  Der  Verschweinung  des  praktischen 
Lebens  durch  das  Ornament,  wie  sie  Adolf  Loos 
nachgewiesen  hat,  entspricht  jene  Durchsetzung  des 
Journalismus  mit  Geistelementen,  die  zu  einer  kata- 
strophalen Verwirrung  führt.  Die  Phrase  ist  das 
Ornament  des  Geistes.  Anstatt  nun  die  Presse  geistig 
trocken  zu  legen  und  die  Säfte  wieder  der  Literatur 
zuzuführen,  aus.  der  sie  »gepresst«,  der  sie  erpreßt 
wurden,  steuert  die  demokratische  Welt  auf  eine  Reno- 
vierung des  geistigen  Zierrats  hin.  Die  Phrase  wird 
nicht  abgeschafft,  sondern  in  den  Wiener  Werkstätten 
des  Geistes  modernisiert.  Feuilleton,  Stimmungs- 
bericht, Schinucknotiz  —  dem  Pöbel  bringt  die  Devise 
»Schmücke  dein  Heim!«  auch  die  geistigen  Schnörkel 
ins  Haus.  Ein  halbes  Jahrhundert  lebten  sie  von 
Heine,  aber  dieser  Zauberer,  der  der  Talentlosigkeit 
zum  Talent  verhalf,  steht  nicht  zu  hoch  über  der 
Entwicklung,   die  er  verschuldet  hat.    Jetzt  münzen 


—  9 


sie  Peter  Altenberg  in  Zeilenhonorar  um,  ohne  daß  er 
etwas  davon  hat.  Ein  Ornamentiker  auf  eigene  Faust 
lebt  in  Berlin;  wenn  er  seinen  Namen  nennen  soll, 
sagt  er  schlicht:  »Der  im  Grunewald«.  Geboren  ist 
er  nicht  im  Mai,  sondern  »unterm  Weidemond«.  Sein 
Kampf  gilt  nicht  dem  Kaiser,  sondern  einem  »Zollern- 
sproß«.  Der  nicht  in  Korfu  manchmal  weilt,  sondern 
in  Korypho.  Als  Politiker  ist  unser  Mann  kein 
Chamäleon,  sondern  er  gleicht  dem  »Tier  mit  den  zwei 
Pigmentschichten  unter  der  Chagrinhaut«.  Er  ent- 
hüllt nicht  das  homosexuelle  Vorleben  seiner  Gegner, 
sondern  er  »spreitet  die  Spinatgartenschande  aus«; 
aber  seine  Gegner  haben  es  sich  selbst  zuzuschreiben, 
denn  sie  haben  zwar  nicht  den  Verdacht  päderasti- 
schen  Umgangs  erregt,  aber  der  »Ruch  der  Männer- 
minne haftet  an  ihnen«.  Sein  Rechtsanwalt,  der  einfach 
Bernstein  heißt,  kehrt  nach  dem  Prozeß  nicht  nach 
München  zurück,  sondern  »der  Antaios  ringt  wieder 
auf  heimischem  Boden«.  Sonst  ist  aus  dem  Leben 
unseres  Künstlers  noch  zu  erzählen,  daß  er  Karls- 
ruhe nicht  kennt,  wohl  aber  die  »Fächerstraßen- 
stadt«; das  Schauspiel  »Frühlingserwachen«  noch  nicht 
gelesen  hat,  aber  den  »Lenzmimus«,  dessen  Inhalt 
»das  Männern  der  Knaben,  das  Böckeln  der  Mädchen« 
ist;  Sherlock  Holmes  nicht  auf  der  Bühne  gesehen 
hat,  aber  den  »Rampendoyle«  kennt;  Hurenwohnungen 
meidet,  aber  ein  »Tarifeden«  empfiehlt;  von  der  Existenz 
Shakespeares  nichts  weiß,  aber  den  »braven Bill«  zitiert; 
die  Sitte  des  Interviews  mißbilligt,  aber  »der  Interview« 
das  Wort  spricht ;  und  zuguterletzt  die  Balkanwirren 
ignoriert  und  dafür  die  »Härauskomödie«  beachtet. 
Soeben  hören  wir  seinen  Ausruf:  »Freut  euch  und 
strählt  die  Miauzer!«  Welche  Sprache  ist  das? 
Er  will  sagen,  Matkowsky,  der  letzte  Löwe  sei  tot, 
die  anderen  seien  bloß  Katzen.  »Streichelt  eure 
Katzen!«  dem  Publikum  zuzurufen,  dazu  langt  das 
Temperament  nicht;  darum  muß  das  Ornament  helfen. 
»Strählt    die   Miauzer!«     Es  könnte    als    Schlagwort 


-  10  — 


bleiben.  Ein  stilistischer  Miauzer  preist  die  Löwen- 
kraft, ein  Artist  literarischer  Mätzchen  beschreibt  die 
Urgewalt  des  größten  Tragöden,  ein  publizistischer 
Kainz  beklagt  den  Tod  Matkowskys.  Nun,  sein 
eigentlicher  Beruf  ist  ein  sozialer:  er  will  die 
Reichsfassade  reinfegen.  Aber  sein  Arbeitskittel 
ist  ein  wallendes  Gewand,  das  ein  Van  de  Velde 
entworfen  hat,  der  Besen  ist  von  Olbrich  und 
die  Hände  tragen  Schmuck  von  Lalique.  Da  geht 
denn  die  Arbeit  nur  schwer  vonstatten,  und  sie 
gleicht  eigentlich  auch  mehr  jenem  langwierigen 
Gastmahl  des  Trimalchio,  in  dessen  Beschreibung  es 
heißt:  »Nun  folgte  ein  Gang,  welcher  unserer  Er- 
wartung nicht  entsprach;  doch  zogerdurch  seineNeuheit 
aller  Augen  auf  sich«.  Da  gab  es  »einen  runden  Aufsatz, 
in  welchem  die  zwölf  himmlischen  Zeichen  in  einem 
Kreis  geordnet  waren,  auf  deren  jedes  der  Künstler 
eine  Speise  gelegt  hatte,  die  ihm  zukam«.  Da 
gab  es  »einen  Mischmasch  von  einem  Spanferkel  und 
anderem  Fleische,  und  einen  Hasen  mit  Flügeln, 
damit  er  dem  Pegasus  gleiche«.  Und  »in  den  Ecken  des 
Aufsatzes  vier  Faune,  aus  deren  Schläuchen  Brühe, 
welche  aus  den  Eingeweiden  verschiedener  Fische 
wohl  zubereitet  war,  auf  die  Fische  herunterfloß,  die 
in  einem  Meeresstrudel  schwammen«.  Dazu  erscholl 
eine  Symphonie,  und  in  der  Mitte  der  Tafel  stand  ein 
gebackener  Priap,  der  mit  allerlei  Arten  von  Obst  und 
Trauben  verziert  war.  Die  Kuchen  gössen  einen 
balsamischen  Duft  aus  und  die  Gäste  »glaubten,  daß 
etwas  Heiliges  darunter  verborgen  sei«,  erhoben  sich 
»und  wünschten  Glück  dem  erhabenen  Vater  des 
Vaterlandes«.  Stimmt  alles.  Von  dem  Koch  aber  hieß 
es,  er  sei  der  kostbarste  Kerl  von  der  Welt.  »Wenn  ihr 
es  verlangt,  so  macht  er  aus  einem  Saumagen  einen 
Fisch,  aus  Speck  einen  Baum,  aus  dem  Schinken 
eine  Turteltaube,  aus  den  Eingeweiden  eine  Henne«. 
Heiliger  Petronius  —  so  arbeiten  die  Ornamentiker  aller 
Zeiten   und  aller  Gebiete!    Und  wir  haben  heute  in 


—  11 


Deutschland  eine  geistige  Küche,  von  deren  Erzeug- 
nissen das  Auge  satt  wird.  Ein  Bildungskünstler 
preßt  die  Leckerbissen  von  zehn  Welten  in  eine 
Wurst .  .  .  Nun  muß  gesagt  sein,  daß  diese  Art,  das 
Leben  zu  umschreiben  oder  um  das  Leben  herumzu- 
schreiben, immerhin  einer  Anschauung  dienen  könnte. 
Diese  Umständlichkeit  wäre  Verkürzung  oder  die 
Verkürzung  wäre  sinnvoll,  wenn  die  für  die  Dinge 
gesetzten  Chiffren  zugleich  den  Inhalt  brächten,  der 
von  den  Dingen  ausgesagt  werden  soll,  oder  die  Be- 
ziehung, in  welche  die  Dinge  gestellt  werden  sollen. 
Es  ist  also  erträglich  zu  lesen,  daß  einem  Schau- 
spieler die  Darstellung  des  >Junkers  von  Corioli« 
oder  von  »Kleopatras  müdem  Freund*  gelungen  sei. 
Das  Ornament  ist  hier  ein  Mittel,  nicht  ein  Zweck. 
Aber  dann  ist  es  eben  eine  Krücke,  die  vorwärts 
bringt,  und  die  Plastik,  die  der  Autor  erreicht, 
bleibt  doch  immer  die  Plastik  einer  Geschwulst. 
Die  gehobene  Sprache  hebt  den  Sinn,  den  das 
Temperament  zu  heben  nicht  imstande  war.  Die 
Schönheit  geht  freilich  flöten,  wenn  das  Pathos  sich 
zu  einer  Telegrammadresse  wie  »Rampendoyle«  oder 
»Tarifeden«  zusammenballt  oder  in  einer  ausführ- 
licheren Geheimschrift  verästelt,  deren  DechirTrierung 
den  Leser  zwar  reizt,  aber  nicht  befriedigt.  Niemand 
wird  dem  Autor  die  Lückenlosigkeit  seiner  Technik 
bestreiten  und  die  Pleckenlosigkeit  seines  Materials. 
Aber  den  durchaus  artifiziellen  Charakter  dieser  Ge- 
staltung enthüllt  er  selbst,  wenn  er  die  Feder  hinlegt, 
um  den  Mund  aufzumachen.  Kostüm  und  Schmuck 
sind  abgetan,  die  Hieratik  ist  zum  Teufel,  und  fern 
aller  Weitwendigkeit  spricht  ein  Agitator,  der  alle 
Pfiffe  des  Metiers  kennt,  wie  dem  zuhörerden  Pack 
der  Schnabel  gewachsen  ist.  Der  eben  noch  an 
der  sprachlichen  Beulenpest  darniederla^,  steht 
gesund  vor  uns,  freut  sich  und  —  streichelt  die 
Katzen.  Der  kostbarste  Kerl  von  der  Welt; 
am  andern  Tag  macht  er    wieder  aus    einem    Sau- 


—  12  — 

magen  einen  Fisch  und  preßt  die  Leckerbissen 
von  zehn  Welten  in  eine  Wurst ,  . .  Ach,  meinem 
Stil  wird  zum  Vorwurf  gemacht,  daß  sich  hart  im 
Räume  die  Gedanken  stoßen,  während  die  Sachen 
doch  so  leicht  bei  einander  wohnen.  Und  wer  von  mir 
Aufschluß  über  die  Sachen  erwartet,  hat  sicherlich 
recht,  aus  dem  Gedankenpferch  zu  fliehen.  Verweilt  er 
aber,  um  ihn  zu  besehen,  so  wird  er  eine  Architektonik 
gewahren,  in  der  um  keine  Linie  zu  viel,  um  keinen 
Stein  zu  wenig  ist.  Man  muß  nachdenken;  das  ist 
eine  harte  Forderung,  meist  unerfüllbar.  Aber  die  For- 
derung, die  der  Berliner  Bildungsornamentiker  stellt,  ist 
bloß  lächerlich :  man  muß  Spezialist  in  allen  Fächern 
sein  oder  zum  Verständnis  eines  Satzes  zehn  Bände 
eines  Konversationslexikons  wälzen.  Der  eine  schlägt 
auf  den  Fels  der  nüchternsten  Prosa,  und  Gedanken 
brechen  hervor.  Der  andere  schwelgt  im  Z  er- 
garten seiner  Lesefrüchte  und  in  der  üppigen 
Vegetation  seiner  Tropen.  Hätte  ich  mein  Leben 
damit  verbracht,  mir  die  Bildung  anzueignen,  die 
jener  zu  haben  vorgibt,  ich  wüßte  vor  lauter  Hilfs- 
quellen nicht,  wie  ich  mir  helfen  soll.  Ein  Kopf,  ein 
Schreibzeug  und  ein  Fremdwörterbuch  —  wer  mehr 
braucht,  hat  den  Kopf  nicht  nötig  1 

•  ■ 
Variete.  Der  Humor  der  Knockabouts  ist  heute 
der  einzige  Humor  von  Weltanschauung.  Weil  er 
tieferen  Grund  hat,  scheint  er  grundlos  zu  sein  wie 
die  Aktion,  die  er  bietet.  Grundlos  ist  das  Lachen,  das 
er  in  unserer  Region  auslöst.  Wenn  ein  Mensch  plötz- 
lich auf  allen  Vieren  liegt,  so  ist  es  eine  primitive 
Kontrastwirkung,  der  sich  schlichte  Gemüter  nicht 
entziehen  können.  Bin  feineres  Verständnis  setzt 
schon  die  Darstellung  eines  Zeremonienmeisters  voraus, 
der  auf  dem  Parkett  hinplumpst.  Es  wäre  die  ad 
absurdum-Führung  der  Würde,  der  Umständlichkeit, 
des  dekorativen  Lebens.  Diesen  Humor  zu  verstehen, 
bietet     die    mitteleuropäische     Kultur    alle   Voraus- 


13 


setzung.  Der  Humor  der  Clowns  hat  hier  keine 
Wurzel.  Wenn  sie  einander  auf  den  Bauch  springen, 
so  kann  bloß  die  Komik  der  veränderten  Lage, 
des  unvorhergesehenen  Malheurs  verfangen.  Aber 
der  amerikanische  Humor  ist  die  ad  absurdum-Führung 
eines  Lebens,  in  dem  der  Mensch  Maschine  geworden 
ist.  Der  Verkehr  spielt  sich  ohne  Hindernisse  ab; 
darum  ist  es  plausibel,  daß  einer  zum  Fenster  herein- 
geflogen kommt  und  zur  Tür  wieder  hinausgeworfen 
wird,  die  er  gleich  mitnimmt.  Das  Leben  ist  eben  un- 
gemein vereinfacht.  Da  der  Komfort  das  oberste  Prinzip 
ist,  so  versteht  es  sich  von  selbst,  daß  man  Bier 
haben  kann,  wenn  man  einen  Menschen  anzapft 
und  ein  Gefäß  unter  die  Öffnung  hält.  Die  Leute 
schlagen  einander  mit  der  Hacke  auf  den  Schädel 
und  fragen  zartfühlend:  Haben  Sie  das  bemerkt?  Es 
ist  ein  unaufhörliches  Gemetzel  der  Maschinen,  bei 
dem  kein  Blut  fließt.  Das  Leben  hat  einen  Humor, 
der  über  Leichen  geht,  ohne  wehzutun.  Warum  diese 
Gewalttätigkeit?  Sie  ist  bloß  eine  Kraftprobe  auf 
die  Bequemlichkeit.  Man  drückt  auf  einen  Knopf, 
und  ein  Hausknecht  stirbt.  Was  lästig  ist,  wird 
aus  dem  Weg  geräumt.  Balken  biegen  sich 
auf  Wunsch,  alles  geht  flott  von  statten,  müßig 
ist  keiner.  Nur  ein  Papierschnitzel  will  auf  einmal 
nicht  parieren.  E3  bleibt  nicht  liegen,  wenn  man  es 
der  Bequemlichkeit  halber  hingeworfen  hat,  es  geht 
immer  wieder  in  die  Höhe.  Das  ist  ärgerlich,  und 
man  sieht  sich  gezwungen,  es  mit  dem  Hammer 
zu  bearbeiten.  Noch  immer  zuckt  es.  Man  will  es 
erschießen.  Man  sprengt  es  mit  Dynamit.  Ein  uner- 
hörter Apparat  wird  aufgeboten,  um  es  zu  beruhigen. 
Das  Leben  ist  furchtbar  kompliziert  geworden. 
Schließlich  geht  alles  drunter  und  drüber,  weil  irgend 
ein  Ding  in  der  Natur  sich  dem  System  nicht  fügen 
wollte . . .  Vielleicht  ein  Fetzen  Sentimentalität,  den 
ein   Defraudant    aus  Europa   herübergebracht   hatte. 


—  14 


Mit  Unlust  sieht  man  zwischen  den  Produktionen 
der  Knockabouts  den  Humor  einer  neuwienerischen 
Operette  sich  breitmachen.  Da  wird  wieder  einmal 
die  Langweiligkeit  der  englischen  Nation  entlarvt. 
Den  reisenden  Engländer  läßt  die  kulturelle  Über- 
legenheit unseres  schieberischen  Temperaments  noch 
immer  nicht  ungeschoren.  Mit  einem  »au  jes«  ist 
der  Fall  erledigt.  Auch  diese  Auffassung  hat 
ihren  tieferen  Grund.  >Geh'ns,  seins  net  fad!«  sagt 
nämlich  der  Wiener  zu  jedem,  der  sich  in  seiner 
Gesellschaft  langweilt.  Der  reisende  Engländer  sieht 
so  aus:  er  langweilt  sich  und  verleugnet  auch  in 
Wien  seine  guten  Manieren  nicht. 

Eitelkeit,  Eine  der  verblüffendsten  Entdeckun- 
gen, die  uns  das  neue  Jahrhundert  gebracht  hat,  istzwei- 
fellos die,  daß  ich  in  der  , Fackel'  öfter  von  mir  selbst 
spreche,  und  sie  wird  mir  mit  einer  der  tiefsten  Erkennt- 
nisse unter  die  Nase  gehalten,  die  die  Weisheit  kon- 
templativer Seelen  je  geschöpft  hat,  daß  nämlich  der 
Mensch  bescheiden  sein  müsse.  Manche  wollen  sogar 
herausgefunden  habeu,  daß  ich  den  Essay  von  Robert 
Seh.  über  zehn  Jahre  , Fackel*  »in  meinem  eigenen 
Blatte«  verölfentlicht  habe.  Das  habe  ich  allerdings 
bis  zum  Augenblick  des  Erscheinens  nicht  bedacht 
und  ich  muß  nun,  überdies  von  der  Korrektheit 
darauf  aufmerksam  gemacht,  zugeben,  daß  es  wahr 
ist.  Die  Entdeckung  der  Eitelkeit  hat  zwar  noch  nie 
ein  Schriftsteller  seinem  Leser  leichter  gemacht  als 
ich.  Denn  wenn  dieser  es  selbst  nicht  merkte,  daß 
ich  eitel  bin,  so  ertuhr  er  es  doch  aus  meinen  wieder- 
holten Geständnissen  der  Eitelkeit  und  aus  der 
rückhaltlosen  Glorifizierung,  die  ich  diesem  Laster 
zuteil  werden  ließ.  Die  lächelnde  Informiertheit,  die 
eine  Achillesferse  entdeckt,  wird  also  an  einer  Be- 
wußtheit zuschanden,  die  sie  schon  vorher  freiwillig 
entblößt  hat.  Aber  ich  kapituliere.  Wenn  der  banalste 
Einwand  gegen  mich  auch  zum  zehnten  Jahr  meiner 


15  — 


Unbelehrbarkeit  erhoben  wird,  dann  hilft  keine  Replik. 
Ich  kann  pergamentenen  Herzen  nicht  das  Gefühl 
für  die  Notwehr,  in  der  ich  lebe,  einflößen,  für  das 
Sonderrecht  einer  neuen  publizistischen  Form  und 
für  die  Übereinstimmung  dieses  scheinbaren  Eigen- 
interesses mit  den  allgemeinen  Zielen  meines  Wirkens. 
Sie  können  es  nicht  verstehen,  daß,  wer  mit  einer 
Sache  verschmolzen  ist,  immer  zur  Sache  spricht 
und  am  meisten,  wenn  er  von  sich  spricht.  Sie 
können  es  nicht  verstehen,  daß,  was  sie  Eitelkeit 
nennen,  jene  nie  beruhigte  Bescheidenheit  ist, 
die  sich  am  eigenen  Maße  prüft  und  das  Maß 
an  sich,  jener  demütige  Wille  zur  Steigerung,  der 
sich  dem  unerbittlichsten  Urteil  unterwirft,  das  stets 
sein  eigenes  ist.  Eitel  im  üblen  Sinn  wäre  eine  Frau, 
die  nie  in  den  Spiegel  schaut.  Bespiegolung  ist 
der  Schönheit  so  unerläßlich  wie  dem  Geist.  Die 
Welt  hat  aber  nur  eine  psychologische  Norm  für 
zwei  Geschlechter  und  verwechselt  die  Eitelkeit  eines 
Kopfes,  die  sich  im  künstlerischen  Schaffen  erregt 
und  befriedigt,  mit  der  geckischen  Sorgfalt,  die  an 
einer  Frisur  arbeitet.  Aber  ist  jene  im  gesellschaft- 
lichen Verkehr  nicht  stumm?  Sie  kann  dem  Neben- 
menschen unmöglich  so  auf  die  Nerven  fallen  wie  die 
Bescheidenheit  der  reproduzierenden  Geister,  solcher, 
deren  Gedächtnis  die  Aussprüche  berühmter  Zeit- 
genossen aufbewahrt  und  auch  jener  Altvordern  seit 
Plinius  dem  Älteren,  die  ein  gutes  Gedächtnis  immer- 
dar zu  persönlichen  Bekannten  macht. 

• 
Meine  Feinde  sind  seit  zehn  Jahren  auf  der 
Motivensuche.  Entweder  handle  ich  so,  weil  ich  das 
Butterbrot  nicht  bekam,  oder  wiewohl  ich  es  bekom- 
men habe.  Daß  ein  Butterbrot  mitspielt,  darüber 
herrscht  kein  Zweifel;  nur  bleibt  zwischen  Rach- 
sucht und  Undankbarkeit  die  Wahl.  Daß  eine  Tat 
nicht  aus  beiden  Motiven  zugleich  entspringen  kann, 
bereitet  meinen  Feinden  eine    große   Unbequemlich- 


16  — 


keit.  Aber  wie  gern  gebe  ich  beide  auf  einmal  zu, 
wenn  ich  damit  nur  der  niederschmetternden  Frage 
entrinne,  die  das  Wohlwollen  an  mich  richtet: 
>  Sagen  Sie  mir,  ich  bitt'  Sie,  was  haben  Sie  gegen 
den  Benedikt  ?« 

* 

Ich  kann  mir  denken,  daß  eine  häßliche  Frau, 
die  in  den  Spiegel  schaut,  der  Überzeugung  ist,  das 
Spiegelbild  sei  häßlich,  nicht  sie  selbst.  So  sieht  die 
Gesellschaft  ihre  Gemeinheit  in  einem  Spiegel  und 
glaubt  aus  Dummheit,  daß  ich  der  gemeine  Kerl  bin. 


(Nachdruck  verboten.) 

Nachts. 
Von  Anton  Tschechow. 

Erste  Übersetzung  von  Paul  Barchan. 

Nur  noch  die  trüben  Lichter  des  eben  verlassenen  Hafens, 
nur  der  pechschwarze  Himmel  waren  noch  sichtbar.  Es  blies  ein 
kalter,  feuchter  Wind.  Er  schlug  uns  ins  Qesicht  und  drang  durch 
die  Kleider.  Wir  erwarteten  einen  Regen  und  mußten  uns  wun- 
dern, wo  er  nur  bleiben  mochte.  Wir  fühlten  über  uns  die 
schwarzen  Wolken,  fühlten  deren  Bestreben,  ihr  ganzes  Wasser 
auf  uns  zu  entladen,  und  uns  war  schwül  trotz  des  Windes  und 
der  Kälte.  Unser  Dampfschiff  schaukelte. 

Wir  Matrosen  waren  in  unserer  Kajüte  versammelt  und 
losten.  Unter  dem  Heulen  des  Windes  und  dem  Klappern  der 
Maschine  erscholl  das  laute,  trunkene  Lachen  unserer  Brüderschaft. 

Ein  leises  Beben  durchrieselte  mich  vom  Scheitel  bis  zur 
Sohle,  gleichsam  als  wäre  in  meinem  Hinterhaupte  ein  Loch,  aus 
dem  sich  feiner  kalter  Schrot  den  nackten  Körper  hinunter  ergoß. 
Ich  zitterte  vor  Kälte,  aber  auch  aus  anderen  Gründen,  von  denen 
ich  hier  erzählen  will. 

Der  Mensch  ist  überhaupt  gemein,  und  der  Matrose  ist, 
offen  gestanden,  noch  gemeiner  als  der  Mensch,  gemeiner  als  das 


—  17 


gemeinste  Tier,  das  doch  schließlich  die  Rechtfertigung  hat,  daß 
es  nur  seinem  Instinkte  gehorcht. 

Vielleicht  übertreibe  ich.  Doch  scheint  es  mir,  der  Matro  e 
hat  mehr  Qrund,  sich  zu  hassen,  auf  sich  zu  schimpfen,  als  dr.s 
Tier.  Der  Mensch,  der  jeden  Augenblick  vom  Mast  stürzen,  der 
auf  immer  und  ewig  hinter  einer  hohen  Welle  verschwinden 
kann,  der  nur  dann  Gott  kennt,  wenn  er  ertrinkt  oder  wenn  er 
kopfüber  hinunterstürzt,  solch  einer  vermißt  nichts,  noch  bedauert 
er  etwas,  was  er  auf  dem  Festlande  zurückgelassen.  Wir  trinken 
Branntwein,  da  wir  nicht  wissen,  warum  wir  nüchtern  sein  sollen, 
führen  ein  liederliches  Leben,  da  wir  nicht  wissen,  was  uns  auf 
dem  Meere  die  Tugend  nützen  sollte. 

Nun,  ich  will  fortfahren. 

Wir  losten  untereinander.  Unser  aller,  die  wir  gerade  keinen 
Dienst  hatten,  waren  sechzehn.  Von  diesen  aber  konnte  nur 
zweien  das  Glück  zuteil  werden,  solch  ein  seltenes  Schauspiel  zu 
genießen. 

Die  Kajüte  »für  Neuvermählte*  nämlich,  die  unser  Schiff 
besaß,  hatte  für  diese  Nacht  Passagiere  .  .  .  Und  die  Wände 
dieser  Kajüte  hatten  nur  zwei  Spalten,  über  die  wir  verfügen 
konnten.  Die  eine  hatte  ich  selbst  mit  einer  dünnen  Feile  ausge- 
feilt, nachdem  ich  die  Wand  mit  einem  Pfropfenzieher  durch- 
bohrt, die  andere  hatte  einer  meiner  Kameraden  mit  einem  Messer 
geschnitten,   und  wir  beide  hatten  daran  eine  Woche  zu  arbeiten. 

>Die  eine  bekommst  du!« 

»Wer?« 

Man  wies  auf  mich. 

»Und  die  andere?« 

»Dein  Vater!« 

Mein  Vater,  ein  alter  buckliger  Matrose,  mit  einem  Gesicht, 
das  aussah  wie  ein  gebackener  Apfel,  trat  an  mich  heran  und 
k'opfte  mich  auf  die  Schulter. 

»Was,  Bengel,  heute  sind  wir  beide  die  Glückspilze,« 
sprach  -»r  zu  mjr  > Hörst  du,  Bengel?  Du  und  ich  gleichzeitig! 
Das  laß  im,  mir  gefallen!« 

Er  frag«  mjcn  ungeduldig  nach  der  Uhr.    Es  war  erst  elf. 

Es  begann  ,<ark  zu  regnen  icn  ging  aufs  Deck  und  begann 
aufs  Meer  hinauszub..,^   Es  war  dunkel.  Aber  in  meinen  Augen 


—  18  — 

mag  sich  all  das  widergespiegelt  haben,  was  auf  dem  Grunde 
meiner  Seele  vorging:  auf  dem  schwarzen  Hintergrunde  der 
Nacht  nahm  ich  Bilder  wahr  und  erblickte  das,  was  ich  in 
meinem  Leben  so  sehr  entbehrt,  in  meinem  jungen,  verfehlten  Leben. 

Gegen  zwölf  Uhr  ging  ich  vor  der  gemeinsamen  Kajüte 
auf  und  ab  und  blickte  durch  die  Türe.  Der  Neuvermählte,  ein 
junger  Pastor  mit  einem  schönen  blonden  Kopfe,  saß  am  Tische 
und  hielt  das  Evangelium  in  der  Hand.  Er  erklärte  etwas  einer 
hageren  Engländerin.  Die  Neuvermählte  aber,  jung,  schlank, 
bildschön,  saß  neben  ihrem  Manne  und  wandte  kein  Auge  von 
dem  blonden  Kopfe  ihres  Mannes.  Wie  soll  ich  ihr  Gesicht  be- 
schreiben !  Es  erschien  mir  überirdisch.  In  der  Kajüte  ging  der  Bankier 
auf  und  ab,  ein  hoher,  starker,  alter  Engländer  mit  einem  roten, 
widerlichen  Gesicht.  Dies  war  der  Mann  der  alten  Dame,  mit  der 
der  Neuvermählte  sich  unterhielt. 

>Die  Pastoren  haben  die  Gewohnheit,  sich  stundenlang  zu 
unterhalten«,  dachte  ich.  >Das  wird  so  bis  zum  Morgen  kein 
Ende  nehmen.« 

Gegen  eins  kam  mein  Vater  zu  mir,  zupfte  mich  am 
Ärmel  und  sagte: 

»Na,  endlich.  Da  sind  sie  herausgegangen.« 

Ich  wurde  im  Augenblick  munter  und  trat  an  die  bekannte 
Wand  .  .  . 

Zwischen  dieser  Wand  und  der  Schiffswand  war  ein 
Zwischenraum,  voll  mit  Ruß,  Wasser  und  Ratten.  Bald  hörte  ich 
die  schweren  Schritte  meines  Vaters.  Er  stolperte  über  die  Säcke 
und  Kisten  und  schimpfte. 

Ich  tastete  nach  meiner  Öffnung  und  zog  daraus  ein  vier- 
eckiges Stück  Holz,  woran  ich  so  lange  gesägt  hatte.  Ich  erblickte 
dünnen,  durchscheinenden  Mousselin,  durch  den  ein  weiches 
Licht  schimmerte.  Und  zusammen  mit  dem  Lichte  drang  zu  mir  ein 
schwüler,  sehr  angenehmer  Geruch.  Das  war  wahrscheinlich  de' 
Duft  aristokratischer  Schlafgemächer.  Um  aber  das  Schlafzimmer 
zu  überblicken,  mußte  man  mit  beiden  Händen  den  M^sseh'n 
zur  Seite  schieben,  was  ich  auch  sofort  tat. 

Ich  erblickte  Bronze,  Sammet,  Spitzen  uud  üH'  alles  ergoß 
sich  das  zarte  Licht.  Anderthalb  Faden  von  -einem  Gesichte 
stand  das  Bett. 


19 


»Laß  mir  deinen  Platz !«  sagte  mein  Vater,  mich  ungeduldig 
in  die  Seite  puffend.  »Bei  dir  sieht  man  besser.  Du  hast  bessere 
Augen  als  ich.  Und  für  dich  ist  es  ganz  egal,  ob  du  aus  der  Höhe 
oder  aus  der  Ferne  zusiehst.« 

»Still !<  sagte  ich,  »mach  keinen  Lärm,  man  kann  uns  hören !< 

Die  junge  Frau  saß  am  Rande  des  Bettes  und  ließ  ihre 
kleinen  Fiißchen  auf  das  Tigerfell  herabhängen.  Sie  blickte  zur 
Erde.  Vor  ihr  stand  ihr  Mann,  der  junge  Pastor.  Er  sprach  zu  ihr. 
Was  er  aber  gesprochen,  das  weiß  ich  nicht.  Denn  bei  diesem 
Heulen  des  Windes  und  Lärm  des  Dampfers  konnte  man  nichts 
hören.  Er  sprach  mit  Feuer,  gestikulierend,  mit  blitzenden  Augen. 
Sie  hörte  zu  und  schüttelte  verneinend  den  Kopf. 

»Die  werden  so  bis  zum  Morgen  reden.  Hol  sie  die  Pest!« 
brummte  mein  Vater. 

Ich  drückte  die  Brust  fester  an  die  Wand,  als  fürchtete  ich, 
das  Herz  könnte  mir  herausspringen.  Mein  Kopf  brannte  .  .  . 

Das  junge  Ehepaar  sprach  lange.  Der  Pastor  kniete  schließ- 
lich nieder  und  begann,  sie  mit  ausgestreckten  Armen  anzuflehen. 
Sie  schüttelte  verneinend  den  Kopf.  Da  sprang  er  auf  und  begann 
im  Zimmer  auf  und  ab  zu  gehen.  An  dem  Ausdruck  seines  Ge- 
sichtes, an  der  Bewegung  der  Hände  erriet  ich,  daß  er  drohte. 

Die  junge  Fiau  stand  auf,  ging  langsam  an  die  Wand,  wo 
ich  stand,  und  blieb  gerade  meiner  Öffnung  gegenüber  stehen.  Sie 
rang  verzweifelt  die  Hände,  und  ich  verschlang  ihr  Gesicht  mit 
den  Blicken.  Ich  las  auf  ihrem  Gesichte  —  wenn  nur  solch  ein 
grober,  steinerner  Mensch  imstande  ist,  auf  Gesichtern  zu  lesen, 
auf  solch  schönen  Gesichtern.  Mir  schien,  daß  sie  leidet,  mit  sich 
kämpft,  schwankt,  aber  gleichzeitig  lag  in  ihren  Augen  Zorn.  Ich 
begriff  nichts. 

Gegen  fünf  Minuten  standen  wir  so.  Angesicht  gegen  An- 
gesicht. Darauf  ging  sie  weg,  blieb  in  der  Mitte  der  Kajüte  stehen 
und  nickte  dem  Pastor  mit  dem  Kopfe  zum  Zeichen  ihrer  Ein- 
willigung. Dieser  lächelte  freudig,  küßte  ihr  die  Hand  und  eilte 
aus  der  Schlafkajüte. 

Ich  hörte  neben  mir  ein  Geräusch.  Mein  alter  Vater  hielt 
seinen  Husten  zurück.  Die  junge  Frau  begann  sich  hastig  zu  ent- 
kleiden. 

Nach  drei  Minuten  öffnete  sich  die  Tür,  und  in  die  Kajüte 


20  - 


trat  der  Pastor,  und  hinter  ihm  der  hohe,  dicke  Engländer,  von 
dem  ich  oben  erzählt.  Der  Engländer  trat  ans  Bett  und  schien 
der  schönen  Frau  eine  Frage  zu  stellen.  Diese,  ganz  blaß  vor 
Scham,  nickte  bejahend  mit  dem  Kopfe.  Der  englische  Bankier  nahm 
aus  der  Brusttasche  ein  Paket  mit  Banknoten  und  reichte  es  dem 
Pastor.  Dieser  zählte  nach  und  entfernte  sich  mit  einem  Gruße. 
Der  alte  Engländer  schloß  hinter  ihm  die  Tür.  .  . . 

Ich  sprang  von  der  Wand  zurück,  als  hätte  mich  eine 
Schlange  gebissen.  Eine  Angst  überfiel  mich.  Mir  war,  als  hätte 
der  Sturm  unser  Schiff  in  Stücke  zerrissen,  als  gingen  wir  zu 
Grunde. 

Mein  Vater,  dieser  Trunkenbold,  dieser  Lüstling,  ergriff 
meinen  Arm  und  sagte: 

> Kommen  wir  von  hier  weg!  Du  darfst  das  night  sehn,  bist 
noch  zu  jung  .  .  .« 

Er  hielt  sich  kaum  auf  den  Füßen.  Ich  trug  ihn  die  steile 
holprige  Treppe  hinauf,  nach  oben,  wo  sich  schon  ein  wirklicher 
Herbststurm  erhob.  .  . . 


Sprüche  und  Widersprüche. 

Über  dieses  Werk  schreibt  die  , Königsberger 
Hartung'sche  Zeitung': 

Ein  260  Seiten  starker  Band  Aphorismen  ist  keine  gewöhnliche 
Erscheinung,  dieser  hier  ist  eine  ganz  außergewöhnliche.  Es  ist  ein  fanati- 
sches und  weises,  ein  pathetisches  und  graziöses  Buch.  Eine  Denkkraft 
tobt  sich  aus,  die  vor  nichts  Halt  macht,  keine  Hemmungen  kennt  und 
nur  ein  Gesetz :  das  heiliggehaltene  der  Sprachkunst.  Dieser  unbeherrschte 
Losgeher  wird  zum  ängstlichsten,  zärtlichsten  Zaudeier,  wenn's  um  seine 
Kunst  geht.  Ein  Titan,  der  die  Blöcke  liebevoll  meißelt,  ehe  er  sie  auf 
die  Schädel  seiner  Feinde  herabsausen  läßt.  Von  seinem  Reichtum  gibt 
das  dem  Buche  beigegebene  Inhaltsverzeichnis  nur  einen  schwachen 
Begriff.  Eine  ungeheure  Konzentriertheit  herrscht  darin.  Jeder  dieser 
kleinen  Sprüche  könnte  zum  weitläufigen  Essay  ausgewalkt  werden  (was 
denn    auch  gelegentlich  geschehen  wird),    weil  eben  jeder    ein  Ganzes, 

279-280 


21  — 


kein  fataler  Gedankensplitter,  sondern  ein  Gedanke  ist.  Kraus  wird  nie 
zum  Sklaven  seiner  Witzigkeit;  immer  dient  sein  Witz  dem  Gedanken, 
macht  diesen  sinnfällig  und  vertieft  ihn.  Man  muß  darauf  verzichten,  in 
einer  knappen  Anzeige  Kraus  zu  charakterisieren.  Es  soll  auch  auf  Zitate 
aus  diesen  Sprüchen  und  Widersprüchen  verzichtet  werden,  so  lockend 
es  wäre,  mit  einigen  blendenden  Paradoxen,  ein  paar  kühnen  Antithesen 
den  Leser  neugierig  zu  machen.  Man  täte  damit  der  Persönlichkeit  des 
Autors  Unrecht,  brächte  ihn  leicht  in  den  Ruf,  ein  Widersprecher  um 
jeden  Preis  zu  sein.  Das  ist  er  nicht.  Das  >Epater  le  Bourgeois«  hat  er 
immer  verschmäht,  nie  dem  Publikum  die  Konzession  gemacht,  es  absichtlich 
zu  ärgern.  Er  sagt  manchmal  ganz  ungeniert  Binsenwahrheiten,  er  darf's, 
es  sind  doch  seiue  eigenen.  Unter  diesen  Aphorismen  sind  welche,  die 
Klerikale  und  Fortschrittler,  Ästheten  und  Zweckmenschen,  Moralisten 
und  Libertins  verleiten  könnten,  den  Autor  für  ihren  Parteigänger  zu 
halten.  Kraus  fürchtet  keine  Annäherung  an  eine  noch  so  banale 
Meinung,  denn  zuletzt  dient  auch  sie  nur  dazu,  seiner  Persönlichkeit 
das  besondere  Relief  zu  geben.  Man  darf  auf  das  Schicksal  dieses 
Buches  neugierig  sein.  Wird  es  das  seines  Schöpfers  teilen,  der,  seit 
zehn  Jahren  in  Wien  publizistisch  tätig,  dort  heimlich  bewundert  und 
öffentlich  totgeschwiegen,  kunstvoll  bestohlen  und  äußerst  kunstlos  be- 
schimpft wird  ?  Es  ist  gleichgültig,  ob  dieses  kühne,  ehrliche  und  leiden- 
schaftliche Buch  Lobsprecher  oder  Tadler  finden  wird.  Man  muß  wünschen, 
daß  es  Leser  finde;  nicht  dem  Autor,  sondern  den  Lesern  zuliebe. 

Die  ,Nationalzeitung'  (,Post/)  in  Berlin 
nebst  zwei  Auszügen  aus  dem  Buch: 

Es  unterlag  keinem  Zweifel,  daß  die  Kunst  der  Sentenz,  des 
Aphorismus  seit  den  Tagen  ihrer  großen,  ihrer  eigentlichen  Schöpfer 
sozusagen  rückständig  geworden  war  und  der  Auffrischung  bedurfte. 
Der  Witz  der  Rochefoucauld,  Vauvenargues,  Chamfort  war  bereits  von 
früheren  Generationen  aufgenommen,  verbraucht  worden.  Die  runden 
Münzen  ihrer  Weisheit  erschienen  nach  so  langer  Zeit  des  Umlaufes 
manchem  als  ein  wenig  abgegriffen.  Die  Ereignisse  warteten  unleugbar 
auf  den  Regenerator,  auf  den  Mann,  der  neuen  Wein  in  die  alten 
Schläuche  gösse.  .  .  .  Das  einzig  Unkünstlerische  an  diesem  Buche  ist 
eine  Eigenschaft  des  Verfassers :  die  >Fronde  ä  tout  prix«,  die  manchmal 
bis  zu  intellektueller  Krafthuberei  geht.  Und  etwas  Beklemmendes  wohnt 
zugleich  dem  Buche  hier  und  da  inne;  die  Gedanken  zeigen  in  der 
Struktur  zuweilen  sozusagen  etwas  von  dem  hochgespannten  Druck,  mit 
dem  die  Geistesmaschine  dieses  Autors  arbeitete.  Man  glaubt  zuweilen 
das  Knarren  des  heißgelaufenen  Räderwerkes  zu  vernehmen.  Das  Bueh 
selbst?  Der  Leser  wird  mit  starker  Kost  bewirtet,  wie  schon  ein  Blick 
auf  das  Inhaltsverzeichnis  ahnen  läßt,  aber  diese  Kost  bietet  stets  nur 
ein  Autor,  dessen  differenzierter  Geschmack  auch  gewagte  Kombinationen 
als  möglich  erscheinen  läßt ...  Es  tritt  hier  ein  Fall  ein,  wo  man  bedauert, 
daß  epigrammatische  und  dramatische  Begabung  nicht  einander  decken. 
Karl  Kraus    wäre  sonst    (nach  einer    letzten  Läuterung   vielleicht    noch) 


—  22  — 


wohl  der  Mann,    der  uns    die  noch    immer    fehlende  Komödie    unserer 
Zeit  schreiben  könnte. 

Ähnlich  gut  meint  es  die  ,Freisinnige  Zeitung' 
in  Berlin,  nur  mit  der  beruhigenden  Versicherung,  daß 
sie  >die  Weltanschauung  des  Verfassers  nicht  teilte 

Unter  dem  Titel  »Ein  Buch  der  Sprüche«  ver- 
öffentlicht Karl  Bleibtreu  einen  längeren  Aufsatz  in 
der  , Münchener  Allgemeinen  Zeitung'.  Den 
größeren  Teil  dieser  Besprechung  bilden  die  zahlreichen 
gutgewählten  Zitate  aus  dem  Werk,  deren  Glossierung 
indes  manchen  Hinweis  enthält,  der  über  die  bloß 
lobenden  Anmerkungen  hinausgeht:  »In  der  Aus- 
legung des  Weibes  als  Hetäre  steckt  eine  verkappte 
Mystik. c  Oder:  »Die  Verdammung  der  Oper  und 
Ehrenrettung  der  Operette  klingt  barock,  doch  liegt 
ein  tiefer  Sinn  in  diesem  nicht  kindischen  Spiele.« 
Die  Einleitung  des  Essays  lautet : 

Seit  Larochefoucauld  seine  berühmten  Maximen  auftischte,  erfreut 
sich  dies  pikante  Dessert  im  Gastmahl  der  Literatur  einer  gewissen  Be- 
liebtheit bei  geistigen  Oourmets.  Schriftsteller  mit  epigrammatischer 
Neigung  wie  Renan,  Stendhal,  Taine  streuen  Aphorismen  in  ihre  Werke 
ein,  unser  alter  Lichtenberg  stellte  seine  Spruchweisheit  auch  nicht  unter 
den  Scheffel,  und  neuerdings  übte  Nietzsche  mit  Kunst  und  Kraft  diese 
Sprachfeinheit,  vieles  in  wenige  Zeilen  zusammenzupassen.  Soeben  legt 
uns  der  bekannte  Wiener  Stilist  Karl  Kraus  eine  solche  Gabe  vor, 
deren  sehr  verschiedenartige  Blüten  er  zu  einem  Strauß  unter  dem  Titel 
»Sprüche  und  Widersprüche«  zusammenbindet.  Wie  Nietzsche,  der  als 
Pole  sich  ohnehin  zum  Französischen  hingezogen  fühlte,  hat  Kraus,  als 
Wiener  natürlich  deutscher  Schwerfälligkeit  abgewandt,  von  den  Franzosen 
gelernt,  wie  man  den  Esprit  schleift,  bis  die  Bonmots  diamanlenhell 
funkeln.  Er  handhabt  sein  spitziges  Florett  mit  bewährter  Fechtmeister- 
Positur  und  läßt  die  Klinge  in  der  Sonne  blitzen,  kokette  Blutströpfchen 
daran  klebend,  wo  sein  Stich  etwas  tief  ins  faule  Fleisch  der  Vorurteile 
traf  und  heimliche  Wunden  öffnete.  Ja,  er  sticht  nach  französischer 
Fechterschule,  der  ehrliche  germanische  Hieb  verlangt  eine  andere 
Muskulatur,  aber  reißt  heilbarere  Schmisse  als  der  zarte,  scharfe  Florett- 
stoß, der  immer  edlere  Teile  verletzt.  Manchmal  sollen  solche  Klingen 
gar  Blutvergiftung  erzeugen,  und  wir  möchten  keinem  Unerfahrenen,  der 
sich  nicht  selber  eine  Siegfriedshaut  angeärgert  hat  und  mit  genügender 
Bandage  auf  die  geistige  Mensur  geht,  ein  Renkonter  mit  diesem  renom- 
mierten Raufer  anraten.  Kraus  fordert  sämtliche  heiligsten  Güter  der 
Menschheit  vor  seine  ruchlose  Ironie;  er  fordert  sein  Jahrhundert  in  die 
Schranken,  Arm    in   Arm    mit  Nietzsche,  Weininger    und  Wedekind,    er 


—  23 


fordert  den  großen  Moloch  der  Dummheit  auf  Feder  und  Tinte  —  eine 
Feder,  deren  Spitze  auch  durch  festgefügte  Rüstungen  dringt,  eine  Tinte, 
die  garstig  fleckt  und  manchen  Götzen  besudelt  mit  dauerhaften,  halt- 
baren Brandmalen.  Manchmal  prahlt  er  ein  bißchen:  So  lag  ich  und  so 
führt'  ich  meine  Klinge !  Aber  im  ganzen  ist  der  Ehre  Genüge  geschehen, 
er  hat  die  Beleidigungen  seiner  zarthäutigen  Psyche  durch  des  Lebens 
anrempelnde  Roheit  mit  Blut  abgewaschen,  dem  Herzblut  seiner  selbst- 
erlebten Sprüche  .... 

In  der  ,  Gegen  wart*  (38.  Jahrgang,  Nr.  19),  die 
in  Berlin  erscheint,  ist  der  folgende  Essay  von  Otto 
Stoessl  enthalten: 

Karl  Kraus  ist  Satiriker.  Aus  dieser  schöpferischen  Art,  auf  die 
Dinge  zu  antworten  —  denn  alle  Kunst  ist  Antwort,  während  alle 
Wissenschaft  nur  Frage  bleibt  — ,  aus  dieser  eigentümlichen,  in  der  Ver- 
neinung fruchtbaren  Beschaffenheit  des  Gemütes  und  Verstandes  gerät 
manche  besondere  Gestaltungsform.  Indes  der  Dichter  sonst  in  konkreter 
Darstellung  die  Erscheinungen  versammelt  und  irgend  das  Ganze  der 
Welt  umfaßt,  ist  der  satirischen  Betrachtung  eine  Zuspitzung  und  Ver- 
einzelung, eine  willkürliche  Auswahl  und  das  Auskosten  des  Augen- 
blickseindruckes eigen.  Sie  pickt  gleichsam  hurtig  die  Körnlein  auf.  Die 
Satire  ist  nicht  auf  Allseitigkeit,  sondern  voll  Trutz  und  Genügen  gerade 
auf  Einseitigkeit,  nicht  auf  die  Harmonie  der  Gesamtanschauung,  sondern' 
auf  jede  lebhafte  Dissonanz  und  auf  das  schlechthin  Singulare  bedacht. 
Hierin  ist  sie  einigermaßen  mit  dem  lyrischen  Gemütszustande  ver- 
wandt, der  ja  auch  aus  der  Besonderheit  des  ergriffenen  Gefühles  die 
Nötigung  seiner  Aussage  herleitet.  Aber  der  Lyriker  sagt  mit  dem  be- 
sondersten Ausdrucke  gerade  das  Allgemeinste  und  Typische  aufs  in- 
tensivste aus,  während  der  Satiriker  das  Besondere  und  Vereinzelte  auf 
eine  subjektiv  abschließende,  scheinbar  typische  Formel  bringt.  Er  ant- 
wortet auf  den  Reiz  nicht  lyrisch-gehorsam,  sondern  antithetisch  ab- 
wehrend. Es  ist  der  Charakter  der  Satire,  gegen  jeden  äußeren  Eindruck 
den  Stachelpanzer  des  Widerspruches  zu  kehren  und  dem  Anreiz  der 
Welt  sich  nicht  sowohl  hinzugeben,  als  ihn  in  der  Abwehr  zu  genießen. 
Die  Persönlichkeit  versteint  sich  gewissermaßen,  um  ihre  Funken  zu 
geben,  und  sie  versteint  die  Dinge,  um  ihnen  Funken  zu  entschlagen. 
Hierbei  verschiebt  sie  allerdings  die  Wertverhältnisse,  was  am  meisten 
zum  Mißverständnis  und  zur  falschen  Beurteilung  der  Satire  verleitet. 
Doch  sind  ja  die  Werte  niemals  absolute,  sondern  nur  geltende,  und 
weshalb  dürfte  der  Sprachkunst  verübelt  werden,  was  an  der  Griffel- 
kunst, an  der  Karrikatur  solches  Wohlgefallen  erregt:  die  Verkleinerung 
des  Übergroßen,  die  Vergrößerung  des  Kleinen  zum  Riesenschrecknis, 
macht  doch  jeder  Künstler  von  dem  Vorrecht  des  Menschen,  das  Maß 
aller  Dinge  zu  sein,  den  ausgiebigsten  Gebrauch. 

In  der  schlechthin  gestaltenden  Dichtung  wird  man  vorzüglich 
bei  der  Novelle  den  satirischen  Ursprung  in  dem  eigentümlichen  Zu- 
spitzen, Aus-  und  Umdeuten,  Entwerten  oder   Überwerten    des    Proble- 


—  24 


matischen  erkennen.  In  der  rein  geistigen,  abstrakt  kondensierenden 
Sprachschöpfung  aber  stellt  sich  die  Satire  so  recht  in  ihrem  Elemente 
dar.  Man  hüte  sich,  ihre  Geistigkeit  philosophisch  und  irgendwie  absolut 
zu  nehmen  ;  denn  sie  hegt  nicht  so  sehr  Liebe  zur  Weisheit  und  Er- 
kenntnis, als  zur  Welt,  zum  Worte,  zu  sich  selbst.  Und  dies  ist  der 
Sinn  aller  Kunst,  über  den  weiten  Weg  der  Welt  zu  sich  selbst  zu 
finden.  In  der  höchsten  Krystallisierungsform  solcher  Anschauung  und 
Aussage  wird  durch  einen  Vorgang  außerordentlicher  Verdichtung  und 
Vergeistigung  aus  der  Satire  —  der  Aphorismus.  Hier  ist  etwa  au 
Lichtenberg  zu  erinnern.  Auch  die  großen  französischen  Enthymematiker 
sind  im  Grunde  Satiriker.  So  gibt  Montaigne  der  ursprünglich  satiri- 
schen Skepsis  bei  aller  Spontaneität  durch  die  beharrliche  Breite  der 
Aussage  eine  epische  Erhöhung  ins  Monumentale.  Und  im  Erzähler- 
humor steckt  allenthalben  eine  gestaltend  aufgerundete  Satire. 

Kommen  wir  nun  auf  diese  Eigentümlichkeit  auch  der  Aphoris- 
men des  Karl  Kraus,  von  denen  hier  die  Rede  ist,  satirisch-widersetz- 
lich auf  den  äußeren  Anreiz  zu  antworten,  so  finden  wir,  daß  diesem 
Künstler  der  Sprache,  dem  >  Diener  am  Wort<  gerade  die  Sprache  selbst 
den  Anlaß  zur  Antwort  gibt.  Die  Gegenstände  der  Anschauung:  Mann 
und  Weib,  Moral,  Christentum,  Mensch  und  Nebenmensch,  Dummheit, 
Demokratie,  Intellektualismus,  Bücher,  Lesen,  Bildung,  Länder  und  Leute 
etc.  stellen  insgesamt  nur  ein  Medium  dar,  durch  welches  die  Sprache 
recht  als  deren  eigentliches  Licht  zum  Betrachter  dringt  und  dessen  er 
wieder  durch  die  Sprache  inne  wird  und  sich  entäußert.  Um  es  mit 
seinen  Worten  zu  sagen:  er  schafft  nicht  mit,  sondern   aus  der  Sprache. 

Das  Ausdemslegreifdenken  und  -Reden,  die  poetische  Art,  den 
Einfall  zu  pflücken  und  von  dem  Baum  der  Sprache  zu  schütteln,  macht 
die  Äußerungen  der  Skepsis  selbst  bei  ihrer  bittern  Widersetzlichkeit  so 
liebenswürdig.  Welch  anmutiges  Schauspiel,  gerade  bei  Karl  Kraus  zu 
beobachten,  wie  der  satirische  Humor  die  Sprache  gleichsam  aus  sich 
selbst  hervorlockt,  sie  anfeuert,  aus  alten  Worten  neues  Zeugnis  abzu- 
legen und  aus  einfach  gewohnten  Verbindungen  unerwartet  vielfältigen 
Inhalt  auszuschütten  I  So  faßt  er  etwa  das  Tempus  eines  Zeitworts  aufs 
Korn,  und  eine  neue  Einsicht  tritt  aus  der  willkürlichen  Abwandlung  hervor ; 
»Es  ist  nicht  wahr,  daß  man  ohne  eine  Frau  nicht  leben  kann.  Man  kann 
bloß  ohne  eine  Frau  nicht  gelebt  haben.«  Der  Wortwitz  wird  ein  künstleri- 
sches Ausdrucksmittel,  der  Kalauer  ein  Erlebnis  und  Abenteuer,  wenn  er 
zum  Beispiele  die  Banalität  der  sogenannten  »Verworfenen«  als  »Freuden- 
hausbackenheit«  bezeichnet  oder  einen  Satz  ausformt,  wie  ihn  nur 
Nestroy  vermocht  hätte:  »Der  verfluchte  Kerl,  rief  sie,  hat  mich  in 
gesegnete  Umstände  gebracht«  oder  »Wie  souverän  doch  ein  Dummkopf 
die  Zeit  behandelt!  Er  vertreibt  sie  oder  schlägt  sie  tot.  Und  sie  läßt 
sich  das  gefallen.  Denn  man  hat  noch  nie  gehört,  daß  die  Zeit  einen 
Dummkopf  vertrieben  oder  totgeschlagen  hat.« 

Was  n-in  die  Wahrheit  oder  Gültigkeit  der  Widersprüche  betrifft, 
so  muß  man  sich  ihren  durchaus  künstlerischen,  das  heißt  willkürlichen, 
höchst  persönlichen  Ursprung  vergegenwärtigen,  wenn  zuweilen  der 
Widerspruch    zum  Widerspruch    reizt.     »Ein  Aphorismus    braucht    nicht 


25 


wahr  zu  sein,  aber  er  soll  die  Wahrheit  überflügeln.  Er  muß  gleichsam 
mit  einem  Satz  über  sie  hinauskommen.  <  Gelegentlich  betont  Kraus 
denn  auch  den  Unterschied  zwischen  der  Vereinzelung  und  Launen- 
haftigkeit des  Denkens  und  der  gangbaren  Geselligkeit  der  >  Meinung«. 
Das  Erlebnis,  das  Lustgefühl  des  erkennenden  Augenblicks,  der  Genuß 
des  Ausdrucks  selbst  bestimmen  dessen  Wert,  wie  denn  der  Name 
>Aphorismus«  schon  die  Einschränkung  und  willkürliche  Abgrenzung 
kennzeichnet. 

Dies  ist  auch  ein  Grund,  weshalb  hier  nur  von  der  Form,  nicht 
vom  geistigen  Gesamtbilde  dieser  Aphorismen  gesprochen  wird.  Denn 
m  ihrer  improvisierten  Mannigfaltigkeit  liegt  ihre  Bedeutung,  die  man 
durch  ein  immer  unzulängliches  Zusammenfassen  weder  vergegenwärtigen, 
noch  vorwegnehmen  kann  oder  mag. 

Das  Sprichwort,  welches  gleichsam  das  typische  Volkserkennen 
ausdrückt,  wie  das  Volkslied  das  typische  Volksempfinden,  beruht  auf 
einer  großartigen  Verallgemeinerung  der  Erfahrung,  der  Aphorismus  auf 
einer  ebenso  eigenmächtigen  Vereinzelung,  wie  wenn  Kraus  zum  Beispiel 
einmal  ein  Sprichwort  umkehrt :  >Wer  andern  keine  Grube  gräbt,  fällt 
selbst  hinein.«  Der  Satiriker  und  Skeptiker,  beide  dasselbe  Ich,  das  sich 
aus  der  satirischen  Hitze  in  die  skeptische  Schattenkühle  gerettet,  be- 
zeugen immer  die  andere  Wahrheit,  den  Gegensinn,  das  Gegenwort. 
Auf  der  verhängnisvollen  Widersetzlichkeit  gegen  alle  Meinungs-  und 
Wahrheitskonvention  beruht  ihr  Pathos.  Der  Skeptiker  spürt  im  Wider- 
spruch alle  ursprünglichen  Elemente,  er  wittert  die  Formen  aus  den 
Formeln  und  lockt  wie  mit  einer  Wünschelrute  aus  dem  dichten  sozialen 
Gefüge  Freiheit  und  Willkür,  Haß  und  Sehnsucht  und  alle  Beweglichkeit 
der  Laune  hervor. 

Solcher  Laut  von  Hohn  und  Leid,  Einsamkeit  und  glühender 
Empfindungsweisheit,  von  Wortwollust  und  Sinnfülle,  eine  höchst 
musikalische  Verstimmung  klingt  aus  den  Aphorismen    von  Karl  Kraus. 

Unsere  Literatur  ist  gerade  an  Leistungen  dieser  Gattung  nicht 
eben  reich.  Lichtenberg  meistert  diese  Form,  aber  er  zieht  den  weit- 
wendigeren Aufsatz  vor.  Nietzsche  verwendet  sie  in  häufigem  dionysi- 
schem Pathos  zur  Lyrik  umgedeutet,  doch  nur  als  Glied  zum  Baue 
monumentaler  geistiger  Einheiten.  Um  seiner  selbst  willen  haben  nur 
die  Romanen  oder  vielmehr  nur  die  Franzosen  diesen  sublimen  Aus- 
druck eigenwilliger  Erfahrung  geliebt,  dein  ihre  Sprache  selbst  zärtlich 
entgegenzukommen  scheint,  die  Sinnliches  mit  solcher  Einfachheit  zu 
vergeistigen  weiß. 

Die  Aphorismen  von  Karl  Kraus  vermehren  unseren  künstleri- 
schen Besitz,  ein  höchst  persönliches  Vermögen  fließt  dem  angestammten 
Reichtum  zu.  Seine  Sätze  und  blitzenden  Gedankenverbindungen,  seine 
Wortschicksale  haben  die  sehnige  Kraft,  das  starke  Auge,  den  tigerhaften 
Ansprung  des  echten  aphoristischen  Ausdrucks,  die  bündige  Entschlossen- 
heit, alles  mit  einem  Worte  abzumachen,  die  tollkühne  Einbildung  und 
Eitelkeit,  dies  auch  zu  können,  kurz  den  weisen  Leichtsinn,  der  dieser 
satirischen  Gattung  eignet. 


26  - 


Reformen.*) 

Auf  allen  Lebensgebieten  macht  sich  das  unabweisliche  Be- 
dürfnis nach  Reformen  geltend.  Die  vollste  Zufriedenheit  mit  dem 
Bestehenden  läßt  dennoch  eine  Sehnsucht  unerfüllt:  den  Drang 
nach  einer  Reform.  Was  nützt  es,  daß  man  sich  auf  dem  Faulbett 
der  alten  Lebensweise  streckt,  als  könnte  kein  Weckruf  einer  neuen 
Zeit  das  Behagen  stören  —  eines  Tages  gefällt  uns  das  Muster  der 
Decke  nicht  und  wir  verlangen  eine  Reform.  Es  gibt  keine  Tugend 
die  nicht  einer  Reform  zugänglich  wäre;  kein  Laster,  das' 
nicht  durch  seine  ausgesprochene  Reformfähigkeit  auch  den 
Widersacher  versöhnte.  Im  Anfang  war  das  Nichts,  aber  am  Ende 
ist  die  Reform,  und  Gott  schuf  die  Welt,  damit  sie  die  Menschen 
reformierten,  Himmel  und  Erde.  Der  Reformhimmel  ist  kahl,  aber 
praktisch.  Er  ist  ohne  den  Luxus  des  Mittelalters,  aber  mit  allem 
Komfort  der  Neuzeit  eingerichtet,  und  wenn  nicht  die  Bäffchen 
wären,  nichts  würde  daran  erinnern,  daß  die  Bezugsquelle  der  hier 
vorrätigen  Dinge  die  Ewigkeit  ist.  Aber  hier  hat  der  reformwillige 
Geist  des  Menschen  sein  Werk  getan,  und  der  erfinderischesten 
Phantasie  wird  es  nicht  gelingen,  die  Nüchternheit  des  höheren 
Lebens  auszugestalten.  Unermeßlichen  Spielraum  bietet  ihr  dafür 
die  irdische  Welt.  Und  gerade  weil  der  Drang  nach  geistiger  Ein- 
kehr so  bald  reformiert  war,  darum  stellen  Wirtshäuser,  Kunststätten 
und  all  die  Bedürfnisanstalten,  die  der  Mensch  braucht,  um  schon 
hienieden  glücklich  zu  sein,  dem  Geist  der  Neuerung  an  jedem 
Tage  neue  Aufgaben.  Der  Himmel  ist  parzelliert  und  an  träge 
Pächter  vergeben,  und  es  berührt  beinahe  schmerzlich,  zu  sehen, 
wie  der  liebe  Gott  im  Ausgedinge  der  Entwicklung  sitzt.  Aber  auf 
Erden  hat  die  Reform  keine  Grenzen ;  die  Seele  ist  in  einem  Welt- 
warenhaus feil  und  der  Teufel  macht  seinen  Gelegenheitskauf. 

...  Im  Halbschlaf  aber,  wenn  wunderliche  Gesichte  uns  in 
ein  Leben  entrücken,  dessen  Willkürlichkeit  keine  Reformen  zuläßt, 
erlösen  wir  uns  von  dem  Fluch  des  betriebsamen  Tages.  Weh  dem, 
den  der  Alp  des  wachen  Erlebens  noch  bis  dorthin  verfolgt!  Weh, 
wer  die  Spur  irdischer  Eindrücke  in  seinen  Traum  hinübernimmt! 
Ich  sehe  jene  schreckhaften  Gestalten,  die  mit  Fingern  auf  uns 
zeigen,  wenn   wir   einschlafen,  auf  der  Straße,  und  die  Menschen, 

*)  Aus  dem  ,SImplicissimus'. 


-  27 


die  auf  der  Straße  mit  Fingern  auf  mich  zeigen,  umstehen  mein 
Bett.  Ich  kann  diese  und  jene  nicht  mehr  unterscheiden.  Und  es 
ist  allerorten  ein  Geräusch  der  Banalität,  und  die  große  Fliege 
summt  in  meinem  Zimmer  .  . . 

Was  fängt  die  Dummheit  mit  einer  Reform  an?  Wozu  dient 
ihr  die  Vereinfachung  des  Lebens?  Wenn  sie  sich  der  malerischen 
Hindernisse  begibt,  wird  sie  am  Ziel  vor  Langeweile  sterben. 
Darum  denke  ich  mir  die  Entwicklung  so:  Es  gibt  Rasierapparate, 
die  es  dem  Menschen  ermöglichen,  ein  glattes  Gesicht  zu  be- 
kommen, ohne  daß  es  von  fremder  Hand  betastet  wird.  Aber  da- 
bei geht  der  Mensch  der  geistigen  Anregung  verlustig,  die  ihm 
bis  zur  Einführung  des  Apparats  der  Raseur  geboten  hat.  Die 
meisten  Menschen  fühlen  sich  seit  dem  Ankauf  jener  Maschine 
aufs  Trockene  gesetzt.  Sie  erzählen  keine  Anekdoten  mehr,  sie 
äußern  keine  politische  Ansicht,  sie  wissen  nicht,  ob  schönes 
Wetter  ist,  sie  erfahren  nicht,  daß  der  Doktor  Meier,  der  dicke 
Herr,  der  sich  immer  den  Kopf  waschen  läßt,  geheiratet  hat 
kurzum,  sie  stehen  vor  dem  Spiegel,  setzen  den  Apparat  an  und 
haben  das  Gefühl  einer  inneren  Leere.  Sie  gehen  ein.  Wie  anders 
war  es  ehedem,  als  noch  die  individuelle  Methode  des  Rasierens 
auch  für  geistige  Abwechslung  sorgte!  Welch  ein  Anblick  wurde 
mir,  wenn  ich  einen  Friseurladen  betrat!  Da  beugte  sich  ein 
den  bessern  Ständen  angehöriger  Herr  über  die  Waschschüssel, 
schnob  und  pustete  vor  nassem  Behagen  und  hatte  doch 
noch  die  Geistesgegenwart,  die  Worte  hervorzubringen:  »Einen 
Bismarck  braucheten  wir  halt!«  Der  Friseurgehilfe,  an  den 
diese  Worte  gerichtet  waren,  stimmte  zu  und  begann  von  den 
Gewohnheiten  eines  österreichischen  Ministers,  den  zu  bedienen  er 
die  Ehre  hatte,  zu  erzählen.  >Was  S'  nicht  sagen!  Mit  Pomade?« 
versetzte  der  verblüffte  Gast,  und  so  gab  ein  Wort  das  andere, 
die  Friseurstube  war  erfüllt  von  den  Keimen  geistiger  Befruchtung, 
und  ein  einmütiges  Lachen  von  vier  Stühlen  zeigte,  daß  der 
Humor  es  war,  der  die  Brücke  schlug  zwischen  den  Klassengegen- 
sätzen. Die  Maschine  hat  mit  diesem  Glück  aufgeräumt  und 
mancher  gähnt  jetzt  vor  einem  Spiegel,  in  dem  er  nichts  sieht 
als  sein  eigenes  Gesicht.  Denn  die  Reform  ist  auf  halbem  Wege 
stehen  geblieben.  Nichts  aber  ist  der  Vervollkommnung  so  zugänglich 
wie  ein  Rasierapparat.    Warum  sollte  man   zögern,  ihn  mit  jener 


28  — 


letzten  Bequemlichkeit  auszustatten,  die  er  dem  Menschen  heute 
noch  vorenthält?  Ein  Rasierapparat,  der  nicht  zugleich  eine  Sprech- 
maschine ist,  taugt  nichts.  Ein  Druck  sollte  genügen,  damit  man 
alles  das  wieder  höre,  was  man  lange  genug  entbehrt  hat:  >Der 
Winter  nimmt  heuer  kein  Ende!«  »Jeder  hat  sein  Kreuz!«  »Haben 
Herr  Doktor  schon  gehört,  was  der  serbische  Kronprinz  wieder 
gemacht  hat?«  »Ich  kenn'  kein  Antisemitismus,  mir  sind  alle 
Kunden  gleich,  aber  auf'n  Lueger  lass'  i  nix  kommen!«  Und  die 
unentbehrlichen  Bemerkungen  fachlicher  Art.  Man  kann  sich  ja 
auch  mit  einem  Rasierapparat  in  die  Wange  schneiden.  Da  sagt 
er  sofort:  »Nur  ausg'sprengt,  Herr  von  Kohn!«  »Nur  a  Haarl, 
Herr  von  Swoboda!«  Und  zu  Beginn  der  Prozedur  würde  er 
sagen:  »Herr  Doktor  kommen  gleich  dran  —  !«  Und  am  Ende 
müßte  er  garz  laut  den  Namen  des  Rasierten  rufen,  damit  dieser 
ihn  nur  ja  nicht  vergißt,  und  müßte  ihm  eine  ganze  Ladung  von 
»Mein  Kompliment«,  »Habe  die  Ehre«,  »Untertänigster  Diener«, 
»Gut'n  Abend«,  »Empfehl'  mich«,  »Beehren  uns  bald  wieder!« 
nachsenden  .  .  .  Aber  er  schweigt. 

In  Berlin  werden  Reformglücksehen  geschlossen,  und  der 
Vegetarismus  in  Kunst  und  Liebe  hat  die  Reformbühne  und 
das  Reformkleid  durchgesetzt.  Die  Devise  eines  vereinfachten 
Lebens  lautet:  Ein  Qriff  —  ein  Bett!  Aber  es  wird  notwendig 
sein,  durch  entsprechende  Reformen  dafür  zu  sorgen,  daß  der 
erneuerten  Außenseite  der  alte  Gefühlsinhalt  nicht  verloren  gehe. 
Ein  Automat  kann  Tränen  vergießen,  aber  was  nützt  es,  wenn  er 
keine  Schmerzen  spürt?  Die  Menschheit  ahnt,  daß  der  Reformeifer 
vor  einem  Hindernis  angelangt  ist,  über  das  er  nicht  hinweg  kann. 
Die  Reformen  entsprangen  Bedürfnissen,  aber  sie  haben  auch 
Bedürfnisse  geweckt,  die  nicht  befriedigt  werden  können.  Darum 
kündigt  sich  da  und  dort  schon  eine  Reform  nach  rückwärts  an. 
Das  Überflüssige  wird  schmerzlieh  vermißt,  und  da  es  nicht 
maschinell  erzeugt  werden  kann,  wird  es  auf  natürlichem  Wege 
gesucht.  Die  wichtigste  Neuerung,  die  die  moderne  Zeit  im 
irdischen  Leben  angebahnt  hat,  war  eine  Reform  an  Haupt  und 
Gliedern.  Die  Männer  nahmen  sich  den  Bart  und  die  Weiber  den 
Busen.  Man  hatte  den  aufdringlich  malerischen  Charakter  der 
Geschlechtsmerkmale  erkannt  und  sie  abgeschafft.  Was  war  die  Folge? 
Die  Weiber  vermißten  die  Barte  und  die  Männer  die  Busen.  Zwei 


29 


Nachrichten  verraten  nun,  daß  ein  Rückschlag  für  die  nächste  Zeit  zu 
erwarten  ist.  Bezeichnenderweise  ist  es  die  Politik,  die  ihn  be- 
fürwortet. Die  Wiedereinführung  der  Barte  ist  zur  demokratischen 
Forderung  erhoben  worden,  und  die  Wiedereinführung  der  Busen 
zur  Parole  der  Anarchie.  Das  klingt  unglaubhaft,  aber  die  beiden 
Nachrichten  sind  authentisch.  Aus  Paris  wird  gemeldet,  daß  die 
gesamte  Dienerschaft  des  Elyseepalastes  mit  dem  Streik  drohe,  wenn 
ihr  nicht  das  Menschenrecht  zuerkannt  würde,  nach  Belieben  Schnurr-, 
Backen- und  Vollbärteza  tragen.  Der  Majordomus  überreichte  dem  Prä- 
sidenten der  Republik  eine  Petition,  die  von  allen  Kammerdienern, 
Türstehern,  Lakaien,  Köchen,  Kutschern  und  Stallpagen  unter- 
schrieben und  in  der  gesagt  war,  daß  >in  einer  Demokratie, 
welche  von  den  Söhnen  der  Revolution  begründet  wurde,  niemand 
das  Recht  habe,  seinem  Mitmenschen  ein  Merkmal  der  Knechtschaft 
aufzudrücken <.  Der  Präsident  sei,  so  heißt  es,  in  größter  Verlegen- 
heit. Im  Konflikt  zwischen  dem  Hausgesetz,  nach  welchem  »jeder 
Dienende  die  Oberlippe  rasiert  zu  tragen  hat«,  und  den  Menschen- 
rechten, die  eine  Guillotine  für  Barte  nicht  kennen,  ist  die  Ent- 
scheidung nicht  zweifelhaft.  Denn  die  Dienerschaft  hat  sich  an  den 
Arbeitsminister  gewendet,  nicht  nur  im  Vertrauen  auf  seine  demo- 
kratische Überzeugung,  sondern  auch  im  Hinblick  auf  seinen  Voll- 
bart .  . .  Während  aber  der  Präsident  noch  zögert,  ist  in  der 
Schweiz  eine  verdächtige  Frauensperson  angehalten  worden,  die 
durch  einen  vorschriftswidrigen  Busen  das  Bedenken  der  Behörden 
erregt  hatte.  Und  richtig,  der  Griff  eines  Polizisten  genügte,  um 
zu  entdecken,  daß  der  Busen  mit  Dynamit  gefüllt  war!  Man  sieht, 
die  Frauenbewegung,  die  erkannt  hat,  daß  die  Allesgleichmacherei 
nicht  genüge,  um  dem  weiblichen  Geschlecht  zu  politischer  Aner- 
kennung zu  verhelfen,  versucht  jetzt  das  andere  Extrem.  Aber  sie 
hüte  sich  vor  Übertreibungen!  Sonst  verfehlt  sie  ihr  Ziel,  eine 
Gesellschaftsordnung,  die  den  Weibern  statt  des  Stimmrechts 
Umarmungen  gewähren  will,  in  die  Luft  zu  sprengen. 

Karl  Kraus. 


—  30  — 

Glossen. 

Die  Königin  von  Holland  hat  die  Korrespondenten  der 
täglich  zweimal  erscheinenden  Wochenblätter  diesmal  nicht  ent- 
täuscht. In  anderen  Staaten  hätte  man  Vertreter  der  Presse  ohne- 
dies nicht  so  lange  antichambrieren  lassen  und  sich  ein  wenig 
gesputet.  Aber  ein  Lieblingswunsch  der  Journalistik  ist  erfüllt  und  es 
wäre  undankbar,  wenn  sie  der  an  dem  Ereignis  immerhin 
beteiligten  Königin  von  Holland  heute  einen  Vorwurf  daraus 
machen  wollte,  daß  es  für  das  Abendblatt  geschah.  Schließlich 
wäre  ja  die  Presse  auch  bei  einer  Erwartung  auf  ihre  Kosten  ge- 
kommen, der  überhaupt  keine  Erfüllung  auf  dem  Fuße  folgt.  Für  die 
journalistische  Psyche  ist  es  aber  bezeichnend,  daß  sie  zuerst  An- 
sprüche stellt  und  sich  hinterdrein  darüber  lustig  macht.  Jene  er- 
fahrenste Hebamme  Europas,  die  überall  ihre  Hand  im  Spiele  hat,  die 
beste  Abtreiberin  an  der  geistigen  Entwicklung,  die  ,Neue  Freie 
Presse',  läßt  sich  von  Herrn  Paul  Lindau  vorjammern,  wie  toll  es  zu- 
gegangen sei.  >Qottlob,  daß  es  nun  mit  den  unaufhörlichen 
Bulletins  aus  der  Wochenstube  im  Haag  aufhören  wird!  Es  war 
wirklich  unerträglich  geworden,  unerträglich  bis  zum  Ekelerregen  . . . 
Aus  aller  Herren  Ländern  sind  die  Spezialberichterstatter  da  zu- 
sammengelaufen, haben  Ohren  und  Bleistift  gespitzt,  um  jeden 
erhofften  Klagelaut,  der  durch  eine  Türspalte  aus  dem  geheimen 
Gemache  der  jungen  Königin  etwa  dringen  mochte,  zu  erlauschen, 
um  jeden  Schritt,  den  sie  tat,  in  symptomatischer  Deutung  zu 
beschreiben  und  sofort  durch  Telegraph  und  Telephon  und  alle 
Teufelskünste  des  modernen  Journalismus  in  die  Welt  hinaus  zu 
posaunen. <  Und  das  muß  sich  die  ,Neue  Freie  Presse',  die  ihre 
Spezialisten  mit  scharfer  Ordre  nach  den  Niederkunftlanden  ge- 
schickt hatte,  in  ihrem  eigenen  Hause  sagen  lassen!  Kein  Blatt  hat 
es  ärger  getrieben  und  keines  wäre  imstande,  mit  so  vollendeter 
Schamlosigkeit  das  System  zu  verleugnen  und  so  zu  tun,  als 
ob  es  nicht  wüßte,  wie  die  Königskinder  auf  die  Welt  kommen. 
»Jedes  größere  Blatt«,  sagt  Herr  Lindau,  »schien  es  als  seine  Auf- 
gabe und  seine  Pflicht  den  Lesern  gegenüber  zu  betrachten, 
seinen  eigenen  Wochenstubenkorrespondenten  zu  halten.«  Ist 
vielleicht  nur  jedes  Blatt  gemeint,  das  größer  ist  als  die  ,Neue 
Freie  Presse'?  »Die  öffentlichen  Organe,  vor  denen  ich  als  alter 
Zeitungsmann  einen  durch  die  Jahre  selbstverständlich  nur  erstarkten 


-  31  — 

Respekt  besitze«,  sagt  Herr  Lindau,  »haben  es  denn  auch 
richtig  dahin  gebracht,  daß  sich  das  Interesse  der  eifrigen  Leser 
gleichermaßen  auf  die  Abdankung  des  Sultans,  das  Giraffenbaby 
im  Zoologischen  Garten  und  die  bevorstehende  Niederkunft  der 
jungen  Königin  verteilte.«  Wenn  der  Respekt  des  Herrn  Lindau  vor 
der  Presse,  der  er  die  größten  Roheitsverbrechen  des  Geistes  nachsagt, 
durch  die  Jahre  gewachsen  ist,  dann  ist  es  klar,  daß  ich  ihr  mit 
meiner  Respektlosigkeit,  die  durch  die  Jahre  nicht  geringer  wurde,  un- 
recht tue.  Ich  ziehe  sie  zurück  und  übertrage  sie  auf  Herrn  Lindau. 

* 
Die  Zeitungen  melden: 

Eine  in  den  letzten  Tagen  erflossene  gewerberechtlich  sehr 
wichtige  Entscheidung  spricht  den  Grundsatz  aus,  daß  das  Privatleben 
der  weiblichen  Handelsangestellten  nicht  als  Entlassungsgrund  heran- 
gezogen werden  kann.  Eine  als  »Geschäftsleiterin«  angestellt  gewesene 
junge  Dame  klagt  ihren  Chef  auf  Zahlung  des  Gehaltes  für  die  nicht 
eingehaltene  Kündigungsfrist  und  auf  Rückzahlung  der  von  ihr  geleisteten 
Kaution  von  800  Kronen.  Der  Beklagte  führte  als  Entlassungsgrund  den 
»unmoralischen  Lebenswandel«  seiner  Angestellten  an.  Er  habe  in  Er- 
fahrung gebracht,  daß  nicht  ihr  Stiefbruder,  wie  das  Fräulein  ihm  mit- 
geteilt hatte,  sondern  ihr  Bräutigam  ihr  geholfen  hatte,  die  Kaution  zu 
stellen.  Sie  wohne  mit  ihrem  Verlobten  zusammen  und  gebe  sich  als 
seine  Wirtschafterin  aus.  Wenn  er  diese  Verhältnisse  früher  gekannt 
hätte,  würde  er  das  Fräulein  nie  angestellt  haben.  Als  er  diese  Tat- 
sachen erfuhr,  habe  er  sich  zur  sofortigen  Entlassung  berechtigt  geglaubt, 
denn  er  könne  als  Chef  ein  solches  unmoralisches  Leben  nicht  dulden. 
Er  weigerte  sich,  die  Kaution  herauszugeben,  weil  sie  in  einem  Wechsel 
angelegt  sei,  der  erst  am  1.  August  dieses  Jahres  fällig  werde.  Dem 
Klagebegehren  wurde  jedoch  Folge  gegeben  und  in  der  Begründung  die 
Ansicht  ausgesprochen,  daß  ein  Chef  nicht  in  das  Privatleben  seiner 
Angestellten  hineinleuchten  dürfe,  um  etwa  dort  vorhandene  Mängel  als 
Entlassungsgrund  auszunutzen.  Eine  Schädigung  des  Geschäftsinteresses 
durch  das  angeblich  unmoralische  Leben  der  Klägerin  hielt  das  Gericht 
nicht  für  vorliegend.  Der  Klägerin  wurden  im  Urteil  zwei  Monate  Rest- 
gehalt und  die  Auszahlung  der  Kaution  gegen  Austausch  des  Wechsels 
zugesprochen.  Der  Wechsel  sei  unter  der  selbstverständlichen  Voraus- 
setzung gegeben,  daß  das  Dienstverhältnis  nicht  vor  dem  Fälligkeits- 
termin gelöst  werden  würde.  Deshalb  sei  die  Kaution  nach  der  Ent- 
lassung sofort  zurückzuzahlen. 

Diese  Entscheidung  wird  das  Kraut  einer  moralvegetarischen 
Welt  nicht  fett  machen;  sie  stärkt  bloß  den  Glauben  an  die  Er- 
ziehungsfähigkeit von  ein  paar  Gerichtssekretären.  Die  Landes- 
gerichtsräte sind  anders.  Und  ganz  anders  sind  die  Zeitungen, 
die  zwar  als  festgestellt  hinnehmen,  »das  Privatleben  der  weiblichen 


—  32 


Handelsangestellten«  sei  »kein  Entlassungsgeld«,  aber  deren  Fein- 
gefühl auch  den  Chef  schützt.  Es  mag  Überwindung  gekostet 
haben,  den  Namen  des  Mädchens  nicht  zu  nennen.  Aber  man 
hätte  dann  eben  auch  den  Kerl  nennen  müssen,  der  sich  vermisst, 
Kaution  für  dh  Moral  zu  übernehmen  und  der  Unmoral  die 
Kaution  vorzuenthalten. 

• 

Der  als  Zeuge  in  Erpresserprozessen  bekannte  Herr  Stukart, 
dem  es  neuestens  die  Wucherer  hoch  anrechnen,  daß  er  einem 
der  ihren  keinen  Steckbrief  nachgesendet  hat,  ist  durch  einen 
glücklichen  Zufall  auch  lieb  Kind  bei  der  Berliner  Presse  geworden. 
Er  hatte  in  Berlin  im  Mordprozeß  Henckel  zu  tun  und  nahm  so- 
fort die  Gelegenheit  wahr,  die  dortigen  polizeilichen  und  jour- 
nalistischen Verhältnisse  zu  studieren.  Das  Resultat  dieser  Studien 
ist  die  Absicht,  »die  Einrichtung  der  Polizeihunde  auch  in  Wien 
einzuführen«.  Diese  Absicht  verriet  Herr  Stukart  dem  Mitarbeiter 
eines  Berliner  Blattes,  dem  er  versicherte,  daß  er  von  den  Ein- 
richtungen der  dortigen  Polizei  »geradezu  überwältigt«  sei.  Da 
die  Wiener  Wucherer  nicht  so  leicht  zu  überwältigen  sind,  wie 
die  Wiener  Polizeiräte,  so  bleibt  abzuwarten,  ob  uns  die  Berliner 
Erfahrungen  des  Herrn  Stukart  etwas  nützen  werden.  Er  hat 
in  Berlin  überhaupt  nur  eines  vermißt:  die  Hausmeister.  »Die 
Parteien  und  die  Zimmerherren  können  tun,  was  sie  wollen,  ohne 
daß  es  auch  nur  die  geringste  Kontrolle  gibt.«  Das  ist  nur  zu 
wahr.  Diese  Sorten  von  Individualitäten,  die  vor  jedermanns  Tür 
kehren,  aber  die  Treppen  versauen  lassen,  kennt  man  in  Berlin 
nicht,  wo  die  Leute  bei  Tag  ohne  Leumund  und  bei  Nacht  ohne 
Sperrsechserl  leben.  In  Wien  aber  sieht  man  es  jedem  Menschen 
sofo't  an,  ob  er  Partei  oder  Zimmerherr  ist,  jeder  Schritt,  den  man 
tut,  wird  bewacht  und,  wenn  man  nicht  zwischen  seinen  vier  Wän- 
den wuchern  dürfte,  es  gäbe  überhaupt  kein  Privatvergnügen,  das 
der  behördlichen  Kenntnis  entzogen  bliebe.  Daß  den  Hausmeistern 
eine  Einschränkung  des  Oeschlechtsverkehrs  zu  verdanken  ist, 
unterliegt  keinem  Zweifel.  Die  Statistik  der  Morde  bleibt  von 
ihrer  Wachsamkeit  unberührt,  und  so  oft  einer  in  Wien  geschieht, 
will  es  noch  das  Unglück,  daß  der  Mörder  in  Berlin  verhaftet 
wird.  Wenn  Hf.rr  Stukart  dem  Berliner  Interviewer  versichert,  der 
Kriminalkommissär    Hoppe   sei     »ein    überaus    zuvorkommender 


33  - 

Mann<,  so  klingt  ein  bitterer  Ton  in  dieser  Anerkennung.  Ob  die 
Polizeihunde  helfen  werden  ?  Ihr  Bellen  wird  ja  eine  gewisse  Reklame 
für  den  Chef  des  Sicherheitsbureaus  sein.  Aber  wenn  sie  —  nach 
einem  Witz  des  ,Simplicissimus'  —  nicht  den  Mördern  zulaufen 
werden,  so  werden  sie  jedenfalls  den  Wucherern  aus  der  Hand 
fressen  und  höchstens  einmal,  wenn  einer  von  ihnen  >Such's 
Herrl !«  sagt,    Herrn  Stukart  an  die  Wade  fahren. 

* 
Die  ,Neue  Freie  Presse'  war  jetzt  durch  einige  Wochen  der 
Ansicht,  daß  mit  Sonnenthal  nicht  so  sehr  der  kultivierteste 
Schauspieler  als  der  Vater  eines  Börsensensals  der  deutschen 
Kunst  verloren  sei.  Leben  und  Sterben  des  Künstlers  waren  in 
eine  Stimmung  getaucht,  in  der  die  Fortsetzung  der  Weimarer 
Tradition  als  eine  der  höchsten  Aufgaben  des  Vereines  für  jüdische 
Altertümer  erschien  und  die  Dioskuren  Stiaßny  und  Stern  als  die 
Hüter  jenes  Ideals  hervortraten,  zu  dem  Schönheit  und  Wahrheit 
in  der  Kunst  verschmelzen  u.  s.  w.  Welche  Infamie  gegen  das 
hochwertige  Künstlertum  des  Toten  —  diese  wochenlange  Auslas- 
sung von  humanitärem  Schmalz,  aus  dem  man  seine  Glanzrollen 
herausbacken  wollte!  Weil  aber  von  den  drei  Ringen  des  Nathan 
der  Schottenring  schließlich  doch  der  wichtigste  ist,  so  ließ  man 
den  Kaiser  bei  der  Audienz  der  Söhne  Sonnenthals  die  teilnahms- 
volle Frage  stellen:   >Sie  haben  jetzt  wohl  sehr  aufgeregte  Zeiten 

an  der  Börse  gehabt  ?< 

*  * 

* 

Herr  Hofrat  Minor,  der  Mann,  der  die  Literaturgeschichte 
macht  und  dessen  Vorlesungen  ich  eine  Abneigung  gegen 
den  »Schüller«  und  den  Goethe  verdanke,  die  diese  wahrscheinlich 
gar  nicht  verdienen,  mit  einem  Worte  ein  Germanist,  schreibt  in 
der  »Österreichischen  Rundschau'  den  folgenden  Satz: 

»Ungewarnt  und  unvorbereitet,  ein  Blitz  aus  heiterem  Himmel, 
so  ist  uns  heute,  im  Augenblick,  wo  diese  Blätter  in  den  Druck  gehen 
sollen,  die  Nachricht  von  dem  Tode  Sonnenthals  gekommen,  der 
während  eines  Gastspieles  in  Prag  einem  Schlaganfall  erlegen  ist.  Jäher, 
als  man  bei  seiner  zähen,  schier  unverwüstlichen  Lebenskraft  hätte  ver- 
muten dürfen,  ist  der  Tod  an  ihn  herangetreten  ...» 

Man  hätte  die  Blätter  in  den  Druck  gehen  lassen  sollen; 
denn  wenn  sie  auch  niemand  liest,  so  ungewarnt  und  unvorbereitet 
darf  kein  Germanist  einen  Aufsatz  in  deutscher  Sprache  ver- 
öffentlichen.   Es  ist  klar,  daß  er  sagen  will,    die  Nachricht    vom 


34 


Tode  Sonnenthals  sei  unvorbereitet  und  der  Blitz  ungewarnt 
gewesen.  Unverständlich  ist  aber,  wie  der  Tod  jäher,  als  man  bei 
seiner  zähen  und  schier  unverwüstlichen  Lebenskraft  vermuten 
durfte,  an  einen  Menschen  herantreten  kann.  Warum  zerstört  Herr 
Minor  den  feinen  Gedanken,  den  er  offenbar  gestalten  will:  daß 
der  Tod  eine  unverwüstliche  Lebenskraft  hat?  Aber  so  sind  die 
Qermanisten.  Es  ist  das  erstemal,  daß  einer   einen  Gedanken  hat, 

und  da  läßt  er  ihn  nicht  aufkommen. 

•  * 
* 

Zwischen  Herrn  Maximilian  Harden,  der  soeben  nach  Wien 
gekommen  ist,  um  das  deutsch-österreichische  Bündnis  zu  festigen, 
und  dem  Berliner  Vertreter  des  ,Neuen  Wiener  Journals'  hatte  eine 
Entrevue  stattgefunden : 

»Dann  wandte  sich  unser  Gespräch  anderen  Dingen  zu.  Wir 
unterhielten  uns  über  Berliner  und  Wiener  Zeitungsverhältnisse  und  über 
die  Entwicklung  unseres  Blattes  im  besondern.  Leider  verbietet  es  mir 
meine  Bescheidenheit,  mitzuteilen,  wie  Harden  sich  über  das  ,Neue 
Wiener  Journal'  äußerte,  das  er  sehr  genau  kennt.  Es  könnte  wie 
Reklamesucht  aussehen.« 

Ja,  ja,  da  mögen  Worte  gefallen  sein,  die  beiden  Teilen 
zur  Ehre  gereichen. 

»Ich  entsinne  mich  eines  philosophischen  Essays,  in  dem 
der  Verfasser  die  großen  Geister  in  ,Sucher'  und  ,  Priester'  ein- 
teilt«, so  schreibt  Herr  Seligmann  in  der  .Neuen  Freien  Presse'. 
Es  ist  nicht  notwendig,  daß  sich  Herr  Seligmann  eines  Essays 
entsinnt,  der  in  der  ,Fackel'  veröffentlicht  war.  Wenn  ihm  aber 
schon  das  Malheur  passierte,  so  hätte  er  wenigstens  die  Anständig- 
keit haben  sollen,  den  Autor  des  Essays,  Otto  Weininger,  zu 
nennen.  Daß  die  Schmarotzer  am  Erbe  Weiningers  sich  im 
Literaturteil  der  ,Neuen  Freien  Presse'  breitmachen  dürfen,  ist  arg 
genug.  Da  man  sich  aber  dort  auch  um  den  Namen  eines  Toten 
herumdrückt,  wenn  sein  Werk  ausnahmsweise  genannt  wird,  so  ist 
eine  neue  Einteilung  der  Geister  ermöglicht.  »Sucher  und  Priester« 
will   Herr   Seligmann    durch    »Erneuerer  und   Bewahrer«    ersetzt 

wissen.  Ich  schlage  »Diebe  und  Hehler«  vor. 

*  * 
* 

Im  Phonogrammarchiv  der  Akademie  der  Wissenschaften 
sind  nun  für  alle  Zeiten  die  Stimmen   unserer  bedeutendsten  Per- 


—  35  — 


sönlichkeiten  verewigt.  Jede  hat  sich  selbst  ihr  Denkmal  gesprochen 
und  den  Motivenbericht  dazu.  Da  ist  zum  Beispiel  der  Minister  a.  D. 
Gustav  Marchet.  Wird  es  nicht-  unsere  Urenkel  im  Tiefsten  er- 
schüttern, wenn  sie  wie  einen  Klang  aus  der  Ewigkeit  die  Stimme 
hören,  die  da  spricht:  »Während  meiner  Tätigkeit  im  öffentlichen 
Leben,  insbesondere  seit  meiner  im  Jahre  1891  erfolgten  Wahl  ins 
Abgeordnetenhaus  des  Reichsrates,  waren  es  besonders  drei  An- 
gelegenheiten, denen  ich  einen  großen  Teil  meiner  Arbeitskraft 
widmete.  Zunächst  wurde  ich  durch  die  Notlage,  in  welche  das 
Auftreten  der  Reblaus  eine  bedeutende  Gruppe  meiner  Wähler- 
schaft versetzt  hat .  .  .<  Hier  beginnt  der  Apparat  ein  wenig  zu 
kreischen  und  man  hört  nur  mehr  die  Worte:  »Sie  bilden  im  Verein 
mit  dem  ebenfalls  durch  mich  bis  zur  Gesetzeswerdung  geführten 
Antrage  auf  Erlassung  eines  Kunstwein gesetzes  die  Grundlage  .  . . 
Während  letztere  .  . .  wurde  erstere,  für  welche  zunächst  der  nach- 
malige Handelsminister  Forscht .  .  .<  Forscht .  .  .  Forscht  .  .  .  der 
Apparat  kreischt  wieder,  und  um  die  weihevolle  Stimmung  nicht 
zu  gefährden,  wird  eine  andere  Walze  eingelegt,  nachdem  den 
Aufhorchenden  noch  gesagt  worden  ist,  daß  der  Mann,  der  jene 
Worte  gesprochen  hat,  österreichischer  Unterrichtsminister  war. 
Man  hatte  ihn  nämlich  bloß  von  der  Bekämpfung  der  Reb- 
laus und  nicht  auch  von  der  Reform  der  Mittelschule  sprechen 
gehört,  die  zum  Schluß  gekommen  wäre.  Eine  andere  Stimme 
macht  sich  vernehmlich.  Und  diese  wird  eine  besondere  Über- 
raschung für  die  kommenden  Geschlechter  sein.  Denn  nie- 
mand geringerer  als  Herr  Max  Kalbeck  ist  es,  der  in  Versen 
beteuert,  daß  er  der  Poesie  und  der  Musik,  »beiden  für  immer 
verbunden«  sei.  Ob  auch  beide  ihm  für  immer  verbunden  sind, 
werden  die  aufhorchenden  Enkel  schon  beiläufig  wissen.  Es  ist  nicht 
ausgeschlossen,  daß  die  Stimme  dieses  Künstlers  seine  Schöpfungen 
überdauert.  »Himmel  und  Erde«,  rief  Herr  Kalbeck  in  den  Apparat, 
»sie  wachsen  zusammen  im  tönenden  Wort.«  Hier  hat  er  aber 
leider  übersehen,  daß  unter  dem  Ausdruck  »zusammenwachsen«  in 
Wien  gerade  das  Gegenteil  von  einer  Harmonie  verstanden  wird, 
und  so  wird  man  nach  Jahrhunderten  vielleicht  mit  den  Dichtungen 
und  Kompositionen  des  Herrn  Kalbeck  die  Vorstellung  von  einem 
Unfrieden  in  der  Natur  verbinden.  Wie  diese  es  mit  den 
Schöpfungsakten  des  Malers  Hans  Temple  gehalten  hat,  wird  man 


36 


am  Ende  überhaupt  nicht  erfahren.  Er  sagt  bloß  von  sich  aus,  er 
sei  »entgegengesetzt  dem  Phonographen«  seit  jeher  »bemüht,  die 
bedeutendsten  Landsleute  seiner  Zeit,  die  in  Kunst  und  Wissen- 
schaft Hervorragendes  leisten,  der  Nachwelt  im  Bilde  zu  erhalten«. 
Die  Mühe  verdient  Anerkennung.  Wenn  die  Stimme  die  Bilder 
überlebt,  dann  wird  die  Nachwelt  wenigstens  etwas  von  Herrn 
Temple  wissen.  Wenn  aber,  was  Gott  verhüten  möge,  die  Schätze 
der  Akademie  der  Wissenschaften  etwa  der  Zerstörung  durch  Feindes- 
hand anheimfallen  sollten  und  in  Wien  bloß  die  Bilder  des  Herrn 
Temple  unversehrt  bleiben,  dann  werden  wir  nicht  wissen,  wie  die 
bedeutendsten  Landsleute  seiner  Zeit  ausgesehen  haben.  Darum 
lasset  uns  alle  in  den  Wunsch  einstimmen,  daß  uns  die  Akademie 
der  Wissenschaften  erhalten  bleibe,  die  es  so  gut  mit  der  Nach- 
welt meint. 

*  * 

* 

»Die  verhafteten  Erbschaftsschwindler  und  Urkundenfälscher 
Dr.  Stuart  Washington  und  James  Stafford  .  .  .«  schreibt  die 
Wiener  liberale  Presse  im  Verlaufe  der  Begebenheiten  und  verschweigt 
die  Tatsache,  daß  man  in  den  Vereinigten  Staaten  inzwischen 
beschlossen  hat,  den  ersten  Präsidenten  zur  Vermeidung  von 
Verwechslungen  fortan  Schlesinger  zu  nennen.  Da  sich  aber 
auch  die  Staffords  künftig  Schlesinger  nennen  wollen,  so 
werden  Verwechslungen  leider  doch  nicht  ganz  ausgeschlossen 
sein.  Freilich  kann  man  hoffen,  daß  sich  die  europäischen 
Schlesinger  gegen  die  Usurpationen  der  amerikanischen  Empor- 
kömmlinge verwahren  werden.  Im  allgemeinen  bin  ich  indes 
dafür,  daß  man  einem  Manne,  der  Washington  heißt,  es  ohne- 
weiters  erlaube,  sich  Schlesinger  zu  nennen,  während  ich  das 
Gegenteil  nur  gestatten  würde,  wenn  es  sich  um  eine 
Persönlichkeit  handelt,  bei  der  jeder  Verdacht  ausgeschlossen  ist, 
daß  sie  es  auf  die  Taschen  der  Nebenmenschen  abgesehen  habe. 
Denn  es  ist  doch  evident,  daß  man  einem  Schlesinger  manches 
zutraut,  wessen  man  einen  Washington  nicht  so  leicht 
für  fähig  hielte.  Einem  Theosophen,  der  Löwy  heißt,  soll 
man  nicht  wehren,  wenn  er  diesen  Namen  von  sich  abtun 
will;  dagegen  würde  ich  den  Behörden  zur  Vorsicht  raten,  ehe 
sie  Persönlichkeiten,  die  einen  ähnlichen  Namen,  aber  einen 
weniger     kontemplativen      Beruf    haben,     die     Namensänderung 


—  37  — 

gestatten.  Unbegreiflich  bleibt  jedenfalls,  daß  man  jenem 
Schlesinger  erlaubt  hat,  einen  Namen  anzunehmen,  der  nicht 
einmal  durch  den  Anfangsbuchstaben  eine  Brücke  zur  Vergangenheit 
offen  läßt.  Die  Folge  davon  ist,  daß  dieser  Washington  heute  auch 
sämtliche  Weinberger  kompromittiert.  Ob  sonst  in  Wien  ehemalige 
Präsidenten  der  Vereinigten  Staaten  leben,  müßte  jetzt  untersucht 
werden.  Viele  dürften  es  nicht  sein.  Wenn  man  den  Namen 
Morgenstern  ruft,  dreht  sich  kein  Monroe  um,  durch  die  Jahr- 
hundertfeier Lincolns  hat  sich  kein  Lippowitz  getroffen  gefühlt, 
Taylor  deckt  keinen  Theumann,  Fillmore  keinen  Feigl  und  Polk 
keinen  Pollak.  üarfield  muß  sich  keines  Geiringer  schämen  und 
Herr  Salo  Cohn  heißt  noch  immer  nicht  Cleveland.  Hayes  und 
Roosevelt?  Das  wäre  eher  möglich.  John  Quincy  Adams?  Ja, 
den  gibt's!  Und  wenn  uns  Amerika  unsern  Washington  verzeiht, 
jenen  wird  es  uns  nicht  verzeihen.  Denn  man  wird  zwar  nie 
erfahren,  wie  er  heißt,  aber  man  weiß  bereits,  was  er  ist.  Ein 
Modemaler ! 

Karl  Kraus. 


Zur  Dekade  der  »Fackel'. 

Das  Schweigen  in  der  liberalen  Runde  ist  gebrochen  worden 
und  so  dünn  die  Stimme  war,  sie  muß  kopiert  werden,  denn  sie 
spricht  in  typischer  Färbung  aus,  wie  die  spießbürgerliche  Intelligenz 
bei  äußerstem  Wohlwollen  zehn  Jahre  , Fackel'  ertragen  hat.  In  der 
,Wage'  schrieb  ein  Demokrat  den  folgenden  Artikel: 

Karl  Kraus  als  Jubilar. 

Wenn  einer  in  diesem  dunklen  Lande  zehn  Jahre  unentwegt  und 
unerschüttert  die  .Fackel'  voranträgt,  dann  hat  er  wohl  ein  Recht,  zu 
jubilieren,  selbst  dann,  wenn  diese  Fackel  mehr  brennt  als  leuchtet. 
Hätte  Karl  Kraus  sich  an  das  Lichtbedürfnis  der  Menschen  gewendet, 
dann  würde  er  kaum  mit  seinen  roten  Heften  ins  zweite  Jahrzehnt 
geschritten  sein.  Da  er  aber  der  Schadenfreude  und  Lästersucht  der 
Leute  entgegenkam,  ließen  sie  sich  von  ihm  auch  manche  Wahrheit 
sagen,  der  sie  sonst  beide  Ohren  verschlossen  hätten.  Karl  Kraus  ist 
nicht  der  Thersites,  für  den  ihn  seine  Opfer  halten,  und  nicht  der  Gott, 
ais  den  er  sich  in  seinem  eigenen  Blatte  von  seinem  Freunde  Scheu 
anräuchern  läßt.  Aber  er  hat  Götzen  vernichtet,  die  in  einem  gewissen 
Gesellschaftskreise     unbedingte    Verehrung    genossen,     und    das     muß 


88 


wenigstens  für  diese  Kreise  als  eine  Kulturtat  bezeichnet  werden.  Wenn 
heute  die  Kaffeehausjünglinge  und  Jourmädchen  nicht  mehr  so  kritiklos 
auf  die  Größe  eines  Moritz  Benedikt,  Julius  Bauer  oder  Maxfmilian 
Harden  schwören,  so  ist  das  sein  Werk.  Wem  es  nicht  paßt,  daß  man 
einen  Pamphletisten,  allerdings  vielleicht  den  talentvollsten  Phamphletisten, 
den  die  Deutschen  je  hatten,  als  eine  ernste  Kulturerscheinung  betrachte, 
der  darf  seinen  Vorwurf  nicht  uns,  sondern  muß  ihn  unserer  Kultur, 
insbesondere  der  Kultur  gewisser  verschmöckerter  und  snobistischer 
Wiener  Kreise  machen.  In  diesem  Sumpfterrain  sinkt  alles  rettungslos 
unter,  was  eigene  Schwere  hat,  nur  der  leichte  Spottvogel  schwebt  über 
demselben  und  schmettert  auf  die  Sumpfbewohner  seine  Bosheiten  herab. 
Als  die  römische  Gesellschaft  schon  in  vollster  Selbstzersetzung  be- 
griffen war,  gebar  sie  noch  einen  Großen,  Gewaltigen,  Juvenal.  Um  das 
Maß,  um  welches  das  dekadente  Wienertum  kleiner  ist,  als  selbst  das 
verfallende  Römertum,  um  dasselbe  Maß  bleibt  Kraus  hinter  Juvenal 
»  zurück.  Aber  einen  juvenalischen  Zug  wird  ihm  niemand  absprechen, 
der  sich  durch  seine  Geißelhiebe  nicht  selbst  getroffen  fühlt.  Er  ist  die 
literarische  Selbstverneinung  der  Kreise,  denen  er  durch  Geburt  und 
Umgang  angehört.  Wie  ihr  Blick,  so  reicht  auch  der  seine  über  den 
Bezirk  vom  Cafe  Griensteidl  zur  Fichtegasse  und  von  da  zum  Franz 
Josef-Kai  nicht  hinaus.  In  der  Kritik  dieser  großen  Welt  der  Kleinlich- 
keiten ist  er  wirklicher  Meister.  Wenn  er  diesen  Bezirk  überschreitet, 
versagt  seine  Kraft  und  Kunst.  Das  wahre  und  gesunde  Volk  kennt  er 
ebensowenig  wie  die  Preß-  und  Literaturgrößen,  die  er  demoliert  hat,  es 
kennen.  Ex  ossibus  ultor.  Er  ist  der  Todfeind,  den  sich  der  volks-  und 
lebensfremde  Snobismus  der  oberen  Zehntausend  selbst  gezüchtet  hat, 
ein  geistreicher  und  rücksichtsloser  Feind,  dessen  Bosheit  fast  bis  zur 
Größe  heranreicht.  Möge  er  nur  jubilieren  und  triumphieren.  Wo  er 
zerstört,  können  andere  vielleicht  einmal  bauen.  So  arbeitet  auch^r  mit 
am  Werke  der  Wiedergeburt  und  am  Kulturkampf,  desserr  Geschichte 
ihm  dereinst  gewiß  eine  dankbare  Erwähnung  njcht  versagen  wird. 

Das  ist  schließlich  mehr  als  von  einem  ehfenwerien  Mann 
und  tüchtigen  Versammlungsredner  zu  verlangen  war.  Weil  sein 
Blick  über  die  ersten  vier  Jahrgänge  der  .Fackel'  nicht  hinausreicht, 
so  ist  es  natürlich,  daß  er  sich  an  die  Grenze  meiner  Kraft  und 
Kunst  gestellt  fühlt.  Die  nämlich,  wie  ich  mir  fest  einbilde,  dort 
beginnen.  Es  ist  ja  durchaus  nicht  notwendig,  daß  der  ehren- 
werteste Mann  und  tüchtigste  Versammlungsredner  auch  nur 
eine  Silbe  von  dem  versteht,  was  in  >Sittlichkeit  und  Kriminalität« 
und  gar  in  >Sprüche  und  Widersprüche«  enthalten  ist.  Aber  wenn  er 
selbst  recht  hätte,  so  könnte  er  doch  unmöglich  sagen,  daß  der  Blick 
eines  »wirklichen  Meisters«  über  den  Bezirk  nicht  hinausreicht, 
dessen  Leben  er  gestaltet.  Wenn  ein  Meisterwerk  zustande  kommt 
so  muß  wohl  der  Blick  umso  weiter,  der  Standpunkt  umso  höher 


39 


sein,  je  kleiner  der  Stoff  ist,  und  eine  Ahnung  solchen  Verhältnisses 
liegt  ja  auch  in  dem  Zugeständnis,  das  von  einer  >großen  Welt 
der  Kleinlichkeiten«  spricht.  Da  behält  schon  der  Tadel  jenes  Brief- 
schreibers eher  recht,  den  ich  »in  der  Wahl  meiner  Stoffe«  (wir  sind 
nämlich  in  der  Schneiderei  des  Geistes)  an  eine  Stelle  aus  »Nana« 
erinnere:  »Die  schöne  Kokotte  wird  dort  mit  einer  glänzenden^ 
schillernden  Fliege  verglichen,  die  sich  immer  nur  auf  Dreck  setzt.« 
Er  ahnt  nicht,  wie  schmeichelhaft  er  in  ein  Leitmotiv  meines 
Denkens  einstimmt.  Statt  Zola  hätte  er  getrost  mich  selbst  zitieren 
können:  »Sinnlichkeit  des  Weibes  lebt  so  wenig  vom  Stoff  wie 
männliche  Künstlerschaft.  Je  lumpiger  der  Anlaß,  desto  größer 
die  Entfaltung.  Der  Geist  ist  an  kein  Standesvorurteil  gebunden 
und  die  Wollust  hat  Perspektive.«  Was  weiß  die  liberale  Kritik,^, 
davon!  Sie  erkennt  einen  großen  Horizont  nur  dort  an,  wo 
Bezirksgeister  mit  den  Plakatbegriffen  der  Politik  operieren. 
Sie  lobt  Tendenzen  und  sie  hebt  sich  das,  was  sie  nicht  ver- 
steht, für  ihren  Tadel  auf,  dessen  rein  mechanische  An- 
gliederung  schließlich  den  respektablen  Eindruck  der  »Objektivität« 
erzeugt.  Der  Effekt  ist,  daß  der  talentvollste  Pamphletist,  den  die 
Deutschen  je  hatten,  ein  Werk  für  Jourmädchen  verrichtet 
hat,  daß  ein  Juvenal  leider  beachtet  wird,  während  ein 
Freimaurer,  der  >eigene  Schwere  hat«,  versinkt,  und  daß 
ein  Autor,  dessen  Horizont  über  einen  Stadtbezirk  nicht  hinaus- 
reicht, von  der  Kulturgeschichte  dereinst  dankbar  erwähnt  werden 
wird.  Die  aparteste  Zusammenstellung  aber  ist  mein  Recht,  zu 
jubilieren  und  zu  triumphieren,  und  das  Unrecht,  das  ich  begehe, 
indem  ich  mich  »in  meinem  eigenen  Blatte«  von  meinem  Freunde 
Seh.  anräuchern  lasse.  Ich  hätte  eben  abwarten  sollen,  ob  die 
.Neue  Freie  Presse'  den  Essay  veröffentlichen  würde,  und  wenn  sie 
es  wider  Erwarten  nicht  getan  hätte,  so  wäre  gewiß  nichts  dagegen 
einzuwenden  gewesen,  daß  ich  am  Jubeltag  der  , Fackel'  in  meinem 
Schlafzimmer  herumhüpfe.  So  meinen's  die  Herren,  wenn  sie 
überhaupt  meinen  und  nicht  bloß  reden.  Dieser  Freund  Seh.,  den 
ich  zwei  Jahre  lang  nicht  gesehen  hitte,  ist  einer  der  wenigen 
Menschen,  die  es  anders  meinen.  Ich  habe  ihm  den  Essay  nicht 
diktiert.  Er  hat  mich  mit  seiner  Tat  überrascht;  nicht  mit  seiner 
Meinung,  nicht  mit  ihrem  Mut  und  Ausdruck,  die  auch  jenen 
gelallen  haben  müssen,'  denen  die  Meinung  nicht  gefallen  konnte. 


40  - 


Ich  bin  ihm  zu  so  tiefem  Dank  verpflichtet,  daß  die  Abweisung 
des  Verdachtes  einer  Kameraderie  im  üblen  Sinne  eine  Selbstver- 
ständlichkeit ist.  Aber  ich  bin  auch  Herrn  E.  V.  Zenker,  der» 
Verfasser  jener  Notiz  in  der  ,Wage',  herzlich  dankbar.  Er  will  mir 
sichtlich  wohl  und  ist  für  seine  Einwände  nicht  verantworlich  zu 
machen.  Er  ist  so  verständig  und  so  gerecht,  wie  ein  ehemaliger 
Redakteur  der  ,Neuen  Freien  Presse'   nur  sein  darf. 

Auch  jenen  Gratulanten  danke  ich,  denen  ich  nicht  be- 
sonders antworten  konnte.  Der  Brief,  der  mir  die  größte  Freude 
bereitet  hat,  sei  hier  veröffentlicht: 

Wien,  am   13.  April  1909. 

Gestatten  Sie  einem  einfachen  Arbeiter  gelegentlich  des  Ab- 
schlusses des  ersten  Jahrzehnts  des  Erscheinens  der  .Fackel'  seinen 
aufrichtigen  Dank  zum  Ausdruck  zu  bringen. 

Der  verstorbene  Wilhelm  Liebknecht  schrieb  einmal  irgendwo 
ungefähr  folgende  Worte:  »Der  Mensch,  der  gut  Deutsch  kann,  darf 
sich  rühmen,  daß  er  viel  gelernt  habe.«  Wenn  ich  als  simpler  Proletarier, 
der  keine  »gründliche  Bildung«  genossen  hat,  von  mir  sagen  darf,  daß 
mich  die  deutsche  Sprache  beherrscht,  dann  verdanke  ich 
dies,  neben  der  Lektüre  Liebknecht'scher  Schriften,  einer  achtjähiigen 
Lektüre  der  .Fackel'. 

Ich  vermute,  sehr  geehrter  Herr  Kraus,  daß  neunzig  von  hundert 
.Fackel'-Lesern  Ursache  haben,  Ihnen  aus  dem  gleichen  Grunde  zu  danken. 

Ergebenst 

W.  R. 

Wenn  ich  den  vollen  Namen  und  die  Adresse  des  Brief- 
schreibers bekanntgäbe,  der  Mann  würde  als  Brecher  des  geistigen 
Streiks  von  der  , Arbeiter-Zeitung'  festgenagelt  werden.  Was  aber 
sagen  ihre  Leute  zu  dem  Brief?  Sie  schwiegen  schon  in  den  Tagen, 
da  der  alte  Liebknecht  selbst  seinen  Namen  in  freundliche  Verbindung 
mit  der  , Fackel'  gebracht  hatte.  Liebknecht  hat,  wie  ich  den  Herren 
versichern  kann,  ihr  Schweigen  gewürdigt.  Die  ,Arbeiter-Zeitung' 
mag  auf  den  bildenden  Einfluß  stolz  sein,  den  ihrer  Schreibweise 
die  Fabrikanten  danken,  und  kann  im  übrigen  auf  die  entarteten 
Proletarier  verzichten.  Ihr  Schweigen  ist  berechtigt.  Wenn  es 
ihrer  Leitung  aber  noch  einmal  entgehen  sollte,  daß  mich  ein 
Hämling,  den  sie  in  ihre  Redaktion  aufgenommen  hat,  in  An- 
spielungen und  Anspeichelungen  verunglimpft,  dann  werde  ich  ihr 
beweisen,  wie  vernünftig  ihr  Vorsatz  war,  über  mich  zu  schweigen. 

K.  K. 

Herausgeber  nnd  verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Kraus. 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraß«  3. 


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KARL  KRAU^ 

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'ür  Österreich-Ungarn,  36  Nummern,  portofrei K  9.— 

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Für  Deutschland : 
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Inhalt  der  vorigen  Doppelnummer  277-278,  31.  März: 

Karl  Kraus.  Zum  zehnten  Jahrestage  des  Erscheinens  dei 
(1899-1909).  Von  Robert  Scheu.  -  Die  Memoiren    der  Odilon. 
Von  Karl   Kraus.    -  I  itkowskys.  -  Die  Verteilung 

der  Macht.  Von  Karl  Hauer.  -  Österreich -Serbien.  -  Der  farb- 
lose Krieg.  Von  Otto  Soyka.  —  Anakreontisches  Liede!.  Von 
Detlev  von  Liliencron.  -Jugendromaue.  Von  Otto  Stocssl.  - 
Tagebuch.  Von  Karl  Kraus.  —  Offener  Brief  an  den  Herausgeber 
der  , Fackel'.  Von    Karl  Borromaeus  Heinrich. 


In  Folge  der  zahlreichen  Bestellungen,  di 
auf  Grund  der  Ankündigung 

„Zehn  Jahre  Fackel" 

eingelaufen  sind,  können  wir,  da  der  Vor 
rat  nahezu  vergriffen  ist,  die  10  Jahrgang« 

nur  zum  ©riginalprei&c 

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Der  Verlag  kauft  die  /Fackel'  Nummer  2  füi 

I  Krone  und  die  Nummern  1,  152  u.  162  flu 

50  Heller  per  Exemplar  zurück. 

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KARL  KRAUS 

Robert  Soheu. 

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Wien  lli/2. 

Druck  von  Jahod;- 


Doppel-Nummer  (Preis  60  Heller) 

fr.   281—282.        4.  Juni  1909  XI.  Jahr 


Die  Fa 


Herausgeber: 

KARL  KRAUS 


INHALT: 

Die  Schuldigkeit.  Von  Karl  Kraus.  —  Victor 
Adler.  Von  Robert  Scheu.  —  Mann  und  Weib. 
Von  August  Strindberg.  Aphorismen.  Von  Karl 
Kraus.  —  Meine  Bücher.  —  Literatur  und  Presse. 
—  Eine  gelungene  Satire.  Von  Otto  Soyka 
Glossen.  Von  Karl  Kraus. 


Erscheint  in    zwangloser   Folge. 


achdruck  und  gewerbsmäßiges  Verleihen  verboten ;  gerichtliche 
Verfolgung  vorbehalten. 


WIEN. 

Verlas  .DIE  FACKEL*  III.  Hintere  Zollamtsstrafte  3. 


KARL  KRAVS 

SPRVECHE  I 

VND  WIDER) 

SPRVECHE 


Verlag  ALBERT  LANGEN  München 

DURCH  ALLE  BUCHHANDLUNGEN  ODER  DIREKT  VOM  VERLAG  ZU  BEZIEHEl 


Die  Fackel 


NR.  281-82  4.  JUNI  1909  XI.  JAHR 


Die  Schuldigkeit. 

Eine  Lehrerswitwe  in  der  Provinz,  die  gehört 
hat,  daß  einmal  ein  Artikel  der  , Fackel*  über  die 
Pension  der  Offizierswitwen  »viel  zur  Regulierung 
dieser  Sache  beitrüge,  wendet  sich  im  Namen  der 
Genossinnen  ihres  Elends  an  mich.  Sie  klagt,  daß 
das  Land  die  Witwen  von  Männern,  die  ihm  fast  ein 
halbes  Jahrhundert  gedient  haben,  hungern  und  frie- 
ren lasse  und  belegt  diese  Klage  mit  Daten  und 
Ziffern.  Eine  Frau  V.  in  Frankenfels  etwa  muß  im 
Alter  von  über  80  Jahren  in  einer  Mühle  arbeiten,  weil 
ihre  jährliche  Pension  nur  300  Kronen  beträgt.  Ihr 
Mann  hatte  40  Dienstjahre.  »Und  wie  schwer  früher 
der  Dienst  war,  das  weiß  ich  von  meinem  Vater  her ; 
sein  Anfangsgehalt  betrug  jährlich  zwölf  Gulden 
und  die  Kost,  dabei  mußte  er  als  Mesner,  Schreiber, 
ja  sogar  als  Totenbeschauer  fungieren.  Ohne  Orga- 
nistendienst konnte  der  Lehrer  damals  kaum  leben. 
Die  Folge  dieses  schweren  Berufes  war  ein  Herz- 
leiden. Als  Schwerkranker  schleppte  Vater  sich  im 
November  1893  in  die  Schule,  weil  er  die  nächste 
Gehaltserhöhung  erreichen  wollte.  Doch  da  diese  erst 
1895  ins  Leben  trat  und  Vater  94  starb,  beträgt  die 
Witwenpension  trotz  der  45  Dienstjahre  nur  700  Kro- 
nen« .  . .  Die  gute  Frau,  die  sich  die  Mühe  genom- 
men hat,  mir  in  langem  Brief,  mit  Worten 
und    Zahlen     diese    Misere     zu    beschreiben ,    weiß 


—    2    — 


nicht,  daß  sie  sich  an  die  unrichtige  Adresse  gewen- 
det hat.  Soziale  Hilfe  anzuregen,  war  nie  die 
Pflicht  der  , Fackel',  wenngleich  sie  sie  früher  gele- 
gentlich dort  erfüllte,  wo  es  ihr  um  den  Beweis  zu 
tun  war,  daß  die  Verpflichteten  aus  Feigheit  oder  Kor- 
ruption sie  verletzt  hatten.  Auch  hier  freilich  bin  ich 
bereit,  den  Hilferuf  zu  hören,  um  durch  ihn  den 
größeren  Jammer  zu  entdecken.  Denn  das  Schreiben 
der  Frau  schließt  mit  einer  Pointe  des  Grauens, 
die  alles  Elend  der  Lehrerswitwen  überbietet,  über 
die  Not  einer  sozialen  Gruppe  hinaus  in  die  schmerz- 
lichste Schmach  der  Zeit  trifft.  Bin  Majestätsgesuch 
ist  nicht  befördert  worden;  so  glauben  sie,  daß  es 
noch  eine  Instanz  gibt:  die  Presse.  Und  die  Wortführerin 
fügt  ihrer  Schilderung  das  folgende  Postskriptum 
hinzu:  »Im  Falle  Sie,  sehr  geehrter  Herr,  die  Güte 
hätten,  unsere  Notlage  in  der  , Fackel'  zu  beleuchten, 
worum  wir  Sie  recht  herzlich  bitten,  so  wollen  Sie 
mir  unsere  Schuldigkeit  hiefür  mitteilen«.  Die 
Bittstellerinnen  wissen  von  der  , Fackel'  nicht  mehr,  als 
daß  sie  über  jenes  gedruckte  Wort  verfügt,  von  dem 
Hilfe  zu  erhoffen  ist.  Das  aber  wissen  sie,  daß  die 
Hilfe,  die  das  gedruckte  Wort  verspricht,  bezahlt  wer- 
den muß.  Es  ist  jener  gesunde  Volksglaube,  den  die 
Aufklärung  an  die  Stelle  des  Aberglaubens  gesetzt 
hat.  Presse  ist  etwas,  wofür  man  zahlt.  Und  die  Pen- 
sion von  fünfzehn  Lehrerswitwen  in  und  um  Krems 
ist  nicht  so  klein,  als  daß  sie  nicht  noch  so  viel 
zusammenbrächten,  um  einen  Publizisten  für  ihr  Elend 
zu  interessieren.  Wird  halt  die  Achtzigjährige 
täglich  eine  Stunde  länger  in  der  Mühle  arbeiten ! 
Die  Vorstellung  solcher  Bereitschaft  sollte  uns  alle, 
die  wir  an  die  soziale  Sendung  der  Presse  glauben, 
in  den  Schlaf  verfolgen.  Und  diese  Vision  ist  das 
einzige,  was  mein  antisozialer  Sinn  der  Lage  der 
Lehrerswitwen  abgewinnen  kann.  Ich  höre  den 
Notschrei,    aber    ich    kann     ihn     nur     weitergeben. 


Mögen  die  Vertreter  jener  Publizistik,  deren  In- 
teresse dem  bürgerlichen  Wohl  gehört,  nach  der  Mühle 
in  Prankenfels  eilen  und  schauen,  wie  sie  zu  ihrem 
Geld  kommen.  Und  wenn  es  dort  einen  Mühlstein 
gibt  —  er  möge  aufstehen  und  sich  seiner  bibli- 
schen Schuldigkeit  erinnern ! 

Karl  Kraus. 


Victor  Adler. 

Das  Lebenswerk  eines  konservativen  Politikers. 
Von  Robert  Scheu. 

I. 
Als  sich  die  Belagerung  von  Ladysmith  im 
Burenkrieg  so  hingezogen  hatte,  daß  sich  beide  krieg- 
führenden Parteien  zu  langweilen  anfingen,  begab 
es  sich,  daß  spekulative  Buren  mit  den  Belagerten 
in  solide  Geschäftsverbindung  traten  und  ihnen  Vieh 
offerirten.  Ein  rechtschaffener  Kuhhandel.  Wenn  große 
Armeen  einander  träge  und  kampfunlustig  gegen- 
überliegen, dann  stellt  sich  die  Geneigtheit  zu  einem 
Handel  ein,  der  in  der  kriegerischen  Situation  eine 
geschäftliche  Konjunktur  errät  und  verwertet.  Ein 
solcher  Gottesfrieden  herrscht  jetzt  in  Österreich.  Die 
großen  Macherhaben  sich  gegenseitig  ihren  Besitzstand 
garantiert  und  wenden  ihre  Schärfe  nur  mehr  gegen 
etwa  neu  emporstrebende  Gruppen,  Persönlichkeiten 
und  Ideen,  welche  in  die  solenne  Machtverteilung 
nicht  einbezogen  sind,  oder  gegen  jene  enfants  terribles 
ihrer  eigenen  Parteien,  welche  die  Grundsätze  noch 
immer  so  ernst  nehmen,  daß  sie  sich  ihretwegen 
blutige    Köpfe    holen.    Der    unausgesprochene,    aber 


—    4 


fühlbare    Kompromiß    aller  mit    allen  ist  die  Signa- 
tur des  Tages.  Ein  erstarrtes  Chaos. 

Dabei  ein  Getriebe  wie  in  einem  Ameisen- 
haufen, wechselnde  Kombinationen,  Koalitionen,  Ver- 
schiebungen der  >Lage«.  Alles  Vordergrunderschei- 
nungen eines  faulen  Friedens  zwischen  politischen 
und  gesellschaftlichen  Mächten,  bei  dem  sich  einige 
Bewegung  höchstens  aus  dem  Turnus  der  sich  selbst 
garantierenden  Mittelmäßigkeit  ergibt. 

Sollen  wir  die  sichtbare  Auflösung  aller  politi- 
schen Charaktere  beklagen  ?  Lassen  wir  der  Korrup- 
tion lieber  ihren  Lauf.  Vielleicht  entsteht  in  den 
führenden  Köpfen  mit  der  Zeit  eine  ähnliche  Des- 
organisation, wie  sie  in  den  Dingen  schon  eingetreten 
ist.  Vielleicht  löst  sich  mit  dem  politischen  Charak- 
ter auch  der  politische  Geist  auf 

Es  wäre  gar  nicht  so  betrübend.  Die  Geschichte 
hat  mehr  als  einmal  gezeigt,  wie  die  Verflachung 
der  Politik  einem  Aufsteigen  der  Kultur  günstig 
werden  kann.  Gegenwärtig  sind  sie  noch  alle  gegen 
die  Kultur  verbündet.  Vielleicht  wird  später  einmal 
das  Chaos,  das  uns  heute  niederdrückt,  wieder  locker 
und  fruchtbar  I 

Es  ist  das  Schicksal  der  Völker,  daß  sie  nur 
aus  Ideen  heraus  arbeiten  können,  diese  aber,  wenn 
sie  ihren  Dienst  getan  haben,  wie  überflüssige  Hilfs- 
linien wieder  auslöschen  müssen.  Die  letzten  Jahre 
haben  in  aller  Stille  eine  welthistorische  Überraschung 
gebracht:  Die  Medusenaugen  der  Revolution  haben 
sich  geschlossen  und  träumen  unter  bleichen  Lidern 
—  von  der  Vergangenheit 

II. 

Einer,  der  ihr  die  Augen  zugedrückt  hat;  ein 
repräsentativer  Politiker  der  letzten  fünfundzwanzig 
Jahre  ist  Victor  Adler. 

Er  scheint  nicht  vom  Aoheron  umwittert.  Kein 


Feuerstrudel  zieht  ihm  nach  .  .  .  »Sein  übermächtig 
Angesicht  verhieß  mir  neue  Welten«  —  sagt  der 
Matrose  von  Columbus.  Menschen,  die  bestimmt  sind, 
eine  neue  Ordnung  der  Dinge  einzuleiten,  tragen 
eine  fertige  Welt  im  Kopf  herum,  von  der  sie  eine 
so  zwingende  Vorstellung  haben,  daß  sie  sich 
zur  bestehenden  Umwelt  in  einem  schmerzhaften 
Widerspruch  fühlen.  Ein  solcher,  der  später  die 
Landkarte  änderte,  schrieb  in  seinem  fünfzehnten 
Lebensjahr:  »Das  Gefühl,  daß  die  Welt,  die 
ich  im  Busen  trage,  so  ganz  unendlich  verschieden 
ist,  von  der,  die  ich  um  mich  sehe,  brennt  mich  so 
tief,  daß  ich  den  Tod  ersehne.«  Aber  unserm  Victor 
Adler  glaubt  man  weder  den  Zukunftsstaat,  noch  auch 
nur  den  Glauben  an  den  Zukunftstaat.  Aus  seinen 
Zügen  spricht  durchdringende,  sichere  Klugheit,  aber 
kein  Abglanz  unbekannter  Dinge. 

Er  ist  »frugi«,  wie  die  Römer  sagen.  Nie  be- 
rauscht, stets  auf  der  gleichen  Höhe  seines  hellen 
Verstandes.  Wie  ein  Posten  im  Feld:  rundblickend. 
Sieht  sich  nach  allen  Seiten  um  und  versäumt  es 
nie,  sich  von  allen  Nachbarn  »klar  zu  scheiden.«  Er 
beachtet  die  Nebenwirkungen  jedes  Schrittes,  keine 
Gelegenheit  reizt  ihn  so  mächtig  und  plötzlich,  daß 
er  irgendetwas  daneben  leichtfertig  in  Kauf  nimmt. 
Ehe  er  feuert,  überlegt  er  noch  den  Gegenstoß.  Die 
Lassalle'sche  Devise:  um  einen  Zweck  zu  erreichen, 
alles  andere  beiseite  setzen,  alle  Rücksichten  dem 
momentanen  Ziel  unterordnen,  ist  nicht  die  seinige; 
vielmehr:  das  eine  tuen  und  das  andere  nicht  lassen. 
Das   Wesen  der  Besonnenheit. 

Er  ist  —  der  Irrenarzt.  Er  redet,  er  lächelt  so. 
Man  fühlt  eine  behutsam  streichelnde  Pfote,  die  den 
Narren  oder  das  Raubtier  gleichzeitig  beobachtet 
und  beschwichtigt.  Seine  Sanftmut  lauert.  So  tut  er 
mit  dem  Besucher,  der  in  sein  Zimmer  tritt,  mit 
Parteien  und  Ministern.    Alle  sind  mindestens  Halb- 


—    6 


narren.  Ehedem  ein  Lieblingsschüler  Meynerts, 
beschrieb  er  die  kranken  Gehirne  minutiös  und 
seine  klinischen  Bilder  waren  klassisch.  Psy- 
chiater sind  in  der  Regel  nicht  Fanatiker.  Sie  ar- 
beiten mit  Ideen,  aber  nicht  aus  Ideen,  pflegen 
Abstraktionen  nicht  zu  unterliegen,  sondern  sich 
ihrer  zu  bedienen.  Es  ist  prima  vista  unglaubwür- 
dig, daß  ein  solcher  Kopf  einer  Doktrin  huldigt, 
geschweige  denn  der  abstraktesten,  die  unter  Deut- 
schen ersonnen  wurde.  »Es  sind  die  unbedenklichsten 
Praktiker,  welche  den  Theorien  am  heißesten  hul- 
digen, weil  sie  deren  Glanz  nicht  entbehren  wollen. c 
(Nietzsche).  Theorien  und  Ideen  sind  Hilfsmittel  sol- 
cher Männer,  aber  nicht  ihre  Götter. 

Seine  Lieblingsworte:  »Vernunft«  und  »Ernst«. 
Das  ist  nicht  Mimikry,  sondern  er  meint  es  wirklich. 
Seine  Stärke  ist  das  Resümieren.  Man  muß  ihn  bei 
schwierigen  Debatten  gesehen  haben,  etwa  auf  Partei- 
tagen, wenn  offizielle  Probleme  der  Taktik  erörtert 
werden  ;  wie  er  da,  scheinbar  teilnahmslos  im  Parterre 
sitzt  und  den  Redestrom  laufen  läßt,  bis  er  dann 
das  Wort  ergreift  und  in  seiner  mit  dem  Stottern 
ringenden  Art,  —  welche  dadurch  zum  rednerischen 
Effekt  wird,  daß  nach  jedesmaligem  Stocken  eine 
Pointe  kommt,  —  den  durchschlagenden  Gedanken 
ausspricht.  Er  ist  keine  Advokatennatur,  sondern  ein 
Richter.  Eine  seltene  Qualität.  Auf  Hundert,  die 
einen  Gesichtspunkt  geistreich  durchführen  können, 
kommt  Einer,  der  weiß,  auf  welchen  es  ankommt. 
Es  ist  die  Grundlage  seiner  Führerschaft.  Dabei 
richtet  er  es  so  ein,    daß  er  überstimmt  wird. 

Paradoxe  verachtet  er  so  ziemlich.  Seine  Poin- 
ten sind  Blitze  der  Selbstverständlichkeit.  Ihn  interes- 
siert nicht  die  Ausnahme,  sondern  die  Regel;  Haupt- 
sachen, Hauptzüge  —  Massen.  Er  besitzt  das  Ge- 
heimnis der  Macht:  sich  zu  den  großen  Zahlen  hin- 
gezogen fühlen.  Er  hat  die   Tugend   des    Politikers, 


mit  den  gegebenen  Größen  zu  wirtschaften;  er  kennt 
alle  politischen  Gewichte  und  hat  die  Bausteine  in 
der  Hand;  aber  sein  Ehrgeiz  geht  nicht  darüber 
hinaus,  einen  Pfeiler  zu  schaffen.  Das  ist  erreichbar 
und  für  ein  Leben  genug. 

Schnitzt  man  aus  solchem  Holz  die  Umstürzler  ? 
Doch  kaum.  Revolutionäres  Geblüt  ist  anders.  Es 
gibt  mathematische  Phantasten  und  exakte  Träumer, 
sollte  es  auch  skeptische  Revolutionäre  geben? 

Dagegen  ist  ihm  unbedingt  zu  glauben  seine 
Liebe  zum  Proletariat.  Die  ist  echt.  Er  gehört  zur 
Rasse  der  Altruisten.  Die  Gemütsunterlage  ist 
eine  elementare  Schlichtheit,  zu  einer  Rancune 
gegen  alles  Differenzierte  gesteigert.  Er  fing 
damit  an,  sich  um  die  Stelle  eines  Gewerbeinspek- 
tors zu  bewerben  und  wählte  als  erstes  Pseudonym 
den  Namen  »Tischlere.  Er  gehört  nicht  zu  jenen 
Sozialisten,  welche  aus  dem  Gefühl  eines  unerschlos- 
senen  Reichtums  der  Welt  ihre  Schwungkraft 
schöpfen,  sondern  zu  jenen,  die  aus  einem  Instinkt 
der  Vereinfachung  zu  kommunistischen  Neigungen 
gelangen.  Es  handelt  sich  weniger  um  die  Zugäng- 
lichmachung  aller  Kulturschätze,  als  um  deren  Ver- 
dünnung. Pathos  des  Unterkonsums.  Beweis  die 
gelegentlich  reflektorisch  bezeugte  Abneigung  gegen 
reichere  und  differenzierte  Naturen.  Ein  psycholo- 
gisches Grundmotiv,  welchem  die  Nationalökonomie 
erst  nachträglich  hinzu  erfunden  wurde.  Gerade 
die  Genügsamkeit  ist  die  psychologische  Wurzel 
jenes  Sozialismus,  der  die  großen  Kolonnen  füllt,  und 
nicht  die  »Begehrlichkeit.«  Solchen  Naturen  scheint 
jede  neue  Note  dem  Grundsatz  der  Scholasten  zu 
widersprechen  :  entia  non  sunt  multiplicanda.  Victor 
Adler  erklärte  einmal:  wozu  immer  neue  Anregun- 
gen ?  wir  ersticken  an  der  Arbeit. 

Seine  Undifferenziertheit  hat  eine  besondere  Note: 
er  übertreibt  sie  durch  eine  Affektation,  die  er  sich  schul  - 


dig  zu  sein  glaubt.  >Mein  Gott,  ich  will  ja  nichts  An- 
deres, als  einen  Ziegelstein  herbeischleppen  zum  gro- 
ßen Gebäude.«  Zusammenhängend  damit  seine  Ran- 
cune  gegen  die  Intellektuellen,  welche  das  über- 
flüssigste Ding  in  die  Welt  bringen  wollen,  das  es 
gibt:  den  Geist.  Es  ist  wie  eine  groß  angelegte 
Rache  in  seinem  Leben:  Geist  und  Intellekt  und 
Verfeinerung  in  den  Dienst  der  Undifferenzierten  zu 
stellen,  als  wollte  er  sagen :  was  bis  heute  in  der 
Welt  ersonnen  wurde,  ist  gerade  noch  erlaubt, 
um  es  unserer  Sache  dienstbar  zu  machen.  Aber 
damit  genug.  —  Und  was  ist  diese  Sache  ? 
Es  ist  die  Erlösung  der  Enterbten.  Denen  hat  er 
sein  Herz  verschrieben,  für  sie  lebt  und  stirbt  er. 
Es  ist  das  Einzige,  was  ihn  rührt.  Für  die  Armen 
gibt  er  seine  Kraft,  sein  Vermögen,  seinen  Witz  und 
wenn  es  sein  muß,  seine  List.  Aber  ist  es  am  Ende 
nicht  nur  Liebe  zu  den  Armen,   sondern   Liebe    zur 

Armut ? 

III. 

Rapide  Entwicklung  der  Großindustrie,  Auf- 
steigen der  Weltpolitik,  Anschwellen  der  industriel- 
len Arbeiterschalt,  Niedersinken  des  Liberalismus, 
Erstarken  des  jungen  deutschen  Reichs,  des  Bodens 
einer  großen  Arbeiterpartei,  eine  lange  Friedens- 
periode; in  Österreich  Schwächung  der  Zentralgewalt 
durch  nationale  Wirren  —  bezeichnen  den  Zeit- 
punkt, in  welchem  sich  Adler  der  sozialdemokratischen 
Partei  anschloss.  Die  letzten  zwanzig  Jahre  vollen- 
den die  Disgregation  der  Klassen,  die  Einstellung 
auch  der  letzten  Komponenten  im  Kampf  um  die 
Machtverteilung,  bei  der  die  industrielle  Arbeiter- 
schaft bis  dahin  schmählich  verkürzt  war.  Die  Sozial- 
demokratie erkennt  als  ihre  Aufgabe  die  plastische 
Darstellung  dieser  Klasse  im  Gruppenbild  des  Staats. 

Das  Gelingen  einer  Aufgabe  geht  niemals  über 


9   — 


das  Wollen  hinaus.  Mehr  als  die  industrielle  Arbeiter- 
schaft zu  einer  Partei  einigen  und  ihr  politische 
Macht  erobern,  hat  Victor  Adler  nicht  gewollt  und 
er  hatte  den  Scharfblick,  genau  die  Basis  zu  erraten, 
auf  der  ihm  Erfolge  gewiß  waren.  Der  sozialdemo- 
kratische Überbau  gab  ihm  die  fertigen  Formen  und 
die  Anlehnung  an  die  Internationale.  Innerlich  war  er 
seit  je  entschlossen,  opportunistische  Politik  zu 
machen,  wie  es  seiner  Natur  entsprach.  Das  revo- 
lutionäre Schema  schätzte  er  inzwischen  als  Stachel- 
zaun, um  mit  seiner  Arbeit  allein  zu  sein,  was  immer 
seine  große  Sorge  war;  seine  volle  Wucht  wendet 
er  im  Beginn  seiner  Laufbahn,  nach  links,  ringt  die 
Anarchisten  nieder,  rückt  die  wirklich  revolutionären 
Köpfe  an  zweite  oder  dritte  Stelle  und  beseitigt  mit 
eiserner  Hand  die  Intellektuellen,  die  ihm  aus  Instinkt 
und  Überlegung  verdächtig  sind. 

Und  dann  entwickelt  er  einen  heroischen  Fleiß, 
eine  grenzenlose  Hingebung,  wie  sie  nur  aus  starker 
Überzeugung  entspringt,  schafft  sich  eine  Armee  von 
Unteroffizieren  —  die  ihm  immer  das  Wichtigste 
waren,  —  interveniert  bei  jedem  größeren  Streik, 
stellt  seine  gesellschaftlichen  Beziehungen  zur  Ver- 
fügung, verhandelt  mit  Bezirkshauptleuten  und  Un- 
ternehmern, appelliert  an  Vernunft  und  Gemüt  und 
begleitet  den  täglichen  Kampf  in  seinem  Blatt  — 
damals  die  »Gleichheit«  —  mit  schwerem  Geschütz. 
Er  schreckt  vor  Gefängnis  und  Verfolgung  nicht 
zurück,  geht  bei  Zusammenstößen  den  Säbeln  der 
Polizisten  entgegen,  fährt  in  die  Kohlenreviere  und 
gliedert  die  Gewerkschaften  so  eng  an  die  poli- 
tische Partei,  daß  sie  bald  nur  ihre  andere  Er- 
scheinungsform sind.  Er  ist  Agitator,  Organisator, 
Journalist,  wo  es  zweckdienlich  ist,  auch  Charmeur. 
Vor  großen  taktischen  Schlägen  hat  er  aber  immer 
eine  instinktive  Abneigung.  Er  fürchtet  »zuviel 
zu  siegen.«  Er  will   keine   Momenterfolge,    die    über 


10  — 


das  Gewicht  der  realen  Stärke  hinausragen  und  zieht 
es  vor,  von  der  Masse  gedrängt  zu  werden. 

Er  besaß  ein  besonderes  Talent,  mit  der  Bureau- 
kratie  zu  verkehren.  Diese,  in  Österreich  infolge 
überaus  komplizierter  Verhältnisse  ein  diplomatisches 
Zuchtprodukt,  ähnelt  darin  der  russischen,  daß  sie 
bedeutenden  Persönlichkeiten  eine  gewisse  Aus- 
nahmsstellung konzediert  und  sie  nicht  die  volle 
Schwere  ihrer  Macht  fühlen  läßt. 

Der  Regierung  konnte  es  übrigens  nur  erwünscht 
sein,  daß  die  Intellektuellen  mit  solcher  Präzision 
aus  der  Bewegung  ausgeschaltet  wurden.  Denn  sie 
mußten  auf  irgend  eine  Weise  dann  ihr  zufallen» 
Damit  brach  die  Sozialdemokratie  bewußt  mit  der 
Lassalle'schen  Tradition,  welche  den  Bund  der  In- 
tellektuellen mit  der  Arbeiterschaft  verkündet  und 
in  flammenden  Farben  hingezaubert  hatte.  Das  war 
die  magische  Anziehungskraft  des  Sozialismus  ge- 
wesen, der  paradoxe  und  hinreißende  Gedanke:  die 
erlesensten  Geister  mit  den  Arbeitern  in  einem  mo- 
numentalen Bunde  zu  verschmelzen,  wie  er  noch  in 
den  Barrikadenkämpfen  der  Franzosen  anschaulich 
zum  Ausdruck  kam.  Um  diese  Lassalle'sche  Tradition 
zu  durchbrechen,  wurde  in  Deutschland  und  Öster- 
reich geflissentlich  betont,  daß  Marx  der  eigentliche 
Geist  und  Schöpfer  der  Sozialdemokratie  sei,  und 
das  unpersönliche  System  in  den  Vordergrund  ge- 
stellt. Will  man  den  Beweis,  so  lese  man  die  partei- 
offizielle  Ausgabe  der  Werke  Lassalles,  bei  der  man 
im  Zweifel  ist,  was  man  mehr  bestaunen  soll :  die 
Kühnheit,  mit  der  ein  führender  Kopf  der  deutschen 
Nation  zensuriert  und  abgekanzelt  wird  —  oder  der 
Mangel  an  Pietät,  die  eine  Partei  einem  Gründer 
und  Heros  entgegenbringt.  Bei  festlichen  Anlässen 
durfte  sich  Lassalle  als  Gypsfigur  sehen  lassen.  Die 
Art  wie  Victor  Adler  mit  Studenten,  aber  auch  mit 
Gelehrten  von    Rang   verkehrte,    hatte    etwas    ganz, 


—  11 


Eigentümliches.  Sie  mochten  sich  immerhin  in  Arbei- 
terschulen, Volksbildungsstätten  u.  dgl.  nützlich 
machen.  Aber  die  wunderbare  Kühle,  mit  der  man 
sie  im  Übrigen  behandelte,  bezeichnete  symptoma- 
tisch eine  bedeutungsvolle  Phase:  man  hatte  darauf 
verzichtet,  die  Ansprüche  des  Intellekts  mit  dem 
Sozialismus  in  Einklang  zu  bringen. 

Geschaffen  wurde  eine  streng  disziplinierte 
sozialdemokratische  Partei  mit  einer  mächtigen  par- 
lamentarischen Fraktion,  ein  aufgeklärter  Absolutis- 
mus Victor  Adlers.  Das  allgemeine  Wahlrecht  war 
spät  genug  gekommen,  so  spät  es  Adler  aus  poli- 
tischen und  persönlichen  Gründen  wünschen  mochte. 
Als  es  zum  erstenmal  zum  Greifen  nahe  war,  genügte 
ein  Leitartikel  der  , Neuen  Freien  Presse'  um  Victor 
Adler  —  entgegen  dem  einmütigen  Aufschrei  der 
ganzen  Partei  —  zu  einer  blutleeren  Reserve  zu 
veranlassen,  die  ihn  die  Gunst  der  historischen  Stunde 
versäumen  ließ.  Als  es  zum  zweitenmal  winkte, 
mußte  ihm  das  Jawort  zur  Entfesselung  des  Wahl- 
rechtskampfes blutig  abgerungen  werden.  War  er 
wieder  der  Skeptiker  ?  Es  fehlte  nicht  viel  und  er 
hätte  ein  zweitesmal  verspielt 

IV. 

Man  hatte  Zeit  genug  gehabt,  inzwischen  den 
Begriff  der  Revolution  in  Deutschland  und  Oster- 
reich so  abzuwandeln,  daß  er  nunmehr  genügend  un- 
gefährlich war.  Zuerst  wandte  sich  die  neue  Doktrin 
gegen  den  gewaltsamen  Umsturz.  Man  dachte  sich 
•die  Revolution  nicht  mehr  als  Straßenkampf,  sondern 
als  Diktatur  des  Proletariats  auf  Grund  der  erlang- 
ten überwältigenden  politischen  Macht.  Aber  immer- 
hin noch  als  einen  Umsturz.  Je  größer  seither  die 
tpolitische  Macht  der  Partei  wurde,  desto  mehr  trat 
in  den  Vordergrund  die  Lehre  des  »Hinein Wachsens 
in  den  Staate,  die  Durchwachsungstheorie.  »Wir  sind 


12  — 


nicht  so  dumm,  auf  das  Gebäude,  das  ihr  aufgerich- 
tet habt,  zu  verzichten!  Wir  kriechen  hinein  und 
bauen  es  Mauer  für  Mauer  um.«  Ganz  unmerklich, 
unbewußt  und  heimlich  hatte  sich  da  etwas  ereignet. 
Das  Proletariat  war  inzwischen,  irgendwann,  bürger- 
lich geworden.  Die  gegenwärtige  Zeitepoche,  für 
welche  der  Sturz  des  Bürgertums  verheißen  war, 
ii>t  wunderbarer  Weise  just  der  vollkommenste  Sieg 
des  Bürgertums  als  geistiger  Kategorie.  Die  Aristo- 
kratie ist  verbürgerlicht,  die  Kunst  ist  verbürger- 
licht, und  nun  ist  es  auch  der  Arbeiter!  Die  Tore 
der  Partei  wurden  einer  seltsamen  Gesellschaft  ge- 
öffnet, zum  Teil  eingefleischten  Spießern,  die  es 
zehn  Jahre  früher  nicht  gewagt  hätten,  davon  zu 
träumen. 

Die  bürgerliche  Welt  konnte  beruhigt  sein. 
Hatte  doch  —  märchenhafter  Weise  —  die  Sozial- 
demokratie gerade  das  befestigt,  was  sie  zu  be- 
kämpfen ausgezogen  war.  In  erster  Linie  die  allge- 
meine Lebensstimmung :  ein  Gefühl  der  Sicherheit, 
wie  es  das  große  Kapital  noch  nie  besessen  hatte. 
Die  Revolution  hatte  sich  irgendwie  verflüchtigt,  die 
kupferrote  Wolke,  die  so  lange  am  Horizont  gestan- 
den, in  einen  gemütlichen  Landregen  aufgelöst. 
Sie  war  experimentell  widerlegt.  Aus  der  unend- 
lichen Zahl,  dem  wogenden  Meer  der  Enterbten,  war 
eine  genau  bekannte  Größe  geworden,  mit  einer  Schar 
von  Leuten  an  der  Spitze,  die  verantwortlich  und 
haftbar  sind. 

Befestigt  war  sogar  das  Reichsgefüge ;  man 
kokettierte  mit  der  Doppelrolle.  Der  Eine  oder  An- 
dere stellt  sich  zwar  noch  regelmäßig  als  »grauslicher 
Sozialdemokrat«  vor,  wenn  er  in  bürgerlichen  Krei- 
sen spricht;  aber  wenn  sich  die  Herren  Hochverräter 
nennen,  so  ist  das  einfach  —  Hochstapelei.  Befestigt 
war  nicht  nicht  minder  die  kapitalistische  Presse ; 
das  Organ  der  Börse    wurde    zugleich    die   Protek- 


—  13  — 


torin  der  »Freien  Schule«,  in  deren  Flachland  man 
sich  trifft.  Einer  Sozialdemokratie,  welche  sich  in 
Form  einer  kleinen,  mit  der  ,Neuen  Freien  Presse' 
eng  liierten  Gruppe  ein  Wahlkomitee  geschaffen 
hatte,  konnte  das  Finanzkapital  gelassen  ins  Auge 
blicken. 

V. 

Die  Revolution  ist  vertagt.  Und  die  Reform  ? 
Die  Reform  auf  Grund  der  bestehenden  Ordnung 
wird  nun  geduldet?  Nur  unter  einer  Bedingung :  daß 
sie  im  Namen  der  Sozialdemokratie  inauguriert  wird. 
Solche  Kulturbestrebungen,  zu  welchen  die  Sozial- 
demokratie eingestandenermaßen  gar  kein  Verhältnis 
findet,  werden  mit  Verlegenheitsphrasen  bestammelt 
oder  einfach  verhöhnt.  Hier  versagt  das  Schema,  das 
sonst  so  lückenlos  schließt. 

Wie  kommt  auf  einmal  solche  Unaufrichtigkeit 
in  die  Partei?  Die  Ursachen  dieser  merkwürdigen 
und  krankhaften  Verfärbung  liegen  in  der  allgemei- 
nen Situation  der  europäischen  Kultur,  wie  sie  sich 
inzwischen  herausgebildet  hat.  Man  ist,  ungefähr  zur 
selben  Zeit,  da  die  Sozialdemokratie  ihrem  Höhepunkt 
zueilte,  zur  Einsicht  gekommen,  daß  die  ganze  poli- 
tische Welle  der  vergangenen  dreißig  Jahre  nichts 
anderes  bedeutet,  als  die  Konsequenz  der  letzten 
Ausläufer  der  kleinbürgerlichen  Revolution  von  1789. 
S.  Lublinski  in  Weimar  hat  dies  gelegentlich  seiner  groß 
angelegten  Analyse  der  modernen  Literatur  in  seinem 
Werke  »Ausgang  der  Moderne«*)  als  Ergebnis  einer 
bedeutenden  Gedankenarbeit  überzeugend  festgestellt. 
Sie  gipfelt  in  dem  Apergu,  daß  die  eigentliche  Aufgabe 
unseres  Zeitalters  die  Auslösung  einer  neuen  Kultur 
ist,  welche  sich  synthetisch  aus  allen  eben  vorhande- 
nen und  gegebenen  KultureFementen  zusammenbauen 


*)  Dresden,  Verlag  von  Carl  Reissner  1909. 


—  14  — 

wird.  Der  Aufmarsch  des  Proletariats  ist  hiezu  zwar 
unerläßlich,  aber  nur  eine  der  Vorbedingungen. 
Stets  aber  haben  sich  derartige,  im  Grunde  nur 
rein  technische  Kämpfe  mit  der  Ideologie  einer  Welt- 
wende umkleidet.  Nun  trifft  es  sich,  daß  die  Ein- 
gliederung des  vierten  Standes  just  in  dem  Augen- 
blick fertig  wird,  wo  aus  national- und  weltpolitischen 
Gründen  die  Notwendigkeit  einer  Kulturpolitik  als 
die  eigentlich  schwierige  und  höchste  synthetische 
Aufgabe  der  Staatsmänner  zutage  tritt.  Die  inter- 
nationale Sozialdemokratie,  festgelegt  auf  den  Marxis- 
mus, —  der  doch  nur  eine  besondere  Form  des 
Sozialismus  ist  — ,  kommt  von  da  an  in  ein  eigen- 
tümlich unaufrichtiges  Verhältnis  zur  modernen  Welt 
und  in  die  Gefahr,  die  eigentlich  reaktionäre 
Macht  der  Gegenwart  zu  werden 

VI. 

Der  Grund  aber,  der  die  Arbeiterbewegung  und 
mit  ihr  den  Sozialismus  an  den  Marxismus  bindet, 
ist  kein  logischer,  im  Begriff  des  Sozialismus  gege- 
bener —  sondern  ein  historischer.  Er  hängt  zu- 
sammen mit  der  weltgeschichtlichen  Rolle  des  Juden- 
tums, welches  ich  im  Sinne  Heinrich  Heines  als  ein 
Prinzip,  ein  Ferment  ganz  eigener  Art  —  als  Gegen- 
satz zur  hellenischen  Weltanschauung  anspreche. 
Die  Frage  ist  der  Erörterung  wert,  warum  der  Marx- 
ismus auf  die  Juden  eine  so  mächtige  Anziehungs- 
kraft übt. 

Nun,  die  Juden  haben  infolge  ihrer  unterdrück- 
ten Stellung  seit  jeher  ihr  Heil  davon  erwartet,  die 
sie  beherrschenden  Klassen  durch  ein  logisch-abstrak- 
tes System  zur  Raison  zu  zwingen.  Es  liegt  auch  in 
ihrer  Psyche,  die  Macht  über  die  Welt  von  einer 
Zauberformel  zu  erwarten,  welche  ein  tieferes  Ver- 
hältnis zu  den  Dingen  erspart;  sei  diese  nun  das 
Geld  oder  eine  erlernbare  Idee,  wie  sie  beispielsweise 


—  15  — 

der  Marxismus  bietet,  der  gewissermaßen  geistiges 
Geld  ist.  Indem  man  sich  an  einen  festen  Stand- 
punkt bindet,  schafft  man  sich  Überiegenheitsgefühle 
und  eine  Quelle  scheinbarer  Kraft,  welche  den  Man- 
gel au  Persönlichkeit  ersetzt.  Der  Marxist  —  man 
wird  das  durch  eine  Art  von  Gnadenwal  —  dünkt 
sich  vielfach  auch  als  geistige  Persönlichkeit  den 
übrigen  Menschen  überlegen,  weil  er  in  der  Lage  ist, 
sich  rasch  ein  Urteil  über  jegliche  Erscheinung  zu 
schneidern. 

Die  Sozialdemokratie  in  ihrer  marxistischen  Ge- 
staltung kommt  dem  Judentum  gleichzeitig  sozial 
und  geistig  am  Vollkommensten  entgegen,  indem  sie 
die  Formel  garantiert,  der  Welt  Erbe  zu  gewinnen. 
Sie  gewährt  ihren  Adepten  jenen  Hochgenuß,  um 
dessentwillen  der  Leitartikel  auf  der  Welt  ist:  sie 
gibt  fertige  Urteile.  Welch  ein  Glück  für  denjenigen, 
der  die  Welt  am  liebsten  journalistisch  betrachtet, 
durch  ein  einziges  Gelübde  in  den  Besitz  dieser 
Fähigkeit  zu  gelangen  !  Nun  gar  ein  System,  welches 
nicht  nur  für  alle  Erscheinungen  inklusive  der  Dre- 
hung der  Gestirne  ein  fertiges  Urteil,  sondern  auch 
ein  moralisches  Hochgefühl  vermittelt.  Die  Juden 
finden  eine  geringere  Schwierigkeit  darin,  eine  theo- 
retische Weltanschauung  fertig  zu  übernehmen. 

Das  Judentum  als  weltgeschichtlisches  Prinzip 
besonderer  Kategorie,  dessen  Eigentümlichkeit  es  ist, 
mit  jeder  Frage  der  Menschheit  irgendwie  in  Konnex 
zu  treten,  besteht  auf  dem  marxistischen  Dogma, 
weil  darin  ein  Mittel  liegt,  den  Sozialismus  für  sich 
international  zu  monopolisieren.  Dadurch  wird  eine 
natürliche  urwüchsige  Bewegung,  wie  es  die  Arbei- 
tersache ist,  der  inneren  Beweglichkeit  beraubt  und 
zu  einer  Kirche,  deren  Wesen  darin  besteht,  eine 
Doktrin  als  Machtmittel  auszuwerten  und  die  Macht- 
organisation zum  Selbstzweck  zu  erheben.  Seit  der 
Aufrichtung  der   sozialdemokratischen  Kirche  haben 


16  — 


wir  nur  mehr  die  Wahl  zwischen  der  Unfehlbarkeit 
des  Papstes  und  derjenigen  des  Genossen  Austerlitz; 
wobei  jener  den  Vorzug  einer  längeren  Gewöh- 
nung hat. 

Ob  nicht  eine  Gewerkschaftsbewegung  nach 
englischem  Muster  hingereicht  hätte,  einen  Staats- 
mann zu  all  den  Leistungen  zu  inspirieren,  welche 
wir  jetzt  mit  der  Etablierung  einer  marxistisch-ter- 
roristischen Klerisei  erkauft  haben  ?  Ob  nicht  der 
katholische  Klerikalismus  seinerseits  eine  Folge  der 
Sozialdemokratie  ist?  Dadurch,  daß  diese  alles  gute 
Gewissen  herrisch  an  sich  gerissen  hat,  werden  große 
Massen  des  Volkes  vielleicht  dazu  getrieben,  bei  der 
Kirche  Anlehnung  zu  suchen.  In  England,  wo  die 
Arbeiterbewegung  eine  mehr  technisch-politische 
Angelegenheit  ist,  gibt  es  keinen  gefährlichen  Kle- 
rikalismus, in  Deutschland  aber  hat  die  Sozialdemo- 
kratie als  polare  Erscheinung  die  Macht  des  Zentrums 
ausgelöst  und  in  Frankreich  flüchtet  sich  alles,  was 
mit  der  Sozialdemokratie  nicht  mittun  will,  in  die 
Kirche. 

VII. 

Die  künftigen  Staatsmänner,  welche  aus  dem 
anarchischen  Chaos,  das  sich  über  uns  breitet,  neue 
Fäden  ziehen  und  sie  zu  neuen  Geweben  wirken 
werden,  stehen  vor  der  Aufgabe,  für  konkrete  Staa- 
ten und  Reiche  auf  Grund  der  besonderen  Geschichte, 
der  wirtschaftlichen,  geographischen  und  ethnischen 
Bedingungen  die  Kulturpolitik  vorzuschreiben  und 
diese  zur  Rechtfertigung  der  Machtpolitik  auszuwer- 
ten. Umgekehrt  wird  jenes  Volk  das  mächtigste 
werden,  welches  die  eigenen  Volksgenossen  durch 
eine  freigebige  und  hochherzige  Sozialpolitik  stark 
und  fruchtbar  macht.  Parteien  mit  universalistischen 
Tendenzen,  welche  sich  nicht  in  Reichs-  und  Staats- 
gedanken konkretisiert  haben,    können    von    rechts- 


—  17  — 


wegen  gar  nicht  verlangen,  in  Fragen  der  Reichs- 
politik gehört  zu  werden.  Dies  ist  der  Grund,  warum 
die  Sozialdemokratie  zur  auswärtigen  Politik  kein 
naturwüchsiges  Verhältnis  hat.  Ist  sie  doch  program- 
matisch verpflichtet,  den  Gesichtspunkten  der  Welt- 
partei alle  Sonderinteressen  des  Staates  unterzuord- 
nen. In  dem  Briefwechsel  der  Sozialistenführer  über 
auswärtige  Politik,  spielt  der  Gedanke  eine  bestim- 
mende Rolle,  ob  diese  oder  jene  Stellungnahme  dem 
Interesse  der  Gesamtpartei  dienlich  sei. 

Die  Kultur  marschiert  auf  getrennten  Linien 
heran  und  ihre  Zusammenfassung  zu  politischen  Ge- 
bilden ist  ein  Problem,  dem  gegenüber  die  bisherigen 
ein  Kinderspiel  waren.  Sie  stellt  hochgespannte  An- 
forderungen an  die  synthetische  produktive  Kraft 
der  Köpfe  und  verlangt  komplexe  Erfindung,  ge- 
wachsen auf  dem  Grunde  einer  schöpferischen  Staats- 
anschauung oder  eines  nationalen  Willens. 

Victor  Adlers  besonderer  Zug  ist,  daß  er  zu 
der  beschriebenen  Rolle  der  Sozialdemokratie  eine 
starke  realpolitische  Begabung  mitbringt,  welche  er 
aber  im  Namen  einer  starren  Doktrin  auszuleben 
sucht.  Daraus  entwickelt  sich  eine  gewisse  Unauf- 
richtigkeit,  der  er  auf  die  Dauer  nicht  entgehen 
kann.  Immerhin  muß  man  ihm  das  Zeugnis  geben, 
daß  er  der  hingebungsvolle  Vertreter  einer  Idee  und 
einer  Klasse  ist.  Dazu  reicht  ein  Politiker  aus.  Fehlt 
ihm  nur  eine  Haupteslänge  zum  eigentlichen  Staats- 
mann, dem  Repräsentanten  eines  Volks, 


—  18  — 

Mann  und  Weib. 

Von  August  Strindberg. 

(Aus  der  schwedischen  Handschrift   übersetzt    von   Emil  Schering.)*) 

Seine  eigene  Statue. 

Neulich  kam  eine  Ansichtskarte  in  meine  Hände. 
Sie  stellte  einen  monumentalen  Brunnen  vor,  mit 
einer  Prauengestalt  aus  Marmor  in  natürlicher  Größe. 
Die  Gestalt  war  mit  einem  modernen  Kleid  aus  Wolle 
schön  drapiert  und  hielt  ein  Buch  in  der  Hand.  Es 
war  schön,  die  Linien  waren  rein,  die  Palten  des 
Kleides  fielen  in  Kaskaden  auf  den  kleinen  Stiefel 
hinab  .  .  . 

Diese  Dame  habe  ich  schon  gesehen,  dachte  ich. 
Ich  las  die  Unterschrift  des  Bildes.  Ja,  sie  war  es, 
ich  habe  sie  gekannt,  sie  griff  einmal  mit  andern  in 
mein  Schicksal  ein.  Sie  war  mir  sonst  gleichgültig, 
auch  weil  sie   die  Frau   eines   anderen  Mannes   war. 


•)  Diese  neueste  Arbeit  Strindbergs  wird  hier  als  erster  und 
einziger  Druck  veröffentlicht.  Die  Buchausgabe,  der  sie  zugehört,  wird 
erst  1910  erscheinen.  Der  Übersetzer  hatte,  wie  er  mir  mitteilt,  das  Ka- 
pitel ursprünglich  »einer  großen  Wiener  Tageszeitung«  zugedacht,  die 
ihn  um  einen  Beitrag  von  Strindberg  ersucht  hatte.  Die  Redaktion 
hat  es  ihm  mit  der  folgenden  Begründung  zurückgegeben :  »Es  ist 
in  dieser  Arbeit  zu  deutlich  ersichtlich,  daß  gewisse 
geistige  Defekte,  an  denen  Strindberg  immer  gelitten 
hat,  sich  noch  in  bedenklichem  Maße  verstärkt  haben. 
Die  Leser  würden  geradezu  stutzig  werden,  daß  man 
ihnen  die  Ergüsse  einer  kranken  Psyche  vorsetzt.«  »Sie 
sind  also  gewarnt !«,  schließt  der  Übersetzer  seinen  Brief  an  mich.  Ich 
habe  ihm  mitgeteilt,  daß  ich  an  der  Spitze  der  gedankenvollen  Betrach- 
tungen diesen  Erguß  einer  gesunden  Wiener  Psyche  verewigen  werde. 
Ich  war  nicht  neugierig  zu  erfahren,  wie  sie  heiße.  Sie  trägt  den  Namen 
Wien  und  das  genügt.  Gewiß  war  es  verfehlt,  die  Wortführer  einer 
Geistigkeit,  die  eben  noch  für  die  Texte  des  Udelquartetts  emp- 
fänglich  ist,    mit   Strindberg   in  Versuchung   zu    bringen.    Aber 


—  19  — 

Ich  fragte  nach,  warum  sie  ein  Denkmal  in 
weißem  Marmor  erhalten  habe.  Man  antwortete,  sie 
sei  eine  Dichterin  gewesen.  Wie  eigentümlich,  daß 
ich  das  nicht  gewußt  habe!  .  .  .  (Sie  schrieb  jedoch 
nur  Feuilletons.) 

Aber  ich  habe  sie  in  Situationen  gesehen,  die 
sie  nicht  ehrten.  Sie  hatte  nämlich  meine  Bücher 
gelesen,  mußte  sich  eine  seltsame  Vorstellung  von 
meiner  Persönlichkeit  gemacht  haben,  denn  sie  zog, 
um  gesellig  zu  sein,  eine  häßliche  Seite  auf  und  ent- 
blößte in  einem  Augenblick  eine  nicht  schöne  Seele. 
Ich  erinnere  mich,  daß  ich  verstummte  und  errötete. 
Da  erschrak  sie,  daß  sie  sich  demaskiert  habe,  und 
sagte  etwas,  das  ich  nicht  verstand.  Ich  war  in  ihrem 
Hause ;  sie  war  unglücklich,  weil  sie  als  Verheiratete 
nicht  wie  eine  Unverheiratete  leben  konnte.  Sie  zog 


es  ist  ein  wahres  Glück,  daß  man  den  Ausdruck  ihres  Wider- 
strebens in  so  typischer  Fassung  der  Kulturgeschichte  überliefern  kann. 
Diese  Verzichtgebärde  des  Spießers,  der  gehofft  hatte,  Strindberg  werde 
sich  bereits  in  den  Rahmen,  sagen  wir  des  ,Neuen  Wiener  Tagblatts'  ge- 
fügt haben,  erhöhe  uns  den  Qenuß  an  der  bedeutsamen  Arbeit ! . .  Daß 
sie  in  jedem  Wort  der  Frauenbetrachtung  widerspricht,  aus  der  ich 
selbst  den  Mut  gegen  die  Morallügen  der  Menschheit  schöpfe,  wider- 
spricht nicht  ihrer  Berechtigung,  in  der  , Fackel'  zu  erscheinen.  Dies 
unbeirrbare  Staunen  über  das  Weib,  dessen  Seelenverlorenheit  dem 
göttlichen  Plane  trotzt,  schwebt  scheinbar  in  überirdischer 
Höhe,  wurzelt  aber  in  den  Tiefen  eines  erotischen  Lebens,  aus 
denen  allein  die  Kraft  solcher  Absage  gewonnen  wird.  So  mit 
Genuß  in  der  Hölle  zu  braten,  ist  viel,  wenn  man  aus  ihr  schon 
den  Himmel  nicht  machen  kann.  Über  die  Nichtmoral  des  Weibes 
kommt  kein  Mann  weg,  aber  die  Enttäuschungen  eines  Stirndberg 
erwachsen  zum  hinreißendsten  Bekenntnis,  das  die  moderne 
Welt  vernommen  hat.  Und  wie  sich  davor  ein  Wiener  Feuilleton- 
redakteur an  den  Kopf  greift,  ist  das  sehenswerteste  Schauspiel 
ihres  Wurstelpraters. 

K.  K. 


—  20 


sich    Verdrießlichkeiten    mit    ihrem   Mann    zu,    mit 
anderen  Worten:  er  schlug  sie. 

Und  jetzt  nach  dem  Tode  errichtet  er  ihr  eine 
Marmorstatue  auf  einem  öffentlichen  Platze.  Hat  er 
die  sich  selber  errichtet?  konnte  ich  fragen.  Ja,  er 
hat  sie  sich  selber  errichtet,  der  Erinnerung  an  das 
Schöne,  das  er  in  ihre  Seele  legte,  und  das  ich  nie 
gesehen  habe. 

Sein  Ideal. 

Alles,  Modell  und  Statue,  war  das  Werk  des 
Bildhauers.  Als  er  dieses  Weib  zu  lieben  anfing,  be- 
gann sein  Schöpfungswerk.  Aus  ihrer  ungeordneten 
Seelenmaterie  machte  er  mit  seinen  schönen  Gefühlen 
eine  Gedankenform,  die  das  Weib  zuerst  bewunderte 
und  verehrte,  und  der  es  dann  gleichen  wollte.  Aber 
sie  vermochte  nicht  mitzukommen ;  zuhause  strengte 
sie  sich  wohl  an,  die  Pose  und  die  Gebärde  für  eine 
Weile  einzunehmen,  kam  sie  aber  in  Gesellschaft,  so 
warf  sie  Maske  und  Kostüm  ab,    fiel   aus   der  Rolle. 

Aber  der  Mann  arbeitete  an  seiner  Gedanken- 
form ;  litt,  wenn  er  ihr  keine  Fasson  geben  konnte ; 
verzweifelte,  wenn  sich  das  widerstrebende  Material 
seinen  schönen  Absichten  nicht  unterwerfen  wollte. 
Litt  am  meisten,  wenn  er  sah,  wie  sie  von  anderen 
unfähigen  Händen  modelliert  wurde.  Die  Gesellschaft, 
deren  Essen,  Kleider,  Wagen  sie  in  Feuilletons 
schilderte,  hatte  ihr  Bild  von  diesem  Kind 
der  Welt.  Der  Bildhauer  trug  sein  besonderes  Bild, 
das  er  schließlich  in  Marmor  sah.  Ich  war  nur  erstaunt, 
daß  sein  Marmor  dem  wirklichen  Bild  so  genau  glich. 
Doch  merkte  ich,  daß  er  retuschiert  hatte.  Die  Ver- 
hältnisse der  Brust  und  des  Rumpfes  waren  geändert, 
die  Arme  ausgefüllt,  der  Fuß  war  schön  gemacht, 
obwohl  er  es  in  Wirklichkeit  nicht  war;  das  Oval 
des  Gesichtes  war  fixiert,  obwohl  es  etwas  hexenartig 
war.    Aber  auch  die  Pose  selber  war  vor  allem  sein 


—  21  — 

Eigentum;  über  ein  Buch  in  Nachsinnen  versunken. 
Er  hatte  sie  wohl  in  einem  solchen  Augenblick  ge- 
sehen, da  sie  am  meisten  Seele  und  am  wenigsten 
Erdgeist  war  und  am  besten  seinem  schönen  Ge- 
danken entsprach. 

Die  Gattin  des  Dichters  ist  ja  etwas  Apartes, 
aber  auch  von  ähnlicher  Art.  Die  Menschen  machen 
weite  Reisen,  um  die  Muse  des  Dichters  zu  sehen. 
Besitzt  sie  Selbstbeherrschung,  so  gibt  sie  die  Rolle, 
oft  aber  wird  sie  müde  und  man  bekommt  etwas 
ganz  anderes  zu  sehen. 

Im  Allgemeinen  bewundert  sie  ihren  Dichter 
nicht,  obwohl  sie  sich  so  stellt.  Daß  er  sie  verehren 
kann,  versteht  sie  nicht,  obwohl  sie  ihren  Vorteil 
dabei  findet.  Und  sie  ist  sehr  geneigt,  ihn  für  einen 
Schwindler  zu  halten,  weil  er  sie  verehrt.  Sie  möchte 
sagen,  daß  er  sich  selber  in  ihr  verehrt,  aber  das  tut 
er  nicht. 

—  Warum  möchtest  du  nicht  so  schön  werden, 
wie  ich  dich  machen  will?  fragte  er  sie. 

—  Wie  bist  du  denn  selber? 

—  Ich  ?  Du  sollst  besser  als  ich  sein,  damit  ich 
zu  dir  hinauf  sehen  kann.  Du  sollst  vollkommen  sein, 
denn  du  bist  ja  mein  Ideal. 

Ideal  nannten  wir  in  den  sechziger  Jahren  das 
geliebte  Weib.  Wir  wußten  wohl,  daß  Dantes  Beatrice 
sich  mit  einem  andern  verheiratete,  daß  Stagnelius' 
Amanda  vielleicht  nicht  so  liebenswürdig  war,  daß 
Malmströms  Angelika  kein  Engel  gewesen,  aber  wir 
empfanden,  daß  in  des  Mannes  subjektiver  Auffassung 
der  Liebe  eine  schaffende  Kraft  liegt,  die  zuerst  ein 
Idealweib  erschafft  und  dann  durch  sie  ein  Kind.  Das 
ist  wohl  das  Göttliche  bei  dem  sonst  an  die  Erde 
gebundenen  Mann,  daß  er  schaffen  kaun,  und  im 
schlimmsten  Fall  aus  dem  Nichts  I 

Dabei  kann  man  wohl  stehen  bleiben.  Sonst  ist 
die  Sache  unerklärlich ! 


22 


Selbstbetrug. 

Es  stand  ein  junges  schönes  Mädchen  vor  dem 
Käfig  der  Bären.  Sie  war  es  gewohnt,  daß  alle  ihrer 
Schönheit  untertänig  waren;  darum  dachte  sie, 
Menschen  und  alle  geschaffenen  Wesen  seien  lauter 
Güte. 

Sie  wollte  nun  zeigen,  wie  unwiderstehlich  sie 
auch  den  wilden  Tieren  gegenüber  sei,  und  vor  den 
Zuschauern  steckte  sie  ihre  kleine  Hand  durch  das 
Gitter,  wahrscheinlich,  damit  sie  geküßt  werde. 

—  Nehmen  Sie  sich  in  Acht,  er  beißt!  warnte 
ein  Zuschauer. 

—  Ach  nein,  er  ist  so  artig,  antwortete  die  Un- 
widerstehliche. 

Mit  einem  Ruck  hatte  der  Bär  die  kleine  Hand 
in  seinem  großen  Rachen. 

Eine  Minute  hat  sechzig  Herzschläge,  jetzt  aber 
wurden  es  einhundertzwanzig. 

Der  Bär  hielt  fest,  während  er  ihr  ins  Auge 
sah;  vielleicht  sagte  er  etwas  mit  dem  Blick  oder 
fragte  etwas;  denn  er  ließ  die  Hand  wieder  los,  als 
er   in   dem    schönen  Angesicht    gesehen   hatte,    was 

er  wollte. 

Der  Troubadour. 

Wir  hatten  eben  einen  Troubadour,  der  das 
Weib  und  die  Liebe  besang,  jedoch  nicht  Jungfrau 
und  Mutter  und  Kind,  sondern  die  Dame.  Er  trat 
immer  als  Don  Juan  auf,  obwohl  er  beständig  Fiasko 
machte.  Seine  große  Liebe  und  sein  großes  Weib 
waren  eine  Strafvorstellung.  Er  hat  sie  selbst  ge- 
schildert, ohne  es  zu  wissen,  als  eine  etwas  betagte 
und  korpulente,  altkluge,  praktische,  wirtschaftliche 
Aufwärterin,  die  lüderlich  lebte,  die  Kunst,  Jungfrau, 
Märtyrerin,  verfolgte  Unschuld  zu  spielen  so  gut 
verstand,  daß  der  Troubadour  an  sie  glaubte. 

—  Wenn  ich  einen  Mann  fände,  der  an  mich 
glaubte  1    war  ihr   gewöhnlicher  großer   Stoßseufzer. 


—  28  — 


Der  Troubadour  kam  und  glaubte  (das  heißt, 
ließ  sich  anführen). 

Nun  begann  er  Gesichte  zu  sehen  I 

In  der  Nacht  abwartend,  bis  der  letzte  Lieb- 
haber abzog,  wurde  er  aus  Barmherzigkeit  aufge- 
nommen. Bettelte  und  weinte  sich  hinein,  um  in  der 
Küche  auf  einer  Bank  zu  schlafen. 

Dann  wurde  sie  seine  Muse;  er  bekam  den 
Wahn,  sie  gebe  ihm  seine  Gedichte.  Sie  begriff  seine 
Dichtungen  nicht,  fühlte  sich  aber  von  diesem 
Weihrauch  angenehm  berührt.  Möglich  ist,  daß  die 
Berührung  mit  dieser  höheren  Welt  von  Schönheit, 
die  sie  nur  ahnte,  ihr  ein  Korkkissen  gab,  auf  dem 
sie    sich  schwimmend   erhalten    konnte. 

Schließlich  errang  er  sie  sich;  isolierte  sie  und 
verbarg  sie.  Da  aber  kam  die  Not  und  die  Krankheit, 
und  nach  den  schrecklichsten  Qualen  wurde  er  ge- 
zwungen, von  ihr  zu  leben. 

Als  es  sich  wieder  aufklärte,  schrieb  er,  um 
sich  emporzurichten  und  die  Schuld  zu  bezahlen,  ein 
herrliches  dramatisches  Gedicht  über  sie. 

Sie  saß  in  einer  fremden  Stadt  und  erwartete 
den  Triumph,  der  wirklich  nicht  ausblieb.  Als  das 
Publikum  ihm  huldigte,  stand  er  auf,  wie  inspiriert, 
lehnte  die  Huldigung  für  seine  Person  ab  und  brachte 
ein  Hoch  auf  das  große  Weib  aus,  das  ihm  dieses 
Gedicht  geschenkt  habe. 

Am  nächsten  Morgen  empfing  der  Triumphator 
von  einem  Freund  ein  Telegramm  des  Inhalts,  das 
große  Weib  sei  geflüchtet,  um  sich  mit  einem  reichen 
Fleischer  zu  verheiraten,    »der   sie  ernähren   könne«. 

Perikles'  Aspasia  heiratete  nach  seinem  Tod 
den  Viehhändler  Lysikles.  Warum  nicht!  Daß  aber 
Sokrates  auch  zu  ihren  Bewunderern  gehört  hat,  setzt 
mich  in  Erstaunen;  und  daß  noch  in  der  Geschichte 
zu  lesen  ist,  Perikles  habe  seine  großen  politischen 
Reden  von  ihr  bekommen,  ist  sicher  nicht  wahr. 


24  — 


Zuerst  fiel  der  Troubadour  zusammen.  Aber  er 
schalt  weder  noch  klagte,  sondern  fuhr  fort,  das  Lob 
der  Frau  zu  singen.  Bekam  eine  neue  Aspasia,  zwei, 
drei.  Sie  betrogen  ihn,  er  ahnte  es  oder  er  wußte  es, 
aber  er  fuhr  fort,  das  Lob  der  Frau  zu  singen,  wie 
eine  gut  aufgezogene  Spieldose,  die  erst  stehen  bleibt, 
wenn  sie  abgelaufen  ist. 

Eines  Tages  war  das  Spielwerk  abgelaufen:  er 
starb.  Der  Tod  war  nicht  schön,  aber  das  Begräbnis 
war  glänzend,  und  er  selber  hatte  es  im  Voraus 
arrangiert. 

Er  war  kein  boshafter  Mann,  kein  schlechter, 
sondern  recht  gefühlvoll  und  nicht  selbstsüchtig; 
aber  wie  kam  er  in  dieses  Elend? 

Ich  will  antworten  in  meinem  Namen  und  in 
seinem:  Wir  waren  gottlos,  und  darum  sanken  wir 
in  die  Erbärmlichkeit  unseres  eigenen  Wesens  hinein. 
Wir  liebten  Schönheit  und  Reinheit,  alles  aber  ver- 
wandelte sich  in  Dreck,  als  wir  uns  von  den  ewigen 
Urbildern  zu  den  vergänglichen  Abbildern  wandten 
und  Baal  (und  Astarte)  verehrten,  statt  Gott  im 
Himmel. 

Die  Frucht  der  Täuschung. 

Als  wir  entdeckten,  die  große  Liebe  sei  eine 
Täuschung,  schlössen  wir  daraus,  alles  Andere,  das 
weniger  wert  ist,  sei  eine  noch  größere  Täuschung. 
So  gaben  wir  die  Hoffnung  auf,  daß  wir  das  finden 
würden,  was  wir  suchten.  Wurden  für  einige  Zeit 
untätig  und  gleichgültig ;  was  hat  es  für  einen 
Zweck,  sich  anzustrengen,  wenn  man  wieder  ge- 
täuscht wird? 

Aber  die  Sache  hat  auch  eine  andere  Seite. 
Wie  fühlt  sich  das  Weib,  das  der  Gegenstand  für 
die  gewaltige  Liebe  eines  Mannes  wird,  der  sie,  wie 
sie  weiß,  nicht  entspricht?  Lächelt  sie  über  seine 
Halluzinationen,  hält  sie  ihn  für  dumm,  untergeord- 
net, weil  er  sich  so  leicht  anführen  ließ? 


25  - 


Das  böse  Weib  lacht  heimlich,  davon  bin  ich 
überzeugt.  Sie  verachtet  ihn  in  Wirklichkeit,  über- 
nimmt jedoch  die  Rolle  und  spielt  sie  bis  zum  Schluß, 
das  heißt  bis  zur  Trauung.  Dann  läßt  sie  die  Maske 
fallen,  und  er  sieht,  daß  er  in  die  Hölle  gekommen 
ist,  statt  ins  Paradies. 

Das  gute  Weib,  glaube  ich,  schämt  sich  vor 
sich  selber,  wenn  es  so  verehrt  wird,  legt  vielleicht 
Fehler  ab;  empfängt  durch  Influenz  gute  Impulse 
und  kann  in  ihren  besseren  Augenblicken  ausrufen : 
»Ich  bin  nicht  die,  für  die  du  mich  hältst ;  du  über- 
schätzest mich!« 

Das  glaube  ich  bloß;  denn  es  von  einem  Weib 
wissen,  ist  unmöglich,  weil  sie  nichts  von  sich  sel- 
ber weiß:  das  Selbstbewußtsein  fehlt  ihr. 

Vielleicht  soll  das  Schöne  und  Gute,  das  das 
Weib  beim  Manne  weckt,  in  ihren  Schoß  nieder- 
gelegt werden,  um  in  einem  Kind  wieder  geboren 
zu  werden,  dessen  Seele  dann  ein  Ebenbild  des  Gött- 
lichen wird,    das  im  Mann   vorhanden    war! 

Das  ist  ja  der  Weg  zur  Veredlung  des  Men- 
schengeschlechts, die  der  Zweck  der  Liebe  ist!  Dann 
wird  ja  die  Täuschung  Nebensache,  da  der  Zweck 
erreicht  wird! 

Hexen. 

Swedenborg  glaubt  an  Hexen,  da  er  sie  gese- 
hen habe,  und  das  tue  ich  auch,  denn  ich  habe 
einige  gekannt. 

Unter  Hexe  ist  ein  Weib  zu  verstehen,  das 
durch  einen  starken  Willensakt  ihre  körperliche  Seele 
aussenden  kann.  Sie  kann  diese  nachts  zu  schlafen- 
den Jünglingen  senden  und  ihnen  die  Illusion  einer 
Umarmung  geben.  Das  war  der  Succubus  oder  In- 
cubus  des  Mittelalters,  der  in  Goethes  »Paust«  vor- 
kommt, und  den  der  Autor  der  »Magie  des  Mittel- 
alters« (Rydberg)  nicht  begreifen  konnte,  weil  er  im 
Fleisch  lebte. 


—  26  — 


Ich  habe  vor  vielen  Jahren  im  Ausland  eine 
Hexe  gekannt,  ohne  zu  verstehen,  wen  ich  vor  mir 
hatte.  Sie  konnte  mein  Gesicht  so  verdrehen,  daß 
ich  sah,  was  nicht  vorhanden  war;  sie  konnte  mich 
besuchen,  wann  sie  wollte;  wenn  sie  böse  auf  mich 
war,  konnte  sie  mir  Selbstmordmanie  einflößen;  sie 
besaß  die  Kraft,  mir  alle  möglichen  Gefühle  beizu- 
bringen; sie  wünschte  sich  so  stark  Geschenke  und 
Geld,  daß  ich  von  innen  die  Eingebung  bekam,  ihre 
unausgesprochenen  Wünsche  zu  erfüllen. 

Ich  ging  also  mit  der  »Hexe«  die  Straße  hin- 
unter, und  aus  der  Entfernung  sahen  wir,  wie  eine 
Frauensperson  vergebens  auf  ein  Zweirad  zu  kommen 
suchte. 

—  Nein,  du  kommst  nicht  eher  hinauf,  als  ich 
es  will,  murmelte  meine  Hexe. 

Die  Dame  mühte  sich  eine  ganze  Weile  ab, 
aufs  Rad  zu  kommen. 

—  Hinauf  mit  dir!  sagte  die  Hexe  und  wandte 
den  Kopf  ab.  Im  selben  Augenblick  war  die  Dame 
im  Sattel. 

Sie  hatte  also  das  böse  Auge,  war  »jettatrice«, 
brachte  einem  Unglück,  war  natürlioh  grausam  und 
sinnlich;  denn  das  gehört  dazul 

Sie  war  sehr  häßlich,  konnte  einen  aber  so 
blenden,  daß  sie  schön  aussah,  jedoch  nicht  für  alle 
und  nicht  immer.  Obwohl  sie  43  Jahre  alt  ward,  konnte 
sie  gelegentlich  die  Illusion  erwecken,  daß  sie  17  sei. 

Nun  will  ich  gestehen,  daß  die  meisten  Frauen 
diese  letzte  Fähigkeit  besitzen.  Man  nennt  es  ihren 
»Charme«  oder  Reiz,  und  der  kann  einem  Mann  buch- 
stäblich den  Verstand  rauben. 

Viele  Mädchen,  welche  diese  gefährliche  Gabe 
entdeckt  haben,  mißbrauchen  sie  aus  Unverstand. 
Aber  viele  handeln  wie  auf  Befehl,  unter  Zwang  und 
sind  geschützt  in  ihrem  schrecklichen  Beruf:  gott- 
lose Männer  zu  strafen. 


—  27 


Darum  ist  der  Gottlose  wehrlos  gegen  die  Furie; 
und  das  hat  einfältige  Männer  veranlaßt,  von  »Frauen- 
macht« zu  sprechen  und  zu  schreiben.  Sie  hat  nur 
Macht  über  die  Gottlosen. 

Während  der  Hexenprozesse  kamen  oft  Fälle 
vor,  daß  Frauen  sich  selber  angaben  und  verlangten, 
verbrannt  zu  werden.  Diese  hatten  wahrscheinlich 
aus  Neugier  oder  Unverstand  gehandelt.  Als  sie  das 
böse  Wesen  hervorgerufen  hatten  und  es  im  Körper 
spürten,  fühlten  sie,  der  Scheiterhaufen  sei  die  einzige 
Befreiung. 

Noch  vor  sieben  Jahren  las  ich  in  einer  Zeitung 
von  Hexen  in  Lima,  die  verlangten,  verbrannt  zu 
werden. 

Also,  junge  Frauen,  pflegt  eure  Macht,  die  Gott 
euch  gegeben  hat,  aber  für  das  Gute!  Mißbraucht 
ihr  sie  aus  Herrschsucht,  Bosheit  oder  Wollust,  so 
habt  ihr  den  Wahnsinn  oder   den   Tod  zu  erwarten  I 

Gleichstellung. 

Die  Gleichstellung,  die  gesetzliche,  zwischen 
Mann  und  Weib,  kann  niemals  durchgeführt  werden. 
Und  wenn  man  sie  durchführte,  würde  das  Weib 
nur  verlieren,  denn  der  Mann  müßte  dann  sich  so 
roh  zu  machen  suchen,   wie  die  Sache   es  verlangte. 

Dieses  Gefühl  für  sein  Weib,  das  die  Natur 
beim  Mann  niedergelegt  hat,  ist  in  allen  Gesellschafts- 
klassen so  ausgeprägt  zu  finden,  daß  ein  Paria,  der 
sich  verheiratet,  seine  Frau  mehr  respektiert,  als  sich 
selber. 

Man  sagt:  In  den  unteren  Klassen  schlägt  der 
Mann  seine  Frau  immer,  in  den  oberen  Klassen  zu- 
weilen. Darauf  habe  ich  so  oft  geantwortet:  Ehe  ein 
Mann  Hand  an  das  Weib  legt,  das  er  liebt,  muß  sie 
sich  selber  mehrere  Male  so  tief  erniedrigt  haben, 
daß  die  letzte  Erniedrigung  nur  eine  bloße  Form 
war,  die  von  selber  kam. 

281-282 


28 


Aber  der  Mann,  der  durch  nicht  überlegten  hei- 
ligen Zorn  zum  Schlagen  gezwungen  wurde,  wird 
nachher  von  einem  solchen  Entsetzen  ergriffen,  von 
einem  solchen  Lebensüberdruß,  daß  er  sich  töten  will. 

Es  ist  also  eine  Gewähr  vorhanden,  daß  die 
Frau  besser  behandelt  wird,  als  sie  verdient.  Und  in 
der  Häuslichkeit  nach  einer  Szene,  wenn  der  Mann 
harte  Worte  gesagt  hat,  die  aber  wohl  verdient 
waren,  ist  er  es,  der  am  meisten  leidet.  So  leidet, 
daß  er  um  Verzeihung  bittet,  »weil  er  Unrecht  ge- 
habt habe«. 

Verkehrt. 

Sie  verlobte  sich  mit  einem  unbedeutenden 
Mann,  um  einen  andern  zu  ärgern.  Aber  sofort  nach 
der  Verlobung  bereut  sie  ihren  Schritt  und  schreibt 
an  den  ersten  und  beklagt  sich: 

Der  Bräutigam  ist  eine  kleine,  boshafte  Seele 
und  hat  sie  schon  geschlagen ;  er  ist  eben  von  einer 
unheilbaren  Krankheit  aufgestanden ;  er  ist  schwer- 
mütig und  wird  ihr  keine  Lebensfreude  gewähren ; 
er  hat  kein  Einkommen,  weil  sein  Gehalt  für  Schulden 
daraufgeht;  er  ist  ihr  bereits  als  Bräutigam  untreu; 
sie  liebt  ihn  nicht,  nimmt  ihn  aber,  weil  sie  nicht 
allein  leben  kann. 

Als  der  verlassene  Mann  darauf  antwortet,  ihr 
beistimmt  und  das  unsympathische  Bild  vervoll- 
ständigt, da,  eins,  zwei,  drei,  wendet  sich  das  Papier 
und  gegen  das  Licht  wird  alles   umgekehrt  gelesen. 

Der  Bräutigam  ist  jetzt  eine  große  Seele  und 
er  ist  gut  gegen  sie ;  er  hat  diese  Krankheit  niemals 
gehabt;  er  wird  jetzt  ihrer  Jugend  Freude  schenken; 
er  ist  ihr  nicht  untreu  gewesen;  sie  liebt  ihn,  ohne 
zu  wissen  warum. 

Die  Theosophen  sagen :  wenn  man  die  Dinge 
von  der  Astralebene  anschaut,  so  zeigen  sie  sich 
verkehrt.  Darum  sind  Träume  oft  umgekehrt  zu 
deuten,    durch  Antiphrase;    und   in   Swedenborg   ist 


—  29  - 


eine  Andeutung  zu  finden  über  diese  pervertierte 
Art,  die  Dinge  zu  sehen.  Nur  in  einem  gewissen 
Gemütszustand,  wenn  die  Bosheit  einem  das  Gesicht 
verkehrt,  tritt  sie  auf. 

Man  spricht  von  Widerspruchsgeist,  weiß  aber 
nicht,  was  es  ist.  Ein  dämonischer  Zustand,  welcher 
der  physischen  Influenz  gleicht,  bei  der  Gegenpol 
den  Pol  anzieht,  Norden  Süden  hervorruft,  plus 
minus  verlangt.  Um  aber  Influenz  empfangen  zu 
können,  muß  man  ein  unselbständiges  Wesen  sein,  in- 
different, und  es  ist  möglich,  daß  dieses  Geschöpf  ohne 
Selbst  bloß  Influenz  empfängt  und  schwarz  zu  weiß, 
gut  zu  böse,  Wahrheit  zu  Lüge  umpolarisiert.  Der 
gute  Mann  wird  böse,  der  Kranke  gesund,  Trauer 
wird  Freude,  klein  wird  groß  .  .  . 

* 
Aphorismen.*) 
Von    Karl  Kraus. 

Leute,  die  über  den  Wissensdurst  getrunken 
haben,  sind  eine  gesellschaftliche  Plage. 

Der  Nationalismus  ist  ein  Sprudel,  in  dem  jeder 

andere  Gedanke  versintert. 

* 

Wenn  einer  sich  wie  ein  Vieh  benommen  hat, 
sagt  er:  Man  ist  doch  auch  nur  ein  Mensch!  Wenn 
er  aber  wie  ein  Vieh  behandelt  wird,    sagt  er:    Man 

ist  doch  auch  ein  Mensch! 

» 

Keinen  Gedanken    haben   und    ihn    ausdrücken 

können  —  das  macht  den  Journalisten. 

• 

Wenn  die  ersten  Enttäuschungen  kommen,  ge- 
nießt man  den  Lebensüberdruß  in  vollen  Zügen,  man 
ist  ein  Springinsfeld  des  Todes  und  leicht  bereit,  dem 

*)  Aus  dem  .Simplicissimus'. 


—  30  — 


Augenblick  alle  Erwartung  zu  opfern.  Später  erst 
reift  man  zu  einer  Gourmandise  des  Selbstmords  und 
erkennt,  daß  es  immer  noch  besser  ist,  den  Tod  vor 
sich  als  das  Leben  hinter  sich  zu  haben. 


Meine  Bücher. 

Der  erste  Band  von  »Kultur  und  Presse« 
wird  im  Herbst  erscheinen.  Als  Motto  werde  ich 
wahrscheinlich  die  folgenden  Worte  wählen: 

> Freilich  gibt  es  Tagesschriftsteller  und  Tagesschriftsteller:  der 
Moment  kann  ihm  einen  Wert  verleihen,  aber  auch  er  dem  Momente, 
und  ist  das  Letztere  der  Fall,  so  mag  er  seine  Blätter  zu  einem  Buche 
zusammenlegen,  wie  ja  das  Jahr  auch  nur  aus  aneinandergereihten 
Tagen  besteht.  Geist  und  Charakter  des  Schreibers,  eine  durchwaltende 
Kunst-  oder  Lebensanschauung,  die  eigentümlich  ausgeprägte  Form  der 
Darstellung  binden  dann  das  Einzelne  zu  einem  Ganzen  zusammen.« 

(.Neue     Freie     Presse',      30.    Mai      1909, 
Wiederabdruck  eines  Artikels  vom  18.  Mai 
1886:  Ludwig  Börne  von  Ludwig  Speidel.) 
* 

Über  »Sprüche  und  Widersprüche«  haben 
sich  in  den  letzten  Wochen  geäußert:  Die 
,Pariser  Zeitung'  (das  einzige  deutsche  Blatt 
in  Prankreich)  in  ihrer  Nummer  vom  8.  Mai  des 
VIII.  Jahrgangs  durch  vollständigen  Nachdruck 
des  Karl  Bleibtreuschen  Essays  aus  der  ,Münchner 
Allgemeinen  Zeitung',  die  Berliner  Revue  ,Das 
Blau  buch'  (13.  Mai)  in  einem  Artikel  »Der 
Aphorismus«,  der  viel  Anerkennung  bringt,  ohne  dem 
Wesen  des  Buches  nahezukommen,  und  —  zum  ersten- 


-  31 


male  eine  österreichische  Zeitschrift  —  die  , Wiener 
Mitteilungen  literarischen  Inhalts',  die  im 
Verlag  R.  Lechner.  (Wilh.  Müller)  erscheinen.  Ein 
mir  persönlich  unbekannter  Autor  hat  dort  in 
der  Nummer  vom  1.  Juni  des  XXI.  Jahrgangs  den 
folgenden  Aufsatz  veröffentlicht: 

»Sprüche    und    Widersprüche«. 

Welche  Erlösung  fühlt  der  Geist,  der  willig  war,  vom  Leben  zu 
empfangen,  jedoch  angekränkelt  von  der  Moral  der  Gesellschaft,  zu 
schwach  ist  zu  gebären,  wenn  er,  plötzlich  seiner  reifen  Erkenntnisse 
entbunden,  die  Kinder  seines  traumhaften  Fühlens  als  Geschöpfe  voll 
Leben  und  Schönheit  vor  sich  sieht.  Die  Fähigkeit,  dem  beladenen,  nach 
Befreiung  ringenden  Geist  diese  Lust  der  Erlösung  zu  bieten,  verrät  mir 
den  Künstler.  Eine  jede  Erkenntnis,  die  mir  der  Künstler  zuträgt,  muß, 
soll  sie  mich  im  Innersten  packen,  schon  von  Anbeginn  mein  Eigen  ge- 
wesen sein.  Er  hat  nur  das  Ziel,  sie  in  mir  zu  wecken  und  sie  mir  in 
einer  Form  zu  zeigen,  die  mir,  habe  ich  sie  erkannt  und  empfunden,  als 
die  einzig  mögliche,  als  die  vollendete  erscheinen  muß.  Das  fühlt  der 
Künstler,  darum  strebt  er  auch  nicht  so  sehr,  der  Menschheit  Neues  zu 
sagen,  wie  danach,  jenen,  die  zu  empfinden  und  zu  erkennen  vermögen, 
den  Genuß  der  Form,  die  Schönheit  des  Ausdrucks  zu  bieten.  Die  Er- 
kenntnis bleibt  ihm  immer  nur  Mittel  und  gilt  ihm  nur  als  wertvoll,  so  sie 
sich  seiner  Begierde  nach  künstlerischem  Gestalten  fügt.  Dieses  aber  ge- 
währt ihm  jene  Lust,  die  er  als  Zeugender  den  willigen  und  würdigen 
Empfangenden  mitfühlen  läßt. 

Zu  diesen  Betrachtungen  hat  mich  das  neueste  Buch  von  Karl 
Kraus  angeregt,  das  vor  kurzem  im  Verlag  von  Albert  Langen  in 
München  erschienen  ist.  Eine  stattliche  Anzahl  von  Aphorismen,  die  Karl 
Kraus  im  Laufe  der  letzten  Jahre  seinen  Lesern  beschert  hat,  sind  hier  in 
einen  Band  vereinigt.  Man  weiß  von  dem  Autor  im  allgemeinen  leider 
nur,  daß  er  ein  gewandter  Fechter  und  sarkastischer  Glossenschreiber  ist, 
läßt  ihn  wohl  auch  als  eigenartigen  Stilvirtuosen  gelten,  seine  Künstler- 
schaft jedoch  würdigt  man  noch  immer  nicht  gehörig.  Daß  ihm  der  Kampf 
Lebenselement,  die  Sprache  eine  Gottheit  ist,  der  er  alles  opfert,  um 
von  ihr  die  gnädige  Gewährung  des  Genusses  ihrer  Schönheit  zu  erlangen, 
das  glaubt  man  ihm  nicht,  weil  man  ihn  —  zu  wenig  kennt.  Das  große 
Publikum  kennt  den  Karl  Kraus  der  letzten  Jahre  nicht,  es  hat  nicht 
Schritt  gehalten  mit  seiner  Entwicklung,  es  konnte  dem  rasend  Vorwärts- 
drängenden nicht  folgen,  verspürte  wohl  auch  wenig  Lust  dazu,  als  er 
»heimlich  in  eine  Betrachtungsweise  abgeglitten  ist,  die  als  das  einzige 
Ereignis  gelten  läßt:  wie  er's  erzählt«. 

Sein  vor  wenigen  Monaten  erschienenes  Werk  »Sittlichkeit  und 
Kriminalität«   wurde   vom   Publikum  nicht  gelesen,    von  der  Kritik   hier- 


—  32 


zulande  nicht  genannt.  Das  mag  hingehen.  Ließ  sich  doch  seitens  der 
zünftigen  Kritik  manches  dem  Publikum  plausible  Argument  ins  Treffen 
führen,  das  es  entschuldbar  erscheinen  lasse,  dieses  Buch  zu  übergehen. 
Aber  das  neue  Buch,  das  an  keinen  >Fall«  anknüpft,  das  Stoffliche  dem 
Künstlerischen  gänzlich  unterordnet,  soll  und  darf  nicht  totgeschwiegen 
werden. 

Karl  Kraus,  eine  echte  Künstlernatur,  schätzt  seine  Kunst  und  sich 
als  deren  Träger  hoch.  Sein  kritischer  Geist  leistet  ihm  nur  Zuträger- 
dienste. Er  will  kein  System  dozieren,  schwankt  er  doch  selbst  tändelnd 
zwischen  Meinung  und  Gegenmeinung  und  stellt  entschlossen  der  These 
eine  Antithese  gegenüber.  Was  tut's,  wenn  er  es  nur  anmutig  zu  machen 
weiß.  Man  dringe  auf  den  Kern,  so  erweist  sich  dieses  blendende  Spiel 
mit  witzigen  Worten,  Sarkasmen  und  Paradoxen  als  eigenartige  Kunst. 
Banale  Lokalismen,  derbe  Ausdrücke  zieht  er  mitunter  zu  einer  ver- 
blüffenden Wirkung  heran.  In  allem  verrät  Karl  Kraus  feinsten  Geschmack. 
Man  beachte  nur  beispielsweise  die  Gruppierung  der  Aphorismen  in  dem 
vorliegendem  Buche:  »Weib,  Phantasie«,  > Moral,  Christentum«,  »Mensch 
und  Nebenmensch«,  »Dummheit,  Demokratie,  Intellektualismus«,  Der 
Künstler«,  »Über  Schreiben  und  Lesen«,  »Länder  und  Leute«,  »Stim- 
mungen, Worte«,  »Sprüche  und  Widersprüche«.  Jedes  Kapitel  für  sich 
dem  Leitgedanken  angepaßt  und  das  Ganze  zu  einer  höheren  Einheit 
gefügt.  »Qual  des  Lebens  —  Lust  des  Denkens« :  diese  Erkenntnis  hat 
Kraus  dem  Buche  als  Motto  gegeben.  Man  spürts  fast  aus  jeder  Zeile, 
wie  er  aus  der  Qual  Lust  zu  schöpfen  weiß,  wie  er  unter  unsäglichen 
Schmerzen  empfängt,  um  sich  schadlos  zu  halten  an  der  Wonne,  die 
ihm  das  Schaffen  bietet.  »Ein  guter  Stilist  soll  bei  der  Arbeit  die  Lust 
eines  Narzissus  empfinden«,  sagt  er  irgendwo.  Er  schafft  bewußt  seinet- 
wegen und  wirkt  so  unbewußt  und  daher  mit  elementarer  Gewalt  auf 
den  Empfangenden.  Seine  Stellung  zu  den  Dingen  schwankt  und  muß 
schwanken,  da  er  sich  ihnen  unmittelbar  gegenüberstellt,  keinen  von 
irgend  einer  Rücksicht  diktierten  Standpunkt  einnimmt.  Dennoch  gelangt 
er  zu  einer  Philosophie,  die  gleich  seiner  Kunst  sein  Ureigenstes  darstellt 
und  in  seinem  Wesen  begründet  ist. 

Zu  dieser  Philosophie  bekehren  zu  wollen,  wäre  ein  eitles  Beginnen. 
Es  ist  nicht  jedermanns  Sache,  dem  Vorurteil  eines  Geistreichen  gegen- 
über dem  traditionellen  Urteil  der  Gesellschaft  den  Vorzug  zu  geben, 
dem  bald  auf  einsamen  verschlungenen  Pfaden  wandelnden  Sucher,  dem 
bald  auf  steinigen  Ufern  dahinrasenden  haßerfüllten  Kämpfer  unbedingt 
Gefolgschaft  zu  leisten. 

Nicht  das  Ziel  seines  Kampfes,  die  Form  seiner  Kunst  will  ich 
hervorheben.  Wer  die  deutsche  Sprache  liebt  und  sich  laben  will  an  der 
Kunst  ihrer  Meisterung,  der  versäume  nicht,  die  »Sprüche  und  Wider- 
sprüche«  immer  wieder  durchzublättern. 

Emil   Robert. 


-  33  - 

Von  mehreren  Lesern  wird  mir  ein  Zeitungs- 
ausschnitt zugesendet,  auf  dem  die  folgenden  Worte 
zu  lesen  sind  : 

»Geistige  Bedeutung,  wo  immer  sie  sich  zeige,  ist  eine  Macht, 
die  unfehlbar  die  Menschen  bezwingt,  und  sie  öffentlich  nicht  anerken- 
nen wollen,  wenn  man  sie  in  seinem  Innern  auch  noch  so  deutlich 
empfindet,  ist  eine  Heuchelei,  die  den  Charakter  zerstört  und  den  Ver- 
kehr der  Geister  unter  einander  zur  Lüge  macht.  Es  ist  die  wahre 
Sünde  wider  den  heiligen  Geist. < 

(,Neue  Freie  Presse',  30.  Mai  1909, 
Wiederabdruck  eines  Artikels  vom  18.  Mai 
1886:    Ludwig  Börne  von  Ludwig  Speidel.) 


Literatur  und  Presse. 

Eine  Geschichte  in  Briefen. 

Wien,  29.  April  1909. 
Sehr  geehrter  Herr  Baron  ! 
Ihr  uns  freundlichst  für  die  Jubiläumsnummer  zur  Verfügung 
gestelltes  Gedicht  »Anakxeontisches  Liedel«  wurde  von  sehr  vielen 
deutschen  Zeitungen  nachgedruckt.  Von  den  Nachdrucken,  die  zu 
unserer  Kenntnis  gelangt  sind,  war  einer  in  der  .Frankfurter  Zeitung' 
am  11.  April  enthalten,  und  aus  dieser  ging  das  Gedicht  wahrscheinlich 
in  die  .Nordwestdeutsche  Morgenzeitung'  (Oldenburg)  vom  15.  April,  in  die 
.Hamburger  Nachrichten'  vom  18.  April,  in  den  .Hannoverschen  Courier' 
vom  13.  April,  in  das  .Altonaer  Tageblatt'  vom  14.  April  etc.  über. 

Wir  glauben  uns  erinnern  zu  können,  daß  Sie,  geehrter  Herr 
Baron,  einem  »Lyrischen  Kartell«  angehören,  in  welchem  Falle  Ihnen 
Ersatzansprüche  zustehen. 

Wir  zeichnen  mit  vorzüglicher  Hochachtung 

der  Verlag  der  .Fackel'. 

Berlin,  3.  Mai   1909. 
Hochgeehrter  Herr  Baron  ! 
Unter  Wiederbeifügung   der  Anlage    teilen    wir    Ihnen    ergebenst 
mit,  daß  leider  ein  Einschreiten  gegen  den  stattgehabten  Nachdruck  un- 
möglich ist,  da  belletristische  Arbeiten  aus  österreichischen  Blättern,  sofern 
das  Nachdrucksverbot  fehlt,  nachdrucksfrei  sind. 
Mit  vorzüglicher  Hochachtung 

die  Geschäflsstelle  des  Allgemeinen  Schriftstellervereines. 

Alt-Rahlstedt  bei  Hamburg,  5.  Mai   1909. 
Besten  Dank,    lieber  Herr  Kraus,     für  Ihre   freundliche  Aufmerk- 
samkeit. Aber  leider,  siehe  gütigst  oben,  ist  dies  das  Ergebnis. 

Ihr  Liliencron. 


—  34  — 

Wien,  7.  Mai  1909. 

Hochgeehrter  Herr  Baron  ! 

Mit  dem  besten  Dank  für  Ihr   freundliches  Schreiben    teilen    wir 

Ihnen  mit,    daß  auf  dem  Umschlag   der  .Fackel'   das  Nachdrucksverbot 

ausdrücklich  bekanntgegeben    ist.  Auch  erscheint    unsere  Zeitschrift    seit 

Nummer    263    in    einer    eigens    für    Deutschland    gedruckten    Ausgabe. 

Vielleicht  wollen  Sie  das  dem  Verein  mitteilen. 

In  vorzüglicher  Hochachtung 

der  Verlag  der  , Fackel'. 

P.  S.  Wir  erlauben  uns  gleichzeitig,  eine  Nummer  der  deutschen 
Ausgabe  unter  Kreuzband  zu  übersenden. 

Alt-Rahlstedt  bei  Hamburg,  15.  Mai  1909. 

Lieber  Herr  Karl  Kraus  ! 

Eben  schickt   mir  Herr  Krüger-Westend    den    mitfolgenden  Brief,. 

aus  dem  ich  nicht  recht  klug  werde.     Vielleicht   schicken  Sie    mir    Ihre 

Antwort  so,  daß  ich  sie  ihm  übermitteln  kann. 

Mit  alter  Verehrung 

Ihr  Lihencron. 

Altona-Ottensen,  14.  Mai  1909. 
Hochgeehrter  Herr  Baron  ! 
Von  der  Wiener  Wochenschrift  ,Die  Fackel'  ist  seinerzeit  Ihr 
»Anakreontisches  Liedel<  an  die  Presse  verschickt  worden.  Wie  so 
viele  Zeitungen,  haben  auch  wir  Ihr  Gedicht  nachgedruckt,  das  von  dem 
Wiener  Verlag  zu  Propagandazwecken  verwendet  worden  ist.  Jetzt 
meldet  sich  bei  uns  das  Kartell  lyrischer  Autoren  des  Allgemeinen 
Schriftstellervereines  mit  einer  Honorarforderung  für  Nachdruck.  Wir 
haben  ihm  geschrieben,  daß  wir  die  Angelegenheit  mit  Ihnen,  sehr 
geehrter  Herr  Baron,  wie  schon  früher  einmal  bei  einem  Nachdruck  in 
Kurt  Küchlers  .Schleswig-Holsteinischer  Rundschau',  selbst  erledigen 
werden.  Wir  bitten  Sie  nun,  uns  freundlichst  mitzuteilen,  ob  der  Wiener 
Verlag  berechtigt  war,  Ihr  Gedicht  der  Presse  mit  einem  Hinweis  auf 
seine  Zeitschrift  zur  Verfügung  zu  stellen,  und  ob  Sie  unter  diesen  Um- 
stünden eine  Honorarforderung  aufrecht  erhalten.  Wie  sträuben  uns 
natürlich  nicht,  Ihnen  auf  Ihr  Verlangen  25  Pf.  für  die  Druckzeile  (=M  6.—) 
zu  übersenden,  würden  uns  aber  vorbehalten,  in  diesem  Falle  aus  prin- 
zipiellen Gründen  den  Wiener  Verlag,  den  eigentlichen  Urheber  der 
ganzen  Affaire,  dafür  zivilrechtlich  verantwortlich  zu  machen. 

In  vorzüglicher  Hochachtung  grüßt  Sie  Ihr  ganz  ergebenster 

Herman  Krüger-Westend, 
Feuilleton-Redaktion  des  Altonaer  Tageblattes. 

"Vien,  20.  Mai  1909. 
Hochgeehrter  Herr  Baron  ! 
Die  Feuilleton-Redaktion  des  .Altonaer  Tageblatts'  irrt  nicht,  son- 
dern lügt.  Von  der  .Fackel'  ist  Ihr  Gedicht    an    die    Presse   nicht  ver- 
schickt und  nicht  zu  Propagandazwecken    verwendet    worden.    Nie  hat 


35 


der  »Wiener  Verlag«  Ihr  Gedicht  der  Presse  mit  einem  Hinweis  auf 
seine  Zeitschrift  oder  in  irgend  einer  andern  Form  zur  Verfügung  ge- 
stellt. Er  war  ebensowenig  »der  Urheber  der  ganzen  Affäre«  und  ist 
ebensowenig  zivilrechtlich  dafür  verantwortlich  zu  machen,  wie  ein 
Bestohlener  zum  Diebstahl  verleitet  hat  und  zum  Schadenersatz  an  den 
Dieb  verhalten  werden  kann.  Wenn  er  schon  freilich  nicht  selbst  zu 
Schaden  gelangt  ist  und  ihm  doch  eine  Rolle  in  dieser  Affäre  zukom- 
men soll,  so  ist  es  die  des  Anzeigers.  Eine  gewisse  Gelegenheit  war 
ja  dem  Unternehmen  günstig.  Daß  aber  der  Verlag  der  .Fackel'  diesem 
Vorschub  geleistet  oder  gar  die  .Altonaer  Zeitung'  verleitet  habe,  davon 
kann  keine  Rede  sein.  Die  Sache  verhält  sich  anders.  Es  ist  wahr,  daß 
die  , Fackel'  seit  zehn  Jahren  an  einige  größere  deutsche  Tagesblätter 
gesendet  wird,  die  den  »Inhalt«  abdrucken  oder  von  dem  Erscheinen  des 
Heftes  im  »Zeitschrifteneinlauf«  Notiz  nehmen.  Zu  diesen  größeren 
Tagesblättern,  deren  manche  überdies  auf  die  .Fackel'  abonniert  sind, 
gehört  die  .Frankfurter  Zeitung'.  Die  nun  hat  Ihr  Gedicht  aus  der 
.Fackel'  übernommen  und  den  Nachdruck  mit  den  Worten  eingeleitet : 
»Die  von  Karl  Kraus  herausgegebene  Wiener  Wochenschrift , Die  Fackel', 
die  mit  ihrer  neuesten  (Doppel-)Nummer  ihr  zehnjähriges  Bestehen  feiert, 
bringt  folgendes  ,Anakreontisches  Liedel'  von  Detlev  von  Liliencron.« 
Mit  dieser  Einleitung  ging  hierauf  das  Gedicht  in  die  gesamte  deutsche 
Presse  Deutschlands  und  des  Auslands  über.  Ein  paar  Dutzend  Aus- 
schnitte, die  uns  von  verschiedenen  Bureaus  zugesendet  wurden,  be- 
rechtigen zu  der  Schätzung,  daß  Ihr  Gedicht  von  mehreren  hundert 
Blättern  —  zwischen  Berlin,  Hamburg,  Köln,  München,  Magdeburg, 
Chemnitz,  Dortmund,  Linz,  Graz,  Riga  und  Bukarest  —  nachgedruckt 
worden  ist.  Darauf  wollten  wir  Sie,  hochverehrter  Herr  Baron,  aufmerk- 
sam machen,  aus  »prinzipiellen  Gründen«,  und  weil  wir  Ihnen  die  Ein- 
nahme, die  Ihnen  aus  einer  energischen  Kontrolle  erflossen  wäre,  gern 
gegönnt  hätten.  Wir  selbst  sind  ja  leider  nicht  in  der  Lage,  die  Zahl 
der  Gänserufe  festzustellen,  die  sich  in  Deutschland  erheben,  wenn  eine 
große  Zeitung  den  Ton  angegeben  hat.  Diese6  automatische  Verfahren, 
dem  literarische  Werke  heute  den  Ruhm  verdanken,  und  das  von  dem 
Signal  eines  einzigen  Blattes  abhängt,  wäre  erträglich,  wenn  es  die 
Provinzpresse  nicht  größenwahnsinnig  machte  und  wenn  man  es  nicht 
erleben  müßte,  daß  Feuilletonredakteure,  die  selbst  den  Nachdruck  aus 
zweiter  Hand  und  das  Original  nie  zu  Gesicht  bekommen  haben,  sich 
nachträglich  als  Entdecker  und  Förderer  aufspielen.  Daß  aber  bei  diesem 
geistigen  Schneeballsystem,  welches  nicht  immer  der  Verbreitung  einer 
guten  Sache  dient,  auch  die  Einkünfte  des  Autors  proportional  an- 
wachsen, dafür  sollte  der  Verein  sorgen,  der  die  Rechte  der  Schrift- 
steller zu  wahren  hat,  und  er  sollte,  auf  die  Gefahr  hin,  künftige  Nach- 
drucke zu  erschweren,  bei  einer  so  ergiebigen  Gelegenheit  wie  dieser 
aus  den  verstecktesten  Provinzen  des  Geistes  die  Honorare  eintreiben. 
Wenn  der  Allgemeine  Schriftstellerverein  einfach  an  sämtliche  reichs- 
deutschen  Tagesblätter  —  die  deutsche  Presse    Rumäniens    und    Öster- 


-  36  — 


Teichs  wird  schwerer  zu  fassen  sein  —  eine  Aufforderung  sendet,  das 
Nachdruckshonorar  zu  bezahlen,  so  kann  er  sicher  sein,  daß  nicht  ein 
einziges  den  Tatbestand  leugnen  und  die  Zahlung  verweigern  wird,  und 
es  wäre  ein  schönes  Beispiel,  wie  Deutschland  in  einer  lyrisch  gelaun- 
ten Stunde  einen  Dichter  für  die  stumpfe  Teilnahmslosigkeit  eines  gan- 
zen Jahres  entschädigen  kann.  Selbst  Herr  Krüger  in  Altona  ist  so 
nobel,  den  Nachdruck  zu  bezahlen.  Freilich  hofft  er,  daß  Sie,  hoch- 
verehrter Herr  Baron,  wegen  der  Lappalie  die  Verständigung  mit  dem 
Wiener  Verlag  unterlassen  werden,  der  ja  >der  eigentliche  Urheber  der 
ganzen  Affäre«  ist.  Da  Sie  diese  Verständigung  aus  Gründen,  die  min- 
destens ebenso  prinzipiell  sind,  wie  die  des  Herrn  Krüger  in  Altona, 
nicht  gescheut  haben,  so  gelangen  Sie  zur  überraschenden  Kenntnis  der 
Tatsache,  daß  der  Wiener  Verlag  nie  ein  Exemplar  der  .Fackel'  an  die 
,Altonaer  Zeitung'  geschickt  hat  und  daß  diese  die  .Fackel'  ausschließ- 
lich aus  dem  Nachdruck  in  der  .Frankfurter  Zeitung'  oder  einem  näher- 
liegenden Hamburger  Blatte  kennt.  Herr  Krüger  nennt  auch  in  seinem 
Brief  die  .Fackel'  eine  > Wiener  Wochenschrift«,  aber  er  wüßte  gewiß 
noch  richtiger  anzugeben,  daß  sie  mit  jener  Nummer  >ihr  zehnjähriges 
Bestehen  gefeiert«  hat.  All  dies  weiß  er  nur  vom  Hörensagen  und  die 
.Fackel'  selbst  hat  ihm  weder  zur  Feier,  noch  irgend  einmal  in  den 
zehn  Jahren  ihren  Inhalt  dargeboten.  Sonst  könnte  er  sie  zwar  zivil- 
rechtlich verantwortlich  machen,  aber  er  würde  auch  wissen,  daß  sie 
sich  hauptsächlich  mit  den  miserablen  Verhältnissen  beschäftigt,  in  denen 
die  literarische  Kunst  lebt,  seitdem  sie  in  die  Fänge  des  journalistischen 
Betriebs  geraten  ist. 

Mit  dem  Ausdruck  der  vollkommensten  Hechachtung 

der  Verlag  ,Die  Fackel'. 

* 

Eine  gelungene  Satire. 

Das  Geschöpf  einer  tollen  Laune  war  er  und  ein  richtiges 
Kind  des  Zufalls. 

Drei  junge  Menschen  saßen  beim  Weine,  einer  von  ihnen 
sprach  den  Namen  aus,  und  es  war,  als  ob  jemand  sich  unter  sie 
gedrängt  hätte.  Einer  mit  anmaßender  Art,  den  man  nicht  mehr 
wegschaffen  konnte,  der  das  Gespräch  in  seinem  Banne  hielt.  Zu- 
greifend und  rücksichtslos  war  Peter  Pitarski  vom  ersten  Moment  an. 

Erich  Evra,  der  Dichter,  hat  ihn  erfunden.  Er  ist  ganz 
stolz  auf  seinen  Einfall,  die  helle  Lust  sprüht  aus  den  jungen 
Augen.  Nur  seine  Kleidung  spricht  von  Armseligkeit,  aber  der 
wohlwollende  Betrachter  wird  nicht  unterlassen,  darin  etwas  Ge- 
suchtes zu  erkennen.  Und  er  verkündete  mit  dem  Pathos  des 
schweren  Weines: 


-  37 


> Peter  Pitarski,  ich  rufe  ihn  aus  dem  Nichts,  mein  Werk 
sei  er!  —  Ich  denke  mir  ihn  als  eine  Art  Kriegsmaschine  im 
Konkurrenzkampf  moderner  Literatur;  ein  Mauerbrecher  mit 
stählerner  Brust  und  Panzergliedern,  in  dessen  Innern,  geschützt 
und  unsichtbar,  der  Lenker  steht.  Peter  Pitarski  sei  der  Name, 
unter  welchem   ich   einen   literarischen  Beutezug   antreten  werde. 

Ist  die  Talentlosigkeit  ein  Gnadengeschenk?  Muß  Unfähigkeit 
angeboren  sein?  Lassen  sich  diese  wunderbaren  erfolgversprechenden 
Mängel  des  Geistes  nicht  imitieren?  Ich  glaube  es  zu  können!  Und 
so  werde  Peter  Pitarski.  Frei  ist  er  von  allem,  was  mich  fesselt;, 
ihn  kränkt  kein  Spott,  kein  künstlerischer  Anstand  hält  ihn  ge- 
bunden, keinen  Namen  hat  er  zu  verlieren.  Ich  schaffe  ihn,  ich 
nenne  ihn,  ich  mache  ihn  zum  Literaten  und  gebe  der  Maschine 
die  Richtung  auf  den  Erfolg. 

Peter  Pitarski  möge  an  Geld  und  Ruhm  erwerben,  was  der 
lesende  Mob  dem  Erich  Evra  schuldig  blieb!  Er  sei  so  plump  wie 
ich  fein,  so  laut  wie  ich  diskret  bin;  er  spreche  aus,  was  ich 
erraten  ließ,  schreie,  was  ich  ausgesprochen.  Er  habe  Meinungen 
statt  der  Ideen,  Überzeugungen  statt  der  Urteile,  Pinselstriche 
statt  Linien,  Darstellungsgabe  statt  Stils;  er  sei  das  miserabelste, 
erfolgreichste  Individuum  das  eine  Feder  führen  kann.  Eine  ins 
Leben  geschriebene  Satire,  eine  gelebte  Satire  soll  er  sein.« 

Trank  Heinz  Hanner,  der  Maler,  den  Rest  im  Glase,  ver- 
wandelte sich  in  eine  Fee,  trat  an  Pitarskis  Wiege  und  brachte- 
ihm  sein  Geschenk. 

>Ich  gebe  ihm  die  Gabe  der  Symbolik.  Was  immer  er 
schreibt,  es  sei  so  leer,  daß  man  es  siebenfach  deuten  kann.« 

Nahm  Leon  Bender,  der  Sänger,  bereitwillig  die  Rolle  der 
zweiten  Fee. 

>Ich  gebe  ihm  die  Unempfindlichkeit  gegen  die  eigenen 
falschen  Töne.< 

Zufrieden  sah  Erich  Evra  ins  Leere  auf  sein  Geschöpf. 
Und  sie  tranken  bis  zum  Morgen  auf  das  Wohl  des  kommenden 
Mannes. 

Er  kam  wie  eine  Überschwemmung. 

Erst    fielen    einzelne    große    Tropfen    als    Feuilletons    in 


—  38  — 

.Zeitungen,  dann  prasselte  ein  Hagel  von  Essays  nieder  in  den 
Revuen,  und  dann  brach  die  Flut  von  Romanen  und  Erzähluugen 
herein.  Da  war  es  erreicht.  Keine  Feinheit  unterlief  mehr  der  Feder, 
die  diese  Werke  schrieb.  Die  Kunst  war  mühsam  genug  überwunden. 

Erich  Evra,  der  drei  Tage  für  die  kleinste  eigene  Arbeit 
gebraucht  hatte,  diktierte  von  nun  an  Peter  Pitarskis  Werke  zwei 
Stenographen,  die  einander  ablösten.  Und  er  diktierte  mit  einer 
stundenplanmäßigen  Geschwindigkeit  von  fünfzig  Seiten  im  Tage. 
Das  hielt  er  ordnungshalber  ein. 

Nach  einem  halben  Jahre  stand  man  einem  Naturereignis 
gegenüber. 

Da  war  keine  psychologische  Tiefe,  in  die  Peter  Pitarski 
nicht  gekrochen  wäre,  keine  Höhe  reiner  Kunst,  in  die  er  mit  dem 
Eispickel  seiner  Dialektik  nicht  Stufen  für  jedermann  geschlagen 
hätte.  Erschreckend  war  sein  Verbrauch  an  Problemen. 

Aus  Erich  Evras  Feder  erschien  auch  eine  Biographie  des 
neuen  Mannes ;  geradlinig  und  klobig,  wie  dessen  Schriften.  Jeder- 
mann mundgerecht,  kam  sie  auch  in  jedermanns  Mund,  die  Lebens- 
geschichte Peter  Pitarskis. 

Die  Kritik  beschimpfte  ihn  anfangs  mit  soviel  Ernst,  daß 
später  ihr  ebenso  ernstes  Lob  nicht  weiter  überraschte.  Er  hatte 
den  längsten  Atem  und  die  nicht  zu  übertreffende  Schamlosigkeit 
für  sich.  Das  war  seine  besondere  Rolle  in  der  Literatur. 

»Er  wächst«,  schrieb  Evra  damals  an  die  Freunde.  Und  sie 
gratulierten  pflichteifrig. 

Täglich  und  stündlich  wuchs  er. 

Man  sprach  von  ihm,  stritt  um  ihn,  man  fühlte  sich  ver- 
pflichtet, Stellung  zu  nehmen. 

Einer  war  im  Gedränge  um  Peter  Pitarski  unsichtbar  ge- 
worden. Erich  Evra,  der  Autor  der  Komödie,  war  für  die  Öffent- 
lichkeit verstummt.  Fast  hätten  selbst  die  Mitwisser  den  Menschen 
vergessen  neben  dem  papierenen  Ungetüm,  das  er  ins  Leben  ge- 
rufen hatte.  Schweigsam  war  er  jetzt  geworden  und  er  mied  jeden 
Umgang,  wie  Pitarski  immer  lauter  brüllte  und  an  jeden  herankam. 
Evra  paßte  nicht  mehr  in  den  Kreis  der  Freunde,  das  fühlte  man 
auf  beiden  Seiten. 


—  39  - 

Als  er  wieder  den  Weg  zu  ihnen  fand,  war  der  andere 
groß  geworden  und  aus  Erich  Evras  Wesen  war  das  Knaben- 
hafte geschwunden.  Die  Kleidung  war  von  schreiender  Eleganz  und 
nur  mit  Mühe  hätte  der  wohlwollende  Betrachter  etwas  Gesuchtes 
dann  gefunden. 

Die  Freunde  waren  unverändert.  Er  hörte  Glückwünsche  zu 
Peter  Pitarskis  Siegeslauf. 

Er  lachte  dazu.  Dann  fragte  er  plötzlich  sehr  ernst:  >Glaubt 
ihr,  daß  ihn  jemand  noch  aufhalten  könnte?  Glaubt  ihr,  daß  ich 
es  heute  noch  könnte  ?< 

Sie  verstanden  nicht  einmal  recht.  Aufhalten  ? !  Sein  eigenes 
Werk,  seinen  Triumph?!  Die  Kriegsmaschine,  die  ihm  Beute  machte? 

Da  verzerrten  sich  seine  Züge  und  er  sprach  zum  ersten- 
male  wieder  ohne  Rückhalt  wie  einst,  sprach  gedämpft  und  leiden- 
schaftlich und  wie  einer,  der  eine  Schuld  auf  sich  lädt.  »Mein 
Triumph  ?  Er  ist  hundertmal  stärker  als  ich !  Er  triumphierte  über 
mich,  seitdem  ich  ihn  geschaffen  habe !  Er  hat  den  Namen,  den 
Erfolg,  den  Glanz  für  sich,  ich  bin  sein  Sklave,  gerade  gut  genug, 
ihm  die  Feder  zu  führen !  Von  seinem  Gelde  lebe  ich,  für  seine 
armseligen  Gedanken  arbeite  ich,  seine  Pläne  führe  ich  aus !  Ich 
habe  es  noch  niemals  ausgesprochen,  wie  ich  ihn  hasse,  aber 
hier  mag  es  geschehen,  denn  ich  glaube  (und  er  lächelte  unsicher), 
daß  er  diesen  Raum  fürchtet,  der  ihn .  vor  seiner  Herrlichkeit 
gesehen  hat.« 

Er  fand  in  ihren  Gesichtern  Staunen  und  Mitleid  und 
wehrte  lachend  ab.  »Das  nicht!  Wahnsinnig  bin  ich  nicht.  Ich 
kenne  das  Einmaleins,  ich  weiß,  daß  ,Er'  nicht  ist,  in  Wirklichkeit 
nicht  existiert.  Ich  erzähle. mir  es  oft  genug.  Ich  weiß  alles  gegen 
ihn,  was  nur  der  nüchternste  Kopf  davon  wissen  kann.  Aber  was 
für  ihn  ist,  weiß  ich  besser  als  ihr!  Ist  er  denn  nicht  so  wirklich, 
als  ich  es  selber  bin;  ist  er  nicht  die  Wirklichkeit  von  allem,  was 
gemein  und  schamlos,  was  geldgierig  und  ohne  Skrupel  in  mir 
ist?  Ich  habe  es  gewagt,  dieses  mein  zweites  Selbst,  das  ich  kaum 
kannte,  das  mit  einem  Firnis  von  Kultur  bedeckt  war,  hervorzu- 
zerren,  ins  Leben  hinaus  zu  stellen.  Ich  habe  ihm  dann  gedient 
und  es  mit  allem  genährt,  was  ich  an  Kraft  und  Können  besaß. 
Wer  heute  der  stärkere  ist  von  uns  beiden,   das  weiß  ich  nicht!* 


40 


Sie  rieten  ihm,  wohlmeinend  und  unsicher.  Er  möge  den 
Zwiespalt  beenden,  die  Verwandlung  vollkommen  machen,  Peter 
Pitarski  sein  und  niemand  sonst. 

»Mich  opfern?  Kennt  ihr  ihn  denn!  Er  würde  mich  ver- 
schlingen, wie  er  alles  verschlungen  hat,  was  ich  in  seiner  Nähe 
ließ.  Meine  Gedanken,  meine  Erlebnisse,  was  immer  ich  hochhielt, 
hat  er  an  sich  gerissen,  in  seinem  Schmutz  ertränkt.  Täglich, 
stündlich  hat  er  an  mir  gezehrt.  Begreift  ihr  denn  nicht,  daß  er 
mein  Feind  ist,  der  Schlimmste,  den  ich  mir  erwerben  konnte! 
Tag  und  Nacht  an  ihn  gefesselt  bin  ich,  in  jeder  Furche  meines 
Gehirnes  nistet  er.  Es  ist  das  Ungeheuer  Erfolg  selbst,  mit  seinen 
Riesenkräften,  das  mich  in  seinen  Klauen  hält!  Das  ist  er!< 

Sie  nannten  ihn  exaltiert.  Sie  scherzten  über  seine  Furcht. 
Er  fügte  leise  noch  hinzu:  »Oft  zweifle  ich,  wer  von  uns  beiden 
der  Künstler  ist,  er  oder  ich.« 

Sie  scherzten  daraufhin  nicht  mehr.  Denn  damit  war  ihr 
Geschäftsinteresse  berührt  worden. 

Beim  Literarhistoriker: 

»Sie,  Herr  Professor,  sind  der  Verfasser  des  Werkes  , Peter 
Pitarski  oder  die  Wiederherstellung  der  deutschen  Kunst'?« 

»?« 

»Mein  Name  ist  Erich  Evra.« 

»??« 

»Da  Sie  meinen  Namen  nicht  kennen,  möchte  ich  Sie  er- 
innern, daß  ich  eine  Biographie  Peter  Pitarskis  geschrieben  habe.« 

»Ich  entsinne  mich  —  es  sind  seitdem  soviel  ausführlichere 
Arbeiten  erschienen.« 

»Ich  komme,  Ihnen  die  echte  Geschichte  Peter  Pitarskis  zu 
erzählen.  ...  So  entstand  er.« 

»Ihre  Mitteilungen  sind  recht  interessant.  Mein  Urteil  über 
die  Leistungen  einer  literarischen  Persönlichkeit  kann  aber  durch 
Details  aus  ihrem  Privatleben  nicht  beeinflußt  werden.  Wie  merk- 
würdig auch  die  Umstände  waren,  die  Ihrer  eminenten  Begabung 
zum  Durchbruch  verhalfen,  die  Sache  wird  dadurch  nicht  tangiert. 
Sie  sind  in  der  Tat  ein  glänzendes  Beispiel  dafür,  daß  ein  Genie 
sich  auf  den  seltsamsten  Wegen  Bahn  zu  brechen  vermag.« 


—  4i  — 

>—  Es  ist  mir  eine  Beruhigung,  daß  Ihr  Urteil  so  fest  steht.  - 
Ich  bitte  Sie  noch,  meine  Mitteilungen  geheim  zu  halten.> 
>Ich.  wollte  Ihnen  eben  dasselbe  raten.« 

Notiz  der  Presse:  Von  dem  rühmlichst  bekannten  Schrift- 
steller Peter  Pitarski  geht  uns  folgende  Erklärung  zu:  >Es  sind  in 
letzter  Zeit  Gerüchte  aufgetaucht,  daß  einige  vor  längerer  Zeit  er- 
schienenen, mit  ,Erich  Evra'  gezeichnete  Arbeiten  aus  meiner  — 
ich  wage  zu  vermuten:  nicht  unbeliebten  —  Feder  stammen.  Ich 
lehne  jede  Beziehung  zu  diesen  literarisch  minderwertigen  An- 
fängerarbeiten ab.  Ich  wähle  den  Weg  einer  Öffentlichkeit,  die  mir 
oft  Beweise  ihres  Wohlwollens  gegeben  hat,  um  diese  Versuche, 
meinen  Namen  zu  mißbrauchen,  energisch  zurückzuweisen.  Wenn 
es  mir  auch  nicht  gelingen  sollte,  die  mit  offenkundig  gewinn- 
süchtiger Absicht  ausgestreuten  Gerüchte  in  gewissen  Kreisen 
zum  Schweigen  zu  bringen,  so  hoffe  ich  doch,  das  große 
Publikum,  das  mir  stets  allein  maßgebend  war  und  ist,  vor  der 
Irreführung  zu  bewahren.«  (Ein  junger,  wenigbedeutender  Literat 
namens  Erich  Evra  hat  tatsächlich  existiert,  ist  aber  seit  Jahren- 
verschollen.  Anm.  d.  Red.) 

Otto  Soyka. 


Glossen. 

Ein  schweres  Herz  hat  sich  erleichtert.  Herr  Benedikt,  von 
dem  uns  ein  Biograph  zu  seinem  sechzigsten  Geburtstag  verraten 
hat,  daß  er  in  Quatschitz  geboren  ist  —  wenns  den  Ort  nicht 
gäbe,  so  müßte  er  erfunden  werden  — ,  der  also  etwa  von  Homer 
oder  Harden  der  zinsfüßige  Quatschitzer  genannt  worden  wäre,  er, 
der  Monomachos  der  ,Neuen  Freien  Presse'  gegen  die  Bekenner 
einer  fremden  Ethik,  hat  sich  über  den  Staat  beschwert.  Unter 
dem  Vorwand,  die  künftige  Junggesellensteuer  zu  tadeln,  übte  er 
Kritik  an  der  Art,  wie  >schon  jetzt«  die  Einkommensteuer  be- 
messen werde.  Er  schlug  auf  den  fiskalischen  Esel,  meinte  aber 
offenbar  den  eigenen  Sack.  Irgendetwas  muß  sich  begeben  haben,. 


-  42 


was  dem  Respekt  des  Staates  vor  der  ,Neuen  Freien  Presse'  zu- 
widerläuft. Die  Juuggesellensteuer,  hören  wir,  werde  »der  peinlichste 
Eingriff  sein,  den  der  Fiskus  noch  jemals  in  die  Privatverhältnisse 
der  Steuerträger  gewagt  hat«  —  ein  peinlicher  muß  in  einem  Herrn 
Benedikt  nah  angehenden  Falle  gewagt  worden  sein.  Ja,  hören  wir: 
»Schon  jetzt  ist  die  Einkommensteuer  vielfach  eine  Marter,  weil 
sie  den  Verpflichteten  zwingt,  die  letzten  Geheimnisse  seines 
wirtschaftlichen  Lebens  den  Beamten  und  den  in  der 
Kommission  sitzenden  Nachbarn  mitzuteilen  ....  Er  muß  dort 
Rechenschaft  ablegen,  wo  er  lieber  schweigen  möchte;  nicht 
wegen  einiger  Kronen  der  Steuer,  sondern  vielleicht  wegen 
seiner  Ehre  und  vielleicht  wegen  seiner  Schande«. 
Was  mag  denn  da  nur  vorgefallen  sein?  Sollte  sich  die  Steuer- 
behörde zum  erstenmal  auf  den  Standpunkt  gestellt  haben,  daß 
die  wahrheitsgetreueste  Angabe  des  Einkommens  aus  dem  Verkauf 
eines  Tagesblattes  oder  aus  dem  Aktienbesitz  einer  Journalgesellschaft 
noch  immer  nicht  völlige  Klarheit  über  das  Einkommen  des 
Herausgebers  schaffen  muß,  — zumal  wenn  er  den  volkswirtschaft- 
lichen Teil  redigiert  ?  Hat  sie  endlich  die  Einsicht  gewonnen, 
daß  die  »Verbreitung«  eines  Blattes  keinen  Maßstab  für  die 
Bemessung  irgendeiner  Steuer  bilden  könne?  Hat  sie  heraus- 
gebracht, daß  die  kleinen  Ritter  vom  Geiste,  die  kaum  hundert 
Exemplare  als  Belege  für  die  Finanzinstitute  drucken,  in  Wien 
J.  Gräflich,  J.  Fürstlich,  J.  Herzoglich  leben?  Und  daß  die  großen 
bei  jedem  Exemplar,  das  sie  verkaufen,  draufzahlen?  Sollte  die 
Steuerbehörde  endlich  wissen,  daß  der  Makulaturwert  einer  Sonn- 
tagsnummer größer  ist  als  der  Verkaufspreis  und  daß  außer  den 
Inserenten  nicht  die  Käufer  des  Blattes  es  sind,  sondern  die  Käu- 
fer seines  Inhalts,  die  das  Unternehmen  reich  machen? 
Sollte  die  Steuerbehörde,  die  ein  Strafgeld  auf  die  Herausgabe 
einer  unabhängigen  Zeitschrift  setzt,  endlich  den  Mut  gehabt 
haben,  die  Erwerbsquellen  der  großen  Tagespresse  springen  zu 
lassen  und  statt  der  Ballerinen  einmal  die  Chefredakteure  zu  fragen, 
ob  sie  ihren  glänzenden  Haushalt  von  der  Gage  bestreiten?  .  .  . 
Irgendein  Steuertölpel,  der  den  Kampf  der  ,Fackel'  mißverstanden 
hatte,  kam  einst  auf  die  sublime  Idee,  mich  als  Auskunftsperson 
•über  das  Einkommen  eines  Angestellten  der  , Neuen  Freien  Presse1 


43 


befragen  zu  wollen.  Ich  verwies  ihm  die  Keckheit  und  wies  der 
Behörde  die  Dummheit  nach,  die  sie  begeht,  wenn  sie  glaubt,  daß 
die  Sklaven  den  Gewinst  aus  den  großen  Plantagen  nachhause- 
tragen.  Sollte  endlich  der  rechte  Weg  betreten  worden  sein,  den 
ich  in  öffentlicher  Aussage  empfohlen  habe?  Der  kleine  Steuer- 
beamte, der  einen  großen  Herausgeber  zu  persönlichen  Aufklä- 
rungen eingeladen  haben  mag,  wirds  ja  nicht  weit  bringen;  er  wird 
als  Märtyrer  der  neunten  Rangsklasse  seine  Laufbahn  beenden.  Und 
es  ist  einleuchtend,  daß  selbst  einem  Finanzminister,  der  diese 
Richtung  gutheißt,  kein  langes  Leben  beschieden  sein  könnte. 
Immerhin  wäre  es  ein  Beispiel,  und  der  Versuch,  dem  Heraus- 
geber der  ,Neuen  Freien  Presse'  »die  letzten  Geheimnisse  seines 
wirtschaftlichen  Lebens«  zu  entlocken,  aller  Anerkennung  wert. 
Daß  der  Staat  in  die  privateste  Sphäre  seiner  Bürger  eingreift,  ist 
eine  Plage,  wenn  er  sie  nach  den  unehelichen  Kindern,  aber  eine 
Pflicht,  wenn  er  sie  nach  den  Pauschalien  fragt.  Man  hüte  sich, 
dies  zu  verwechseln !  Es  ist  ja  gewiß  peinlich,  daß  auch  ein 
Zeitungsmann  »dort  Rechenschaft  ablegen  muß,  wo  er  lieber 
schweigen  möchte«,  umsomehr,  als  das  Schweigen  jene  Fälle  deckt, 
in  denen  er  schon  einmal  geschwiegen  hat.  Aber  es  ist  ein  Unter- 
schied zwischen  der  Diskretion  des  erotischen  Lebens  und  der 
Diskretion  des  volkswirtschaftlichen  Teils.  Diese  und  jene  haben 
gemeinsam,  daß  man  sie  nicht  »wegen  einiger  Kronen  der  Steuer« 
übt,  sondern  aus  anderen  Gründen.  Aber  die  Gründe  sind  eben 
verschieden.  Dort  schweigt  man  »wegen  seiner  Ehre«,  hier  »wegen 

seiner  Schande«. 

*  • 

* 

In  den  Kreisen  der  Musiker  wird,  soweit  sie  überhaupt  die 
Fähigkeit  der  Auffassung  einer  humoristischenTatsache  haben  — denn 
keine  Lebensweise  erzieht  so  sehr  zum  »tierischen  Ernst«  wie  das 
Musikhandwerk  — ,  wird  also  ein  Malheur  besprochen,  das  einem 
bekannten  musikhistorischen  Forscher  widerfahren  ist.  Der  bekannte 
musikhistorische  Forscher  füllt  nämlich  diesen  Beruf  erst  seit  kurzer 
Zeit  aus.  Zuerst  war  er  Musikreporter  und  schrieb  den  Satz, 
Herr  X.  sei  »ein  den  Blütenstaub  bereits  abgestreifter  Tenor«,  dann 
hörte  er  es  gern,  wenn  man  ihn  Musikschriftsteller  nannte,  und 
hierauf  packte  ihn  der  Ehrgeiz,  Forschungen  über  >  Richard  Wagners 


—  44  — 


Wohnhäuser  in  Wien«  anzustellen.  Er  habe  »manches  wissens wette 
Neue  zum  Kapitel  des  wiederholten  Aufenthaltes  Wagners  in  Wien 
beigebracht« :  so  hieß  es  alsbald  in  der  befreundeten  Presse,  und 
der  Ruf  des  Forschers  schien  gesichert.  Er  verdankte  ihn  dem 
liebenswürdigen  Entgegenkommen  eines  Polizeirates,  der  die 
Gelegenheit,  in  alten  Meldzetteln  herumzustöbern,  um  so  lieber 
■ergriff,  als  sie  ihm  die  Möglichkeit  eröffnete,  seinen  eigenen 
Namen  in  die  Musikgeschichte  eingetragen  zu  sehen.  Wochenlang 
arbeiten  beide,  der  Forscher  und  der  Beamte  im  Polizeiarchiv,  aber 
schließlich  müssen  sie  die  Unvollkommeuheit  alles  Menschen- 
werkes erkennen,  denn  es  stellt  sich  heraus,  daß  es  »nahezu  un- 
möglich ist,  die  im  Keller  der  Polizei  übereinander  geworfenen 
Aktenbestände  wieder  ans  Tageslicht  zu  befördern«.  Die  bloße 
Öffnung  eines  einzigen  Aktenbündels  ist  mit  den  »größten  Mühen« 
verbunden.  Über  und  über  bestaubt,  erfiitzt,  gebrochen  verläßt 
der  Forscher  das  Amt  und  muß  zugeben,  daß  er  eines  für  das 
Verständnis  Wagners  unentbehrlichen  Meldzettels  nicht  habhaft 
werden  konnte:  man  wird  nie  erfahren,  wo  Wagner  im  Jahre  1848 
in  Wien  gewohnt  hat.  Kein  Zweifel...  daß  er  mehrere  Wochen 
da  war.  Hanslick  erzählt,  er  habe  einen  Abend  mit  ihm  »in 
einem  bescheidenen  Oasthausgärtchen  an  der  Donau  verbracht«. 
Das  ist  ein  Anhaltspunkt,  aber  nicht  mehr.  »Ebenso  bescheiden 
wie  dieses  Oasthausgärtchen  dürfte  wahrscheinlich  auch  Wagners 
Wohnung  gewesen  sein.«  Jedenfalls  hat  er  ein  Privatlogis  bezogen. 
»Obwohl  schon  königlich  sächsischer  Hofkapellmeister,  obwohl 
schon  als  Komponist  des  ,Rienzi',  des  , Holländer'  und  des  ,Tann- 
häusei'  bekannt,  mag  er  auch  im  Jahre  1848  in  keinem  Hotel, 
sondern  vielmehr  wieder  privat  gewohnt  haben.«:  Das  ist  ein- 
leuchtend. Aber  wo  hat  er  gewohnt?  Das  ist  leider  »nicht  festzu- 
stellen«. Nun,  ein  bekannter  musikhistorischer  Forscher  braucht  keinen 
andern  Befähigungsnachweis  beizubringen,  als  staubige  Finger.  Aber 
als  ein  »den  Aktenstaub  bereits  abgestreifter«  Gelehrter  erfährt  er  zu 
seiner  Überraschung,  daß  man  Wagners  Wohnhaus  aus  dem  Jahre 
1848  inzwischen  bereits  entdeckt  hat.  Ein  unerbittlicher  Wagnerianer 
gü.g  nämlich  in  eine  Buchhandlung,  die  auf  dem  Wege  von  der 
Gelehrtenstube  zum  Archiv  der  Polizeidirektion  liegt,  ließ  sich 
las  Buch  »Richard  Wagner   an  Minna  Wagner«  (Zweite  Auflage, 


—  45  - 

Berlin  1908,  Schuster  &  Löffler)  geben  und  fand  auf  Seite  50 
einen  >Brief  vom  15.  July  1848«,  in  dem  es  heißt: 

> will   ich   sogleich   meine  hiesige   Wohnung   noch 

aufschreiben:  Qoldschmiedgasse  Nr.  594,  1.  Stock.< 

Da  die  Adresse  gesperrt  gedruckt  ist,  konnte  der  Leser  sie 
nicht  übersehen.  Er  hat  sie  mir  sofort  mitgeteilt.  Aber  er  ist  be- 
scheiden und  legt  nicht  Wert  darauf,  in  die  Musikgeschichte  zu 
kommen,   wiewohl   er   manches   wissenswerte   Neue   zum   Kapitel 

des  wiederholten  Aufenthaltes  Wagners   in  Wien   beigebracht  hat. 

• 

»Mit  Gustav  Schönaich  ist  eine  Reihe  wundervoller  Er- 
innerungen an  den  Meister  ins  Grab  gesunken.  Er  war  leider  nie 
dazu  zu  haben,  seine  Erlebnisse  mit  Wagner  aufzuschreiben.«  So 
meint  unser  Gelehrter.  Er  wird  mir  dafür  Dank  wissen,  daß  ich 
auch  in  diesem  Punkt  die  Ergebnisse  seiner  Forschung  ergänze. 
Ein  einziges  Mal  war  Schönaich  dazu  zu  haben.  Für  die  Nr.  6  der 
, Fackel'  (Ende  Mai  1899)  stellte  er  mir  eine  Erinnerung  zur 
Verfügung,  an  eine  Begebenheit,  welche  die  Wiener  Musikforscher 
nie  aufgegriffen  haben  und  di«  Wagner  selbst  in  seinen  Schriften 
beiläufig  erwähnt.  Es  handelt  sich  zwar  nur  um  ein  Diktum, 
aber  als  »einer,  der  es  mit  eigenen  Ohren  gehört«  hatte,  gab 
Gustav  Schönaich  in  der  .Fackel'  den  folgenden  Situationsbericht: 

Im  November  1875  war  Richard  Wagner  über  Aufforderung  des 
damaligen  Direktors  der  Hofoper  Franz  Jauner  nach  Wien  gekommen, 
um  eine  seinen  dichterisch- musikalischen  Absichten  möglichst  treue 
Aufführung  des  >Tannhäuser«  zu  veranstalten.  Es  war  eine  glückliche 
Idee  Jauners,  der  dem  Schöpfer  des  musikalischen  Dramas  Gelegenheit 
geben  wollte,  zu  zeigen,  welch  ein  gewaltiger  Unterschied  zwischen 
der  von  ihm  ins  Leben  gerufenen  und  einer  mit  den  Mitteln  der  geaichten 
Bühnenroutine  herausgebrachten  Aufführung  sich  ergebe.  Dies  gelang 
denn  auch  so  vollständig,  daß  selbst  Eduard  Hanslick,  trotz  setner 
durch  persönliche  Motive  gesteigerten  bourgeoisen  Wagnerfremdheit, 
sich  bemüßigt  sah,  die  Vorstellung  unbedingt  zu  loben.  Am  Schlüsse 
der  Aufführung  unter  beispiellosem  Jubel  vor  die  Rampe  gerufen,  sprach 
Wagner  einige  Worte  an  das  Publikum,  in  denen  er  jener  berühmten 
Lohengrin-Vorstellung  im  Mai  1861  gedachte,  welche  dem  Wiener 
Publikum  Anlaß  geboten,  dem  anwesenden  Komponisten  in  so  warmer 
Art  seine  vorbehaltlosen  Sympathien  kundzugeben.  >Es  scheint«,  fuhr  er 
fort,  >sich  heute  etwas  Ähnliches  wiederholen  zu  wollen,  da  ich  den  Ver- 
such mache,  soweit  die  vorhandenen  Kräfte  reichen,  meine  Werke  Ihnen 
noch  deutlicher  zu  machen.  Haben  Sie  herzlichen  Dank  für  Ihre  Ermunter- 
ung!«    Das  seither  zum  geflügelten  Wort    gewordene    »Soweit  die  vor- 


-  46  - 

handenen  Kräfte  reichen«  fiel  zunächst  nicht  auf  und  wurde  von  den 
Wellen  der  Begeisterung  verschlungen.  Einige  Stunden  später  von  Re- . 
portern  bemängelt  und  gedeutet,  den  mitwirkenden  Künstlern  in  ver- 
hetzendem Sinne  in  Erinnerung  gebracht,  erzeugte  es  Mißstimmung  im 
Personale,  welches  beschloß,  durch  Hans  Richter  von  Wagner  Aufklä- 
rung über  die  Bedeutung  des  Wortes  zu  verlangen.  Um  die  Sache 
wieder  zu  ebnen,  wandte  sich  Direktor  Jauner  sogleich  an  Wagner, 
der  ihn  bat,  das  Personal  in  die  Oper  einzuladen,  wo  er  als 
Künstler  zu  Künstlern  bald  eine  Verständigung  herbeiführen  werde. 
Direktor  Jauner  lud  nun  die  Mitwirkenden  ein,  sich  am  Vor- 
mittag des  andern  Tages  im  Regiezimmer  der  Hofoper  einzufinden.  Hier 
hielt  Richard  Wagner  eine  Ansprache,  die  in  dem  für  uns  interessanten 
Teile  folgende  Worte  enthielt:  >Niemals  konnte  es  mir  in  den  Sinn 
kommen,  die  vorzüglichen  Künstler,  die  zum  Gelingen  meines  Werkes 
beitrugen,  herabzusetzen.  Ich  habe  diese  Gesinnung  heute  in  einein 
Schreiben  niedergelegt,  welches  ich  an  die  Adresse  des  Herrn  Direktors 
Jauner  gerichtet  habe.  Sie  mögen  es  immerhin  den  Zeitungen  übergeben. 
Aber  —  wenn  Sie  auf  der  Veröffentlichung  bestehen,  so  stelle  ich  meine 
Tätigkeit  ein,  da  ein  solcher  Wunsch  von  Ihrer  Seite  nur  eine  Fort- 
dauer des  Mißtrauens  gegen  meine  Person  bedeuten  könnte.  Ich  selbst 
kann  mit  den  Zeitungen  nicht  in  Verbindung  treten,  denn  —  ich  ver- 
achte die  Presse*...  Herrn  Direktor  Jauner  trat  bei  diesen 
Worten  der  Schweiß  auf  die  Stirne.  .  Er  stellte  sich  an  die  Tür  und 
nahm  jedem  Abgehenden  das  Wort  ab,  daß  er  über  die  Äußerung 
Wagners  unverbrüchliches  Stillschweigen  bewahren  werde.  Die  Folge 
davon  war,  daß  Wagners  Rede  ziemlich  wortgetreu  in  sämtlichen  Abend- 
blättern zu  lesen  war.  Nur  der  Schluß  erschien,  wie  auf  ein  gegebenes 
Notsignal,  in  allen  Blättern  dahin  geändert,  daß  Wagner  statt  der  Worte: 
>Ich  verachte  die  Presse«  die  unblutigeren:  >Ich  hasse  die 
Presse«  in  den  Mund  gelegt  wurden  .  .  .  Man  wollte  von  einem 
Manne,  dessen  mit  jedem  Tag  wachsende  Autorität  unliebsam  deutlich 
erkennen  ließ,  daß  er  der  Presse  gegenüber  das  letzte  Wort  behalten 
werde,  doch  lieber  gehaßt,  als  verachtet  sein. 

Ich  denke,  daß  die  Wagner-Forscher  der  Presse  mir 
für  diesen  Beitrag  dankbar  sein  werden.  Der  unsere,  der  heute  mit 
so  gutem  Erfolg  auf  der  Wohnungssuche  für  Wagner  ist,  läßt 
nicht  unerwähnt,  daß  dieser  sich  bei  deinem  letzten  Aufenthalt 
in  Wien  nicht  allzu  wohl  fühlte,  und  zitiert  sogar  ein  Schreiben  aus 
dem  Jahre  1879,  das  Wagner  an  Jauner  richtete  und  worin  er 
eine  Einladung,  wieder  nach  Wien  zu  kommen,  mit  der  Bemer- 
kung ablehnte:  »Glauben  Sie,  daß  die  sechs  Wochen  im  Winter 
1875  als  angenehme  Erinnerungen  in  meinem  Gedächtnisse  leben?« 
Er  fürchtet,  er  würde,  wenn  er  »nur  über  die  Straße  gehen  oder 
etwa  einem  Betteljungen  ein  Wort  sagen  würde,   im  Kot  herum- 


„   47   — 

gezogen  werden<.  Damals  habe  er  gewußt,  daß  er  >nie  wieder 
Wien  betreten  würde«.  Unser  Musikhistoriker  meint,  Wagner  hätte 
sich  umstimmen  lassen,  wenn  ihn  der  Tod  nicht  frühzeitig  ab- 
berufen hätte.  Es  ist  immerhin  tröstlich,  sich  vorzustellen,  daß 
nicht  Wagner,  sondern  sein  Tod  die  Wiener  Musikforschung  um 
einen  weiteren  Meldzettel  betrogen  hat,  aber  die  Entscheidung  ist 
eben  ungewiß.  Die  Gründe  für  die  Abneigung,  in  Wien  noch 
einmal  Wohnung  zu  nehmen,  werden  in  jener  Publikation  nicht  be- 
rührt. Darum  war  es  notwendig,  sie  nachzutragen,  und  das  Bedauern, 
daß  Gustav  Schönaich  zur  Mitteilung  seiner  Erinnerungen  nicht 
zu  haben  war,  wenigstens  in  einem  markanten  Fall  als  unbe- 
gründet zu  erweisen.  Wagner  selbst  hat  in  einem  Aufsatz  >Wolien 
wir  hoffen?«  (Gesammelte  Schriften  und  Dichtungen,  Band  X, 
S.  132  ff.)  jenen  Vorfall  berührt,  den  Schönaich  vor  zehn  Jahren 
in  der  , Fackel'  genau  aufgezeichnet  hat.  »So  etwas  wie  Haß«, 
schließt  Wagner,  »vertragen  sie  sehr  gern,  denn  ,natürlich 
kann  nur  der  die  Presse  hassen,  welcher  die  Wahrheit  fürchtet!'  — 
Aber  auch  solche  geschickte  Fälschungen  sollten  uns  nicht 
davon  abhalten,  ohne  Haß  bei  unserer  Verachtung 
zu  bleiben:  mir  wenigstens  bekommt  dies  ganz 
erträglich.«  Was  sagt  die  Wagner-Forschung  dazu?  Er 
bezeichnet  in  jenem  Aufsatz  die  Erfindung  der  Buchdrucker- 
kunst als  ein  deutsches  Unglück,  er  glaubt  in  der  Zeitungs- 
lektüre >das  ärgste  Gift  für  unsere  geistigen  sozialen  Zustände 
erkennen  zu  müssen«,  »diese  Herren  Zeitungsschreiber«,  sagt  er, 
»leben  von  unserer  Furcht  vor  ihnen«,  und  er  nennt  sie  »die 
Einzigen,  welche  in  Deutschland,  ohne  ein  Examen  bestanden  zu 
haben,  angestellt  werden«.  Und  er  denkt  dabei  nicht  einmal  an 
eine  Prüfung  aus  der  Harmonielehre,  zu  welcher  kürzlich  ein  be- 
kannter musikhistorischer  Forscher  vergebens  herausgefordert  wurde. 

*  * 

An  Alexander  Girardi  in  Graz,  wo  er  die  Feier  seiner 
vierzigjährigen  Schauspielertätigkeit  beging: 

Die  Erinnerung  an  Ihre  Gestaltungen  ist  der  stärkste  Ein- 
druck, den  das  Wiener  Theaterleben  gegenwärtig  bietet.  Dieser 
Erinnerung  könnte  man  mit  Recht  zum  Vorwurf  machen,  daß  sie 
nichts  neben  sich  aufkommen  läßt.  Ich  fürchte,  daß  sich  darüber 
noch  spätere  Generationen  von  Komikern  zu  beklagen  haben  werden. 


48  — 


Ansichtssachen. 


>Fräulein  Else  Wohlgemuth .  .  . 
ist  in  ihrem  ganzen,  ein  wenig  sprö- 
den Wesen,  dem  noch  die  tiefere 
Beseeltheit  fehlt,  mehr  die  krie- 
gerische als  die  liebende  Johanna. 
Sie  hat,  wenn  sie  ihre  Fahne 
schwingt  und  zum  Streite  ruft, 
einen  warmen,  hellen  Ton  .  .  .« 


>  Gestern  konnte  man  Fräulein 
Wohlgemuth  auch  noch  als  Jung- 
frau von  Orleans  sehen  .  .  .  Jetzt 
klingen  alle  offenen  Laute  dumpf, 
sie  sind  wie  erloschen,  statt 
hell  .  .  .  Doch  wird  sie  wahrschein- 
lich immer  sentimentale  Mädchen 
besser  spielen  als  heroische.« 


Der  Feuilletonist  alten  Stils  arbeitete  mit  den  Klischees  der 
Rhetorik,  der  neue  arbeitet  mit  den  Klischees  der  Plastik.  Seit 
einigen  Jahren  ist  eine  »Beobachtung«  in  Gebrauch,  die  immer  wieder 
ihre  Dienste  tut,  so  oft  das  Berliner  Lessingtheater  bei  uns  Ibsen- 
stücke spielt.  Von  den  Ibsenfiguren  heißt  es,  daß  »diese  Menschen 
in  ihr  Schicksal  eingeschlossen  sind,  wie  in  einem  Kerker«.  Ich 
setze  diese  Wendung  hieher,  damit  ich  sie  beim  nächstjährigen 
Gastspiel  des  Berliner  Lessingtheaters  nicht  mehr  finde  oder  da- 
mit man  sich  bei  Gelegenheit  erinnere,  daß  ich  alles  rechtzeitig 
vorausgesagt  habe.  Meine  Schuld  wird  es  nicht  sein  .  .  . 


Herr  Harden  war  also  in  Wien  und  die  Absicht,  die 
er  dem  Berliner  Korrespondenten  der  ,Neuen  Freien  Presse* 
anvertraut  hatte,  nämlich  »das  Selbstgefühl  in  Österreich  und 
Deutschland  zu  stärken«,  ist  ihm  vollauf  geglückt.  Ein  »überaus 
zahlreiches  Publikum«  hatte  sich  nach  der  Versicherung  der 
liberalen  Presse  zu  seinem  Vortrag  eingefunden.  Sie  hatte  offenbar 
befürchtet,  daß  der  große  Musikvereinssaal,  der  dreitausend 
Menschen  faßt,  an  diesem  Abend  nur  dreihundert  sehen  werde,, 
und  war  überrascht,  sechshundert  zu  zählen.  Dreihundert  hatten 
nämlich  Enlree  gezahlt  —  genug,  um  die  Wiener  journalistischen 
Freunde  des  Herrn  Harden  zu  verblüffen,  und  doch  wieder  nicht 
genug,  um  den  Konzertagenten,  der  Herrn  Harden  für  Kaiser  &  Reich 
zu  den  günstigsten  Bedingungen  reisen  läßt,  zufrieden  zu  stellen. 
Herr  Harden,  der  ein  gewandter  Redner  ist,  verstand  es,  den 
anwesenden  Lesern  und  Redakteuren  der  ,Neuen  Freien  Presse' 
einen  Leitartikel  über  das  deutsch-österreichische  Bündnis  so 
vorzutragen,  daß  er  wie  eine  Novität  wirkte,  und  das  Selbstgefühl. 


49  — 


jener  Leute  zu  stärken,  die  sonst  nur  an  den  Veranstaltungen 
des  Konkordiaklubs  Interesse  haben.  Allgemein  wurde  es  als 
unkollegial  empfunden,  daß  die  Wiener  Schauspieler  der  Veranstaltung 
fernblieben,  und  man  bedauerte,  daß  die  Konkordia  es  diesmal 
aus  einer  schlecht  angebrachten  Noblesse  unterlassen  hatte,  von 
ihren  Machtmitteln  Gebrauch  zu  machen.  Der  Vortrag  brachte  die 
wichtigsten  Aufklärungen  über  den  Unterschied  zwischen  öster- 
reichischem und  norddeutschem  Wesen.  »Bei  Ihnen  im  Süden  ist 
alles  weich«,  sagte  Redner,  »graziös,  liebenswürdig,  fast  möchte 
man  sagen,  musikalisch.  Bei  uns  im  Norden  —  alles  was  sich  an 
gewisser  Härte,  Schroffheit,  Zucht,  Disziplin  und  doch  auch 
ungemeiner  Tüchtigkeit  zeigt,  das  hat  sich  in  den  Staatengebilden 
unsres  Nordens  verkörpert«.  An  der  Klarheit  und  Unwiderleg- 
lichkeit der  rednerischen  Argumente  wurden  auch  die  wenigen 
Zwischenrufe  zuschanden,  durch  welche  die  böse  Absicht  einiger 
Störenfriede  den  Vortragenden  zu  verwirren  suchte.  Man  be- 
merkte u.  a.  einen  Konzeptspraktikanten  des  Auswärtigen  Amtes. 
Die  innere  Politik  war  durch  Herrn  Hofrat  Kuranda  vertreten. 

• 
Das  , Deutsche  Volksblatt'  bringt  in  seinem  Bericht  über 
den  Harden-Vortrag  einige  Wendungen,  die  mir  bekannt  vorkommen, 
wiewohl  sie  der  Berichterstatter  nicht  eigens  in  Anführungszeichen 
setzt.  Gewiß  darf  man  angesichts  der  Verbindung  des  Herrn 
Harden  mit  der  Wiener  Presse  davon  sprechen,  daß  »Hardens 
Isoliertheit  vor  der  österreichischen  Grenze  Halt  gemacht«  hat. 
Richtig  ist  auch,  daß  die  Intimität,  die  den  Mann  mit  Bismarck 
verbindet,  »mit  der  Entfernung  von  dessen  Sterbetag  immer 
größer  wird«.  Und  keinem  Zweifel  unterliegt  es,  daß  man 
vor  der  publizistischen  Erscheinung  des  Herrn  Harden  von  einem 
»Mißverhältnis  zwischen  einem  Schmockgehirn  und  einer  Königs- 
gebärde« sprechen  kann.  Wenn  ein  Druckfehler  aus  dem  Mißver- 
hältnis ein  Machtverhältnis  macht,  so  ist  das  nur  erfreulich,  weil 
sich  das  »Deutsche  Volksblatt'  damit  auf  seine  Originalität  berufen 
kann.  Die  Druckfehler  sind  sein  geistiges  Eigentum,  und  ich  bin 
anständig  genug,  sie  mit  Quellenangabe  zu  zitieren. 


—  50  — 


».  .  .  Bei  der  Revision  fand  man  in  einem  Vorräume  zum  Stalle,  in 
dem  sich  auch  eine  offene  Mistgrube  befand,  zehn  leere  Krautfässer. 
In  der  Vorratskammer  fanden  sich  drei  paar  Würstel,  ein  Knödel  und 
ein  Brotlaib  von  Ratten  angenagt.  Im  Eishause  entdeckte  man  noch 
zwölf  offene  Schachteln  mit  Sardinen,  deren  oberste  Schichte  von  starkem 
Schimmel  verunreinigt  war.  Ein  Kranz  Zervelatwürste  zeigte  ebenfalls 
Schimmelbildung  und  fühlte  sich  schlüpfrig  an.  Das  Gutachten  der 
Lebensmittetuntersuchungsanstalt  besagt,  daß  sämtliche  Proben  ekel- 
erregend sind,  zum  Teile  stark  beschmutzt,  zum  Teile  von  Nagetieren 
angefressen  .  .  .  Der  Magistratssekretär  L.  hatte  ausgesagt,  daß  sich  der 
Geschäftsführer  (des  Restaurants  >Schweizerhaus«)  bei  der  Revi- 
sion gewissermaßen  damit  entschuldigt  hatte,  daß  die  verunrei- 
nigten Waren  ,bloß  für  das  Personal'  bestimmt  seien  ...  Die 
Köchin  Frau  S.  gab  an,  daß  in  der  Vorratskammer  riesig  viel  Ratten 
und  Mäuse  vorkamen.  Einmal  sei  ihr  eine  Ratte  sogar  auf  die  Brust 
gesprungen.  Daß  öfter  Speisen  angenagt  waren,  war  allen  bekannt,  auch, 
daß  solche  Speisen  öfter  verkocht  wurden.  Von  dem  durch  das  Getier 
angefressenen  Brote  wurde  lediglich  der  oberste  Rand  weggeputzt  und 
daraus  Brotsuppe  gemacht.  Verdorbenes  Fleisch  wurde  längere  Zeit  in 
hypermangansaurem  Kali  gebeizt.  Der  Bezirksarzt  Dr.  S.  sagte  aus, 
daß  die  vorgefundenen  Würste  schlitzig  und  angefressen  waren.  Auf  den 
Sardinen  lag  ein  ganzer  Rasen  von  Pilzen  .  .  .  Der  Appellgerichtshof  fand 
nach  durchgeführtem  Beweisverfahren  sämtliche  Angeklagte  schuldig  und 
verurteilte  Johann  G.  zu  dreißig  Kronen,  Wenzel  B.  zu  fünfzig  Kronen 
und  Marie  Seh.  zu  zehn  Kronen  Geldstrafe.« 

Das  Ganze  heißt:  >Zustände  in  einem  Praterwirtshaus«. 
Wenn  das  am  grünen  Holze  geschieht  .  .  .,  könnte  man  sagen. 
Aber  es  geht  doch  nichts  über  das  weltberühmte  Wiener  Papperl. 
Wenn  eine  Köchin  nicht  hin  und  wieder  die  Anzeige  erstattete, 
würden  wir  ewig  daran  glauben.  Und  selbst  dann  stellt  noch  das 
Bezirksgericht  durch  einen  Freispruch  des  Wirtes,  des  Geschäfts- 
führers und  der  Wirtschafterin  das  Renommee  wieder  her.  Aber 
das  Landesgericht  hat  ein  Einsehen  und  taxiert  den  Ruf  der 
Wiener  Küche  auf  90  Kronen.  Wenn  ein  Gast  den  Wirt  einen 
Schweinkerl  genannt  hätte,  hätte  er  Arrest  bekommen.  Desgleichen 
der  Pikkolo,  wenn  er  der  Wirtschafterin  eine  schimmelige  Zervelat- 
wurst an  den  Kopf  geworfen  hätte.  Und  wenn  gar  der  Köchin 
statt  einer  Ratte  der  Geschäftsführer  an  den  Busen  gesprungen 
wäre,  so  hätte  die  Moral  der  Gerechtigkeit  sich  gar  nicht  genug 
tun  können.  In  Wiener  Wirtshäusern  gibt  es  eine  Entschädigung 
für  Lebensmittelverfälschung:  das  zuverlässige  Gesicht  des 
Gastwirtes,    das     sich     in    einem    unvorhergesehenen    Momente 


51 


über  unsern  Tisch  beugt,  o.ler  der  echte  Gemütston  des  Speisen- 
trägers. Stünde  die  Wahrheit  auf  der  Menukarte  geschrieben,  un- 
verdrossen würde  trotzdem  die  Frage  an  uns  gerichtet  werden: 
»Schon  bestellt,  bitte?«  »Bedaure,  kann  nicht  mehr  dienen!« 
heißt  es,  wenn  die  Ratten  nichfs  übrig  gelassen  haben,  und  wenn 
man  sich  schließlich  für  Sardinen  entscheiden  muß,  bringt  der 
Kellner  Pilze.  Zur  Rede  gestellt,  erklärt  der  Chef,  es  sei  ein  Ver- 
sehen, das  verdorbene  Essen  sei  für  das  Personal  reserviert.  Zur 
Nervenfolter  tritt  also  die  Gefahr  für  den  Magen,  von  dem  es 
bisher  für  ausgemacht  galt,  daß  ihm  nix  geschehen  könne.  Ein 
Einzelfall!  sagt  der  Größenwahn  des  Wiener  Wanstes,  der  immer 
stolz  darauf  ist,  zu  wissen,  wovon  er  fett  wird,  und  jedes  Ratzen- 
stadl  als  den  Hort  individueller  Echtheit  verehrt.  Aber  es  ist 
interessant,  daß  der  Einzelfall  ein  beliebtes  Praterwirtshaus  betrifft, 
und  daß  unter  den  Surrogaten  der  Berliner  Küche,  auf  die  jeder 
Rindfleischpatriot  mit  Verachtung  herunterblickt,  der  Mäusedreck  un- 
bekannt ist.  Man  muß  nicht  Gourmand  sein,  um  Goethes  >Laßt  den 
Wienern  ihren  Prater!«  fortan  zu  seinem   Wahlspruch  zu  machen. 

Schon  zu  trinken  befohlen?  Nein,  nicht  hier!  Geh'n  ma, 
freunder!,  auf  a  Weinderl,  vor  die  Stadt  hinaus: 

>In  Mistelbach  waren  zahlreiche  Personen  unter  den  Symptomen 
schwerer  Bleivergiftung  erkrankt.  Die  Erhebungen  ergaben,  daß  alle  Er- 
krankten, von  denen  elf  schwere  und  dreizehn  leichte  Vergiftungs- 
erscheinungen zeigten,  im  Gasthause  des  M.  verkehrt  und  dort  Wein 
getrunken  hatten.  Der  , Heurige'  des  Gasthauses  wies  große  Bleimengen 
auf  .  .  .  Der  Tod  des  F.  ist  zwar  nicht  mit  völliger  Gewißheit,  aber 
mit  ziemlicher  Wahrscheinlichkeit  auf  diese  Bleivergiftung  zurückzuführen  .  .  . 
Der  angeklagte  Wirt  wurde  freigesprochen,  weil  die  Gerichtsärzte  er- 
klärten, daß  er  geistig  nicht  zurechnungsfähig  sei  .  .  .« 

Wie  sagt  doch  der  Dichter?  >Es  wird  ein  Wein  sein  und 
mir  wer'n  nimmer  sein!«  Eben  wegen  des  Weines! 

•  * 

• 

Aus  dem  Schmalztopf  der  Beredsamkeit  oder :  Wie  es  kam, 
daß  ein  Advokat  trotz  erwiesener  Defraudationen  und  Wechsel- 
fälschungen von  den  Geschwornen  freigesprochen  wurde. 

>Verteidiger  Regierungsrat  Dr.  Heinrich  Steger  führt  aus  :  Dem 
Wanderer  gleich,  der  im  Frühnebel  die  Bergesspitzen  zu  erklimmen 
trachtet,   Wiesen  und  Wälder  durchschreitet,    schroffe  Felsenhöhen  über- 


52  — 


windet  und  endlich  auf  den  Gipfel  hinaufkommt,  wo  die  Strahlen  der 
Sonne  das  Gewölk  zerstreuen,  diesem  Wanderer  gleich  sind  auch  Sie, 
meine  Herren  Mitbürger,  durch  alle  Wirrnis,  alles  Gestrüpp  des  Beweis- 
verfahrens endlich  auf  den  Punkt  gelangt,  der  einen  Überblick  über 
den  ganzen  Straffall  gestattet.  Es  kann  ohne  Übertreibung  gesagt 
werden,  daß  jeder  Punkt  in  diesem  Falle  geklärt  wurde.  Wie  auf  der 
Bergesspitze  die  leuchtenden  Strahlen  der  Sonne  das  Gewölk  zerstreuen, 
so  haben  die  Strahlen  der  Wahrheit  in  diesem  Falle  alles  aufgeklärt, 
was  aufgeklärt  werden  mußte,  bevor  die  Richter  ihr  Urteil  fällen.  Auf 
diesem  Punkte  angelangt,  in  diesem  ernsten  Augenblicke  gibt  es  nur 
einen  Ausruf,  und  der  lautet :  Ein  solcher  Fall  war  noch  nicht  da! 

.  .  .  Von  Situation  zu  Situation  jagend,  sah  er  die  rettende 
Küste  vor  sich,  und  als  sie  verschwand,  brach  er  zusammen.  Ich  berufe 
mich,  um  auf  das  rein  subjektive  Moment  überzugehen,  hauptsächlich 
auf  das  psychiatrische  Gutachten.  Ich  bitte  Sie,  sehen  Sie  es  an,  wenn 
Sie  sich  zurückziehen,  lesen  Sie  es,  lassen  Sie  es  auf  Ihre  Einsicht  wirken, 
und  Sie  werden  den  Schluß  ziehen:    Der  Mann  ist   nicht  normal  ! 

.  .  .  Der  Redner  bekämpft  auch  noch  den  Tatbestand  der  ver- 
schuldeten Krida.  Nach  zwei  Tagen  werde  Pfingsten,  das  herrliche  Fest, 
gekommen  sein,  wo  die  Hecken  grünen  und  blühen.  ,Wohl  dem',  sagt 
Redner,  ,der  nach  des  Tages  Arbeit  den  Mühen  des  Alltags  entflohen 
ist  und  in  den  schönen  Feiertagen,  die  da  kommen,  hinauseilen  kann 
über  Wiesen  und  Wälder,  in  die  freie  Natur,  um  neue  Kräfte  zu  neuem 
Ringen  und  neuer  Tat  zu  gewinnen,  den  Berggipfeln  zu,  wo  die  Strahlen 
der  Sonne  das  Gewölk  zerstreuen,  wohl  dem!'  Er  zitiert  die  Verse  aus 
Schillers  .Spaziergang' :  ,Sei  mir  gegrüßt,  mein  Berg  mit  dem  rötlich 
strahlenden  Gipfel!  Sei  mir,  Sonne,  gegrüßt,  die  ihn  so  lieblich  bescheint!' 
mit  einigen  folgenden  Strophen.« 

Wahrscheinlich  bis  zu  der  Stelle:  ».  .  .  Aber  der  reizende 
Streit  löset  in  Anmut  sich  auf. « Oder  vielleicht  bis  zu  dem  Vers :  >  Blicke 
mit  Schwindeln  hinauf,  blicke  mit  Schaudern  hinab«.  Oder  bis  zu 
»jenen  Linien,  die  des  Landmanns  Eigentum  scheiden«,  zu  der 
»freundlichen  Schrift  des  Gesetzes«,  die  den  freien  Advokaten 
warnen  wird,  wenn  er  in  die  Natur  hinauskommt,  um  neue  Kräfte 
zu  neuer  Tat  nach  §  157  zu  gewinnen.  Ja,  man  versteht  endlich,  wozu 
Schiller  gelebt  hat!  Wie  sagt  er  doch  in  eben  jenem  »Spaziergang«? 

Deiner  heiligen  Zeichen,  o  Wahrheit,    hat  der  Betrug  sich 
Angemaßt,    der  Natur  köstlichste  Stimmen  entweiht, 
Die  das  bedürftige  Herz  in  der  Freude  Drang  sich  erfindet ; 
Kaum  gibt  wahres  Gefühl  noch  durch  Verstummen  sich  kund. 

Karl    Kraus. 

Hejanegeber  nnd  verantwortlicher  Redalrtenr :  Karl  Kraus. 
Druck  von  Jahoda  fle  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamt9*traße  3 


natürlicher 

alkalischer 

"SAUERBRUNN 

"CARL  GÖLSDORF^jö^Uk.ujc.HqFlleFeranb 

Karlsbad,  Budapest V.Wten IX 7*&tW^     KrondorF.   Berlin. 


Unternehmen  für  Zeitungsausschnitte 

OBSERVER,    Wien,  I.  Concordtaplatz  Nr.  4  (Telephon  Nr,  18801] 

versendet  Zeitungsausschnitte  über  jedes  gewünschte  Thema.Man  verlange  Prospekte 


DIE  FACKEL 

Herausgeber: 

KARL  KRAUS 

erscheint  in  zwangloser  Folge  im  Umfange  von  16—32  Seiten. 

BEZUGSBEDINGUNGEN  : 

für  Österreich-Ungarn,  36  Nummern,  portofrei    ......  K    9.— 

».»  n         18  „  „  n    4.50 

„    die  Länder  d,  Weltpostv.,  36  Nummern,  portofrei.   .   .   ,  „  12.— 

»         *  «  »  7)  *  „....„       6. — 

Das  Abonnement  erstreckt  sich  nicht  auf  einen  Zeitraum, 
sondern     auf     eine     bestimmte    Anzahl     von    Nummern. 

Verlag:  Wien,  III.,  Hintere  Zollamtsstraße  Nr.  3. 

Für  Deutschland : 
Verlagsgesellsohaft  München 

O    m    b.  H 

MÜNCHEN,  Franz  Josetstraße  9. 


Im    Einzelverkauf   30    Pf.    Berlin    NW  7,    Friedrichstraße    101, 
Buchhandlung  M.  Lilienthal. 


Inhalt  der  vorigen  Doppelnummer  279-280,  13.  Mai: 
Tagebuch.  (Zehn  Jahre.  —  Geselligkeit.  -  Bildung.  -  Stil.  - 
Variete.  -  Eitelkeit),  Von  Karl  Kraus.  -  Nachts.  Von  Anton 
Tschechow.  —  Sprüche  und  Widersprüche.  —  Reformen.  Von 
Karl  Kraus.  —  Glossen.  Von  Karl  Kraus.  -  Zur  Dekade  der 
.Fackel'. 


In  Folge  der  zahlreichen  Bestellungen,  die 
auf  Grund  der  Ankündigung 

„Zehn  Jahre  Fackel" 

eingelaufen  sind,  können  wir,  da  der  Vor-j 
rat  nahezu  vergriffen  ist,  die  10  Jahrgänge! 

nur  zum  Originalpreise 

abgeben. 

Der  Verlag  kauft  die  ,Fackel'  Nummer  2  für] 

I  Krone  und  die  Nummern  1,  48, 87,152  u.  162j 

für  50  Heller  per  Exemplar  zurück. 

dct «der .FACKEL*    ! 

WIEN,  III.  Hintere  Zollamtsstrafle  3 

Telephon  Nr.  187. 

nmächst  erscheint  als  Broschüre : 

KARL  KRAUS 

Von  Robert  Soheu. 

(Mit  einem  Bildnis). 

Zu  bestellen  beim 

so  Heiier  (so  Pf.).  Verlag  Jahoda  &  Siegel 

Wien  Hl/2. 


Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur  Karl  Kraus. 

"     t-i 1.    o-   c: 1      vir: tu      «;„>„,»   7/,l1„«l..i..n.   • 


Die  Fackel, 

Nr.  283-84  26.  JUNI  1909  XI.  JAHR 


Der  Journalismus*) 
Von  Honorä  de  Balzac 

»Die  Zeitung,  werter  Herr,  wird  auf  der  Straße 
gemacht,  in  der  Wohnung  der  Mitarbeiter,  in  der 
Druckerei  zwischen  elf  und  zwölf  Uhr  nachts.  Als 
wir  noch  den  Kaiser  hatten,  gab  es  diese  Anstalten 
für  Druckerschwärze  noch  nicht.  Ah !  er  hätte  Euch 
das  mit  vier  Mann  und  einem  Korporal  ausgetrieben, 
und  hätte  sich  nicht,  wie  die  jetzt,  mit  Phrasen 
dumm  machen  lassen  ....  Es  scheint,  die  Halunken 
schmausen  lieber  mit  Schauspielerinnen,  als  daß  sie 
Papier  verschmieren.    Oh,  das  sind  kuriose  Käuze  !c 

»Im  Th^ätre  Frangais  genügt  die  Protektion 
eines  Prinzen  oder  eines  königlichen  Kammerherrn 
nicht,  um  eine  günstige  Besetzung  zu  erlangen :  die 
Schauspieler  geben  nur  denen  nach,  die  ihrer  Eigen- 
liebe drohen.  Wenn  Sie  die  Macht  haben,  es  durch- 
zusetzen, daß  von  dem  ersten  Liebhaber  geschrieben 
wird,  er  leide  an  Asthma,  von  der  ersten  Liebhaberin, 
sie  habe  irgendwo  ein  Geschwür,  von  der  Soubrette, 
sie  rieche  aus  dem  Mund,  dann  werden  Sie  auf- 
geführt .... 

Wo,  wie  und  wodurch  mein  Brot  verdienen  ? 
Diese  Frage  mußte  ich  mir  vorlegen,  als  der  Hunger 
näher  und  näher  an  mich  herankam.  Nach  vielen 
Versuchen,  nachdem  ich  für  Doguereau  einen  ano- 
nymen Roman  geschrieben  hatte,  für  den  er  zwei- 
hundert Franken  bezahlte  —  er  hat  nicht  viel  daran 


*)  Eine  Komposition  von  Zitaten  aus  den  Seiten  294  bis  392  des 
IV.  Bandes  der  »Menschlichen  Komödie«    (Leipzig,   Insel-Verlag). 


—    2    — 


verdient  — ,  stand  es  mir  fest,  daß  der  Journalismus 
einzig  und  allein  mir  Brot  geben  könnte.  Aber  wie 
war  es  möglich,  in  die  Redaktionen  einzudringen? 
Ich  will  Ihnen  nicht  von  meinen  vergeblichen 
Schritten  und  Bittgängen  erzählen,  auch  nicht  von 
dem  halben  Jahr,  das  ich  als  Volontär  arbeiten,  wo 
ich  mir  sagen  lassen  mußte,  ich  verscheuchte  die 
Abonnenten,  während  ich  sie  im  Gegenteil  an- 
lockte .... 

Finot  ist  Chefredakteur.  Wissen  Sie,  wovon  ich 
lebe?  Ich  verkaufe  die  Billets,  die  mir  die  Theater- 
direktoren geben,  damit  ich  ihnen  in  der  Zeitung 
nicht  unangenehm  werde,  die  Bücher,  die  mir  die 
Verleger  schicken  und  die  ich  besprechen  soll.  End- 
lich treibe  ich,  wenn  sich  erst  Pinot  befriedigt  hat, 
mit  den  Naturalien  Handel,  die  die  Industriellen  uns 
liefern,  für  oder  gegen  die  Pinot  mir  erlaubt,  Artikel 
zu  schreiben.  Eine  Arznei  gegen  Blähungen,  die 
, Sultaninpasta',  ein  Haaröl,  die  brasilianische  Mixtur* 
zahlen  für  ein  scherzhaftes  Artikelchen  zwanzig  oder 
dreißig  Pranken.  Ich  bin  gezwungen,  den  Verleger 
anzukläffen,  der  dem  Blatt  wenig  Exemplare  gibt : 
die  Zeitung  nimmt  zwei  davon,  die  Pinot  verkauft, 
und  ich  bekomme  zwei,  die  ich  ebenfalls  verkaufe ; 
und  wenn  ein  Verleger  ein  Meisterwerk  herausbrächte, 
wenn  er  mit  Exemplaren  geizte,  würde  er  totge- 
schlagen. Das  ist  gemein,  aber  ich  lebe  von  diesem 
Handwerk  und  hundert  andere  wie  ich !  Glauben  Sie 
aber  nicht,  die  politische  Welt  wäre  besser  als  die 
literarische:  alles  in  diesen  beiden  Welten  ist  Kor- 
ruption ;  jeder  Mensch,  der  damit  zu  tun  hat,  kor- 
rumpiert oder  wird  korrumpiert.  Wenn  es  sich  um 
ein  Verlagsunternehmen  handelt,  das  einigermaßen 
bedeutend  ist,  dann  zahlt  mich  der  Verleger,  aus 
Furcht,  angegriffen  zu  werden  .... 

Die  Schauspielerinnen  zahlen  auch  für  das'Lob, 
aber  die  geschicktesten  zahlen  für  die  Kritik ;  was 
sie  am  meisten  fürchten,  ist  das  Totschweigen.    Da- 


—  3    — 

her  ist  eine  Kritik,  die  geeignet  ist,  an  anderer  Stelle 
bekämpft  zu  werden,  mehr  wert  und  wird  höher 
bezahlt  als  ein  trockenes  Lob,  das  am  nächsten  Tag 
vergessen  ist.  Die  Polemik,  mein  Lieber,  ist  die 
Grundlage  der  Berühmtheit.  Mit  diesem  Handwerk 
des  Bravos  auf  dem  Gebiet  der  Ideen  und  des  An- 
sehens der  Gewerbetreibenden,  der  Literaten  und 
Schauspieler  verdiene  ich  monatlich  fünfzig  Taler, 
kann  ich  einen  Roman  für  fünfhundert  Pranken  ver- 
kaufen, und  fange  an,  ein  gefürchteter  Mann  zu 
werden.  Wenn  ich  nicht  mehr  auf  Kosten  eines 
Drogisten,  der  sich  als  Mylord  aufspielt,  bei  Florine 
lebe,  sondern  mich  selber  einrichten  kann ;  wenn  ich 
zu  einem  großen  Blatt  komme  und  dort  das  Feuilleton 
redigiere,  dann,  mein  Lieber,  wird  von  Stund  an 
Florine  eine  große  Schauspielerin ;  und  was  ich  alles 
werden  kann,  weiß  ich  nicht :  Minister  oder  ein  ehr- 
licher Mann,  es  ist  noch  alles  möglich  ....  Und  von 
mir  ist  eine  schöne  Tragödie  angenommen !  Und 
unter  meinen  Papieren  ist  eine  Dichtung,  die  umkom- 
men wird  1  Und  ich  war  gut  I  Mein  Herz  war  rein ! . . . . 
Und  wenn  ein  Verleger  meinem  Blatt  ein  Exemplar 
verweigert,  dann  mache  ich  ein  Buch  schlecht, 
das  ich  schön  finde  .... 

Außerhalb  der  literarischen  Welt  gibt  es  keinen 
Menschen,  der  die  schreckliche  Odyssee  kennt,  auf 
der  man  zu  dem  gelangt,  was  man  je  nach  den  Ta- 
lenten Beliebtheit,  Mode,  Ansehen,  Renommee,  Be- 
rühmtheit, Popularität  nennen  muß  ....  Alle  fallen 
sie  in  den  Graben  des  Elends,  in  den  Schmutz 
der  Zeitung,  in  die  Sümpfe  der  Bücherfabrikation. 
Wie  ährenlesende  Bettler  nähren  sie  sich  kümmer- 
lich von  biographischen  Artikeln,  von  Klatsch- 
notizen, von  Pariser  Neuigkeiten  in  den  Zeitungen, 
oder  von  Büchern,  die  durchaus  logische  Lieferanten 
von  Papier  und  Druckerschwärze  bei  ihnen  bestellen, 
die  einen  Schmarren,  der  in  vierzehn  Tagen  abge- 
setzt  wird,    lieber  haben   als   ein   Meisterwerk,    das 


—  4  — 


sich  langsam  verkauft.  Diese  Raupen,  die  zugrunde 
gehen,  ehe  sie  Schmetterlinge  werden,  leben  von 
der  Verleumdung  und  der  Infamie,  und  sind  bereit, 
auf  den  Befehl  eines  Paschas  vom  ,Constitutionnel', 
der  jQuotidienne*  oder  den  ,D£bats',  auf  einen  Wink 
der  Verleger,  auf  das  Ansuchen  eines  neidischen 
Kollegen,  oft  bloß  für  ein  Diner,  ein  werdendes 
Talent  zu  zerreißen  oder  zu  rühmen.  Wer  die  Hinder- 
nisse alle  überstiegen  hat,  vergißt  den  Jammer  seines 
Anfangs.  Ich,  der  ich  mit  Ihnen  spreche,  habe  ein 
halbes  Jahr  lang  Artikel  geschrieben  und  habe  all 
meinen  Geist  hineingelegt,  und  für  wen?  für  einen 
Elenden,  der  sie  für  seine  ausgab,  der  auf  diese 
Proben  hin  Feuilleton redakteur  geworden  ist ;  er  hat 
mich  nicht  als  Mitarbeiter  angenommen,  er  hat  mir 
noch  keine  hundert  Sous  gegeben,  und  wenn  ich  ihn 
sehe,  bin  ich  gezwungen,  ihm  die  Hand  zu  geben  .... 

Arbeiten  ist  nicht  das  Geheimnis  des  Glücks  in 
der  Literatur,  es  handelt  sich  darum,  die  Arbeit  der 
andern  auszubeuten.  Die  Zeitungsbesitzer  sind  Unter- 
nehmer, wir  sind  Handlanger.  Je  mittelmäßiger  ein 
Mensch  ist,  um  so  schneller  gelangt  er  ans  Ziel;  er 
kann  lebendige  Kröten  verschlucken,  sich  mit  allem 
zufrieden  geben,  den  niedrigen  kleinen  Gelüsten  der 
literarischen  Despoten  schmeicheln,  wie  einer,  der 
als  Anfänger  aus  Limoges  kam,  Hector  Merlin,  der 
bereits  in  einer  Zeitung  des  rechten  Zentrums 
politische  Artikel  schreibt  und  an  unserm  Kleinen 
Journal  mitarbeitet ;  ich  habe  gesehen,  wie  er  einem 
Chefredakteur  den  Hut  aufhob,  der  ihm  herunter- 
gefallen war.  Dieser  Bursche  wird  sich,  während  sich 
die  andern  Ehrgeizigen  voller  Neid  gegenseitig  be- 
kämpfen, zwischen  ihnen  durchschlängeln  und  wird 
ans  Ziel  gelangen .... 

Niemand  wagt  zu  sagen,  was  ich  Ihnen  mit 
dem  Schmerz  eines  Menschen,  der  im  Herzen  ge- 
troffen ist,  und  wie  ein  zweiter  Hiob  auf  dem  Mist- 
haufen zurufe:  »Sieh  meine  Geschwüre!«  .  .  . 


Armer  Jüngling !  Sie  wollen  schöne  Werke 
schreiben  und  schöpfen  aus  Ihrem  Herzen  die  Zärt- 
lichkeit, das  Mark,  die  Energie,  lassen  das  alles 
durch  Ihre  Feder  gehen  und  breiten  es  als  Leiden- 
schaft, als  Empfindung,  als  schöne  Sätze  aus  I  Ja, 
Sie  schreiben,  statt  zu  handeln,  Sie  siegen,  statt  zu 
kämpfen,  Sie  lieben,  Sie  hassen,  Sie  leben  in  Ihren 
Büchern;  aber  wenn  Sie  Ihren  ganzen  Reichtum 
Ihrem  Stil  gegeben  haben,  wenn  Sie  Ihr  Gold  und 
Ihren  Purpur  für  Ihre  Gestalten  verschwendet  haben, 
wenn  Sie  in  Lumpen  durch  die  Straßen  von  Paris 
gehen  und  beglückt  darüber  sind,  daß  Sie  mit  den 
Standesaratsregistern  gewetteifert  haben  und  Geschöpfe 
namens  Adolf,  Corinna,  Clarissa,  Renee  oder  Manon 
in  die  Welt  gesetzt  haben,  wenn  Sie  mit  dieser 
Schöpfung  Ihr  Leben  und  Ihren  Magen  verdorben 
haben,  dann  müssen  Sie  erleben,  wie  sie  von  den 
Journalisten  in  den  Lagunen  des  Totschweigens  ver- 
leumdet, verraten,  verkauft  und  verstoßen,  wie  sie 
von  Ihren  besten  Freunden  begraben  wird.  Können 
Sie  den  Tag  erwarten,  wo  Ihre  Schöpfung,  wer  weiß 
von  wem  ?  wann  ?  wie  ?  wiedererweckt  wird  ?«  .  . . 

>Zunächst  sind  Sie  mir  fünfzig  Franken  schul- 
dige sagte  Lousteau  ;  >dann  sind  da  zwei  Exemplare 
«iner  ,Reise  nach  Ägypten',  die  man  sehr  rühmt,  es 
sind  eine  Menge  Stiche  darin,  sie  werden  sich  leicht 
verkaufen:  Finot  ist  damit  für  zwei  Artikel  bezahlt 
worden,  die  ich  schreiben  muß  .... 

Sie  haben  keine  Ahnung,  wie  so  etwas  hinge- 
pfuscht wird.  In  der  , Reise  nach  Ägypten'  habe  ich 
geblättert  und  hier  und  da  Stellen  gelesen,  ohne  sie 
aufzuschneiden,  ich  habe  elf  Sprachfehler  darin  ent- 
deckt. Ich  werde  eine  Spalte  schreiben  des  Inhalts, 
daß  der  Verfasser  vielleicht  die  Sprache  der  Enten 
versteht,  die  auf  den  ägyptischen  Steinblöcken,  die 
man  Obelisken  nennt,  ausgehauen  sind,  aber  daß  er 
ganz  gewiß  seine  eigene  Sprache  nicht  versteht,  und 
ich   werde    es    ihm    beweisen.     Ich  werde   sagen,   er 


—   6   — 


hätte  sich,  anstatt  uns  von  Naturgeschichte  und 
Altertümern  zu  reden,  nur  mit  der  Zukunft  Ägyptens 
beschäftigen  sollen,  mit  dem  Fortschritt  der  Zivili- 
sation, mit  den  Mitteln,  Ägypten  für  Prankreich  zu 
gewinnen,  das  es  einmal  erobert  und  wieder  verloren 
hat  und  es  jetzt  noch  durch  moralische  Einflüsse  an 
sich  bringen  kann.  Dazu  eine  patriotische  Rodomon- 
tade,  das  ganze  gespickt  mit  Tiraden  über  Marseille, 
die  Levante,  unsern  Handel.«  >  Aber  wenn  er  das  getan 
hätte,  was  sagten  Sie  dann?«  »Dann  sagte  ich,  er  hätte, 
anstatt  uns  mit  Politik  zu  langweilen,  sich  mit  der 
Kunst  beschäftigen  und  uns  das  Land  nach  seiner 
malerischen  und  landschaftlichen  Seite  schildern 
müssen.  Der  Kritiker  wird  dann  sentimental.  Wir 
sind  überschwemmt  mit  Politik,  sagt  er,  sie  langweilt 
uns,  man  findet  sie  überall.  Ich  werde  meine  Sehn- 
sucht nach  jenen  reizenden  Reisebeschreibungen  aus- 
sprechen, in  denen  man  uns  die  Schwierigkeiten  der 
Seefahrt,  den  Reiz  der  Fahrt  durch  eine  Meerenge, 
die  Freuden  der  Fahrt  über  den  Äquator  schilderte, 
kurz  alles,  was  die  wissen  wollen,  die  nie  eine  Reise 
machen.  Man  macht  sich,  ohne  sie  zu  tadeln,  über 
die  Reisenden  lustig,  die  einen  Vogel,  der  vorbei- 
kommt, einen  fliegenden  Fisch,  einen  Fischzug,  die 
festgestellten  geographischen  örter,  die  bezeichneten 
Untiefen  als  geographische  Ereignisse  feiern.  Man 
verlangt  wissenschaftliche  Tatsachen,  von  denen 
niemand  etwas  versteht,  und  die  darum  wie  alles, 
was  tief,  geheimnisvoll  und  unbegreiflich  ist,  einen 
besondern  Zauber  ausüben.  Der  Abonnent  lacht,  er 
ist  zufrieden.  Was  die  Romane  angeht,  so  gibt  es 
in  der  Welt  niemanden,  der  so  viel  Romane  ver- 
schlingt, wie  Florine ;  sie  gibt  mir  den  Inhalt  an  und 
nach  dem,  was  sie  mir  sagt,  schmiere  ich  meinen 
Artikel.  Wenn  sie  von  dem,  was  sie  die  Schrift- 
stellerphrasen nennt,  gelangweilt  worden  ist,  kommt 
mir  das  Buch  beachtenswert  vor,  und  ich  lasse  den 
Verleger  noch  um  ein  Exemplar  ersuchen;  der  freut 


sich,  daß  er  einen  günstigen  Artikel  haben  soll,  und 
schickt  es  gerne  .... 

Halt,  da  ist  Finot,  der  Chef  meines  Blattes;  er 
plaudert  mit  einem  talentvollen  jungen  Mann,  Felicien 
Vernou,  einem  kleinen  Schlingel,  der  so  gefährlich  ist 
wie  eine  geheime  Krankheit.«  »Nun«,  sagte  Finot, 
der  mit  Vernou  auf  Lousteau  zutrat,  »du  hast  eine 
Premiere.  Ich  habe  über  die  Loge  verfügt.«  »Du  hast 
sie  Braulard  verkauft  ?«  »Was  macht's  ?  Du  bekommst 
schon  einen  Platz.  Was  willst  du  von  Dauriat  ?  Ach, 
daß  ich's  nicht  vergesse !  Es  ist  abgemacht,  daß  wir 
Paul  de  Kock  stark  loben,  Dauriat  hat  zweihundert 
Exemplare  genommen,  und  Victor  Ducange  lehnt  ab, 
einen  Roman  für  ihn  zu  schreiben.  Dauriat  sagt,  er 
will  einen  neuen  Autor  im  selben  Genre  kreieren. 
Du  wirst  Paul  de  Kock  über  Ducange  stellen.«  »Aber 
ich  habe  mit  Ducange  zusammen  ein  Stück  an  der 
Gaiet^«,  sagte  Lousteau.  »Was  macht's?  Du  sagst  ihm, 
der  Artikel  sei  von  mir,  und  er  sei  ganz  wild  gewesen, 
du  aber  hättest  ihn  gemildert,  dann  ist  er  dir  Dank 
schuldig.«  .  .  . 

»Was  uns  unser  Leben  kostet,  der  Gegenstand, 
der  in  langen  Nächten  der  Arbeit  unser  Hirn  müde 
gemacht  hat,  all  dieses  Wandern  im  Land  der  Ge- 
danken, das  gauze  Ergebnis  unserer  Arbeit,  die 
Schöpfung,  der  wir  Geist  und  Blut  gegeben  haben, 
wird  für  die  Verleger  ein  gutes  oder  schlechtes  Ge- 
schäft. Die  Buchhändler  verkaufen  ihr  Buch  oder 
verkaufen  es  nicht.  Das  ist  für  sie  das  ganze  Problem. 
Ein  Buch  stellt  ihnen  riskiertes  Kapital  vor.  Je 
schöner  das  Buch  ist,  um  so  weniger  Aussichten  hat 
es,  verkauft  zu  werden.  Jeder  hervorragende  Mann 
erhebt  sich  über  die  Massen,  sein  Erfolg  steht  also 
im  geraden  Verhältnis  zu  der  Zeit,  die  nötig  ist,  um 
das  Werk  zur  Geltung  zu  bringen.  Kein  Buchhändler 
will  warten,  das  Buch  von  heute  muß  morgen  ver- 
kauft werden.  Auf  Grund  dieses  Systems  lehnen 
die  Verleger    die    gewichtigen    Bücher    ab,   die   der 


—   8   — 


hohen  Anerkennung  bedürfen  und  sie  nur  langsam 
finden,  t  . . . 

»Am  Vormittag  habe  ich  die  Meinungen  meines 
Blattes;  aber  am  Abend  denke  ich,  was  ich  will: 
bei  Nacht  sind  alle  Journalisten  grau.c  .  .  . 

» Herzchen  c,  sagte  Florine  und  wandte  sich  den 
drei  Journalisten  zu,  »seid  morgen  recht  nett  gegen 
mich;  zunächst  habe  ich  für  heute  Nacht  Wagen 
bestellt,  denn  ihr  sollt  mir  bezecht  werden  wie  zu 
Fastnacht,  c  . .  . 

»Dauriat  hat  mir  sein  Wort  gegeben,  ich  bin 
mit  einem  Drittel  Miteigentümer  des  Wochenblatts. 
Der  Vertrag  lautet,  daß  ich  dreißigtausend  Franken 
bar  einzahle  unter  der  Bedingung,  daß  ich  Chef- 
redakteur und  Herausgeber  werde.  Das  ist  ein  groß- 
artiges Geschäft.  Blondet  hat  mir  gesagt,  daß  man 
gesetzliche  Einschränkungen  gegen  die  Presse  vorbe- 
reitet, nur  die  schon  bestehenden  Blätter  werden 
bleiben.  In  einem  halben  Jahre  braucht  man  eine 
Million,  um  ein  neues  Blatt  zu  gründen.  Ich 
habe  also  abgeschlossen,  ohne  daß  ich  mehr  als  zehn- 
tausend Franken  besitze.  Höre,  wenn  du  es  dahin 
bringst,  daß  Matifat  die  Hälfte  meines  Anteils,  ein 
Sechstel  also,  für  dreißigtausend  Franken  kauft,  gebe 
ich  dir  die  Chefredaktion  meines  Kleinen  Journals 
mit  zweihundertfünfzig  Franken  im  Monat.  Du  wirst 
mein  Strohmann  sein.  Ich  will  immer  auch  ferner  die 
Redaktion  leiten  können  und  dort  alle  meine  Interes- 
sen wahren,  es  soll  nur  nicht  so  aussehen,  als  wenn 
ich  etwas  damit  zu  tun  hätte.  Alle  Artikel  werden 
dir  für  den  Satz  von  hundert  Sous  die  Spalte  bezahlt; 
auf  diese  Weise  kannst  du  einen  Überschuß  von  fünf- 
zehn Franken  im  Tag  erzielen,  denn  du  zahlst  die 
Spalte  nur  mit  drei  Franken,  und  hast  überdies  noch 
den  Vorteil  von  den  unbezahlten  Mitarbeitern.  Das 
sind  also  noch  vierhundertfünfzig  Franken  im  Monat. 
Aber  ich  will  vollständig  unbehindert  nach  meinem 
Belieben   in    dem  Blatt  die  Menschen  und   die  Vor- 


gänge  angreifen  oder  verteidigen,  dabei  kannst  du 
doch  Haß  und  Freundschaft  pflegen,  soweit  das  meiner 
Politik  nicht  in  die  Quere  kommt.  Vielleicht  werde 
ich  Ministerieller  oder  Ultra,  das  weiß  ich  noch  nicht; 
aber  unter  der  Hand  will  ich  meine  liberalen  Be- 
ziehungen pflegen.  Ich  sage  dir  alles,  du  bist  ein  guter 
Kerl.  Vielleicht  überlasse  ich  dir  die  Kammerberichte 
in  dem  Blatt,  für  das  ich  sie  mache,  ich  kann  sie 
jedenfalls  nicht  behalten.  Sorge  also  dafür,  daß  Florine 
das  Qeschäftchen  zustande  bringt,  aber  sie  muß  ihrem 
Drogisten  tüchtig  zusetzen:  ich  habe  nur  vierund- 
zwanzig Stunden,  in  denen  ich  zurücktreten  kann, 
wenn  ich  nicht  zahlen  kann.  Dauriat  hat  das  andere 
Drittel  für  dreißigtausend  Franken  seinem  Drucker 
und  seinem  Papierlieferanten  verkauft.  Er  für  sein 
Teil  hat  sein  Drittel  umsonst  und  gewinnt  noch  zehn- 
tausend Franken,  weil  das  Ganze  ihm  nur  fünfzig- 
tausend kostet,  aber  in  einem  Jahr  wird  die  Revue 
den  Hof  zweihunderttausend  Franken  kosten,  wenn 
er,  wie  man  munkelt,  den  guten  Einfall  hat,  die 
Zeitungen  aufzukaufen  und  zu  amortisieren .... 

Ich  gehe  in  die  Oper,  morgen  habe  ich  vielleicht 
ein  Duell :  ich  schreibe  einen  zerschmetternden  Artikel 
gegen  zwei  Tänzerinnen,  deren  Freunde  Generäle  sind, 
und  zeichne  ihn  mit  einem  F.  Ich  greife  die  Oper 
aufs  Schärfste  an.«  >Was  Sie  sagen  1«  machte  der 
Direktor.  >Jawohl,  jeder  knickert  mit  mir,«  ant- 
wortete Finot,  »der  eine  nimmt  mir  meine  Logen 
weg,  der  andere  lehnt  es  ab,  mir  fünfzig  Abonnements 
abzunehmen.  Ich  habe  der  Großen  Oper  mein  Ulti- 
matum gestellt:  ich  will  jetzt  hundert  Abonnements 
und  vier  Logen  imMonat. . . .  »Sie  ruinieren  uns«,  sagte 
der  Direktor.  >Ja,  Sie  haben  sehr  zu  jammern,  Sie 
mit  ihren  zehn  Abonnements.  Ich  habe  ihnen  zwei 
gute  Artikel  im  ,Constitutionnel'  verschafft.«  »0,  ich 
beklage  mich  ja  nicht  über  Sie«,    rief  der   Direktor. 

»Mein  Freund,«  sagte  Lucien  zu  Etienne,  »wiel 
Sie  machen  sich  kein  Gewissen  daraus,  für  die  Hälfte 


10  — 


einer  Sache,  die  Pinot  eben  für  dreißigtausend  Franken 
gekauft  hat,  Fräulein  Florine  von  diesem  Drogisten 
die  nämliche  Summe  verlangen  zu  lassen?«  .  .  . 

lAber  aus  welchem  Land  stammen  Sie  denn, 
Menschenkind? .  .  .  Der  Zufall  tut  für  Sie  an 
einem  Tag  das  Wunder,  auf  das  ich  zwei 
Jahre  lang  gewartet  habe,  und  Sie  beschäfti- 
gen sich  damit,  von  den  Mitteln  zu  sprechen? 
Wie!  Sie  scheinen  Geist  zu  haben,  Sie  be- 
sitzen die  geistige  Unabhängigkeit,  die  den  intellek- 
tuellen Abenteurern  in  der  Welt,  in  der  wir  sind, 
notwendig  ist,  und  Sie  plappern  von  Gewissens- 
bedenken, wie  die  Nonne,  die  sich  anklagt,  sie  habe 
ihr  Ei  mit  Gier  gegessen?  .  .  Wenn  Florine  Glück 
hat,  werde  ich  Chefredakteur,  habe  zweihundert- 
fünfzig Franken  Fixum;  ich  nehme  die  großen  Thea- 
ter, Vernou  lasse  ich  die  Vaudevilletheater,  und  Sie 
setzen  den  Fuß  in  den  Steigbügel  und  werden  mein 
Nachfolger  in  den  Boulevardtheatern.  Sie  bekommen 
dann  drei  Franken  für  die  Spalte  und  schreiben  jeden 
Tag  eine,  das  macht  im  Monat  dreißig,  die  Ihnen 
neunzig  Franken  einbringen;  Sie  haben  dann  Bücher 
im  Wert  von  sechzig  Franken,  die  Sie  Barbet  ver- 
kaufen; dann  können  Sie  monatlich  von  Ihren  Thea- 
tern je  zehn  Billets  verlangen,  im  ganzen  vierzig 
Billets,  die  Sie  für  vierzig  Franken  an  den  Barbet 
der  Theater  verkaufen  werden  .... 

Ich  sage  nichts  von  dem  Vergnügen,  daß  Sie 
ins  Theater  gehen  können,  ohne  zu  zahlen,  denn 
dieses  Vergnügen  wird  bald  eine  Plage;  aber  Sie 
haben  in  vier  Theatern  den  Zutritt  hinter  die  Kulissen. 
Wenn  Sie  zwei  Monate  hart  und  zurückhaltend  sind, 
dann  werden  Sie  mit  Einladungen  überschüttet, 
können  fortwährend  mit  den  Schauspielerinnen  sou- 
pieren;  ihre  Liebhaber    machen   Ihnen    den  Hof.... 

Heute  um  fünf  Uhr  im  Luxembourg  waren  Sie 
noch  in  Verzweiflung,  und  nun  haben  Sie  die  Aus- 
sicht vor  sich,   eine   der   hundert  privilegierten  Per- 


—  11  — 

sonen  zu  werden,  die  für  Prankreich  die  Meinung 
nachen.  Wenn  wir  Glück  haben,  können  Sie  in  drei 
Tagen  mit  dreißig  kleinen  Witzen,  von  denen  täglich 
dre.  gedruckt  werden,  einem  Menschen  das  Leben 
zur  ^ual  machen;  Sie  können  bei  allen  Schauspiele- 
rinnen Ihrer  Theater  sich  Lust  und  Vergnügen  holen ; 
Sie  kennen  ein  gutes  Stück  zu  Fall  bringen  und 
ganz  Paris  dazu  bringen,  in  ein  schlechtes  zu  laufen. 
Wenn  Dauriat  ablehnt,  die  ,Margueriten'  zu  drucken 
—  ohne  Ihnen  etwas  dafür  zu  geben,  können  Sie  es 
zuwege  bringen,  daß  er  demütig  und  unterwürfig  zu 
Ihnen  kommt  und  sie  Ihnen  für  zweitausend  Franken 
abkauft.  Wenn  Sie  Talent  haben  uud  gegen  ihn  in 
drei  verschiedenen  Zeitungen  mit  drei  Artikeln  los- 
gehen, die  irgendeine  seiner  Spekulationen  oder  ein 
Buch,  auf  das  er  rechnet,  zu  vernichten  drohen, 
dann  werden  Sie  sehen,  wie  er  wie  eine  Schling- 
pflanze bis  zu  Ihrer  Mansarde  emporklettert  und 
nicht  mehr  vom  Fleck  geht.  Und  Ihr  Roman 
schließlich!  Die  Buchhändler,  die  Sie  jetzt  alle 
mehr  oder  weniger  höflich  zur  Tür  hinausweisen 
würden,  werden  dann  vor  Ihrer  Tür  warten,  bis  sie 
Zutritt  finden,  und  das  Manuskript,  das  der  alte 
Doguereau  Ihnen  auf  vierhundert  schätzte,  wird  bis 
zu  viertausend  Franken  in  die  Höhe  getrieben  wer- 
den !  Das  ist  der  Nutzen,  den  das  Journalisten- 
gewerbe trägt.  Daher  versperren  wir  allen  Neulingen 
den  Zutritt  zu  den  Zeitungen;  um  da  einzudringen, 
bedarf  es  nicht  bloß  eines  großen  Talents,  sondern 
auch  eines  großen  Glücks.  Und  Sie  wollen  sich  gegen 
Ihr  Glück  wehren  !  Sehen  Sie,  wenn  wir  uns  nicht 
heute  bei  Flicoteaux  getroffen  hätten,  könnten  Sie 
noch  drei  Jahre  lang  warten  oder  wie  d'Arthez  in 
einer  Dachkammer  verhungern.  Bis  d'Arthez  so  ge- 
lehrt wie  Bayle  und  ein  so  großer  Schriftsteller  wie 
Rousseau  geworden  ist,  haben  wir  unser  Glück  ge- 
macht und  werden  Herren  über  sein  Glück  und  sei- 
nen Ruhm  sein.  Finot  wird  Deputierter  und  Besitzer 


-     12 


einer  großen  Zeitung  werden;  und  wir  werden,  was 
wir  sein  wollen:  Pairs  von  Frankreich  oder  Schuld- 
gefangene in  Sainte-Pelagie.«  »Und  Finot  wird  seirß 
große  Zeitung  den  Ministern  verkaufen,  die  ihm  a'as 
meiste  Geld  zahlen,  wie  er  seine  Lobartikel  an  Ma- 
dame Bastienne  verkauft,  und  Mademoiselle  Viiginie 
schlecht  macht  und  beweist,  daß  die  Hüte  der  ersten 
schöner  sind  als  die,  die  das  Blatt  zuerst  gepriesen 
hatte!«  rief  Lucien  .  .  .  »Sie  sind  ein  dummer  Kerl,« 
antwortete  Lousteau  trocken.  »Finot  lief  vor 
drei  Jahren  mit  zerrissenen  Stiefeln  herum,  aß  bei 
Tabar  für  achtzehn  Sous  zu  Mittag,  sudelte  für  zehn 
Franken  einen  Prospekt,  und  wie  sein  Rock  ihm 
auf  dem  Leib  saß,  das  war  ein  so  unerforschliches 
Geheimnis,  wie  das  der  unbefleckten  Empfängnis : 
Finot  ist  jetzt  alleiniger  Besitzer  seines  Blattes,  das 
hunderttausend  Franken  wert  ist;  mit  den  bezahlten, 
aber  nicht  effektiven  Abonnements,  mit  den  wirk- 
lichen Abonnements  und  den  indirekten  Kontributio- 
nen, die  sein  Onkel  erhebt,  verdient  er  jährlich 
zwanzigtausend  Franken;  er  hat  täglich  die  üppig- 
sten Diners  der  Welt,  er  hat  seit  einem  Monat  ein 
Kabriolett ;  und  morgen  ist  er  nun  endlich  an  der 
Spitze  einer  Wochenschrift  und  hat  ein  Sechstel  des 
Eigentums  umsonst,  hat  fünfhundert  Franken  monat- 
liches Gehalt,  die  er  um  tausend  Franken  für  un- 
entgeltliche Mitarbeit,  die  seine  Teilhaber  ihm  be- 
zahlen müssen,  erhöhen  wird.  Sie  werden  der  erste 
sein,  der  überglücklich  ist,  Finot  drei  Artikel  um- 
sonst zu  geben,  wenn  er  einwilligt,  Ihnen  fünfzig 
Franken  für  den  Bogen  zu  zahlen  .... 

Haben  Sie  nicht  eine  großartige  Zukunft,  wenn 
Sie  blind  sich  in  Haß  und  Liebe  nach  den  jeweiligen 
Umständen  richten;  wenn  Sie  angreifen,  weil  Finot 
Ihnen  sagt:  greif  anl;  wenn  Sie  loben,  weil  er  Ihnen 
sagt:  lobe!  Wenn  Sie  gegen  Jemanden  Rache  zu 
üben  haben,  dann  brauchen  Sie  mir  nur  zu  sagen : 
Lousteau,   der   Mann   muß   vernichtet  werden !,   und 


—  13 


wir  rücken  jeden  Morgen  in  unser  Blatt  ein  Sätzchen 
ein,  mit  Hilfe  dessen  Sie  Ihren  Freund  oder  Ihren 
Feind  aufs  Rad  flechten  können.  Und  dann  bringen 
Sie  Ihr  Opfer  mit  einem  großen  Artikel  in  dem 
Wochenblatt  noch  einmal  um.  Und  schließlich,  wenn 
es  für  Sie  eine  große  Sache  ist,  läßt  Finot,  dem  Sie 
sich  inzwischen  unentbehrlich  gemacht  haben,  Sie 
einen  letzten  Keulenschlag  führen.«  »Sie  glauben 
also,  Florine  wird  ihren  Drogisten  dazu  bestimmen 
können,  das  Geschäft  zu  machen?«  fragte  Lucien, 
der  von  den  Aussichten  geblendet  war.  »Das  glaube 
ich  freilich!  Wir  sind  am  Zwischenakt,  ich  werde  ihr 
sofort  zwei  Worte  sagen,  die  Sache  wird  heute  Nacht 
in  Ordnung  gebracht.  Wenn  Florine  verstanden  hat, 
um  was  es  sich  handelt,  hat  sie  meinen  ganzen  Geist 
und  Ihren  dazu.«  »Und  da  sitzt  nun  dieser  brave 
Kaufmann  mit  offenem  Munde  und  bewundert  Flo- 
rine, ohne  eine  Ahnung  zu  haben,  daß  man  ihm 
dreißigtausend  Franken  aus  der  Tasche  holen  wird!« 
»Schon  wieder  eine  Dummheit!  Stiehlt  man  sie  ihm 
denn  ?  .  .  Mein  Lieber,  wenn  der  Minister  das  Blatt 
kauft,  dann  bekommt  der  Drogist  binnen  einem  hal- 
ben Jahr  vielleicht  fünfzigtausend  Franken  für  seine 
dreißigtausend.  Und  ferner  wird  Matifat  nicht  an  das 
Blatt  denken,  sondern  an  die  Interessen  Florines. 
Wenn  man  erfährt,  daß  Matifat  und  Camusot  —  denn 
sie  sollen  sich  in  das  Geschäft  teilen  —  eine  Zeit- 
schrift besitzen,  dann  bringen  alle  Blätter  freundliche 
Artikel  für  Florine  und  Coralie.  Florine  wird  berühmt 
werden,  sie  bekommt  vielleicht  an  einem  andern 
Theater  ein  Engagement  für  zwölftausend  Franken. 
Und  schließlich  spart  Matifat  die  tausend  Franken, 
die  ihm  jeden  Monat  die  Geschenke  und  die  Diners 
für  die  Journalisten  kosten  würden.  Sie  verstehen 
nichts  von  den  Menschen  und  nichts  vom  Geschäft! . . . 
Jetzt  ist  es  zehn  Uhr  und  es  ist  noch  keine 
Zeile  da.  Ich  will,  damit  diese  Nummer  glänzend 
wird,  Vernou  und  Nathan  bitten,    uns  etliche  zwan- 


—   14  — 


zig  Bosheiten  gegen  die  Deputierten,  den  Kanzler 
Cruzoe,  die  Minister  und,  wenns  not  tut,  gegen  un- 
sere Freunde  zu  geben.  In  solcher  Lage  wäre  man 
imstande,  seinen  Vater  zu  ermordenc  .  .  . 

»Was  für  Menschen  sind  denn  die  Journalisten  I 
rief  Lucien.  »Wie!  Man  soll  sich  an  einen  Tisch 
setzen  und  geistreich  sein?..c  »Genau  wie  man 
eine    Lampe    anzündet .  .   solange  sie  noch  öl  hat.c 

»Liebes  Kind«,  sagte  sie  zu  Pinot,  »man  bewil- 
ligt dir  deine  zehn  Abonnements,  sie  kosten  die 
Direktion  nichts,  sie  sind  schon  untergebracht,  beim 
Chor,  dem  Orchester  und  dem  Balletkorps.  Dein  Blatt 
ist  so  famos,  daß  sich  niemand  beklagt.  Du  sollst 
deine  Logen  haben.  Hier  ist  der  Preis  für  das  erste 
Vierteljahr«,  sagte  sie  und  überreichte  ihm  zwei  Bank- 
noten. »Also  mach  mich  nicht  herunter«.  »Ich  bin 
verloren«,  rief  Pinot,  »ich  habe  keinen  Leitartikel 
mehr  für  die  Nummer,  denn  mein  infames  Geschimpfe 
muß  nun  wegbleiben  .  .« 

»Ich  danke  Gott,  daß  es  in  meinem  Lande  keine 
Zeitungen  mehr  gibt«,  fuhr  der  deutsche  Minister 
nach  einer  Pause  fort.  .  .  .  Ich  muß  sagen,  ich 
habe  heute  abend  den  Eindruck,  daß  ich  mit 
Löwen  und  Panthern  zu  Nacht  speise,  die  mir 
die  Ehre  erweisen,  ihre  Tatzen  mit  Samt  zu  be- 
kleiden.« »Ee  ist  sicher«,  sagte  Blondet,  »daß 
wir  imstande  sind,  ganz  Europa  zu  sagen  und  zu 
beweisen,  daß  Eure  Exzellenz  heute  abend  eine 
Schlange  ausgespien  haben,  daß  Sie  beinahe  Fräu- 
lein Tullia,  die  hübscheste  unserer  Tänzerinnen,  von 
ihr  beißen  ließen,  und  wir  könnten,  daran  anschlie- 
ßend, Kommentare  über  Eva,  die  Bibel,  die  Erb- 
sünde und  die  Todsünde  folgen  lassen.  Aber  beru- 
higen Sie  sich,  Sie  sind  unser  Gast«.  »Das  wäre  drol- 
lig«, sagte  Pinot.  »Wir  könnten  wissenschaftliche  Ab- 
handlungen über  alle  Schlangen  drucken  lassen,  die 
man  im  menschlichen  Herzen  und  im  menschlichen 
Körper  bis  auf  das  diplomatische  Korps  findet«,  sagte 


—  15 


Lousteau.  >Wir  könnten  irgendeine  Schlange  in  die- 
ser Flasche  Kirsehwasser  findenc,  sagte  Vernou.  »Sie 
würden  es  schließlich  selbst  glaubenc,  sagte  Vignon 
zu  dem  Diplomaten.  »Meine  Herren,  erwecken  Sie 
nicht  Ihre  schlummernden  Klauen  !c  rief  der  Herzog 
von  Rh£tore\  »Der  Einfluß,  die  Macht  der  Zeitung  ist 
erst  im  Beginne,  sagte  Finot;  »der  Journalismus  ist  in 
seiner  Kindheit,  er  wird  wachsen.  Binnen  zehn  Jah- 
ren wird  alles  der  öffentlichen  Meinung  unterworfen 
sein.  Der  Gedanke  wird  alles  beleuchten,  er  wird  .  .  .< 
»Alles  beflecken«,  unterbrach  Blondet.  »Das  ist  ein 
Wort!«  sagte  Claude  Vignon.  »Er  wird  Könige 
machen«,  sagte  Lousteau.  »Er  wird  die  Monarchien 
auflösen«,  sagte  der  Diplomat.  »Zugegeben«,  sagte 
Blondet,  »wenn  es  keine  Presse  gäbe,  brauchte  man 
sie  nicht  zu  erfinden;  aber  sie  ist  da,  und  wir  leben 
davon«.  »Sie  werden  daran  sterben«,  sagte  der 
Diplomat .... 

»Die  Zeitung,  die  ein  Heiligtum  hätte  sein  sol- 
len, ist  ein  Mittel  für  die  Parteien  geworden,  aus  einem 
Mittel  ist  sie  ein  Geschäft  geworden;  und  wie  alle 
Geschäftsunternehmungen  ist  sie  ohne  Treu  und  ohne 
Ehrlichkeit.  Jede  Zeitung  ist,  wie  es  Blondet  sagt, 
eine  Bude,  in  der  man  dem  Publikum  Worte  von 
der  Farbe  verkauft,  die  sie  haben  will.  Gäbe  es  eine 
Zeitung  für  Bucklige,  dann  bewiese  sie  morgens  und 
abends  die  Schönheit,  Güte  und  Notwendigkeit  der 
Buckligen.  Eine  Zeitung  ist  nicht  mehr  dazu  da,  die 
Meinungen  zu  klären,  sondern  ihnen  zu  schmeicheln. 
Daher  werden  alle  Zeitungen  nach  einiger  Zeit  er- 
bärmlich, heuchlerisch,  infam,  lügnerisch,  mörderisch 
sein;  sie  werden  die  Ideen,  die  Systeme,  die  Men- 
schen töten  und  werden  gerade  dadurch  blühen  und 
gedeihen.  Sie  werden  die  Wohltat  genießen,  die  allen 
imaginären  Wesen  zugute  kommt :  das  Übel  wird 
geschehen,  ohne  daß  jemand  daran  schuldig  ist.  Wir 
alle,  ich  Vignon,  du  Lousteau,  du  Blondet,  du  Finot 
werden    Aristidesse,    Piatone,    Catone,    Männer    von 


—  16 


Plutarch  sein;  wir  werden  alle  unschuldig  sein,  wir 
werden  uns  alle  die  Hände  von  jeder  Ruchlosigkeit 
weißwaschen.  Napoleon  hat  für  diese  moralische  oder, 
wenn  Sie  lieber  wollen,  unmoralische  Erscheinung 
den  Grund  angegeben;  er  hat  darüber  ein  pracht- 
volles Wort  gesagt,  auf  das  ihn  seine  Studien  über 
den  Konvent  gebracht  haben:  ,Pür  die  Kollektiv- 
verbrechen ist  niemaud  haftbar/  Die  Zeitung  kann 
sich  das  abscheulichste  Benehmen  gestatten,  nie- 
mand glaubt,  sich  damit  persönlich  schmutzig  zu 
machen  ....  Wenn  die  Zeitung  eine  niederträch- 
tige Verleumdung  erfindet,  hat  man  sie  ihr  be- 
richtet. Kommt  jemand  und  beklagt  sich,  so  ent- 
schuldigt sie  sich  mit  der  großen  Freiheit.  Wird 
sie  vors  Gericht  gezogen,  dann  beklagt  sie  sich, 
daß  man  ihr  keine  Berichtigung  geschickt  hat;  aber 
wenn  man  ihr  eine  schickt,  dann  lehnt  sie  sie  lachend 
ab  und  spricht  von  ihrem  Verbrechen  wie  von  einer 
Kleinigkeit,  die  nicht  der  Rede  wert  wäre.  Schließ- 
lich verhöhnt  sie  ihr  Opfer,  wenn  es  Recht  be- 
kommt. Wird  sie  bestraft,  hat  sie  zuviel  Geldstrafen 
zu  zahlen,  dann  denunziert  sie  den  Klagenden  als 
einen  Feind  der  Freiheit,  des  Landes  und  der  Auf- 
klärung. Sie  wird  sagen,  Herr  Soundso  sei  ein  Dieb, 
und  wird  dafür  die  Worte  wählen,  er  sei  der  ehr- 
lichste Mann  des  Königreichs.  So  sind  ihre  Verbre- 
chen Kleinigkeiten!  ihre  Angreifer  Scheusale I  und 
nach  einiger  Zeit  glauben  die  Leute,  die  sie  alle 
Tage  lesen,  alles,  was  sie  will.  Von  nun  an  ist  nichts, 
was  ihr  mißfällt,  mehr  patriotisch,  und  sie  wird  nie 
unrecht  haben.  Sie  bedient  sich  der  Religion  gegen 
die  Religion,  der  Verfassung  gegen,  den  König;  sie 
verhöhnt  die  Behörden,  wenn  die  Behörden  sie  är- 
gern; sie  lobt  sie,  wenn  sie  den  Volksleidenschaften 
schmeicheln.  Um  Abonnenten  zu  ergattern,  erfindet 
sie  die  rührendsten  Märchen,  führt  sie  Possenspiele 
auf  wie  Hanswurst.  Die  Zeitung  würde  eher  dem 
Publikum  ihren  eigenen  Vater    zum   Frühstück  ser- 


—  17 


vieren,  als  darauf  verzichten,  es  unausgesetzt  zu 
interessieren  und  zu  amüsieren.  Sie  ist  wie  ein 
Schauspieler,  der  die  Asche  seines  Sohnes  in  die 
Urne  tut,  um  wirklich  weinen  zu  können..«  »Kurz,  sie 
ist  die  Folioausgabe  des  Volkes,«  riet  Blondet  dazwi- 
schen. »Des  heuchlerischen,  unedelmütigen  Volkes«, 
erwiderte  Vignon.  »Es  kommt  dahin,  daß  die  Zeitung 
das  Talent  aus  ihrer  Mitte  verbannen  wird,  wie 
Athen  Aristides  verbannt  hat.  Wir  werden  es  erleben, 
wie  die  Zeitungen,  die  anfangs  von  Ehrenmännern 
geleitet  werden,  später  unter  das  Regiment  der 
Mittelmäßigsten  kommen,  die  die  Geduld  und  die 
Nachgiebigkeit  des  Gummielastikums  haben,  die  den 
wahren  Talenten  fehlt;  oder  sie  kommen  an  die 
Krämer,  die  das  Geld  haben,  sich  die  Federn  zu 
kaufen.  Wir  sehen  davon  schon  jetzt  allerlei.  Aber 
in  zehn  Jahren  wird  der  erste  beste  Bursche,  der 
vom  Gymnasium  kommt,  sich  für  einen  großen  Mann 
halten,  wird  in  die  Spalten  eines  Journals  steigen, 
um  seine  Vordermänner  zu  prügeln,  wird  sie  an  den 
Füßen  herunterziehen,  um  ihren  Platz  zu  bekommen. 
Napoleon  hatte  sehr  recht,  die  Presse  zu  knebeln. 
Ich  möchte  wetten,  daß  die  Oppositionsblätter,  wenn 
sie  ihre  Richtung  zur  Regierung  brächten,  diese  selbe 
Regierung  in  dem  Augenblick,  wo  sie  ihnen  irgend 
etwas  verweigerte,  mit  den  nämlichen  Gründen  und 
den  nämlichen  Artikeln,  die  sie  jetzt  gegen  die  Re- 
gierung des  Königs  schreiben,  wütend  bekämpfen 
würden.  Je  mehr  man  den  Journalisten  Konzessionen 
macht,  um  so  anspruchsvoller  werden  die  Zeitungen. 
Heute  sind  die  Journalisten  Parvenüs;  aber  ihnen 
werden  ausgehungerte  und  arme  Journalisten  folgen. 
Die  Wunde  ist  unheilbar,  sie  wird  immer  bösartiger, 
immer  fressender;  und  das  Übel  wird  immer  größer, 
je  mehr  es  geduldet  wird,  bis  zu  dem  Tag,  wo  über 
die  Zeitungen  durch  ihre  Üppigkeit  und  Massen- 
haftigkeit  die  Verwirrung  kommt,  wie  in  Babylon. 
Wir  wissen  alle,  wie  wir  hier  sind,  daß  die  Zeitungen 


18 


in  der  Undankbarkeit  weitergehen  werden  als  die 
Könige,  daß  sie  in  Spekulationen  und  Berechnungen 
weitergehen  als  der  schmutzigste  Kaufmann,  daß  sie 
unsere  Intelligenzen  zugrunde  richten  werden,  damit 
sie  jeden  Morgen  ihren  Hirnfusel  verkaufen ;  aber 
wir  schreiben  alle  für  sie,  wie  die  Leute,  die  eine 
Quecksilbermine  ausbeuten,  obwohl  sie  wissen,  daß 
sie  daran  sterben.  Da  unten  sitzt  nun,  neben  Coralie, 
ein  junger  Mann.  .  Wie  heißt  er?  Lucien !  Er  ist 
schön,  er  ist  ein  Dichter  und,  was  für  ihn  mehr  Wert 
ist,  er  hat  Witz,  Einfälle,  Geist;  was  wird  nun  aus 
ihm?  Er  tritt  in  eines  der  Gedankenbordelle  ein,  die 
man  Zeitung  nennt,  dort  vergeudet  er  seine  schönsten 
Ideen,  dort  dörrt  er  sein  Hirn  aus,  dort  befleckt  er 
seine  Seele,  dort  begeht  er  die  anonymen  Nieder- 
trächtigkeiten, die  im  Gedankenkrieg  an  Stelle  der 
Feldzugspläne,  Plünderungen,  Brandstiftungen,  Hinter- 
halte im  Krieg  der  Kondottiere  getreten  sind.  Wenn 
er,  wie  tausend  andere,  ein  schönes  Talent  zum 
Nutzen  der  Aktionäre  vergeudet  hat,  dann  lassen 
ihn  diese  Gifthändler  Hungers  sterben,  wenn  er  Durst 
hat,  und  vor  Durst  sterben,  wenn  er  Hunger  hat... 
Man  wird  unser  Hirn  austrinken  und  uns  schlech- 
tes Benehmen  vorwerfen!«.. 

>Wißt  Ihr,  wie  Vignon  mir  vorkommt?«  sagte 
Lousteau,  indem  er  auf  Lucien  wies.  >Wie  eine 
der  Huren  aus  der  Rue  du  PeUican,  die  zu  einem 
Gymnasiasten  sagte :  ,Geh,  Kleiner,  so  ein  junges 
Bürschchen  sollte  noch  nicht  hierher  kommen/« 


—  19  — 

Die  Welt  der  Plakate*) 
Von  Karl  Kraus 

Schon  als  Kind  war  ich  weniger  darauf  erpicht,  das  Leben 
aus  den  großen  Werken  der  Kunst  zu  empfangen,  als  aus  den 
kleinen  Tatsachen  des  Lebens  es  zu  ergänzen.  Unbewußt  ging  ich 
den  rechten  Weg  ins  Leben,  indem  ich  es  mit  jedem  Schritt 
eroberte,  anstatt  es  als  eine  Überlieferung  an  mich  zu  nehmen, 
mit  der  der  junge  Sinn  nichts  zu  beginnen  weiß.  Die  Erwachsenen, 
die  noch  immer  eine  kindische  Freude  daran  haben,  den  vor  der 
Tür  des  Lebens  Wartenden  den  Christbaum  mit  den  Geschenken 
einer  fertigen  Bildung  zu  behängen,  wissen  nicht,  wie  unempfäng- 
lich sie  die  Kinder  für  alles  das  machen,  was  die  wahre  Über- 
raschung des  Lebens  bedeutet.  Meine  Neugierde  war  immer 
stärker  als  solche  Befriedigung.  Instinktiv  wich  ich  der  Verlockung 
aus,  in  mich  aufzunehmen,  was  weisere  Leute  gedacht  hatten,  und 
während  meine  Kameraden  schlechte  Sittennoten  bekamen,  weil 
sie  unter  der  Bank  Bücher  lasen,  war  ich  ein  Musterschüler, 
weil  ich  auf  jedes  Wort  der  Lehrer  paßte,  um  ihre  Lächerlichkeiten 
zu  beobachten.  Ich  war  früh  darauf  aus,  vom  Menschen  Aufschluß 
über  den  Menschen  zu  verlangen,  und  ich  ließ  eigentlich  nur  eine 
Form  künstlerischer  Mitteilung  gelten,  die  mir  das  Wissenswerte 
unaufdringlich  an  den  Mann  zu  bringen  schien:  das  Plakat.  Ein 
sentimentaler  Gassenhauer,  den  am  Sommersonntag  ein  Leierkasten 
vor  unserem  Landhaus  spielte,  hatte  Macht  über  mein  Gemüt;  ich 
ließ  ab,  Fliegen  zu  fangen,  und  die  Mysterien  der  Liebe  gingen 
mir  auf.  Andere,  die  sich  rühmen,  daß  der  Tristan  eine  ähnliche 
Wirkung  auf  sie  geübt  habe,  fangen  noch  heute  Fliegen.  Ich  war 
stets  anspruchslos,  wenn  es  die  Wahl  der  äußeren  Eindrücke  galt, 
um  zu  inneren  Erlebnissen  zu  gelangen,  und  ich  verschmähte  jene 
starken  Reizmittel,  welche  die  schwachen  Seelen  brauchen,  um  eine 
trügerische  Wirkung  mit  vermehrtem  Schaden  zu  erkaufen.  Kurzum, 
die  vielen  Bibliotheken  und  Museen,  an  denen  ich  im  Leben  vor- 
übergekommen bin,  werden  sich  am  Ende  über  meine  Aufdring- 
lichkeit nicht  zu  beklagen  haben.  Dagegen  zog  mich  von  jeher 
das  Leben  der  Straße  an,  und  den  Geräuschen  des  Tages  zu 
lauschen,   als   wären  es  die  Akkorde  der  Ewigkeit,    das   war  eine 


*)  Aus  dem  ,Simplicissimus'. 


20  — 


Beschäftigung,  bei  der  Genußsucht  und  Lernbegier  auf  ihre  Kosten 
kamen.  Und  wahrlich,  wem  der  dreimal  gefährliche  Idealismus 
eingeboren  ist,  die  Schönheit  an  ihrem  Widerspiel  bestätigt  zu 
sehen,  den  kann  ein  Plakat  zur  Andacht  stimmen! 

Es  sind  wertvolle  Aufschlüsse,  die  ich  den  Affichen  jener 
Zeit  zu  danken  habe,  da  die  ersten  Versuche  gemacht  wurden, 
das  geistige  Leben  ausschließlich  auf  die  Bezugsquellen  des  äußeren 
Lebens  zu  lenken.  Denn  immer  deutlicher  wurde  das  Bestreben, 
dem  Betrachter,  dessen  Denken  von  höheren  Interessen  abgelenkt 
war,  einen  vollgültigen  Ersatz  in  den  Plakaten  selbst  zu  bieten.  Die 
geistigen  Werte,  von  denen  er  scheinbar  entwöhnt  wurde,  sollte 
er  eben  dort  wiederfinden,  wo  er  sie  am  wenigsten  vermutete, 
und  umso  größer  mußte  seine  Überraschung  sein,  die  Schuh- 
wichse, deren  Beachtung  er  eben  noch  Kunst  und  Literatur  ge- 
opfert hatte,  just  in  Verbindung  mit  diesen  unentbehrlichen 
Lebensgütern  anzutreffen.  Als  ob  man  einen  lieben  Bekannten,  von 
dem  man  sich  in  Europa  \ crabschiedet  hat,  in  Amerika  wiedersähe: 
man  kann  sich  vor  Staunen  nicht  fassen  und  bleibt  umso  lieber, 
weil  die  unverhoffte  Gesellschaft  zur  Empfehlung  der  Gegend 
beiträgt.  *Bis  dahin  war  also  die  Erkenntnis  von  der  Zweckdien- 
lichkeit und  Billigkeit  eines  Hosenstreckers  eine  Angelegenheit, 
die  mit  der  Malerei,  mit  der  Spruchweisheit,  mit  dem  Gefühls- 
leben nichts  zu  schaffen  hatte.  Wenn  wir  aber  den  Hosenstrecker 
in  der  Verpackung  künstlerischer  oder  geistiger  Werte  erhalten, 
warum  sollten  wirs  nicht  zufrieden  sein  ?  Warum  sollten  wir  zwei 
Wege  machen,  wenn  die  Seligkeit  auf. einem  zu  erreichen  ist? 
Warum  sollten  wir  für  kulturelle  Ideale  zahlen,  die  als  Emballage 
für  einen  Hosenstrecker  nicht  einen  Pfennig  kosten!  Aber  mag 
immerhin  bei  der  Monopolisierung  der  Lebensgüter  durch  den 
Kaufmann  die  bildende  Kunst  noch  da  und  dort  die  Freiheit  be- 
haupten, selbst  Ware  zu  sein,  anstatt  der  Ware  zu  dienen.  Daß 
das  Wort  des  Schriftstellers  seine  Berechtigung  außerhalb  der  in- 
dustriellen Reklame  verlieren  wird,  scheint  gewiß.  Nicht  als  ob 
das  geistige  Leben  eine  Verdrängung  durch  die  merkantilen  Interessen 
zu  befürchten  hätte;  aber  es  wird  aus  seiner  brotlosen  Beschau- 
lichkeit zu  einem  sozialen  Beruf  geführt  werden,  und  manche 
artistische  Begabung,  die  im  Nebel  undankbarer  Probleme  erstickt 
wäre,  wird  leben,  um  der  Überzeugung  zu  dienen,  daß  »für  die 


21 


Ewigkeit«  bloß  ein  Eßbesteck  geschaffen  sei  und  noch  dazu 
staunend  billig  zu  haben. 

Als  man  anfing,  das  geistige  Leben  in  die  Welt  der  Plakate 
zu  verbannen,  habe  ich  vor  Planken  und  Annoncentafeln  kaum  eine 
Lernstunde  versäumt.  Und  lange  ehe  ich  das  Wesen  des  Plakats 
als  die  Empfehlung  einer  Ware  erkannte,  empfand  ich  es  als  eine 
Warnung  vor  dem  Leben.  Ich  wußte  bald  um  den  Stand  des 
üeistes  Bescheid.  Mit  der  Offenbarungskraft  eines  Erlebnisses 
wirkte  es  auf  mich,  als  ich  einmal  in  einem  Schaufenster  die 
Darstellung  zweier  Männer  sah,  deren  einer  sich  mit  seiner  Kravatte 
plagte,  während  der  andere  triumphierend  danebenstehend,  auf 
ein  fertiges  Werk  zeigte  und  schadenfroh  ausrief:  >Aber  lieber 
Freund,  warum  ärgern  Sie  sich  so?  Kaufen  Sie  sich  Pollitzers 
Kragenhalter,  der  hält  Ihnen  Kragen  und  Kravatte  fest!«  Daß  die 
Menschheit  einen  Anschauungsunterricht  in  diesem  Punkte  nötig 
habe,  bedachte  ich  nicht.  Ich  nahm  vielmehr  an,  daß  es  eine 
realistische  Darstellung  sei,  daß  in  der  guten  Gesellschaft  täglich 
solche  Dialoge  geführt  werden  und  daß  es  viele  Menschen  geben 
müsse,  deren  Zentrum  jenes  Problem  ist  und  deren  Leben  bloß  einen 
Vorwand  bedeutet,  um  den  endlichen  Zusammenschluß  von  Kragen 
und  Kravatte  zu  erreichen.  Und  plötzlich  sah  ich  es  auf  der  Straße 
von  solchen  Leuten  wimmeln,  überall  sah  ich  diese  Gesichter,  den 
verdrossenen  Kämpfer  und  den  fröhlichen  Sieger  des  Lebens,  ich  lernte 
den  Choleriker  vom  Sanguiniker  unterscheiden,  wiewohl  beide 
einen  aufgewichsten  Schnurrbart  und  Schnabelschuhe  hatten.  Den 
ersten,  entscheidenden  Eindruck  von  einer  Menschheit  also,  die  in 
ihrer  überwiegenden  Majorität  aus  Ladenschwengeln  besteht,  emp- 
fing ich  von  jenem  Bilde,  und  mit  einemmale  war  ich  es,  vor  dem 
sie  sich  alle  zu  der  Frage  einigten :  Aber  lieber  Freund,  warum 
ärgern  Sie  sich  so?  .  .  . 

Dies  trieb  mich  wieder  zu  den  Plakaten,  die  mir  den 
Schreckensgehalt  des  Lebens  wenigstens  im  Extrakt  darboten. 
Gern  stellte  ich  mir  vor,  daß  alle  Geistigkeit  übernommen  sei, 
daß  alles,  was  die  Literatur  an  Zitaten,  die  Sprache  an  Sprüchen, 
das  Herz  an  Empfindungen  bietet,  nur  mehr  dort  verwen- 
det werde  und  daß  das  Leben  außerhalb  der  Annoncen 
ein  leerer  Schein  sei  und  höchstens  eine  wirksame  Reklame 
für  den    Tod.   Eines    Tages    brach    die    Sintflut    des    Merkan- 


22 


tilismus  über  die  Menschheit  herein,  Gevatter  Schneider  und 
Handschuhmacher  gebärdeten  sich  als  die  Vollstrecker  eines 
göttlichen  Willens,  und  es  entstand  die  Mode,  die  Köpfe  dieser 
Leute  an  den  Straßenecken  zu  konterfeien.  Da  verfolgte  mich 
durch  all  die  Jahre  ein  Gesicht,  in  dessen  Zügen  ich  mindestens 
den  Stolz  auf  eine  gewonnene  Schlacht  zu  lesen  vermeinte.  Ich 
wurde  älter,  aber  das  Gesicht  bekam  keine  Runzeln  und  ich  wußte, 
daß  es  mich  überleben  und  dem  Jahrhundert  das  Gepräge  geben 
wird.  Einst  war  es  ja  die  Physiognomie  Napoleons,  die  auf  die 
schwangeren  Frauen  der  Zeit  so  nachhaltig  wirkte,  daß  noch  das 
Gesicht  der  Urenkel  sie  der  ehelichen  Untreue  verdächtigt  hat. 
Das  Antlitz,  das  heute  einen  ähnlichen  Eindruck  in  den  Seelen 
der  zeitgenössischen  Welt  hinterläßt,  gehört  einem  Uhrmacher. 
Weil  er  sich  rühmt,  daß  seine  Uhren  die  besten  seien,  hat  er 
auch  den  Mut  der  Persönlichkeit;  er  gibt  seinen  Kopf  zum  Pfand 
und  seinen  treuen  Blick  als  Garantieschein  .  .  .  Wo  tue  ich  das 
Gesicht  nur  hin?  fragte  sich  manch  einer,  sann  und  kam  nicht 
darauf.  Er  war  einem  Mann  begegnet,  hatte  ihn  wie  einen  alten 
Bekannten  gegrüßt,  und  wußte  doch  nicht,  wer  es  gewesen  sei\ 
An  der  nächsten  Straßenecke  aber  grüßte  ihn  ein  Plakat  zurück. 
Ein  Gastwirt  war's  oder  ein  Hutmacher  oder  der  uns  allen  lieb- 
gewordene Schmierölerzeuger,  von  dem  wir  nur  nicht  vermutet 
hätten,  daß  er  uns  leibhaftig  begegnen  könnte,  weil  ja  auch 
Beethoven  nicht  von  seinem  Sockel  steigt.  Gibt's  denn  ein  Leben 
außerhalb  der  Plakate?  Wenn  uns  die  Eisenbahn  aus  der  Stadt 
holt,  so  sehen  wir  freilich  eine  grüne  Wiese  -  aber  die  grüne 
Wiese  ist  nur  ein  Anschlag,  den  der  Schmierölerzeuger  im  Bunde 
mit  der  Natur  ausgeführt  hat,  um  uns  auch  dort  seine  Aufwartung 
zu  machen. 

Kein  Entrinnen!  So  wollen  wir  die  Augen  schließen  und 
in  das  Paradies  der  Träume  flüchten  .  .  .  Aber  wir  haben  selbst 
hier  die  Rechnung  ohne  den  Gastwirt  gemacht,  der  gerade  das 
Traumleben  für  eine  passende  Gelegenheit  hält,  sein  Gesicht  in 
unsere  Nähe  zu  bringen.  Fürchterliches  wird  offenbar.  Der  Mer- 
kantilismus hat  es  gewagt,  noch  die  Schwelle  unseres  Bewußtseins 
als  Planke  zu  benutzen!  Die  Welt  des  Tages  bot  nicht  Raum 
genug,  und  so  ist  die  grausige  Möglichkeit,  deren  bloße  Ahnung 
einem  die  Kehle  zuschnürt,  betreten  worden:  man  hat  als  jene  hypna- 


-  23  — 


gogischen  Gestalten,  die  im  Halbschlaf  unser  Lager  umstehen, 
Reklamegesichter  verwendet !  Und  da  esauch  hypnagogische  üeräusche 
gibt,  Gehörshalluzinationen,  denen  der  schlaftrunkene  Sinn  leicht 
geneigt  ist,  so  hat  man  dazu  —  ein  Schauder  erfaßt  mich  —  alle 
jene  Devisen  und  Rufe  bestimmt,  die  unser  Bewußtsein  bei  Tage 
erfüllen.  Welch  eine  Mahnung!  Wir  liegen  da  und  büßen  für 
Makbeths  Schuld.  Es  erscheinen  der  Reihe  nach  die  Könige  des 
Lebens:  der  Knopf könig,  der  Seifenkönig,  der  Manufakturkönig,  der 
Getreidekönig,  der  Ansichtskartenkönig,  der  Teppichkönig,  der 
Kognakkönig,  und  als  letzter  der  Gummikönig.  Seine  Augen 
mahnen  uns  an  unsere  Sünden,  aber  seine  Züge  sprechen 
für  die  Unzerreißbarkeit  menschlichen  Vertrauens.  Und  doch, 
und  doch!...  Ein  buschiges  Haupt  taucht  auf  und  stöhnt: 
»Ich  war  kahl!<  Und  wieder:  Hier  sind  noch  Gesichtspickeln, 
dort  sind  sie  nach  dem  Gebrauch  verschwunden.  Ach,  ein 
andres  Antlitz,  eh'  sie  geschehen,  ein  anderes  zeigt  die  voll; 
brachte  Tat .  .  .  Ein  »heller  Kopf«  erscheint.  Es  ist  jener, 
der  nur  Dr.  Ötkers  Backpulver  verwendet.  »Wo  ißt  und 
trinkt  man  gut?«  summt's  in  der  Luft  und  schon  öffnet  sich 
ein  Maul,  um  ein  Gullasch  zu  verschlingen,  und  schon  zeigt 
eines,  wie  man  Bier  trinkt.  Vor  mir  steht  der  »Wolf  aus 
Gersthof«  und  heult  mir  das  Wiegenlied:  Drahn  ma  um 
und  drahn  ma  auf,  es  liegt  nix  dran  .  . .  Wer  kommt  denn 
dort  herein?  Wilhelm  Teil  mit  seinem  Sohne?  »Ich  soll  vom 
Haupte  meines  Kindes  .  .  .«  Da  schwankte  er,  aber  zur  Schutz- 
marke einer  Schokoladefirma  gibt  er  sich  her!  .  .  .  Seht,  seht,  wer 
bricht  sich  Bahn?  Ein  Weib,  dessen  Haar  länger  ist  als  sie  selbst, 
ein  Weib  also,  das  Grund  hat,  seine  Persönlichkeit  zu  betonen; 
sie  ruft:  Ich,  Anna  .  .  .  Aber  ihre  Rede  verhallt  im  Gerassel  eines 
Wagens,  dessen  Lenker  mir  zuruft:  »Sie  fahren  gut  —  wenn  Sie 
Feigenkaffee  ...»  »Entfernung  ist  kein  Hindernis!«,  unterbricht 
ihn  ein  Weltweiser,  der  der  Welt  von  Herrschaften  abgelegte  Kleider 
gönnt.  Und  nun  ist  das  Chaos  der  Maximen  entfesselt:  »Verlangen 
Sie  überall  .  .  .  Schönheit  ist  Reichtum,  Schönheit  ist  Macht  .  .  . 
Verblüffend  rasch  heilt  .  .  .  Das  Entzücken  der  Frau  ist  .  .  .  Fort 
mit  den  Hosenträgern ! .  .  Geben  Sie  eine  Krone  .  .  .  Wer  probt, 
der  lobt  .  .  .  Überzeugen  Sie  sich  .  .  .  Haben  Sie  schon  Kinder- 
wäsche? .  . .  Jeder  Firmling  wünscht  .  . .  Weltberühmte  prämiierte 


24 


Olmützer  Quargel  . .  .  Das  ist's,  was  Sie  brauchen  ...  Ihr  Magen 
verdaut  schlecht  .  .  .  Wollen  Sie  stark  und  gesund  werden?  .  .  . 
Reizend  schön  wird  jede  Dame  ...  So  sehe  ich  in  einem 
meiner  Korsetts  mit  rationeller  Front  aus,  ohne  dasselbe  zu  füh- 
len ..  .  Das  Geheimnis  des  Erfolges  ...  So  sicher  wie  2X1=2. . . 
Ein  wahrer  Schatz  .  .  .  Der  weiße  Rabe  spricht .  .  .  Rasiere  dich 
im  Dunkeln!  .  .  .  Wenn  eine  Mutter  nicht  in  der  Lage  ist  .  .  . 
Gratis  10.000  Kronen  .  .  .  Wanzen  und  Insekten  jeder  Art  .  .  . 
Musik  erfreut  des  Menschen  Herz .  .  .«  Ja,  sie  will  mir  den 
Schlaf  bringen  und  lockt  zu  erotischem  Traum.  Es  erklingt  das 
Lied  :  «Ich  liebe  die  Eine,  die  Feine,  die  Kleine  .  .  .  Aber  ich 
bin  genarrt,  denn  es  handelt  sich  bloß  um  eine  Pastille.  Was 
tanzt  dort  in  der  Luft?  »Ich  bin  ein  Gummihandschuh!  Kennen 
Sie  mich  noch  nicht,  gnädige  Frau?«  Romulus  und  Remus  er- 
scheinen unter  einem  Regenschirm.  Wie?  Ist  die  Gründung  Roms 
wegen  ungünstiger  Witterung  abgesagt?  >Ein  Verbrechen!«  brüllt 
es  —  begeht  jeder,  der  nicht  ...  Ich  habe  Fieber.  Aber  schon 
stehen  ein  Hofrat  und  fünf  Ärzte  an  meinem  Lager,  die  eid- 
lich begutachten...  »Männerschwäche!«  murmelt  einer  von 
ihnen  verächtlich.  «Ein  Griff,  ein  Bett!«  antwortet  es  verständnis- 
innig. »Trinken  Sie  Sodawasser  .  .  .«  rät  ein  Unberufener.  »Das 
ist  der  gute  Krondorfer,  der  fehlt  nie  auf  unserem  Tische !«  ent- 
gegnet es  .  .  .  »Trinken  SieGeßlers  Altvater!«  höreich  und  spüre, 
wie  ein  Bart  mich  kitzelt.  »Kauen  Sie  schon  Ricci?«  fragt  ein 
Kobold.  »Wie  werde  ich  energisch  ?«  wimmert  einer,  dem  in  die- 
sem Zimmer  selbst  angst  und  bang  wird.  Und  ein  Alp,  der  mir 
auf  der  Brust  kauert,  glotzt  mich  an  und  hat  nur  den  einen 
Wunsch:  »Wenn  ich  Sie  persönlich  sprechen  könnte!«  .  .  .  Hilfe, 
Hilfe!  Ach,  wer  ruft  dort  um  Hilfe?  Wer  rennt  mit  dem  Kopf 
durch  die  Wand  ?  Rauft  sich  das  Haar?  Verzweifelt  und  froh- 
lockt wieder,  jubelt  und  klagt,  springt  herum  und  bearbeitet 
das  Fenster  mit  den  Fäusten  ?  Oh,  es  ist  einer,  der  un- 
glücklich ist,  weil  man  ihn  seine  Kleider  nicht  beim  Gerstl  ein- 
kaufen läßt,  und  der  schließlich  doch  seinen  Willen  durchsetzt. 
»Ich    bring    mich    um    — !«    droht    er,    wenn    man    ihn    hält; 

»Wa s?  ists  möglich  ! ! !«  ruft  er,  weil  er  die  Preise  zu  billig 

findet;  »Freiheit  der  Wahl!«  brüllt  er  und  bringt  damit 
auch    die    Demokratie    auf   seine   Seite,   wiewohl    es  sich   sofort 


25  - 


herausstellt,  daß  er  nur  die  Wahl  der  Stoffe  meint.  Und  nun  tobt 
alles  durcheinander,  ich  unterscheide  die  Branchen  nicht  mehr, 
hundert  Fratzen  tauchen  auf,  hundert  Rufe  werden  laut.  Ich 
verstehe  nur  noch  Ratschläge  wie :  Koche  mit  Gas !  Wasche  mit  Luft ! 
Bade  zuhause!  . .  .  Und  da  das  Leben  in  solcher  Fülle  mein 
Schmerzenslager  umbrandet  und  alle  Bequemlichkeiten,  alle  auto- 
matischen Wonnen  bietet,  deren  man  um  diese  Stunde  nur 
habhaft  werden  kann,  so  merkt  ein  Waffenhändler,  daß  ich  mich 
nicht  mehr  auskenne,  und  übertönt  den  Lärm  mit  der  Reklame: 
Morde  dich  selbst! 


Adolf  Loos*) 

Von  Robert  Scheu 

»Was  kümmert  uns  Vergangenes! 
Unsre  Welt  ist  neuer,  größer,  wechselvoller 

unsre  Welt, 
Frisch    und    stark   ergreifen    wir   sie,    Welt 

der  Arbeit  und  des  Marsches, 
Pioniere  —  Pioniere!   — 

Walt  Whitman 

In  einem  Märchen  von  Dickens  begibt  es  sich, 
daß  ein  Passagier,  der  in  einer  fremden  Wohnung 
übernachtet,  im  Halbtraum  von  einem  alten  Lehnstuhl 
angesprochen  wird,  der  ihm  eröffnet:  in  seinem 
Polsterzeug  sei  ein  Schatz  verborgen.  —  In  Wien 
trat  eines  Tages  —  es  war  Ende  der  Neunzigerjahre  — 
ein  Mann  auf,  der  Stühle,  Kasten,  Gläser,  tönerne 
Töpfe,  Häuser,  Karossen,  Türklinken  dazu  brachte, 
ihr  Grabesschweigen  zu  brechen  und  mit  silberner 
Zunge  zu  sagen,  was  sie  sind  und  was  sie  sollen. 
Das  kam  dazumal  so  überraschend,  überzeugend  und 
gleichzeitig  so  lieblich,  daß  sich  die  Leute  die  Augen 
rieben,   und  ausriefen:      »Das  hab'  ich  mir  noch  nie 


*)  Nicht  von  Professor  Viktor  Loos,  dem  bekannten  technischen 
Fachmann,  der  öfter  für  die  .Fackel'  geschrieben  hat,  handelt  dieser 
Aufsatz,  sondern  im  Gegenteil  von  einem  Mitarbeiter  der , Neuen  Freien 
Presse'.  Anm.  d.  Herausgeb. 


—  26  — 

gedacht!  Aber  warum  eigentlich  nicht?  Es  ist  doch 
nur  die  nackte  Logik,  die  Natur  der  Dinge  !c  — 

Wer  war  dieser  dinghafte  Mann,  der  solchen 
Zauber  aus  den  gewöhnlichsten  Gegenständen  heraus- 
holte und  soviel  Glänzend-Selbstverständliches,  Kind- 
haft-Einfaches, Uralt- Neues  in  so  bestrickender  Form 
zu  sagen  wußte?  Ein  blutjunger  Architekt  mit 
schmalem  Windhundkopf  englischer  Prägung  und 
unschuldsvollen  Augen,  die  alles  zum  erstenmal 
zu  sehen  schienen;  der  ganze  Mann  vibrierend  wie 
eine  Stahlklinge;  ein  Österreicher,  nein,  ein  Europäer, 
nein,  ein  Amerikaner,  nein,  ein  ganz  neuer  Typus, 
ein  Kosmopolit  und  just  in  Wien,  der  Gesandte 
einer  neuen  klirrenden  Zeit:  Adolf  Loos. 

Ihn  begrüßte  —  bei  Neutönern  ein  seltener 
Fall  —  allseitig  frohes  Willkommen. 

Was  ist  seither  aus  dem  Manne  geworden? 
Wurde  er  der  Licht wark  von  Österreich?  Entwickelte 
er  sich  zum  Lehrer,  Zivilisator  im  großen  Stil?  Hat 
er  Städte  gebaut?  Oder  ist  er  gestorben,  verdorben, 
ins  Dunkel  zurückgesunken?  Hat  er  sich  an  großen 
Aufgaben  verblutet  oder  ist  er  gar  verflacht? 

Weder  das  Eine  noch  das  Andere.  Er  lebt  im 
Halbdunkel,  im  Schatten  seiner  Gedanken,  die  zu 
größeren  Ehren  gekommen  sind  als  er  selbst.  Dann 
ist  er  also  seinen  eigenen  Gedanken  nicht  gewachsen  — 
müßte  man  sagen,  wenn  nicht  doch  von  Zeit  zu  Zeit, 
in  langen  Zwischenräumen  ein  Bau-Entwurf,  ein 
Interieur,  drei,  vier  gedruckte  Seiten  aus  seiner 
Feder  auftauchten,  gerade  soviel  um  zu  zeigen,  daß 
er  noch  besteht  in  seiner  ungebrochenen  und  unver- 
brüchlichen kompromißlosen  Wesensart.  Dann  sieht 
man  erstaunt  auf  und  fragt:  warum  begnügt  er  sich 
mit  dieser  Rolle?  Und  die  Hotfnung  flackert  auf,  daß 
er  doch  noch  hervorkommen  wird  aus  seinem  Ver- 
steck .... 

Dort  sitzt  er,  heiter  und  gelassen,  und  causiert. 
Ihm  zuzuhören   ist   ein   behexendes  Vergnügen.     Es 


—  27  — 

fällt  niemandem  ein,  zu  reden,  wenn  er  spricht.  Sobald 
er  das  Wort  ergreift,  ist  unwillkürlich  Alles  stumm, 
aber  man  fühlt  sich  nicht  unterdrückt,  sondern 
behaglich  gewiegt,  angenehm  gesteigert.  Was  er 
redet,  sind  Explosionen  des  Lichts;  man  hat  die 
Einbildung,  eigentlich  selbst  zu  denken  und  rätselhaft 
gescheit  zu  sein.  In  seinem  unnachahmlichen  Ton 
graziöser  Selbstverständlichkeit — worin  es  kein  Pathos, 
keine  Ranküne,  keine  Bitterkeit  gibt  —  findet  er 
Antwort  auf  jede  Frage,  handle  es  sich  nun  um 
englische  Weltpolitik,  ein  Bauwerk,  einen  Greislerladen 
oder  Richard  Dehmel.  So  tut  er  schon  zehn  Jahre 
lang.  Ein  öffentlicher  Brunnen.  Und  manche  Leute 
wissen  das  nur  zu  gut;  sie  gehen  hin  und  werden 
vom  Lauschen  reich. 

Um  dem  Rätsel  dieser  freigebigen  und  noblen 
Seele  auf  den  Grund  zu  kommen,  griff  ich  dieser 
Tage  auf  die  ersten  Äußerungen  von  Adolf  Loos 
zurück,  auf  jene  blendende  Serie  von  ungefähr 
dreißig  Artikeln,  welche  er  anläßlich  der  Jubiläums- 
Ausstellung  von  1898  in  der  , Neuen  Freien  Presse' 
geschrieben  hat.  Wohl  der  einzige  nachweisbare  Fall, 
daß  dieses  Blatt  einem  jungen  Echtbegabten,  der 
sich  noch  nicht  anderweitig  durchgesetzt,  seine  Spal- 
ten bereitwillig  öffnete.  Ein  schier  unbegreiflicher 
Zufall. 

Ich  hatte  sie  als  einen  nachhaltigen  Eindruck  in 
der  Erinnerung  und  dachte:  wie  wird  das  sein,  wenn 
du  sie  wieder  aufschlägst?  Inzwischen  ist  das  alles 
Gemeingut  geworden  und  wird  die  Mumie  einer 
Großtat  sein.  Das  Papier,  auf  dem  es  gedruckt 
steht,  ist  auch  wirklich  vergilbt.  Aber  die  Gedanken 
und  ihr  Ausdruck  sind  herrlich  wie  am  ersten  Tag. 
Und  sie  sind  notwendiger  als  je,  weil  ein  Gestrüpp 
von  Mißverständnissen  ihr  edles  Antlitz  entstellt  hat. 

Die  simpelsten  Themen,  die  man  sich  denken 
kann:  Ledergalanteriewaren,  Gebrauchsgeschirr, 
Röcke,  Überzieher.   Oder  es  ist  die  Rede  vom  Fuhr- 


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werk.  Kurz  von  gewerblichen  Erzeugnissen,  die  er 
an  der  Hand  der  Ausstellungsgruppen,  von  Pavillon 
zu  Pavillon  bespricht.  Und  doch,  was  für  eine 
spannende  Lektüre  1  Aber  nicht  Beiwerk  und  Zierrat 
machen  das.  Es  wird  nicht  etwa  anläßlich  dieser 
Dinge  gegeistreichelt,  sondern  diese  Gegenstände 
bilden  den  wahren  und  eigentlichen  Inhalt  seiner 
Betrachtungen.  Er  spricht  wirklich  von  Hosen  und 
Stiefeln.  Ja,  sein  ganzer  Enthusiasmus  will  nichts 
anderes,  als  diesen  irdischen  und  irdenen  Dingen,  den 
Krügen,  Tischen,  Wasserleitungen  zu  ihrem  Rechte 
verhelfen,  für  welches  er  mit  derselben  Wucht  und 
Beredsamkeit  eintritt,  wie  ein  anderer  für  die 
Menschenrechte. 

Adolf  Loos  setzt  eine  Lebensarbeit  dafür  ein, 
daß  ein  Sessel  ein  Sessel,  eine  Gabel  eine  Gabel,  ein 
Haus  ein  Haus  sein  soll.  Ein  Ding  soll  ein  Ding  sein. 
Aus  dieser  verblüffenden  Trivialität,  in  der  nicht 
eine  Spur  von  Geist  ist,  baut  er  monumentale  Ge- 
danken. Mit  dieser  kindhaften  Forderung  macht  er 
eine  Revolution.  Der  Satz  Napoleons  bestätigt  sich: 
Alles  Geniale  ist  einfach,  das  Einfache  ist  aber  schwer. 

Man  heißt  gemeiniglich  einen  Gedanken  tief, 
wenn  er  in  mystische  Regionen,  in  jenseitige  Welten 
verweist  und  mit  einem  Hauch  von  Transzendenz 
umweht  ist.  Nach  richtiger  Auffassung  ist  ein  Ge- 
danke in  dem  Maße  tief,  als  er  in  seiner  Anwendung 
weitere  Fruchtbarkeit  erweist  und  fortzeugend 
neue  Reihen  von  Gedanken  und  Ergebnissen  zutage 
fördert.  Es  wird  sich  zeigen,  daß  der  Loosische  Ge- 
danke ein  Maximum  solcher  fortzeugenden  Kraft  be- 
sitzt und  ein  Kompendium  von  Ideen  ist. 

Was  Adolf  Loos  befähigt,  im  Namen  der 
Industrie-Erzeugnisse  das  Wort  zu  ergreifen,  das 
ist:  er  hat  die  Seele  aller  Handwerke  im  Leibe. 
Spricht  er  von  Stühlen  und  Bänken,  dann  redet 
er  wie  ein  leibhaftiger  Tischler,  nein,  wie  die 
Seele  des  Holzes  selbst.    Die  alten  Römer  hatten  für 


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jedes  Gewerbe  einen  eigenen  Gott.  Mit  all  diesen 
Göttern  hat  Loos  Zwiesprache  gehalten.  Er  ist  mit 
Glas,  Stein,  Kupfer,  Leder  innerlich  so  intim,  wie 
manche  kosmische  Naturen  mit  Ebbe  und  Flut  und 
dem  Lauf  der  Gestirne.  In  ihm  ist  der  Gewerbegeist 
wie  eine  Naturgewalt.  Von  Loos  erfahren  wir,  daß 
diese  Geräte  eben  nichts  Willkürliches  sind,  sondern 
uralter  Weisheit  geronnene  Substanz,  Ihm  sind  die 
Ansprüche  der  Materie  innerlich  so  evident,  wie  dem 
Dichter  seine  Gestalten,  und  ihr  Eingehen  in  die 
gewerbliche  Verarbeitung  erscheint  ihm  als  Natur- 
prozeß. Gleichzeitig  ist  ihm  die  Geschichte  alter  Ge- 
räte und  ihre  Rolle  in  der  Kultur  so  gegenwärtig,  daß 
er  beispielsweise  in  der  Lage  ist,  ein  ganzes  Zeitalter 
aus  der  Beschuhung  zu  deuten  und  überraschende  Auf- 
schlüsse über  die  Menschen  vergangener  Jahr- 
hunderte zu  geben.  Aber  nicht  wie  ein  Gelehrter, 
sondern  wie  ein  Hellseher. 

Handwerk  für  Handwerk  legt  er  dar,  daß 
ihm  unnatürliche  Gewalt  geschehen  ist.  Von  wem? 
Von  den  Fachschulen,  von  der  schönen  Linie, 
von  der  > Kunst«.  Im  Namen  der  Schönheit  und 
der  Kunst  ist  er  dagegen,  daß  das  Handwerk 
von  wesensfremden  Zwecken  verballhornt  werde. 
Er  ist  gegen  das  »Kunsthandwerk«.  Fall  für  Fall 
weist  er  nach,  wie  das  Handwerk  aus  seinem  eigenen 
Fachverstand  heraus  viel  Richtigeres  und  darum 
Schöneres  schafft  als  das  ganze  Kunstgetue.  Die 
Kunst  will  er  isolieren,  in  ihrem  Tempel.  Die  Andern, 
die  »Modernen«  wollen:  »das  ganze  Tagesleben  mit 
Kunst  durchdringen«.  Nein,  sagt  Loos,  der  Hand- 
werker trifft  das  von  sich  selbst  viel  besser!  Er  wird 
durch  »Kunst«  und  »Schönheit«  nur  beirrt.  Loos  will 
Ernüchterung  des  Handwerks.  (Ähnlich  wie  Karl 
Kraus  die  »Entliterarisierung  der  Presse«,  mit  dem 
Unterschied  allerdings,  daß  für  diesen  nur  die  Litera- 
tur, aber  nicht  die  Presse  eine  Sache  ist,  während 
Loos  zwei  Werte  verteidigt,  indem  er  sie  voneinander 

783-784 


30 


löst.)  Freilich  geschieht  ihm  dabei  ein  Wunder :  ihm 
wächst  eine  neue  Schönheit  in  der  flachen  Hand  —  die 
Schönheit  des  modernen  Lebens.  Dieser  Antipode 
der  Kunstgewerbler  berauscht  sich  an  der  Nüchtern- 
heit. Klassisch  führt  er  den  Nachweis,  daß  jenes  un- 
geheure Mißverständnis  —  und  ein  solches  liegt 
vor  —  jedes  einzelne  Gewerbe  desorientiert  und  auch 
materiell  geschädigt  hat.  Der  Tischler,  sagt  er,  verträgt 
keinen  Vormund  und  es  wäre  die  höchste  Zeit,  wenn 
man  die  ungerechtfertigte  Kuratel  wieder  aufhöbe. 
In  humorvoller  Weise  hat  Loos  in  einem  seiner 
Tischgespräche  das  Unsinnige  der  sogenannten  All- 
tagsverschönerung veranschaulicht.  Das  ist  gerade 
so,  sagte  er,  wie  wenn  plötzlich  einem  Musiker  ein- 
fiele, die  Tramwaykondukteure  sollen  nicht  mehr  un- 
artikulierte Laute  pfeifen,  sondern  Motive  aus  Lohen- 
grin  und  Rheingold. 

Loos  will  die  Emanzipation  des  Handwerks,  um 
es  seinen  natürlichen  Instinkten  zu  überlassen,  welche 
sich  in  Jahrhunderten  bewährt  haben,  indem  jeweils 
die  richtigen  urtümlichen  Geräte  geschaffen  wurden, 
worin  die  Erfahrung  von  Generationen  verdichtet  ist, 
so  gut  wie  in  den  Sprichwörtern.  An  Messer,  Gabel, 
Teller  gibt  es  nichts  zu  verbessern  und  zu  künsteln. 
Soll  es  Kunst  sein,  dann  seien  es  Bilder  oder  Statuen, 
aber  der  Urväter  Hausrat  bleibe  unberührt  I 

Er  ist  darum  nicht  etwa  konservativ.  Sein  Wider- 
spruch bezieht  sich  nur  auf  die  Behelligung  der  Elemen- 
tardinge. Aber  nichts  erscheint  ihm  abgeschmackter  als 
das  Kopieren  historischer  Formen  und  Kostüme  für 
solche  Bedürfnisse,  welchen  die  Gegenwart  ihrerseits  die 
klassische  Form  vorgeschrieben  hat.  Denn  —  so  ruft 
er  aus  —  »unsere  Zeit  ist  schön,  so  schön,  daß  ich 
in  keiner  anderen  leben  möchte.  Unsere  Zeit  kleidet 
sich  schön,  so  schön,  daß,  wenn  ich  die  Wahl  hätte, 
mir  das  Gewand  irgendeiner  Zeit  auszuwählen,  ich 
freudig  nach  meinem  eigenen  Gewand  greifen  würde.« 
Er  preist  den  Fortschritt,  der  sich  in  der  Abschaffung 


31 


der  Kleiderordnung  ausdrückt  und  erklärt,  als 
Gradmesser  für  die  Kultur  eines  Staates  könne  es 
gelten :  »wieviele  seiner  Einwohner  von  dieser  freiheit- 
lichen Errungenschaft  Gebrauch  machenc. 

Die  Kunst  ehrt  er  als  ein  Heiligtum,  welches  er 
nicht  in  den  Alltag  zerren  läßt,  und  wenn  es  sich 
wirklich  um  Kunst  handelt,  dann  gibt  es  keinen 
enthusiastischeren  Genießer.  Scheidung  von  Kunst 
und  Handwerk,  endgiltige  Differenzierung  im  Interesse 
beider:  —  das  ist  seine  Lehre. 

Urgeschichtlich  ist  die  Kunst  aufs  Innigste  mit 
praktischen  oder  religiösen  Zwecken  —  aber  allemal 
mit  Zwecken  verwachsen.  Erst  durch  einen  jahr- 
hundertlangen Prozeß  werden  die  Künste  von  der 
Zweckveranstaltung  gelöst.  So  die  Tragödie  von  der 
religiösen  Feier,  das  Tafelbild  von  der  Architektur. 
Die  Schmiede  sind  am  längsten  Kunsthandwerker. 
Wenn  sie  Schmuck  machen,  dürfen  sie  es  auch  heute 
noch  sein.  Man  kann  die  Frage  aufwerfen,  ob  die 
Lösung  der  Kunst  aus  ihrer  ursprünglichen  Hülle 
ein  gesunder  Prozeß  ist,  ob  die  Zweiteilung  des 
Tages  in  Nüchternheit  und  Andacht,  die  Weihung 
und  Beschützung  bestimmter  Stätten,  welche  der 
Kunst  vorbehalten  sind,  nicht  eine  Zerrissenheit  in 
das  Leben  bringt  und  die  Gebrochenheit  der  modernen 
Persönlichkeit  verschuldet.  Aber  sie  ist  eine  unab- 
wendbare Tendenz  der  Dinge.  Als  solche  erkennt  sie 
Adolf  Loos  an,  und  er  zieht  seine  Konsequenzen  mit 
der  ihm   eigenen  Entschlossenheit  und  Seelenstärke. 

Die  Erleuchtung  kam  ihm  in  Amerika.  Er  be- 
berichtet, wie  er  noch  voll  von  den  Schönheitsmiß- 
verständnissen, die  er  in  den  Kunstschulen  eingesogen 
hat,  drüben  in  den  gewerblichen  Ausstellungen  her- 
umspaziert und  die  gewissen  Verzierungen  sucht. 
Das  ist  aber  ein  ganz  junges  Land,  welches  eine 
eiserne  Technik  resolut  und  unbekümmert  anwendet; 
das  Land,  wo  man  die  Bäume  im  Urwald  fällt  und 
quer  darüber  die  Eisenbahnschienen  legt.  Die  mensch- 


32 


liehe  Arbeit  spannt  ihie  Stahlreifen  über  Abgrund  und 
Wasserfall,  zieht  Telegraphendrähte  durch  Prärien. 
Und  es  ist  schön.  Eine  blitzende  Schönheit,  ein 
eigenartiges  Zusammenprallen  höchster  technischer 
Ökonomie  mit  der  grünen,  wilden  Erde,  mit  einem 
Wort  —  Stil.  Den  herauszuholen  wie  ein  Gesetz  — 
das  ist  die  ganze  Aufgabe.  Vorhanden  ist  dieser  Stil 
aber  freilich  nur  in  seinen  Elementen;  deren  Ver- 
geistigung und  Einschmelzung  in  den  Globus  eines 
menschlichen  Kopfs  muß  erst  geleistet  werden.  Weil 
wir  ahnen,  daß  sich  in  Adolf  Loos  ein  solcher  Pro- 
zeß vollzogen  hat,  darum  stellen  wir  ihn  so  hoch, 
wie  es  seinen  sichtbaren  Leistungen  kaum  entspricht. 
Er  hat  drüben  einen  Stil  erraten,  den  das  Land  selbst 
noch  lange  nicht  besitzt.  Amerika  ist  hinter  Amerika 
zurück  wie  unsere  Zeit  hinter  unserer  Zeit.  In  New- York 
wars,  wo  in  einem  Laden  ein  Koffer  seine  Aufmerksam- 
keit fasziniert.  Ein  lederner  Kasten,  mit  kupfernen  Rei- 
fen beschlagen.  Am  nächsten  Morgen  überläuft  ihn  die 
Erinnerung :  der  Koffer  gestern  —  das  ist  der  moderne 
Stil  I  Von  Stund  an  splitterts  von  ihm  ab,  all  das 
Falsche,  Verkehrte,  Verlehrte  —  er  hat  sich  entdeckt. 
Sein  Wahlspruch  wird  :  Das  Praktische  ist  schön  I  Dieser 
Elementarsatz  sprengt  ihm  die  Brautkammer,  öffnet 
ihm  die  Augen  ins  Geheimnisland  Britannien  und 
Hellas.  »Die  Griechen  arbeiteten  nur  praktisch,  ohne 
auch  nur  im  Geringsten  an  die  Schönheit  zu  denken  . . . 
Gibt  es  heute  noch  Leute,  die  so  wie  die  Griechen 
arbeiten  ?  0  ja,  es  sind  die  Engländer  als  Volk,  die 
Ingenieure  als  Stand,  c 

Die  blankeiserne  Schönheit  der  angelsächsischen 
Industrie,  die  glatte  Fläche  wird  sein  Idol  und  das 
Ornament  sinkt  ihm  hinab  zur  »Tätowierung«.  Sein 
Lebensgedanke  steigt  herauf:  Überwindung  des  Or- 
naments! Je  weiter  wir  in  der  Kultur  vorwärts 
schreiten,  desto  mehr  befreien  wir  uns  vom  Ornament. 
Goldene  Tressen  sind  heute  noch  ein  Attribut  der 
Hörigkeit.   Das   Bedürfnis   zu    ornamentieren    durch- 


—  33  — 


schaut  er  als  Indianerstandpunkt.  Und  was  er  alles 
als  Ornament  entlarvt!  Ein  fieberhafter  Drang  kommt 
über  ihn,  die  Fläche  zu  säubern,  auf  daß  in  ihrer  ur- 
tümlichen Reinheit  erstrahle  die  Majestät  des  Materials. 

Es  wäre  unfaßbar,  wie  aus  dieser  einfachen 
Negation  eine  solche  Fülle  von  Schönheit  fließen 
könnte,  wie  es  bei  Loos  der  Fall  ist,  wenn  nicht 
große  Positivitäten  dahinterstünden.  Hört  man  ihn 
selbst,  so  hat  er  in  seinem  Leben  nicht  mehr  be- 
hauptet und  nicht  mehr  geleistet,  als  die  Ausschaltung 
des  Ornaments.  Dabei  legt  er  Gewicht  auf  die  national- 
ökonomische Bedeutung  seines  Apercus.  Wieviel 
überflüssige  Arbeit  erspart  wird.  »Je  mehr  ein  Volk 
von  seinen  Arbeitsstunden  auf  Schnörkel  und  Ver- 
zierungen verwendet,  desto  länger  müssen  die  Arbeits- 
tage sein,  desto  ärmer  ist  das  Volk  als  Ganzes.« 
Wer  widerspricht? 

Die  positiven  Mächte,  die  Adolf  Loos  inspirieren, 
sind  damit  gekennzeichnet: Logik —  Ökonomie — Zweck- 
gedanke— Material. 

Was  für  eine  geistige  Rente  ihm  die  Logik  ab- 
wirft! Wenn  andere  Menschen  der  Welt  mit  Logik 
beizukommen  suchen,  so  ist  das  Resultat  Kahlheit 
und  Armut.  Bei  Loos  ist  sie  der  Schlüssel  zu  einem 
Wundergarten.  Seine  Logik  ist  schöpferisch  und  voll 
Überraschungen.  Und  Ökonomie,  sonst  die  Schutz- 
herrin der  Dürftigkeit,  erwählt  er  sich  zur  Charitin. 
In  ihm  zittert  das  Gewissen  der  Materie,  als  deren 
Hüter  und  Wächter  er  sich  fühlt.  Er  gehört  zu  den 
Naturen,  die  sich  für  Kohle  und  Marmor  der 
ganzen  Erde  verantwortlich  fühlen.  Die  Weltordnung 
will  es,  daß  höchste  Ökonomie  mitunter  auch  höchste 
Schönheit  ist  — in  der  Kunst  allemal.  Solche  Menschen, 
welche  für  ihre  Person  oft  nichts  verlangen  und  wie 
die  Kinder  in  den  Tag  hineinleben,  gehen  bis  zur 
Grausamkeit,  wenn  sie  gegenständlich  arbeiten  und 
einem  konkreten  Zweck  sein  gebührendes  Material 
zumessen. 


—  34  - 


Bleibt  freilich  noch  immer  ein  irrationaler  Rest 
in  Adolf  Loos  jenseits  von  Logik  und  Ökonomie, 
der  uns  sein  Schöpferisches  erklären  soll.  Der  Beweis, 
daß  es  vorhanden  ist,  liegt  in  seinem  zweifachen 
Können,  welches  erst  seine  Theorien  bestätigt.  Er 
baut  und  schreibt  —  beides  schön.  Sein  Stil  gehört 
zum  Erfreulichsten,  was  ich  kenne.  Alle  Prinzipien,  die 
Loos  vertritt:  Materialechtheit,  Ökonomie,  Verschmä- 
hen jedweden  Ornaments —  ist  darin  in  angenehmster 
Vereinigung  verwirklicht.  Man  zeigemir  frischere  Farbe, 
holdere  Fröhlichkeit,  gediegenere  Rasse.  Eines  Tages 
überraschte  er  uns  durch  die  Herausgabe  einer  Zeit- 
schrift mit  dem  kecken  Untertitel:  »Ein  Blatt  zur 
Einführung  abendländischer  Kultur  in  Österreich, 
geschrieben  von  Adolf  Loos«.  Es  erschienen  nur  zwei 
Nummern.  Aber  was  gab  es  da  für  Einfälle  I  Wie 
war  das  Alles  neu!  Er  führte  das  Blatt  nicht  fort... 

Einige  charakteristische  Aussprüche  aus  seinen 
Artikeln:  >Neben  Akademien  baue  man  auch  Bade- 
anstalten und  nebst  Professoren  stelle  man  auch 
Bademeister  an«.  —  »Die  Ehrfurcht  vor  der  Quantität 
der  Arbeit  ist  der  fürchterlichste  Feind,  den  der 
Gewerbestand  besitzt«.  —  »Der  Künstler,  der  große 
Architekt  fühlt  zuerst  die  Wirkung,  die  er  hervor- 
zubringen gedenkt,  und  sieht  dann  mit  seinem  geistigen 
Auge  die  Räume,  die  er  schaffen  will«.  —  »Holz  darf 
mit  jeder  Farbe  angestrichen  werden,  nur  mit  einer 
nicht:  der  Holzfarbe«.  —  »Das  Prinzip  der  Bekleidung 
verbietet,  durch  einen  Farbstoff  das  darunter  befind- 
liche Material  nachzuahmen«.  —  »Die  Nationaltracht 
ist  die  Verkörperung  der  Resignation«. 

Und  genau  so,  was  er  baut.  Sein  Cafe*  Museum 
war  eine  Tat.  Glühlampen:  wie  bringt  er  sie  an? 
Auf  den  Leitungsdrähten.  Fertig.  Und  die  American 
Bar,  wie  glatt  und  doch  voll  rätselhafter  Pracht. 
Seltsam;  er  predigt  Nacktheit,  Einfachheit  und  wenn 
er  es  durchführt,  entsteht  eine  feierliche  Sinfonie. 
Den  Andern  geht  es  umgekehrt.  Die  predigen  Farbe 


-  35 


und  Prunk,  und  wenn  sie  etwas  machen,  ist  es 
Gschnas.  Wie  neu  seine  Interieurs  waren,  dafür  zeugten 
die  Kunstzeitschriften:  sie  wiesen  die  photographischen 
Reproduktionen  einmütig  zurück.  »Die  wirklich  re- 
volutionären Sachen  t  —  erklärt  der  mündliche 
Loos  —  »schauen  eben  nach  nichts  aus.  Als  Goethe 
schrieb:  Ich  ging  im  Walde  so  für  mich  hin,  und 
nichts  zu  suchen,  das  war  mein  Sinn,  —  da  hat 
niemand  etwas  Auffallendes  daran  gefunden  und  doch 
war  es  eine  Revolution c.  Der  Erfolg  bekundet  sich 
in  der  Nachahmung,  gelegentlich  im  kompromittieren- 
den Mißverständnis. 

L003  hat  nämlich  ein  Geheimnis,  das  er  in 
seinen  Theorien  nicht  ausspricht,  weil  es  sich  nicht 
aussprechen  läßt.  Vielleicht  ist  es  —  die  Kom- 
position. Beim  Zusammenstoß  der  Materialien,  die 
sich  einem  Zweckgedanken  unterordnen  müssen,  sind 
Logik  und  Ökonomie  doch  nur  dienende  Kräfte,  aber 
die  Bewältigung  des  Problems  erfordert  eine  neue, 
höhere  Souveränität,  mit  einem  Wort :  Künstlerschaft. 
Und  Loos  ist  ein  produktiver  Künstler.  Es  gibt  noch 
viele  Paläste,  die  Loos  nicht  gebaut  hat  .... 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  ein  solcher 
Kopf  in  östei reich  noch  in  der  Anerkennung  beleidigt 
wird,  die  man  ihm  zollt.  Seine  Mißversteher  sind 
allesamt  Professoren  und  wohlbestallte  Bürger.  Er  aber 
gehört  zu  der  Zahl  jener,  »um  die  es  schade  ist.« 
Diese  Menschenklasse  gibt  es  eigentlich  nur  in  Öster- 
reich; hierzulande  ist  jeder  überragende  Mensch  eine 
Verlegenheit.  Warum  gibt  es  in  Österreich  so  viele 
»steckengebliebene  Talente«?  Weil  die  Gesellschaft 
selbst  noch  nicht  die  primitivsten  Funktionen  erfüllt. 
Es  gibt  hierzulande  eigentlich  überhaupt  noch  keine 
Gesellschaft ;  nämlich  keinen  sozialen  Organismus, 
in  welchem  jede  Art  von  Begabung  und  Energie 
die  ihr  entsprechenden,  sich  selbst  anbieten- 
den Aufgaben  vorfindet.  An  den  schöpferischen 
Menschen   tritt   kein  Entdecker,    kein  Auftraggeber, 


36 


ja  nicht  einmal  ein  Milieu  heran.  Nie  fühlst  du  die 
Gewalt  einer  lebendigen  Welle  unter  deinem  Boot. 
Alles  ist  Ruderarbeit.  Das  Talent  findet  keine  Vor- 
aussetzungen, es  ist  allemal  so,  als  müßte  die 
Menschheit  erst  frisch  erfunden  werden.  Die  einzige 
Begabung,  welche  die  Gesellschaft  noch  halbwegs  zu 
würdigen  und  zu  beschäftigen  weiß,  ist  die  der  starken 
Apperzeptionisten,  der  quantitativen  Wisser.  Kon- 
zeptive  Menschen  fallen  ins  Bodenlose. 

Man  vergleiche  damit  etwa  England,  wo  jede 
noch  so  feine  Abstufung  des  Talents  ihre  korrespon- 
dierende Staffel  im  gesellschaftlichen  und  ökonomi- 
schen Aufbau  der  Nation  vorfindet;  wo  das  Indivi- 
duum seiner  natürlichen  Plazierung  automatisch  zu- 
getrieben wird;  wo  es  wirklich  etwas  zu  tun  gibt, 
und  jeder  Einzelne  in  die  adäquate  Nachfrage  sozu- 
sagen hineingeboren  wird  .... 

Was  geschieht  aber  bei  uns  mit  jenen,  deren 
großzügige  Veranlagung  sich  nicht  in  kleiner  Be- 
triebsamkeit zu  rühren  vermag  und  nur  um  be- 
deutender Dinge  langsam  und  zögernd  sich  regt? 
Was  macht  man  mit  einem,  der  eine  ganze  Farbe 
im  europäischen  Spektrum  repräsentiert?  Der  die 
Ruskin,  Morris,  Vandevelde  desavouiert,  einen  Licht- 
wark  durch  elementares  Denken  überragt;  in  dessen 
Kopf  sich  die  moderne  —  die  noch  nicht  moderne 
Welt  rundet;  der  seine  Rechte  nicht  geltend  macht 
und  sich  niemals  angetragen  hat;  der  seine  Gedanken 
wie  Gemeingut  auf  die  Straße  wirft!  Es  ist  für  einen 
Europäer  eben  ein  verdammt  teurer  Sport,  in  Öster- 
reich zu  leben 

Mir  ist  Adolf  Loos  aber  noch  mehr.  Was  er 
schreibt  und  redet  und  baut,  erscheint  mir  nur  wie 
eine  vorläufige  Äußerung,  wie  die  Botschaft  eines 
schlummernden  Frühlings.  Woher  nähme  er  sonst 
diese  schmetternde  Bejahung  des  modernen  Lebens? 
diesen  Lerchenklang  eines  Walt  Whitman  ? 

Als  der  Herr   die  Welt   erschaffen,    da    folgten 


37 


ihm,  wie  ein  anderer  Dichter  singt,  in  gedrängtem 
Ringe  die  Geister.  Auf  das  Gebot  des  Allgewaltigen: 
»schwöret,  meinen  Willen  nur  zu  tuen«,  jubelten  die 
Lichten:  »dir  zu  dienen  sind  wir  da!«  Die  Dämonen 
der  Finsternis  knirschten:  »ja.«  —  Und  wiederum, 
wie  schon  so  manchesmal,  soll  die  Welt  aus  dem 
Chaos  geschaffen  werden,  die  moderne.  Und  wiederum 
scheiden  sich  die  Geister  in  solche,  die  sich  freudig 
hingeben  und  in  die  andern,  die  nur  murrend  der 
höheren  Macht  gehorchen.  Zur  Schar  der  Willigen 
und  Sanften  gehört  Adolf  Loos.  Über  den  Karl 
Kraus,  dem  freudig  Verneinenden,  in  einem  Gespräch 
das  Wort  von  den  Lippen  sprang,  er  sei  einer,  »der 
diese  Welt  bekämpft,  um  sie  zu  dieser  Welt  zu 
machen«. 


Aphorismen*) 
Von  Karl  Kraus 

Eifersucht  ist  ein  Hundegebell,  das  die  Diebe 
anlockt. 

Es  gibt  Männer,  die  man  mit  jeder  Frau  be- 
trügen könnte. 

Meinungen  sind  kontagiös,  der  Gedanke  ist  ein 

Miasma. 

» 

Es  war  eine  Zeit  des  Liberalismus,  der  Makart 
das  äußere  Gepräge  gab.  Damals  hatten  auch  die 
Wucherer  ein  malerisches  Aussehen  und  glichen  somit 
aufs  Haar  den  Künstlern  von  heute. 


*)  Aus  dem  .Slmplicissimus'. 


—  38 


Notizen  und  Glossen 

Ein  Politiker  schreibt  mir: 

Wie  kann  der  Soldat  auch  im  Frieden  Mut  beweisen? 
fragte  einmal  ein  Oberleutnant  einen  Infanteristen  in  der  Schule. 
Durch  Insubordination,  war  die  überraschende  Antwort.  —  Und 
wie  kann  ein  Politiker,  ein  Schriftsteller,  ein  Geschäftsmann,  über- 
haupt ein  Mensch  heute  noch  zeigen,  daß  er  ein  Held  ist?  Indem 
er  der  ,Neuen  Freien  Presse'  auf  Grund  des  §  19  eine  Berichti- 
gung einsendet.  Ohne  gerade  gezwungen  zu  sein,  wagt  man  das 
nicht  so  leicht.  Und  wenn  es  die  Umstände  durchaus  erfordern, 
so  hilft  man  sich,  indem  man  um  Gotteswillen  die  Zitierung  des 
§  19  des  Preßgesetzes  irgendwie  vermeidet  und  schon  gar  das  ver- 
haßte Wort  >  Berichtigung«  umgeht.  Statt  dessen  fand  ein  von 
Unwahrheit  Betroffener  einstmals  das  ingeniöse  Wort  »Klar- 
stellung«. Ich  schlage  als  Briefsteller  für  Berichtigungen  etwa  das 
folgende  Schema  vor:  »Hochgeehrte  Redaktion!  Durch  ein  unlieb- 
sames, ganz  auf  meiner  Seite  liegendes  Versehen  haben  sich  die 
Ereignisse,  welche  Gegenstand  Ihres  hochgesch.  Berichtes  sind, 
etwas  anders  zugetragen,  als  sie  die  Pflicht  hätten,  und  es  ergibt 
sich  daher  eine  ganz  nichtssagende  Differenz  zwischen  Ihrer  Dar- 
stellung und  der  Wirklichkeit.  Gesetzt  den  Fall,  für  den  ich  er- 
gebenst  um  Entschuldigung  bitte,  letztere  habe  sich  so  und  so 
gestaltet,  ersuche  ich  untertänigst,  in  einer  unverfänglichen  und 
für  Ihr  gesch.  Blatt  nicht  verletzenden  Weise  hievon  Notiz  zu 
nehmen.  Etwa  unter  dem  Titel:  Phantasien  eines  Beteiligten. 
Oder:  Gratulation  zum  60.  Geburtstag  des  Herrn  Moriz  Benedikt. 
In  Hinkunft  werde  ich  mich  bemühen,  zu  derartigen  Differenzen 
keinen  Anlaß  zu  geben,  und  bei  Todesfällen,  Katastrophen  oder 
auch  freudigen  Ereignissen  bei  der  Redaktion  vorher  anfragen. 
Ich  bitte  diese  Berichtigung  meinen  Urenkeln  zu  verzeihen.  Für 
meine  Enkel  wage  ich  diese  Nachsicht  nicht  zu  erbitten.«  Ange- 
sichts der  geschilderten  Berichtigungsfurcht  muß  man  es  nun  als 
Zeichen  eines  beginnenden  Heroenzeitalters  betrachten,  daß  dieser 
Tage  meherere  lebendige  deutsche  Abgeordnete  sich  entschlossen 
haben,  der  .Neuen  Freien  Presse'  eine  wirkliche,  waschechte  Be- 
richtigung ins  Haus  zu  schicken  und  sogar  den  §  19  ungeniert 
beim  Namen   zu   nennen.    Das  kam  so.    Die  ,Neue  Freie  Presse' 


39 


hatte  berichtet,  daß  im  deutschen  Vollzugsausschuß  »die  Miß- 
stimmung über  das  Verhalten  der  Christlichsozialen  zum  Ausdruck 
kam,  die,  ohne  sich  vorher  mit  den  deutschfreiheitlichen  Parteien 
ins  Einvernehmen  zu  setzen,  auf  eigene  Faust  zu  der  gestrigen 
gewaltsamen  Taktik  griffen <.  Es  war  natürlich  nur  die  Mißstimmung 
des  Herrn  Benedikt,  der  vor  Wut  darüber  verzehrt  wird,  daß  er 
seit  einiger  Zeit  in  die  innere  Politik  garnichts  mehr  dreinzureden 
hat,  und  der  sich  wenigstens  durch  nachträgliche  falsche  Bericht- 
erstattung rächen  möchte.  Diese  erregte  nun  bei  den  Deutsch- 
freiheitlichen großes  Aufsehen  und  Ärgernis.  Herr  Dr.  Sylvester 
bezeichnete  die  Meldung  der  , Neuen  Freien  Presse'  als  unwahr, 
ebenso  Freiherr  v.  Chiari,  Graf  Kolowrat,  der  Abgeordnete  Wolf 
und  andere  Mitglieder  des  Vollzugsausschusses.  Dieser  faßte  den 
einstimmigen  Beschluß,  die  ,Neue  Freie  Presse'  zur  Auf- 
nahme einer  scharf  gehaltenen  Berichtigung  zu  zwingen.  Und  so 
geschah's.  Herr  Dr.  Sylvester  sendete  eine  Berichtigung  mit  Be- 
rufung auf  den  §  19  des  Preßgesetzes.  Die  ,Neue  Freie  Presse' 
half  sich,  indem  sie  einige  7eilen  vorausschickte  und  das  Ganze 
als  >Zu schrift  des  Abgeordneten  Sylvester«  fett  betitelte.  Aber 
auch  an  den  folgenden  Tagen  regnete  es  Berichtigungen  von  allen 
möglichen  Seiten.  Leider  noch  immer  nicht  genug.  Es  müßte 
doch  möglich  sein,  die  ,Neue  Freie  Presse'  zu  zwingen,  täglich 
regelmäßig  mindestens  zwei  Druckseiten  für  Berichtigungen  frei- 
zuhalten. Nicht  alle  werden  freilich  so  aufschlußreich  sein  wie  die 
des  deutschen  Vollzugsausschusses.  Sie  zeigt,  daß  hinter  der  ,Neuen 
Freien  Presse'  wirklich  nichts  und  niemand  steht  als  die  Rotations- 
maschine. Was  sie  freilich  nicht  hindern  wird,  nach  wie  vor  im 
Namen  der  Deutschen  den  Mund  aufzureißen  .  .  .  Und  daß  die 
,Neue  Freie  Presse'  wirklich  das  Gehirn  der  Leser  als  Spuck- 
napf verwendet,  hat  sie  an  demselben  Tage  noch  in  anderer 
Art  bewiesen.  Im  Morgenblatt  erscheint  ein  Leitartikel,  in 
welchem  Dr.  Kramarz  als  der  abgetakeltste  Politiker  beschrieben 
wird,  der  in  Fetzen,  als  ein  Bettler  vor  dem  Hause  erscheint.  An 
demselben  Tage  ist  die  große  Sitzung,  in  welcher  Dr.  Kramarz 
als  Führer  der  slavischen  Union  um  ein  Haar  das  Ministerium 
aus  dem  Sattel  hebt.  Nun,  darum  ist  der  Leitartikel  doch  schön 
gewesen!  Quatschitz  locuta,  causa  finita. 


40  — 


Die  im  letzten  Hefte  veröffentlichte  »Geschichte  in  Briefen« 
wird  hiemit  fortgesetzt. 

Alt-Rahlstedt,  28.  Mai  1909. 

Dank,  lieber  Herr  Kraus,  für  Ihren  ausgezeichneten  Brief,  den 
ich  dem  Herrn  gleich  sandte.  Er  hat  mir  noch  nicht  geantwortet.  Ich 
benachrichtige  Sie  dann.  Ihr  Liliencron. 

Berlin,  7.  Juni  1909. 
Sehr  geehrter  Herr! 

Wir  bitten  um  freundliche  Nachricht,  ob  wir  den  in  Ihrer 
Nummer  vom  4.  Juni  enthaltenen  Briefwechsel  zwischen  Herrn  Baron 
von  Liliencron,  Ihrem  werten  Verlage  und  dem  ,Altonaer  Tageblatt' 
abdrucken  dürfen  und  den  Bericht  über  den  Erfolg,  den  wir  mit  unseren 
Einforderungen  erzielten,  daran  knüpfen. 

Hochachtungsvoll 

Verlag  ,Die  Feder' 
Organ  des  Allgemeinen  Schriftstellervereins. 

,Die  Feder'  vom  15.  Juni  1909  schreibt: 

>Mit  Erlaubnis  des  Herausgebers    der    .Fackel'    in  Wien,    Herrn 
Karl  Kraus,  geben  wir  folgenden  Artikel  der  .Fackel'  wieder: 
(folgt  der  wörtliche  Abdruck  des  Artikels). 

Soweit  die  .Fackel'.  Wir  haben  dazu  noch  zu  bemerken: 

Nach  der  Auskunft  des  Herrn  Kraus  und  im  Auftrage  des  Herrn 
Baron  von  Liliencron  forderten  wir  die  fünf  am  Eingang  des  Brief- 
wechsels bezeichneten  Blätter  zur  Zahlung  von  je  12  M  Nachdrucks- 
honorar auf;  die  .Frankfurter  Zeitung',  .Hamburger  Nachrichten'  und 
der  .Hannoversche  Kourier'  zahlten  den  liquidierten  Betrag  anstandslos, 
das  .Altonaer  Tageblatt'  führte  zuerst  6  M  an  den  Autor  direkt 
ab  und  zahlte  erst  auf  unsere  erneute  Reklamation  hin  die  weiteren 
6  M  nach,  die  .Nordwestdeutsche  Morgenzeitung'  erbot  sich  sofort 
zu  einer  Zahlung  von  10  Pf.  pro  Zeile,  zahlte  aber,  als  die  Höhe 
der  Forderung  unter  Hinweis  auf  die  Kartell-Statuten  aufrecht  erhalten 
wurde,  garnichts.« 

Der  Allgemeine  Schriftstellerverein  wird  wissen,  was  er  in 
diesem  Fall  zu  tun  hat,  er  wird  sich  aber  hoffentlich  auch  für 
alle  jene  Fälle  interessieren,  die  der  Verlag  der  , Fackel'  nicht  selbst 
feststellen  konnte.  Die  eingelaufenen  Zeitungsausschnitte  sind  bis 
auf  jene  fünf,  deren  Beweiskraft  der  Verlag  der , Fackel'  dem  Autor 
zugänglich  gemacht  hat,  leider  vernichtet  worden.  Es  mögen  an  die 
vier  Dutzend  gewesen  sein.  Dieser  Einlauf  spricht  dafür,  daß 
das  Gedicht  in  mehreren  hundert  deutschen  Blättern  abgedruckt 
wurde.  Der  Allgemeine  Schriftstellerverein  wird  hoffentlich  den 
Vorschlag  der  , Fackel'  befolgen,  einfach  sämtliche  re ichsdeutschen 


41 


Tagesblätter  zur  Bezahlung  des  Nachdruckshonorars  aufzufordern. 
Es  ist  völlig  ausgeschlossen,  daß  es  ein  deutsches  Provinzblatt 
gibt,  in  welchem  das  Gedicht  nicht  erschienen  ist.  Sollte  das 
Projekt  aus  irgendwelchen  Gründen  nicht  durchführbar  sein,  so 
bleibt  nichts  übrig,  als  die  Gefälligkeit  der  Verehrer  des  Dichters 
anzurufen.  Sie  mögen  in  allen  Städten  die  Nummer  der  Zeitung 
feststellen,  in  der  zwischen  dem  12.  und  20.  April  das  Gedicht  er- 
schienen ist,  und  das  Ergebnis  ihrer  Untersuchung  dem  Allgemeinen 
Schriftstellerverein  mitteilen.  Daß  sich  auf  diesen  Wink  freiwillig 
ein  deutscher  Zeitungsverlag  meldet,  steht  nicht  zu  erwarten.  Aber 
es  müßte  doch  mit  dem  Teufel  zugehen,  wenn  der  Ruf  nicht 
imstande  wäre,  irgendwie  zum  deutschen  Publikum  zu  dringen, 
einem  Autor  zu  seinem  Recht  zu  verhelfen  und  jenen  parodisti- 
schen  Effekt  herbeizuführen,  der  die  Ökonomie  eines  deutschen 
Dichterlebens  erhellt:  daß  dem  Dichter  des  >Poggfred«  ein 
Anakreontisches  Liedel  Lohn  ist,  der  reichlich  lohnet. 

• 

Da  sich  gerade  in  der  letzten  Zeit  die  Fälle  häufen,  in 
denen  mir  aus  dem  inveterierten  Glauben,  die  ,Fackel'  sei  ein  der 
Enthüllung,  Aufdeckung  oder  Beleuchtung  sogenannter  Übelstände 
gewidmetes  Organ,  Mitteilungen,  Ratschläge  oder  Warnungen  be- 
schert werden,  so  bleibt  mir  nichts  übrig,  als  die  Bitte  um  Ruhe 
zu  wiederholen,  die  ich  im  Herbst  an  meine  Leser  ergehen  ließ, 
zur  lachenden  Verwunderung  jener  Publizistik,  die  stolz  darauf 
ist,  die  Augendienerin  ihres  Publikums  sein  zu  düifen.  Aber  selbst 
wenn  die  , Fackel'  wirklich  den  äußeren  Notwendigkeiten  ihre 
Gestaltung  verdankte,  so  müßte  eine  Intervention  der  an  irgend- 
einer »Affäre<  Beteiligten  um  so  nachdrücklicher  zurückgewiesen 
werden,  und  ohne  Rücksicht  auf  die  gute  Absicht,  in  der  sie 
versucht  wird.  Weil  dies  immer  wieder  geschieht,  so  sei  hier  ein 
Brief  abgedruckt,  den  ich  durch  den  Verlag  der  , Fackel'  kürzlich 
absenden  ließ  und  der  ohne  die  geringste  Ranküne  gegen  den 
Empfänger  die  prinzipielle  Meinung  über  das  Verhältnis  zwischen 
dem  Publizisten  und  den  Parteien  ausspricht: 

Im  Auftrage  des  Herausgebers  der  .Fackel'  teilen  wir  dies  als 
Antwort  auf  Ihren  Brief  mit:  Er  würdigt  durchaus  die  Gründe, 
welche  Sie  zu  Ihrem  Wunsch  bestimmen,  muß  aber  das  Aus- 
sprechen dieses  Wunsches  als  Eingriff  in  die  Sphäre  seiner  Ent- 
schließungen ablehnen,    die    dem  Einflüsse   keiner  privaten  oder  öffent" 


42 


liehen  Instanz  erreichbar  sind.  Solche  Mahnung,  die  ebensowenig  am 
Platze  ist,  wie  die  Anerkennung  des  bisherigen  »diskreten  Benehmens« 
der  .Fackel'  in  der  Sie  interessierenden  Angelegenheit,  muß  erst  recht 
zurückgewiesen  werden,  wenn  die  Entwicklung  als  ein  Erfolg  der  Inter- 
vention gedeutet  werden  könnte.  Geht  die  Entschließung  des  Schrift- 
stellers zufällig  parallel  mit  dem  privaten  Wunsche,  sei  es,  weil  die 
Angelegenheit  ihn  nicht  interessiert,  oder  weil  die  Schonung  privater 
Verhältnisse  eine  Forderung  ist,  die  er  selbst  nachdrücklich  vertritt,  so 
kann  es  leicht  geschehen,  daß  der  Intervenient  das  Ergebnis  seinem 
Einflüsse  zuschreibt,  während  der  Schriftsteller  trotz  diesem  Einflüsse 
in  freier  Entschließung  dazu  gelangt  ist.  Es  könnte  dann  nur  mit  Recht 
gesagt  werden,  daß  er  sich  auch  von  der  Gefahr  solcher  Mißdeutung 
nicht  beeinflussen  ließ,  das  Gegenteil  zu  tun,  und  daß  er  dem  Einfluß 
zu  trotz,  nicht  zu  liebe  getan  hat,  was  er  für  richtig  hielt.  Dies  zur 
Wahrung  seines  Standpunktes.  Ganz  überflüssig  dünkt  es  im  Speziellen 
den  Herausgeber  der  .Fackel',  ihn  auf  die  Grenzen  zu  verweisen,  bis 
zu  denen  die  Führung  einer  Angelegenheit  ein  öffentliches  Interesse  ist, 
und  störend,  ihn  in  einer  Art,  die  seine  Absichten  von  dem  Sensations- 
interesse der  Tagespresse  nicht  genügend  unterscheidet,  auf  die  Erfor- 
dernisse des  Taktes  aufmerksam  zu  machen.  Daß  sowohl  die  Zumutung 
wie  ihr  Ausdruck  in  bestem  Glauben  ihren  Grund  haben,  will  der 
Herausgeber  der  , Fackel'  nicht  verkennen  und  er  ist  vor  allem  bereit, 
das  Mißtrauen  des  Publikums,  welches  die  Erfahrungen  mit  der  Presse 
gezeitigt  haben,  als  einen  Zustand  berechtigter  Notwehr  gelten  zu  lassen. 
In  vorzüglicher  Hochachtung  etc. 

• 

Womit  vertreiben  sich  Polizeikommissäre  die  Zeit?  Einer 
war  bemüht,  ein  sechzehnjähriges  Dienstmädchen,  das  seiner  Herrin 
zwölf  Zigaretten  stibitzt  hatte,  zur  Diebin  zu  machen.  Das  Bezirks- 
gericht half  ihm  bei  dem  Spaß,  die  zweite  Instanz  ließ  das  Mädel 
frei.  Nicht  ohne  vorher  —  denn  auch  Richter  müssen  sich 
die  Zeit  vertreiben  —  einen  Sachverständigen  über  den  Wert  der 
Zigaretten  befragt  zu  haben.  Die  Untersuchungshaft  —  etsch !  — 
hatte  der  Polizeispaßvogel  also  doch  erreicht,  und  jenes  Plumpsack- 
spiel, das  sie  >Leumund«  nennen  und  bei  dem  man  unversehens  auf 
den  Rücken  geschlagen  wird,  mag  sich  mit  dem  Mädchen  oft 
noch  aufführen  lassen.  Was  macht  man  mit  solchen  verspielten 
Bengeln?  Sie  sind  erwachsen,  sitzen  längst  in  Amt  und  Würde  und 
geben  noch  immer  keine  Ruh.  Ein  anderer  wieder  störte  die  Vorstellung 
einer  > Nackttänzerin«.  Er  drang  in  ihre  Garderobe,  um  sich  zu 
überzeugen,  ob  sie  das  vorschriftsmäßige  Trikot  anhabe.  Als  die 
Tänzerin  mit  Recht  erwiderte,  daß  es  vielleicht  passender  sei,  sich 
bei  geschlossenem  Vorhang  auf  der  Bühne  diese  Überzeugung  zu 


—  43  — 

verschaffen,  sagte  der  Störenfried  —  nach  der  unberechtigten  Dar- 
stellung eines  Tagesblattes  —  :  >Machen  Sie  keine  Geschichten !« 
und  >mit  bezeichnender  Handbewegung:  Heben  Sie  Ihren  Rock 
auf  !<  Die  Tänzerin  tat  es,  anstatt  einen  Notzuchtsakt  aufnehmen 
zu  lassen.  Hierauf  sagte  der  Feinschmecker:  >Ich  werde  morgen 
wieder  kommen.  Sie  müssen  sich  das  jeden  Tag  gefallen  lassen. 
Sie  dürfen  sonst  nicht  auftreten.«  Diese  Darstellung  der  Szene  ist, 
wie  gesagt,  unberichtigt  geblieben,  man  hat  aber  auch  nicht  er- 
fahren, ob  die  Tänzerin  sich  endlich  zu  einem  Hinauswurf  auf- 
gerafft hat.  Und  ob  es  nicht  doch  vielleicht  zu  den  polizeilichen 
Befugnissen  gehört,  Tänzerinnen  unter  die  Röcke  zu  greifen,  weiß 
man  auch  nicht.  Jedenfalls  scheinen  den  Herrschaften  die  Tage, 
da  sie  noch  bei  der  Riehl  sitzen  durften,  unvergeßlich  zu  sein. 
Ich  denke  aber,  es  ist  die  höchste  Zeit,  daß  ein  solides  Leben  be- 
gonnen wird.  Die  Spielerei  muß  ein  Ende  haben.  Eine,  hinter  der 
sie  auch  her  waren,  hat  sich  schon  das  Leben  genommen.  Am 
Ende  will  es  keiner  gewesen  sein,  und  greift  man  einen  schon  ge- 
setzteren Polizeirat  heraus,  so  weint  er.  Wir  wollen  nicht,  daß  es 
wieder  so  weit  kommt.  Die  Mädchenquälerei  muß  aufhören ! 


Dem  Wiener  Sensitiven  geht  es  nahe,  daß  das  Maria  Theresia- 
Schlößchen  in  Döbling  in  eine  Heilanstalt  verwandelt  wird.  Den 
ganzen  Tag,  bei  der  Arbeit,  immer  wieder  fällt  es  ihm  ein :  das  Maria 
Theresia-Schlößchen  wird  ein  Spital.  Er  wird  die  Vorstellung 
nicht  los,  daß  in  dem  schönen  Speisesaal  des  Schlößchens  Kranken- 
betten und  Tische  mit  Flaschen  und  Instrumenten  stehen  werden. 
Am  Abend  wird  sie  zur  Zwangsvorstellung  und  er  möchte  mit 
jedem  Menschen  »ein  Gespräch  über  Maria  Theresia  beginnen«. 
Aber  da  würde  er  für  einen  Patrioten  gehalten  werden.  Uud  das 
wäre  von  übel,  denn  der  Wiener  Sensitive,  der  in  einem  Berliner 
Börsenblatt  die  ästhetische  Kultur  des  alten  Österreich  vertritt,  ist 
daheim  Sozialdemokrat  und  hat  allen  Grund,  sich  der  Partei,  die 
ihn  ohnehin  schon  wegen  seiner  anarchistischen  Vergangenheit 
beargwöhnt,  nicht  auch  noch  wegen  konservativer  Gesinnung  ver- 
dächtig zu  machen.  Er  unterdrückt  also  in  Wien  jedes  Gespräch 
über  Maria  Theresia  und  begnügt  sich  damit,  den  Berliner  Börse- 
besuchern  zu  versichern,  daß  es  um  das  Schlößchen  schade  sei. 


44  — 


Denn  es  sei  »eines  von  jenen  galanten  Liebesschlößchen,  in  denen 
Kavaliersleute  des  achtzehnten  Jahrhunderts  sich  versteckten«.  Und 
noch  manche  andere  liebe  Erinnerung  blüht  einem  Sozialdemokraten 
daraus  hervor,  der  sonst  verurteilt  ist,  ein  nüchternes  Leben  unter 
der  Spitzmarke:  »Bauet  Spitäler!«  zu  führen.  Wie  wehmütig  wird  ihm, 
wenn  er  daran  denkt,  daß  hier,  wo  einst  die  Kaiserin  und  »den  Lothrin- 
ger« ein  übermütiges  Glück  verband,  nunmehr  Kranke  geheilt  werden 
sollen.  Ach,  der  Park,  der  war  voll  von  Verstecken  und  von  undurch- 
dringlichen Hecken  und  nur  zwei  kannten  den  Weg.  Hier  in  dem 
weißen  Speisesaal  saß  sie  »mit  dem  Lothringer-Franzi«  ganz  allein.  In 
späteren  Jahren  mußte  noch  —  du  liebe  Zeit!  -  »der  spitzen- 
behängte Kinderwagen  hereingeschoben  werden«.  Wäre  die  .Ar- 
beiter-Zeitung' damals  erschienen,  so  wäre  zweifellos  die  Mühe 
statistisch  berechnet  worden,  die  die  Proletarierinnen  an  die  Her- 
stellung des  Spitzenvorhangs  für  den  Hofkinderwagen  hatten 
wenden  müssen.  Heute  dürfen  ihre  Mitarbeiter  wenigstens  im 
Ausland  auch  ein  wenig  die  ästhetische  Kultur  in  Anschlag  bringen, 
die  solch  ein  Prunkstück  gekostet  hat.  Bei  Wertheim,  denken 
freilich  die  Leserinnen,  ist  derselbe  Effekt  für  1  M  50  zu  haben. 
Aber  das  macht  nichts,  das  bourgeoise  Berlin  W  und  der 
Wiener  Sozialdemokrat  finden  sich  in  einer  tiefempfundenen 
Trauer  über  den  Wandel  der  Zeiten.  So'n  richtjen  feinen  Wiener 
Ästheten  hat  sich  da  Mosse  zujelegt!  Ach  hör'  mal,  Wanda,  wie 
stimmungsvoll:  Maria  Theresia  war  lieber  im  Döblinger  Schlössel 
als  in  Schönbrunn.  Denn  hier,  sieh  mal,  war  »immer  der  Kaunitz« 
dabei  oder  der  französische  Botschafter  »oder  die  Tante  Anna 
Immaculata«.  Nee,  was  die  Österreicher  für  Namen  haben!  Im 
Schlössel  aber,  denk  mal,  »da  setzte  sie  einfach  den  Kammer- 
diener vom  Franzi  ans  Klavier  und  nahm  ihren  Mann  und  tanzte«. 
Da  war  auch  nicht  die  Fürstin  Liechtenstein  zu  fürchten,  »mit 
der  Franzi  immer  speanzelte«.  Ich  lach'  mich  krank  -  speanzelte! 
Aber  sieh  mal,  die  Sache  scheint  wirklich  nicht  zum  Lachen.  Der 
große  Saal  wird  nun  »mit  Linoleum  belegt  werden«,  und  es  wird 
»auf  den  breiten,  heiter  gewundenen  Stiegen  ein  bißchen  nach 
Chloroform  riechen«  —  ach,  diese  netten  empfindsamen  Wiener 
—  und  »wo  das  Himmelbett  der  Kaiserin  stand«,  wird  der  Primarius 
schlafen.  Ist  das  nicht  traurig?  Dieses  liebe  theresianische  Altwien 
geht  kaput!  Du  hör  mal,  das  wird  Lautenburg  oder  Sami  Fischer, 


-   45 


die  doch  auch  aus  Budapest  sind,  nahe  gehen.  Und  die  stillen 
Gassen  der  Wiener  Vorstadt  —  Wanda,  denkste  noch,  wie  sie 
Grillparzer  und  Saiten  beschreiben?  Was  sagst  du?  Dieser  letzte 
Wiener  Aristokrat,  den  jetzt  Mosse  gewonnen  hat  und  der  'in 
seiner  nachdenklich  lieben,  ein  wenig  Ferdinand  Saarischen  Art 
die  Verwandlung  eines  Schlüssels  in  ein  Krankenhaus  beklagt,  ist 
ein  Genosse?  Ich  lach'  mich  krank!  Bauet  Spitäler! 

• 

Der  Bartsch  kommt  fast  in  allen  Flüssen,  Seen  und  Teichen 
des  geistigen  Europa  vor.  Er  laicht  im  Frühjahr.  Seine 
Fruchtbarkeit  ist  außerordentlich  groß.  Sein  Fleisch  ist  derb 
und  schmackhaft.  Als  Heimatkünstler  gedeiht  er  besonders 
in  dem  Wasser,  das  auf  die  Steyrermühle  getrieben  wird.  Heimat- 
künstler interessieren  mich  nicht.  Aber  wenn  sie  sich  unterein- 
ander zu  entdecken  anfangen,  so  werde  ich  aufmerksam.  Herr 
Rudolf  Hans  Bartsch  sendet  dem  .Neuen  Wiener  Tagblatt'  ein 
Gedicht,  das  ein  junger  Böhmerwälder  Student  verfaßt  hat.  Herr 
Pötzl  glaubt  pünktlich,  »daß  der  Jüngling  besonderes  Zeug  in  sich 
habe«.  Das  Gedichtchen  verdiene  »zweifellos  die  Veröffentlichung, 
da  es  ein  ergreifendes  lyrisches  Momentbild  ist«.  Herr  Pötzl  will  aber 
»mit  dem  Namen  des  Autors  noch  zurückhalten«.  Herr  Pötzl  hat  recht. 
»Erste  Würfe«,  sagt  er,  »gelingen  oft,  dann  folgt  die  Enttäuschung«. 
Kenner  von  Lyrik  sind  sogar  imstande,  diese  Entwicklung  zu  anti- 
zipieren. Die  Henen  Pötzl  und  Bartsch  können  schon  heute  davon 
überzeugt  sein,  daß  der  junge  Böhmerwälder  kein  Talent  hat.  Das 
Gedicht  ist  ein  Kitsch  letzter  Sorte,  in  dem  eine  sentimentale 
Handlung  die  Stimmung  macht,  aber  auch  nur  deshalb,  weil  ein 
»Vöglein«  auf  eine  kleine  Gruft  sieht.  Herr  Pötzl  sollte  seinem  alten 
Mißtrauen  gegen  neue  Talente  nicht  untreu  werden.  Und  Herr 
Bartsch  soll  froh  sein,  daß  er  selbst  entdeckt  wurde. 

• 

Ein  Feuilletonist  der  ,Neuen  Freien  Presse'  schreibt  über 
den  Wandel,  den  die  Meinung  des  Wiener  Theaterpublikums  über 
Ibsen  durchgemacht  habe.  »Romersholm«  wurde  im  Frühling  1893 
ausgelacht  —  Rennsaison  —  weiße  Pferde:  daraus  kann  ein  halb- 
wegs hantiger  Feuilletonist  schon  etwas  machen.  Aber  effektvoll 
wird  das  Bild  erst,  wenn  Ibsen  selbst  dabei  ist,  in  seiner  Loge 
»groß  aufsteht«,  den  Künstlerhut  in  der  Richtung  gegen  die  Jugend 


—  46  — 

schwenkt  und  das  Theater  verläßt.  Leider  war  Ibsen  seit  jener  Woche, 
in  der  das  Burgtheater  die  >  Kronprätendenten«  und  'das  Volks- 
theater die  >  Wildente«  brachte,  seit  1891,  nicht  in  Wien  gewesen, 
>Rosmersholm«  machte  —  mit  Nhil  und  der  Sandrock  —  starken 
Eindruck,  und  so  stimmt  die  ganze  Sache  nicht.  Echter  ist  die 
Schilderung  des  Eindruckes  von  heute.  Und  vor  allem  geistvoller. 
Das  Publikum  lauscht  andachtsvoll  wie  in  einer  Kirche.  Die 
Psychologen  hören   eine  Stecknadel  zu  Boden  fallen. 

>Wenn  das  Stück  solcher  Art  bis  zu  Ende  kommentiert  war  —  so 
gegen  elf  —  dann  kam  erst  noch  der  Kampf  um  die  Garderobe,  die 
gleichfalls  in  einem  tragischen  Tempo  verabfolgt  wurde.  Garderobe- 
frauen sind  assimilationsfähige  Wesen,  und  wenn  sie  auch  das  Stück, 
das  drinnen  hinter  den  geschlossenen  Türen  gespielt  wird,  nicht  kennen 
und  lediglich  nach  den  Hüten  und  Mänteln  beurteilen  müssen,  die 
dabei  abgegeben  werden,  so  arbeiten  sie  doch  unwillkürlich  im  Geiste 
der  Autoren.  Nach  einer  Operette  reichen  sie  die  Regenschirme  munter 
heraus,  bei  Ibsen  dauert  es  bedeutend  länger.  Dennoch  warteten  die 
Leute  geduldig,  bis  an  sie  die  Reihe  kam,  und  trotz  des  oft  be- 
ängstigenden Gedränges  sah  man  fast  lauter  stille,  gefaßte  und  verklärte 
Mienen.  Die  Garderobefrauen  hatten  so  die  beste  Gelegenheit,  die 
läuternde  Wirkung  der  großen  Dichtung  an  einem  konkreten  Beispiel  zu 
erproben.  Im  übrigen  werden  sie  sich  wohl  nicht  wenig  gewundert 
haben  über  die  plötzliche  Langmut  ihrer  ungeduldigen  Wiener,  die  es 
sonst  mit  dem  Nachtmahl  so  eilig  haben,  und  doppelt  eilig,  wenn  sie 
von  einem  ernsten  Dichter  kommen.  Operetten  dürfen  bis  tiefer  in  die 
Nacht  hinein  dauern  —  dazu  ist  die  Nacht  ja  da  —  aber  bei  einem 
tragischen  Dichter  sehen  es  die  Leute  nicht  gerne,  wenn  er  sie  über  die 
Sperrstunde  hinaus  festhalten  will.« 

Die  Feuilletonisten  sind  sich  treu  geblieben. 
• 

Ich  gehe  fast  nie  ins  Theater,  aber  als  die  Berliner  da  waren, 
habe  ich  mich  doch  entschlossen,  einer  Vorstellung  der  »Wider- 
spänstigen«  im  Burgtheater  mit  Hartmann  fals  Petrucchio  beizu- 
wohnen. Wenn  ihn  Herr  Bassermann  einmal  spielen  sollte,  werde 
ich  mir  sicher  das  Vergnügen  machen.  Ein  theaterfremdes  Literaten- 
tum  spielt  allsommerlich  die  dienenden  Chargierungskünste,  über 
welche  das  Burgtheater  noch  in  seinen  schlimmsten  Zeiten  verfügen 
wird,  gegen  die  schöpferische  Kraft  aus,  die  den  Schauspieler 
zum  Herrn  der  Bühne  -macht.  Bezeichnend  ist  die  begeisterte 
Ahnungslosigkeit,  die  immer  wieder  einen  Künstler  wie  Sauer  in 
die  Reihe  jener  geschickten  Episodisten  stellt,  denen  es  keiner 
ansieht,  daß  sie  vom  Hohepriestertum  der  nordischen  Religion 
gern  zum  Striese  hinuntersteigen.  Gewiß,  das  Burgtheater  ist  heute 


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schlimm  daran,  es  hat  sich  einschüchtern  lassen  und  verzweifelt 
an  seiner  Kultur,  die  noch  in  ihrer  Qeborstenheit  wider  die  neu- 
geborne  Pracht  des  Literaturtheaters  zeugt.  Es  ist  auf  einen  Faust 
gekommen,  der  ach !  wirklich  Philosophie,  Juristerei  und  Medizin 
studiert  hat,  also  auf  der  Bühne  des  Herrn  Reinhardt  vielleicht 
glaubhaft  wäre.  Und  es  hat  sich  Herrn  Kainz  ergeben,  dessen  Beliebtheit 
die  traurigste  Verirrung  des  Bühnengeschmacks  einer  versnobten 
Zeit  bedeutet.  Herr  Kainz  auf  Reisen:  das  scheint  mir  nicht  ganz 
der  Unrast  des  Mitterwurzerschen  Dämons  nachzugeraten.  Ich 
denke  vielmehr  an  einen  Treumann™des  Burgtheaters,  der  Launen 
statt  Humors  hat£  und  springen  kann,  wo  er  spielen  solltet  Das 
Burgtheater  läßt  sich  einen  Kontrakt  diktieren,  der  dem  Herrn  Kainz 
für  vier  Monate  eine  größere  Gage  zuerkennt,  als  ein^Baumeister 
für  das  ganze  Jahr  bezog,  und  der  der  Direktion  eben  noch  die 
Hoffnung  läßt,  daß  der  Tenorist  >für  eine  oder  zwei  Novitäten  sich 
gewinnen  lassen«  werde.  Nicht  der  törichte  Vergleich  mit  den 
Berliner  Gastspielern,  der  Fall  Kainz  schlägt  die  Burgtheater- 
herrlichkeit zu  schänden.  Im  Frühjahr,  trösten  die  Theater- 
offiziösen, »wird  sein  Auftreten  ein  Gegengewicht  gegen  die  zu 
dieser  Zeit  stattfindenden  Gastspiele  der  Berliner  Ensembles  bilden«. 
Zu  solchem  Trost  prostituiert  sich  heute  das  Burgtheater.  Dem 
Publikum  kommt  der  Theatersinn  abhanden  und  alle  Werte 
sinken  im  Wert,  wenn  sechs  Monate  im  Jahr  die  Erwartung 
des  Herrn  Kainz  auf  dem  Repertoire  steht.  Die  Freunde  der 
Schauspielkunst  haben  an  Herrn  Schienther  nur  die  eine  Bitte : 
daß  er  die  lange  Zeit  nicht  etwa  an  Herrn  Gregori  wende !  Er 
entdecke  uns  Ernst  Hartmann  wieder,  ein  junges  Talent,  das  in 
der  Stille  und  ohne  daß  eine  Burgtheaterdirektion  es  merkte,  seit 
Jahrzehnten  wächst  und  heute  wieder  das  Entzücken  verbreiten 
könnte,  das  sich  von  seinem  Heinrich  dem  Fünften  einer  theater- 
frohen Zeit  einst  mitgeteilt  hat.  Eine  sonnige  Stelle  ist  auf  den  Bret- 
tern des  Burgtheaters  zurückgeblieben,  und  auf  ihr  spreizt  sich  ein 
anmutloser  Heinz,  den  der  zweiundachtzigjährige  Falstaff  mit  dem 
kleinen  Finger  an  die  Wand  spielt.  An  des  Prinzen  steifleinene 
Vermummung  müssen  wir  noch  weiter  glauben.  Aber  um  den  könig- 
lichsten Heinrich  der  deutschen  Bühne  sollte  uns  ein  Burgtheater- 
direktor nicht  länger  betrügen  dürfen. 

Karl  Kraus. 


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Juli  im  Walde 

(Cervenec  v  lese) 

Von  J.  S.  Macbar 

Und  selig  singen  über  dir  die  Föhren 
(sie  tragen  Sommersonne  in  den  Zweigen)  — 
ein  dunkler  Duft  von  Blumen,  zart  und  eigen, 
zwingt  dich  ins  Gras,  die  Wunder  anzuhören. 

Am  Boden  tot  ein  Baum;  —  die  Stürme  stören 
unheilig  nachts  sein  königliches  Schweigen  — 
aus  seinen  welken  Ästen  wuchernd  steigen 
viel  thaubeglänzte,  purpurfarbne  Beeren. 

Und  eine  Spinne  zieht  die  feinen  Fallen 

von  Stamm  zu  Stamm  —  ich  stehe  still  und  zähle 

die  Kuckucksrufe,  die  von  ferne  schallen  — 

und  geh'  ich  fort,  so  trag'  ich  einen  Strauß 
von  hell  und  dunklen  Blüten  mit  nach  Haus, 
und  Ruh',  und  Duft,  und  Verse  in  der  Seele. 

Übersetzt  von  Felix  Orafe 


Die  schweigenden  Ärzte 
Von  Karl  Kraus 

Bin  Gerichtsfall  hat  das  ärztliche  Berufsgeheim- 
nis zur  Diskussion  gestellt,  und  die  journalistischen 
Berufsschwätzer  hatten  wieder  einmal  Gelegenheit, 
den  Kapazitäten  die  Tür  einzurennen.  Es  war  allen 
Beteiligten  sichtlich  eine  Freude,  sich  für  das  Schwei- 
gen aussprechen  zu  können.    Daß    nicht    immer  die 


—  49  — 


Schwatzsucht,  sondern  auch  ein  Gewissenszwang  das 
Opfer  der  Standesehre  nahelegt,  davon  wissen  jene 
nichts,  deren  Mund  jedem  Interviewer  offen  steht 
und  die  die  Standesehre  so  hoch  halten,  daß  sie  mit 
freiem  Auge  nicht  mehr  wahrnehmbar  ist.  Aber  viel 
schlimmer  als  die  Warnung  vor  einer  Heirat,  zu  der 
sich  Tripper  und  Mitgift  verbinden,  ist  das  Gebaren 
solcher  verläßlichen  Arzte,  die  sich  mit  jedem  Lauf- 
burschen der  öffentlichen  Meinung  einlassen  und 
andeutend  von  den  Fällen  erzählen,  in  denen  sie  das 
Berufsgeheimnis  gewahrt  haben. 

Da  ist  vor  allem  jener  vielgenannte  Sa- 
mariter, der  den  Ruf  der  Wiener  Mehlspeisen  in 
Katania  begründet  hat.  Er  tritt  entschieden  dafür 
ein,  daß  die  Krankheit  ein  Geheimnis  bleibe,  aber 
er  würde  sich  gewiß  nicht  zu  einer  Moral  bekehren, 
die  gebietet,  daß  auch  über  den  Arzt  nicht  gespro- 
chen werde.  Zu  weit  geht  er  nicht;  man  muß  doch 
hin  und  wieder  Gelegenheit  haben,  sich  seiner  Dis- 
kretion zu  rühmen.  So  zum  Beispiel  wurde  einmal 
die  Rettungsgesellschaft  in  ein  Haus  gerufen,  wo  ein 
Mann  in  Ohnmacht  und  bei  einer  Frau  lag,  deren 
Gatte  in  einer  halben  Stunde  zurückkehren  sollte. 
»Die  Dame  bat  mich  auf  den  Knien<  —  ihren  eige- 
nen —  »den  Erkrankten  nur  rasch  fortzuschaffen, 
da  ihr  Mann  von  dessen  Anwesenheit  nichts  erfahren 
durfte,  c  Versteht  sich.  Nach  wenigen  Minuten  war 
der  Kranke  transportfähig.  »Einige  Tage  nach  dieser 
Intervention  kam  der  Gatte  jener  Dame  zu  mir  und 
sagte,  er  habe  durch  das  Gerede  der  Hausparteien 
erfahren,  daß  wir  in  seiner  Wohnung  erschienen 
waren.  Er  verlangte  von  mir  nun  Auskunft.«  Denn  die 
Freiwillige  Rettungsgesellschaft  könnte  eher  unter  Dis- 
kretion in  Sizilien  landen  und  ohne  daß  eine  Zeitung 
etwas  davon  erfährt,  als  daß  sie  die  Aufmerksamkeit 
der  Wiener  Nachbarsleute  vermeiden  könnte.  Was 
tat  Herr  Oharas?  »Ich  verweigerte  ihm  die  Aus- 
kunft   mit    Berufung     auf    mein     Berufsgeheimnis- 


—  50  — 


und  habe  damit  das  Glück  einer  Ehe  erhalten.« 
Hoch  klingt  das  Lied  vom  braven  Mann.  Und 
hätte  er  nicht  nach  einigen  Jahren  einem  Reporter 
die  Auskunft  erteilt,  wir  hätten  nie  erfahren,  wie 
diskret  ein  Arzt  von  der  Freiwilligen  Rettungsgesell- 
schaft sein  kann.  Der  Gatte  ging  damals  beruhigt 
nachhause,  machte  dem  Gerede  der  Nachbarsleute 
durch  Berufung  auf  das  Berufsgeheimnis  ein  Ende, 
und  die  letzten  Zuckungen  der  Eifersucht  beschwich- 
tigte die  Gattin  selbst  mit  dem  plausiblen  Einwand, 
daß  das  Erscheinen  derRettungsgesellschaft  ein  Tratsch 
der  Nachbarn  sei  und  die  Diskretion  der  Ärzte  ein 
Beweis  für  das  Nichterscheinen.  So  lebten  die  Ehe- 
leute in  Frieden  dahin,  bis  eines  Tages  im  ,Neuen 
Wiener  Journal*  die  Erinnerung  des  Herrn  Oharas 
an  jenes  Abenteuer  zu  lesen  war,  bei  dem  die  Cha- 
ritas  der  Venus  aus  der  Patsche  half.  Namen  waren 
—  bis  auf  den  des  Retters  —  nicht  genannt.  Aber 
da  die  Nachbarsleute  noch  leben  und  auf  das  ,Neue 
Wiener  Journal*  abonniert  sind,  so  machten  sie  den 
Ehemann  auf  den  interessanten  Artikel  aufmerksam 
und  fragten  ihn,  ob  der  Fall  nicht  eine  gewisse  Ähn- 
lichkeit mit  jenem  von-  damals  habe,  als  das  ärzt- 
liche Berufsgeheimnis  sie  beinahe  um  den  Ruf  ge- 
bracht hätte,  wahrheitsliebende  Nachbarsleute  zusein. 
Eine  abermalige  Anfrage  des  Ehemannes  bei  Herrn 
Oharas  prallte  abermals  an  der  Berufung  auf  das 
Berufsgeheimnis  ab,  und  abermals  war  es  gelungen, 
das  Glück  einer  Ehe  zu  erhalten  .  .  . 

Man  glaubt  immer,  daß  es  nur  die  Pflicht  des 
Arztes  sei,  zu  heilen.  Der  wahre  Philantrop  verteilt 
Maccaroni  an  die  Nebenmenschen,  und  erhält  nicht 
nur  das  Glück  der  Lebenden,  sondern  auch  die  Ehre 
der  Toten,  Was  bliebe  der  ärztlichen  Kunst  noch  zu 
tun  übrig,  wenn  einer  ohnehin  schon  tot  ist?  Der 
Arzt  kann  sich  damit  begnügen,  die  Rechnung  ein- 
zuschicken; er  kann  aber  auch  noch  ein  übriges  tun, 
nämlich  die   Ehre    des    Verstorbenen    retten.    Eines 


—  51  — 


Falles,  in  dem  es  ihm  gelang,  rühmt  sich  der  Chef- 
arzt der  Freiwilligen  Rettungsgesellschaft.  Diese 
sei  einmal  in  die  Josefstadt  gerufen  worden.  »Wir 
fanden  da  in  der  Wohnung  einer  Halbweltdame 
eine  bekannte  Persönlichkeit  tot  auf.  Da  mir  bekannt 
war,  daß  der  Mann  verheiratet  war,  ordnete  ich  seine 
sofortige  Abtransportierung  durch  unseren  Wagen  an 
—  obwohl  wir  zum  Leichentransport  nicht  verpflich- 
tet sind  —  und  überführte  ihn  in  die  nächste  Lei- 
chenkammer mit  der  Motivierung,  daß  er  erst  im 
Wagen  gestorben  ist.  Ich  habe  dadurch  die  Ehre 
eines  Toten  gerettet,  der  Witwe  aber  eine  häßliche 
Erinnerung  ersparte  Hätte  das  ,Neue  Wiener  Jour- 
nal* von  der  Sache  früher  erfahren,  so  hätte  es  viel- 
leicht nicht  versäumt,  die  Wohnung  der  Halbwelt- 
dame zu  beschreiben  und  zu  melden,  daß  dort  u.  a. 
die  bekannte  Persönlichkeit  anwesend  war.  Aus  der 
Schilderung  des  Herrn  Oharas  aber  spricht  ein  tiefes 
diskretes  Verständnis  für  die  Peinlichkeit  der  Situation, 
in  der  sich  eine  bekannte  Persönlichkeit  befindet,  wenn 
sie  in  der  Wohnung  einer  Halbweltdame  stirbt.  Die 
Rettungsgesellschaft  ist  zwar  zur  Hilfe  in  dieser  Lage 
nicht  verpflichtet,  aber  der  Humanität  sind  keine  Gren- 
zen gesteckt.  Was  ein  rechter  Samariter  ist,  sagt  sich  in 
solchem  Fall,  daß  es  da  nichts  gibt  als  fortschaffen 
und  schweigen,  bis  einst  ein  Reporter  kommt  und 
sich  die  interessantesten  Fälle  erzählen  läßt,  in  denen 
man  geschwiegen  hat.  Die  Halbweltdame  schweigt 
länger.  Sie  ist  nicht  einmal  an  die  Witwe  der  be- 
kannten Persönlichkeit  herangetreten,  um  ihr  eine 
häßliche  Erinnerung  anzubieten.  Und  wenn  die  Witwe 
nicht  glücklicherweise  Abonnentin  des  ,Neuen  Wie- 
ner Journals'  wäre,  hätte  sie  bis  heute  von  der  Sache 
nichts  erfahren.  So  aber  hat  sie  wenigstens  den  Arg- 
wohn, der  ihr  auch  durch  eine  direkte  Anfrage  bei 
der  Rettungsgesellschaft  nicht  genommen  werden 
kann,  wiewohl  man  dort  bekanntlich  mit  Berufung 
auf  das  Berufsgeheimnis  die  Auskunft  verweigert. 


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Wie  unberufen  wichtig  diese  Schweigepflicht  des 
Arztes  ist,  beweist  uns  ein  anderer  Samariter,  nämlich 
uer  Direktor  jenes  Wiener  Sanatoriums,  in  welchem  die 
Kapazitäten  ihre  Finanzoperationen  ausführen.  >Bin 
Beispiel.  Ich  habe  in  meinem  Institut  einen  an  Krebs 
erkrankten  Kaufmann  liegen.  Ein  Geschäftsfreund 
von  ihm  erkundigt  sich  bei  mir  über  den  Zustand 
und  die  Art  der  Krankheit.  Würde  ich  in  diesem 
Falle  die  Wahrheit  sagen,  dann  wäre  die  nächste 
Folge,  daß  dieser  jenem  den  Kredit  entzieht.  Ich 
hätte  also  durch  die  Preisgabe  des  Berufsgeheimnisses 
die  Existenz  eines  Menschen  untergraben,  vielleicht 
sogar  vernichtet.  Es  kann  doch  der  Fall  sein,  daß 
der  Mann  noch  zehn  oder  mehr  Jahre  am  Leben 
bleibt  und  nach  wie  vor  kreditfähig  ist.«  Goldene 
Worte  eines  Samariters!  Die  Anständigkeit  ist  immer 
etwas,  das  der  Begründung  durch  ökonomische  Rück- 
sichten bedarf.  Nicht  zu  schweigen  gilt  es,  nicht  die 
selbstsüchtige  Neugier  des  Geschäftsfreundes  zurück- 
zuweisen, sondern  die  Kreditfähigkeit  des  Patienten 
zu  erhalten.  Daß  die  ärztliche  Kunst,  soweit  sie  sich 
in  Sanatorien  betätigt,  vor  allem  darauf  ihr 
Augenmerk  richten  muß,  versteht  sich  von  selbst. 
Ihre  Sorge  um  die  wirtschaftliche  Wohlfahrt  der  den 
besseren  Ständen  angehörenden  Krebskranken  ge- 
hört zu  ihren  vornehmsten  Aufgaben.  Und  wie 
wichtig  überhaupt  die  Erhaltung  der  Kreditfähigkeit 
ist,  wenn  es  sich  darum  handelt,  die  Dauer  der 
Behandlung  festzustellen,  weiß  man.  Es  kann  der 
Fall  sein,  daß  einer  zehn  und  mehr  Jahre  behandelt 
wird  und  nach  wie  vor  kreditfähig  ist.  Hier  hilft 
eben  die  Natur.  Patienten,  von  deren  gesunder 
Anlage  ein  geschickter  Diagnostiker  wie  Herr  Pro- 
fessor Noorden  sich  mit  einem  Blick  überzeugt, 
werden  für  die  Kürze  der  ärztlichen  Visite  durch 
deren  Häufigkeit  entschädigt.  So  erscheint  gegenüber 
der  Fülle  wohlhabender  Patienten,  die  ein  Sana- 
torium   beherbergt  —    die  Klienten  des  Herrn  Pro- 


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fessors  Noorden  waren  über  die  ganze  Welt  zerstreut,, 
ehe  sie  hier  eingesammelt  wurden  — ,  doch  ein  System 
durchgeführt,  durch  das  weder  der  Kranke  noch  der 
Arzt  verkürzt  wird ;  und  wenn  die  zwischen  Tür 
und  Angel  hingeworfene  Frage:  »Wie  geht's?  Etwas 
besser?  Na  also,  nur  essen,  tüchtig  essen!«  mit 
vierzig  Kronen  berechnet  wird,  so  mag  man  die 
allgemeine  Teuerung  beklagen,  aber  niemand  wird 
sein  Mitleid  an  jene  verschwenden,  die  mit  einem 
Luxusartikel  nichts  anderes  einkaufen,  als  das  Be- 
wußtsein, ihn  erschwingen  zu  können.  Und  wen  sollte 
das  Walten  einer  ökonomischen  Nemesis  nicht 
befriedigen,  die  das  Geld,  das  im  Osten  des  Reiches 
erwuchert  wurde,  in  jenem  großen  Zug  zum  Noorden 
dahintreibt?  Mag  die  Stadt  Prankfurt  einen  ver- 
lorenen Sohn  im  Namen  des  Fremdenverkehrs  um 
Rückkehr  flehen  — Wiens  Sorge  sei  es  nur,  daß  jene 
Fremden,  deren  es  endlich  teilhaft  wird,  nicht  durch 
eine  allzu  ausgedehnte  ärztliche  Behandlung  zu  Ein- 
heimischen werden.  Gesund  entlassen,  kreditfähig  em- 
pfangen, das  sollte  eine  klinische  Regel  sein.  Kredit- 
entziehung schwächt  mehr  als  Blutverlust,  und  wir 
haben  es  ja  aus  dem  Munde  eben  jener  Autorität 
gehört,  daß  zu  den  günstigen  prognostischen  Anhalts- 
punkten bei  Zuckerkrankheit  >gute  äußere  Lebens- 
verhältnisse« gehören,  während  wiederum  zu  den 
ungünstigen  prognostischen  Anhaltspunkten  »un- 
günstige äußere  Lebensverhältnisse«  zu  zählen  sind. 
Die  guten  Einwirkungen  eines  Konkurses  auf  das 
Allgemeinbefinden  sind  von  der  Wissenschaft  längst 
festgestellt,  aber  immerhin  empfiehlt  es  sich,  die  Ope- 
ration vorzunehmen,  solange  Patient  noch  im  ersten 
Stadium  der  Kreditfähigkeit  ist.  Zur  Kampferinjektion 
ist  immernoch  Zeit.  Nicht  immer  freilich  muß  operiert 
werden.  Noorden  selbst  ist  es,  der  bei  hohem  Perzentsatz 
Stoffwechselprolongierungen  empfiehlt.    Die    Voraus- 

I  Satzung  ist  immer,    daß    der    Patient    nicht  bei  Be- 


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besorgter  Blick  des  Operateurs  den  Assistenten,  der 
schon  die  Instrumente  mustert.  »Was  werden  wir 
dem  Patienten  abnehmen,  Herr  Kollega?c  >Ich 
denke  doch  nicht,  daß  wir  amputieren  müssen  1« 
>Nein,  ich  meine  — !<  »Ach  so  —  ja,  das  möchte 
ich  diesmal  lieber  nicht  sagen,  da  der  Kranke 
nämlich  mein  Bruder  ist.«  Das  sind  Zwischen- 
fälle, auf  die  ein  Operateur  gefaßt  sein  muß. 
Und  nicht  jeder  ist  so  glücklich,  daß  ihm  für  die 
Schwierigkeiten  seines  Berufes  eine  ehrenvolle  Ent- 
schädigung durch  die  Malerei  zuteil  wird,  die  sich 
doch  hin  und  wieder  von  dem  Moment  begeistern  läßt, 
wie  der  Chirurg  das  Messer  an  die  Bauchwunde 
einer  Dame  setzt.  Noch  immer  ordinieren  die  meisten 
Kapazitäten  nicht  bildlich,  sondern  schriftlich,  nicht 
in  der  Kunstausstellung,  sondern  in  der  Lokalchronik 
der  Zeitungen. 

Das  Berufsgeheimnis  wird  hier  wie  dort  in 
ausgesprochener  Weise  gewahrt.  Und  es  muß 
sich  nicht  allemal  um  wirtschaftliche  Dinge  han- 
deln, auch  die  Ehre  hat  ihre  Existenzberechtigung. 
Es  muß  nicht  immer  die  Kreditfähigkeit  eines 
alten  Juden  auf  dem  Spiel  stehen,  auch  die  Hei- 
ratsfähigkeit einer  jungen  Jourbesucherin  ist  ein 
Gut,  das  dem  Schutze  der  Medizin  empfohlen  ist. 
Der  Sanatoriumsdirektor  weiß  wieder  ein  Beispiel. 
»Vor  nicht  allzu  langer  Zeit  kam  eine  junge  Dame 
aus  sehr  vornehmem  Hause  zu  mir,  die  mir  gestand, 
daß  sie  guter  Hoffnung  sei.  Ihre  Eltern  wüßten  aber 
nichts  davon  und  dürfen  auch  nichts  erfahren.  Die 
Dame  brachte  im  Sanatorium  ein  Kind  zur  Welt, 
ihre  Eltern  lebten  und  leben  im  Glauben,  daß  sie 
eines  Frauenleidens  wegen  bei  uns  operiert  wurde. 
Die  junge  Dame  ist  heute  die  glückliche  Gattin  eines 
glücklichen  Mannes  und  kein  Mensch  hat  eine 
Ahnung  von  dem,  was  sich  hinter  den  Mauern  die- 
ses Hauses  abgespielt  hat.  In  diesem  Falle  hat  die 
Wahrung    des    Berufsgeheimnisses    das   Glück  einer 


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ganzen  Familie  erhalten  und  neu  aufbauen  geholfen. 
Hätten  wir  aber  die  Pflicht  gehabt,  die  Bitern  zu 
verständigen,  dann  wäre  allen  geschadet,  aber  nie- 
mand genützt  gewesen.  Darum  möge  auch  in  Zukunft 
an  der  Schweigepflicht  festgehalten  werden,  c  Der 
Mann  hat  nur  zu  recht.  Aber  er  hat  vergessen,  zu 
erwähnen,  daß  das  Schweigen  in  solchen  Fällen  auch 
dem  Besitzer  des  Sanatoriums  eine  Frucht  trägt.  Sie 
wäre  noch  ergiebiger,  wenn  man  die  andere  beseiti- 
gen könnte.  Das  verbietet  allerdings  ein  törichtes  Gesetz, 
und  noch  nie  hat  sich  bekanntlich  durch  dessen  Über- 
tretung der  mutigste  Gynäkolog  (dem  sonst  in  die  Hose 
nicht  das  Herz  fällt)  in  der  Karriere  behindern  las- 
sen. Immerhin  wird  die  Diskretion  über  eine  Geburt 
noch  immer  besser  bezahlt  als  der  Verrat  einer 
Fruchtabtreibung.  Die  jungen  Damen  aus  vor- 
nehmem Hause,  die  in  guter  Hoffnung  und  bestem 
Glauben  in  das  Sanatorium  kommen,  würden 
sichs  künftig  überlegen,  wenn  die  Nachfrage 
der  Eltern  die  Entbindung  vom  ärztlichen  Berufs- 
geheimnis bedingte.  Es  wird  ihnen  ohnehin  nicht 
angenehm  sein,  daß  von  offizieller  Seite  im  ,Neuen 
Wiener  Journal*  für  alle  Zukunft  das  harmloseste 
Frauenleiden  als  Schwangerschaft  verdächtigt  wird. 
Manche  Frau,  die  es  sich  versagen  möchte,  dem 
Reporter  ein  zartes  Geheimnis  ins  Ohr  zu  flüstern, 
das  sie  ihrem  Gatten  vorenthalten  muß,  wird  den 
Weg  ins  Sanatorium  scheuen,  wo  man  sich  allzulaut 
des  Schweigens  rühmt.  Und  vor  allem  wird  vielleicht 
jene  junge  Dame  selbst  fortan  unter  dem  Argwohn  der 
Eltern  und  des  glücklichen  Mannes  zu  leiden  haben; 
denn  sie  konnte  zwar  die  Existenz  ihres  Kindes  ver- 
heimlichen, aber  das  ,Neue  Wiener  Journal*  kommt 
ins  Haus,  und  eines  Tages  erkennt  sie,  daß  der 
Aufenthalt  im  Sanatorium  nicht  ohne  Folgen  ge- 
blieben ist.  So  hat  die  ärztliche  Diskretion  wieder 
einmal  das  Glück  einer  Ehe,  nein,  das  Glück  einer 
ganzen  Familie  erhalten,  nein,  mehr  als  das:  neu  auf- 


56  — 


bauen  geholfen.  »Darum  möge  auch  in  Zukunft  an 
der  Schweigepflicht  festgehalten  werden«,  nein,  mehr 
als  das:  die  Ärztekammer  schreite  endlich  gegen  jene 
ein,  die  nicht  geneigt  sind,  sie  auf  den  Verkehr  mit 
Reportern  auszudehnen. 

Nimmt  dieser  überhand,  so  besteht  die  Gefahr, 
daß  die  ärztliche  Diskretion  zu  einer  sozialen  Kalamität 
erwachse.  Durch  die  Aufhebung  der  Schweigepflicht 
könnte  der  Gesunde  vor  dem  Kranken  geschützt 
werden,  die  Ruhmredigkeit  der  Diskretion  gibt  nur 
den  Kranken  preis.  Ob  die  Medizin  sich  dazu  her- 
geben soll,  das  Glück  einer  bürgerlichen  Ehe,  die 
durch  Einheirat  des  Trippers  zustande  kommt,  zu 
erhalten,  ist  wenigstens  eine  prinzipielle  Frage.  Aber 
die  Vergiftung  der  Humanität  durch  die  Reklame, 
die  Verwendung  ethischer  Ideale  in  einem  unethischen 
Betrieb,  das  Geschwätz  über  Diskretion  sind  erledigte 
Standpunkte.  In  Berlin  sind  die  angetrauten  Männer 
der  Wissenschaft  jüngst  überführt  worden,  daß  sie, 
um  der  vielstrapazierten  Dame  Kunden  zu  verschaffen, 
Zutreiber  in  ihrem  Dienst  hielten.  Bei  uns  gehen  sie 
selbst  auf  die  Gasse  und  scheuen  sich  nicht,  zwischen 
Lokalreportern  und  Feuilletonisten  ihre  Ware  anzu- 
bieten. Wer  besser  kurieren  kann,  das  soll  sich  in  freier 
Konkurrenz  erweisen,  und  wer  besser  schweigen 
kann,  der  beweist  es  durch  die  lautere  Stimme.  Eine 
Kupplerin,  die  einmal  gefragt  wurde,  ob  sie  auch 
diskret  sei,  rief  entrüstet:  »Ich?  Glauben  Sie,  daß 
ich  sonst  eine  so  noble  Kundschaft  hätte?  Erst 
gestern  war  der  Graf  Matsch  von  Rückenmark 
bei  mirl  Wissen  Sie,  der  die  Tochter  vom  alten 
Lustgewinn  geheiratet  hat!  Morgen  kommt  er  selbst. 
Nu,  die  war  auch  keine  Jungfrau  mehr.  Das  ist  doch 
die,  welche  die  Geschichte  im  Sanatorium  gehabt 
hat!  Lieber  Herr,  wenn  unsereins  nicht  schweigen 
möchte  .  .  .« 

Heransgeber  and  verantwortlicher  Redakteur ;  Karl  Kr  ans 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraßc  3 


Die  Fackel, 

NR.  285-86  27.  JULI  1909  XI.  JAHR 


Die  chinesische  Mauer 
Von  Karl  Kraus 

Bin  Mord  ist  geschehen  und  die  Mensch- 
heit möchte  um  Hilfe  rVifen.  Sie  kann  es  nicht.  Sie, 
die  Lärmvolle,  immer  bereit,  mit  dem  stärksten 
Schrei  den  kleinsten  Stoß  zu  rächen,  sie,  die  sich 
das  Maß  der  Schöpfung  dünkt  und  nur  der  Mißton 
ist  in  der  Musik  der  Sphären,  schweigt.  Aber  wir 
hören  dieses  Schweigen,  es  gellt  über  Länder  und 
Meere,  und  wo  immer  es  losbrach,  antwortet  ihm  ein 
Echo,  so  stumm  wie  der  Ruf,  der  einen  Mord  ver- 
kündet. Der  Mund  der  Welt  steht  offen  und  aus  den 
Augen  starrt  die  Ahnung,  daß  sich  das  Größte  be- 
geben hat.  Ringsum  ist  alles  gelb.  Wie  der  Tag,  an 
dem  der  alte  Gott  sein  Gericht  hält.  Gelb  wie  eine 
Chinesenhand  und  rot  wie  das  Blut  einer  Christin. 
Die  Hand  hat  sie  gewürgt,  daß  sie  nicht  schreien 
konnte.  Die  Hand  hält  uns  alle  am  Hals  und  läßt 
uns  nicht  mehr  los.  Ist  es  das  Ende  einer  Moral,  die 
die  Fessel  als  Schmuck  trug?  Nun  hat  sie  ein  gelbes 
Halsband,  das  ihr  den  Atem  nimmt.  Sie,  die  nicht 
beten  konnte,  ohne  zu  huren.  Sie,  die  nicht  huren 
konnte,  ohne  zu  beten  !  Die  die  Sünde  profaniert  hat 
durch  die  Reue,  die  Lust  versüßt  hat  durch  die 
Qual.  Sie,  die  in  jenem  unerforschlichen  Trugschluß, 
der  500  nach  Confucius  in  die  Welt  gesetzt  wurde, 
ein  ewiges  Sterben  ertrug  und  um  hellerer  Hoffnung 
willen  die  dunkle  Erfüllung  in  Kauf  nahm.  Sie,  deren 


2   — 


Leben  Todesangst  war  und  Furcht  vor  dem  Leben. 
Da  geschah  es  ihr,  daß  sie,  nicht  wissend,  wo  ihre 
Pflicht  und  wo  ihre  Lust  sei,  gewarnt  und  ver- 
führt, auf  dem  Wege,  wo  Herzklopfen  die  Tür  der 
Freude  öffnet,  in  den  Opiumnebel  geriet,  der  lichtere 
Seligkeit  als  selbst  der  Weihrauch  ihr  verhieß.  Da 
geschah  es  ihr,  daß  sie  an  die  gelbe  Hand  stieß,  die 
sie  karessierte,  würgte  und  in  den  Koffer  packte. 
Die  Knie  durch  Stricke  unter  das  Kinn  gezogen,  das 
Gesicht  mit  ungelöschtem  Kalk  beworfen  —  so  kam 
sie  aus  dem  blauen  Himmelbett  in  den  Koffer  .  .  . 
Und  nun  riecht  es  in  der  Welt  nach  Verwesung. 

Es  ist  das  größte  Ereignis,  das  die  moralische 
Menschheit  erlebt  hat,  seitdem  ihr  das  Ereignis  der 
Moral  widerfuhr.  Dazwischen  lagen  Taten  oder 
Zufälle,  Entschlüsse  des  Geistes  und  Widerrufe  der 
Natur.  Siege  und  Verluste  einer  erdenstolzen  Tech- 
nik, die  durch  ein  Achselzucken  der  Erde  erst  zum 
Problem  erhoben  wird.  Hier  aber  hat  die  himmel- 
sichere Ethik  ihr  Messina  erlebt.  Hier  ist  alles  proble- 
matisch geworden,  was  sich  seit  zwei  Jahrtausenden 
von  selbst  versteht.  Auf  einem  Krater,  den  wir  er- 
loschen wähnten,  haben  wir  unsere  Hütten  gebaut, 
mit  der  Natur  in  einer  menschlichen  Sprache 
geredet,  und  weil  wir  die  ihre  nicht  verstanden, 
geglaubt,  sie  rühre  sich  nicht  mehr.  Sie  aber  hat 
durch  all  die  Zeit  ihre  heißen  Feste  gefeiert  und  an 
unserer  gottseligen  Sicherheit  ihren  Erdenbrand  ge- 
nährt. Wir  haben  die  Sexualität  für  verjährt  gehal- 
ten; wir  haben  die  Konvention  getroffen,  von  ihr  nicht 
mehr  zu  sprechen.  Die  angetraute  Metze  Natur,  in 
sozialer  Bindung  gezähmt,  schien  nur  so  viel  Wärme 
zu  spenden,  als  unserm  Behagen  unentbehrlich  war, 
und  was  sie  sonst  an  Feuer  hatte,  reichte  hin,  unsere 
Suppe  zu  kochen.  Da  kommen  wir  ihr  darauf,  daß 
sie  all  die  Zeit  ihre  Wonne  nicht  unserm  Wahn  ge- 
opfert, nein,    unsern  Wahn   ihrer    Wonne    dienstbar 


—  3    — 

gemacht  hat.  Da  entdecken  wir,  daß  unser  Verbot 
ihr  Vorschub,  unser  Geheimnis  ihre  Gelegenheit,  unsere 
Scham  ihr  Sporn,  unsere  Gefahr  ihr  Genuß,  unsere  Hut 
ihre  Hülle,  unser  Gebet  ihre  Brunst  war.  Was  es  an 
Hemmungen  der  Lust  in  der  Welt  gibt,  wurde  zur 
Hilfe,  und  die  gefesselte  Liebe  liebte  die  Fessel, 
die  geschlagene  den  Schmerz,  die  beschmutzte  den 
Schmutz.  Die  Rache  des  verbannten  Eros  war  der 
Zauber,  allen  Verlust  in  Gewinn  zu  wandeln.  Schön 
ist  häßlich,  häßlich  schön  und  was  den  wachen  Sin- 
nen ein  Abscheu  ist,  lockt  sie  in  die  Betäubung  der 
Wollust.  Die  Prinzen  des  Lebens  konnten  es  nicht 
fassen.  Aber  die  Prinzessinnen  lagen  bei  den 
Kutschern,  weil  es  Kutscher  waren  und  weil  es  die 
Prinzen  nicht  fassen  konnten.  Was  immer  an  Greueln 
der  Liebe  widerstrebt,  besiegte  sie  und  suchte  sie 
auf,  um  es  zu  besiegen.  Zucht  ist  ein  Pfand  der 
Unzucht,  Hoheit  die  Bürgschaft  des  Falls.  Warnung 
weckt  Wunsch;  Entfernung  nähert.  Der  ausgehun- 
gerte Eros,  dessen  Geschmack  sublimiert  werden 
sollte,  ist  nicht  wählerischer  geworden,  aber  krie- 
gerischer. Er  wählt,  was  man  ihm  vorenthält. 
»Laßt  uns  ein  Lied  der  Liebe  singen !  Die 
Liebe  wird  uns  noch  alle  zugrunde  richten.  0 
Kupido,  Kupido,  Kupido !«  So  ging  eine  Griechen- 
welt unter.  Die  christliche  ließ  kein  Lied  der 
Liebe  singen,  erkannte  deren  antisozialen  Charakter 
und  machte  aus  ihm  ein  Genußmittel.  Die  christ- 
liche Liebe  konvertiert  alles,  selbst  den  Glauben. 
Der  getaufte  Eros  liebt  nicht  alles,  aber  er  nimmt 
mit  allem  vorlieb.  Nichts  ist  ihm  unerreichbar.  Er 
sagt,  daß  er  die  Nächstenliebe  sei,  und  weidet  sich 
an  verwundeten  Kriegern.  Er  rettet  gefallene  Mäd- 
chen und  bekehrt  ungläubige  Männer.  Er  ist  neu- 
gierig und  klettert  über  die  chinesische  Mauer.  Er 
besucht  Opiumhöhlen,  um  dort  zu  sagen,  wie 
schön    es   in    den   Kirchen    sei.    Er    frißt    alles  und 


—  4 


läßt  sich  sogar  die  Kultur  des  Weibes  schmecken, 
die  täuschende  Zubereitung  verdorbener  Weib- 
natur. Denn  Bildung,  sozialer  Stolz  und  Frauen- 
rechte rinden  im  Bett  so  gut  ihren  Anwert  wie 
ein  gepflegter  Körper,  und  Seele  ist  erst  unter 
den  Fäusten  des  Kuli  ein  Hochgenuß  .  .  .  Wir  haben 
uns  vermessen,  an  dem  heiligen  Feuer,  das  einst  den 
männlichen  Geist  zu  Taten  erhitzte,  unsere  Füße  zu 
wärmen.  Nun  zündet  es  uns  das  Haus  an.  Das  soziale 
Gebälk,  zu  seiner  Hut  und  unserm  Schutz  er- 
richtet, ist  willkommener  Brennstoff.  Wir  haben  einen 
Ofen  um  eine  Flamme  gebaut.  Nun  verbrennt  sie 
den  Ofen. 

>Hast  du  denn  kein  Urteil?  Hast  du  denn  keine 
Augen?  Verstehst  du,  was  ein  Mann  ist?  Sind  denn 
nicht  Geburt,  Schönheit,  gute  Bildung,  Redekunst, 
Mannhaftigkeit,  Verstand,  Menschenfreundlichkeit, 
Tapferkeit,  Jugend,  Freigebigkeit  und  dergleichen 
die  Spezerei  und  das  Salz,  um  einen  Mann  zu 
würzen  ?«  So  fragt  ein  Shakespearischer  Kuppler.  Und 
die  Schöne  antwortet:  »0  ja;  ein  Mengelmuß  von 
einem  Mann,  und  so  in  der  Pastete  gehackt  und 
gebacken  gibts  ein  Muß  von  lauter  Mängeln«.  Es 
geht  um  Troilus,  dem  sie  den  Achilles  vorzuziehen 
scheint.  Aber  sie  könnte  ihm  auch  den  Thersites 
vorziehen.  Sie  braucht  nur  vor  ihm  gewarnt  zu  sein. 
»Habt  ihr  Augen?«  fragt  Hamlet,  »die  Weide  dieses 
schönen  Bergs  verlaßt  ihr,  und  mästet  euch  im 
Sumpf?  .  .  .  Sehn  ohne  Fühlen,  Fühlen  ohne  Sehn, 
Ohr  ohne  Hand  und  Aug',  Geruch  ohn'  alles,  ja  nur 
ein  Teilchen  eines  echten  Sinns  tappt  nimmermehr 
so  zu !«  Der  Mann  vermißt  sich,  sein  Maß  unter- 
scheidender Empfindlichkeit  an  die  unteilbare  Gewalt 
der  Weibersinne  zu  legen.  Aber  das  Weib  trägt 
die  moralischen  und  ästhetischen  Begriffe,  die  der 
Mann  ihr  spendet,  wie  jeden  andern  Schmuck,  durch 
den    sie    sich    begehrlich    macht.  Der  Tragiker,    der 


-  6 


Narren  und  Schelmen  die  Erkenntnisse  zuschieben 
muß,  die  eine  Lügenwelt  sprengen  könnten,  läßt 
seinen  irren  König  die  Tugend  als  Köder  der  Lust 
entlarven : 

Sieh  dort  die  ziere  Dame, 

Ihr  Antlitz  weissagt  Schnee  in  ihren!  Schoß ; 

Sie  spreizt  sich  tugendlich  und  dreht  sich  weg, 

Hört  sie  die  Lust  nur  nennen: 

Und  doch  sind  Iltis  nicht  und  hitz'ge  Stute 

So  geil  in  ihrer  wilden  Brunst. 

Vom  Gürtel  nieder  sinds  Centauren, 

Obschon  darüber  Weib. 

Nur  bis  zum  Gürtel  eignen  sie  den  Göttern, 

Alles  darunter  ist  des  Teufels  Reich, 

Dort  ist  die  Hölle,  dort  die  Finsternis, 

Dort  ist  der  Schwefelpfuhl,  Gestank,  Verwesung  .  .  . 

Gib  mir  'ne  Unze  Bisam,  Apotheker, 

Meine  Phantasie  zu  versüßen  I 

Aber  die  Phantasie  selbst  ist  Bisam,  der  den 
männlichen  Verstand  versüßt  und  ohne  den  er  es  nicht 
zu  Ende  denken  kann,  daß  das  Weib  aus  dem  Schwefel- 
pfuhl sich  die  göttergleiche  Schönheit  holt.  Wer 
solche  Vorstellung  nicht  dem  eigenen  erotischen 
Leben  einzugliedern  vermag,  zerschellt  den  Kopf 
an  diesem  Rätsel  einer  englisch-teuflischen  Verbin- 
dung, und  dem  nüchternen  Untersucher  zerfällt  sie 
in  ihre  Teile.  Die  christliche  Ethik  ringt  verzweifelt 
die  Hände,  daß  e3  ihr  nicht  gelingt,  die  Schönheit, 
soweit  sie  dem  Leben  unentbehrlich  ist,  durch 
seelischen  Zuspruch  zu  erhalten.  Die  große  Frage, 
die  offen  blieb  seit  dem  Tage,  da  man  der  Entsagung 
auf  den  Geschmack  gekommen  ist,  mahnt  uns,  wie 
uns  die  Erde  mahnt,  wenn  wir  sie  durch  technische 
Spiele  beruhigt  glauben :  Wie  wird  die  Welt 
mit  den  Weibern  fertig?  Sie  sieht,  daß  jedes 
ethische  Bemühen  flugs  das  Gegenteil  bewirkt, 
einen  seelischen  Widerstand,  der  ein  Kuppler 
der  Lust   ist.     Sie    sieht,    wie    nicht   Erziehung   die 


Fehler  des  Weibes  wettmacht,  deren  rechte  Grup- 
pierung doch  die  Anmut  schafft,  sondern  wie  die 
Fehler  des  Weibes  in  jedem  Ensemble  die  Erzie- 
hung aufheben.  Sie  sieht,  wie  Neugierde  allein  im- 
stande ist,  die  ganze  Arbeit  der  christlichen  Kultur 
am  Weibe  rückgängig  zu  machen.  Sie  siehts  und 
kanns  immer  wieder  nicht  glauben.  Immer  wieder 
dies  Staunen  über  eine  Natur,  die  zwei  Geschlechtern 
nicht  mit  demselben  Maß  von  Dürftigkeit  zuge- 
messen hat;  die  das  Weib  geschaffen  hat,  dem  die 
Lust  nur  ein  Vorschmack  der  Lust  ist,  und  den 
Mann,  den  sie  ermattet.  Er  fühlts  und  wills  nicht 
wissen.  Er  hat  tausendmal  mit  dem  Anderen  ge- 
rungen, der  vielleicht  nicht  lebt,  aber  dessen  Sieg 
über  ihn  sicher  ist.  Nicht  weil  er  bessere  Eigen- 
schaften hat,  aber  weil  er  der  Andere  ist,  der  Spä- 
tere, der  dem  Weib  die  Lust  der  Reihe  bringt  und 
der  als  Letzter  triumphieren  wird.  Aber  sie  wischen 
es  von  ihrer  Stirn  wie  einen  bösen  Traum,  und 
wollen  die  Ersten  sein. 

Sie  können  es  nicht  glauben.  Bis  sie  die  ziere 
Dame,  jene,  die  mit  dem  Ruf  »shocking«  auf  die  Welt 
kam,  in  den  Laden  des  chinesischen  Wäschers  schleichen 
sehen.  Von  keiner  Garde  als  von  der  Moral  und  etwa 
dem  Vertrauen  des  liebenden  Gatten  begleitet.  Er 
ist  der  Besitzer;  er  hat  ein  Recht,  nicht  zu 
wissen,  was  den  weiblichen  Sinnen,  die  er  reich 
versorgt  hat,  der  andere  Mann  bedeutet.  Aber 
wenn  er  vollends  ahnte,  wie  sie  der  andere  Mann 
der  anderen  Rasse  beherrscht!  Eine  Vorstellung,  die 
wie  ein  Wurm  am  Gehirn  fräße,  wenn  sie  je 
über  die  Schwelle  dieses  Selbstbewußtseins  kriechen 
könnte,  wird  in  dem  Wäscherladen  von  China- 
town  täglich  hundertmal  zur  Wirklichkeit.  Der 
Stinkteufel,  an  dem  die  weiße  Seele  erst  ihrer  Gott- 
ähnlichkeit inne  wird,  hat  sich  mühelos  mit  der  Frau 
vergnügt,    um    die    die    weiße    Seele     so    oft   ver- 


schmachtet.  Die  Schwierigkeit  der  Verständigung 
erleichtert  den  Verkehr  zwischen  Krämer  und  Kun- 
din ;  der  Chinese  ist  ein  Muster  der  Pflichterfüllung. 
Auch  als  Kellner  stellt  er  seinen  Mann.  Seine  Teu- 
felsküche hält  alle  Leckerbissen  feil,  ja  taktvoll 
geht  er  selbst  auf  den  Wunsch  ein,  sich  zum  Christen- 
tum bekehren  zu  lassen,  wenn  eine  Peinschmeckerin 
auf  das  Hors  d'Oeuvreder  ethischen  Absicht  schon  nicht 
verzichten  will.  Und  aus  dem  großen  Lustbad,  das 
der  schmutzigste  Winkel  der  Weltstadt  vorstellt, 
steigen  täglich  treue  Gattinnen  und  unschuldige 
Töchter  in  erneuter  Schönheit  zum  Standard  ihrer 
sozialen  Ehre  empor.  Manchmal  bleibt  eine  und 
verträumt  ihr  Leben  im  Opium,  die  andere  wird  einen 
europäischen  Grafen  heiraten  —  den  meisten  iärbt  das 
Glück  die  Wangen  rot,  die  honeste  Langweile  ihres 
Tags  um  eine  Stunde  zu  betrügen.  Was  wissen  Gatten 
und  Väter  davon  ?  Eine  starb.  Vielleicht,  daß  ein 
Prostituierter  sein  Herz  an  sie  verlor  und  eifersüchtig 
wurde;  vielleicht  hat  er  sie  nicht  aus  Leid,  sondern 
aus  Lust  gemordet;  vielleicht  hat  ihre  Weigerung, 
sich  prostituieren  zu  lassen,  ihrem  Leben  den  kür- 
zeren Prozeß  gemacht.  Der  Mordfall  ist  eine  Un- 
regelmäßigkeit;  er  zeigte  uns  die  Einrichtung 
und  beweist  nichts  gegen  sie.  Elsie  Siegls  Tod 
ruft  die  moralische  Welt  in  Waffen,  aber  was 
er  enthüllt,  zwingt  sie,  die  Waffen  zu  strecken. 
Sie  müßte  sie  gegen  ihre  Weiber  wenden,  um 
aller  Enttäuschung  ein  für  allemal  Herr  zu  sein. 
Wie  sollte  sie  anders  dieser  fürchterlichen  Bun- 
desgenossenschaft der  weißen  Frau  und  der  andern 
Rasse,  dem  Einverständnis  verstoßener  Naturmächte, 
ein  Ende  setzen?  Sie  könnens  nicht  fassen  und  zie- 
hen zur  Erklärung  vielleicht  Magie  und  Zauberei 
heran.  Wenn  sie  das  Nest  leer  finden,  mag  ihre 
Verzweiflung  mit  den  Worten  von  Desdemonas  Va- 
ter rufen : 


—   8   — 


O  Gott!  Wie  kam  sie  fort?  0  Blutsverrat!   — 
Väter,  hinfort  traut  euern  Töchtern  nie 

Nach  äußerlichem  Tun !  — 

O  schnöder  Dieb!  Was  ward  aus  meiner  Tochter? 
Du  hast,  verdammter  Frevler,  sie  bezaubert; 
Denn  alles,  was  Vernunft  hegt,  will  ich  fragen, 
Wenn  nicht  ein  magisch  Band  sie  hält  gefangen, 
Ob  eine  Jungfrau,  zart  und  schön  und  glücklich, 
So  abhold  der  Vermählung,  daß  sie  floh 
Den  reichen  Jünglings-Adel  unsrer  Stadt  — 
Ob  sie,  ein  allgemein  Gespött  zu  werden, 
Häuslichem  Glück  entfloh'  an  solches  Unholds 
Pechschwarze  Brust,  die  Grau'n,  nicht  Lust  erregt! 
—  —  —   —  Ein  Mädchen,  schüchtern, 
Von  Geist  so  still  und  sanft,  daß  jede  Regung 
Errötend  schwieg  —  die  sollte,  trotz  Natur 
Und  Jugend,  Vaterland  und  Stand,  und  Allem, 
Das  lieben,  was  ihr  Grauen  schuf  zu  sehn?  — 

Weil  sie  den  Zaubertrank,  den  die  Sinne  selbst 
bereiten,  nicht  in  ihrer  Hausapotheke  führen,  ist 
Vätern  und  Gatten  die  Erscheinung  fremd.  Man 
lügt  ihnen  die  weiße  Haut  voll  und  wenn  nicht  der 
Zufall  einen  Mord  ausriefe,  würden  sie  nie  erfahren, 
welches  Kolorit  der  Geschmack  ihrer  Liebsten  war. 
Der  Ernst  des  Lebens,  dieser  lächerliche  Verwalter 
ihres  geistigen  Inventars,  hat  ihnen  das  eheliche 
Vergnügen  nur  dort  gestattet,  wo  sie  es  als  eheliche 
»Pflichte  fatieren  können.  So  bedarf  es  schon  star- 
ker Reizungen,  um  ihr  Interesse  auf  ein  Lebens- 
gebiet zu  lenken,  in  dem  der  Wechsel  der  Ereignisse 
sich  nur  stiller,  nicht  spärlicher  vollzieht  als  im  Kom- 
merz. Die  Leiche  im  Koffer  ist  bloß  die  notwendige 
Sensation,  ohne  deren  Vermittlung  für  eine  geräusch- 
volle Zeit  Erkenntnisse  nicht  zu  haben  sind. 

Daß  Elsie  Siegl  starb,  ist  ein  Lokalfall,  zu  dem 
die  Reporter  noch  Worte  finden  mögen.  Aber  daß  bei 
dem  Kellner  Leon  Ling  zweitausend  Liebesbriefe  von 
Frauen  exquisiter  Lebenshaltung  gefunden  wurden, 
das  macht  die  Klatschmäuler  verstummen  und  gibt 
dem  Ereignis  seine  kulturbange   Größe.   Die   Presse, 


—   9  - 

die  sich  den  Kopf  der  Welt  dünkt  und  nur  ihr 
Schreihals  ist,  kann  uns  nicht  einmal  mit  Ent- 
rüstung dienen.  Kein  »Sumpf  der  Großstadt«  ist 
entdeckt  worden;  nicht  die  Fäulnis  jener,  die  die 
Moral  verletzten,  ist  aufgebrochen,  sondern  die  Fäul- 
nis der  Moral.  Hier  hat  die  Naturnotwendigkeit  des 
Geschehens  über  die  Lüge  der  Anschauung  das  Ur- 
teil gesprochen.  Amerika  macht  es  nur  deutlich; 
es  gibt  Entwicklungen  und  Katastrophen  das 
Maß.  John  ist  unbedenklicher  als  Hans  und  hat 
größere  Achtung  vor  der  Genußfähigkeit  seiner 
Frau  als  der  gefühlvolle  Vetter,  der  ihr  eine  Seele 
gönnt  und  sie  »mit  dem  Weltganzen  verknüpfen« 
möchte,  wenn  ihre  Sinne  hungrig  sind.  Blaustrümpfe 
mögen  sich  der  Überzeugung  freuen,  daß  die  freiere 
Fasson  der  amerikanischen  Frau  der  Grund  ihrer  Zügel- 
losigkeit  ist  und  daß  der  deutsche  Mann  sicherer 
wäre,  vom  Chinesen  nicht  betrogen  zu  wer- 
den. Aber  in  allen  Städten,  in  denen  dunkle 
Truppen  ihre  Zelte  aufschlugen,  haben  sich  brave 
Bürger  eines  Familienzuwachses  erfreut,  den  sie  ihr 
Leben  lang  mit  mischfarbigem  Gefühl  besahen. 
Der  Eindruck,  den  die  andere  Rasse  im  plastischen 
Ton  des  andern  Geschlechts,  in  der  immer  form- 
willigen Sexualität  des  Weibes  erzeugt,  ist  so  mäch- 
tig, daß  es  leiblicher  Vermischung  nicht  bedarf, 
um  auf  einen  lichten  Stamm  ein  dunkles  Reis 
zu  pfropfen.  Die  rohe  Riesenstatue  eines  Chinesen, 
um  die  sich  ein  Ringelspiel  dreht,  könnte  zur  Erklä- 
rung ausreichen,  warum  mancher  Wiener  Schusterbub 
mit  Schlitzaugen  auf  die  Welt  kam.  Und  wenn  es  nur 
ein  Symbol  ist,  daß  sich  die  Lust  um  den  Chinesen 
dreht,  so  schreckt  es  am  heiligen  Sonntag  die  weißen 
Männer  aus  dem  Weltprater.  Der  gigantische  Hohn, 
dessen  nur  die  rachsüchtige  Natur  fähig  ist,  hat  die- 
sen Anschluß  des  Weibes  an  das  verachtete  Blut 
befehligt.  In  dem  Wäscherladen  von  Chinatown  wer- 


-  10  - 

den  in  einer  stummen  Stunde  alle  Menschheitsfragen 
laut:  Geschlecht  und  Rasse  paaren  sich  zu  welt- 
problematischem Grauen. 

Aber  der  weiße  Mann,  der  seine  Frau  sucht, 
entdeckt  noch,  daß  sie  ihm  die  Religion  mitgenom- 
men hat,  als  sie  zum  Chinesen  ging.  Die  Findig- 
keit des  Eros,  mit  den  gegebenen  Mitteln  auszu- 
kommen, ist  unerschöpflich.  Wenn  die  Natur  ihr 
Mütchen  an  der  sozialen  Welt  kühlt,  schont  sie 
keines  der  im  Staate  anerkannten  Vorurteile,  ihr 
Witz  macht  fromme  Mädchen  zu  Bettschwestern, 
und  die  Mission  endet  im  Bordell.  Die  Autorität 
des  Gottes  Buddha  hat  nie  als  Vorwand  solcher 
Spiele  gedient.  Der  Chinese  begeht  keine  Sünde, 
wenn  er  sie  begeht.  Er  bedarf  der  Gewissensskrupel 
nicht,  um  in  der  Lust  die  Lust  zu  finden.  Er  ist 
rückständig,  weil  er  mit  den  gedanklichen  Schätzen, 
die  ihm  Jahrtausende  gehäuft  haben,  noch  nicht 
fertig  wurde.  Er  ist  zukunftsfähig  und  überdauert 
die  Schäden,  die  in  anderen  Welten  Medizin  und 
Technik  zusammenflicken.  Er  hat  keine  Nerven, 
er  hat  keine  Furcht  vor  Bazillen  und  ihm  kann 
auch  nichts  geschehen,  wenn  er  tot  ist.  Er  ist  ein 
Jongleur,  der  Leben  und  Liebe  spielend  mit  dem 
Finger  bewältigt,  wo  der  Athlet  keuchend  seine 
ganze  Person  einsetzen  muß.  Er  arbeitet  für  ein 
Dutzend  Weiße  und  genießt  für  hundert.  Er  hält 
Genuß  und  Ethik  auseinander  und  bewahrt  dadurch 
beide  vor  der  Krätze.  Von  dem,  was  wir  Aus- 
schweifung nennen,  kehrt  er  an  Leib  und  Seele 
unverändert  zu  den  Normen  des  Tagwerks  zu- 
rück, in  dem  er  sich  höchstens  unterbricht,  um  eine 
weiße  Lady  zu  bedienen.  Er  ist  unsentimental  und  hat 
nicht  jenen  Mangel  an  seelischer  Ökonomie,  den  wir 
Moral  nennen.  Er  kennt  die  Pflicht  der  Nächsten- 
liebe nicht,  die  da  verlangt,  daß  an  einem  Strick 
Zwei  sich  aufhängen.   Er  lebt  fern  einer  bresthaften 


—  11  — 


Ethik,  die  den  Starken  schwächt,  indem  sie 
ihm  den  Schutz  des  Schwachen  vorschreibt.  Er 
ist  grausam;  er  begeht  Fruchtabtreibung  und 
Kindesmord,  wiewohl  er  sicher  ist,  daß  auch  der 
unerwünschte  Sohn  des  Himmels  dem  Gotte  ähn- 
licher würde  als  jener  Bankert  aus  Hysterie  und  Jour- 
nalismus, der  sich  im  Okzident  unter  der  Protektion 
des  Gesetzes  auswächst.  Aber  er  lebt  in  der  Fülle 
und  hat  die  Humanität  nicht  notwendig.  Sein  Reich 
umfaßt  mehr  als  ein  Viertel  der  Gesamtbevölkerung 
derganzenErde,  seitdem  esim  letzten  Jahrhundert  allein 
einen  Zuwachs  von  neunundneunzig  Millionen  be- 
kommen hat.  Und  sie  alle  haben  bloß  den  Ehrgeiz, 
Chinesen  zu  sein  und  nicht  die  Affen  fremder  Eigenart. 
Während  die  Japaner  an  deutschen  Universitäten 
Strafgesetze  studieren,  sind  die  Chinesen  vollauf 
damit  beschäftigt,  sie  zu  übertreten.  Und  dieses  Volk 
wahrt  und  mehrt  seine  dämonische  Lebenskraft 
durch  Verschwendung.  Es  kennt  den  Raubbau  der 
Askese  nicht  und  seine  Männer  haben  Lust  am  Manne 
wie  am  Weibe.  Den  Chinesen,  sagt  ein  Forscher,  habe 
ihre  Päderastie  so  wenig  Abbruch  getan,  daß  die  Hol- 
länder, als  sie  zum  erstenmal  nach  China  kamen, 
vor  Erstaunen  über  die  Volksmengen,  die  sie  überall 
antrafen,  immer  nur  die  Frage  laut  werden  ließen, 
ob  denn  die  chinesische  Mutter  zwanzig  Kinder  auf 
einmal  zur  Welt  bringe.  Die  Sündenmoral  dezimiert 
ein  Volk  mehr  als  das  Zweikindersystem.  Sie  bringt 
die  Pathologie  zur  Welt  und  mit  ihr  jene  geborne 
Homosexualität,  die  das  erbärmliche  Widerspiel  der  ero- 
tischen Vielgestaltigkeit  bedeutet.  Der  Chinese  liebt 
das  Weib,  er  liebt  es  im  Knaben  und  er  würde  sich 
nicht  das  Recht  nehmen  lassen,  die  Züge  des  ge- 
suchten Frauentypus  in  einem  Katzenkopf  zu  lieben. 
Aber  er  sucht  nicht  den  Mann,  zudem  die  abendlän- 
dische Perversität  tendiert,  die  keine  erotische  Be- 
reicherung ist,  sondern  eine  pathologische  Folge  der 


—  12  — 


Verkrüppelung  des  Geschlechtslebens  durch  die 
Moral.  Von  den  Erforschern  des  männlichen  Buhl- 
wesens in  China  wird  die  bezeichnende  Tatsache 
angeführt,  daß  ein  junger  Schauspieler,  der  eine  an- 
mutige Mandarinin  darzustellen  hat,  >der  zierlichste 
Frauenkopf t  genannt  wird,  »den  man  in  China  über- 
haupt zu  Gesicht  bekommen  könne«.  Die  chinesische 
Päderastie  sei  der  öffentlichen  Meinung  in  China 
»eine  Sache,  die  durchaus  nichts  Absonderliches  vor- 
stellt und  der  sich  jeder  unbedenklich  hingibt.  Man 
verhält  sich  zu  dieser  Art  Wollust  völlig  indifferent 
und  die  öffentliche  Moral  regt  sich  über  sie  nicht  im 
Geringsten  auf.  Weil  die  Handlung  dem,  der  sie 
treibt,  gefällt  und  weil  der,  mit  dem  sie  getrieben 
wird,  damit  zufrieden  ist,  so  findet  die  chinesische 
Moral  hier  alles  in  Ordnung.  Das  chinesische  Gesetz 
liebt  es  nicht  sehr,  sich  mit  allzu  intimen  Angelegen- 
heiten zu  befassen.  Die  Päderastie  wird  sogar  als 
eine  Sache  des  guten  Tons,  als  ein  kostspieliger 
Luxus  und  ein  vornehmer  Sport  angesehen.«  Das 
Weib  ist  in  China  als  Ehefrau  wie  als  Hure  so  un- 
wissend und  ungebildet,  wie  es  der  wissende  und 
gebildete  Mann  braucht,  der  nicht  in  dem  Wahn 
lebt,  die  Frau  zur  ebenbürtigen  Partnerin  seiner  ur- 
eigenen Domäne  machen  zu  können,  und  nicht  ihre 
Notwendigkeiten  schmälert,  indem  er  ihr  Rechte  ver- 
leiht. »Da  er  Verse,  Musik  und  Aussprüche  der 
Philosophen  liebt,  so  verkehrt  er,  wenn  seine  Mittel 
es  ihm  irgend  erlauben,  gern  in  gebildeter  männ- 
licher Gesellschaft,  wo  er  gewiß  ist,  mit  literarischen 
Kenntnissen  ausgerüstete  und  auch  zum  Beischlaf  er- 
bötige junge  Männer  anzutreffen.«  »Priester,  Militär- 
personen, die  Sittenpolizei,  Mandarinen,  einige  Dich- 
ter und  etliche  Kaiser«  werden  in  den  wissenschaft- 
lichen Untersuchungen  ausdrücklich  unter  den  Prak- 
tikern der  gleichgeschlechtlichen  Liebe  angeführt.  Die 
Residenzstadt  Peking  weise  eine   Sondereinrichtung, 


13  — 


»eine  Truppe  von  Buhljungen  für  die  möglichen 
Bedürfnisse  des  Herrschers«  auf;  »diese  Einrichtung 
amtlicher  Beischläfer  des  Kaisers  soll  seit  langer 
Zeit  als  möglichenfalls  erforderlich  durch  den  Minister 
der  Kirchengebräuche  getroffen  worden  sein  und 
demnach  eine  direkte  staatliche  Anerkennung 
und  Sanktionierung  der  Päderastie  in  sich  schließen«. 
Ganz  besonders  ausgebreitet  ist  diese  unter  den 
Beamten  der  chinesischen  Sittenpolizei,  und  bei  der 
Militärbehörde  soll  sie  sich  direkten  Schutzes  erfreuen, 
weil  sich  noch  kein  Vaterlandsretter  gefunden  hat, 
der  das  »erweislich  Wahre«  in  diesen  Verhältnissen 
ausspionierte.  Auch  würden  sie  ihre  Folter  nie  dazu 
mißbrauchen,  einem  herzkranken  Greis  die  Beichte 
seiner  Jugendsünden  zu  erpressen.  Dem  Chinesen  geht 
eben  in  jedem  Belang  Lebansweisheit  über  Kenntnisse. 
Er  ist  ein  Raumkünstler  in  der  Nußschale  des  Daseins  ; 
er  nützt  es  aus  und  verstellt  sich  den  Weg  nicht 
durch  Überflüssiges.  Und  stellt  sich  selbst  nicht  in 
den  Weg.  Von  seiner  Ersetzlichkeit  überzeugt,  be- 
währt er  im  Transzendenten  einen  sozialen  Sinn,  der 
in  der  abendländischen  Ethik  verkleideter  Egoismus 
ist.  Er  weiß  Platz  zu  machen;  seine  Nächstenliebe 
wirkt  nicht  in  räumlicher,  sondern  in  zeitlicher 
Dimension.  Er  lebt  nicht  im  Wahn  der  Individualiät, 
die  sich  an  der  Tatsachenwelt  beweist.  Er  taucht 
unter  im  Gewimmel  und  ist  sich  selbst  so  wenig 
unterscheidbar  wie  dem  fremden  Auge.  Weil  alle 
gleich  sind,  können  sie  der  demokratischen  Wohl- 
tat entbehren.  Ihr  Gesetz  hat  schwerere  Strafen, 
weil  der  Täter  schwerer  zu  finden  ist.  Ein  Zopf 
entkam :  Eine  Ratte  .  .  .  Das  »Verhör  des  drit- 
ten Grades«,  das  die  New- Yorker  Polizei  an- 
wendet, lockt  keinem  Volksgenossen  ein  Geständnis 
heraus.  Die  Untersuchung,  wer  ein  Christenmädchen 
ermordet  hat,  kann  nur  das  Ergebnis  haben:  Niemand. 
Aber  die  Untersuchung,  wer  ein  Christenmädchen 
verführt  hat,  das  Ergebnis:  Allel 


14 


Und  allen  wird  es  ferner  gelingen.  Die  amerika- 
nische Behörde  wird  in  den  gelben  Bezirken  Ordnung 
machen,  und  vermehrte  Sehnsucht  wird  die  vermehrte 
Wachsamkeit  übertölpeln.  Das  Geheimnis  wird  den 
Reiz  verlust,  den  es  durch  die  Publizität  erlitten  haben 
könnte,  durch  den  Gewinn  an  Gefahr  reichlich 
hereinbringen.  Und  der  Schrecken  selbst  —  un- 
seliges Erbe  der  konvertierten  Lust  I  —  zieht  an, 
der  blutige  Schein  verführt,  und  auf  die  ferne 
Welt  hat  die  Entdeckung  gewirkt,  als  ob  der 
Taifun  über  den  Ozean  eine  erotische  Glutwelle 
geworfen  hätte.  Und  bei  dem  Gedanken  an  China, 
vor  dieser  zauberhaften  Individualität  der  mongo- 
lischen Masse  wird  jeder  weiße  Mann  zum  Hahn- 
rei. Die  gelbe  Gefahr  ist  dem  Lebensnerv  der 
christlichen  Kultur  von  einer  Richtung  nahege- 
kommen, in  die  die  Völker  Europas  nicht  ausgelugt 
haben.  Wenn  sie  ihre  heiligsten  Güter:  die  Reinheit 
der  Gattin  und  die  Virginität  der  Tochter,  wahren 
wollen,  mögen  sie  dazu  schauen.  Der  Chinese 
legt  auf  beide  nicht  den  geringsten  Wert,  aber 
er  wird  sie  ohne  Schwertstreich  erobern.  Gegen 
eine  Rasse,  die  ihre  Naturnotwendigkeiten  nicht 
mit  der  Bagage  des  Gewissens  bepackt  hat,  ist 
aller  Widerstand  hoffnungslos.  Ein  Volk,  das  sich 
daheim  nicht  im  Bürgerkrieg  der  Sitte  gegen  die 
Natur  zerreiben  muß,  zieht  ungeschwächt  ins 
Feld.  Wenn  sie  kommen,  die  Weiber  werden 
sich  ergeben ;  und  die  Männer,  die  längst 
Weiber  sind,  werden  sich  auch  nicht  lange 
sträuben.  Eine  Nation,  die  die  Virginität  verabscheut 
und  ihre  neugebornen  Töchter  durch  eine  Operation 
dem  künftigen  Berufe  weiht,  ist  die  legitime  An- 
wärterin  des  Bereichs  einer  erledigten  Zivilisation. 
Einer,  die  beim  Portschritt  sich  selbst  auf  die  Füße 
trat,  weil  sie  ohne  Moral  nicht  ausgehen  konnte,  die 
Dreadnougths  gebaut,  aber  den  Tanz  um  den  Fetisch 


15  — 


einer  Jungfernhaut  aufgeführt  hat.  Wilde  Völker- 
schaften, elektrisch  beleuchtete  Barbaren  wird  Asien 
entdecken.  Aber  es  wird  großmütig  auf  jeden  Be- 
kehrungsversuch verzichten.  Jene,  die  dem  Weib  die 
einzige  Mission  zuerkennen,  vorwandlos  der  Freude 
zu  dienen,  werden  den  Ungläubigen  keine 
Missionärinnen  ins  Bett  schicken. 

Sie  werden  auf  eine  Rasse  stoßen,  deren  Völker 
einander  mit  Krieg  und  Nächstenliebe  überziehen 
und  nur  einig  sind  in  der  Verachtung  aller,  die 
nicht  ihre  Gesichtsfarbe  haben  und  eine  andere 
Ausdünstung.  Osten  und  Westen  stellen  einander 
den  Teufel  vor  und  halten  sich  die  Nase  zu.  Aber 
die  Chinesen  vertragen  mehr.  Sie  finden,  daß  die 
anderen  —  ihre  Männer  —  >einen  faden  Leichen- 
geruchc  ausströmen,  und  solche  Wahrnehmung  könnte 
mehr  bedeuten  als  eine  Empfindung  der  Unlust.  Hier 
lebt  etwas  in  Verwesung,  des  Erlösers  gewärtig, 
der  es  vom  Leben  errettet.  Hier  siecht  eine  Lust, 
deren  Arzt  die  Furcht  war  und  das  Leiden.  Hier  ist 
etwas  bei  lebendigem  Leib  begraben  und  etwas 
Totes  hält  die  Grabwacht.  Sie  werden  durch  unsere 
Finsternisse  schreiten  und  den  Weg  zum  Leben 
nicht  verfehlen.  Ihre  unterirdischen  Gänge  sind 
ein  Paradies  neben  den  Katakomben,  die  unsere 
Liebe  sich  gemauert  hat,  seitdem  man  ihr  das 
Licht  nahm.  Als  die  christliche  Nacht  herein-? 
brach  und  die  Menschheit  auf  Zehen  zu  der  Liebe 
schleichen  mußte,  da  begann  sie  sich  dessen  zu 
schämen,  was  sie  tat.  So  trat  man  ihr  die  Augen 
aus;  da  lernte  sie  die  erotische  Blindenschrift.  So 
legte  man  sie  in  Ketten.  Da  liebte  sie  die  Musik 
klirrender  Ketten,  also  die  Perversität.  Aber  sie 
schämte  sich  der  Gefangenschaft  nicht,  sondern  der 
Gedanken,  auf  die  sie  darin  verfiel;  nicht  der  Ketten, 
aber  des  Geräusches.  Sie  hatte  sich  der  Freiheit  ihrer 
sexuellen  Natur  geschämt  und  sie  schämte  sich  der 


—  16  — 

Perversion,  welche  die  Kultur  der  sexuellen  Un- 
freiheit ist.  Sie  brannte,  und  verstellte  sich  den  Not- 
ausgang. Und  trug  Stein  um  Stein  herbei,  bis 
eine  Mauer  ihr  Reich  der  Mitte  umgab,  ihr  himm- 
lisches Reich.  Dieses  geschah  um  500  nach  Confucius. 
Die  große  chinesische  Mauer  der  abendländischen 
Moral  schützte 'das  Geschlecht  vor  jenen,  die  eindrin- 
gen wollen,  und  jene,  die  eindringen  wollen,  vor 
dem  Geschlecht.  So  war  der  Verkehr  zwischen 
Unschuld  und  Gier  eröffnet,  und  je  mehr  Pforten 
der  Lust  verschlossen  wurden,  umso  ereignisvoller 
wurde  die  Erwartung.  Da  schlägt  die  Mensch- 
heit an  das  große  Tor  und  ein  Weltgehämmer  hebt 
an,  daß  die  chinesische  Mauer  ins  Wanken  gerät. 
Und  das  Chaos  sei  willkommen;  denn  die  Ordnung 
hat  versagt.  Eine  gelbe  Hoffnung  färbt  den  Horizont 
im  Osten,  und  alle  Glocken  läuten  Sturm.  Und 
überall  ein  Gewimmel.  »Aus  dem  Rauche  des  Schlundes 
kamen  Heuschrecken  über  die  Erde  und  ihnen  ward 
Macht  gegeben,  wie  die  Skorpionen  auf  Erden  Macht 
haben  .  .  .  Und  hatten  Haare  wie  Weiberhaare,  und 
ihre  Zähne  waren  wie  die  der  Löwen  .  .  .  Und  ihre 
Schwänze  waren  den  Schlangen  gleich  und  hatten 
Häupter  und  mit  diesen  schadeten  sie  .  .  .  Und  die 
Zahl  des  Heerzuges  der  Reiterei  war  zweihundert 
Millionen.  Ich  hörte  ihre  Zahl  .  .  .<  Ein  Fortinbras 
naht,  auf  dem  Trümmerfeld  der  Sünde  die  Herr- 
schaft anzutreten.  »Wo  ist  dies  Schauspiel?<  Aber 
damit  lebe,  was  begraben  ist,  muß  er  dem  Toten 
erst  den  Todesstoß  geben.  Seine  Hand  greift  nach  der 
Kultur,  die  ihn  durch  ihr  letztes  Augendrehn  versöh- 
nen möchte,  und  würgt  sie  mit  Lust.  Kein  Entrin- 
nen, die  Arbeit  geht  im  Hui  —  die  Knie  durch  Stricke 
unter  das  Kinn  gezogen,  das  Gesicht  mit  ungelösch- 
tem Kalk  beworfen,  so  verschwand  eine  Leiche 
im  großen  Koffer  des  Chinesen. 


—  17  — 

Der  Stundenzeiger 
Von  Alfred  von  Winterstein  (Wien) 

Ich  bin  erwacht  und  seh'  den  Zeiger  wandern 
Aut  weiß  und  schwarzem,  stillem  Zifferblatte. 
Der  diese  lange  Nacht  durchmessen  hatte, 
Rückt  nun  gehorsam  weiter  mit  den  andern. 

Um  Mitternacht  ist  er  zuhöchst  gestanden 
Und  wies  zum  Himmel  mit  der  feinen  Spitze. 
Wir  sahn  aus  Allem  wie  durch  eine  Ritze 
In  Klüfte,  die  des  Tags  wir  niemals  fanden. 

Der  Speer  der  Stunden  schlägt  uns  tiefe  Wunden. 

Ach,  immer  ticketackt  dieselbe  Frage: 

Was  hast  du  denn  getan  in  diesen  Stunden?  — 

Nach  dumpfem  Schlafe  am  verträumten  Tage 
Ward  stets  ein  andrer  vager  Wunsch  erfunden. 
Doch  ohne  Mut  zur  Bessrung  klingt  die  Klage. 


Vormittagsarbeit  will  uns  freudig  fließen. 
Wir  eilen  mit  dem  Zeiger  um  die  Wette. 
Wann  war  es  nur?  Wir  lagen  einst  im  Bette. 
Wie  könnt  uns  Nichtstun  jemals  nicht  verdrießen? 

Und  Buch  und  Werkzeug  ließ  uns  leicht  vergessen 
Der  schlimmen  Träume  sehr  entferntes  Raunen. 
Uns  machen  unsere  Greisenlaunen  staunen. 
Wir  sind  zu  viel  gelegen  und  gesessen. 

Nun  dünkt  uns  Laufen  nur  und  Armeschwingen 
Die  höchste  Lust;  uns  holt  die  Zeit  nicht  ein. 
Begeisternd  ist  im  Wind  des  Atems  Klingen  1 

Der  Zeiger  scheint  zu  stehn  im  Sonnenschein. 
Doch  aufwärts  kriecht  in  höhnischem  Gelingen, 
Der  unermüdlich  an  Geduld  wird  sein. 


18  — 


Der  Turmuhr  Aug',  vom  Licht  geblendet,  leidet; 
Schwarzdünner  Zeiger  blinzelt.    Und  im  Hafen 
Mit  schattenlosen  Segeln  Schiffe  schlafen, 
Da  Mensch  und  Hund  die  weißen  Straßen  meidet. 

Die  tote  Sängerin  durchs  offne  Fenster 
Hört  beim  Klaviere  leidenschaftlich  schreien 
Der  Dichter  in  des  Halbschlafs  Träumereien.  — 
Im  Mittagslicht  nur  spuken  die  Gespenster. 

Der  schattenleere  Stadtplatz  wogt  von  Licht. 
Hoch  rückt  der  Kirchuhrzeiger  durch  das  Schimmern, 
Bald  mahnt  er  wieder  alle  ernst  zur  Pflicht. 

Durch  grüne  Laden  goldne  Kringel  flimmern 

Auf  Schläfern,  Speis  und  Trank  vergaß  man  nicht 

In  Gartenlauben  und  in  kühlen  Zimmern. 


Das  Uhrblatt  deckt  der  Spätnachmittagsschatten. 
Und  abwärts  weisend  wandert  unverdrossen, 
Der  mitleidsvoll  den  Arbeitstag  geschlossen. 
Arm  und  Gedanke  hängen  in  Ermatten. 

Wie  ungeduldig  blickten  auf  vom  Tische, 
Die  nun  im  Hausflur  mit  den  Mädchen  plaudern, 
Indes  die  Stiegenschatten  bläulich  zaudern, 
Bei  stillern  Gartens  abendlicher  Frische. 

Spazierengeht  und  Briefe  schreibt  der  Eine; 
Der  spielt  mit  seinen  Kindern.     Beide  danken, 
Besänftigte  im  weißen  Lampenscheine, 

Verständ'gem  Stundenfortschritt.     Fieberkranken 
Nur  rennt  die  Zeit  mit  langem,  kurzen  Beine. 
Endlose  Nacht  schreckt  sie  schon  in  Gedanken. 


—  19  — 


Der  Schläfer  fühlte,  eh  er  einschlief,  leise: 

Die  Uhren  schlagen  wie  in  Kindheitstagen. 

Wer  wacht,   wird  bang  der  Stunden  Gang  befragen. 

Stets  am  Vorabend  einer  großen  Reise. 

Die  Reue  Hände  ringt  in  Finsternissen. 
Der  horcht,  die  Pinger  raüd  verliebten  Scherzens, 
Aufs  rasche  Klopfen  eines  Mädchenherzens. 
Und  wer  vergißt  nicht  ganz  die  Zeit  in  Küssen? 

Das  Zifferblatt  glänzt  groß  und  kindlich  weiß 
Verliebten  und  die  Zeit  steht  still  im  Spiegel. 
Auch  dem,  der  einsam  Bücher  liest  mit  Fleiß. 

Ihm  löst  sich  Tiefsinns  siebenfaches  Siegel. 

Jetzt  schließt  die  Uhr  den  Lauf  in  schönem  Kreis. 

Zum  nächsten  Tag  hinüber  tragen  Flügel! 


Josef  Schöffel 
Von  Robert  Scheu 


Motto:  Was  ist  Vernunft?  Der 
Wahnsinn  aller.  Und 
was  ist  Wahnsinn?  Die 
Vernunft  des  Einen. 

Boerne 


Die  Journalisten  großen  Stils,  welche  den  Begriff 
der  Zeitung  eigentlich  rechtfertigen  und  ins  Bedeu- 
tende rücken  würden,  haben  meistens  Besseres  zu 
tun,  als  Zeitungen  zu  schreiben;  es  ist  derselbe  Fall 


20 


wie  mit  den  hervorragenden  Schauspielern,  in  bezug 
auf  welche  Lichtenberg  sagt:  Leute,  die  wirklich 
spielen  könnten,  haben  Besseres  zu  tun  als  zu  spielen. 
Der  große  Journalist  —  der  des  Journalisten  spottet 
—  ist  eigentlich  der  Mensch,  dessen  Leben  vom 
Schicksal  dazu  angelegt  ist,  sich  in  Affären  zu- 
sammenzuballen; der  seine  Persönlichkeit  in  eine 
Reihe  von  Improvisationen  umsetzt,  auf  welche  er 
ebenso  sicher  rechnen  kann  wie  der  Dramendichter 
auf  seine  Stoffe,  der  Ritter  auf  seine  Abenteuer.  Der 
ideale  Journalismus  beruht  auf  der  Erscheinung,  daß 
es  Naturen  gibt,  welche  mit  der  politischen,  gesell- 
schaftlichen, geistigen  Ordnung  als  Träger  höherer 
Zukunftswerte  periodisch  in  Konflikte  geraten,  bei 
deren  scheinbar  individueller  Durchfechtung  sie  Ge- 
saratinteressen vertreten.  Der  journalistische  Charakter 
mag  außerdem  Politiker,  Künstler,  Religionsstifter 
sein  —  wesentlich  bleibt,  daß  er  der  Formel  folgt, 
sich  bei  einzelnen  Gelegenheiten  explosiv  zu  entladen 
und  sich  selbst  von  Fall  zu  Fall  zu  entdecken,  ohne 
vorbestirarate  Mission,  aber  mit  der  Fähigkeit  und 
dem  Willen,  überhaupt  Missionen  anzunehmen,  unter 
der  Devise:  ein  Mann  steigt  niemals  so  hoch,  als 
wenn  er  nicht  weiß,  wohin  er  geht.  Dazu  bedarf  es 
keinen  weiteren  Programms  als  der  Humanität.  Das 
Wort  ist  leider  verwässert  durch  den  Mißbrauch,  den 
ein  blutleerer  Liberalismus  damit  getrieben  hat,  nicht 
minder  durch  den  häufig  geübten  Versuch,  Gesinnung 
an  Stelle  von  Talent  zu  setzen;  wo  doch  wahre  Ge- 
sinnung ohne  Talent  nicht  existiert.  Aber  die  virile 
Humanität  hochherziger  Kampfnaturen  ist  und  bleibt 
eine  gewaltige  Macht  auf  Erden,  unter  der,  wenn 
sie  im  Kriegswagen  daherfährt,  der  Boden  zittert. 

Man  erkennt  diese  Männer  daran,  daß  sie,  ohne 
bewußtes  Programm,  einfach  kraft  ihres  Gemütes 
unversehens  mit  der  Welt  zusammenprallen  und  ohne 
Zaudern,  ohne  Schwanken  ihre  Person  in  die  Sache, 


—  21 


die  Sache  in  ihre  Person  verwandeln  und  die  Ange- 
legenheit, welche  sie  vertreten,  gleichsam  absichtslos 
im  Handumdrehen  zu  einer  grande  affaire  mit  bedeu- 
tenden Perspektiven  steigern.  Ihr  typisches  Schicksal 
ist,  vereinzelt  zu  bleiben,  gleichsam  um  der  Welt  zu 
zeigen,  was  ein  Einzelner  vermag,  wenn  er  nur  Mut 
und  Lust  hat,  seine  Persönlichkeit  auszuspielen. 

Seltsam,  daß  es  so  wenige  Menschen  lockt, 
dieses  Experiment  auf  sich  zu  machen  I  Den  Meisten, 
die  eine  Regung  dazu  empfinden,  raunt  allsogleich 
eine  Stimme  zu:  warum  gerade  du?  was  für  eine 
Wildnis  betrittst  du?  —  Wer  aber  nur  ein  einzigesmal 
unerschrocken  usque  ad  finem  geht,  um  den  türmen 
sich  alsbald  die  Schicksale. 

Auf  diese  Betrachtungen  hat  mich  ein  Mann 
geleitet,  der  nach  dem  gewöhnlichen  Begriff  und 
gewiß  auch  nach  seiner  eigenen  Überzeugung  das 
gerade  Gegenteil  eines  Journalisten  ist,  den  ich  aber 
als  den  Multatuli  von  Österreich  anspreche: 
Josef  Schöffel. 

Er  lebt,  und  von  seinen  Denkmälern  — 
Standbild  und  Obelisk,  sonst  das  Vorrecht  der  Toten, 
sind  ihm  lange  schon  errichtet  —  gefällt  mir  keines 
so  gut,  wie  sein  eigenes  lebendiges  Haupt,  dieses 
schneereine,  kreuzbrave  Offiziersgesicht!  Er  betrachtet 
sich  als  verschollen.  Wir  sind  nämlich  in  dem  Lande 
der  unbekümmerten  Brache  und  des  forcierten  Men- 
schenkonsums, wo  man  entweder  überflüssig  oder 
verbraucht  ist ... .  Pur  uns  aber,  die  wir  Österreichs 
Köpfe  suchen,  ist  er  aktuell. 

Sein  Leben,  von  dem  Augenblick  an,  wo  es 
geschichtlich  wird,  gipfelt  in  Campagnen.  Seine  Taten 
sind  Improvisationen,  aber  notwendige,  weil  sie  kein 
anderer  getan  hätte.  Ihr  Wert  besteht  fast  mehr 
noch  als  in  der  tätlichen  Leistung  in  der  Bezeugung 
der  Macht,  die  einem  Einzelnen  ohne  Partei,  Auftrag 
und  Befugnis  zu  üben  möglich  ist.  Seine  Gegenstände 


—  22  — 

sind  nicht  gesucht  und  erklügelt,  sondern  in  schick- 
salsvoller Verwicklung  ihm  zugewachsen ;  sein  Leben 
ist  kein  Kunstwerk,  aber  ein  prachtvolles  Natur- 
produkt. Auf  den  Rat  seines  geistlichen  Lehrers  widmet 
er  sich,  ein  Siebzehnjähriger,  dem  Soldatenstand. 
Wir  schreiben  1849.  Man  lese  in  Schöffeis  Memoiren,*) 
was  die  Armee  damals  gewesen  ist.  Es  gab  nur  eine 
Maxime,  eine  Weisheit,  eine  einzige  Lösung  aller 
Probleme:  Prügel.  Die  Kasernen  troffen  buchstäblich 
vom  Blut  der  armen  Bursche,  die  in  jahrzehntelangem 
Dienst  gefangen  gehalten  wurden.  Stumpfsinniger 
Drill,  Spießruten,  endlose  Paraden,  die  Cholera  in 
Permanenz,  Versklavung  der  Menschen  bis  zur  Be- 
wußtlosigkeit —  das  ist  der  Unterbau  des  lachlustigen 
guten  alten  Österreich.  Der  junge  Schöffel  ist  nicht 
sobald  als  »Expropriis- Gemeiner«  eingerückt,  als  er 
schon  zur  italienischen  Grenze  geschoben  wird,  nicht 
ohne  auf  der  Strecke  in  mannigfachen  verfaulten 
Baracken  dem  Ansturm  von  Wanzen,  Läusen  und 
Skorpionen  standzuhalten.  In  Venetien  wird  er  Zeuge 
unsagbarer  Greuel.  Dann  von  Regiment  zu  Regiment, 
in  auswärtigen  Kriegen,  Revolutionen,  Räuberverfol- 
gungen,  unter  tobsüchtigen  Hauptleuten  und  Majoren 
—  einer  heißt  nicht  umsonst  Fleischhacker  —  dient  er 
sich  zum  Wachtmeister  auf.  Erste  Verwicklung:  ein 
brutaler  Vorgesetzter  schlägt  ihn  ohne  Grund  ins  Gesicht. 
Schöffel  entreißt  ihm  den  De^an  und  zerbricht  ihn 
vor  der  Front.  Das  ist  der  Tod.  Nur  sehr  hohe  Pro- 
tektion vermag  es  durchzusetzen,  daß  er  für  wahn- 
sinnig erklärt  wird.  Wie  so  oft,  der  letzte  Ausweg 
zur  Vernunft.  Er  kommt  buchstäblich  ins  Tollhaus. 
Eines  Tages  plötzlich  wieder  alles  vergeben  und  ver- 
gessen. Wir  atmen  auf,  als  er,  nach  Jahren  unaus- 
sprechlicher Leiden  endlich  dem  Militär  entrinnt  und 
ins  bürgerliche  Leben  übertritt. 

•)    Josef    Schöffel,     Erinnerungen     aus     meinem    Leben. 
Jahod.a  &  Siegel,  1905. 


-  23  — 

Noch  einmal  erfaßt  ihn  das  Kriegstreiben  im 
Jahre  1866.  Als  Etappenkommandant  auf  dem  Nord- 
bahnhof erlebt  er  die  Tragödie  von  Königgrätz,  ist 
er  Zeuge,  wie  der  Abgesandte  des  Kaisers  auf  einem 
Separatzug  in  die  ungewisse  Nacht  hineinfährt,  um 
die  verirrte  Armee  zu  suchen.  Ganz  allein,  im  Halb- 
schlaf, empfängt  er  die  Verwundeten,  die  auf  den 
Lowries  hereinkommen  —  die  eleganten  Damen,  die 
sich  als  freiwillige  Pflegerinnen  im  Gefolge  der 
Herrschaften  herandrängten,  hatten  sich  beizeiten 
wieder  aus  dem  Staube  gemacht.  Ein  seltsamer 
Zwischenfall:  das  zu  Proviantzwecken  auf  dem 
Frachtenbahnhofe  eingelagerte  Getreide  begann  über 
Nacht  zu  sprießen  und  die  aufgeschichteten  Säcke 
verwandelten  sich  in  eine  grüne  Hügellandschaft, 
gekrönt  vom  Schnee  des  ausgetretenen  Zuckers  1  — 
Schöffel  leert  den  Becher  Alt-  Österreichs  zur  Neige  . . . 
So  —  mit  schmerzvoll  geöffneten  Augen  tritt  er  in 
die  Zeit  nach  66. 

Kaum  hat  die  geistlose  Unterdrückung  ein 
wenig  nachgelassen,  erscheinen  auch  schon  die  Har- 
pyen  der  Freiheit  I  Es  beginnt  das  liberale  Regime, 
von  dessen  Glanz  uns  Schöffel  weniger  erzählt,  als 
von  dem  aufblühenden  legitimen  Raub,  der  Ära  der 
Bereicherung  und  der  , Neuen  Freien  Presse'.  Es  gilt, 
den  verschuldeten  Staat  zu  rangieren.  Man  schritt 
unter  anderem  zur  Veräußerung  alles  unbeweglichen 
Staatsgutes,  insbesondere  der  Domänen  und  Forste. 
Schon  im  Beginn  der  scheinkonstitutionellen  Ära 
war  hiezu  ein  eigenes  »Staatsgüterverschleißbureau« 
eingerichtet  worden.  Die  sinnlos  verschleuderten 
Güter  wurden  von  frechen  Spekulanten  mit  Millionen- 
gewinnen weiter  verkauft.  Von  diesem  Bureau  ging 
die  Idee  aus,  den  ganzen  Wiener wald  zu  veräußern. 
Der  Finanzminister  Becke  hatte  mit  dem  Wiener 
Holzhändler  Moriz  Hirschl  einen  Vertrag  geschlossen, 
worin  diesem  das  Monopol  des  Holzbezuges  zu  Spott- 


24  - 


preisen  übertragen  wurde.  Die  Abholzung  war  als 
ein  rücksichtsloser  Raubbau  geplant  und  teilweise 
auch  schon  in  Szene  gesetzt,  als  Schöffel,  der  zur 
Sache  nicht  näher  stand  als  tausend  andere,  sein 
Quod  non  erschallen  ließ.  Die  Entwaldung  der  Erde, 
welche  heute  die  Presse  durch  ihren  Papierverbrauch 
im  größten  Maßstabe  besorgt  —  wie  uns  die  , Fackel* 
zum  Bewußtsein  brachte  —  hat  seit  jeher  die 
Korruption  gelockt.  Schöffel  war  kein  Porstmann  und 
mußte  sich  die  erforderlichen  Kenntnisse  für  den  zu 
gewärtigenden  heißen  Kampf  erst  erarbeiten.  Es 
war  gefährlich,  hier  auch  nur  in  einem  Detail  Unrecht 
zu  haben.  Aber  er  bewältigte  spielend  die  Materie, 
für  welche  ihm  der  Paohverstand  zuwuchs,  als  ihn 
das  Herz  einmal  gerufen  hatte.  Er  eröffnete  die  Cam- 
pagne  im  Neuen  Wiener  Tagblatt  —  Szeps  stellte  ihm 
bereitwillig,  solange  bis  es  Geld  bekam,  das  Blatt 
zur  Verfügung  — ,  setzte  sie  in  der  , Deutschen 
Zeitung'  fort  und  schrieb  zweimal  wöchentlich  ein 
ganzes  Jahr  durch  die  berühmt  gewordenen  Artikel 
in  jenem  körnigen  prägnanten  Stil,  dem  die  mili- 
tärische Herkunft  auf  der  Stirne  steht.  Die  ganze 
Öffentlichkeit,  alle  Vertretungskörper  sind  mächtig 
aufgewühlt.  Schöffel  hatte  sich  einen  Gegenstand 
gewählt,  um  dessen  plastische  Symbolik  ihn  alle 
Bekärapfer  der  Korruption  in  Ewigkeit  beneiden 
müssen:  der  ganze  grünwipflige  Wienerwald  ist 
Schöffeis  nie  sterbendes  Denkmal.  Es  war  wirklich 
ein  Kampf  der  Natur  gegen  die  hereinbrechende 
Verheerung  einer  geldwirtschaftenden  Zeit,  der 
Buchen  und  Eichen  aufrauschende  Empörung  gegen 
das  schimpfliche  Bündnis  von  Wucher  und  Bureau- 
kratie.  In  diesem  Kampf,  bei  dem  es  sich  um  nichts 
Geringeres  als  um  das  Klima  von  Wien  handelte, 
die  vielbesungene  Erholungsstätte  einer  ganzen  Stadt, 
stand  Schöffel  als  Publizist  allein.  Die  ,Neue  Freie 
Presse'  erklärte  ihn   für  größenwahnsinnig.     Dreißig 


-  25  — 

Jahre  später,  als  niemand  den  Bäumen  etwas  zuleide 
tat,  verlangte  sie  plötzlich  —  die  Leser  der  ,Packel' 
erinnern  sich  daran  —  ein  Schutzgesetz  für  den 
Wiener  Wald!  Nach  einem  zweijährigen  Kampf,  in 
dessen  Verlauf  Schöffel  fünfmal  wegen  Ehren- 
beleidigung, einmal  auf  Grund  des  §  300  St.-G.  wegen 
Aufreizung  zu  Haß  und  Verachtung  angeklagt, 
schließlich  wegen  einer  Kritik  des  Gerichtes  vor  das 
Schwurgericht  gestellt  wurde,  erfocht  Schöffel  einen 
vollen  glänzenden  Sieg.  Der  Vertrag  mit  Moriz  Hirschl 
wurde  rückgängig  gemacht,  die  Beamten,  welche 
sich  kompromittiert  hatten,  nach  und  nach  kalt- 
gestellt, freilich  nicht  ohne  neuerliche  kräftige  An- 
stöße Schöffeis,  die  fast  eine  besondere  Campagne 
ausmachten.  Schöffel  wurde  reicher  Lohn:  Ferdinand 
Kürnbergers  Freundschaft,  die  ihm  bis  zu  dessen 
Tode  treu  blieb. 

Schöffel,  überdies  bedankt  durch  das  Ehren- 
bürgerrecht von  mehr  als  hundert  Gemeinden, 
wird  in  den  Reichsrat  gewählt  und  lernt  die 
Politik  aus  der  Nähe  kennen.  Damals  wurde  vom 
Ministerium  Lasser  ein  Kredit  von  80  Millionen 
zur  Sanierung  des  durch  den  Börsenkrach  ent- 
standenen Schadens  gefordert.  Ein  Raubzug  auf 
das  Volksvermögen,  gegen  den  Schöffel  vergebens 
seine  Stimme  erhob.  Als  nach  der  Okkupation 
Bosniens  und  der  Herzegowina  Ersparungen  im 
Staatshaushalt  dringend  wurden,  schließt  er  sich  jenen 
an,  welche  die  Einführung  des  einfachen  Land- 
wehrsystems  an  Stelle  des  komplizierten  Wehrsystems 
fordern  und  regt,  als  dies  keinen  Anklang  findet,  die 
Bildung  von  Jugendwehren  an.  Ausgehend  von 
der  Tatsache,  daß  im  Kriege  die  Zahl  der  Nicht- 
kombattanten nahezu  ein  Viertel  der  Armee  aus- 
macht, beantragt  er,  die  Präsenzzeit  nach  Bildungs- 
grad und  Verwendungszweck  bis  zum  Halbjahr  ab- 
zustufen, insbesondere  die  Militärhandwerker,  Train- 


—  26  — 

Soldaten  u.  s.  w.  von  der  überflüssigen  Dienstzeit  zu 
befreien.  Die  ergiebigste  Verwertung  der  Volkskraft 
mit  den  geringstmöglichen  Opfern.  Diese  Gedanken 
finden  eisige  Ablehnung.  Heute,  nach  einem  Menschen- 
alter  werden  diese  Dinge  als  neue  Ideen  und  große 
Entdeckungen  auf  die  Tagesordnung  gestellt,  aller- 
dings ohne  daß  Schöffeis  dabei  gedacht  würde.  So 
langsam  arbeitet  das  Gehirn  der  Völker  und  so 
schnell  vergißt  es. 

Glücklicher  ist  Schöffel  doit,  wo  er  unmittelbar 
verwaltet,  wo  er  sein  Können  in  die  Wagschale 
werfen  kann.  So  als  Bürgermeister  von  Mödling,  wo 
er  eine  Tätigkeit  entfaltet,  welche  an  das  Wort  des 
Themistokles  erinnert:  Gebt  mir  eine  Stadt  und  ich 
werde  sie  schön  und  blühend  machen.  Er  besitzt  die 
eigentümliche  Begabung  des  Verwaltungsmenschen, 
bei  jedem  auftretenden  Gegenstand  den  Anteil, 
welchen  Sache  und  Mensch,  Ding  uud  Gesetz  daran 
haben,  mit  einem  einzigen  durchdringenden  Blick  zu 
zerlegen.  Eine  Straße  ist  kein  lebloses  Ding,  sondern 
ein  Komplex  von  menschlichen  Verhältnissen,  von 
Technik,  Politik,  Geschäft,  in  dem  sich  niederste 
und  höchste  Interessen  manchmal  labyrinthisch  ver- 
knäueln.  Dasselbe  gilt  von  Häusern,  Fluren,  Weiden. 
Diese  Fäden  durchblicken,  auseinanderlösen  und 
neu  verknüpfen  —  heißt  verwalten.  Das  Ver- 
waltungstalent beruht  in  letzter  Linie  auf  einer 
leidenschaftlichen  Liebe  zu  den  konkreten  Dingen, 
einem  Verstand,  der  nichts  Vages  duldet,  sondern 
rastlos  und  restlos  den  letzten  Gegenstand  sucht,  der 
den  blassen  Begriff  erst  belegt.  Hierin  liegt  vielleicht 
der  Grund,  warum  der  Liberalismus,  der  eine  ge- 
wisse Vorliebe  für  ungedeckte  Begriffe,  weiterhin 
für  unbedeckte  Werte  hegt,  in  der  Verwaltung  oft- 
mals so  schlecht  abschneidet.  Echte  Verwaltungs- 
talente sind  geborene  Feinde  jeglicher  Korruption, 
auch  der  begrifflichen.    Die  Verwalter  sind  übrigens 


27 


unter  den  politischen  Menschen  ein  besonderer  Schlag. 
Sie  widmen  sich  gerne  begrenzten  Bezirken,  am 
liebsten  einer  Stadt.  Politik  hängt  mit  der  Erde  zu- 
sammen. Es  ist  aber  ein  tiefgreifender  Unterschied, 
Wie  groß  die  Kalotte  ist,  die  einer  umspannt;  ob  er 
in  Reichen  denkt,  wie  Bismarck,  in  der  Nation  wie 
Gambetta,  oder  sich  mit  einer  Stadt  identifiziert  wie 
etwi  Lueger.  Die  Stadt-Denker  sind  Liebhaber  der 
Verwaltung  und  frondieren  gelegentlich  gegen  den 
Staat.  Die  Verteidigung  des  Wiener  Waldes  war  ein 
Landstadtgedanke. 

Schöffel,  seit  1882  Landesausschuß,  bringt  mit 
sicherem  Griff  Ordnung  in  die  Straßenwirtschaft  des 
Landes,  vas  keine  leichte  Sache  ist,  da  auf  der  einen 
Seite  der  Kampf  mit  dem  Staat,  auf  der  andern  mit 
den  Schotterlieferanten  und  deren  Gevatterschaften 
zu  führen  i&t.  Hier  nistet  in  den  engsten  Maschen 
Mißwirtschaft  und  Korruption.  Wieder  eine  bedeutende 
Aufgabe  bietet  sich  Schöffel,  als  es  sich  darum 
handelt,  die  alte  Landplage  Vagabundage  auszu- 
rotten. Wie  er  da  ein  verwickeltes,  durch  Jahr- 
hunderte fortgeschlepptes  Übel,  dem  keine  grausame 
Gewalt,  kein-  Schub  und  keine  Gendarmerie  bei- 
kommen kann,  verwaltungstechnisch  löst,  indem  er 
die  trübe  unbestimmte  Flut  des  fahrenden  Volkes  in 
ihre  Bestandteile  zerlegt  und  nach  gewonnener  Über- 
sicht geschickt  disponiert  —  darin  zeigt  sich  die 
Macht  eines  ordnenden  Geistes.  Da  sind  Arbeitscheue, 
Verbrecher,  unglückliche  Kinder,  arbeitsuchende 
Handwerksburschen,  brave.  Arbeiter  —  für  das 
stumpfe  Auge  ein  undifferenzierter  Haufe.  Er  löst 
sie  mit  sicherem  Griff  auseinander  und  schafft  durch 
ein  System  von  Naturalverpflegsstationen  wohltätige 
Zufluchten  und  Stützpunkte  der  Wiederaufrichtung. 
Er  hat  nicht  die  Gesellschaftsordnung  gerettet,  aber 
unendlichen  Jammer  eingedämmt  und  das  Land  von 
arger  Plage  erleichtert.  Die  Dankadressen  von  hundert 


—  28 


Gemeinden  bezeugen  den  durchgreifenden  Effekt,  die 
geleistete  Wohltat.  Wie  der  Aphorist  der  Wahrheit  oft 
näher  kommt  als  der  systematische  Denker,  so  ist 
dem  Verwaltungsmann  öfter  vergönnt,  Abgerundete* 
zu  schaffen  als  dem  programmatischen  Politiker. 

Wiederum  rein  durch  persönliches  Erleben 
kommt  er  zu  seiner  liebsten  Lebensaufgabe  :  er  wird 
Vater  der  Waisen.  Es  ist  die  Freundschaft  mit  Josef 
Hyrtl,  die  ihn  zu  diesem  Wege  geleitet.  Die  Be- 
kanntschaft vermittelt  —  ein  TotenschädeJ,  den 
Schöffel  in  einem  verfallenen  Gewölbe  findet  und  ob 
seiner  Abnormität  dem  berühmten  Anatomen  zum 
Geschenk  macht.  Das  Unikum  inspirierte  Hyrtl  zur 
Abfassung  einer  kleinen  Schrift.  So  kann  ein  un- 
gewöhnlicher Schädel  auch  nach  dem  Tode  noch 
ungewöhnliche  Menschen  zusammenbringen.  In  die- 
sem scheinbaren  Zufall  ist  nichts  zufällig.  Der  Mann 
sieht.  Grund  genug,  mit  Sehern  zusammenzutreffen. 
Kürnberger  war  inzwischen  gestorben.  Schöffel  und 
Hyrtl  werden  Freunde  und  sie,  die  jeder  einzeln  für 
unverträglich  gelten,  verbinden  sich  brüderlich  und 
vertragen  sich  unvergleichlich.  Schöffel  wird  nach 
dem  Tode  des  Freundes  Kurator  der  Hyrtl- Stiftung 
und  lebt  von  da  ab  für  die  Verwaisten. 

Auch  in  diesem  Wirkungskreise  erlebt  er  seine 
typische  Inspiration,  wie  überall,  wohin  er  tritt.  Als 
die  Regierung  im  Jahre  1894  eine  Gesetzesvorlage 
einbringt,  um  Teile  der  Gebarungsüberschüsse  der 
Waisenkassen  für  Amtsgebäude  in  Galizien  zu  ver- 
wenden, da  hat  Schöffel  wieder  sein  Stichwort.  Er 
beweist,  daß  die  vierzehn  Millionen  Gulden  —  so 
gewaltig  war  die  Summe,  die  sich  im  Laufe  der  Zeit 
aufgestapelt  hatte  —  ausschließlich  und  allein  aus 
zurückbehaltenen  Zinsen  von  hinterlegten  Waisen- 
geldern erwachsen  sind  und  folglich  die  einzigen 
rechtmäßigen  Anwärter  auf  dieses  Geld  die  Kinder 
des  Elends  selber  sind.  So   rettet  er    das   Vermögen 


-  29  - 


vor  dem  Zugriff  zahlreicher  Unberufener.  Im  Jahre 
1901  beschließt  der  Reichsrat  das  Gesetz,  womit  die 
Verwendung  der  Gebarungsüberschüsse  der  gemein- 
schaftlichen Waisenkassen  für  die  Pflege  und  Erzie- 
hung armer  Waisen  bestimmt  wird. 

Das  ist  so  Einiges  aus  Schöffeis  reichem,  be- 
wegten, fruchtbaren  und  trotz  harter  Stürme  eigent- 
lich glücklichem  Leben.  Ihn  begleitet  das  Geheimnis 
allen  Heldentums :  eine  prachtvolle  Naivität,  der- 
zufolge  er  an  alle  Dinge  herantritt,  als  wäre  er  allein 
auf  der  Welt:  voraussetzungslos.  Der  Gedanke: 
wenn  das  richtig  und  möglich  wäre,  hätten  es  schon 
andere  gedacht  und  getan,  ist  der  Tod  jeder  herz- 
haften Tat.  Menschen  wie  Schöffel  sagen :  mich 
triffts,  also  muß  ich  es  tun.  Soldaten  des  Lebens. 
Rührend  ists,  wie  der  Mann,  mitten  im  dicksten 
Getriebe  der  Tagespolitik,  das  er  doch  durchschaut, 
seine  helle  Unschuld  bewahrt  und  des  Staunens  kein 
Ende  findet,  daß  so  viel  Lüge  in  der  Welt  ist.  Er 
staunt  über  die  gebrechlichen  Ehrenworte  der  Minister, 
über  den  Schmutz  der  Parteien,  die  Verräterei  der 
Presse.  Zum  Schluß  ergreift  ihn  eine  Weltunter- 
gangsstimmung, wie  sie  etwa  Karl  Kraus  in  seiner 
»Apokalypse«  erlebte.  Die  Enttäuschung  über  die 
Entwicklung  der  Christlichsozialen,  auf  die  Schöffel 
große  Hoffnungen  gesetzt  zu  haben  scheint,  gibt  ihm 
schließlich  den  Stoß  in  das  Herz,  nach  welchem  die 
andere  Partei  so  lange  vergeblich  gezielt.  Politiker 
von  Geblüt  finden  sich  mit  den  Macchiavellismus 
besser  ab.  Schöffel  aber  bleibt  immer  ein  Mensch 
und  der  Mensch  ist  unter  den  Menschen  ein  Outsider. 

Schöffel  ist  das  Exemplar  eines  subjektiven 
Politikers.  Große  Staatsgebilde  liegen  seinem  Sin- 
nen fern,  wenn  er  auch  durch  die  Berührung  mit 
Staatsproblemen  in  interessanter  Weise  befruchtet 
wird.  Ihm  fehlt  der  Wille  zum  Kompromiß,  die 
eigentümliche    Freude    an   jener    geistigen     Arbeit, 

285-28 


30 


welche  in  der  Verschmelzung  der  Gegensätze  und 
Ausgleichung  der  Ideen  liegt  und  sich  beim  Politi- 
ker von  Beruf  als  Vergnügen  an  der  Taktik  kund- 
gibt. Geborene  Politiker  schwimmen  mit  Lust  durch 
die  Kompromisse  hindurch  und  listen  ihren  Lebens- 
gedanken durch  eine  labyrintische  Welt.  Sie  sind 
eben  >poli tisch«,  wie  der  Sprachgebrauch  sinnvoll 
sagt,  die  schmutzige  Materie  zieht  noch  die  Reinen 
unter  ihnen  an,  denn  sie  ist  ihr  Element.  Darum  ist 
Schöffel  zwar  eine  Persönlichkeit,  aber  keine  eigent- 
lich politische,  sondern  eine,  welche  die  Politik 
zwingt,  sich  mit  ihr  auseinanderzusetzen,  ärgerlich 
oder  lächelnd,  knirschend  oder  respektvoll,  je  nach- 
dem. Immerhin  fehlt  seinem  Leben  der  durchgreifende 
konstruktive  Zusammenschluß,  wie  auch  seinen 
Memoiren,  welche  kein  Kunstwerk  sind,  was  sie 
leicht  hätten  sein  können,  aber  doch  schön  sind. 
Und  was  tuts?  Er  steht  in  der  Geschichte  als  Einer, 
der  stark  und  beherzt  war  und  sich  in  den  Strudel 
gestürzt  hat,  wo  er  am  wildesten  brauste,  dessen 
Werke  heute  noch  grünen,  und  der  zurückgekommen 
ist  als  ein  Unbefleckter.  Wohl  dem,  der  ihn  nennen 
darf,  ohne  zu  erröten ! 


Aphorismen*) 
Von  Karl  Kraus 

Was  Berlin  von  Wien  auf  den  ersten  Blick 
unterscheidet,  ist  die  Beobachtung,  daß  man  dort 
eine  täuschende  Wirkung  mit  dem  wertlosesten 
Material  erzielt,  während  hier  zum  Kitsch  nur  echtes 

verwendet  wird. 

• 

Im  Liebesleben  der  Menschen  ist  eine  vollstän- 
dige Verwirrung  eingetreten.  Man  begegnet  Misch- 
formen,   von    deren  Möglichkeit    man    bisher    keine 

*)  Aus  dem  .Simplicissimus'. 


31  - 


Ahnung  hatte.  Einer  Berliner  Sadistin  soll  kürzlich 
das  Wort  entfahren  sein:  Elender  Sklave,  ich  be- 
fehle dir,  mir  sofort  eine  herunterzuhauen  1  .  . 
Worauf    der    betreffende  Assessor    erschrocken     die 

Flucht  ergriffen  habe. 

* 

Schon  mancher  hat  durch  seine  Nachahmer  be- 
wiesen, daß  er  kein  Original  ist. 

* 

Entwicklung  ist  Zeitvertreib  für  die  Ewigkeit. 

Ernst  ist's  ihr  nicht  damit. 

* 

Ich  habe  manchen  Gedanken,  den  ich  nicht 
habe  und  nicht  in  Worten  fassen  könnte,  aus  der 
Sprache  geschöpft. 

» 

Der  Unsterbliche  erlebt  die  Plage  aller  Zeiten. 


Eine  Rede 

Der  Abgeordnete  Adalbert  Graf  Sternberg  hat 
in  der  Debatte  über  das  Finanzgesetz  die  folgende 
Rede  gehalten : 

Es  kann  nicht  gleichgültig  sein,  welche  Bedeutung  das  Ministerium 
dem  Hause  einräumt.  Der  Finanzminister  hat  das  Finanzgesetz  nicht 
etwa  auf  den  Tisch  des  hohen  Hauses  gelegt,  sondern  auf  den  Tisch 
der  .Neuen  Freien  Presse'.  Er  hat  es  dieser  Zeitung  allein  ausgeliefert, 
so  daß  sie  das  Gesetz  veröffentlichen  konnte,  während  die  anderen 
Zeitungen  es  nicht  konnten  und  das  Haus  das  Gesetz  erst  aus  der 
, Neuen  Freien  Presse'  entnehmen  konnte.  Ein  solcher  Fall  wäre  in 
keinem  Lande  der  Welt  möglich  und  wird  sich  auch  hier  hoffentlich 
nicht  wiederholen.  Seit  Jahrzehnten  führen  die  ganze  hohe  Bureaukratie 
und  alle  einflußreichen  Leute  in  Österreich  einen  Tanz  um  die  .Neue 
Freie  Presse'  auf.  In  der  ganzen  Welt  wird  sie  als  offiziöses  öster- 
reichisches Organ  angesehen,    als  Organ  des  Ministeriums    des  Äußern, 


—  32  — 


des  Ministeriums  des  Innern,  der  ganzen  Monarchie.  Bei  allen  Bot- 
schaften und  Konsulaten  findet  man  als  einzige  österreichische  Zeitung 
die  .Neue  Freie  Presse'.  Die  Botschaften  und  Gesandtschaften  erhalten 
Pauschalien,  um  Zeltungen  zu  halten.  Diese  Pauschalien  werden  aber 
ausschließlich  für  die  ,Neue  Freie  Presse'  verwendet.  Warum?  Weil  die 
Regierungen  wieder  der  .Neuen  Freien  Presse'  allein  ihre  Nachrichten 
ausliefern.  Das  ist  ein  für  die  Auffassung  der  Politik  Österreichs  im 
Auslande  ungeheuer  schädlicher  Circulus  vitiosus.  Dabei  hat  die  .Neue 
Freie  Presse'  ihre  Hände  in  allen  Dispositionsfonds  des  In- 
und  Auslandes.  Wenn  die  .Neue  Freie  Presse'  die  Politik  irgend 
jemandes  schützt,  tut  sie  es  nicht  umsonst.  Ein  liberaler  Stadtvertreter 
habe  dem  Redner  gesagt:  Die  .Neue  Freie  Presse'  hat  unsere  Partei 
umgebracht,  denn  sie  nimmt  nicht  einmal  die  Berichte  über  die  liberalen 
Versammlungen  auf,  wenn  sie  nicht  dafür  gezahlt  wird.  Ich  bin  jetzt  in 
der  Türkei  gewesen.  Da  hat  mir  ein  türkischer  Würdenträger  gesagt :  W  i  r 
Türken  sind  ein  unglücklichesVolk;  wir  müssen  der 
.Neuen  Freien  Presse'  sogar  doppelt  so  viel  bezahlen 
als  jedes  andere  Land.  Man  wird  sagen,  das  sei  nicht  wahr. 
Aber  man  möge  nur  die  Artikel  der  .Neuen  Freien  Presse'  über  den 
gewesenen  Sultan  lesen.  Es  gab  keinen  großartigeren  Monarchen,  so- 
lange er  Geld  hatte,  und  es  gibt  jetzt  keinen  größeren  Schweinehund, 
weil  er  kein  Geld  hat.  Solange  Graf  Goluchowski  im  Amte  war,  war 
er  der  fleißigste,  begabteste  Minister  der  Welt.  Kaum  war  er  gestürzt, 
konnte  die  .Neue  Freie  Presse'  nicht  genug  über  den  unheilvollen 
Mann  sprechen.  Die  .Neue  Freie  Presse'  nimmt  nicht  nur,  sie. gibt  auch 
Geld.  Gibt  man  einer  Korrespondenz  eine  Nachricht,  so  kommt  ein  Ver- 
treter der  .Neuen  Freien  Presse'  und  zahlt  den  Betreffenden  dafür,  daß 
er  die  Nachricht  keiner  anderen  Zeitung  gibt.  Die  .Neue  Freie  Presse' 
kämpft  durch  Fälschung  der  Nachrichten,  durch  Verschweigung.  Der 
Präsident  Dr.  Pattai  wird  am  besten  wissen,  daß  sein  Name  nie  in  der 
.Neuen  Freien  Presse'  gestanden  ist,  bis  zum  Augenblick,  wo  er  zum 
Präsidenten  gewählt  worden  ist.  Ihren  wirtschaftlichen  Teil  hat  die 
,Neue  Freie  Presse'  so  durchgeführt,  daß  Herr  Benedikt  an  der  Börse 
der  steinreichste  Mann  von  Wien  geworden  ist.  Sie  hat  Tränen 
darüber  vergossen ,  daß  der  flüchtige  Wucherer  Reicher  zugrunde 
gegangen  ist,  und  die  Leute  beschuldigt,  daß  sie  zu  hohe  Zinsen  von 
ihm  genommen  haben,  von  ihm,  der  uns  alle,  als  wir  jung  waren, 
mit  20  Prozent  durch  Jahre  ausgewuchert  und  den  ganzen  Jockei- 
klub um  sein  Geld  gebracht  hat.  Als  dieses  Parlament  die  erste 
Sitzung  hielt,  las  man  am  nächsten  Tage  in  der  .Neuen  Freien  Presse': 
die  ganzen  Galerien  wurden  unruhig  und  alles  rief:  Wo  ist  Hock? 
Wo  ist  Hock  ?  Kein  Mensch  hat  gewußt,  daß  ein  Hock  existiert.  Un- 
längst erschien  ein  Feuilleton,  worin  Krumau  als  der  langweiligste 
Ort  erklärt  wurde.  Da  die  deutsch-böhmischen  Städte  aufgebracht 
waren  und  das  Blatt  zurückschickten,  erschien  ein  zweites  Feuilleton, 
worin  es   hieß,    Krumau    sei    die    unterhaltendste  Stadt.     Seine  eigenen 


33 


Diener  lasse  aber  das  Blatt  verhungern.  Als  der  Abg.  Dr  Soukup  hier 
dem  Herausgeber  der  .Neuen  Freien  Presse'  vorwarf,  er  wuchere  mit 
Menschengeist  und  Menschenkraft,  hat  kein  einziges  Blatt  diesen  Passus 
gebracht,  nicht  einmal  die  , Arbeiter-Zeitung'.  Von  dem  Journalisten  Katz  in 
Prag  schreibt  die  .Neue  Freie  Presse'  in  einem  Leitartikel,  die  Böhmen 
hätten  ihn  ums  Leben  gebracht.  Tatsächlich  ist  er  in  eine  Kloake  gesprungen, 
weil  ihn  die  .Neue  Freie  Presse'  hat  verhungern  lassen.  Als  Redner  nach 
dem  Burenkriege  in  London  war,  habe  ihn  der  englische  Korrespondent 
der  , Neuen  Freien  Presse'  angepumpt,  indem  er  sagte,  er  habe  nichts  zu 
essen,  weil  das  Blatt  ihn  nicht  zahle.  Die  Presse  habe  die  Pflicht,  ob- 
jektiv zu  berichten,  und  Redner  wundere  sich,  daß  das  Ehrengericht 
der  Journalisten  Herrn  Benedikt  nicht  schon  seiner  Ehre 
enthoben  habe  ....  Die  ,Neue  Freie  Presse'  ist  auch  die  Mutter 
des  Antisemitismus  in  Österreich.  Sie  hat  durch  ihre  Christenver- 
folgung, durch  ihren  Haß  gegen  das  Christentum,  durch  ihr  nieder- 
trächtiges, verleumderisches  Vorgehen  gegen  Dr.  Lueger  und  solche 
anständigen  Leute,  die  die  .Neue  Freie  Presse'-Korruption  aus  der  Stadt 
hinausgejagt  haben,  die  Leute  zur  Abwehr  des  AntiChristentums  genötigt. 
Die  .Neue  Freie  Presse'  hat  sogar  die  Verurteilung  des  Hilsner  auf 
dem  Gewissen,  denn  sie  hat  die  Geschwornen  zu  beeinflussen  gesucht 
und  die  ganze  Sache  zu  einem  Politikum  gestempelt.  Hilsner  wäre  nie 
verurteilt  worden,  wenn  die  .Neue  Freie  Presse'  das  Volk  nicht  gereizt 
hätte.  Man  sagt  immer,  der  Kaiser  lese  die  ,Neue  Freie  Presse'.  Jeder 
wisse  nun,  daß  der  Kaiser,  wenn  er  von  einer  Unkorrektheit  erfahre, 
erbarmungslos  gegen  den  Schuldigen  vorgehe.  Statt  aber  keine  Unkor- 
rektheiten  zu  begehen,  haben  die  Minister  bisher  immer  versucht,  die 
.Neue  Freie  Presse'  zum  Schweigen  zu  bewegen,  damit  der  Kaiser  keine 
Unkorrektheiten  erfahre.  Das  hat  dahin  geführt,  daß  das  Ministerium 
eine  Art  Sklaveneinrichtung,  ein  Gynäzeum  des  Herrn 
Benedikt  geworden  ist.  Sogar  das  Sinken  des  dynastischen  Gefühls  in 
Österreich  hat  hauptsächlich  die  .Neue  Freie  Presse'  verschuldet,  denn  wenn 
jemand  für  Geld  einen  Artikel  schreibt,  den  er  nicht  fühlt,  schreibt  er  ihn 
so,  wie  die  .Neue  Freie  Presse'  über  den  Kaiser  oder  die  Erzherzoge 
schreibt.  Das  übt  auf  das  lesende  Publikum  die  schlechteste  Whkung 
aus,  und  heute  genügt  in  Österreich,  daß  die  .Neue  Freie  Presse'  je- 
manden lobt,  damit  ihn  die  ganze  Bevölkerung  haßt.  Deshalb  möchte 
Redner  dem  Verwalter  des  Dispositionsfonds  des  allerhöchsten  Kaiser- 
hauses raten,  die  .Neue  Freie  Presse'  dafür  zu  zahlen,  daß  sie  Angriffe 
erhebe.  Denn  diese  Lobeshymnen  der  .Neuen  Freien  Presse'  haben 
das  Vertrauen  und  die  Liebe  zu  Thron  und  Dynastie  erschüttert. 
Die  .Neue  Freie  Presse'  ist  auch  die  Quelle  des  Unfriedens. 
Wenn  sich  einmal  die  Slawen  mit  den  Deutschen  vertragen  wollen, 
kommt  ein  Brandartikel  der  .Neuen  Freien  Presse'.  Ein  altes  Wort 
wendet  sich  gegen  das  Fischen  im  Trüben  und  ein  griechischer  Dichter 
hat  geschrieben,  daß,  wenn  in  einem  Staatswesen  Anarchie  ausbricht, 
der  Herrscher  immer    der    schlechteste  Falott  ist,    und    dieser  Falott  ist 


-  34  — 


in  diesem  Falle  die  ,Neue  Freie  Presse'  ....  Jeder  Mensch 
weiß,  daß  die  ,Neue  Freie  Presse'  käuflich  ist,  und  Redner  sei  über- 
zeugt, daß  auch  eine  Reihe  von  Abgeordneten  schon  in  die  Tasche 
habe  greifen  müssen,  damit  etwas  in  der  .Presse'  stehe.  Da  darf  es 
nicht  wundernehmen,  daß  alle  hohen  Herren,  das  Ministerium  des 
Äußern,  die  Regierung  einzig  und  allein  unter  dem  Banne  dieses  ge- 
fährlichen, rachsüchtigen  Revolverjournalisten  stehen,  von  dem  man 
wisse,  daß  er  käuflich  ist.  Wenn  heute  ein  Krieg  ausbricht  und  die 
Regierung,  wie  bisher,  im  vorhinein  der  .Neuen  Freien  Presse'  alles 
mitteilen  wird  und  die  .Neue  Freie  Presse'  dann  vom  Feinde  gekauft 
wird  —  denn  Skrupel  und  Nationalitäts^efühl  hat  so  ein  Benedikt 
nicht  — ,  so  könne  man  ermessen,  welchen  Gefahren  man  entgegen- 
gehe, wenn  ein  solches  Gaunerblatt  durch  ein  ganzes  System  erhalten 
wird.  Wer  weiß,  wie  viel  ausländisches  Geld  schon  durch  die  Fichte- 
gasse  gekommen  ist,  und  welches  Unheil  schon  durch  solch  ausländi- 
sches Geld  angerichtet  wurde,  weil  sich  dieser  käufliche  Mensch  zu 
jedem  Dienst  hergibt. 

Für  solche  Majestätsbeleidigung  —  die  gefahr- 
vollste, die  es  gibt  —  sind  die  wahren  Patrioten 
dankbar.  Diese  Rede  hat  Hand  und  Fuß.  Die  ,  Arbeiter- 
Zeitung'  aber  nannte  sie  »ein  schier  endloses  Ge- 
schimpfe über  die  ,Neue  Freie  Presse',  das  der  Prä- 
sident offenbar  als  zum  Finanzgesetz  gehörig  erachtete 
und  das  die  Zuhörer  mit  großer  Heiterkeit  quittierten«. 
Die  sozialdemokratische  Hilfe,  die  dem  Börsenblatt 
geleistet  wird,  ist  freilich  weniger  heiter.  Nicht 
einmal  so  heiter  wie  die  Hilfe,  welche  die  ,Zeit'  dein 
Grafen  Sternberg  leistet.  Diese  würdige  Gegnerin  der 
, Neuen  Freien  £*resse'  hat  bekanntlich  allen  Grund, 
namentlich  den  Vorwurf  der  Ausbeutung  zu  unter- 
streichen. Sie  hat  ja  schon  lange  keinen  Mitarbeiter 
verhungern  lassen  und  zahlt  ihre  Feuilletonhonorare 
pünktlich,  wenn  sie  geklagt  wird.  Und  weil  die  ,Neue 
Freie  Presse'  das  Monopol  der  politischen  Nachrichten 
an  sich  gerissen  hat,  ist  die  gewissenhafte  ,Zeit'  ge- 
zwungen, sie  aus  Berliner  Blättern  zu  stehlen.  Wenn 
den  Grafen  Sternberg  der  Haß  der  ,  Arbeiter-Zeitung' 
lehren  sollte,  daß  er  eine  gute  Sache  vertritt,  so  rnö^e 
er  sich  durch  die  Liebe  der  ,Zeit'  nicht  von  solcher 
Überzeugung  abbringen  lassen.  Der  Abscheu  vor  der 


-  35 


, Neuen  Freien  Presse'  ist  ein  Thema,  das  in  jede 
parlamentarische  Debatte  paßt.  Und  Graf  Sternberg 
verdient  sich  den  Dank  aller,  denen  Humanität  und 
Scham  den  Anblick  ersparen  möchte,  wie  der  ehr- 
würdige Kadaver  dieses  Reichs  von  einer  Hyäne 
beraubt  wird. 


Glossen 


Wilhelm  II.  regiert  bei  bengalischer  Beleuchtung.  Unermüd- 
lich in  dem  Bestreben,  der  , Woche'  neue  Gruppenbilder  zu  liefern, 
hat  er  jüngst  auch  den  Kanzle:  Wechsel  öffentlich  vorgenommen. 
Leider  mußten  die  Besucher  des  politischen  Freilufttheaters  mit  einer 
Pantomime  vorlieb  nehmen.  Denn  wenn  man  am  jenseitigen  Ufer  der 
Spree  stehen  soll,  um  den  Kaiser  im  Schloßgarten  regieren  zu 
sehen,  so  haperts  mit  der  Akustik.  Immerhin  kam  man  auf  seine 
Kosten.  Das  Programm  —  von  der  ,Neuen  Freien  Presse'  gleich  zwei- 
mal reproduziert  —  gibt  die  folgende  Anleitung  zum  Verständnis 
der  Handlung: 

Eine  Viertelstunde  lang  schreitet  der  Kaiser  allein  mit  langen 
Schritten  durch  die  Gartenwege.  Es  erscheint  ein  Lakai*.  Bald  darauf 
betritt  Fürst  Bülow  den  Garten  ;  ernst,  im  schwarzen  Rock,  den  Zylinder 
in  der  Hand.  Der  Kaiser  geht  ihm  entgegen  und  schüttelt  ihm  herzlich 
die  Hand.  Nebeneinander  gehen  nun  Kaiser  und  Kanzler  in  lebhaftem 
Gespräch.  Bisweilen  ergreift  der  Kaiser  den  Arm  des  scheidenden  Kanz- 
lers. Die  Unterredung  währt  etwa  zwanzig  Minuten.  .  .  Der  Kaiser  ist 
wieder  allein.  Wenige  Minuten  später  erscheint  der  neue  Mann,  Herr 
v.  Bethmann-Hollweg.  .  .  Eine  herzliche  Begrüßung,  dann  eine  Promenade 
von  mehr  als  drei  Viertelstunden.  Lebhaft  gestikulierend,  spricht  der 
Kaiser  zunächst  geraume  Zeit.  Herr  v.  Bethrnann  schreitet  neben  dem 
Kaiser  her  und  nickt  fortwährend  zu  seinen  Äußerungen.  Dann  ver- 
tauschen sich  die  Rollen  :  Herr  von  Bethmann-Hollweg  spricht  mit 
temperamentvollen  Bewegungen,  der  Kaiser  geht  neben  ihm  her  und 
erwidert  gleichfalls  in  lebhafter  Weise.  Zum  Schlüsse  schüttelt  der  Kaiser 


—  36 


dem  Staatssekretär  lange  die  Hand  und  winkt  ihm  noch  freundlich 
zu,  bis  seine  hohe  Gestalt  aus  dem  Garten  schwindet.  Pause.  Dann 
nahen  drei  Herren,  die  Gesandten  und  Bundesratsbevollmächtiglen  der 
anderen  drei  deutschen  Königreiche.  Der  Kaiser  führt  die  Unterhaltung. 
Das  Gespräch  währt  fast  eine  Stunde.  Nach  ihnen  erscheinen  Staats- 
sekretär Sydow,  Minister  Delbrück,  Unterstaatssekretär  Wermuth  und 
Oberpräsident  v.  Trott  zu  Solz.  Die  Unterredung,  die  eine  knappe  halbe 
Stunde  in  Anspruch  nimmt,  wird  auf  Seiten  des  Kaisers  mit  noch 
größerem  Temperament  geführt  als  die  vorhergegangenen.  Der  Kaiser 
führt  ununterbrochen  das  Wort.  Er  scheint  erhitzt,  lüftet  wiederholt  die 
Mütze,  gestikuliert  lebhaft  und  macht  mehrfach  eine  Bewegung  mit  der 
Hand,  als  ob  er  die  Luft  durchschneiden  wolle.  Die  vier  Herren  stehen 
an  der  Laube,  die  Hände  auf  den  Rücken  gelegt,  und  hören  zu  .  .  . 
Um  1  Uhr  mittags  verläßt  der  Kaiser  den  Garten.  .  .  Fürst  Bülow 
verläßt  mit  tiefernstem  Ausdruck  die  Szene.     . 

Das  Publikum  applaudiert.  Es  hat  sich  überzeugt,  daß  in 
dem  Stück  kein  Intrigant  vorkommt.  Namentlich  das  charak- 
teristische Mienenspiel  des  Hauptdarstellers  hat  allgemein  Anklang 
gefunden.  Die  Befürchtung,  daß  faule  Reichsäpfel  auf  die  Bühne 
geworfen  werden  könnten,  hat  sich  als  grundlos  erwiesen.  Man 
glaubt,  daß  nun  endlich  die  schmerzlichste  Lücke  im  Berliner 
Theaterleben  ausgefüllt  ist.  Dieser  Wilhelm  ist  der  Ferdinand  Bonn 
unter  der  Monarchen.  Er  wird  bei  der  nächsten  Regierungshandlung 
ein  Violinsolo  einlegen.  Bei  ungünstiger  Witterung  findet  der 
Kanzlerwechsel  auf  der  Terrasse  statt. 


DerJacht>Hohenzollern«,  Kronzeugin  homosexueller  Launen, 
ist  es  diesmal  erspart  geblieben,  im  Fjord  von  Moabit  zu  landen. 
Aber  der  charaktervolle  Freund  des  Fürsten  Eulenburg  beehrt 
auch  in  diesem  Sommer  wieder  Norwegens  Küste.  Ein  Paket 
alter  Zeitungsausschnitte  kommt  mir  zufällig  in  die  Hand, 
die  ich  selbst  einmal  —  im  Sommer  1901  —  von  einer 
norwegischen  Reise  mitgebracht  habe.  Im  ,Dagblad'  von 
Christiania,  einem  Regierungsblatte,  war  am  11.  Juli  jenes 
Jahres  ein  Artikel  —  > Brutus«  gezeichnet  -  erschienen,  der  der 
Redaktion  noch  wochenlang  auf  den  Fingern  brannte.  Seine 
Meinung  wurde  in  Berlin  bekannt,  weckte  Unruhe  in  der 
deutschen  Presse,   Schadenfreude   bei  dem  gegnerischen  ,Öreblad' 


37   - 


und  Reue  beim  .Dagblad'  selbst,  das  mit  jedem  Tag  entschiedener 
die  Gemeinschaft  mit  jenem  Brutus  ablehnte  und  ein  redaktionelles 
Versehen  beklagte.  Trotzdem  hätte  sich  nicht  leugnen  lassen,  daß 
die  Zuschrift  der  Ausdruck  einer  vorhandenen  Volksstimmung 
war.  Denn  man  konnte  ja  nicht  annehmen,  daß  im  weiten  Norwegen 
bloß  ein  einziger  grundsätzlich  übelwollender  Mann  dem  deutschen 
Kaiser  aufsässig  sei.  Die  Zuschrift  lautet  in  deutscher  Übersetzung: 
Ein  unvermeidlich  er  Herr 
Kaiser  Wilhelm  regiert  das  >große  Vaterland«  nun  schon  dreizehn 
Jahre  lang  und  in  jedem  dieser  dreizehn  Jahre  ist  er  dazugekommen,  uns 
einen  Besuch  abzustatten.  Abgesehen  von  dem  schwülen  Empfang  im 
Jahre  1890,  als  Christiania  in  der  Sommerhitze  dastand  und  wir  vor 
lauter  Begeisterung  auf  Brücken  und  Straßen  hinter  ihm  her  jubelten, 
haben  wir  diesen  jährlichen  Besuch  durchgehends  mit  Ruhe  hingenom- 
men. Unsere  Behörden  haben  sich  zuvorkommend  erwiesen,  das  Tele- 
graphenwesen  hat  seine  Pflicht  erfüllt  und  der  Kabel  zwischen  Odde 
und  dem  Kaiserschiff  hat  klaglos  funktioniert.  Der  Kaiser  hat  die  Höf- 
lichkeit erwidert,  indem  er  1000  Kronen  für  die  Restaurierung  des 
Domes  von  Drontheim  widmete,  des  Domes,  welcher  1888  zur  Abhal- 
tung eines  Trauergottesdienstes  anläßlich  des  Hinscheidens  des  alten 
Kaisers  hergeliehen  worden  war.  Die  jährlichen  1000  Kronen  haben 
sich  als  nicht  außer  Beziehung  stehend  erwiesen  mit  jener  uns  Nor- 
wegern wenig  zusagenden  Verleihung  unseres  größten  nationalen  Heilig- 
tums. Könnten  wir  nicht  die  Bilanz  über  Soll  und  Haben  zwischen 
uns  und  dem  Reisekaiser  ziehen?  Ich  glaube,  ja  —  und  überlasse  es 
ehrerbietigst  dem  ,Dagblad',  den  Anfang  zu  machen.  Man  lasse  alle 
diese  nichtssagenden  Telegramme  weg,  was  der  Kaiser  Tag  und  Nacht 
unternommen  habe,  und  verzeichne  einfach  die  drei  Ereignisse :  die 
Ankunft,  die  1000  Kronen  für  den  Dom,  und  die  Abreise.  Wenn  wir 
davon  unterrichtet  worden  sind,  dann  sind  wir  befriedigt  und  werden 
uns  mit    größerer    Seelenruhe    in    das    Unvermeidliche  schicken. 

Brutus 

Daß  etwa  Herr  Harden  der  Urheber  war,  ist  nicht  anzu- 
nehmen. Denn  erstens  ist  Brutus  ein  ehrenwerter  Mann,  und 
zweitens  schreibt  er  einen  prägnanten  Stil. 


»Wie  schon  erwähnt,  werden  diese  von  einer  dem  Hause 
Rothschild  näher  bekannten  Persönlichkeit  mitgeteilten  Einzel- 
heiten wohl  nicht  bestätigt,  wenn  auch  —  was  ja  in  diesem  Falle 
selbstverständlich  ist  —   von  seiten  der  Familie   über   die   Todes- 


—  38  — 

Ursache  ein  gewisses  Stillschweigen  beobachtet  wird.«  Und  an  den 
Verstorbenen  selbst  kann  sich  Herr  Lippowitz  nicht  wenden.  Der 
junge  Rothschild  würde  gewiß  noch  jetzt,  da  er  eine  lokale  Sen- 
sation verursacht  hat,  einem  Reporter  jede  Auskunft  verweigern. 
Bei  Lebzeiten  war  er  nämlich  so.  Er  ist  von  einer  Weltreise  zu- 
rückgekehrt, um  zu  sterben.  Aber  schon  auf  der  Weltreise  wollte 
er  von  den  Reportern  nichts  wissen.  Vielleicht  schneidet  Herr 
Lippowitz  den  Artikel  von  ,The  San  Francisco  Call'  (22.  Mai)  aus. 
Der  Vertreter  des  Blattes  hatte  den  jungen  Baron  glücklich  pho- 
tographiert,  aber  er  konnte  ihn  nicht  interviewen.  Er  hatte  den 
Dampfer  in  der  Quarantäne  aufgesucht  und  erfuhr  nichts  weiter, 
als  daß  der  Baron  in  Begleitung  eines  österreichischen  Offiziers 
reise.  »Daß  aber  der  junge  Baron  auch  imstande  wäre,  auf  sich 
selbst  acht  zu  geben,  bewies  er  bei  seinem  ersten  Zusammentreffen 
mit  der  Presse.  ,Sprechen  Sie  englisch,  Baron?'  ,Qewiß,  mit  mei- 
nen Bekannten.  Wer  sind  Sie?'  ,Ich  repräsentiere  die  Presse.' 
,Mit  der  Presse  spreche  ich  in  keiner  Sprache.'  Sprachs 
und  wandte  sich  einer  Dame  zu«...  Ehre  seinem  Andenken! 


Die  liberale  Presse  hat  sich  über  den  Fall  des  Tiroler 
Bauern  entrüstet,  der  in  die  Irrenanstalt  gebracht  wurde,  weil  er 
einen  Wiener  Wachmann  gefragt  hatte,  wie  er  hier  zu  seiner  Erbschaft 
kommen  könne.  Ein  Leser  erinnert  daran,  daß  gerade  vor  einem 
Jahre  ganze  Legionen  malerischer  Intelligenzen  über  die  Ringstraße 
zogen  und  die  Wiener  ihnen  zujubelten.  Zeitläufte,  Zeitläufte!  Ob 
der  heurige  Tiroler  zu  Recht  oder  zu  Unrecht  den  Psychiatern 
geschmeckt  hat,  wird  nie  entschieden  werden  können.  Man  müßte 
die  Entwicklung  der  Psychiatrie  abwarten,  einer  Geheimwissenschaft, 
die  heute  nur  sichere  Schlüsse  darauf  zuläßt,  daß  jene,  die  sich  aktiv 
an  ihr  beteiligen,  geistesgestört  sind.  Für  künftige  Fälle  empfiehlt 
sich  Abschiebung  in  die  Heimatsgemeinde  ohne  medizinische  Weit- 
läufigkeiten. Ein  Tiroler  Bauer,  der  in  Wien  unzurechnungsfähig 
erscheint,  kann  in  seiner  Heimat  ganz  normal  sein ;  er  paßt  zu 
seiner  Landschaft  und  stört  das  Bild  der  Ringstraße.  Daß  auch 
in  unserem  Fall  diese  Diagnose  zutrifft,  scheint  eine  Nachricht  zu 


39 


beweisen,  die  soeben  aus  Tirol  gedrungen  ist.  Der  glücklich  Heim- 
gekehrte wurde  sogleich  wegen  Wilddiebstahls  verhaftet.  Nun 
dürfte  seine  Verteidigung  die  Untersuchung  seines  Geisteszustan- 
des beantragen  und  sich  darauf  berufen,  daß  der  Mann  acht  Tage 
in  Wien  in  der  Irrenanstalt  zugebracht  hat.  Aber  die  Tiroler 
Gerichtspsychiater  dürften  sich  dahin  aussprechen,  daß  er  zwar 
in  der  Irrenanstalt  geistesgestört,  aber  im  Momente  der  Tat 
zurechnungsfähig  war. 


Oder  sollte  ein  Tiroler  doch  zur  Ringstraße  passen? 
In  Wien  sind  ja  noch  Genreszenen,  wie  diese  möglich :  Ein 
Blinder  und  ein  Lahmer  betteln  an  der  Straßenecke.  Ein  Passant 
wirft  dem  Blinden  einen  Heller  in  den  Hut.  Da  reißt  der  Blinde 
die  Augen  auf:  »Was,  nur  an  Heller?«,  und  beschimpft  den  Wohl- 
täter. Dieser  holt  einen  Wachmann,  was  die  Bettler  veranlaßt,  die 
Flucht  zu  ergreifen,  bei  der  der  Lahme,  um  besser  vorwärts  zu 
kommen,  die  Krücke  unter  den  Arm  nimmt.  Bei  uns  geschehen 
also  noch  die  Witze  aus  den  , Fliegenden  Blättern'.  Ebenso  ver- 
altet wie  der  Humor  der  Begebenheit  ist  aber  auch  ihr  sittlicher 
Ernst.  Das  Paar  wurde  verhaftet  und  abgestraft.  Dem  Herrn,  der 
die  Verhaftung  herbeiführte,  ist  nichts  passiert.  Um  eines  Hellers 
wert  zu  sein,  muß  einer  den  Wahrheitsbeweis  der  Blindheit  oder 
Lahmheit  erbringen.  Der  Menschenfreund  ist  entsetzt,  wenn  sich 
herausstellt,  daß  die  Gebrechen  gar  nicht  vorhanden  sind,  die  sein 
Mitleid  erregt  haben.  Er  ist  um  einen  Heller  betrogen,  aber  sein 
sittliches  Empfinden  begnügt  sich  nicht  mit  der  Schadensgut- 
machung,  sondern  ist  erst  beruhigt,  wenn  der  Unwürdige  auf 
der  Stelle  zum  Krüppel  wird.  Da  dies  nicht  zu  erreichen  ist,  ruft 
man  wenigstens  den  Wachmann.  Der  Berliner  —  ausgenommen  etwa 
Herr  Harden,  der  das  erweislich  Wahre  propagiert  —  würde  an  einem 
Surrogatkrüppel  nicht  Anstoß  nehmen  und  entweder  die  Findig- 
keit belohnen  oder  sein  Mitleid  jener  Not  zuwenden,  die  zu  sol- 
chen Mitteln  der  Verstellung  greifen  muß.  Das  goldene  Wiener 
Herz,  das  selbst  die  Punze  der  Echtheit  trägt,  läßt  sich  nicht 
täuschen.  Darum  erlebt  es  Abenteuer,  die  in  Scherz  und  Ernst 
der  Fibelanekdotik  entstammen. 


—  40  - 


»Anwesend  waren  :  Fürst  Georg  Schwarzen  berg,  Fürst  Monte- 
nuovo,  Fürst  Franz  Auerspeig,'  Prinz  Radziwill,  Gräfin  Seefried, 
eine  Enkelin  Seiner  Majestät  des  Kaisers,  Graf  Wilczek,  Graf 
Apponyi,  Graf  Kuefstein,  Graf  Van  der  Straaten,  Graf  Auersperg, 
Graf  Kinsky,  Graf  Goluchowski,  Graf  Wurmbrand  u.  s.  w.  Glück- 
wunschtelegramme sandten :  Prinz  Liechtenstein,  Prinz  Monte- 
nuovo,  Markgraf  Pallavicini  u.  s.  w.«  Was  ist  denn  los?  Ein  Wiener 
Gastwirt  hat  sein  zwanzigjähriges  Jubiläum  gefeiert.  Und  ich 
hatte  schon  geglaubt,  sein  fünfundzwanzigjähriges ! 

» 

>Der  prächtige  Wiener  mit  seinem  liebenswürdigen  und 
fröhlichen  Charakter  hatte  es  den  Berlinern  am  meisten  angetan. . . 
Ein  liebenswürdiger  Zufall  wollte  es,  daß  er  bei  seiner  Rückkehr 
eine  freudige  und  ehrenvolle  Überraschung  vorfand  :  nicht  weniger 
als  drei  Ordensauszeichnungen,  die  ihm  in  Anbetracht  seines 
ausgezeichneten  humanitären  und  gemeinnützigen  Wirkens  verlie- 
hen wurden.  Vom  König  von  Italien  wurde  er  mit  dem  italieni- 
schen Kronenorden  ausgezeichnet,  vom  Papste  empfing  er  das 
Ritterkreuz  vom  heiligen  Grabe,  der  Präsident  der  französischen 
Republik  übersandte  ihm  die  Palme  eines  Offiziers  der  Academie 
francaise«.Wer  ist  denn  der  Gefeierte?  Ein  Nachtcafetier.  Und  ich 
hatte  schon  geglaubt,  ein  Gastwirt! 


Der  Wiener  Männergesangverein,  dessen  Mitglieder  seiner- 
zeit auf  einem  Ozeandampfer  durch  den  Ruf  >  Wo  ist  denn  mei'  Reib- 
sackl  ?«  die  Delphine  enttäuscht  und  beim  Niagara  durch  die  Frage 
»Bitf  schön,  wie  komm'i  denn  auf  den  Franziskanerplatz?«  die  Indianer 
verwirrt  haben,  läßt  es  sich  nicht  nehmen,  das  Ausland  allsommer- 
lich über  den  Stand  der  Wiener  Kultur  zu  unterrichten.  Diesmal 
mußte  Thüringen  daran  glauben,  und  siehe  da,  alsbald  war  das 
Andenken  an  die  heilige  Elisabeth  in  einen  Duft  von  Grieszweckerln 
gehüllt.  Diese  Fahrten,  versichert  der  sie  begleitende  Schmock, 
>sind  kraftvolle  Lebensäußerungen.  Sie  zeigen  die  ,Stadt  der  Phä- 
aken'  in  etwas  ernsterem  Lichte  und  verknüpfen  uns  selbst  reger 
mit  dem  großen  Weltverkehr.  .  .  .    Bald   nach   der  Abreise   vom 


—  41 


Nordwestbahnhof  hatten  sich  in  allen  Ecken  Tarockpartien  etabliert.« 
Nun  ja,  bis  Iglau  pflegen  in  solchen  Fällen  >Scherz  und  Schabernack 
die  Zeit  zu  verkürzen«.  Aber  dann  tritt  der  Ernst  des  Lebens  an  die 
Herren  heran,  und  sie  beginnen  zu  singen.  Zwischendurch  wird 
Deutschland,  Deutschland  über  alles  gestellt,  an  Luther  angeknüpft, 
der  heiligen  Elisabeth,  die  noch  immer  eine  ganz  riegelsame  Dulderin 
ist,  ein  Kompliment  gemacht  und  der  tiefgefühlten  Hoffnung 
Ausdruck  gegeben,  daß  sich  »von  nun  an  neue  und  starke  Fäden 
von  Eisenach  nach  Wien  hinüberspinnen  werden«.  Die  Analogie 
zwischen  dem  Sängerkrieg  auf  der  Wartburg  und  dem  Udel- 
quartett  ist  ja  verblüffend.  Bei  dieser  Gelegenheit  erfahren 
wir,  daß  Goethe  in  Weimar  gelebt  hat.  Denn  es  war  aus- 
geschlossen, daß  die  ,Neue  Freie  Presse'  die  Reise  des  Män- 
nergesangvereins vorübergehen  lassen  konnte,  ohne  etwas  für 
Goethe  zu  tun.  Der  Chormeister  Kremser  kommt  nach  Weimar 
und  so  gebietet  es  die  primitivste  Pflicht  der  Courtoisie  auch  an 
Goethes  Aufenthalt  in  Österreich  zu  erinnern.  Ein  Advokat,  der 
mitsingt,  kann  sich  nicht  länger  halten  und  ruft:  »Stolz  hebt  sich 
hier  die  Brust,  hier,  an  den  jedem  Deutschen  heiligen  Stätten,  in 
dem  Vollgefühl :  Ich  bin  ein  Deutscher,  auch  für  mich  haben  diese 
Geistesheroen  gelebt  und  geschaffen!«  Das  klingt  ein  wenig  anders 
als  der  Ruf,  der  vor  zwei  Jahren  über  den  Ozean  gellte :  »Wo 
haben's  denn  wieder  mein1  Hosenträger  hinmanipuliert?«  Und  nun  — 
außi  möcht'  i  oder  auf  zur  Fürstengruft !  Nur  hereinspaziert,  meine 
Herrschaften  !  Hier  ruhen  jene  Persönlichkeiten,  die  jedem  Wiener 
aus  dem  Liede  »Das  hat  ka  Goethe  g'schrieben  und  auch  ka 
Schiller  'dicht«  bekannt  sind.  Hier  ist  eine  passende  Gelegenheit, 
das  Banner  des  Wiener  Männergesangvereines  aufzupflanzen ! 
»Heiliges  Bangen«,  versichert  der  begleitende  Schmock,  »ergriff 
die  Männer«.  Nun  ja,  Herr  Reimers  deklamiert  ein  Gedicht.  Aber  im 
Goethe-Haus  ist  alles  noch  wie  einst,  jeden  Moment  glaubt  man, 
Goethe  werde  eintreten  und  erstaunt  ausrufen  :  »Klienenberger,  Sie 
hier?  Wie  mich  das  freut!«  Ja,  da  habn  ma  an  G'spaß  g'habt! 
Aber  die  ,Neue  Freie  Presse'  ist  über  Goethe  hinreichend  in- 
formiert. 13  mal  war  er  in  Karlsbad,  114  Tage  seines  Lebens 
verbrachte  er  in  Eger,  nach  Wien  ist  er  nie  gekommen.  Dagegen 
hat  er    »in  Tirol  Mignon  gefunden«.  Ah,  da  schau  i  ja!    »Seiner 


—  42 


Begegnung  mit  dem  Hafner  und  dem  Mädchen  verdanken  wir 
Gedichte,  die  zu  den  schönsten  Blüten  der  deutschen  Lyrik  ge- 
hörenc.  Harfner,  Sie  Esel !  korrigiert  der  eben  eintretende  Goethe. 
Das  macht  nichts,  schön  war's  doch,  und  wenigstens  hat  man 
diesmal  die  Seekrankheit  nicht  gekriegt.  Gottseidank !  Und  die  Presse 
hat  es  sozusagen  nicht  nötig  gehabt,  uns  über  das  Befinden  der 
fahrenden  Sänger  auf  dem  Laufenden  zu  erhalten.  Bloß  die 
deutsche  Brust  hat  sich  gehoben.  Die  Freunderln  vom  »Schuberl- 
bund«  dagegen    haben  eine  Nordlandsreise  gemacht.  Ujegerl ! 


Jemand  sagte  mir  einmal,  er  sehe  es  jedem  Menschen  an, 
ob  er  dem  Verein  »Flamme«  angehöre.  Mir  erscheint  die  Ein- 
teilung der  Menschen  nach  diesem  Gesichtspunkte  durchaus 
zweckdienlich.  Man  kommt  wirklich  mit  der  Zeit  dahinter,  daß  es 
nichts  anderes  gibt  als  Leute,  die  dem  Verein  »Flamme«  an- 
gehören, und  solche,  die  dies  nicht  tun.  Es  wäre  jedoch  verfehlt, 
sich  bei  dieser  Einteilung  zu  beruhigen,  und  die  Gerechtigkeit 
erfordert  es,  der  Individualität  der  Leute  näherzutreten,  die  bei 
Lebzeiten  von  der  Sorge  um  das  Schicksal  ihrer  Gebeine  nieder- 
gebeugt sind  und  vor  der  vollen  Lebensschüssel  sich  schon  mit  der 
Frage  quälen,  was  mit  den  irdischen  Resten  zu  geschehen  habe. 
Wenn  aber  der  Psychologe  diese  Sorge,  die  sich  durch  den  Beitritt 
zum  Verein  »Flamme«  kundgibt,  als  das  Bestreben,  die  Vereinsmeierei 
bis  übers  Grab  fortzusetzen,  entlarvt  hat,  so  wird  er  entdecken, 
daß  die  Mitglieder  in  ihren  sorgenfreien  Stunden  sich  entweder 
der  Freimaurerei  hingeben  oder  gar  Schlaraffen  sind,  daß  sie  also 
entweder  Handelsgeschäfte  treiben  oder  den  Ernst  des  Lebens  durch 
öden  Mummenschanz  unddenZuruf  »Lulu!«  zu  unterbrechen  suchen. 
In  jedem  Falle,  ob  er  nun  verbrannt  werden  will  oder  sonstigen 
Unfug  treibt,  stelle  ich  mir  das  geistige  Leben  eines  aufgeklärten 
Philisters  als  den  Inbegriff  des  Greuels  vor.  Auf  der  Suche  nach 
neuen  Kategorien  habe  ich  nun  eine  entdeckt,  die  wohl  die 
schlimmste  ist.  Der  Philister  hat  den  unbeirrbaren  Drang  zur 
Verewigung.  Gehört  er  einer  niedrigen  sozialen  Schichte  an,  so 
schreibt  er  seinen  Namen  an  die  Wände  eines  Aborts.  Anscheinend 


43 


den  besseren  Ständen  angehörig,  legt  er  Wert  darauf,  u.  a.  in  der 
,Neuen  Freien  Presse'  genannt  zu  werden.  Er  meldet  sich,  wenn  dort 
über  die  Staub-  und  Rauchplage,  über  das  Recht  auf  Stille,  über  den 
Meldzettel  gesprochen  wird,  wenn  ein  Erdbeben  war  oder  wenn 
gar  ein  Herausgeber  der  ,Neuen  Freien  Presse'  gestorben  ist.  Es 
sind  dieselben  Leute,  die  den  Ehrgeizhaben,  auf  ein  Podium  zu  steigen, 
sobald  der  Zauberer  gefragt  hat,  ob  zufällig  jemand  unter  den 
Herrschaften  ein  reines  Taschentuch  bei  sich  habe,  die  opfermutig 
selbst  ihre  Uhr  herleihen  oder  sich  die  Augen  verbinden  lassen,  wenn 
sie  dadurch  der  neidvollen  Bewunderung  einer  weniger  beherzten 
Zuschauermenge  teilhaft  werden.  Und  da  habe  ich  entdeckt,  daß 
das  höchstentwickelte  Exemplar  dieses  Typus  der  Mann  ist,  welcher 
ein  Buch  schreibt,  das  in  die  Fideikommißbibliothek  aufgenommen 
wird.  Die  praktische  Einteilung  der  Menschen  in  solche,  deren  Werke 
in  die  Fideikommißbibliothek  aufgenommen  werden,  und  in  solche, 
die  es  nicht  erleben,  empfiehlt  sich  von  selbst.  Wenn  wir  uns 
nun  aber  fragen,  warum  und  zu  welchem  Ende  der  Mensch  es 
erstrebt,  daß  seine  Werke  in  die  Fideikommißbibliothek  aufge- 
nommen werden,  so  kommen  wir  erst  hinter  das  Geheimnis  dieses 
mystischen  Dranges,  der  der  Menschennatur  nun  einmal  inne- 
wohnt. Denn  wir  erfahren,  daß  die  Ehre,  die  hier  scheinbar 
erstrebt  wird,  nicht  der  Zweck  des  Strebens  ist,  sondern  bloß 
das  Mittel  zu  einem  höheren  Zwecke.  Man  schreibt  ein  Buch, 
um  in  die  Fideikommißbibliothek  zu  kommen,  um  in  die  ,Neue 
Freie  Presse'  zu  kommen.  Denn  die  ,Neue  Freie  Presse' 
tut  nichts  gegen  Bezahlung,  wenn  nicht  auch  ein  Grund  vorliegt, 
etwas  zu  tun.  Kürzlich  ist  aber  ein  Unglück  geschehen,  das  in 
jenen  Kreisen,  die  von  der  Hoffnung  auf  die  Fideikommiß- 
bibliothek leben,  panische  Verwirrung  hervorrgerufen  hat.  Bis 
dahin  war  die  Sache  ihren  ordnungsmäßigen  Weg  gegangen, 
das  Werk  kam  in  die  Fideikommißbibliothek,  und  man  trug  Geld 
in  die  ,Neue  Freie  Presse',  um  am  andern  Tag  in  die  Kleine  Chronik 
zu  kommen.  Eine  Kunstmalerin  hatte  nun  neulich  gar  das  Glück, 
daß  »eine  ,Vision'  samt  Gedicht  in  die  Fideikommißbibliothek 
aufgenommen«  und  dazu  mit  einer  allerhöchsten  Spende 
belohnt  wurde;  sie  benützte  sofort  die  Spende,  um  noch  zur 
.Neuen    Freien    Presse'     emporzusteigen    —    da    geschah    das 


__  44  — 

Unglück:  die  Administration  steckte  die  Nachricht  in  den  Inseraten- 
teil. Die  »Annahme  Sr.  k.  u.  k.  Apostol.  Majestät <  steht  nun  zwischen 
Hotelannoncen.  Während  die  Einkäufe  der  Königin  von  Griechen- 
land unter  Hof-  und  Personalnachrichten  stehen.  So  ist  das  Leben. 
Wer  seinen  Ehrgeiz  an  irdische  Dinge  hängt,  wird  oft  enttäuscht. 
Ich  trete  dem  Verein  »Flamme«  bei! 


Die  Geschwornen,  die  über  den  Fürsten  Eulenburg  richten 
sollten,  führten  immerhin  Namen  wie:  Lißmer,  Vohsen,  Wickers- 
heimer,Conradi,Tennigkeit,  Behtge,  Feising,  Stahl,  Hartmann,  Lützow, 
Mühlbrecht,  Seidemann  und  Drake.  Ich  habe  mir  zu  diesem  Fall  eine 
Wiener  Geschwornenliste  konstruiert,  die  auf  Vollständigkeit 
keinen  Anspruch  erhebt:  Leopold  Anderle,  Lohnf uhrwerker; 
Alois  Übelhör,  Pfaidler;  Franz  Xaver  Kaindl,  Gemischtwaren- 
verschleißer;  Atnbros  Mogele,  Privatier;  Philipp  ßösbauer,  Reali- 
tätenbesitzer; Sebastian  Wagner,  Kurschmied;  Josef  Chramosta, 
Paramentenerzeuger;  Justus  Pfanderlik,  Hausbesitzer;  Peter  Maloja, 
Rauchfangkehrer;  Franz  Wögerer,  Fleischhauer;  M.  Deiches, 
Produktenhändler;  Anton  Köckeis,  Lehrer;  Leopold  Neswedba, 
Posamentier.  (Obmann  Deiches).  Ergänzungsgeschworne :  Mathias 
Ühlein,  Kunstschlosser;  Leopold  Speisam,  Gastwirt; 
Rudolf  Fallenböck,  Zeichenlehrer;  Vinzenz  Hadrawa,  Tischler; 
Eduard  Reichle,  Kaffeesieder;  Franz  Edlawy,  Viktualienhändler  ; 
Wendelin  Pschierer,  Riemer;  Adam  Sekira,  Hausbesitzer;  Stefan 
Masanetz,  Tanzinstitutsinhaber;  Aurelius  Loquay,  Tapezierer; 
S.  Kantorowitsch,  Handelsagent;  Leopold  Buhwein,  Gastwirt; 
Engelbert  Nicoletti,  Bildhauer;  Ruppert  Schloißnigg,  Wagenbauer; 
Karl  Maria  Scheibenhofer,  Sei  den  Warenerzeuger;  Sylvester  Ruberl, 
Zimmermaler;  Josef  Sigmeth,   Glaser;   Wenzel  Hrnzirz,    Bürger. 


Das  deutscheste  Blatt  Österreichs,   die  »Ostdeutsche   Rund- 
schau',   verspricht    neu    eintretenden    Abonnenten    »ein    schönes 


45 


lesenswertes  Buch«  als  Prämie.  Es  handelt  sich  gewiß  nicht  um 
Rezensionsexemplare,  vielleicht  aber  um  Besprechungsstücke,  die 
die  Schriftleitung  erhalten  hat.  Dabei  entfährt  nun  der  .Ost- 
deutschen Rundschau'  der  folgende  Satz:  >4mal  74jährige  Abon- 
nenten werden  als  ein  ganzjähriges  Abonnement  angerechnet,  wie 
auch  2mal  V2j'ährige  Abonnenten;  sohin  dergestalt  auch  die  vor- 
geschriebenen Prämien  erhalten«.  Man  sieht,  daß  die  Lage  der 
Deutschen  in  Österreich  in  sprachlicher  Beziehung  noch  immer 
etwas  unbequem  ist.  Aber  die  Schriftleitung  der  »Ostdeutschen 
Rundschau'  ist  besserer  Einsicht  gewiß  nicht  unzugänglich.  Wenn 
sie  ihren  Satz  hier  liest,  wird  sie  sagen:  Er  hat  recht;  wir  hätten 
schreiben  sollen:  >4mal  'Ajährige  Bezieher  werden  als  ein  ganz- 
jähriger Bezug  angerechnet,  wie  auch  2mal  V2 jährige  Bezieher; 
sohin  dergestalt  auch  die  vorgeschriebenen  Geschenke  erhalten«. 
So  ist  es. 


Zwei  Dinge  sind,  die  ich  mit  Gleichmut  ertrage:  tot- 
geschwiegen werden  und  bestohlen  werden.  Es  sind  die  beiden 
Formen,  in  denen  die  schlechte  Presse  ihre  Beachtung  des  Guten 
dartut.  Das  ist  nun  einmal  so  und  es  wäre  sinnlos,  ein  Aus- 
nahmsschicksal für  sich  zu  verlangen.  Wenn  ich  das  Schicksal 
trotzdem  immer  wieder  bespreche,  so  geschieht  es  nicht,  um  mich 
über  die  Art  der  Presse  zu  beklagen,  sondern  um  an  mir  —  als 
einem  reifen  Beispiel  —  die  Art  der  Presse  nachzuweisen. 
Das  Verhältnis  ist  einfach  dieses :  ich  würde  eine  Notiz  gegen  ein 
großes  deutsches  Tagesblatt,  die  zu  schreiben  mir  eine  sachliche 
oder  künstlerische  Notwendigkeit  ist,  nicht  unterdrücken,  wenn 
ich  sicher  wüßte,  daß  das  Erscheinen  der  Notiz  einen 
Essay  des  Blattes  über  mein  Buch  verhindert.  Im  Gegenteil  würde 
mir  schon  durch  eine  solche  Erwägung  das  Erscheinen  der 
Notiz  zur  inneren  Notwendigkeit.  Dem  großen  deutschen 
Tagesblatt  aber  bestimmen  andere  Motive  sein  Tun.  Es  nimmt 
Rücksicht  auf  meine  Notiz  und  unterdrückt  den  Essay.  Meine 
Angelegenheiten  sind  einmal  ein  Beweis  dafür,  daß  das 
Tun    und    Lassen    der    Presse     nicht    Ausdruck   ihrer    Meinung, 


46 


sondern  ein  Mittel  ihrer  Meinungspolitik  sind.  Den  Offenbarungs- 
glauben des  Lesers  zu  zerstören,  darin  und  nur  darin  besteht 
meine  Arbeit.  Denn  die  Autorität  der  Presse  kann  den  unaufhalt- 
samen Prozeß  der  Anerkennung  echter  Geisteswerte  nicht  hindern, 
aber  ungebührlich  verzögern.  Mein  Fall  ist  bloß  das  beste  Beispiel, 
an  dem  sichdieGeistfeindlichkeitdesJournalismus  darstellen  läßt.  Und 
die  Beweiskraft  dieses  Falles  wächst  mit  der  Energie  meiner  Dar- 
stellung, denn  es  ist  sicher,  daß  sich  die  Wesenslumperei  der 
Zeitung  um  so  deutlicher  zeigt,  je  deutlicher  ich  auf  sie  zeige. 
Das  geht  nun  freilich  oft  über  ein  erträglich  Maß.  Daß  die  große 
Tagespresse  —  auch  die  reichsdeutsche,  die  ja  ihre  Direktive 
von  Wien  bekommt  —  mein  Aphorismenbuch  totschweigt,  ist  ganz 
in  Ordnung  und  nicht  minder,  daß  sie  das  Geschmeiß  von 
Essayisten,  Feuilletonisten  und  selbst  Aphoristen,  die  von  einer  Seite 
dieses  Buches  sich  mästen  werden,  tüchtig  auflobt.  Die  Infamie 
besteht  nur  darin,  daß  sie  das  Erscheinen  meines  Buches  benützt, 
um  alles  das,  was  sie  über  mich  sagen  könnte,  wenn  sie  wollte, 
oder  sagen  möchte,  wenn  sie  dürfte,  über  einen  beliebigen  Ge- 
dankensplittererzeuger zu  sagen,  wie  sie  deren  schockweise  in 
Deutschland  herumlaufen ;  daß  sie  also  mir  das  Maß  nimmt,  um 
einen  Haubenstock  zu  bekleiden.  Daß  meine  Aphorismen,  wenn 
sie  unter  anderm  Namen  erscheinen  —  was  hin  und  wieder  vor- 
kommt —  ihre  Feinschmecker  in  der  Presse  finden,  ist  wirklich 
noch  das  erfreulichere  Erlebnis.  Wo  gestohlen  wird,  ist  eine  Be- 
rufung auf  den  Bestohlenen  nicht  zu  verlangen.  Aber  es  gibt  eine 
Verknüpfung  von  Stehlen  und  Schweigen,  die  unerlaubt  ist.  Sie 
tritt  dort  ein,  wo  ein  Blatt  gewissenhaft  genug  ist,  meine  Sätze 
in  Anführungszeichen  zu  zitieren,  und  zugleich  geschickt  genug, 
jeder  Verlockung,  mich  zu  nennen,  auszuweichen.  Da  wird 
etwa  im  Wiener  , Fremdenblatt'  ein  Artikel  über  das  Ende  des 
alten  Cafe  Griensteidl  geschrieben.  Dieses  alle  Cafe  ist  längst 
gesiorben,  aber  wenn  es  genannt  wird,  so  erinnert  sich  der 
Wiener  Zeitungsleser  an  meine  Satire  >Die  demolierte 
Literatur«.  Ich  lege  jetzt  keinen  Wert  mehr  auf  diese  Schrift, 
aber  sie  hat  vor  zwölf  Jahren  das  stärkste  Aufsehen  gemacht,  hat 
es  zu  fünf  Auflagen  gebracht  und  ist  von  der  gesamten  Zeitungs- 
kritik fast  so  laut  besprochen  worden,  wie  jetzt  über  die   , Fackel' 


47  — 


geschwiegen  wird,  wiewohl  ihr  letztes  Wörtchen  jene  ganze  Schrift 
künstlerisch  aufwiegt.  Nun  soll  auch  das  Kaffeehaus  gesperrt  werden, 
das  an  der  Stelle  des  alten  Literaturcafes  gestanden  ist,  und  diese 
gleichgiltige  Tatsache  setzt  die  feuilletonistischen  Federn  in  Bewe- 
gung. Ich  halte  die  Betrachtung  der  Literatur  aus  der  Kaffeehaus- 
perspektive heute  für  wertlos,  über  alle  Maßen  lästig  und  nur 
entschuldbar,  wenn  sie  dem  Oeist  und  Witz  des  Betrachters  Ge- 
legenheit macht.  Das  alte  Cafe  Griensteidl  mag  es  verdient  haben, 
daß  man  ihm  die  Lyriker  nachsagte,  die  aus  ihm  > hervorgegangen« 
sind;  heule  ist  die  Figur  des  Literaturkenners  ein  peinlicher  Feuil- 
letonbehelf. Was  tut  der  geistige  Pikkolo,  der  sich  im  ,Fremden- 
blatt'  über  das  Ereignis  hermacht?  Er  krapst  nicht  nur  die  sati- 
rische Auffassung  der  Kaffeehausliteratur,  wie  sie  durch  die 
»Demolierte  Literatur«  geht,  er  nimmt  ganze  Sätze  aus  jener 
Schrift,  setzt  sie  in  Anführungszeichen,  um  nur  ja  zu  bezeugen, 
daß  er  sie  vor  sich  liegen  hatte,  nimmt  Worte,  die  ich  in  Umlauf 
gebracht,  beruft  sich  noch  darauf,  daß  »die  Literatur«  schon  früher 
»demoliert«  worden  sei,  zählt  alle  möglichen  Leute  auf,  deren  Namen 
mit  der  Erinnerung  an  Griensteidl  verknüpft  sei,  und  bringt 
es  fertig,  mich,  der  Autor  und  Inhalt  seines  Feuilletons  ist,  nicht 
zu  nennen.  M.  P.  ist  der  Artikel  gezeichnet,  der  schon  zwei  Tage 
später  in  reichsdeutschen  Blättern  mit  Lob  bedacht  wird.  »Manu 
propria«  kann  die  Chiffre  nicht  bedeuten.  Aber  wen  oder  was  sie 
bedeutet,  ist  schließlich  gleichgültig,  denn  solche  Jungen  sind 
jetzt  in  jeder  Redaktion  tätig.  Das  Autorgesetz  schützt  vielleicht 
einen  Lokalbericht;  Auffassungen,  Gedanken,  Worte  dürfen  ge- 
stohlen werden.  Ich  würde  nun  mein  Eigentum  gewiß  nicht  rekla- 
mieren, wenn  die  Diebe  bloß  an  die  Schweigepflicht  des  Diebes 
und  nicht  auch  an  die  des  Journalisten  gebunden  wären;  wenn  sie 
nicht  so  dumm  wären,  immer  gerade  dort  zu  plündern,  wo  die  Wert- 
sache selbst  für  den  Besitzer  zeugt,  wo  jeder  Leser  in  jeder  Zeile  die  Nen- 
nung meines  Namens  erwartet.  Mein  Protektor  beim  , Fremdenblatt, 
meint,daßnuninden  Räumen,  indenen  einst  Dichtersaßen,  »zungen- 
geläufige Kommis  Schnittmuster  vorlegen«  werden,  und  wo  einst 
»blasse  Jünglinge  Rainer  Maria  Rilke  kopierten,  werde  man  viel- 
leicht Kalodont  und  Zahnbürsten  bekommen«.  Das  wäre  so  übel 
nicht;  und  schade,  daß  diese  Einrichtung  nicht  schon   bei   Leb- 


48 


zeiten  der  Literatur  getroffen  wurde.  Und  was  die  zungengeläufigen 
Kommis  betrifft,  so  waren  sie  ja  schon  längst  da,  nur  unerkannt  und 
unentdeckt,  und  hielten  sich  für  Literaten,  weil  sie  Schnittmuster 
aus  meinen  Schriften  vorlegten. 


»Die  Vorstellungen  dauern  vier  und  fünf  Stunden  und  die  Men- 
schen sitzen  da  dichtgedrängt,  atemlos  ruhig,  wie  gebannt  vor  einem 
besonderen  Schicksal  merkwürdiger  Menschen,  das  da  unten  spielt  und 
lebt  ...  So  sitzt  man  und  schaut  auf  dieses  wirbelnde,  huschende, 
nachdenklich-beschwerte,  sorglos-leichte,  aber  immer  kraftvoll  bewegte 
Leben.« 

Solch  einen  Satz  hebe  ich  mir  gern  auf,  weil  man  an  ihm 
den  neujournalistischen  Stil  studieren  kann.  Eine  ganze  Horde 
von  Beobachtern  ist  in  alle  Lebensgebiete  eingebrochen  und  jeder 
weiß  in  jedem  Bescheid.  Die  alten  Phrasen  sind  abgetan.  Aber 
ihr  Inhalt  war  länger  lebendig  und  mußte  ehrlicher  erworben  sein 
als  der  der  neuen.  Dagegen  sind  die  neuen  viel  handlicher  und 
ermöglichen  es  jedem  ohne  Unterschied  der  Begabung  und  der  Kon- 
fession, Literatur  zu  treiben.  Vor  einer  Sache,  über  die  man  nichls 
sagen  konnte,  war  man  ehedem  verloren.  Jetzt  gehts;  was  man  nicht 
deklinieren  kann,  das  sieht  man  als  »merkwürdig«  an.  Welcher 
Art  sind  die  Menschen  bei  Shakespeare?  Merkwürdig  sind  sie! 
Das  gibt  dem  Leser  zwar  nicht  einen  Begriff  von  den  Menschen 
bei  Shakespeare,  aber  dem  Kritiker  einen  Nimbus  beim  Leser. 
Spricht  er  nun  gar  von  einem  besonderen  Schicksal  merkwürdiger 
Menschen,  so  ist  seine  Autorität  als  die  eines  feinnervigen  Erfas- 
sers künstlerischer  Mysterien  gesichert.  Nennt  er  dazu  das  Treiben 
jener  Menschen  ein  »Leben«  und  zwar  sowohl  ein  nachdenklich- 
beschwertes wie  ein  sorglos-leichtes  Leben,  so  hat  er  nicht  nur 
allen  Standpunkten,  sondern  den  Besten  seiner  Zeit  genug 
getan.  Und  sicher  ist  schon,  daß  jeder  Leser  den  Kritiker,  der  das 
Wort  »nachdenklich«  gebraucht,  für  einen  Denker  halten 
wird.  Vollends  aber  bin  ich  überzeugt  davon,  daß  heut- 
zutage jeder  Anfänger,  der  im  richtigen  Augenblick  das  Wort 
Möglichkeiten«  oder  »Zusammenhänge«  anzuwenden  weiß,  vom 
Chefredakteur  das  Burgtheaterreferat  bekommt,   wenn  er  aber  gar 


—  49  — 


den  Plural  »Sehnsuchten«  kennt,  in  die  Oper  geschickt  wird,  um 
über  den  Tristan  zu  referieren.  Wer  die  Sache  erfunden 
hat,  weiß  ich  nicht.  Der  Urquell  des  Übels  bleibt  jener 
Heine,  der  der  deutschen  Sprache  so  sehr  das  Mieder  gelockert 
hat,  daß  heute  alle  Kommis  an  ihren  Brüsten  fingern  können. 
Aber  der  richtige  Zug  kam  doch  erst  durch  die  neueren  Fran- 
zosen ins  Geschäft,  deren  psychologische  Technik  dank  der  Ver- 
mittlung  des  Herrn  Bahr  zu  einer  unsäglichen  Behelligung  des 
deutschen  Geisteslebens  erwachsen  ist.  In  den  Redaktionen  sitzen 
jetzt  die  alten  soliden  Schmöcke  ganz  verschüchtert  da  und 
müssen  eine  Spalte  nach  der  andern  den  impressionistischen  Lauf- 
burschen abtreten,  die  selbst  einen  Beinbruch  jn  Stimmung  tauchen 
und  eine  Feuersbrunst  nicht  ohne  die  allen  gemeinsame  persön- 
liche Note  melden.  Das  Gräßliche  an  dem  Schauspiel  ist  die 
Identität  dieser  Talente,  die  einander  wie  ein  faules  Ei  dem  andern 
gleichen,  die  Identität  ihrer  Leistungen  bei  verschiedenem  Thema. 
Wenn  der  eine  den  deutschen  Kaiser  beschreibt,  beschreibt  er  ihn 
genau  so  wie  der  andere  den  Bürgermeister  Lueger  und  über  die 
Ringkämpfer  weiß  dieser  nichts  anderes  zu  sagen  als  jener  über 
das  »Gänsehäufel«.  Immer  paßt  jedes  zu  jedem,  und  die  Unfähigkeit, 
ganze  Worte  zu  finden,  ist  ein  subtiler  Behelf,  wenn  die  halben  zu  allem 
passen  sollen.  Wenn  man  will,  hat  ja  sowohl  der  deutsche  Kaiser  wie 
der  Bürgermeister  etwas  »Brausendes«,  und  gewiß  ist,  daß  sie  »merk- 
würdige Menschen«  sind.  Die  Treffsicherheit  solcher  Behauptungen 
wird  durch  die  Präpotenz  beglaubigt,  alles  in  einem  Entdeckerton  zu 
sagen,  der  eine  eben  erst  erschaffene  Welt  voraussetzt.  Oder  min- 
destens eine  Welt,  die  erschaffen  wurde,  als  der  Herr  Kohn  oder 
der  Herr  Zifferer  das  Sonntagsfeuilleton  bekam.  Diese  jungen  Leute 
sehen  ein  Bad  zum  erstenmal,  wenn  sie  als  Berichterstatter  hinein- 
geschickt werden.  Freilich  kommt  diese  Methode,  einen  Livingston  in 
der  dunkelsten  Leopoldstadt  zu  zeigen,  der  Wiener  Phantasielosigkeit 
zuhilfe,  die  sich  einen  Beinbruch  nicht  vorstellen  kann,  wenn  man  ihr 
nicht  auch  das  Bein  beschreibt.  Wenn  in  Berlin  ein  Straßenbahn- 
unglück geschehen  ist,  so  beschreiben  die  Berliner  Reporter  das 
Unglück.  Sie  greifen  das  Besondere  dieses  Straßenbahnunfalles 
heraus  und  ersparen  dem  Leser  das  allen  Straßenbahnunfällen 
Gemeinsame.    Wenn  in  Wien   ein  Straßenbahnunglück   geschieht, 


—  50  — 


so  schreiben  die  Reporter  über  das  Wesen  der  Straßenbahn,  über 
das  Wesen  des  Straßenbahnunglücks,  und  über  das  Wesen  des 
Unglücks  überhaupt,  mit  der  Perspektive  >Was  ist  der 
Mensch?«.  Über  die  Zahl  der  Toten  gehen  die  Meinungen 
auseinander,  wenn  sich  nicht  eine  Korrespondenz  ins  Mittel  legt. 
Aber  die  Stimmung  treffen  sie  alle;  und  der  Reporter,  der  als 
Kehrichtsammler  der  Tatsachenwelt  sich  nützlich  machen  soll, 
kommt  immer  mit  einem  Fetzen  Poesie  gelaufen.  Der  eine 
sieht  grün,  der  andere  gelb,  Farben  sehen  sie  alle.  Man  lese  einmal 
den  Stimmungsbericht  über  eine  Parlamentseröffnung  in  zwei  Blättern 
nach.  Hier  ein  routinierter  Appreteur  von  Beobachtungen,  dort 
ein  noch  ungeübter  —  aber  es  ist  ein  und  dasselbe,  und  wenn 
auch  der  eine  den  Ministerpräsidenten  als  Diurnisten,  der  andere 
als  Raubritter  zubereitet . . .  Dem  Journalismus  handelt  es  sich  nicht 
darum,  w  i  e  beobachtet  wird.  Aber  dem  alten  hat  es  sich  immer- 
hin darum  gehandelt,  was,  und  der  neue  will  nur  zeigen,  daß 
beobachtet  wird. 


Die  in  Nr.  279/80  enthaltene  Skizze  >  Nachts«  von  Tschechow 
war  der  , Fackel'  von  dem  Übersetzer,  einem  gewissen  Paul  Barchan 
in  Berlin,  mit  dem  Vermerk  >Nachdruck  verboten«  und  mit  der 
Versicherung  übergeben  worden,  daß  sie  >in  Deutschland  wohl 
kaum  anderswo  zum  Abdruck  gelangen  könnten  Die  , Fackel' 
mußte  also  an  eine  eiste  Übersetzung  glauben;  eine  zweite  hätte 
sie  nicht  veröffentlicht.  Nachträglich  wurde  ihr  bekannt,  daß  die 
Skizze  bereits  in  der  Zeitschrift  ,Das  neue  Magazin'  -  im  Jahre  1904  - 
erschienen  war  und  daß  jener  Herr,  der  vor  Nachdruck  warnte, 
zunächst  darum  gewußt  hat.  Denn  von  eben  jener  Zeitschrift 
wurde  ihm  seine  Übersetzung  mit  dem  Hinweis  auf  den  Vordruck 
abgelehnt.  Die  Veröffentlichung  einer  Skizze  von  Tschechow  muß 
die  , Fackel'  nicht  bereuen;  aber  sie  hätte  sie  nicht  erstrebt,  wenn 
sie  über  das  Vorleben  der  Übersetzung  nur  halb  so  gut  informiert 
gewesen  wäre  wie  der  Übersetzer.  Der  Verlag  der , Fackel'  hat  ihm 
deshalb  geraten,  sein  Honorar  den  wohltätigen  Zwecken  des  All- 
gemeinen   Schriftstellervereines   zuzuwenden.    Nicht  ohne  daß  ich 


51 


ihm  zugleich  mein  Bedauern  aussprechen  ließ,  daß  mit  der  Er- 
schließung der  russischen  Literatur  für  ein  deutsches  Publikum 
auch  der  Zuwachs  eines  russisch-deutschen  Literatentums  ver- 
bunden zu  sein  scheine.,  dessen  ethische  Eigenart  als  ein  unüber- 
setzbarer Rest  sich  unserem  Verständnis  entzieht.  Die  öffentliche 
Feststellung  erfolgt  nun  nicht,  um  die  Praktiken  des  journalisti- 
schen Handels  an  einem  Schulbeispiel  nachzuweisen,  sondern  um 
dem  Vorwurf  zu  begegnen,  daß  die  , Fackel'  in  besonderem  Fall 
mit  einem  erborgten  literarischen  Wert  geprunkt  habe. 


Die  .Arbeiter-Zeitung'  hat  sich  soeben  zu  einem  Angriff 
gegen  die  ,Neue  Freie  Presse'  aufgerafft,  zu  einem  Angriff  auf  der 
Basis  des  Zugeständnisses,  sie  sei  »das  einzige,  das  unter  den  bür- 
gerlichen Blättern  Haltung  und  Temperament  besitzt«.  Freilich, 
wie  sie  totschweigen  könne,  das  mache  ihr  kein  Blatt  der  Welt  nach : 

Ihr  Totschweigen  ist  durch  keine  Erwägung  des  Taktes,  der 
Anständigkeit  gezügelt.  Sie  schweigt  alle  Angriffe  tot,  die  gegen  sie  ge- 
richtet werden,  und  sie  schweigt  alle  Angreifer  tot.  Mausetot ;  der  Mensch, 
der  sich  vermißt,  dem  Herrn  Herausgeber  einmal  die  Wahrheit  zu  sagen, 
ist  für  sie  fertig  und  die  Rachsucht  der  ,N.  Fr.  Pr.',  der  des  Gottes  Jehovah 
gleich,  der  die  Sünde  bis  ins  dritte  Glied  verfolgt,  kennt  keine  Grenze; 
sie  beschränkt  sich  nicht  auf  den  Angriff  und  Angreifer,  sie  erfaßt  sein 
Werk,  seine  Freunde,  seine  Partei ;  es  ist  dann  wirklich  der  große  Bann, 
von  dem  die  rabbinischen  Bücher  erzählen.  Nie  wird  die  ,N.  Fr.  Pr.' 
polemisieren,  das  hat  sie  ja  nicht  nötig  und  dabei  würde  ihre  Vor- 
nehmheit nur  Schaden  nehmen  ;  sondern  sie  schweigt  tot  .  .  . 

Gibts  denn  wirklich  kein  Blatt  der  Welt,  das  es  der  .Neuen 
Freien  Presse'  im  Totschweigen  nachmacht?  Und  wie  hält  es  die 
.Arbeiter-Zeitung'  damit?  Und  wie  stehts  mit  dem  kleinen  Bann? 
Nein,  der  Vorwurf,  die  (Arbeiterzeitung'  sei  von  der , Neuen  Freien 
Presse'  abhängig,  war  ungerecht.  Das  sind  nicht  Bundesgenossen, 
das  sind  Rivalen! 


An  dem  Tage,  da  Qraf  Badeni  stirbt,  stoße  ich  in  dem  brief- 
lichen und  dokumentarischen  Schutt  von  siebzehn  publizistischen 
Jahren,  den  aufzuräumen  mich  eine  Übersiedlung  zwingt,  auf  die 
Erinnerungen    meiner    politischen    Zeugenschaft  des   Jahres  1897. 


—  52  — 


Wie  viel  habe  ich  nicht  zu  verleugnen !  Aber  ich  bekenne  mich 
zu  allem,  was  ich  zu  gestehen  habe.  Ich  glaube  ja  nicht,  daß  ich 
damals  den  Inhalt  der  Sprachenverordnungen  verstand,  aber  ich 
glaube,  daß  ich  in  diesem  Punkt  hinter  den  deutschen  Abgeord- 
neten nicht  zurückstand.  Ich  machte  die  Geste  der  Empörung  mit, 
und  war  vielleicht  empörter  als  die  Empörten.  Wenn  man  damals 
das  Wort  »Vergewaltigung«  aussprach,  glaubte  man,  sie  sei  einem 
angetan.  Die  Politik  hatte  einen  reichen  Gefühlsinhalt,  und  wer  auch 
vom  Schachspiel  nichts  verstand,  mußte  doch  Partei  nehmen, 
wenn  die  Spieler  einander  die  Figuren  auf  den  Kopf  war- 
fen. Ich  finde  das  stenographische  Protokoll  der  letzten  drei 
Sitzungen  der  XIII.  Session,  denen  ich  beigewohnt  hatte.  Am  25.  No- 
vember lex  Falkenhayn,  am  26.  Einmarsch  der  Polizei,  am  27. 
Schließung.  Erinnere  ich  mich  recht  oder  ist  es  eine  nach- 
trägliche Konstruktion :  der  Rummel  hatte  ein  Ende,  weil  der 
tschechische  Vizepräsident  den  polnischen  Präsidenten  mißver- 
stand. Der  hatte  auf  die  verzweifelte  Frage,  was  geschehen 
solle,  geantwortet :  »Ausschließen!«  Und  jener  verstand  :  »Haus 
schließen  !«  Das  Protokoll  ist  ziemlich  blutarm.  Als  ob  die  Revo- 
lution zur  Geschäftsordnung  gehörte,  verzeichnet  es  die  Tatsache, 
daß  ein  Abgeordneter  »in  Begleitung  einiger  Sicherheitswach- 
männer den  Saal  verläßt«.  So  glatt  verlief  die  Sache  nicht.  Die 
Wache  stieg  in  die  Bänke  und  zog  die  Männer  wie  Strudel- 
teig heraus.  Der  atemlose  Augenblick  des  Einzugs  der  Wache  ist 
in  dem  Satze  festgehalten  :  »Inzwischen  ist  nach  einem  anhaltenden 
Tumulte,  den  die  auf  der  Estrade  angesammelten  sozialdemokra- 
tischen Abgeordneten  veranstalteten,  welche  auch  die  auf  den 
Tischen  des  Präsidiums  liegenden  Mappen  und  Schriftstücke  er- 
griffen und  in  den  Saal  schleuderten,  die  Tribüne  durch  das 
über  Verfügung  des  Präsidiums  erfolgte  Einschreiten  der 
Sicherheitswache  geräumt  worden«.  Der  große  Moment  hatte 
also  ein  kleines  Geschlecht  von  amtlichen  Stenographen  ge- 
funden. Ich  schrieb  damals  Wiener  Briefe  für  die  , Breslauer 
Zeitung' : 

>.  .  .  Am  Mittwoch,  den  24.  November,  wurde  im  österreichischen 
Reichsrat  zum  erstenmale  gerauft.  Die  polnisch-tschechisch-klerikale 
Majorität,    welche  sich    bis    dahin  mit  einer  Verletzung  der  Verfassung, 


—  53  — 


ja  oft  sogar  blos  der  Geschäftsordnung  begnügt  hatte,  trat  endlich  aus 
dieser  Reserve  der  Gewalttätigkeit  heraus,  um  nunmehr  auch  an  die 
Verletzung  der  Abgeordneten  zu  schreiten.  Es  wurde  nachträglich  fest- 
gestellt, daß  die  Prügelei  nicht  der  unvermeidliche  Ausdruck  momen- 
taner Erregung,  sondern  planmäßig  vorbereitet  war,  und  daß  sich  die 
Regierung  für  die  Durchsetzung  des  Ausgleichs-Provisoriums  der  hand- 
festeren Mitglieder  des  Polen-Klubs  versichert  hatte  .  .  .  Die  vom 
Präsidenten  Abrahamowicz  angeordnete  Balgerei  hatte  beinahe  eine 
volle  Stunde  gedauert,  aber  der  Regierung  doch  den  erhofften  Erfolg 
nicht  gebracht.  Eine  Stunde  plagten  sich  etwa  fünfzig  polnische  und 
tschechische  Lümmel,  den  Daumen  des  deutsch-nationalen  Abgeordneten 
Wolf  zu  brechen  .  .  Eine  kleine  Quetschwunde  zeugt  deutlich  von  den 
Bemühungen  des  Polen-Klubs,  mit  einem  deutsch-nationalen  Abgeordneten 
wegen  des  Ausgleichs-Provisoriums  zu  verhandeln.  Es  war  also  wieder 
nichts  gewesen.  So  versuchte  man  es  jetzt,  die  Gewalttätigkeit  in  gesetz- 
liche Bahnen  zu  lenken.  Der  Donnerstag  brachte  die  berühmte  lex 
Falkenhayn,  die  es  den  Abgeordneten  der  Majorität  ermöglichen  sollte, 
wo  ihre  eigenen  physischen  Kräfte  nicht  ausreichten,  die  Hilfe  der 
Polizei  in  Anspruch  zu  nehmen  .  .  .  Wer  Freitag,  den  26.  November, 
auf  der  Galerie  des  Abgeordnetenhauses  saß,  schauerte.  Der  Atem  der 
Geschichte  ging  durch  das  Haus.  Die  Pulse  stockten  und  Todes- 
schweigen verkündete  den  Einzug  der  Polizeiwache  in  das 
Parlament.  Aber  nur  eine  kurze  Minute  währte  das  Entsetzen, 
mit  dem  uns  das  Wittern  des  Historischen  umfing.  Es  löste  sich  in 
ein  tosendes,  schmerzvolles,  erschüttertes  und  erschütterndes  >Pfuü«, 
in  das  die  zu  Stillschweigen  verurteilte  Galerie  der  Zuschauer  ausbrach. 
Erst  ein  Schauer,  dann  die  Empfindung  und  endlich  mit  dem  Sich- 
hineinfinden in  das  Gegenwärtige,  mit  dem  Begreifen  der  Tatsachen 
die  Entrüstung,  die  hellodernde  Entrüstung,  die  sich  mit  so  unheim- 
licher Rapidität  von  den  Galerien  des  Abgeordnetenhauses  auf  die 
Straße  verpflanzen  sollte.  Eine  endlose  Schlangenlinie  von  hundert 
schwarzen  Mänteln  und  ebensovielen  blinkenden  Pickelhauben  zog  sich>( 
um  die  Tribüne.  Eine  Mauer  war  um  die  Minister  und  um  das  Prä- 
sidium gestellt.  Später  entfernte  sie  sich,  und  eine  kleinere  Abteilung 
von  Polizisten  ward  nur  mehr  dann  in  den  Sitzungssaal  gerufen,  wenn 
es  galt,  an  einen  Volksvertreter  Hand  anzulegen.  Von  Fall  zu  Fall 
sah  man  durch  die  Türscheiben  etwa  zwanzig  Polizisten  den  Saal  um- 
zingeln und  sich  durch  die  Couloirs  jener  Reihe  nähern,  in  welcher 
der  bezeichnete  Abgeordnete  stand.  Ich  glaube,  daß  an  diesem  Tage 
im  ganzen  vierzehn  Abgeordnete  an  Kopf  und  Füßen  aus  dem  Saale 
geschleift  oder  getragen  wurden  .  .  .  Der  Tag,  der  mit  der  sieghaften 
und  blitzartigen  Attacke  der  Sozialdemokraten  auf  das  Präsidium  begonnen 
hatte,  brachte  grauenhafte  Einzelheiten,  die  von  dem  Gehirn  des  Augen- 
zeugen für  alle  Zeit  Besitz  ergriffen  haben  .  .  .  Von  Freitag  Vormittag 
bis  Sonntag  Abend  gährt  es  in  Wien,  die  teilnahmsloseste  Bevölkerung 
der  Welt  ist  auf  den  Beinen  und  bereit,    die  Mißhandlung  ihrer  Reprä- 


54 


sentanten  zu  rächen.  Nach  der  Obstruktion  der  Radikalen  beginnen 
am  Samstag  die  Staatsmänner  der  deutsch-fortschrittlichen  Partei  zu 
toben,  Gelehrte  hämmern  mit  Briefbeschwerern  auf  die  Tische  der  Minister, 
werfen  Papierkugeln,  Broschüren  und  Tintenfässer  auf  den  Präsidenten  und 
verjagen  ihn  mit  Pfeifen  und  Trompeten.  Wolf,  der  die  gestern  über  ihn 
verhängte  Ausschließung  ignoriert  hat  und  auf  unerklärliche  Weise  in  den 
Saal  gelangt  ist,  wird  gewaltsam  entfernt,  wobei  es  die  aufgebotene 
Wache,  welche  diesmal  über  die  Bänke  steigt  und  den  Abgeordneten 
aus  seinem  Sitze  förmlich  heraushebt,  besonders  auf  seinen  verbundenen 
Daumen  abgesehen  hat.  Der  Abgeordnete  wird  auf  den  Schultern  der 
Wachleute  hinausgetragen  und  in  das  Landesgericht  eskortiert. 
Stürmische  Demonstrationen  sind  die  Folge  und  der  bang  erwartete 
Sonntag  bringt  blutige  Attacken  der  berittenen  Polizeiwache  und  der 
Husaren  gegen  Arbeiter  und  Studenten.  Sonntag  6  Uhr  abends  werden 
die  Wachleute  höflicher  und  verkünden  auf  den  Straßen  und  in  den 
öffentlichen  Lokalen:  Wir  haben  den  Auftrag,  mitzuteilen,  daß  der 
Ministerpräsident  Graf  Badeni  aus  seinem  Amt  und  der  Abgeordnete 
Wolf  aus  der  Haft  entlassen  ist.  Auf  allerhöchsten  Befehl  wird  sogar 
eine  Bestimmung  des  Preßgesetzes  übertreten,  es  ist  Sonntag  und  Extra- 
Ausgaben  des  Amtsblattes  verlautbaren  die  kaiserliche  Entschließung. 
Man  schwelgt  in  Befriedigung  über  die  mit  einem  Mal  geänderte 
Situation  und  empfindet  die  Genugtuung,  daß  der  Weg  von  den  Ereig- 
nissen der  Straße  nach  oben  und  wieder  zurück  von  oben  auf  die  Straße 
diesmal  in  zwei  Stunden  zurückgelegt  war.  Eine  dumpfe  Woche  ist 
zu  Ende,  man  illuminiert  und  bevor  man  sich  den  Befürchtungen  betreffs 
der  neuen  Regierung  hingibt,  will  alles  noch  einmal  aufatmen.« 

Diesem  Wiener  Brief  war  eine  > Nachschrift  vom  Nord- 
bahnhof, 3.  Dezember,  3/4l0  Uhr  abends«  angeschlossen,  in 
der  mitgeteilt  war,  daß  das  Manuskript  mit  demselben  Zuge  nach 
Breslau  gehe,  der  den  Grafen  Badeni  auf  sein  Out  Busk  in 
Oalizien  befördere  .  .  .  Das  beste  Wort  hat  damals  ein  Sicher- 
heitswachmann  gesprochen.  Ich  hatte  mich  nach  dem  Schluß  der 
letzten  Sitzung  in  den  leeren  Korridoren  des  Hauses  verirrt  und 
fand  irgendwo  eine  vergessene  Abteilung  von  Polizisten,  die  auf 
eine  Order  zu  warten  schien.  Auf  die  Frage  nach  dem  Ausgang 
erwiderte  einer  der  Leute:  »Pardon,  das  wissen  wir  nicht,  wir 
sind  hier  nicht  zu  Hause  !«  . . .  In  späteren  Jahren,  da  mir  die  öster- 
reichische Politik  von  allen  Gefühlen  nur  mehr  das  des  Ekels  ließ, 
verfing  sich  mir  die  Erinnerung  an  jene  Zeit  in  der  Vorstellung, 
daß  die  Polizei  entweiht  wurde,  weil  sie  den  Boden  des  Parlaments 
betreten  hat. 


—  55  — 


Die  Sommerplage  jeder  Großstadt  sind  die  Bauerntruppen, 
und  so  wie  Wien  alljährlich  von  den  Schlierseern  und  von  den 
Tegernseern  heimgesucht  wird,  so  produziert  sich  in  Berlin,  sobald 
es  heiß  wird,  die  Truppe  vom  Starnbergersee.  Der  derbkomische 
Milchmeier  Riedl,  der  auch  hinter  den  Kulissen  die  Qerichtsdiener 
mit  seinen  Lazzi  erheitert  und  den  Berichterstattern  »Guten  Tag, 
Herr  Reporter!«  zuruft,  und  der  FischerjackI,  der  als  sentimentaler 
Liebhaber  einer  Durchlaucht  immer  wieder  erzählen  muß,  was 
gewesen  ist,  und  der  hauptsächlich  die  Erkenntnis  bestätigen 
kann,  daß  aus  Lustknaben  nicht  Lustgreise  werden.  Diese  abgrün- 
dige Scheußlichkeit  einer  Gerichtsprozedur,  die  beweisen  will, 
daß  die  Vergangenheit  der  podex  der  Gegenwart  ist,  dieser  kon- 
frontierende Pöbelsinn,  diese  beispiellose  Pein,  eine  Fürstin 
und  ihre  Söhne  in  der  hirschledernen  Zeugenschaar  zu  sehen, 
hundertmal  beklemmender  noch  als  der  Anblick  des  Sterbenden, 
dem  Paragraphen  angesetzt  werden,  —  die  deutsche  Schmach 
hätte  sich  auch  in  diesem  Sommer  abspielen  sollen.  Weil  Herr 
Harden  bewiesen  haben  will,  daß  am  Fürsten  Eulenburg  der 
»Ruch  der  Männerminne«  hafte.  Unter  den  Zeugen  ist  wieder  der 
»Rentier  Schwulst«  da,  der  aber  Wert  darauf  legt,  für  kein  Pseudonym 
des  Herausgebers  der  ,Zukunft'  gehalten  zu  werden.  Herr  Harden  ist 
der  »Verletzte«  in  dieser  Rechtssache.  Aber  der  Tod  ist  Nebeninter- 
venient, er  hat  sein  Erscheinen  rechtzeitig  angemeldet  und  diesen 
ganzen  appetitlichen  Gerichtshof  wieder  einmal  auseinander  ge- 
jagt. Nicht  ohne  daß  vorher  Richter,  Staatsanwalt  und  Ge- 
schworne  einem  lebendigen,  eben  noch  lebendigen  Fürsten  den 
Puls  abgreifen  durften.  Pfui  Teufel,  in  was  für  Situationen  einen 
Botschafter  das  Unglück  bringen  kann !  Nach  diesem  viehischen 
Auftritt  enunziert  der  Gerichtshof  die  Vertagung,  mit  der  Be- 
gründung, daß  »wir  Richter  auch  Menschen  sind«.  Man  muß  die  Be- 
griffe eben  auseinanderhalten,  um  einer  Verwechslung  vorzubeugen. 
Vorher  hatte  ein  Geschworner  sich  geweigert,  mitzutun.  Vorher 
war  um  die  Frage  gerauft  worden,  ob  der  Fürst  den  Atem  will- 
kürlich eingehalten  habe.  Vorher  hatten  die  medizinischen  Kapazitäten 
zugeben  müssen,  daß  sie  durch  ein  leichtfertiges  Wort,  das  bloß  die 
Deutung  des  Vorwurfs  der  Simulation  zuließ,  dem  Angeklagten  Un- 
recht getan  hatten.  Vorher  war  der  ganze  Lügenplunder  des  Herrn 


-  56  — 

Harden,  der  dem  Fürsten  Eulenburg  die  Arterienverkalkung  nicht 
gönnen  will  und  die  Herzfleischentartung  nicht  in  dem  Bereich 
des  erweislich  Wahren  duldet,  in  die  Luft  gegangen  .  .  .  Der 
Fürst  wurde  auf  eine  Tragbahre  gelegt,  die  Fürstin  zog  ihren 
Mantel  aus  und  bettete  ihn  ihrem  Gemahl  unter  den  Kopf.  »Als 
die  Tragbahre  aufgehoben  wurde,  hielt  der  Fürst  sich  seinen  Hut 
vors  Gesicht.«  Der  Pöbel  von  Moabit  hatte  keine  Gelegenheit, 
ihm  den  Puls  zu  fühlen.  Wilhelm  der  Zweite  überläßt  ihn  der  Pein. 
Er,  der  die  geistige  Persönlichkeit  Eulenburgs  banalisiert  und  aus 
dem  Freund  Gobineaus  den  Sänger  Ägirs  gemacht  hat.  Der  Gast- 
freund von  Liebenberg  hält  Siesta.  Über  dem  Gerichtstisch  hängt 
das  Bild  Friedrichs  des  Großen.  Im  Namen  dieses  Königs  von 
Preußen  würde  Fürst  Eulenburg  nicht  verurteilt  werden! 

Karl  Kraus. 


Detlev  von  Liliencron 

»Wer  das  Leben  kennt  und  trotzdem  liebt, 
der  muß  ihn  lieben.  Keiner  vor  ihm  hat  es  so 
als  buntes  Spiel  begriffene 

Richard  Dehmel 


Herausgeber  nnd  verantwortlicher  Redakteur:  Karl  Kr  ans 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintefe  Zollamtsstraße  3 


Nr.   287  16.  September  1909  XL  Jahr 


üe  Fackel 

Herausgeber: 

KARL  KRAUS 


INHALT: 

Die  Entdeckung  das  Nordpols.  Von  Karl  Kraus. 

—  An  den -unbekannten  Freund.  Von  Karl  Borro- 
raaeus  Heinrich.  —  Aphorismen.  Von  Karl  Kraus. 

—  Heilig  ist  die  Leidenschaft!  Von  Karl  Hauer. 

—  Meine  Schriften.  —  Begräbnis.  Von  Detlev  von 

Liliencron. 


Erscheint   in   zwangloser    Folge 


Preis  der  einzelnen  Nummer  30  Heller 

Nachdruck  und  gewerbsmäßiges  Verleihen  verboten;  gericht- 
liche Verfolgung  vorbehalten 


WIEN-  BERLIN 

Verlag  ,DIE  FACKEL',  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3 
Berliner  Bureau  :  Haiensee,  Katharlnenstraße  5 


Im  Verlag  Jahoda  &  Siegel,  Wien, 
11/ 2,  Hintere  Zollamtsstraße  3  erschien 
oeben: 

KARL  KRAUS 

von  ROBERT  SCHEU 

MrjiT.  EINEM  BILDNiS) 
40  SEITEN  80,  broschiert 

Preis  80   Heller  (80  Pf.) 


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In  demselben  Verlag  erschien: 

Erinnerungen  aus  meinem  Leben 

Von  JOSEF  SCHÖFFEL 

INHALT:  Meine  Jugend  -  Beim  Militär  —  Vom  Wiener  Wald 

—  Im  Reichsrat  —  Meine  Tätigkeit  als  Bürgermeister 

—  Im  niederösterreichischen  Landesausschuß 

Preis:  gebunden  K  5.—,  geheftet  K  4.— 

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Dm  Fackel 

Nr   287  16.  SEPTEMBER  1909  XI.  JAHR 


Die  Entdeckung  des  Nordpols 
Von  Karl  Kraus 

Die  Entdeckung,  oder  wie  sie  auch  genannt 
wurde,  Eroberung  des  Nordpols  fiel  in  das  Jahr  1909. 
Sie  war  das  Werk  eines  kühnen  Amerikaners  und 
wurde  mit  umso  größerer  Genugtuung  begrüßt,  als 
in  demselben  Jahre  durch  die  Abtretung  so  vieler 
Amerikanerinnen  an  die  chinesischen  Kellner  das 
nationale  Ansehen  eine  empfindliche  Einbuße  erlitten 
hatte.  Aber  nicht  nur  in  Amerika,  nein,  in  der  ganzen 
Welt  fühlte  sich  das  kulturelle  Selbstbewußtsein 
gehoben,  man  begann  wieder  Mut  zu  fassen 
und  einer  Vorsehung  zu  vertrauen,  die  durch  die 
Entdeckung  des  Nordpols  die  zivilisierte  Mensch- 
heit offensichtlich  für  die  unerfreulichen  Ent- 
deckungen derselben  Saison  entschädigen  wollte.  Ein 
einziger  Missionär  der  Wissenschaft,  der  gesund  von 
den  Eskimos  wiederkehrt,  ist  reichlicher  Ersatz 
für  ein  Dutzend  Porscherinnen  des  Glaubens,  die  im 
Chinesenviertel  zurückbleiben,  und  man  nahm  es 
dabei  nicht  als  Zufall,  sondern  als  eine  besondere 
Aufmerksamkeit  des  Schicksals,  daß  gerade  der 
deutsche  Stolz  wieder  an  der  Eroberung  des  Nord- 
pols durch  einen  Mann,  der  früher  Koch  geheißen 
haben  soll,  beteiligt  war,  wie  im  andern  Sinne  an 
der  Ermordung  der  Elsie  Siegl.  Man  schwankte  keinen 
Augenblick,  welches  von  den  beiden  das  größere 
Ereignis  sei,  hatte  doch  dieses  vor  jenem  allein  schon 
die  Annehmlichkeit  voraus,  daß  man  endlich  wieder 
das  Maul  aufreißen  konnte.  In  diesem  Punkte  mußte 
man  es  geradezu  als  Erholung  empfinden.  Denn  als 
die  Kunde  in  die  Welt  ging,  daß  die  gelbe  Gefahr 
der  Geschmack   der  weißen  Frau   sei,    da   wurde  — 


—  2 


unseliges  Farbenspiel!  —  der  weiße  Mann  noch 
weißer,  da  hatte  er  eben  noch  die  Geistesgegenwart, 
die  Moral  hervorzuziehen,  nicht  ahnend,  daß  gerade 
sie  es  war,  die  ihn  so  weit  gebracht  hatte,  und  nun 
stritten  Scham  und  Furcht  um  den  Vorrang,  der 
Welt  den  Mund  zu  schließen.  Es  entstand  jenes  eisige 
Schweigen,  in  das  endlich  der  erlösende  Ruf  drang: 
Der  Nordpol  ist  entdeckt! 

Da  war  es,  als  ob  das  Weiß  dieser  Region  der 
gefundene  Hintergrund  gewesen  wäre,  auf  dem  das 
Antlitz  der  weißen  Kreatur  wieder  Farbe  bekam, 
und  die  erstarrte  Welt  belebte  sich,  erwärmte,  taute 
auf  an  der  Erkenntnis,  daß  die  Eskimos  doch  bessere 
Menschen  sind.  Man  muß  nur,  so  hieß  es,  ihre  Sprache 
verstehen,  ihnen  etwas  mitbringen  oder  in  die  Hand 
drücken,  so  zeigen  sie  dem  Fremden  bereitwillig  den 
Weg  zum  Nordpol.  Von  ihnen  war  noch  etwas  zu 
hoffen,  von  den  Chinesen  alles  zu  fürchten.  Die  geben 
keine  Auskunft,  wenn  man  sie  nach  der  Entwicklung 
fragt,  und  grinsen  nur,  wenn  ein  höflicher  Ausländer 
sich  erkundigt,  wer  von  ihnen  seine  Frau  ermordet  habe. 

Im  Jahre  1909  war  es,  daß  die  christliche  Kul- 
tur vor  dem  Osten  zu  retirieren  und  sich  nach  dem 
Norden  zu  konzentrieren  begann.  Ja,  man  baute  auf  die 
Eskimos.  Denn  nicht  nur  als  einen  Ausweg  aus  der 
Verlegenheit,  sondern  auch  als  die  Erfüllung  eines 
alten  Herzenswunsches  empfand  man  die  Entdeckung 
des  Nordpols.  Seit  Jahrhunderten  hatte  der  Mensch- 
heit, die  immer  vorwärts  schritt  und  sich  trotz  den 
Hühneraugen  des  Fortschritts  nicht  Ruhe  gönnte, 
ein  letztes  Etwas  zu  ihrem  Glücke  gefehlt.  Was  war 
es  nur?  Wovon  fieberten  Tage  und  Träume?  Was 
hielt  eine  Welt  in  Atem,  deren  Puls  nach  Rekorden 
gezählt  ward  ?  Was  war  das  Paradigma  aller  Begehr- 
lichkeit? Der  Trumpf  der  Streberei?  Die  Ultima 
Thule  der  Neugierde?  Der  Ersatz  für  das  verlorene 
Paradies?  Die  große  Wurst,  nach  der  auf  dem  irdi- 
schen Jahrmarkt  die  Wissenschaft  alle  Schlittenhunde 
hetzte  ?  Ach,  es  litt  die  Menschheit  nicht  beim  Tag- 


—  3  — 


werk:  der  Gedanke,  daß  da  oben  noch  ein  paar 
Q uadratmeilen  waren,  die  ein  menschlicher  Fuß  nicht 
betreten  hatte,  war  unerträglich.  Freudlos  wie  der 
Fleck,  den  es  endlich  zu  finden  gelang,  war  das 
Leben,  solange  er  nicht  gefunden  war.  Es  war  eine 
Blamage,  daß  wir,  denen  die  Welt  gehört,  uns  ihr 
letztes  Badchen  vorenthalten  lassen  sollten.  Wir 
schämten  uns  seit  der  Entdeckung  Amerikas  und 
hofften  all  die  Zeit,  daß  Amerika  sich  erkenntlich 
zeigen  werde.  Es  war  keine  Lust,  in  einer  Welt  zu 
leben,  über  die  man  nicht  vollständig  orientiert  war,  und 
mancher  Selbstmord  aus  unbekanntem  Motive  geschah 
vielleicht,  weil  es  auch  auf  Erden  noch  ein  unentdecktes 
Land  gab,  von  dess  Bezirk  kein  Wanderer  wiederkehrte. 
Und  in  der  Kinderstube  der  Menschheit  scholl  der  Frage : 
was  möchtest  du  werden?  immer  wieder  die  Antwort 
entgegen:  Entdecker  des  Nordpols I  Aber  das  Kind 
lernt  die  Ideale  ablegen,  während  der  Mensch  die 
kurzen  Hosen  nicht  austrägt.  Er  muß  wirklich  den 
Nordpol  haben!  Wenn  es  schon  seine  Lieblings- 
vorstellung ist,  daß  der  Nordpol  entdeckt  wird,  so 
genügt  sie  ihm  nicht:  er  drängt  auf  Erfüllung.  Und 
undankbar  wie  der  befriedigte  Idealist  nur  sein  kann, 
zögert  er  nicht,  der  jungfräulichen  Natur  die  Achtung 
zu  versagen,  sobald  sie  seiner  Werbung  sich  ergab. 
Ich  war  enttäuscht!  rief  Herr  Cook,  und  nannte  das 
Idol  der  Menschheit  einen  freudlosen  Fleck.  Denn 
an  dem  Nordpol  war  nichts  weiter  wertvoll,  als  daß 
er  nicht  erreicht  wurde.  Einmal  erreicht,  ist  er  eine 
Stange,  an  der  eine  Fahne  flattert,  also  ein  Etwas, 
das  ärmer  ist  als  das  Nichts,  eine  Krücke  der 
Erfüllung  und  eine  Schranke  der  Vorstellung.  Die 
Bescheidenheit  des  menschlichen  Geistes v  ist  uner- 
sättlich. 

Die  Entdeckung  des  Nordpols  gehört  zu  den 
Tatsachen,  die  sich  nicht  vermeiden  ließen.  Sie  ist 
der  Lohn,  den  sich  die  menschliche  Ausdauer  selbst 
erteilt,  wenns  ihr  schon  zu  lange  dauert.  Die  Welt 
brauchte  einen  Nordpolentdecker,  und  wie  auf  allen 


Gebieten   sozialer    Betätigung    entschied    auch   hier 
weniger  das  Verdienst  als  die  Konjunktur.    Nie^-war 
der  Zeitpunkt  günstiger  gewählt  als  in  i jenen  Tagen, 
da  der  Geist  zur  Erde  strebte  und  die  Maschine  sich 
zu    den  Sternen  erhob,    da   der    entseelte  Fortschritt 
in     der    Begleitung    einer  lustigen  Witwe    zu  Grabe 
ging.  Als  auf  Erden  nur  mehr  jene  Witze  verstanden 
wurden,    die    aus    dem   gemeinsten    Stoff   geschnitzt 
waren,  da  geschah  die  Entdeckung  des  Nordpols.  Sic 
ist  ein  wirksames  Extempore  einer  abgespielten  Ent- 
wicklung. Sie  geschah  und  schlug  ein.  Man  brauchte 
einen  Nordpolentdecker,  und  er  war  da.    Um  keinen 
Preis    der  Welt    hätte   sich    die  Welt   ihn    ausreden 
lassen,  sie,   die  die  vollzogenen  Tatsachen    liebt  und 
über   den    Zweifeln   der   Wissenschaft   mit   der   Be- 
ruhigung   schlafen    geht:     Seien   wir    froh,   daß  wir 
einen  Nordpolentdecker  haben!    Eine  rationalistische 
Kindsfrau  ist  es,  die  dem  Lieblnig  den  Zinnsoldaten, 
den    er    umklammert    hält,    mit   der  Motivierung    zu 
entreißen  sucht,  er  könne  nicht  marschieren.  Muß  man 
den  Nordpol  entdecken   können,  um   den  Nordpol  zu 
entdecken?  Aber  die  Zweifel  der  Wissenschaft  gehören 
zum    Kinderspiel,    das    sie    zu    stören    suchen.    Als 
Herr  Cook  erzählte,  woher    er   komme,    vollzog    sich 
die    Teilung   der   Welt   in   Idealisten  und  Skeptiker. 
Nie     zuvor    hatte     es     so    viele     Vertreter     beider 
geistigen     Richtungen     gegeben! .    Und     sie     waren 
einander  wert.     Die  Idealisten,   das  waren  vor  allem 
die  Männer,    die    die  Leitartikel    zu    schreiben    und 
dafür   zu  sorgen  hatten,    daß -der   letzte    langohrige 
Abonnent  und  treue  Esel  unseres  Blattes  die  Würde 
des   Zeitgenossen   zu  trägen  bekam.     Die  Skeptiker, 
das    waren   die    Männer    der  Wissenschaft,   also    die 
Herren   von   .der  Nordpolkonkurrenz.     Denn  wie  auf 
allen  Gebieteji  sozialer  Betätigung  entscheidet   auch 
hier  —  mit  einem   Wort,    die    Idealisten  waren    die 
sympathischere  Partei.  Es  war  erhebend,  als  ihr  Führer, 
der  Redakteur  vom  Börsenteil,  begeistert  ausrief,  die 
Entdeckung   des   Nordpols   sei    eine    Angelegenheit, 


die  jeden  einzelnen  angehe;  als  er  sie  einen  mora- 
lischen Gewinn  der  Menschheit  nannte  und  den  Idealis-  ' 
inus  pries,  der  in  dieser  von  materiellen  Interessen 
beherrschten  [ Welt  doch  noch  stecke.  Leider  besann  er 
sich  wieder  uad  fing  an,  sich  um  das.  allerletzte  noch 
ungelöste  Probjem  eines  arrivierten  Zeitalters  zu 
bemühen,  das  da  lautet:  Wem  gehört  der  .Nordpol? 
Der  Generalstaatsanwalt  von  Washington '  nämlich 
hatte  in  dieser  Situation  sofort  getan,  was  Staats- 
anwälte immer  und  mit  einer  Reflexbewegung  zu 
tun  pflegen:  er  hatte  den  Nordpol  beschlagnahmt.  Der 
Idealist  vom  Börsenteil  aber  meinte,  das  gelte  nicht, 
sondern  die  Okkupation  müsse  »effektiv«  sein,  und  be- 
gann von  der  Zeit  zu  träumen,  wo  der  Zinsfuß  die 
Region  des  ewigen  Eises  betreten  wird.  Die  Skeptiker 
waren  aber  auch  nicht  faul  und  verlegten  sich 
darauf,  das  Vorleben  des  Herrn  Cook  zu  erforschen, 
da  sie  einsahen,  daß*' zu  den  größten  menschlichen 
Schwierigkeiten  neben  der  Erreichung. des  Nordpols  der 
Beweis  des  Gegenteils  gehört.  Jenes  Geschäft,  das. 
den  meinten  Kredit  beansprucht  und  ihn  am  leich- 
testen erhält,  ist  daä  des  Nordpolfahrers,  und  auf 
keinem  Gebiet  hat  die  Wissenschaft  so  jnNfcföit, 
populären  Strömungen  und  günstigen  Wijideif  l!u 
rechnen  wie  auf  diesem.  Es  gibt '•  Zeiten ,  wo 
die  Angabe,  den  Nordpol  erreicht  zu  haben,  jpiire 
GeViietat  ist,  neben  "der  die  Erreichung  des '  Nölmpols  . 
nur  mehr  als  Pleißaufgabe  in  Betracht  kommt,'  und 
<vp  die  Behauptung,  man  sei  aus  Christiania  einge- 
troffen, Skeptiker  findet,  und  die  Versicherung,  man 
kpumie  vorn  Nordpol,  Idealisten.  Da  ist**s  denn 
'auch  vergebene  Mühe,  im  arktischen  Vorleben' eines 
menschen  eine  dubiose  Besteigung  des  Mourit  -Mac/ 
Kinley  zu  entdecken,  und  nichts  wäre  imstande, 
der  Welt  den  Nordpolfahrer  zu  entreißen,  den  sie 
einmal  hat. 

Erst  wenn  ihrer  zwei  sind,  wird  .die  Dummheit 
mißtrauisch.  Und  das  Mpt  der  Anfang  der  Politik. 
Die   Grenze,   welche  •  die/1*  Idealisten   von 'den   S^ep- 


6  — 


tikern  trennt,  verwischt  sich,  und  es  bilden  sich 
zwei  zielbewußte  Parteien,  von  denen  die  eine  auf 
Cook,  die  andere  auf  Peary  schwört,  nein,  wettet, 
und  vom  erledigten  Problem  des  Nordpols  erhebt  sich 
der  menschliche  Geist  in  die  Höhe  des  welthistorischen 
Turfskandals.  Die  Duplizität  der  Katastrophen  ist 
eine  wohltätige  Einrichtung,  die  dem  Fassungsvermö- 
gen der  Gehirne  entgegenkommt,  indem  sie  ihnen 
Zeit  läßt,  selbst  noch  das  Ahl  des  Erstaunens  zu 
buchstabieren.  Doppelt  hält  besser,  meinte  das  gut- 
gelaunte Schicksal,  als  es  mit  dem  Helden  bei  der 
Pesttafel  anstieß  und  ihm  zu  verstehen  gab,  daß  er  da 
oben  ein  Rendezvous  versäumt  habe.  Entgeistert  stand 
Herr  Cook.  Entgeistert  stand  die  Zeitgenossenschaft 
vor  einer  Kühnheit,  die  dem  Gedanken  des  unlauteren 
Wettbewerbs  bis  in  die  Region  des  ewigen  Eises 
Bahn  gebrochen  hat,  dorthin,  wo  der  Mensch  auf  die 
Vorräte  eines  andern  angewiesen  ist  und  die  Benützung 
fremder  Eskimos  und  Hunde  anfängt.  Aber  allmählig 
gewann  Überlegung  die  Oberhand  und  das  Volk  ent- 
schloß sich,  die  Lorbeern  so  zu  verteilen,  daß  es  einem 
der  beiden  Männern  unbedingt  die  Priorität  des  Nord- 
polerfinders zuerkannte. 

Hätte  Pearys  Leistung  noch  auf  den  Jubel 
rechnen  können,  den  Cooks  Behauptung  eingeheimst 
hat?  Die  Ehren,  die  man  für  ihn  noch  übrig  hatte, 
waren  Lampions  neben  den  Flammen  der  Begeisterung, 
die  ein  aktuelles  Wort  entzündet  hat.  So  setzt  die  Welt 
das  Verdienst,  den  Nordpol  erreicht  zu  haben, 
auf  das  verdiente  Maß  herab.  Man  hatte  sich 
ja  für  die  Sache  begeistert,  nicht  für  die 
Person.  Ob  Herr  Cook  den  Sieg  davontrug,  den  Herr 
Peary  errang,  ob  sich  einer  zu  Unrecht  einer  Gunst 
rühmte,  die  ein  Anderer  genossen  hatte  —  der  gute 
Ruf  des  Nordpols  war  dahin.  Das  Ideal  war  erledigt, 
und  alles  Interesse  gehörte  jetzt  dem  wissenschaft- 
lichen Raufhandel.  Herr  Cook  war  unehrlich  genug, 
seinem  Nachtreter  Prosit!  und  Herr  Peary  ehrlich 
genug,  seinem  Vorläufer  Pfui  Teufel!  zuzurufen.  Herr 


—  7 


Cook  war  so  loyal,  jede  Nordpolentdeckung  nach  der 
eigenen  zu  glauben.  Er  hatte  längst  das  seine  getan, 
den  unerläßlichen  wissenschaftlichen  Beweis  zu  er- 
bringen, denn  er  hatte  sich  nicht  damit  begnügt,  zu 
versichern,  daß  er  kein  Schwindler  sei  und  die  Bitte 
hinzuzufügen,  daß  man  ihm  dies  glauben  möge,  weil 
man  ihm  dann  auch  die  Entdeckung  des  Nordpols 
glauben  würde.  Er  hatte  sich  nicht  damit  begnügt, 
Proben  einer  feuilletonistischen  Begabung  zu  erbrin- 
gen, die  auch  den  nüchternsten  Zeitungsleser  davon 
überzeugen  mußte,  daß  er  wirklich  den  »Gipfelpunkt 
der  Erde«  erklommen  habe.  Nein,  er  hatte  ein  übriges 
getan  und  die  Skeptiker  geradezu  aufgefordert,  selbst 
nach  dem  Nordpoi  zu  gehen !  Auf  eine  solche  Antwort 
waren  sie  nicht  gefaßt  und  horchten  auf.  Am 
Nordpol,  hatte  er  gesagt,  werde  man  eine  Plagge  —  eine 
amerikanische  Plagge  aus  chinesischer  Seide  —  finden 
und  unter  ihr  vergraben  eine  Metallröhre,  in  der 
er  eine  Urkunde  über  seine  Expedition  deponiert 
habe.  Da  wagte  sich  nur  mehr  die  schüchterne  Präge 
hervor,  ob  denn  das  Eis  auf  dem  Nordpol  nicht  treibe. 
Dies  sei  natürlich  der  Fall,  sagte  der  Forscher, 
aber  er  habe  sich  ja  über  alles  bereits  zur  Genüge 
ausgesprochen.  Was  das  Eis  auf  dem  Nordpol  treibe, 
das,  wollte  er  sagen,  gehe  ihn  nichts  an,  und  er  hatte 
wahrlich  recht.  Denn  auf  diese  Erklärung  hin  rief  das 
Volk  Hurra  1,  selbst  Frau  Cook  zweifelte  nicht  mehr, 
sondern  ließ  telegraphieren:  »Ich  wußte,  daß  es 
ihm  gelingen  würde;  er  war  so  fest  davon  über- 
zeugt, als  er  abfuhr,  ich  wußte,  es  konnte  ihm 
nicht  mißlingen«,  und  ein  Varietödirektor  bot  dem 
Forscher  für  zehn  Wochen  16.000 Mark.  Da  aber  ein 
amerikanischer  Verleger  für  eine  Depesche  das 
Doppelte  bot,  so  meinte  Herr  Georg  Brandes, 
Cook  wäre  ein  Narr,  wenn  er  zum  Variete*  ginge. 
Von  dieser  Seite  hatten  die  Idealisten  den  Nord- 
pol noch  nicht  betrachtet  und  schon  begann  das 
liberale  Weltblatt,  das  mein  Freund  von  der 
Börse   leitet,   sich    für   die   Familienverhältnisse   des 


Entdeckers  zu  y^tey^ssieren.  Frau  Cook,  hieß  es 
zuerst,  habe  mit  ihm  seinen  Ehrgeiz  und  ihren  Reich- 
tum geteilt.  Eine  andere  Meldung  entrollte  ein  düsteres 
Farailienbild.  Die  Frau  hatte  während  der  Abwesen- 
heit des  Gatten  mit  materiellen  Schwierigkeiten  zu 
kämpfen  undmußte  Wertgegenstände  und  Kunstobjekte 
verkaufen,  um  sich  und  ihre  Kinder  zu  ernähren, 
während  der  Hallodri  den  Nordpol  entdecken  ging. 
Nun  erreichte  ihn  sein  Schicksal.  Frau  Peary,  so 
wurde  gemeldet,  hat  ihm  die  Fähigkeit  wissenschaft- 
licher Messungen  abgesprochen,  und  wenn  nicht  im 
letzten  Moment  Frau  Rasmussen  für  ihn  Partei  er- 
griffen hätte,  die  Nachbarinnen  der  arktischen  Zone 
hätten  ihm  die  Nordpolentdeckung  nicht  geglaubt.  Über- 
haupt kamen  da  nette  Dinge  zur  Sprache.  Von  Herrn 
Peary  hieß  es,  er  habe  die  Geschmacklosigkeit  begangen, 
zu  viele  Begleiter  zuzulassen,  und  er  sei  nur  deshalb 
nicht  als  erster  hinaufgelangt,  weil  er  seine  Frau  und 
eine  Hebamme  zum  Nordpol  mitnahm.  Als  dann  das 
Kind  kam,  fehlte  es  freilich  an  der  Amme.  Herr  Cook 
war  auch  hierin  gewitzter.  Er  brauchte  keine  Amme, 
er  wußte,  daß  man  ihm  die  Erzählungen  vom  Nordpol 
auch  so  glauben  werde,  und  fand  sogar  einen  Ver- 
leger, der  ihm  anderthalb  Millionen  Mark  dafür  bot. 
In  der  Fülle  gewinnender  Züge,  die  uns  an 
dem  Familienleben  zweier  Polarforscher  teilnehmen 
ließen,  darf  aber  die  Ansprache  nicht  vergessen 
werden,  die  die  Frau  Peary  vom  Balkon  ihrer  Villa 
an  die  Kurgäste  eines  Seebades  hielt  und  in  der  sie 
ihre  Absicht  kundgab,  ihren  Mann  fortan  für  sich 
allein  zu  behalten.  Damit  schien  wenigstens  die  Frage, 
wem  der  Nordpolentdecker  gehört,  für  alle  Zeiten 
entschieden.  Doch  wie  hart  klingt  auf  so  rührendes 
Bekenntnis  aus  einem  Frauenmund  die  Rede,  die  ein 
Kontre-  Admiral  plötzlich  vernehmen  ließ :  Herr  Peary  sei 
der  größte  Schwindler,  den  Amerika  je  hervorgebracht 
habe.  Also  auch  hier  wieder  zwei,  die  um  die  Palme 
ringen?  Wer  hat  zuerst  den  Nordpol  nicht  entdeckt? 
Man  fängt  ernstlich  an,  sich  nicht  mehr  auszukennen, 


9  — 


und  hofft  täglich  von  der  Wissenschaft  das  ent- 
scheidende Wort  zu  hören.  Denn  die  Wissenschaft  liest 
genau,  was  in  den  Zeitungen  steht  und  achtet  auf  alle 
Widersprüche,  um  sie  sich  anzueignen.  Sie  gibt  Gut- 
achten ab,  sobald  ihr  ein  erfundenes  oder  entstelltes 
Telegramm  unter  die  Nase  gehalten  wird,  sie  fühlt 
sich  vor  dem  Reporter  verantwortlich,  und  sie  weiß,  daß 
sie  wirklich  nicht  den  Nordpol  erreicht  haben  muß, 
um  zu  Ehren  zu  kommen,  sondern  bloß  die  unwirt- 
liche Gegend  einer  Nachtredaktion.  Und  nur  einem 
glücklichen  Zufall  hat  es  die  Welt  zu  verdanken, 
daß  von  der  Wissenschaft  die  Meldung  nicht  ap- 
probiert wurde,  Herrn  Cook  sei  es  gelungen,  »eine 
von  Wilden  reich  bevölkerte  Gegend  zu  ent- 
decken <.  Diese  Meldung  stand  in  einem  von  der 
Wissenschaft  weniger  gelesenen  Blatte,  während  in 
dem  führenden  Organ  der  Wissenschaft  die  richtige 
Fassung  zu  lesen  war,  daß  die  Expedition  »ein  wild- 
reiches Gebiet  entdeckte  habe.  Und  das  muß  wahr 
sein,  denn  das  hat  schon  Jules  Verne  behauptet. 
Trotzdem  kann  sich  auch  die  Wissenschaft  bei  einer 
so  schwierigen  Materie,  wie  es  der  Nordpol  ist,  und 
angesichts  des  Umstandes,  daß  er  vor  den  Herren 
Peary  und  Cook  bestimmt  noch  nicht  entdeckt  war,  nur 
darauf  einlassen,  Kredit  abwechselnd  zu  geben  oder  zu 
entziehen.  Unbeirrt  steht  sie  auf  dem  Standpunkt,  sie  sei 
nicht  geneigt,  sich  mit  zwei  Eskimos  und  einer  Fahne 
aufs  Treibeis  führen  zu  lassen.  Denn  noch  unverläß- 
licher als  die  Fahne  seien  die  Eskimo3.  Herr  Cook 
hatte  sich  auf  die  Herren  Itukisut  und  Avila  als 
Tatzeugen  für  die  Entdeckung  des  Nordpols  berufen, 
und  sie  sollten  wie  die  leibhaftigen  Schacher  sein 
Martyrium  umrahmen,  als  die  Frage  laut  wurde  :  Was 
ist  Wahrheit?  Dem  Einwand  des  Herrn  Peary,  daß 
die  Eskimos  bekanntlich  lügen,  hatte  er  heftig  gewehrt. 
Als  nun  Herr  Peary  depeschierte,  die  beiden  Be- 
gleiter Cooks  hätten  ihm  gesagt,  daß  er  keine 
nennenswerte  Entfernung  in  nördlicher  Richtung 
zurückgelegt  habe,  da  blieb  Herrn  Cook  nichts  übrig, 


-  10  — 

als  sich  auf  das  Axiom  zu  berufen,  daß  die  Eskimos 
lügen,  nachdem  es  Herr  Peary  bereits  für  ein  Vorur- 
teil erklärt  hatte,  und  wieder  standen  wir  vor  der 
Frage:  Was  ist  Wahrheit?  Denn  das  ist  das  spezi- 
fische Geheimnis  dieses  Geheimnisses,  daß  die  Mitter- 
nachtssonne nicht  jeneist,  die  es  an  den  Tag  bringt. 
Sie  scheint  beiweitem  nicht  so  sehr  der  Wahrheit 
förderlich  wie  der  Grobheit.  Während  nämlich  Herr  Cook 
noch  vorgab,  er  sei  stolz  auf  Peary,  riet  diesem  schon 
ein  anderer  Arktiker,  er  möge  das  Maul  halten.  Ob  aber 
Herr  Cook  ein  Proviantdieb  oder  Herr  Peary  ein 
Koffereinbrecher  sei,  darüber  ließ  man  die  ge- 
lernten Geographen  sich  die  Köpfe  zerbrechen,  und 
das  Bezirksgericht  sollte  entscheiden,  wer  den  Nord- 
pol entdeckt  habe.  Mochten  diese  Instanzen  zusehen,  wie 
sie  zwischen  Ehrendoktorat  und  Ehrenbeleidigung  die 
Wahrheit  fänden.  Die  Idealisten  verhielten  sich  zu 
dieser  Seite  des  Nordpols  ablehnend.  Die  ganze  Affäre, 
deren  tägliche  Wendungen  die  Satire  des  Vortags  be- 
stätigten, versprach  keine  Überraschungen  mehr.  Man 
hatte  den  Nordpol  satt  bekommen.  Und  nie  zuvor  war 
ein  Sturz  aus  allen  Himmeln  so  jäh  und  schmerzhaft 
erfolgt.  Man  war  zu  einem  Fest  der  Menschheit  ge- 
laden und  es  verlief  zum  Familienkrakeel,  bei  dem 
die  Heroen  einander  die  Ideale  an  den  Kopf  warfen. 
Eine  Kirchweih  hatte  mit  einer  Prügelei  der 
Heiligen  geendet.  Das  Volk  stob  auseinander,  der 
Nordpol  war  eine  so  kompromittierte  Sache, 
daß  niemand  mit  ihm  zu  tun  haben  wollte,  nicht 
einmal  der  Präsident  der  Vereinigten  Staaten,  und 
vielfach  begann  sich  bereits  die  Aufmerksamkeit  dem 
Südpol  zuzuwenden  .  .  .  Die  Wissenschaft  wird  einen 
letzten  Versuch  machen  und  ihre  Schiedsrichter  ent- 
senden. Sie  werden  hoffentlich  feststellen,  daß  es 
einen  Nordpol  wirklich  gibt,  weil  sie  ihn  vom  Hören- 
sagen kennen,  und  er  wird  froh  sein,  wenn  er  mit 
heiler  Haut  aus  dieser  Affäre  herauskommt,  dieser 
selbstzufriedene  Punkt,  von  dem  aus  überall  Süden 
ist  und  überall  Gemeinheit,  ein  freudloser  Fleck,  seit- 
dem er  mit  menschlichen  Dingen  in  Berührung  kam. 


—  11  — 

Denn  es  steht  geschrieben,  daß  die  Welt  größer 
wird  mit  jedem  Tag.  Ist  sie  im  Innern  so  befrie- 
digt, daß  sie  auf  Eroberungen  ausgehen  kann?  Oder 
führt  sie  nicht  eben  der  innere  Feind,  die  Dumm- 
heit, auf  diesen  Pfad?  Die  Presse,  der  Kropf  der  Welt, 
schwillt  von  Broberungslust,  platzt  vor  den  Errun- 
genschaften, die  jeder  Tag  bringt.  Eine  Woche  hat 
Raum  für  die  kühnste  Klimax  menschlichen  Ex- 
pansionsdranges: von  der  Eroberung  Niederöster- 
reichs durch  die  Tschechen  über  die  Eroberung  der 
Luft  zur  Eroberung  des  Nordpols.  Kombinationen  sind 
nicht  ausgeschlossen  und  wenn  nicht  Herr  Cook  das 
Wort  gehabt  hätte,  so  wäre  der  Nordpol  sicher  vom 
Zeppelin  durch  die  kaum  eroberte  Luft  erobert  worden. 
Die  allgemeine  Bereitschaft  zum  Maulaufreißen  findet 
sozusagen  ein  noch  nicht  dagewesenes  Entgegenkom- 
men bei  den  Ereignissen,  und  mit  der  Dimension  der 
Bewunderung  wächst  die  Dimension  der  Tatsachen, 
bis  im  Wettlauf  den  Gaffern  wie  dem  Schicksal  der 
Atem  ausgeht.  Und  ein  Hinauflizitieren  aller  Werte 
und  Bedeutungen  hebt  an,  von  dem  sich  jene 
keine  Vorstellung  machen  könnten,  die  einst  wert 
und  bedeutend  waren.  Der  größte  Mann  des  Jahr- 
hunderts ist  der  Titel  einer  Stunde,  die  nächste 
schon  verleiht  ihn  einem  andern.  Es  ist  erreicht !, 
kaum  noch  die  Devise  einer  ad  astra  weisenden  Schnurr- 
bartfasson, ist  gleich  wieder  der  Gruß,  der  kühne- 
ren, wenn  auch  nicht  weniger  bestrittenen  Erfindun- 
gen gegönnt  wird.  Der  Fortschritt,  der  den  Kopf  unten 
und  die  Beine  oben  hat,  strampelt  im  Äther  und 
versichert  allen  kriechenden  Geistern,  daß  er  die 
Natur  beherrsche.  Er  belästigt  sie  und  sagt,  er  habe 
sie  erobert.  Er  hat  Moral  und  Maschine  erfunden, 
um  der  Natur  und  dem  Menschen  die  Natur  auszu- 
treiben, und  fühlt  sich  geborgen  in  einem  Bau  der 
Welt,  den  Hysterie  und  Komfort  zusammenhalten. 
Er  feiert  Pyrrhussiege  über  die  Natur.  Was  nützt 
ihm  das  Tempo,  wenn  ihm  unterwegs  das  Gehirn 
ausgeronnen  ist  ?  Der  Fortschritt  macht  Portemonnaies 
aus    Menschenhaut.    Und   als    der    Mensch    mit  der 


—  12  — 


Postkutsche  reiste,  kam  die  Welt  besser  fort  als 
wenn  der  Kommis  durch  die  Luft  fliegt.  Wie  wird 
man  den  Erben  dieser  Zeit  die  primitivsten  Hand- 
griffe beibringen,  die  notwendig  sind,  um  die  kompli- 
ziertesten Maschinen  in  Gang  zu  setzen?  Die 
Natur  kann  sich  auf  den  Fortschritt  verlassen:  er 
rächt  sie  schon  für  die  Schmach,  die  er  ihr  an- 
getan hat.  Sie  aber  will  nicht  warten  und  zeigt,  daß 
sie  Vulkane  hat,  um  sich  von  lästigen  Eroberern  zu 
befreien.  Ihre  Weiber  verkuppelt  sie  mit  den  Tod- 
feinden der  Zivilisation,  zündet  mit  der  Moral  die 
Wollust  an  und  schürt  sie  mit  der  Rassenfurcht  zum 
Weltbrand.  Man  tröstet  sich  und  erobert  den  Nord- 
pol. Aber  die  Natur  klopft  ihnen  an  die  Tore  der 
Erde  und  rüttelt  an  ihrer  angemaßten  Hausherr- 
lichkeit. Man  tröstet  sich  und  erobert  die  Luft.  Gegen 
Glatteis  hat  man  keine  andere  Hilfe  als  das 
»Aufstreuen«  und  wenns  regnet,  bleibt  nichts  übrig 
als  den  Regenschirm  aufzuspannen,  aber  sonst  hat 
man  es  gelernt,  der  Natur  auf  die  kunstvollste  Art  zu 
imponieren.  Die  Natur  liest  keinen  Leitartikel  und  weiß 
darum  noch  nicht,  daß  man  gerade  jetzt  damit 
beschäftigt  ist,  »die  Welt  der  elementaren  Gewal- 
ten in  ein  Yernunftreich  zu  verwandeln«.  Würde  sie 
hören,  daß  die  Meldung  vom  erreichten  Nordpol  bei 
allen  Laufburschen  der  Erde  »das  Gefühl  der  Überlegen- 
heit über  die  Natur  gesteigert«  hat,  sie  hielte  sich 
den  Bauch  vor  Lachen,  und  Städte  und  Staaten  und 
Warenhäuser  würden  dann  ein  wenig  in  Unordnung 
geraten.  Sie  zuckt  ohnedies  schon  öfter  als  es  der 
Überlegenheit  ihrer  Bewohner  zuträglich  ist.  Binnen 
ein  paar  Wochen  haben  die  elementaren  Gewalten 
in  einer  so  deutlichen  Weise  ihre  Bereitwilligkeit 
bekundet,  in  ein  Vernunftreich  einzulenken,  daß  es 
auch  das  große  Publikum  verstehen  muß,  indem  sie 
durch  Erdbeben,  Springfluten,  Stürme,  sintflutartige 
Regen  Hunderttausende  von  Menschen  und  Millionen- 
hunderte von  Vermögen  in  Amerika,  Asien  und 
Australien   vernichteten,    und    nur    in    Europa    den 


—  13  — 


Redakteuren  die  Hoffnung  ließen,  daß  »der  Wille  des 
Menschen«  schon  demnächst  »alle  Hebel  der  Natur 
bewegen«  werde.  Jedem  Parasiten  der  Zeit  ist 
der  Stolz  geblieben,  ein  Zeitgenosse  zu  sein.  Man 
führt  die  Rubrik  »Eroberung  der  Luft«  und  muß 
die  Nachbarschaft  des  Ressorts  »Erdbeben«  nicht  be- 
achten, und  in  dem  Jahre  von  Messina  und  des  täg- 
lichen Nachgrollens  der  Erde  bewies  der  Mensch  seine 
Überlegenheit  über  die  Natur  und  flog  nach  Berlin. 
1909  opferten  die  Idealisten  den  ungnädigen  Elementen 
Makkaroni  und  schafften  für  die  verlorenen  Ideale  Ersatz 
am  Nordpol.  Denn  es  ist  Sache  des  Idealismus,  sich 
für  den  Verlust  des  Alten  damit  zu  trösten,  daß 
man  etwas  Neues  angaffen  kann,  und  wenn  die 
Welt  untergeht,  so  triumphiert  das  Überlegenheits- 
gefühl des  Menschen  in  der  Erwartung  eines  Schau- 
spiels, zu  dem  nur  die  Zeitgenossen  Zutritt  haben. 
Die  Entdeckung  des  Nordpols  war  unabwend- 
bar. Sie  ist  ein  Schein,  den  alle  Augen  sehen,  und 
vor  allen  anderen  jene,  dieblind  sind.  Sie  ist  ein  Ton, 
den  alle  Ohren  hören,  und  vor  allen  anderen  jene,  die 
taub  sind.  Sie  ist  eine  Idee,  die  alle  Gehirne  fassen,  und 
vor  allen  anderen  jene,  die  nichts  mehr  fassen  können. 
Der  Nordpol  mußte  einmal  entdeckt  werden.  Denn  Jahr- 
hunderte lang  war  durch  Nacht  und  Nebel  der 
menschliche  Geist  gedrungen,  in  hoffnungslosem 
Ringen  mit  den  mörderischen  Naturgewalten  der 
Dummheit.  Den  Weg  bezeichnen  die  Blutspuren  jener 
Ungezählten,  die  für  die  künstlerische  Tat  den  Kampf 
gegen  eine  erstarrte  Menschennatur  immer  wieder 
gewagt  hatten.  Wie  viele  Pioniere  des  Ge- 
dankens waren  verhungert  und  wurden  ein  Praß 
jener  wahren  Bestien  des  Eismeers,  deren  bloßes 
Dasein  die  Sperre  der  geistigen  Zone  bedeutet! 
Nicht  einen  Fußbreit  hat  Phantasie  dem  Reich  jenes 
weißen  Todes  abgewonnen,  dort,  wo  selbst  die  Hoff- 
nung versank,  die  Welt  der  menschlichen  Gewalten 
in  ein  Vernunftreich  zu  verwandeln.  Man  hat  so 
lange   den    Walrossen   Gedichte    vorgelesen,    bis    sie 


14  ~ 


schließlich  die  Entdeckung  des  Nordpols  mit  ver- 
ständnisvollem Kopfnicken  begleiteten.  Denn  die 
Dummheit  war  es,  die  den  Nordpol  erreicht  hatte, 
und  sieghaft  flatterte  ihr  Banner  als  Zeichen,  daß 
ihr  die  Welt  gehörte.  Die  Eisfelder  des  Geistes  aber 
begannen  zu  wachsen  und  rückten  immer  weiter 
hinunter  und  dehnten  sich,  bis  sie  die  ganze  Erde 
bedeckten.  Wir  starben,  die  wir  dachten. 


An  den  unbekannten  Freund. 
Von  Karl  Borromaeus  Heinrich. 

( .  .  .  Auf  seiner  zweiten  Bekehrungs- 
reise  kam  der  Apostel  auch  nach 
Athen.    Dort  fand   er  einen    Altar 
mit  der  Inschrift :    »Dem  unbekann- 
ten Gotte!«...    Neues  Testament) 
Mein  unbekannter  Freund,  weißt  du  noch,  wie   ich    meine 
Heimat  verließ,  um  mein  Vaterland  wiederzusehen?  es  war  genau 
vor  drei  Jahren. 

—  Die  Torheit  geschah  genau  vor  drei  Jahren,  meinst  du. 
Wie  kann  man  eines  Vaterlandes  wegen,   seine  Heimat  verlassen! 

—  Du  hast  Recht,  Oeist  des  unbekannten  Freundes.  Aber 
vergiß  nicht,  daß  ich  damals  einundzwanzig  Jahre  alt  war  .  . ., 
majorenn,  aber  unmündig.  Vergiß  nicht,  daß  mir  meine  Schwester, 
um  mich  von  Paris  wegzulocken,  fünfzig  Mark  in  Fünf-Mark- 
Scheinen  schickte,  mit  der  Bitte:  »Wechsele  dieses  um  in  fran- 
zösisches Geld  und  fahre  zurück  in  dein  Vaterland;  dort  kannst 
du  alles  recht  vollenden,  und  ein  sicheres  Einkommen  begründen.« 
Fünfzig  Maik,  noch  dazu  in  zehn  einzelnen  Scheinen.  Ich  konnte 
mich  des  Eindruckes  der  Banknoten  nicht  erwehren,  fuhr  aus  der 
Heimat  ins  Vaterland,  und  es  blieben   mir,   dritter   Klasse,   sogar 

noch  zehn  Mark  übrig. 

• 

Ich  gestehe  selbst  zu,  daß  ich  nicht  sehr  gut  gekleidet  war, 
als  ich  damals,  vor  drei  Jahren,  die  ürenze  passierte.  Aber  einen 
solchen  Empfang  in  Deutschland  hatte  ich  dessentwegen  noch  lange 


-  15 


nicht  verdient.  Unbekannter  Freund,  du  allein  weißt,  wie  mir  das  weh 
tat:  Als  mich  in  Deutsch-Avricourt  die  zudringlichen  Schutzmanns- 
augen, weil  ich  sozusagen  mittelmäßig  gekleidet  war,  vom  Kopf 
bis  zum  Fuße  musterten,  und  sich  mit  einer  heuchlerisch-plumpen 
Freundlichkeit  an  mich  heranglotzten :  —  »Na,  junger  Freund,  wo 
geht  die  Reise  hin?«  fragte  mich  einer  dieser  Burschen  —  obwohl 
ich  vorher  einem  anderen  meinen  Paß  gezeigt  hatte,  der  doch 
durchaus  in  Ordnung  war  und  vollkommen  erwies,  daß  ich  nicht 
als  Deserteur  in  mein  Vaterland  zurückkehrte  .  .  .  >Na,  junger 
Freund,  junger  Freund«,  sprach  mich  dieser  Dienstbote  an.  Ein 
deutscher  Kriminal-Unterdienstbote  nannte  mich  >junger  Freund« ! 
Damit  fing  es  an   in  diesem  komischen  Vaterland. 

• 
In  meiner  Vaterstadt  hatte  ich  einen  jungen  Freund,  den 
ich  damals,  nach  dreijähriger  Trennung,  immer  noch  so  liebte, 
wie  keinen  Menschen  auf  der  Welt.  Ihm  schrieb  ich  gleich  bei 
meiner  Ankunft,  er  möge  am  folgenden  Tage  mit  mir  zusammen- 
kommen; und  ich  schlug  ihm,  um  die  Schönheit  des  Wieder- 
sehens zu  erhöhen,  einen  stillen,  waldumsäumten  Ort  in  der  Um- 
gebung vor  (denn  das  Rauschen  des  deutschen  Tannenwaldes  hat 
oft  die  Melodie  meiner  Seele  begleitet).  Ich  fuhr  zwei  Stunden 
früher  hinaus,  als  ich  ihn  bestellt  hatte.  Und  zwei  Stunden  lang 
schlug  ihm  mein  Herz  entgegen.  —  Er  kam.  > Entschuldige«,  sagte 
er,  »ich  verstehe  zwar  sehr  gut,  warum  du  dieses  entlegene  Nest 
für  unser  Wiedersehen  gewählt  hast  —  es  ist  jedenfalls  wegen  der 
Romantik.  Aber  ich  muß  in  zehn  Tagen  ein  kleines  Examen 
machen,  da  hab'  ich  heut'  höchstens  zwei  Stunden  frei.«  Zehn 
Tage  für  ein  Examen  —  zwei  Stunden  für  eine  Freundschaft.  Er 
erklärte  dies  vorwegnehmend,    indem    er    sagte:    »Ich    bin    älter 

geworden.« 

« 

Unbekannter  Freund,  ich  war  damals  so  jung  und  gut  und 
dumm.  Du  allein  weißt  es. 

Ich  bat  meine  Freunde:  >Wir  müssen  eine  Brüderschaft 
gründen.  Eine  Brüderschaft,  di«  uns  alle  erzieht.  Indem  wir  gegen- 
seitig das  Höchste  von  uns  verlangen.  Damit  sprengen  wir  eine 
Welt,  die  .  .  .« 

» —  Ja,  das  ist  eine  ausgezeichnete  Idee.  Wir  können  uns 
auch  in  unserer  Karriere  dabei  helfen.  Gegenseitig,  mit  den  Kon- 


16  — 


nexionen,  die  jeder  hat.  Überhaupt    fest  zusammenhalten,    damit 
jeder  was  Ordentliches  wird.«  So  antwortete  einer. 

».  .  .  indem  wir  gegenseitig  das  Höchste  von  uns  verlangen. 

Damit  sprengen  wir  eine  Welt,  die  .  .  .< 

• 

Die  Einen  waren  zum  Korps  gegangen  und  hatten  für 
nichts  mehr  Interesse.  Die  Anderen  hatten  nicht  einmal  für  das 
Korps  Interesse. 

Im  Übrigen  waren  sie  alle  »aufgeklärt«.  Nichts  mehr,  wo- 
von sich  diese  jungen  Leute  noch  etwas  hätten  träumen  lassen. 
Nichts.  Selbstzufriedene  Seelen ;  Weltanschauung:  Die  sieben  ge- 
lösten Rätsel,  Volksausgabe,  zu  einer  Mark. 

Wenn  diese  Leute  durch  den  Wald  gingen,  hörten  die 
deutschen  Tannen  auf  zu  rauschen.  Und  die  Quelle  plätscherte 
geringschätzig:  Wer  mir  keine  Geheimnisse  mitbringt,  für  den 
habe  ich  auch  keine  übrig. 

• 

»Liebst  du  eigentlich  deinen  Beruf?«  fragte  ich  einen  mir 
befreundeten  Studiengenossen  und  künftigen  Erzieher. 

»Na  ja,  es  ist  ja  auch  in  unserm  Fach  schon  recht  über- 
füllt«, lautete  die  Antwort.  »Ich  meine  zwar  nicht  gerade  wegen 
der  Chancen  und  Aussichten  .  .  .«  »Ach  so,  du  meinst  im  Allge- 
meinen! ...  Ja,  im  Allgemeinen  sind  wo  anders  die  Chancen 
auch  nicht  besser.« 

Wenn  ich  in  späteren  Jahren  nicht  so  reich  sein  werde,  um 
mir  Hauslehrer  auszusuchen,  fällt  vielleicht  einmal  ein  Sohn  von 
mir  diesem  Fachmann  in  die  Hände. 

Unbekannter  Freund,  welche  Opfer  erheischt  ein  Vaterland ! 
• 

Ich  streichle  Bäume,  Blüten  und  Qräser.  Denn  die  Menschen 
hier  wollen  keine  Zärtlichkeiten  verstehen;  sie  nennen  es  un- 
männlich. 

Ich  habe  ein  Oänseblümchen  geküßt. 

Man  lachte  mich  aus  dafür. 

Die  Freunde  in  meinem  Alter  wollen  alle  männlich  sein. 
Es  muß  sehr  schwer  sein,  dieses  Männliche  zu  definieren;  noch 
mehr,  es  zu  erlernen. 

Ich  bin  in  der  Kirche  zum  Kruzifix  hingegangen,  das  unter 
der  Kanzel  hängt,  »und  küßte  ihm  leise  die  Füße.  Da  klopfte  mir 


17 


der  Mesner  auf  die  Schulter  und  redete  mir  zu  :  »Gehn  S',  san  S' 
doch  net  so  auffällig!  Tun  S'  Ihnen  doch  beruhigen.  Fromm  sein 
—  aber  net  glei  verruckt  sein,  gelten  S'!<  Man  ist  hier  für  eine 
herbe,  zurückhaltende  Männlichkeit  eingenommen. 

>Wir  Götter<,  sprach  ein  Gott,   >fürchten    die   Deutschen, 

aber  sonst  nichts  in  der  Welt!« 

* 

Zeitungsbericht : 

Beim  Empfang  der  Pilger    küßte    der    Papst   zweimal    die 

Schleifen  der  französischen  Fahne. 

* 

Da  war  ein  Mensch,  gut  zwei  Jahrzehnte  älter  als  ich,  den 
ich  viel  mehr  liebte  als  mich  selbst,  und  lurchaus  höher  achtete. 
In  allem  suchte  ich  ihm  nachzueifern;  denn  er  war  in  sich  voll- 
kommen. Und  wie  eine  in  sich  selber  ruhende  Sonne  leuchtete 
seine  Liebe  lächelnd  und  manchmal  spöttisch  über  meine  Unrast. 

Wir  liebten  uns  und  trugen  einander  alles  zu,  was  wir  er- 
lebten. Wenn  mich  Zweifel  befielen,  in  was  auch  immer,  fragte 
ich  meinen  älteren  Freund. 

Einmal  aber  geriet  mein  Freund  selbst  in  die  schwersten 
Zweifel.  Die  Frauen  machten  ihm  zu  schaffen. 

Ich  wartete  voller  Sehnsucht,  daß  er  mich  frage,  denn  so 
gut  wie  ich,  fühlte  niemand,  welcher  Frau  mein  Freund  bedurfte. 

Er  aber  fragte  mich  überhaupt  nicht.  >Für  all  dies  ist  er 
zehn  Jahre  zu  jung«,  sagte  er  sich  und  besprach  lieber  mit  ein- 
geschrumpften Altersgenossen  sein  Leid.  Mit  Entsetzen  sah  ich, 
daß  sie  ihm,  in  ihrer  Schwerfälligkeit  und  Müdigkeit,  das  Ver- 
kehrte geraten  hatten. 

»Sie  sind  zu  jung«,  sagte  er,  »was  verstehen  Sie  davon!« 
Meine  Seele  errötete  tief  und  kroch  in  sich  selbst  zurück.  Kein 
stolzer  Mensch  läßt  sich  lieben,  wenn  er  zu  jung  befunden  wird. 

• 

Unbekannter  Freund,  du  weißt  wohl,  Goethe  ist  kein  Argu- 
ment für  dieses  Vaterland.    Die    »Iphigenie«    hat    er    in    Italien 

geschrieben. 

* 

Einen  liebte  ich,  der  wirklich  zart  von  Gemüt  war,  reich 
an  Geist,  vornehm  und  diskret.  Die  deutsche  Schamhaftigkeit  ver- 
bot ihm  aber,  diese  Eigenschaften  auch  nur  ahnen  zu  lassen.  Um 
sie  möglichst  gut  zu  verbergen,   pflegte  er  die  Zote  und  bediente 

287 


—  18  — 

sich  niedriger  Ausdrücke.  Darin  vervollkommnete  er  sich  so  weit, 
daß  er  überhaupt   nicht   mehr  über    seine   anständigen   Gefühle 

reden  konnte. 

• 

Ein  anderer  war  heiter  von  Charakter. 
Er  verdarb  sich,  indem   er    aus    seiner   Heiterkeit    Pointen 
schlug  und  auf  Effekte  ausging. 

Um  ihn  habe  ich  geweint,  unbekannter  Freund. 

• 

Warum  muß  alles  verzerrt  erscheinen  in  diesem  Lande? 
Drei  Jahre,  drei  lange  Jahre  bin  ich  jetzt  unter  den  Menschen 
meiner  Vaterstadt  herumgewandert.  Diese  Menschen  finde  ich  nun 
alle  >bös  und  fremd«. 

Zuletzt  hat  es  meine  Freundschaft  mit  einem  ganz  alten 
Mann  versucht.  Den  liebte  ich  gleichsam  aus  der  Ferne,  und  ich 
saß  still  und  andächtig  am  Tisch,  wenn  er  mit  Anderen  sprach. 
Als  er  mich  einmal  um  etwas  fragte,  antwortete  ich  bescheiden 
und  nur  von  mir  und  meinem  Standpunkt  aus.  Ich  hielt  dafür, 
daß  es  einem  jungen  Menschen  so  gezieme.  Der  alte  Mann  er- 
widerte ranh  und  streng:  »Sie  sind  immer  nur  mit  sich  selbst 
beschäftigt!  Sie  sind  ein  eingebildeter  Mensch.  Alles  betrachten 
Sie  von  sich  aus.« 

Meine  Art  von  Freundschaft  versteht  hier  niemand.  Alle 
Menschen  hier  finde  ich  >bös  und  fremd.« 

Das  macht,  der  Himmel  ist  hier  niedrig,  die  Luft  grau  und 
undurchsichtig,  der  Winter  dauert  sieben  Monate  und  die  Herzen 
sind  mit  ewigen  Schnee  bedeckt. 

Unbekannter  Freund,  ich  will  dich  wieder  in  meiner  Hei- 
mat, in  Paris  suchen! 

Paris.  Ich  suche  dich  auch  hier  vergebens.  Hier,  wo  sich  alles 
so  geändert  hat.  Hier  gehört  jetzt  jeder  Mensch  zu  einem  Syndikat. 
Man  trifft  sie  nur  mehr  rudelweise  an.   Wenn  man   einen  lieben 

will,  muß  man  gleich  eine  ganze  Organisation  lieben! 

• 

Bis  jetzt  habe  ich  hier  in  Paris  zwei  Menschen  kennen 
gelernt,  die  noch  zu  keinem  Syndikat  gehören.  Der  eine  war  ein 
Hochstapler.  Aber  wie  sollte  ich  mich  mit  ihm  befreunden?  Ich 
bin  zu  arm,  als  daß  er  mich  bestehlen  konnte.  Ich  verstehe  daher, 
daß  er  mich  nicht  liebte,  obwohl  er  mehr  Zärtlichkeit  mit  sich 
herumträgt  als  tausend  andere  zusammen. 


19 


Der  andere  ist  ein  Theologe. 

Wärst  du  das  am  Ende,  unbekannter  Freund? 

Er   war   es   nicht.   Er  liebte  mich  innig.  Aher  anstatt  Gott 

in  mir  zu  lieben,  liebte  er  mich  in  Gott.  " 

» 

Ich  will  weiter  suchen.  Einstweilen  baue  ich  einen  Altar, 
auf  den  ich  dieses  Tagebuch  lege  und  der  die  Inschrift  trägt : 
»Dem  unbekannten  Freunde.« 

*  * 

* 

Aphorismen*) 
Von  Karl  Kraus 

Ein  Kellner  ist  ein  Mensch,  der  einen  Frack 
anhat,  ohne  daß  man  es  merkt.  Hinwieder  gibt  es 
Menschen,  die  man  für  Kellner  hält,  sobald  sie  einen 
Frack  anhaben.  Der  Frack  hat  also  in    keinem    Fall 

einen  Wert. 

* 

Vor  dem  Friseur  sind  alle  gleich.  Wer  zuerst 
kommt,  hat  den  Vortritt.  Du  glaubst,  ein  Herzog 
sitze  vor  dir,  und  wenn  der  Mantel  fällt,  erhebt  sich 
ein  Schankbursche. 

• 

Wenn  Prostitution  des  Weibes  ein  Makel  ist, 
so  wird  er  durch  das  Zuhältertum  getilgt.  Man  sollte 
bedenken,  daß  sich  manch  eine  für  die  Gewinste,  die 
sie  erleidet,  durch  reichlichen  Verlust  entschädigen 
kann. 

Die  Sprache  entscheidet  alles,  sogar  die  Frauen- 
frage. Daß  der  Name  eines  Weibes  nicht  ohne  den 
Artikel  bestehen  kann,  ist  ein  Argument,  das  der 
Gleichberechtigung  widerstreitet.  Wenn  es  in  einem 
Bericht  heißt,  >Müller«  sei  für  das  Wahlrecht  der 
Frauen  eingetreten,  so  kann  es  sich  höchstens  um 
einen  Feministen  handeln,  nicht  um  eine  Frau.  Denn 
selbst  die  emanzipierteste  braucht  das  Geschlechtswort. 


*)  Aus  dem  .Simplicissimus'. 


—  20  — 

Der  Ausdruck  sitze  dem  Gedanken  nicht  wie 
angemessen,  sondern  wie  angegossen. 

* 

Lieben,  betrogen  werden,  eifersüchtig  sein  — 
das  trifft  bald  einer.  Unbequemer  ist  der  andere 
Weg  :  Eifersüchtig  sein,  betrogen  werden  und  lieben! 


Heilig  ist  die  Leidenschaft! 
Von  Karl  Hauer 

Die  Selbsterschaffung  des  Menschen  ist  noch 
nicht  vollendet.  »Du  wirst  sein  wie  Gottc,  ruft  sein 
Stolz,  in  Wahrheit  aber  ist  seine  Sehnsucht  eine 
Trauer  um  das  verlorene  Paradies,  um  das  Glück  des 
Tieres.  Denn  im  Tiere  ist  kein  Zwiespalt  und  Zweifel, 
keine  Torheit  und  kein  Wahnsinn.  Das  Sein  des 
Tieres  ist  Harmonie,  seine  Triebe  sind  Vernunft,  nicht 
eine  kleine,  schwächliche  Vernunft,  wie  es  die  des 
menschlichen  Denkens  ist,  sondern  eine  leibhaftige, 
leibgewordene,  allem  Irrtum  entrückte  Vernunft.  Der 
tierische  Organismus  mit  seinen  unverkümmerten 
Instinkten  stellt  ein  so  hohes  Maß  von  Vernünftigkeit 
dar,  daß  die  junge,  unfertige,  kurzsichtige  Vernunft 
des  menschlichen  Geistes  dagegen  recht  kläglich 
erscheint.  Und  in  der  Tat  stützt  diese  »kleine  Ver- 
nunft«, wie  Nietzsche  sie  einmal  nennt,  bei  ihren 
Gehversuchen  sich,  wissentlich  oder  unwissentlich, 
auf  die  »große«,  überlegene  Vernunft  der  unge- 
brochenen Instinkte.  Die  im  tierischen  Leibe  fleisch- 
gewordene  Weisheit,  in  der  alle  Erfahrung  unendlicher 
Vergangenheit  einverleibt  ist,  diese  Weisheit  des 
Tieres  ist  das  Licht,  das  aller  menschlichen  Weisheit 
voranleuchten  muß,  da  sie  sonst  im  Finstern  stünde 
und  nicht  wüßte,  wohin.    Deshalb  zollte  der  Mensch 


—  21  — 

dem  Tiere  und  seiner  Instinktweisheit  von  jeher  die 
höchste  Verehrung.  Nicht  nur  der  kindliche  Mensch 
der  Urzeit,  sondern  auch  der  Mensch  der  Hochkultur. 
In  den  religiösen  Zeremonien  des  Steinzeitmenschen 
spielten  Wildpferd  und  Wildkatze  eine  hervorragende 
Rolle,  bei  den  Indianern  genoß  schon  in  Urzeiten 
der  Bär  religiöse  Verehrung.  Die  Totems,  die  heiligen 
Staramesabzeichen  der  Indianer,  sind  durchwegs  Tiere, 
vorzugsweise  Bär,  Schlange,  Adler  und  Fisch,  und 
indianische  Häuptlinge  führen  mit  Vorliebe  Tiernamen. 
Die  genaue  Analogie  hiezu.  finden  wir  in  den  Wap- 
pentieren unserer  Adelsgeschlechter,  in  vielen  Adels- 
prädikaten und  in  Herrscherbeinamen  wie  »Löwen- 
herzc.  Gestirne  und  gewaltige  Naturerscheinungen 
erschienen  primitiven  Völkern  als  mächtige  Tiere: 
die  Sonne  als  ein  Löwe,  der  Blitz  als  eine  gefiederte 
Schlange.  Die  alten  Ägypter  hielten  Stier,  Krokodil, 
Nilpferd,  Sperber  und  Katze  heilig,  und  ihre  Götter 
haben  fast  durchwegs  Tierhäupter  und  andere  tierische 
Zutaten.  Gott  und  Tier  schienen  den  Ägyptern  eins. 
Die  ältesten  Symbole  des  Christentums  sind  Lamm, 
Taube  und  Fisch.  Den  Indern  erscheint  jedes  Tier 
beseelt  und  unverletzlich;  der  Araber  schätzt  das 
Pferd  höher  als  das  Weib,  die  arabische  Sprache 
kennt  mehr  als  zweihundert  verschiedene  zarte 
Schraeichelnamen  für  das  Pferd.  Kinder  und  Frauen 
fühlen  sich  zu  den  Tieren  aufs '  lebhafteste  hin- 
gezogen. Das  Kind  sieht  im  Tier  nichts  Niedriges 
und  Verächtliches,  sondern  etwas  durchaus  Gleich- 
gestelltes, ja  vielfach  etwas  Überlegenes  und  Ver- 
ehrungswürdiges. Gottfried  Keller  konnte  sich  als 
Knabe  keine  Vorstellung  vom  lieben  Gotte  machen, 
von  welchem  man  ihm  erzählt  hatte;  als  er  aber  in 
einem  Bilderbuche  einen  grimmigen  Tiger  sah,  war 
ihm  allsogleich  klar,  daß  dies  der  liebe  Gott  sei. 
Das  Volk  schuf  in  den  verschiedensten  Ländern  und 
zu  den  verschiedensten  Zeiten  Tierfabel  und  Tier- 
märchen, und  wer  die  Kosenamen  belauscht, die  Liebende 
einander  geben,  wird  entdecken,  daß  es  in  allen  Spra- 


—  22 


chen  vorzüglich  Tiernamen  sind.  Ein  breiter  und  tiefer 
Strom  von  Sympathie,  von  Zusammenhangsgefühl  und 
Verehrung  führte  und  führt  vom  Menschen  zum  Tiere. 

Die  Wurzel  solcher  Tierverehrung  ist  des  Men- 
schen ahnendes  Begreifen,  daß  die  Gottähnlichkeit, 
die  er  für  sich  erträumt,  nicht  in  körperloser  Geistig- 
keit bestehen  kann,  daß  vielmehr  der  Weg  zu  seiner 
Vervollkommnung  ein  Weg  zur  Einheitlichkeit  und 
körperlichen  Vollkommenheit  des  Tieres  ist.  Das 
Tier  nämlich  ist  ein  Ganzes,  Ungeteiltes,  ein  Indi- 
viduum. Der  Mensch  aber  ist  etwas  Zwiespältiges, 
verschieden  Bedingtes:  ein  Dividuum.  Das  Tier  ist 
zu  Ende  organisiert,  seine  Triebe  sind  untereinander 
ausgeglichen,  es  hat  ein  konstantes  Gleichgewicht 
und  lebt  in  steter  Gegenwart.  Der  Mensch  macht 
noch  den  Krampf  des  Sich-Gebärens  durch,  er  ist  ein 
Kampfplatz  zwischen  Intellekt  und  Instinkt,  zwischen 
Geist  und  Trieb,  zwischen  einem  zentralen  und  peri- 
pherischen System,  er  ist  zugleich  ein  Täter  und  ein 
Wisser,  und  die  Gegenwart  ist  für  ihn  nur  die  Scheide 
von  Vergangenheit  und  Zukunft.  Das  Tier  lebt  un- 
bewußt, unberechnend  und  doch  höchst  weise;  der 
Mensch  aber  ist  mit  einem  Wissen  belastet,  das  zu 
unvollkommen  ist,  ihm  ein  sicherer  Führer  zu  sein, 
und  trotzdem  schwerwiegend  genug,  seinem  Empfinden 
und  Wollen  die  Naivität  zu  rauben. 

Der  Mensch  kann  jedoch  nicht  mehr  zurück; 
er  kann  sich  des  Geistes  nicht  mehr  begeben,  wie 
er  auch  dem  Triebe  niemals  entrinnen  kann.  Die 
»reine  Vernunftc  ist  reiner  Unsinn.  Vernunft  und 
Trieb,  Geist  und  Leib  müssen  wieder  eins  werden. 
Und  um  eins  zu  werden,  muß  die  Vernunft  zu  einem 
wirksamen  Triebe  werden;  sie  muß  die  andern  Triebe 
durchdringen  und  verstärken,  sie  muß  gewissermaßen 
Leib  werden.  Der  Leib  ist  das,  was  bewahrt  und 
bewehrt  werden  soll.  Alle  menschliche  Wirklichkeit 
ist  Leib.  Eine  herrschsüchtige  Vernunft,  eine  Ver- 
nunft um  der  Vernunft  willen,  eine  selbständige 
Vernunft   ist    eine  Gefahr   für   den  Menschen.     Der 


—  23  — 


Geist,  der  sich  vom  Leibe  lossagt,  der  asketische 
Geist  schwächt  und  verdirbt  die  Triebe,  den  Leib, 
den  Menschen.  Die  bare  Vernunft  ist  nicht  besser 
als  die  bare  Unvernunft.  Und  der  nur  vernünftige 
Mensch  wäre  der  unvernünftigste  aller  Menschen. 
Ja,  ein  Mensch,  der  den  Verstand  verloren  hat,  ißt 
noch  weit  mehr  ein  Mensch  als  einer,  der  nur  seinen 
Verstand  behalten  hätte. 

Trotzdem  zielt  alles,  was  man  heute  Portschritt, 
Kultur  oder  mit  andern  Schwindelnamen  nennt,  darauf 
ab,  den  Menschen  zu  einem  unglückseligen  Verstandes- 
automaten zu  machen.  Das  städtische  Leben,  das  heute 
auch  schon  die  Landbewohner  in  seine  Wirbel  zieht, 
besteht  in  einem  fortwährenden  Sich-Reiben  aller  an 
allen,  es  läßt  keinerlei  Einsamkeit  zu  und  zwingt 
jeden  zu  unaufhörlichen  Rücksichtnahmen.  Da  aber 
der  Mensch  trotz  der  Behauptung  des  Aristoteles  von 
Natur  aus  kein  zoon  politikon,  keine  Biene  oder 
Ameise  ist,  sondern  eher  ein  Fischer,  Jäger 
oder  unbekümmerter  Waldläufer,  ein  nur  in 
lockern  Rudeln  lebendes  Tier  mit  dem  ausgeprägten 
Bedürfnis  häufiger  Einsamkeit,  so  müssen  seine 
natürlichen  Triebe  in  einem  extremen  Stock- 
und  Haufenleben  entarten  und  verkümmern.  Sie 
können  ihm  nicht  nur  keine  Führer  sein,  er  muß  sie 
sogar  als  ständige  Gefahr  empfinden,  denn  sie  ver- 
leiten ihn  fort  und  fort  zu  Verbotenem.  Andere  als 
Ameiseninstiiikte  sind  im  Ameisenhaufen  polizeiwidrig. 
Der  zur  Ameise  entartete  Mensch,  der  Mensch  der 
sinnlosen  Emsigkeit,  muß  sich  auf  seinen  Verstand 
—  was  für  einen  Verstand!  —  verlassen.  Der 
Verstand  aber  ist  verschliffener  Geist.  Wie  der 
Geist  ein  Produkt  der  Einsamkeit  ist,  ein  lang- 
sames, tiefes  Besinnen  der  leiblichen  Wirklichkeit  auf 
sich  selbst,  so  ist  der  Verstand  buchstäblich  ein  Pro- 
dukt des  Verkehrs,  die  schnelle  und  oberflächliche 
Festlegung  des  Konventionellen.  Geist  ist  Edelmetall, 
Verstand  ist  Konventionsmünze. 

Der  Verstand  erweist  sich  umso  nützlicher,  je 


—  24 


mehr  er  mit  dem  Verstand  anderer  übereinstimmt. 
Der  ganze  moderne  Zwangsbildungsbetrieb  hat  nur 
den  einen  Zweck,  eine  möglichst  ausgeprägte  Uni- 
formität  des  Verstandes  herbeizuführen.  Jene  Men- 
schen, die  ihren  Verstand  genau  aufeinander  abge- 
stimmt haben,  heißen  die  »Gebildeten«.  Die  Bildung 
ist  eine  Art  drahtloser  Telegraphie,  wobei  Urteile  von 
bestimmter  Wellenlänge  von  allen  richtig  abgestimm- 
ten Empfangsap  paraten  gleichzeitig  aufgefangen  wer- 
den können.  Und  diese  »allgemeine«  Bildung,  die  ge- 
wissermaßen nur  in  einer  mechanischen  Weiterleitung 
fertig  empfangener  Urteile  besteht,  wird  von  ihren  Be- 
sitzern als  köstlichster  Besitz  aufgefaßt,  als  das,  was  ihr 
Menschentum  erst  begründe,  was  sie  erst  zu  ganzen 
Menschen  mache.  »Bildung  macht  frei«,  sagen  sie.  Man 
kann  aber  leicht  sehen,  daß  Bildung  erstaunlich  un- 
frei macht.  Während  ein  Mann  von  Geist  und  ein 
Weib  von  natürlichem  Empfinden  in  jedem  Augen- 
blicke Welten  von  Geist  und  Empfindung  zu  durch- 
messen vermögen,  bleiben  die  Gebildeten  stets  in  der 
engen  Sphäre  ihrer  Konvention,  sie  sind  stets  »unter 
sich«  und  in  die  Bildung  eingenäht  wie  in  eine 
Rindshaut.  Der  Glaube  an  den  auszeichnenden  Wert 
der  Bddung  ist  eigentlich  nur  der  uralte  Aberglaube 
von  der  magischen  Macht  des  Wissens.  Ein  Aber- 
glaube, der  durchaus  nicht  abgestorben  ist,  denn  wie 
man  ehemals  glaubte,  durch  eine  Zauberformel 
den  Teufel  vertreiben  zu  können,  so  glaubt  bei- 
spielsweise der  Pädagoge  heute  noch,  Milien  wilden 
Rangen  durch  gehöriges  Zureden  in  einen  artigen 
Knaben  zu  verwandeln.  Glücklicherweise  aber  wider- 
steht der  Range  dieser  Magie.  Das  Wissen  ist  an 
und  für  sich  völlig  ohnmächtig,  und  wie  man  einen 
Irrsinnigen  nicht  durch  logische  Beweise  heilen  kann, 
so  bleibt  das  Wissen,  das  mit  einem  Hohlkopf  zu- 
sammentrifft, ein  hohles  Wissen.  Dem  Geiste  fliegt 
das  Wissen,  das  ihm  nötig  ist,  aus  allen  Welten  von 
selber  zu;  das  hohle  Wissen  aber  erzeugt  nur  einen 
hohlen  Skeptizismus,  der  der  Ignoranz  so  verwandt 


—  25 


ist,  wie  der  moderne  Freigeist  dem  Dogmatiker.  Der 
Gedanke,  der  nicht  persönlich  erlebt  ist,  ist  nicht 
nur  wertlos,  er  ist  ein  Bleigewicht,  das  niederzieht, 
er  ist  ein  Grab  des  Lebens.  Diese  Wahrheit  sollte 
in  einer  Zeit,  in  der  die  Menschen  ihre  Muße  mit 
Lektüre  und  gebildeten  Gesprächen  verbringen,  all- 
stündlich unter  Trommelschall  verkündet  werden. 

Warum  aber  ist  bei  den  heutigen  Menschen  ein 
so  besonders  starkes  Bedürfnis  vorhanden,  sich  selbst 
ein  volles,  lebendiges  Menschentum  vorzutäuschen, 
sich  mit  Hilfe  der  Bildung  als  »ganze«  Menschen  zu 
fühlen?  Woher  all  dieser  Bildungstrieb?  Doch  wohl 
daher,  daß  keiner  von  all  diesen  Menschen  ein 
Ganzer  ist,  daß  jeder  im  Grunde  nur  ein  Stück,  ein 
spezielles  Instrument,  ein  Berufsmensch  ist.  Die  bei 
maßloser  Arbeit  natürlich  auch  ins  Maßlose  gehende 
Arbeitsteilung  macht  aus  jedem  Menschen  ein 
bloßes  Instrument.  Das,  was  man  heute  Beruf  nennt, 
erweist  sich  stärker  als  der  moderne  Mensch.  Der 
Beruf  ist  ein  körperloser  Vampyr,  der  seinem  Opfer 
alles  Menschliche  aussaugt,  um  daraus  eine  seelenlose 
Maschine,  allenfalls  mit  allgemeiner  Bildung,  zu  machen. 
Die  Arbeitsteilung  ist  recht  eigentlich  ein  Ameisen- 
prinzip, ein  Prinzip,  das  bei  wirklichen  Kulturvölkern 
nur  auf  Sklaven  Anwendung  fand.  Allerdings  sind 
durch  folgerichtige  Anwendung  der  allgemeinen  und 
gleichen  Menschenrechte  alle  Menschen  bereits  mehr 
oder  weniger  Sklaven  geworden.  Und  die  lebendigen 
Rechenmaschinenetwa,die  heute  im  Gefühl  ihrer  beson- 
deren Wichtigkeit  herumstolzieren,  scheinen  mir  weni- 
ger nützlich  als  eine  Leibeigene  von  ehemals,  die  nur  das 
eine  zu  tun  hatte,  ihrer  Gebieterin  das  Bett  zu  wärmen. 

Das  einzige,  was  die  Vernunft  mit  Inhalt  er- 
füllen und  ihr  fruchtbare  Wirkung  verleihen  kann, 
ist  der  lebendige  Trieb.  Und  diese  Erfüllung  und 
Wirksammachung  der  Vernunft  ist  die  Leidenschaft. 
Es  scheint  aber,  daß  man  heute  allgemein  die  Leiden- 
schaft, die  gesunde  Harmonie  von  Vernunft  und 
Trieb,    für   etwas   Krankhaftes,  ja   für  etwas  höchst 


—  26 


Gefährliches  hält.  Das  Wort  Leidenschaft  bedeutet 
unter  Zeitgenossen  manchmal  fast  dasselbe  wie  das 
Wort  Laster.  Man  verwechselt  die  Leidenschaft  wohl 
mit  der  Ausschweifung  oder  mit  dem  Fanatismus. 
Aber  sie  ist  von  beiden  gleich  weit  entfernt.  Aus- 
schweifung ist  eine  Verranntheit  verirrter  Triebe, 
Fanatismus  ist  eine  Verranntheit  verirrter  Vernunft, 
Leidenschaft  aber  ist  die  befruchtende  Durchdringung 
von  Vernunft  und  Trieb:  vorwärts  getriebene  Ver- 
nunft und  klar  vernommener  Trieb!  Ausschweifung 
und  Fanatismus  sind  Formen  des  Absterbens,  Leiden- 
schaft ist  die  Form  des  Lebens.  Ausschweifung  führt 
zum  Nihilismus.  Hänge  Dein  Herz  an  nichts,  sagen 
die,  die  nicht  mehr  die  Kraft  haben,  ihr  Herz  an 
etwas  zu  hängen.  Hänge  Dein  Herz  an  eine  Sache 
und  verschließe  Dich  allem  andern,  predigt  der  Fana- 
tismus. Wer  aber  sein  Herz  an  nichts  mehr  hängt, 
ist  schon  tot,  und  wer  es  nur  mehr  an  eines  hängt, 
wird  alsbald  ersterben.  Die  Leidenschaft  ruft : 
hänge  Dein  Herz  an  alles!  Und  wenn  Dir 
eine  Welt  erstirbt,  erblühen  Dir  dann  hundert  neue 
Welten.  Bestand  hat  nur,  was  Leben  in  sich  hat, 
und  Leben  hat  nur  der  in  sich,  der  Leidenschaft  in 
sich  hat.  Keines  der  Worte  Christi  dünkt  mich  tiefer 
als  dieses:  »Das  Reich  Gottes  wird  gestürmt,  und 
die  Stürmer  reißen  es  an  sich«.  Der  Sohn  des  Men- 
schen wußte  es,  daß  man  ins  Himmelreich  nicht  bei 
Windesstille  gelangen  kann,  sondern  nur  im  Sturme. 
Und  er  sagte  auch:  »Gott  ist  nicht  ein  Gott  der 
Toten,  sondern  der  Lebendigen«.  Die  Lebendigen 
aber  sind  nicht  die  Müden,  die  nur  mehr  liegen 
wollen,  nicht  die  in  Krämpfen  sich  Windenden,  die 
bald  liegen  werden,  und  auch  nicht  die  Verzauber- 
ten, die  starren  Auges  einer  Vision  nachrennen, 
sondern  die  Stürmer  mit  sehenden  Augen,  die  den 
Ruf  der  Natur  vernommen  haben,  die  Menschen  der 
Leidenschaft,  die  Menschen  des  lustvollen  Erleidens, 
die  tieffröhlichen  Menschen,  denen  wie  den  alten 
Ägyptern  Gott  und  Tier  keine  Gegensätze  sind. 


27  — 


Meine  Schriften 

Ein  Essay  über  »Sittlichkeit  und  Kriminalität« 
war  im  ,Mährisch-Schlesischen  Korrespondenten' 
(Brunn,  3.  August  1909)  enthalten: 

Man  fängt  damit  an,  einer  Sache  zu  vergessen,  indem  man  ihr 
einen  Namen  gibt,  und  man  vernachlässigt  ein  Buch,  indem  man.  ein 
Programm  daraus  hervorholt.  Und  gerade  an  Programmen  ist  Überfluß 
in  der  Sammlung  von  Aufsätzen,  die  Karl  Kraus  unter  dem  Titel 
»Sittlichkeit  und  Kriminalität«  (Bei  L.  Rosner,  Leipzig  und  Wien  1908) 
erscheinen  ließ. 

>Das  , Rechtsgut  der  Sittlichkeit'  ist  ein  Phantom,  mit  der 
.Moral'  hat  die  kriminelle  Gerichtsbarkeit  nichts,  hat  nur  die  des 
Bezirksklatsches  zu  schaffen.  Was  die  Justiz  hier  erreichen  kann,  ist 
der  Schutz  der  Wehrlosigkeit,  der  Unmündigkeit  und  der  Gesundheit. 
Auf  diese  noch  arg  vernachlässigten  Rechtsgüter  werfe  sich  die  Sorge, 
die  heute  das  Privatleben  von  Staats  wegen  belästigt.«  Oder:  Es  ist 
ein  »Naturrecht  der  Frau,  die  Summe  ihrer  ästhetischen  Voizüge  an 
wen  sie  will  zu  verschwenden  oder  von  wem  sie  will  in  eine  geltende 
Währung  umsetzen  zu  lassen«. 

Zu  dem  allen  ist  so  vieles  zu  bemerken.  Schutz  der  Wehr- 
losigkeit, der  Unmündigkeit,  Natur-  oder  anderes  Recht  der  Frauen, 
das  sind  Fragen,  die  zum  eisernen  Vorrat  der  öffentlichen  Diskussion 
gehören.  Wir  leben  im  Zeitalter  der  aktuellen  Frage  ;  die  aktuelle  Frage 
nimmt  das  allgemeine  Interesse  in  Anspruch,  nichts  Neues,  Unzeit- 
gemäßes wird  neben  ihr  gehört.  Wie  viele  Antworten  sind  schon  un- 
beachtet geblieben,  weil  man  sich  mit  der  Frage  beschäftigte. 

Die  Schriften  des  vielgenannten  Wiener  Publizisten  sind  von 
wirklichem  Werte,  trotzdem  sie  Programme  enthalten  und  zu  Tagesfragen 
Stellung  nehmen.  Nicht  ob  und  wie  zur  Frauenfrage,  zum  sexuellen  Prob- 
lem, zur'  Prostitution  gesprochen  wird,  ist  das  Wesentliche  in  ihnen, 
nicht  ob  der  Autor  für  oder  gegen  ein  Schlagwort  Partei  ergreift.  Dort, 
wo  er  selbst  Partei  ist,  jene,  so  wenig  aktuelle  Partei  eines  vornehmen 
Menschentums,  eines  unantastbaren  Begriffes  der  Persönlichkeit,  dort 
liegt  Wert  und  Kern  des  Gebotenen.  Nicht  Debatte,  sondern  Idee  ist 
der  wirkliche  Gehalt  dieser  Aufsätze;  es  ist  eine  Idee  von  Menschen- 
würde, die  sich  gegen  den  kulturellen  Tiefstand  der  Sittlichkeitsauf- 
fassung unserer  Gesetze  wehrt.  Sie  ist  es,  die  dieses  Aufgebot  von 
Geist  und  polemischer  Kraft  zu  Felde  schickt.  Für  sie  kämpft  Kraus 
mit  beispielloser  Schärfe  und  Rücksichtslosigkeit  gegen  alles,  das  ihr 
entgegensteht.  Das  sind  Personen  und  Einrichtungen,  ein  veraltetes 
Strafrecht,  eine  unwürdige  Interpretation  der  Gesetze  und  ein  ebenso  un- 
würdiges Interesse  am  Privatleben  des  andern,  das  im  Gerichtssaale 
seinen  Ausdruck  findet.  »Die  Justiz  bedrängt  das  Privatleben,  und  die 
Publizistik  müßte  dazu  ihr  prinzipielles  Wort  sagen.  Aber  sie  ziehen 
sich  gemeinsam  ins  Gemütliche  zurück  und  schlagen  augenzwinkernd 
das  Strafgesetzbuch  auf,  dort,  wo  die  .pikanten  Blätter'  beginnen.« 

Karl  Kraus  hat  manche  Fehde  geführt,    und    der  Parteien  Gunst 


28 


und  Haß  verwirren  das  Bild  seiner  literarischen  Persönlichkeit.  In 
diesen  Aufsätzen  aber  scheinen  mir  Leistung  und  Sache  über  dem  Be- 
reiche persönlicher  Gegnerschaft  und  Anhängerschaft  zu  stehen  und 
andere  Erörterungen  auszuschließen.  Hier  gilt  nur  eines  :  Diese  Schriften 
sind  Kulturarbeit  im  besten  Sinne  des  Wortes,  und  es  brauchte  eines 
Publizisten  von  soviel  Kampfesfreude  und  Kampfesschulung,  um  diese 
Arbeit  zu  tun. 

Die  Frage  nach  der  Entstehung  des  Sittengesetzes  drängt  sich 
jedem  denkenden  Beurteiler  der  Zeit  auf.  Wie  konnte  es  zu  jener  Be- 
ziehung zwischen  Sittlichkeit  und  Kriminalität  kommen,  wie  sie  tat- 
sächlich vorhanden  ist?  »Es  reifte  ein  hundertjähriges  Gesetz  zur 
Menschenqual:  —  Der  Eifer,  der  da  schützt,  was  des  Menschenschutzes 
nicht  bedarf,  hatte  es  mit  der  Langmut  gezeugt,  die  gewähren  läßt, 
was  dem  gesunden  Sinne  strafwürdig  scheint.  Aus  der  Beschränktheit 
einer  Generation  erschaffen,  hat  es  dennoch  für  alle  Zeiten,  die  es 
währte,  gelebt,  weil  es  den  Schlechtesten  seiner  Zeit  genug  getan.  < 
Diese  Satzung,  die  im  Reiche  des  menschlichen  Fühlens  das  Strafrecht 
walten  läßt,  wird  einst,  vor  den  Augen  einer  Nachwelt  schlimmes 
Zeugnis  gegen  den  Geist  unserer  Zeit  ablegen.  Man  fragte  die  mensch- 
liche Sinnlichkeit  nach  ihren  Pässen,  man  wollte  es  ganz  genau  wissen, 
welche  Zwecke  die  Natur  verfolgte,  als  sie  dem  Menschen  sinnliche 
Triebe  verlieh.  Neugier  und  Selbstüberschätzung  kamen  zu  einem  Urteil. 
Es  wurde  festgestellt,  daß  es  sich  dabei  nur  um  die  Sicherstellung  der 
Fortpflanzung  und  der  Bezüge  einiger  Gerichtsfunktionäre  handeln  konnte. 
Vielleicht  lag  es  noch  in  der  Absicht  der  Natur,  auch  etwas  für  not- 
leidende Erpresser  zu  tun  ;  das  wai  aber  alles.  Daß  sinnliche  Triebe 
ihren  Teil  haben  an  jedem  Geschehen  des  Lebens,  daß  in  den  Schöpfungen 
der  Kunst  sie  die  gewaltige  Triebkraft  darstellen,  die  von  Urbeginn  an 
wirkte,  wie  heute  noch,  das  bleibt  vergessen.  Und  vergessen  bleibt 
auch,  wie  innig  diese  unsere  Kultur,  deren  wir  uns  so  gerne  rühmen, 
mit  dem  Begriffe  der  Persönlichkeit  verknüpft  ist,  eben  jener  Persön- 
lichkeit, an  deren  notwendigsten  Daseinsfreiheiten,  die  Kontrolle  unbe- 
rufener Sittenrichter  zehrt.  Indem  man  alle  Folgen  der  Sinnlichkeit  mit 
Ausnahme  der  Fortpflanzung  übersah,  hat  man  einen  unglückseligen 
Wertmaßstab  des  Empfindens  geschaffen.  Man  richtet  über  Gut  und 
Böse  nur  nach  dem  einen,  der  Natur  für  alle  Fälle  unterschobenen  Zweck, 
man  richtet  einseitig  und  —  viel  zu  viel. 

Gegen  dieses  Mißverstehen  der  Natürlichkeit  wird  heute  ein 
Kulturkampf  geführt,  indem  Publizist  und  Forscher  Seite  an  Seite  stehen. 

Auch  die  Gegenseite  hat  wissenschaftliche  Hilfstruppen.  Die 
Medizin  erhebt  den  Anspruch  auf  das  Richteramt  über  die  menschliche 
Sittlichkeit.  Sittlichkeit  und  Medizin.  Es  ist  eine  Variation  desselben 
Themas,  das  immer  von  Herabsetzung  der  Menschenwürde  handelt.  Auch 
hier  trifft  ein  Wort  dieses  Buches  zu:  »Im  ewigen  Reich  der  sinnlichen 
Triebe,  die  selbst  älter  sind  als  der  Drang  nach  Heuchelei,  wird  der 
Gesetzgeber  immer  vergeblich  stümpern.«  Das  gilt  ebenso,  wenn  statt 
mit  »Gut  und  Böse«  mit  »Gesund  und  Krank«  zu  Gericht  gesessen 
wird.  Aufgabe  einer  höheren  Kultur  kann  es  nur  sein,  zu  schützen, 
und  zwar  ebenso  die  Persönlichkeit    vor    der  Zudringlichkeit    unnötiger 


29 


Eingriffe,  als  die  Gesellschaft,  gegen  die  kaum  so  häufigen  Übergriffe 
des  Einzelnen.  Heute  kommt  noch  ein  Schutz  dazu  ;  der  von  Dogmen 
über  Moral  und  Sittlichkeit  gegen  beide  :  Persönlichkeit  und  Gesellschaft. 
(Man  erinnert  sich  der  Mahnung:  »Schutz  der  Wehrlosigkeit,  Un- 
mündigkeit und  Gesundheit.«) 

Keinen  literarischen  Streit,  kein  Wortgefecht  führt  Karl  Kraus  in 
diesen  Blättern.  Und  wenn  der  Angriff  schärfer  wird,  als  man  bei 
ruhigster  Überlegung  ihm  zubilligen  kann,  wenn  ab  und  zu  ein  Wort 
zu  viel  gesagt  scheint  —  was  bedeutet  das  dagegen,  daß  diese  Dinge 
wirklich  geschehen  sind  und  geistig  hochstehende  Menschen  dazu 
schweigen  konnten !  Es  sind  keine  Fabeln  in  dem  Buche,  die  erfunden 
wurden,  um  Witz  und  Scharfsinn  an  ihnen  zu  üben,  keine  von  der 
Künstlerlaune  geformten  Bildchen.  Vor  uns  entrollt  sich  die  Glossierung 
des  öffentlichen  Lebens,  zu  dessen  Ereignissen  der  Autor  keinen  Strich 
dazu  gab.  Diese  Raubzüge  in  menschliches  Gefühlsleben  sind  Wirklich- 
keit gewesen;  dem  Moloch  eines  Sittengesetzes  wirklich  dargebracht 
wurden  sie,  diese  »Menschenopfer  unerhört«.  Und  das  erst  vervoll- 
ständigt das  Bild,  gibt  den  notwendigen  Hintergrund  zu  diesem  Buche 
voll  Gift,  Haß  und  Überzeugung. 

Und  nicht  vergessen  sei  dem  Autor,  daß  die  Hüter  der  gesell- 
schaftlichen Ordnung  nirgends  so  eifervoll  sind,  daß  diese  Ordnung 
selbst  nirgends  von  so  krankhafter  Empfindlichkeit  ist,  wie  auf  dem 
Gebiete  des  Kampfes  um  moralische  Werte.  Gilt  im  allgemeinen,  was 
Kraus  dahin  präzisiert,  daß  dem,  der  für  eine  Sache  eintritt,  nur  das 
Interesse  für  eine  Person  geglaubt  wird,  so  läßt  sich  hier  ein  Zusatz 
machen.  Als  diese  Person  wird  der  Übelwollende  immer  die  eigene 
des  Autors  bezeichnen  ;  man  spricht  für  ihn  immer  pro  domo.     —  — 

In  diesen  Arbeiten  fühlt  man  die  Nervenerregung.  Aus  Theorien 
sind  sie  nicht  entstanden,  Sie  enthalten  die  impulsive  Reaktion  eines 
feinfühlenden  Menschen  auf  eine  kulturwidrige  Wirklichkeit.  Es  sind 
elementare  Ausbrüche,  die  ihren  Ursprung  In  der  Überzeugung  haben, 
daß  Unrecht  geschehen  ist,  Kraus  überträgt  die  Empfindlichkeit  des 
modernen  Nervenmenschen  auf  Ethik  und  Kulturgefühl.  Er  ist  so  sen- 
sibel für  Unkultur,  wie  der  Musikfreund  für  falsche  Töne.  Und  die 
publizistischen  Angriffe  in  diesen  Schriften,  so  logisch  und  konsequent 
sie  sind,  bleiben  immer  Ausbrüche  der  Nervosität  voll  rachsüchtiger 
Schärfe.  Ich  möchte  nicht  sagen,  daß  das  Rechtsgefühl  seine  Anklagen 
diktiert,  das  richtige  Wort  ist  hier  Unrechtsgefühl.  Seine  unausbleibliche, 
innere  Reaktion  gegen  Unrecht  treibt  ihn  zur  Tat,  oft  noch  ehe  das 
Recht  sich  ihm  klärte.  So  sind  seine  Ansichten  für  die  Öffentlichkeit 
ein  untrügliches  Maßinstrument  geschehenen  Unrechtes.  Er  kann  ein- 
seitig werden,  wirklichen  Wert  übersehen,  Milderungsgründe  und  Recht- 
fertigungsmöglichkeiten vergessen  —  aber  sein  Angriff  trifft  immer 
wunde  Stellen.  Überfluß  an  Kraft  ist  der  Eindruck,  den  seine  literarische 
Persönlichkeit  beim  ersten  Überblick  macht.  Die  Sympathie  kann  man 
ihm  je  nach  der  Parteizugehörigkeit  verweigern,  die  Achtung  vor  der 
Leistung  nicht.  Und  die  Einseitigkeit  des  Angriffes  ist  vielleicht  ein 
notwendiges  Attribut  dieser  Kraft    und    muß    als    solches    in  den  Kauf 


—  30  — 


genommen  werden,  wie  Strindbergs  Frauenhaß  oder  Maupassants  Chau- 
vinismus. 

Als  Wafte  im  Meinungsstreite  hat  er  sich  seinen  eigenen  Stil 
geschmiedet,  eine  Klinge,  so  fein  und  geschmeidig,  daß  sie  in  den 
engsten  Spalt  des  Sinnes  dringt  und  doch  so  widerstandskräftig  und 
hart,  daß  kein  Problem  vor  ihrem  Angriff  gefeit  ist.  Aber  bei  aller 
Kunst  der  Form,  bei  allem  Werte,  den  dieser  Apparat  von  Geist  und 
Witz  repräsentiert,  bleibt  das  Buch  in  erster  Linie  doch  ein  Inhaltsbuch 
und  ist  für  solche  geschrieben,  die  einen  Gedanken  aufnehmen  und 
unter  einem  Gedanken  leiden  können. 

Für  alle  anderen  rechtfertigt  Karl  Kraus  den  publizistischen  Kampf 
dieser  Blätter  mit  gelindem  Spotte  ;  >Nur  mir  sonderbarem  Schwärmer 
macht  es  noch  Vergnügen,  die  ehrbaren  Genießer  dieser  Stadt  beim 
Essen  zu  stören.  Aber  wenn  ich  ihnen  durch  das  Aussprechen  von 
Bitterkeiten  den  Appetit  verderbe,  so  räche  ich  mich  bloß  dafür,  daß 
sie  mir  durch  ihren  Appetit  die  für  das  Leben  unentbehrlichsten  Wahr- 
heiten verderben.«  Damit  ist  das  Motiv  seiner  Angriffe  klar  und  treffend 
ausgesprochen.  Otto  Soyka 

* 

Die  neue  illustrierte  Halbmonatschrift  ,Das 
Theater'  (Herausgeber  Herwarth  Waiden,  Berlin) 
bringt  in  ihrem  ersten  Heft  Zitate  aus  »Sprüche  und 
Widersprüche«  und  dazu  die  Anmerkung: 

Auswahl  aus  der  bei  Albert  Langen  verlegten  Aphorismen- 
sammlung  >Sprüche  und  Widersprüche«  von  Karl  Kraus.  Sie  bietet  eine 
Fülle  tiefer  und  scharfer  Beobachtungen  aus  weiter  Perspektive,  gestaltet 
mit  einem  künstlerischen  Vermögen.  Karl  Kraus,  der  in  Wien  lebt,  wird 
in  Deutschland  nicht  genügend  beachtet.  Einen  Essay  über  ihn  ver- 
öffentlichte vor  kurzem  Robert  Scheu  (Verlag  Jahoda    &  Siegel,    Wien). 

Zitate  und  ein  Hinweis  waren  auch  in  der  Zeit- 
schrift ,Die  neue  Welt*  (Nr.  26,  Berlin)  enthalten. 
Die  ,Xenien'  (Nr.  8,  Leipzig)  brachten  die  folgende 
Besprechung: 

Der  österreichische  Kulturpolitiker  Karl  Kraus  ist  bei  uns  wohl 
hauptsächlich  durch  seine  Angriffe  auf  Harden  bekannt  geworden.  Über 
die  Berechtigung  dieser  Angriffe  mag  man  denken,  wie  man  will:  daß 
Kraus  nicht  zu  denen  gehört,  die  (wie  Kerr)  sich  der  Hetze  einer  nei- 
dischen Meute  namenloser  Zeitungsschreiber  anschlössen,  das  beweist 
dies  Buch  zur  Genüge.  Ich  glaube  nicht  zu  viel  zu  sagen,  wenn  ich 
die  Gegnerschaft  zwischen  Wilamowitz  und  Nietzsche,  ja  selbst  die 
zwischen  Nietzsche  und  Wagner  als  Analogie  zu  jener  Polemik  anführe: 
ich  persönlich,  der  ich  Harden  von  jeher  stets  mit  begeisterter  Bewun- 
derung gegenüberstand,  ich  danke  Kraus  dafür,  daß  seine  Kritik  mich 
davor  bewahrt,  in  Harden  schließlich  einen  Halbgott  zu  sehen,  der  leicht 
zum  Götzen  werden  kann. 


—  31  — 

Aber  selbst  wer  Kraus  jene  Polemik  nicht  verzeihen  mag,  muß 
dieses  Buch  als  eine  Leistung  von  einer  für  die  heutigen  literarischen 
Verhältnisse  ganz  überraschenden  Größe  anerkennen.  Ja  wirklich,  diese 
Sprüche  und  Widersprüche  sind  Aphorismen;  Aphorismen,  keine  Cafö- 
geistreichigkeiten,  keine  > Brillantene  im  Sinne  Schmocks,  keine  billigen 
Kunststückchen,  die  dadurch  verblüffen  wollen,  daß  sie  irgend  eine 
gangbare  Meinung  auf  den  Kopf  stellen.  Man  überlege  sich  einmal, 
was  das  heißt,  dieser  so  beängstigend  diskreditierten  und  mißbrauchten 
Form  des  Aphorismus  neues  Leben  zu  verleihen,  einerseits  die  Nach- 
folge La  Rochefoucaulds  und  Nietzsches,  anderseits  die  Nachbarschaft 
der  > Gedankensplitter«  in  den  .Fliegenden  Blättern'  nicht  zu  fürchten  ! 
Dies  Ziel  hat  vor  Kraus  wohl  nur  die  Ebner-Eschenbach  erreicht ;  die 
Aphorismenbücher  von  P.  N.  Coßmann,  selbst  von  Peter  Hille  und  gar 
von  Otto  Weiß  sind  banal  gegen  diese  Sprüche,  welche,  wie  Maria  von 
Ebner  fordert,  in  Wahrheit  die  letzten  Ringe  einer  langen  Gedanken- 
kette sind,  an  der  jedes  Glied  aus  tausend  Erfahrungen  und  Erlebnissen, 
Wonnen  und  Qualen  geschmiedet  wurde.  Hier  bietet  uns  ein  Geist  von 
seltener  Tiefe  und  Kraft  in  der  präzisesten,  künstlerisch  verwendeten  Form 
die  Resultate  seines  Forschens  und  Ringens,  ein  Geist,  der  die  geheim- 
sten Strömungen  unserer  Zeit,  unseres  Lebens  mit  feinem  Ohr  belauscht,, 
der  ihre  Quelle  erforscht,  ihren  Gehalt  geprüft,  ihre  Richtung  erspürt 
hat.  Sprüche  und  Wi  d  e  r  sprüche  sind  es  —  oft  möchte  man  auffahren, 
das  Buch  an  die  Wand  werfen:  aber  gerade  darin  liegt  sein  Wert. 
Kraus  macht  uns  denken,  macht  uns  kritisch  nicht  sowohl  gegen  das 
Dogma,  das  Althergebrachte,  Überlebte,  als  vielmehr  gegen  die  Dog- 
matil in  allem,  was  sich  als  kulturfördernd,  als  Fortschritt  ausgibt  und 
doch  so  oft  Phrase,  gedankenlos  weitergegebene  Flachheit  ist  und,  weil 
das  liberale  Gepräge  die  Kritik  nicht  leicht  aufkommen  läßt,  eben  viel 
kulturhemmender  wirkt  als  alle  bewußte  und  erkennbare  Reaktion  und 
Philisterei.  Und  dies  ist  das  unbestreitbare  Verdienst,  das  sich  Kraus 
durch  diese  Sprüche  und  Widersprüche  erworben  hat,  ein  Verdienst, 
das  man  anerkennen  muß,  gerade  wenn  man  im  einzelnen  ganz  anders 
als  Kraus  denkt.  —  Ein  Massenerfolg  kann  einem  so  feinen  und  tiefen 
Buch  nicht  beschieden  sein;  aber  alle,  die  im  Leben  und  in  der  Kunst 
das  Echte,  das  Starke,  das  Große  suchen  und  die  Phrase,  die  Halb- 
wahrheit, die  eklige  Allerweltsplattheit,  welche  uns  erst  von  der  höheren 
Schule  und  dann  von  der  Zeitung  (nach  Lagardes  Ausdruck)  gekaut  in 
den  Mund  gespukt  wird,  hassen  —  sie  alle  werden  dies  Buch  mit 
Entzücken  und  Bewunderung  lesen.  Adolf  Grote 

Im  ,Tag'  (Berlin,  17.  Augast)  war  von  der 
»Chinesischen  Mauere  die  Rede: 

.  .  .  Karl  Kraus  in  Wien,  mit  seiner  grausamen  Lust  an  der 
erbarmungslosen  Kompromittierung  mitteleuropäischer  Hochkultur,  hat 
in  einem  von  köstlich  frechen  und  feinen  Übertreibungen  strotzenden 
Artikel  den  Ruin  dieser  bleichgesichtigen  Zivilisation  durch  das  weiße 
Weib  prophezeit  .  .   . 

Wo  stand  dieser  Artikel?  Das  Dasein  der 
, Fackel'  bleibe  ein  Geheimnis. 


32  — 


Richard  Dehmel  hat  mir  die  Ehre  erwiesen,  der  ,Fackel' 
freiwillig  das  S-hlußgedicht  aus  Liliencrons  Nachlaßband  >Gute 
Nacht«,  der  bald  erscheinen  wird,  als  Manuskript  zu  senden : 

Begräbnis 

>Laudat  alauda  Deum,  tinli  tirilique  canendo« 

Wenn  letzter  Donner  fern  verrollt 
Nach  dunkler  Sommerstunde  : 
Schon  winkt  ein  erstes  Wolkengold 
Dem  regensatten  Grunde  : 

Die  Sonne  küßt  die  Gräser  wach, 
Die  lieben  Lerchen  singen, 
Es  trägt  der  Wind  den  blauen  Tag 
Empor  auf  kühlen  Schwingen  : 

In  solcher  Stunde  senkt  mich  ein, 
Viel  Müh  ist  nicht  vonnöten, 
Es  wird  die  Erde  hinterdrein 
Mir  rasch  den  Sarg  verlöten. 

Streut  Rosen,  Rosen  in  das  Grab, 
Und  spielt  Trompetenstückc  ; 
Dann  brecht  mir  meinen  Wanderstab 
Mit  fester  Hand  in  Stücke ! 

Es  fiel  ein  Blatt  vom  Baum,  «s  fiel 
,  Durch  fruchtbeschwerte  Äste. 
Nun  geht  zu  euerm  eignen  Ziel, 
Ihr  meine  letzten  Gäste! 

Zum  eignen  Ziel  geht  spielbereit, 
Schwenkt  hoch  die  Trauerfahnen, 
Froh,  daß  ihr  noch  auf  Erden  seid 
Und  nicht  bei  euern  Ahnen! 

Detlev  v.  Liliencron 


Heransgener  und  verantwortlicher  Redakteur :  Karl  Kran» 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3 


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jahoda  &  Siegel,  Wien,   III.  Hintere  Zollamtsstraße  3 


Nr.  288 


11.  Oktober  1909 


XI.  Jahi 


Herausgeber: 

KARL  KRAUS 


INHALT: 

Die  weiße  Kultur  oder:  Warum  in  die  Ferne 
schweifen?  Von  Karl  Kraus.  —  Briefe  Ferdinand 
Kürnberger s.  —  Gedichte.  Von  Else  Lasker- 
Schüler.  —  Aphorismen.  Von  Karl  Kraus.  — 
Glossen.  Von  Karl  Kraus.  —  Gegen  den  Mädchen- 
handel. Von  Karl  Kraus. 


Erscheint   in    zwangloser    Folge 


Preis  der  einzelnen  Nummer  30  Heller 

Nachdruck  und  gewerbsmäßiges  Verleihen  verboten;  gerlchi 
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Die  Fackel 


NR.  288 


11.  OKTOBER  1909 


XI.  JAHR 


Die  weiße  Kultur 

oder: 

Warum  in  die  Ferne  schweifen? 

(Aus  einer  Berliner  Zeitung) 
Von  Karl  Kraus 


»Die Tatsache,  daß  deut- 
sche Mädchen  unter  dem 
Vor  wände  des  Briefmap- 
kensaramelns  mit  Negern 
der  deutschen  Kolonien 
in  einen  keineswegs  ein- 
wandfreien Briefwechsel 
traten,  erregte  hier  — 
wie  seinerzeit  berichtet 
— :  sehr  unliebsames  Auf- 
sehen. Nun  veröffent- 
licht die  Kolonialver- 
waltung unter  der  Über- 
schrift ,Bine  Mahnung 
an  deutsche  Eltern  und 
Erzieher'  folgende  amt- 
liche Kundgebung:  Vor 
kurzem  sind  durch  die 
Presse  Fälle  bekannt  ge- 
worden, in  denen  Neger 
unserer  Kolonien  versucht 
haben,  einen  Briefwechsel 
mit  deutschen  Mädchen 
anzubahnen.  Die  amt- 
licherseits        veranlaßten 


Für  Bankier,  30  Jahre,  mos., 
vorn.  Ersch.,  mit  üb.  100  Mille 
Verm.  suche  passende  Partie.  Off. 
nur  mit  Photographie. 


Zahnarzt,  Ende  Dreißig,  Isr., 
6000  Mk.  Eink.,  w.  s.  m.  ver- 
mög.  j.  Dame  z.  verh.  Vermittler 
erbeten. 


Disponent,  27,  mos.,  w.  Be- 
kanntschaft j.  Dame  (unt.  23  J.) 
zw.  Heirat.  Eink.  7—8000,  welches 
durch  Eintr.  in  d.  Firma  auf 
10.000  erhöht  werden  kann. 


Suche  f.  m.  Neffen,  appr. 
Apotheker,  ev.,  liberal  denkend, 
Mitte  30,  ca.  5000  Eink.,  pass. 
Lebensgefährtin  mit  Verm.  Eltern 
auch  Vormünder  werd.  u.  genaue 
Mitteil.  d.  Verh.  geb.  Discr. 
selbstverst. 


2  - 


Ermittlungen  haben  er- 
geben, daß  die  Anregung 
zu  solchen  Korresponden- 
zen nicht  immer  von  Seiten 
der  Neger  ausgegangen  ist. 
Vielmehr  ist  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  festgestellt 
worden,  daß  sich  außer 
Schülern,  jüngeren  An- 
gestellten und  Studenten 
auch  Mädchen  verschie- 
denen Alters  an  Einge- 
borene der  Schutzgebiete 
gewandt  und  sie  zum 
Briefwechsel  aufgefordert 
haben.  Während  die  männ- 
lichen Briefschreiber  fast 
durchwegs  den  Zweck 
verfolgen,  auf  diesem 
Wege  afrikanische  Brief- 
marken, Kuriositäten  usw. 
zu  erhalten,  scheint  bei 
den  jungen  Mädchen  viel- 
fach die  Freude  an  der 
Romantik  eines  Brief- 
wechsels mit  einem  Neger, 
möglichst  mit  einem 
,8chwarzen  Prinzen',  der 
Beweggrund  zu  sein.  Be- 
dauerlicherweise ist  aus 
dem  Inhalt  der  von  den 
Schwarzen  —  meist  Jun- 
gen von  17  bis  20  Jahren 
—  harmlos  vorgelegten 
Briefe  zu  ersehen,  daß 
einige  der  Briefschreibe- 
rinnen bei  Abfassung  der 
Briefe  in  bedenklicher 
Weise     das     Bewußtsein 


Fabriksbesitzer,  Ende  40er,  ge 
sund,  von  großer  Figur,  sucht  auf 
diesem  Wege  das  Glück  der  Zu- 
kunft. Damen  mit  mindestens 
100  Mille,  welche  Sinn  für  Häus- 
lichkeit haben,  wollen  gefälligst .  .  . 


Einheirat  wünscht  langjähr. 
Reisender,  mos.,  vermögend,  in 
lukratives  Unternehmen.  Bedin- 
gung hübsche  ansehnl.  Dame. 
Anonym,  ausgeschl. 


Rechtsanwalt,  Doktortit.,  stattl. 
Ersch.,  w.  zw.  Heirat  jüd.  Dame, 
100.000  M. «Photographie. 


Für  nah.  Verw.,  Prokurist,  gr. 
eleg.  Ersch.,  suche  passende  Frau 
bis  28,  v.  Herz  u.  Gemüt  u.  gleich 
guter  Ersch.  Erw.  Mitg.  ca  50 
75  Mille.  Nur  ernstgem.  Zuschr. 
m.  Photographie  erwünscht.  Ein- 
heirat nicht  ausgeschlossen. 


Mit  einer  hübschen  u.  klugen 
Frau  möchte  ich  meinen  besten 
Freund,  39  Jahre  alt,  freidenk. 
Jude,  kleiner  Figur,  weltgereist, 
verheiratet  sehen. 


Kaufmann,  28  Jahre,  groß,  ge- 
genwärtiger Jahresgehalt  über  2000 
Mk.,  wünscht  Heirat  mit  vermög., 


—  3 


der  eigenen  Stellung  ver- 
loren haben.  Die  Übersen- 
dungder  Photographien 
der  Briefschreiberinnen 
ist  nichts  außergewöhn- 
liches. Jedenfalls  haben 
die  Spenderinnen  dabei 
nicht  bedacht,  daß  ihre 
Photographien  von  den 
Negern  in  ihren  Wohn- 
ungen neben  allerlei  an- 
deren Bildern  aufgehängt 
werden,  und  daß  es  auf 
den  weißen  Beschauer 
einen  befremdenden  Ein- 
druck macht,  wenn  er  die 
Photographie  eines  offen- 
bar den  besseren  Ständen 
angehörenden  deutschen 
Mädchens  im  traulichen 
Verein  mit  dem  Bild  einer 
, schwarzen  Schönheit*  un- 
bekannter Herkunftfindet. 
Es  darf  daher  nicht  wun- 
dernehmen, wenn  es  bei 
der  farbigen  männlichen 
Jugend  einiger  Schutzge- 
biete nachgerade  zum 
guten  Ton  gehört,  eine 
,  Freundin*  in  Deutsch- 
land zu  haben.  Die 
Schuld  an  dieser  bedauer- 
lichen Tatsache  dürfte  in 
erster  Linie  das  heimische 
deutsche  Publikum  treffen, 
die  Eltern  und  Erzieher 
der  Mädchen,  die  aus  Un- 
kenntnis der  Verhältnisse 
der    Unsitte    des    Korre- 


wirtsch.,  liebenswürd.  Dame  aus 
christl.  Fam.  Angebote  möglichst 
mit  Phot. 


Geb.  Kfm.,  26  J.,  r.  Lbserf., 
Verm.  15  Mille,  w.  Bek.  frdsprl. 
geb.  wirtschl.  tcht.  Dame  m. 
entspr.  Mitgift. 


Ernstgemeint.  Jg.  Mann,  30  J., 
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Rittergutspächt.,  jg.,  stattl. 
Ersch.,  w.  Neigungsehe  m.  einf. 
erz.  h.  jg.  Dame,  d.  Gem.  u. 
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mann,  41  J..  jugendfrisch,  freid. 
Israel.,    nicht    unvermögend.    Nur 


spondierens  mit  Negern  in 
der  geschilderten  Weise 
nicht  steuern,  oder  die 
ihrer  Erziehung  anver- 
trauten Mädchen  in  dieser 
Hinsicht  nicht  genügend 
überwachen.  Im  Interesse 
aller  Beteiligten  erscheint 
es  dringend  geboten,  auf 
Abstellung  des  nicht  immer 
harmlosen  Unfugs  hinzu- 
wirken. 'Ein  Nachlassen 
des  gedachten  Briefwech- 
sels wird  indes  nur  dann 
zu  erwarten  sein,  wenn 
alle  dazu  Berufenen  den 
jungen  Mädchen  in  der 
Heimat  immer  wieder  zum 
Bewußtsein  bringen,  wie- 
viel sie  sich  durch  einen 
solchen  Briefwechsel  mit 
den  Eingeborenen  der 
Kolonien  vergeben  und 
wie  sehr  sie  durch  ihn 
der  Kolonialverwaltung 
die  Aufgabe  der  Erziehung 
der  Eingeborenen  er- 
schweren, c 


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eingef.  hochachtbarer  Vermittler 
empfiehlt  seine  Dienste  unter 
strengster  Diskretion. 


Briefe  Ferdinand  Kürnbergers 

Am  14.  Oktober  jährt  sich  zum  dreißigsten  Male 
der  Tag,  an  dem  einer  der  seltenen  Männer  in  diesem 
jetzt  von  Schwätzern  zu  einem  »neuen  österreichc 
hinaufgeschwätzten   Trösterreich   gestorben   ist.   Die 


Briefe,  die  hier  nebst  einer  Quittung  zum  erstenmal  ver- 
öffentlicht werden,  sind  zum  Teil  in  Kürnbergers  letz- 
tem Lebensjahre  entstanden  und  an  die  Frau  seines 
Freundes,  des  Reichsratsabgeordneten  Dr.  J.  Kopp, 
gerichtet.  Kürnberger,  den  Krankheit  von  einer  Reise 
abhielt,  sollte  bald  darnach  auf  einer  Reise  sterben. 
Er  erkrankte  in  München,  wurde  im  Hause  Kaulbachs 
gepflegt  und  später  ins  Spital  überführt.  Sein  Grab 
ist  in  Mödling.  Die  Zeitungsmacher  hatten,  wie  man 
auch  aus  diesen  Dokumenten  ersieht,  nicht  viel  dazu 
beigetragen,  seine  letzten  Jahre  behaglicher  zu  ge- 
stalten. Er  hat  mit  seinem  Lebenswerk  nicht  an- 
nähernd so  viel  verdient,  wie  Herr  Victor  Leon  mit 
seiner  Idee,  einen  Operettentenor  die'Worte  »Njegus, 
Geliebter,  komm  herU  sprechen  zu  lassen. 


Verehrte  Frau! 

Verschmähen  Sie  es  nicht,  beifolgendes  Büchlein  auf  Ihren 
Weihnachtstisch  zu  legen.  Ich  bitte  aber  wohl  nachzuzählen,  ob 
es  tausend  Gedanken  sind;  vielleicht  könnte  der  Dienstniann 
unterwegs  einige  verloren  haben.*) 

Jedenfalls  hat  das  Kindlein,  dessen  Geburt  wir  jetzt  feiern, 
zu  mehr  als  tausend  guten  Gedanken  Veranlassung  gegeben.  Einen 
der  hübschesten  hörte  ich  neulich  erzählen: 

An  einem  Wirtstische  schimpfte  man  über  die  Jesuiten.  Am 
Nachbartische  wurde  man  stutzig  und  Einer  rief  herüber:  >Wir 
müssen  bitten,  Ihren  Reden  Einhalt  zu  tun.  Sie  beleidigen  uns!« 
—  »Wieso?«  —  >Wir  sind  selbst  von  der  Gesellschaft  Jesu.«  — 
»Von  welcher  Gesellschaft?  —  Von  der  Gesellschaft  seiner  Geburt? 
Das  waren  Esel  und  Ochs.  Von  der  Gesellschaft  seines  Todes? 
Das  waren  zwei  Verbrecher.« 

Gar  nicht  zu  verachten,  wie?!  Soll  auch  dem  Herrn  Reichs- 
ratsabgeordneten Dr.  Kopp  zur  Gelegenheit  einer  der  nächsten 
Jesuitenreden  bestens  empfohlen  sein! 

Bis  dahin  empfehle  ich  mich  selbst  und  wünsche  Ihnen  und 
Ihrem  ganzen  hochpt  eislichen  Hause  fröhliche  Weihnachten.    Die 

*)  Bezieht  sich  wahrscheinlich  auf  Berthold  Auerbachs  >Tausend 
Gedanken  eines  Kollaborators«,  ein  Werk,  das  man  >eine  langweilige 
Krümchensammlerei«  nannte. 


meinigen  pflege  ich  immer  auswärts  zuzubringen.  Vor  meiner 
Abreise  meinen  besten  Gruß  auf  baldiges  Wiedersehen! 

Hochachtungsvoll 
Ferdinand  Kürnberger. 
Wien,  Donnerstag  morgens, 
23.  Dezember  1875. 

• 

Gratz. 

Quittung. 

Ich  schwöre  bei  Gott  dem  Allmächtigen,  bei  Iwan  dem 
Schrecklichen,  beim  dreibeinigen  Holz  und  gedrehten  Hanf,  bei 
Allem,  was  mir  heilig  ist;  ich  schwöre  beim  Dualismus,  beim 
Militärbudget,  beim  Defizit,  bei  Bosnien  und  Herzegowina,  bei 
Novibazar  und  Salonichi;  bei  allem,  was  uns  theuer  ist, 
daß  ich  von  Doktor  Joseph  Kopp,  katholisch,  verheiratet,  geimpft, 
unbescholten, 

an  einem  unvergeßlich  schönen  Tage,  da  man  schrieb  Sancta 
Scholastica  den  zehnten  Februar  und  der  liebe  Mond  in  der  ersten 
Hälfte  des  abnehmenden  Viertels  stand  (eppes  ain  Achtel!)  und 
nach  der  Geburt  unseres  Herrn  und  Erlösers  zählete:  1879  — 
daß  ich  an  diesem  Tage  und  in  diesem  Jahr  von  vorbemeldeter 
Respektsperson  und  im  Auftrage  des  sehr  fähigen  und  zahlungs- 
fähigen Herrn  Heinrich  Reschauer's  *) 

einen  unverpesteten  Brief  aus  dem  Norden  mit  der  Provenienz 
von  hundert  Gulden  österreichischer  am  längsten  =  Währung 
empfangen  und  vollkommen  sanitätsmäßig  befunden  habe. 

Zur  Urkund  dessen  meine  eigenhändige  Tinte. 
Am  Fastnachts-Mittwoch,   eine  Woche   vor  Aschermittwoch,   d.  i. 
19.  Febr.  1879. 

Ferdinand  Kürnberger. 
« 

Gratz,  22.  Mai  1879. 
Gnädige  Frau ! 
Meinen  umgehenden  Dank  für  die  Übersendung  der  Frei- 
karten.   Wer  bedauert  mehr  als  ich,    daß  ich   sie   nicht  abwarten 
konnte?!  Ich  meldete  sie  am  Donnerstag  an  und  glaubte,  Reschauer 


*)  Herausgeber  der  .Deutschen  Zeitung' 


würde  sie  am  Sonntag  Abend,  wo  wir  uns  gemeinsam  bei  Ihnen 
treffen,  mitbringen.  Durch  irgend  ein  Mißverständnis  war  es 
aber  noch  nicht  geschehen.  Das  Mißverständnis  wurde  besprochen 
und  aufgeklärt  und  nun  würde  ich  sie  morgen  abends  haben, 
sagte  Reschauer,  nämlich  Montag  abends.  Ich  hatte  sie  aber  weder 
am  Montag  abends,  noch  am  Dienstag  abends,  noch  am  Mittwoch 
mittags.  Was  Wunder,  daß  ich  am  Mittwoch  mittags  abreiste? . . . 
Das  mündliche  Adieu  bei  Ihnen  versäumte  ich  wegen  meiner 
heftigen  Heiserkeit. 

Frau  Dr.  J.  kann  mir's  bezeugen,  bei  der  ich  die  letzte 
Stunde  zubrachte.  Die  Kosten  der  Unterhaltung  trug  sie;  ich  warf 
manchmal  ein  heiseres  Wort  dazwischen,  denn  ich  war  keines 
Lautes  mächtig.  Bei  Ihnen  wär's  umgekehrt  gewesen.  Sie  hätten 
meinen  Entschluß  mit  Lebhaftigkeit  bestritten ;  ich  hätte  ihn  stand- 
haft festgehalten,  lebhaft  vertheidigt,  kurz  ich  hätte  sprechen 
müssen.  Und  von  wem  sprechen?  Von  R. !  Von  dem  ich  so- 
eben gesprochen  und  wahrlich  stark  genug.  Sollte  ich  nach  48 
Stunden  das  Alles  wiederholen  ?  Ist  es  meine  Rolle,  den  Kopps 
mit  meinem  Verdruß  über  R.  beständig  in  den  Ohren  zu  liegen  ? 
Er  ist  nun  einmal  Hausfreund.  Er  ist  sogar  mehr  als  ich,  er  ist 
auf  Du  und  Du.  Und  sage  ich  denn  etwas  Neues  ?  Weiß  das  der 
Doktor  nicht  Alles  selbst,  nur  daß  er's  leider  nicht  ändern  kann? 
Und  ist  es  freundlich,  immer  von  Neuem  an  Übel  zu  erinnern, 
die  man  zu  seiner  Ruhe  vergessen,  die  man  des  lieben  Frieden 
wegen  am  liebsten  todtschweigen  möchte?  Es  hat  mich  schon 
peinlich  genug  berührt,  wie  ich  am  Montag  sprechen  mußte,  und 
wie  man  zu  einem  Freunde  von  einem  Freunde  nicht  spricht. 
Mein  Feingefühl  hätte  sich's  am  liebsten  erspart  und  ich  that's 
nur,  weil  ich  ja  nicht  als  Ankläger,  sondern  blos  zu  meiner  Selbst- 
vertheidigung  sprach;  ich  hatte  gefühlt,  das  ich  den  Sonntag- 
abend in  einer  Verstimmung  bei  Ihnen  zugebracht,  die  ich  nach- 
träglich erklären  mußte.  Zwei  Tage  später  dieselbe  Variation  dieses 
Themas  mit  kreischender  und  distonierender  Heiserkeit  durch- 
zuspielen, wäre  mir  moralisch  unmöglich  gewesen. 

Meine  Abreise,  mein  Verzicht  auf  die  Freikarten,  das  Alles 
war  jetzt  meine  Sache  allein  und  es  gab  keine  Pflicht,  kein  Recht 
mehr,  die  Kopps  mit  meinen  Diatriben  gegen  Reschauer  zu  be- 
helligen. Es  würde  mich  aufrichtig  schmerzen,  wenn  sich  der  Doktor 
>gekränkt«    fühlte,    denn   das   Gegenteil    ist   mein   Gefühl:    ich 


glaube  ihn  nicht  gekränkt,  sondern  geschont  und  verschont  zu 
zu  haben.  Was  sollte  ein  widerwärtiges  hin  und  her  Reden  um 
mein  Reisen  oder  Nichtreisen?  ....  Wie  hätte  ich  Ihnen  von 
Neuem  mit  diesem  Thema  ins  Haus  fallen  mögen?  Nimmermehr! 
Es  ging  mich  allein  an,  ein  Federzug  genügte,  und  ohne  den 
Mund  zu  öffnen,  schied  ich  still  und  verzichtend  aus  meiner 
Vaterstadt  oder  Stiefvaterstadt! 
Leben  Sie  recht  wohl. 

Mit  treuem  Gruße 

Ferd.  Kürnberger. 

* 

Gratz,  Sonntag  den  25.  Mai  1879. 
Verehrteste  Frau! 

Ich  habe  das  Reschauer-Du  nicht  etwa  im  Sinne  einer  eifer- 
süchtigen Nebenbuhlerschaft  betont,  sondern  —  was  ich  nicht  oft 
genug  wiederholen  kann  —  blos  zum  Gebrauch  meiner  Recht- 
fertigung. Ich  wollte  nicht  zweimal  nacheinander  einem  Freunde 
recriminirend  von  einem  Freunde  sprechen,  mit  dem  er  Du  und 
Du  ist:  das  war  der  Sinn  meiner  Worte.  Doktor  Kopp's  Freund- 
schaft —  mit  oder  ohne  Du  —  weiß  ich  am  Maße  meiner  eigenen 
zu  beurtheilen;  es  ehrt  mich,  zu  wissen  und  zu  fühlen,  was  ihre 
Bedeutung  und  was  ihr  Charakter  ist,  und  ich  bin  zufrieden  damit. 
Das  Du  könnte  kein  höherer  Ausdruck  dafür  sein,  denn  in  den 
seltensten  Fällen  drückt  das  Du  die  reine  Freundschaft  allein  aus; 
meistentheils  kommt  es  angeflogen  aus  Ursache  irgend  einer 
äußeren  Beziehung,  einer  collegialen  Ähnlichkeit  oder  Gemeinsam- 
keit, "welche  mit  einer  Art  von  Tropus  das  gleichartig  Äußere  für 
das  Innere  setzt  und  demgemäß  ausdrückt.  Wenn  alle  Offiziere 
oder  Reichsräthe,  welche  auf  Du  sind,  Freunde  wären!  Das  Aus- 
drucksmittel ist  daher  für  die  wirkliche  Freundschaft  technisch 
unvollkommen  und  psychisch  überflüßig. 

Ein  Schritt,  wie  meine  Mittwochs-Abreise,  setzt  sich  aus 
gar  manchen  Feinheiten  zusammen,  aus  denen  das  Lebensgewebe 
überhaupt  besteht,  während  nach  außen  hin  gewöhnlich  nur  ein 
Faden  gesehen  wird  —  grob  von  Gespinnst  und  grell  in  der 
Farbe.  So  sah  es  nach  außen  hin  aus:  ich  ging  von  Kopp's  ohne 
Adieu  fort.  Aber  wer  sagte,  daß  es  überhaupt  eines  Adieus  be- 
durfte? Daß  ich  nicht  in  wenigen  Tagen  vielleicht  wieder  kam? 
Diese  wenigen  Tage  aber  machten  in  meiner  Hotelrechnung  schon 


9  — 


mehr,  als  es  ausmacht,  von  Gratz  nach  Wien  auf  meine  Kosten 
wieder  zurückzufahren. 

Zwar  das  wußte  ich,  daß  ich  auf  die  Freikarten  nicht  mehr 
tagelang,  sondern  höchstens  stundenlang  würde  warten  müssen, 
mit  dieser  Ritardation  traf  aber  gleichzeitig  die  längere  des  Katarrhs 
zusammen.  Er  trat  so  heftig  auf,  die  Wärmewallungen  des  katarrhali- 
schen Fiebers,  das  sich  in  ähnlichen  Fällen  nur  abends  einstellte, 
griffen  mich  so  ernstlich  auch  am  Tage  an,  daß  beides  zusammen 
ausschlaggebend  wurde.  Fort!  Wohlfeiler  ist  meine  Rückfahrt  nach 
Wien,  als  das  Abwarten  in  Wien.  Das  war  das  erste,  nächste, 
einzige  Motiv  und  drüber  hinaus  blieb  jede  Frage  noch  offen.  Als 
ich  abfuhr,  brauchte  ich  Berlin  noch  nicht  definitiv  aufgegeben 
zu  haben;  ich  hatte  daher  auch  kein  förmliches  Adieu  versäumt, 
wenn  ich  ja  doch  innerhalb  einer  Woche  zurückkam.  In  meiner 
Fantasie  bleibt  Gratz  immer  eine  Vorstadt  von  Wien  und  in- 
zwischen sah  ich  zuhause  doch  nach,  was  angekommen  sei,  ob 
dringende  Einlaufe  zu  erledigen,  —  kurz,  es  war  ein  Sprung! 

Ein  kleiner  Seitensprung  vom  vorgezeichneten  Weg,  aber 
noch  nicht  ein  beschloßenes  Aufgeben  des  Weges.  So  machte  ich 
mit  der  Rothenthurmstraße  diesmal  nicht  mehr  Umstände,  indem 
ich  nach  Gratz  ging,  als  sonst,  wenn  ich  in  meine  alte  Wollzeile 
ging.  Es  war  kein  Gegenstand,  wie  man  sagt!  Ich  konnte  aus 
meiner,  nur  6  Stunden  entfernten  Vorstadt,  demnächst  wieder  bei 
Ihnen  sein.  Berlin  war  nicht  aufgegeben,  aber  ein  Abschied  bei 
Ihnen  hätte  mich  alle  Worte  gekostet,  womit  man  für  Provisorien 
so  gut  sprechen  muß,  wie  für  Definitiva  —  die  Ausgleichs-Politiker 
wissen  es !  —  und  ach,  ich  konnte  überhaupt  nicht  sprechen 

Ich  wartete  meinen  Katarrh  in  Gratz  ab  und  ich  demonstrierte 
gegen  R.;  damit  er  doch  einmal  einen  Ernst  sieht  und  inne  wird, 
daß  man  eine  Geduld  zu  verlieren  hat.  Das  war  Alles.  Im 
Übrigen  konnte  ich  aus  meiner  Beethovenstraße  so  bald  wieder 
zurück  sein,  wie  aus  meiner  Wollzeile.  Daraufhin  braucht  man 
nicht  eben  Abschied  zu  nehmen  und  sich  Adieu  zu  sagen. 

Erst  im  Lauf  dieser  Tage  führt  mich  eine  reife  Überlegung 
der  Umstände  nun  doch  zu  dem  Facit,  daß  ich  auf  meinen 
Berliner  Besuch  für  diesmal  verzichten  soll. 

Ich  wollte  bekanntlich  eine  Vorlesung  in  Berlin  halten  und 
dafür  ist  die  Saison  jetzt  vorbei.  Auch  die  politische  Stimmung 
scheint   mir  ungünstig.    Deutschland    vollzieht  soeben  einen  der 


—  10  — 


größten  Systemwechsel,  den  Übergang  vom  Freihandel  zum  Schutz- 
zoll und  alle  Geister  sind  jetzt  in  volkswirtschaftliche  Ideenkreise 
gebannt.  Meine  Ideen  Ȇber  das  antik  und  modern  Tragi- 
sch e<  kämen  dahergesaust  —  wie  Meteorsteine  von  einem  andern 
Planeten.  Und  doch  möchte  das  hingehen.  Sie  können  sagen, 
Berlin  versinkt  mir  ja  nicht;  es  bleibt  mir  für  die  Vorlesung  und 
für  einen  zweiten  Besuch  noch  immer  stehen,  mein  diesmaliger 
erster  widme  sich  den  Lipperheide's  allein.  Sie  haben  Recht,  wenn 
Sie  es  sagen,  ich  sagte  mirs  selbst  im  hin  und  her-,  auf  und 
ab-Überlegen.  Nun  kommt  aber  mein  Katarrh  in  Betracht.  Zwar 
alle  Hauptsymptome  sind  rasch  verschwunden,  aber  noch  immer 
habe  ich  eine  rauhe  Stimme  und  die  rekonvalesciert  erfahrungs- 
mäßig schon  hngsamer.  Man  reist  jetzt  bei  offenen  Wagenfenstern. 
Ich  werde  also  diese  Stimme  und  diese  Kehle  von  Qratz  bis 
Berlin  dem  Rauch  der  Eisenbahn  auszusetzen  haben.  Ist  das  räthlich? 

Ferner:  Sie  wissen,  daß  die  Norddeutschen  einer  Gesellig- 
keit nur  ganz  froh  werden  können,  bei  vielem  Trinken.  Darin 
sind  sie  Berserker  und  Riesen.  Mit  meinem  Trinken  müßte  ich 
Berlinern  schon  in  gesunden  Tagen  den  Eindruck  eines  Tod- 
kranken machen;  wie  ich  aber  auf  mindestens  14  Tage  Wein, 
Bier  und  Tabaksrauch  noch  heiklicher  fliehen  müßte,  so  würden 
sie  gar  glauben,  ich  sterbe  ihnen  unter  den  Händen.  Und  ich 
hätte  mich  außer  den  Lipperheide's  doch  noch  vielen  Berliner 
Freunden  und  ihren  Tischgesellschaften  zu  widmen.  Mein  ganzer 
Berliner  Aufenthalt  wäre  fast  nichts  als  ein  ewiges  zimperliches 
Protestieren  gegen  die  Berliner  Gewohnheiten  und  die  Derbheit 
ihrer  Genüsse.  Damit  erfreut  man  die  Menschen  nun  doch  auch 
wieder  nicht.  Warte  ich  aber  noch  weitere  14,  ja  nur  8  Tage  ab, 
so  packen  die  Lipperheide's  ihren  Koffer  und  gehen  selbst  wieder 
fort,  denn  die  Saison  steht  just  auf  ihrer  äußersten  Schneide. 
Wenige  Tage  entscheiden  und  entschieden  den  Verlust  des  Ganzen. 
Ich    hoffe,    das    Alles   approbieren    Sie  bei  ruhigem  Blut 

Zum  Schlüsse  noch  Eins.  Die  kleine  Pfingstreise  nach  Wildon 
und  Steinhof  wird  Ihnen  hoffentlich  nicht  auch  so  vereitelt,  wie 
mir  die  große  Berliner  Reise.  Gratz  ist  eine  Station  von  25  Minuten 
Aufenthalt  und  dabei  möchte  ich  Sie  persönlich  begrüßen.  Ich 
bitte  um  genaueste  Nachricht,  mit  welchem  Zuge  Sie  anzukommen 
gedenken.  Ich  höre,  Heilsberg  räth  Ihnen  übrigens,  statt  in  Wildon 
in  Gratz  zu   übernachten   und   da   schwingen  Sie  rieh  wohl  gar 


—  11 


zu  einem  Besuch  bei  mir  auf,  denn  die  Pferdebahn  geht  vom 
Bahnhof  an  meine  Straßenecke  (Station  Beethoven straße)  und  fast 
ganz  vor  mein  Haus.  Aber  ob  25  Minuten,  ob  eine  ganze  Nacht, 
ich  erlaube  mir  in  beiden  Fällen  zu  bitten,  'mir  einige  Ex. 
der  Deutschen  Zeitung  mitzubringen.  Meine  vier  Jänner-Feuilletons 
habe  ich  mir  im  Gratzer  Zeitungsverschleiß  bei  Kienreich  ge- 
kauft, teilweise  sogar  noch  zehn  Tage  nach  ihrem  Erscheinen. 
Als  ich  mir  aber  den  > häuslichen  Narrenabend«  blos  am  vierten 
Tage  kaufen  wollte,  fand  ich  die  Nummern  schon  vergriffen  und 
mein  Pichler-Feuilleton  vom  Feiertag  fand  ich  gar  schon  am 
zweiten  Tag  nicht  mehr.  Entweder  schickt  der  Verschleiß  die 
unverkauften  Exemplare  nach  einer  neueren  Praxis  zu  früh  zurück, 
oder  der  Detailverkauf  nimmt  reißend  zu,  ohne  daß  die  Leute 
gescheidt  genug  wären,  dem  entsprechend  sich  auch  eine  stärkere 
Exemplarenanzahl  kommen  zu  lassen  ....  Die  Wiener  Zeitungs- 
auflage kommt  mit  dem  Schnellzug  mittags  um  halb  eins  an 
und  geht  in  den  Verkauf  über.  Die  Sonntagsnummer  kostet  um 
2  kr.  mehr,  weil  sie  Sonntagsnummer  ist,  dafür  kann  man  sie 
aber  erst  Montag  kaufen!  K.  hält  Sonntagsfeier,  obwohl  es  be- 
hördlich nicht  mehr  geboten  ist,  auch  viele  andere  Laden  halten 
offen,  nur  den  seinigen  schließt  er,  schließt  ihn  mit  einer  Waare, 
deren  ganzer  Wert  der  Tag,  ja  die  Stunde  ist,  läßt  die  Sonntags- 
nummern 20  Stunden  lang  müßig  unter  Verschluß  liegen  und 
verkauft  sie  dann  altgebacken  um  2  kr.  teurer ! ! 

Ich  bitte  Sie  also  mir  drei  meiner  Deutschen  Zeitungs- 
Feuilletons  mitzubringen  und  zwar:  Häuslicher  Narrenabend, 
Sonntag,  den  9.  Februar,  ferner  die  zwei  neuesten  Pichler- 
Feuilletons  vom  Feiertag  und  dem  heutigen  Sonntag.  Jedes  in 
zwei  Exemplaren. 

Und  da  es  immer  gut  ist,  einen  Geldbrief  zu  vermeiden, 
wo  man  sich  persönlich  berührt,  so  bitte  ich  den  Doktor,  auch 
das  Honorar  von  50  fl.  zur  persönlichen  Übergabe  an  mich  mit- 
zubringen. 

Jetzt  weiß  ich  gar  nichts  mehr,  als  daß  ich  mich  auf  Ihre 
Ankunft  freue !  Leben  Sie  recht  wohl  und  theilen  Sie  meine  Grüße 
zwischen  Ihnen  und  dem  Doktor,  aber  so,  daß  Jedes  statt  der 
Hälfte  das  Doppelte  bekommt. 

Der  Ihrige  Ferd.  Kürnberger. 


-    12  — 

Gnädige  Frau! 

Ich  bitte  demnach  an  Lipperheides  zu  schreiben.  Ich  kann 
leider  nicht  Ihnen  folgen,  sondern  nur  dem  Kürnberger.  Wenn 
ich  schreibe,  so  schreibe  ich  nicht,  was  Ihnen  einfällt,  sondern 
was  dem  Kürnberger  einfällt,  und  wenn  ich  handle,  so  kann  ich 
eben  auch  nur  Kürnbergerisch  handeln.  Die  Eisenbahn  ist  mir 
unter  allen  Umstünden  ein  Attentat  auf  die  Menschenwürde  und 
daß  der  Mensch  stundenlang  keine  andere  Freiheit  hat,  als  die 
der  Augen,  bleibt  mir  immer  zu  wenig.  Nachts  (wo  ich  nicht 
schlafen  kann)  auch  noch  auf  diesen  einzigen  Sinn  zu  verzichten 
und  gar  nichts  zu  sein,  als  ein  Packet  Fleisch-Transport,  ist  nicht 
Kürnbergerisch.  So  hält  denn  auch  mein  Trinkbedenken,  wenn 
nicht  vor  Ihnen,  doch  vor  dem  Kürnberger  Stich,  —  kurz,  ich 
könnte  mich  nur  wiederholen  und  schweige  daher,  umsomehr  als 
die  gefaßten  Entschlüsse  und  Willensmeinungen  eines  mündigen 
und  zurechnungsfähigen  Menschen  überhaupt  nicht  discutirbar 
sind,  sondern  nur  ad  notam  genommen  werden  können. 

Bitte  demnach  an  Lipperheide  zu  schreiben.  Ich  habe  mich 
gestern,  gleichzeitig  mit  meinem  Schreiben  an  Sie,  für  die  Mitte 
Juni  in  Bregenz  bei  Robert  Byr  und  Alfred  Meißner  angemeldet. 
—  Ich  werde  Sie  nicht  im  »Florian«,  sondern  am  Bahnhof  er- 
warten. Möge  Landesausschuß  und  Politik  nicht  alle  Gratzer 
Stunden  consumieren.  Ich  machte  erst  gestern  wieder  einen  Spazier- 
gang, -  nur  auf  3/<  Stunden  im  Umkreis  meines  Hauses,  kaum 
so  weit,  als  Sie  von  Ihrem  Haus  zu  Fuß  zum  Schwender  brauchten, 
und  wie  ich  dabei  in  Bergen,  Wäldern  und  Wiesen  und  unter  den 
reizendsten  Nah-  und  Fernsichten  schwelgte,  ließ  ich  mich  im 
Geiste  fortwährend  von  Ihnen  begleiten.  Da  würden  Sie  fühlen, 
warum  man  nach  Gratz  geht,  dachte  ich  mir.  Es  ist  nicht  einmal 
ein  Nachmittags-,  nur  ein  Abendspaziergang  und  ist  mehr  als 
Weidlingau  und  die  Brühl!  Und  zwar  ohne  Wagen,  ohne  daß 
sich  ein  einzigesmal  ein  Rad  umzudrehen  brauchte! 

Beste  Grüße  auf  freudenreiche  mündliche  Wiederholung  in 
48  Stunden! 

Der  Ihrige 

Gratz,  Mittwoch  28.  Mai  1879.  Ferd.  Kürnberger. 


—  13  — 

Gedichte 
Von  Else  Lasker-  Schüler 

Siehst  du  mich  — 

Zwischen  Erde  und  Himmel? 
Nie  ging  einer  über  meinem  Pfad 

Aber  dein  Antlitz  wärmt  meine  Welt 
Von  dir  geht  alles  Blühen  aus. 

Wenn  du  mich  ansiehst, 
Wird  mein  Herz  süß. 

Ich  liege  unter  deinem  Lächeln 
Und  lerne  Tag  und  Nacht  bereiten 

Dich  hinzaubern  und  vergehen  lassen, 
Immer  spiele  ich  das  eine  Spiel. 

Und  suche  Gott 

Ich  habe  immer  vor  dem  Rauschen  meines 

Herzens  gelegen 
Und  nie  den  Morgen  gesehen 
Nie  Gott  gesucht. 

Nun  aber  wandele  ich  um  meines  Kindes 
Goldgedichtete  Glieder 
Und  suche  Gott. 
Ich  bin  müde  vom  Schlummer 
Weiß  nur  vom  Antlitz  der  Nacht. 
Ich  fürchte  mich  vor  der  Frühe 
Sie  hat  ein  Gesicht 
Wie  die  Menschen,  die  fragen. 
Ich  habe  immer  vor  dem  Rauschen 
Meines  Herzens  gelegen 
Nun  aber  taste  ich  um  meines  Kindes 
Gottgelichtete  Glieder. 

*  * 

* 


788 


—  14  — 

Aphorismen  *) 
Von  Karl  Kraus 

Der  christlichen  Ethik  ist  es  gelungen,  Hetären 
in  Nonnen  zu  verwandeln.  Leider  ist  es  ihr  aber  auch 
gelungen,  Philosophen  in  Wüstlinge  zu  verwandeln. 
Und    gottseidank    ist    die  erste   Metamorphose  nicht 

ganz  so  verläßlich. 

* 

Der  Ausweg:  Wenn  die  Menschen  für  die  Er- 
findung eines  Vehikels  Ideale  und  Leben  geopfert 
haben,  nimm  das  Vehikel,  um  den  Leichen  zu  ent- 
fliehen und  den  Idealen  näher  zu  kommen! 

* 

Die  Hysterie  der  Weiber  gleicht  dem  Schimmel, 
der  sich  auf  Dinge  legt,  die  lange  in  feuchtem  Raum 
eingesperrt  waren:  man  ist  leicht  geneigt,  ihn  für 
Schnee  zu  halten. 

Eine  Moral,  welche  aus  der  Gelegenheit  ein 
Geheimnis  gemacht  hat,  hat  auch  aus  dem  Geheimnis 
eine  Gelegenheit  gemacht. 

* 

Die  Moral  sagte:  Nicht  herschauen!  Damit  war 

beiden  Teilen  geholfen. 

* 

Die  Liebe  des  Geschlechts  ist  in  der  Theologie 
eine  Sünde,  in  der  Jurisprudenz  ein  unerlaubtes  Ver- 
ständnis, in  der  Medizin  ein  mechanischer  Insult,  und 
die  Philosophie    gibt   sich   mit   so   etwas   überhaupt 

nicht  ab. 

* 

Die  Sprache  ist  die  Mutter,  nicht  die  Magd  des 
Gedankens. 

Von  einem,  der  auf  die  Jungfräulichkeit  seiner 


*)  Aus  dem  .Simplicissimus'. 


—  15  — 

Angebeteten  schwor,  fand  ich  es  nicht  merkwürdig, 
daß  er  sich  das  einreden  ließ,  sondern  daß  er  sich 
das  einreden  ließ. 

Die  Frauenseele  = 
x2  +  J/31-4-20  +  4-6   -(4X2)+y2+2xy   _^3  +  Q,41) 
(x  +  y)*  — 3-8  +  6-6-2 


Glossen 
Von  Karl  Kraus 

Es  ist  erfreulich  zu  sehen,  wie  unbeirrbar  —  trotz  einer 
»Chinesischen Mauer«  -  derQlaube  des  Publikums  an  die  Mission  der 
, Fackel'  sich  zu  meinem  Schreibtisch  Bahn  bricht.  Eine  und  dieselbe 
Post  brachte  mir:  eine  Beschwerdeschrift,  unterzeichnet  von  mehreren 
Leuten,  Lehrern,  Beamten  und  sonstigen  Standespersonen,  über 
die  Grobheit  eines  Försters,  der  dem  Pintsch  einer  Dame  in  der 
Sommerfrische  auf  den  Fuß  trat,  so  daß  die  Dame  aufschrie, 
worauf  der  Förster  mit  der  Tötung  des  Hundes,  der  ihm  über- 
haupt unsympathisch  war,  drohte,  so  daß  die  Dame  in  Ohnmacht 
fiel,  so  daß  die  Herren  nicht  wußten,  was  sie  machen  sollten,  und 
den  Beschluß  faßten,  es  der  , Fackel'  zu  sagen.  Ferner:  die  Zu- 
schrift eines  Bäckers,  die  mit  den  mir  unvergeßlichen  Worten  be- 
ginnt: »Entschuldigen  Sie  meine  Freiheit!  Ich  habe  soeben  in 
Erfahrung  gebracht,  daß  Sie  unerschrocken  jede  Wahrheit,  welche 
das  Publikum  interessiert,  vor  die  Öffentlichkeit  bringen  und  er- 
laube mir  .  .  .«,  und  die  mit  dem  lockenden  Versprechen  schließt, 
daß  »sehr  viele  Sachen  ans  Tageslicht  kommen«  werden.  Dann: 
die  Mahnung  eines  Ungeduldigen,  es  sei  schon  höchste  Zeit, 
daß  sich  die  .Fackel'  für  den  Kampf  um  den  Direktorsposten 
bei  der  Kreditanstalt  interessiere.  Endlich :  die  Klage  eines 
Luftschiffers:  »Obwohl  ich  seit  Erscheinen  der  , Fackel'  so  ziemlich 
deren  sämtliche  Nummern  gelesen  und  was  noch  mehr  ist,  gekauft 


16 


habe,  bin  ich  doch  bisher  nicht  in  der  Lage,  mir  ein  Urteil  über 
Ihr  aviatisches  Glaubensbekenntnis  zu  bilden«  .  . .  Nun,  wenn  ich 
die  Erwartungen  der  Leser  auch  nicht  immer  zu  erfüllen  im  Stande 
bin,  so  werde  ich  doch  stets  bereit  sein,  die  Distanz,  in  der 
ich  zurückbleibe,  zu  bekennen. 

*  * 

* 

Nun  haben  wir  von  einem  amerikanischen  Philantropen 
das  Modell  jenes  großen  fossilen  Reptils  erhalten,  das  unter  dem 
Namen  Diplodocus  Carnegiei  bekannt  ist.  Spät,  aber  doch.  Eine 
Anzüglichkeit  ist  darin  nicht  zu  erblicken ;  denn  London,  Paris 
und  Berlin  haben  längst  ein  solches  Modell.  Der  Diplodocus  be- 
zieht sich  also  nicht  auf  unsere  Rückständigkeit,  vielmehr  bezieht 
sich  unsere  Rückständigkeit  auf  den  Diplodocus.  Jedenfalls  ist  es 
erfreulich,  wenn  man  ausging,  ein  Luftschiff  zu  suchen,  und  einen 
Diplodocus  findet.  Carnegie  wußte,  wo  uns  der  Schuh  gedrückt 
hat;  >sein  Herz«,  sagte  der  Überbringer  des  Diplodocus  einem 
Interviewer,    »ist  stets  den  Bedürftigen  zugewendet«.   Er  wird  mit 

Bettelbriefen  aus  allen  Teilen  der  Welt  überschwemmt. 

*  * 
• 

Die  »Findigkeit  der  Post«  ist  eine  angeborne  Eigenschaft. 
Ich  habe  lange  nicht  an  sie  glauben  wollen.  Denn  daß  die  Post 
eine  populäre  Persönlichkeit  findet,  wenn  ein  scherzhafter  Zeichner 
statt  der  Adresse  das  Konterfei  auf  eine  Postkarte  gesetzt  hat, 
ist  nicht  weiter  erstaunlich.  Die  Post  dieses  malerischen  Landes 
verweilt  gern  bei  einem  Bildel  und  läßt  sich's  eben  auch  ein  wenig 
Kopfzerbrechen  kosten,  wenn  nur  am  andern  Tag  im  .Extrablatt' 
der  Ruhm  unter  die  populäre  Persönlichkeit,  den  scherzhaften 
Zeichner  und  die  findige  Post  verteilt  wird.  Kürzlich  aber 
bekam  ich  einen  Expreßbrief  aus  Stuttgart,  und  dieser  Fall  war 
es,  der  mich  wirklich  an  die  Findigkeit  der  Post  glauben  lehrte. 
Wäre  das  Kuvert  einfach  mit  meinem  Namen  und  der  Adresse 
»Wien«  versehen  gewesen,  traun,  die  Post  hätte  nicht  lange  ge- 
fackelt und  wie  in  zahllosen  anderen  Fällen  auf  mich  geraten. 
Die  Sache  war  aber  nicht  so  einfach,  sie  war  vielmehr  außer- 
ordentlich kompliziert,  und  dennoch  gelang  es  der  Post,  mir  den 
Brief  zuzustellen.  Er  war  von  Stuttgart  am  2.  Oktober  abends 
abgeschickt  worden  und  ich  hatte  ihn  am  3.  Oktober,  Sonntag, 
um  8  Uhr  abends  erwartet.  Statt  dessen  bekam  ich  ihn  aber  erst 
am    Montag    nachmittags.     Dieser    Eilbrief     war    achtundvierzig 


17 


Stunden  von  Stuttgart  nach  Wien  gegangen.  Ein  einfacher  Brief 
wäre  rascher  zugestellt  worden.  Aber  ein  einfacher  hätte  eben 
nicht  die  Sorgfalt  der  Behandlung  verdient,  die  dem  Expreßbrief 
zuteil  wurde.  Er  war  nämlich  statt  »Wien,  I.  Elisabethstraße« 
»Wien,  IV.  Elisabethstraße«  adressiert  worden.  Die  Post  ließ  sich 
das  nicht  zweimal  sagen.  Sie  war  so  gewissenhaft,  den  Eilbrief 
nicht  in  die  Elisabethstraße,  sondern  in  den  IV.  Bezirk  zu  diri- 
gieren. Dort  rannte  der  Eilbrief  träger  auf  und  ab  und  suchte  die 
Elisabethstraße.  Der  Adressat  war  bekannt,  aber  von  der  Straße 
wußte  man  im  ganzen  Bezirk  nichts.  Aufruf  erfolglos.  Schon 
wollte  der  Briefträger  den  Vermerk  hinsetzen:  Straße  unbe- 
kannten Aufenthalts  oder  verreist  oder  gestorben.  Da  kam  ihm 
der  rettende  Gedanke,  den  Brief  in  meiner  früheren  Wohnung, 
die  ja  im  gleichen  Bezirk  liegt  -  was  eben  auch  den  Irrtum  des 
Absenders  erklärt  —  zu  hinterlegen.  Dort  erfuhr  er,  daß  ich  nach 
dem  I.  Bezirk,  Elisabethstraße  übersiedelt  sei,  und  richtig,  am 
4.  Oktober  nachmittags  traf  der  Brief  bei  mir  ein.  Der  Post  ist 
kein  Vorwurf  zu  machen.  Sie  hatte  kein  Mittel  unerschöpft  gelassen, 
die  Elisabethstraße  im  IV.  Bezirk  zu  eruieren.  Eine  solche  war 
unauffindbar,  und  so  mußte  sich  die  Post  wohl  oder  übel  an  den 
Adressaten  halten.  Ein  Eilbrief  ist  ein  gut  Ding,  das  Weile  braucht, 
und  die  Findigkeit  der  Post  ist  ein  Dogma,  an  das  fortan  auch 
ich  glaube.  Man  kann  ihr  Hindernisse  in  den  Weg  legen,  so  viele 
man  will,  sie  findet  doch  zum  Ziel.  Und  wenn  man  ihr  die  Be- 
stellung eines  Expreßbriefes  zumutet,  auf  dem  die  ganz  korrekte 
Ortsangabe:  Wien  bei  Linz  stünde,  sie  würde  zuerst  bei  Linz  suchen 
und  dann  doch  schnurgerade  den  Weg  nach  Wien  gehen.  Auch 
wenn  niemand  in  der  Näheist,  der  ihr  durch  Zurufe:  Feuer,  Feuer! 
vorwärts  hilft.  Diesmal  habe  ich,  während  der  Eilbote  den  vierten 
Bezirk  nach  der  Elisabethstraße  absuchte,  viel  Geld  an  Telegramme 
verschwendet,  die  durch  das  Ausbieiben  des  Eilbriefes  notwendig 
wurden.  Der  Staat,  der  Filou,  ersetzt  es  mir  nicht.  Ich  habe  eine 
lange  Geduld.  Aber  das  sage  ich:  wenn  mir  nicht  die  Postbüchel 

am  Neujahrstag  pünktlich  zugestellt  werden,  schlage  ich  Lärm! 

*  • 

• 

Dia  fürchterlichste  Tortur,  die  die  Presse  bereit  hat,  ist  die 
Mechanik  des  Nachdrucks.  Ein  geheimnisvolles  Schneeballsystem 
ermöglicht  heute  eine  Verbreitung  der  Dummheit,  die  früher  auch 
nicht   einmal   geahnt   worden   wäre.    Schreibt  ein  kleiner  Wiener 


—  18 


Schmock  über  die  ziemlich  gleichgiltige  Tatsache  der  Schließung 
eines  Kaffeehauses,  das  zufällig  auf  derselben  Stelle  stand,  auf  der 
einst  das  sogenannte  > Literaturcafe«  gestanden  war.  Die  Beziehung 
des  Kaffeegenusses  zur  literarischen  Produktion,  seit  jeher  über- 
schätzt, hat  längst  ihre  Humorhaftigkeit  eingebüßt,  sie  besteht  seit 
dem  Ende  jenes  Cafe-  Oriensteidl  überhaupt  nicht  mehr,  und  das 
Schicksal  der  drei  lyrischen  Kommis,  die  nunmehr  wirklich  aus 
dem  Cafe  Reil  auswandern  müssen,  bewegt  keinen  Menschen  auf 
dem  weiten  Erdenrund.  Aber  Zeilenhonorar  läßt  sich  daraus 
schlagen.  Man  zitiert  wieder  einmal  die  Stirnlocke  des  Herrn  Bahr, 
die  längst  nicht  nur  ihre  Berechtigung,  sondern  auch  ihre  Aktualität 
verloren  hat  —  der  Mann  liebt  jetzt  eine  Melange  aus  Andreas 
Hofer  und  Wotan  — ,  und  läßt  um  seinen  Tisch  sich  >die  jungen 
Talente  scharen,  die  ein  für  allemal  die  Vergangenheit  über  Bord 
geworfen  hatten«.  >Da  saßen  Artur  Schnitzler,  Richard  .  .  .«,  dann 
kommen  die  Probleme  des  Lebens,  die  dort  »gelöst«  wurden,  der 
bekannte  Absynth,  von  dem  noch  nie  ein  Glas  in  einem  Wiener 
Kaffeehaus  ausgeschenkt  wurde,  und  schließlich  die  »nachdrängende 
junge  Generation«.  Zuletzt  —  o  tempora  —  saßen  hier:  »Paul 
Wertheimer,  Raoul .  . .«  und  nicht  etwa,  »um  eine  Tasse  Kaffee  zu 
trinken,  sondern  um  über  Literatur  zu  reden«.  Nun,  das  ist  zum 
Kotzen,  wenn  man's  nur  einmal  liest.  Was  geschieht  aber?  Das 
Unglück  will,  daß  der  Schmock  ausnahmsweise  so  ehrlich  war, 
meine  »Demolierte  Literatur«  —  hätte  ich  sie  nie  geschrieben !  — 
zu  nennen.  Lieber  bestohlen  werden!  Denn  ein  ebenso  gewissen- 
haftes Bureau  schickt  mir  seit  drei  Wochen  täglich  Ausschnitte 
aus  sämtlichen  deutschen  und  österreichischen  Blättern  sämtlicher 
Haupt-  und  Provinzstädte.  Und  nun  sieht  mein  Blick  zum 
hundertsten  Mal  die  Stelle,  auf  der  Paul  Wertheimer  saß,  und  ich 
male  mir  aus,  wie  die  Kunde  allmählich  über  ganz  Deutschland 
und  Österreich  kriecht:  In  Dresden,  Düsseldorf,  Bremen,  Nürnberg, 
Breslau,  Hannover,  Frankfurt  und  Bromberg,  in  Pilsen,  Gablonz 
und  Morchenstern,  überall  wissen  sie  es  bereits:  »das  Ende  eines 
Literaturcafes«  ist  gekommen,  und  er  saß  darin,  und  natürlich 
nicht,  um  eine  Tasse  Kaffee  zu  trinken,  sondern . . .  Das  Aus- 
schnittbureau arbeitet  unermüdlich,  die  Post  kann  kaum  nach- 
kommen und  in  jeder  Stunde  keuchen  die  Boten  und  bringen  mir 
neue  Beweise  von  der  Unersättlichkeit  des  deutschen  Literatur- 
interesses.   Und    ich   ewiger  Querulant  habe   mich   durch   all  die 


19  - 


Zeit  beklagt,    daß   nichts   von   dem,    was  hierzulande   geschaffen 
wird,  über  die  Grenze  dringe! 


Ein  Zirkular,  das  zufällig  in  meine  Hände  kam,  gibt  über 
deutsche  Literaturverhältnisse  prägnante  Auskunft: 

Der  ergebenst  gefertigte  Verleger  und  Herausgeber  der  Zeitschrift 

hat   in  Erfahrung  gebracht,    daß  arn  morgigen  Sonnabend  in  L. 

unter  dem  Namen eine  »Wochenschrift«  auf  dem  Plan  erscheinen 

wird,  die  in  erster  Linie  einem  Zwecke  dienen  soll,  nämlich:  den 
Unterzeichneten   »moralisch  zu  vernichten«. 

Damit  nun  diesem  Blatte  und  allen,  die  von  ihm  hören,  von 
vornherein  einigermaßen  der  Beweis  erbracht  werde,  daß  wir  seinen 
Ursprung  leidlich  genau  kennen,  sei  von  ihm  folgendes  verkündet: 

Chefredakteur    des ist  Herr  K.  P.,    genannt  W.    Das  ist 

aber  derselbe  W.,  der 

erstens:  von  uns  wegen  verschiedener  Geldunterschlagungen 
und  Betrügereien  neulich  der  Staatsanwaltschaft  angezeigt  werden 
mußte;  der 

zweitens:  als  Redakteur  aus  unserem  Betriebe  nicht  bloß 
deswegen  ausscheiden  mußte,  weil  er  uns  immerfort  beschwindelte, 
sondern  weil  er  außerdem  an  einer  ekelhaften  Krankheit  (nämlich  der 
»Krätze«)  erkrankt  war,  so  daß  es  niemand  in  seiner  Nähe  aushalten 
konnte,  bezw.  wollte ;  und  der 

drittens:  als  Chefredakteur  des  neulich  ins  Untersuchungs- 
gefängnis eingelieferten  G.  m.  b.  H.  Dr.  L.  &  Co.  aller  Welt  den  Beweis 
erbrachte,  daß  er  für  Geld  zu  jedem  Bluff  zu  haben  ist. 

Verleger  des  ...  ist  Herr  W.  K.,  früher  »Chef«  einer  Firma  in 
der  .  .  .  straße  Nr.  .  .  .,  jetzt,  nachdem  Herr  K.  selber  fallierte,  Pro- 
kurist der  gleichen  Firma,  über  deren  Wert  jede  Auskunftei  nähere 
Angaben  macht.  Herr  K.  saß  bereits  im  Frühjahr  1909  wegen  Wechsel- 
geschichten in  Untersuchungshaft.  Er  ist  ein  Freund  von  H.  R.,  der 
erst  neulich  in  Berlin  hinter  schwedischen  Gardinen  saß. 

Kapital-Schieber  des  ...  ist  —  über  die  Brücke  des  H.  R. 
hinweg  —  der  ehemalige  Verlagsbuchhändler  J.,  von  dem  ich  unter 
Beweis  stellen  kann 

erstens:  daß  er  dreimal  mit  Gefängnis  und  auch  mit  fünf 
Jahren  Ehrenrechtsverlust  vorbestraft  ist;  daß  er 

zweitens:  von  verschiedenen  Seiten  verdächtigt  wird,  Meineide 
geschworen  und  zu  solchen  Schwüren  dritte  angestiftet  zu  haben ;  und 
daß  er  sich 

drittens:  trotzdem  öffentlich  wiederholt  seines  allerintimsten 
Verkehrs  mit  dem  Staatsanwalt  Herrn  Dr.  M.  rühmte,  demselben  Herrn 
Staatsanwalt,  der  mich  neulich  im  Zusammenhang  mit  der 
F. 'sehen  Mordsache  in  Untersuchungshaft  nahm. 

Das    besagt    alles    und  dürfte  jeden  anständigen  Menschen  dazu 


20 


bestimmen,    mir    in    diesem    neuesten  Kampfe    mit    mehr    oder    minder 
sauberen  Feinden  die  alte  Treue    zu    bewahren. 
Hochachtungsvoll  und  ergebenst 

Dr.  jur.  A.  P. 
Verleger  und  Herausgeber  des  .Deutschen  Kampfes'. 


In  ,Az  ujsäg'  (Budapest,  26.  September)  ist  ein  Aufsatz  von 
Franz  Herczeg  über  den  Roman  »Drut«  von  Bahr  Hermann  er- 
schienen, der  die  Affaire  Hervay  behandelt.  Ein  Leser  übersendet 
mir  die  Übersetzung  des  folgenden  Passus: 

>Der  Verfasser  beendet  an  dieser  Stelle  seinen  Roman,  die 
Wirklichkeit  spann  aber  den  ihren  weiter.  Der  Wiener  Karl  Kraus 
kommentierte  seinerzeit  mit  einer  in  Feuer  und  Galle  getauchten  Feder 
die  scheußliche  Gerichtsverhandlung,  in  der  die  gelehrten  kaiserlichen 
Richter  mit  verzweifelter  Anstrengung  der  gequälten  Frau  auf  den  Kopf 
beweisen  wollten,  daß  sie  eine  .Vergangenheit'  habe.  Die  steirischen 
Puritaner  warfen  ihr  vor,  daß  sie  ein  Badezimmer  besessen  hätte; 
die  in  Jägerwäsche  gekleidete  Mürzzuschlager  Tugend  aber  entrüstete 
sich  über  die  Seidenjupons  der  Frau  v.  Hervay.  Schließlich 
mußte  man  sie  doch  freilassen.  In  der  ganzen  Hetze  spielte  die 
Staatsgewalt  und  die  Gesellschaft  wirklich  eine  schändliche  Rolle. 
Der  Staat  benahm  sich  so  grausam  und  tölpelhaft  v/ie  ein  wild 
gewordener  Stier.  Er  ermordete  einen  Menschen  und  beschmutzte  das 
Leben  einer  Frau,  um  sich  dann  mit  dem  Bewußtsein  der  wohlerfüllten 
Pflicht  zu  trollen.  Von  dem  Benehmen  der  Gesellschaft  sprechen  wir 
lieber  nicht.  So  viel  sei  genug:  Menschen,  die  häufige  Gäste  des  Hauses 
Hervay  waren,  gerieten  in  einen  heulenden  Freudentaumel,  als  sie  die 
.schöne  Baronin'  inmitten  von  Bajonetten  sahen.  Zu  bemerken  ist,  daß 
niemand  von  der  Vernichtung  der  Hervays  Nutzen  hatte.  Die  Täter 
taten  alles  selbstlos,  nur  der  aufregenden  Hetze  zu  lieb.  Unter  dem 
Schlagwort  der  moralischen  Reinheit  wurde  losgeschlagen;  es  war  aber 
weder  Moral,   noch  Reinheit   im  Spiele,    sondern  sadistischer  Schmutz.« 


Dr.  Sigwart  Graf  zu  Eulenburg 

Helene   Gräfin  zu  Eulenburg 

geb.  Staegemann. 

Vermählte. 

Liebenberg  Leipzig 

den  21.  September  1909. 

Dazu  bemerkt  das  .Neue  Wiener  Journal' : 

Wir  müssen  gestehen,  daß  Fräulein  Helene  Staegemann  ziemlich 
vorurteilslos  und  couragiert  ist,  wenn  sie  es  riskiert,  in  die  etwas  an- 
rüchig gewordene  Familie  des  Liebenbergers  hineinzuheiraten. 

Künftige  Kulturhistoriker  werden  den  Jammer  unserer  Zeit 


21 


vielleicht  in  die  Formel  fassen,  daß  auf  hundert  Federn  kaum  eine 
Hundspeitsche  kam. 


»Seit  13  Jahren  zum  Doktor  der  gesamten  Heilkunde  pro- 
moviert, sehe  ich  mich  wieder  vis-ä-vis  de  rien<  —  so  klagt  mir 
einer.  Ein  Pumpbrief?  Nein,  der  Schmerzensschrei  eines  Mannes, 
der  den  Ehrgeiz  hat,  mit  den  wissenschaftlichen.  Neuerungen 
Schritt  zu  halten,  aber  einsehen  muß,  daß  jeder  neue  Tag  seine 
Schulweisheit  beschämt.  Was  ist  denn  nur  wieder  geschehen? 
Herr  v.  Bethmann-Hollweg  war  in  Wien,  und  der  Vertreter  der 
, Neuen  Freien  Presse'  hat  ihn  im  Hotel  Imperial  besucht.  Auf 
dreimaliges  Läuten  ist  dort  pünktlich  der  »Schatten  Bismarcks< 
erschienen.  Nachdem  dies  geschehen  war,  sprach  der  neue  Reichs- 
kanzler »von  der  großen  Vervollkommnung  der  Presse«.  Und  mit 
vollem  Recht.  Denn  der  Vertreter  der  .Neuen  Freien  Presse'  hat 
eine  wissenschaftliche  Entdeckung  gemacht.  »Die  Netzhaut  der 
in  einem  sanften  Bogen  zugeschnittenen  Augen«,  schrieb  er  am 
nächsten  Tag,  »ist  von  der  Anstrengung  beim  Lampenlicht  bis  tief 
in  die  Nacht  hinein  gerötet.«  Einem  unserer  Mitarbeiter  ist  es  also 
gelungen,  die  Netzhaut  des  Reichskanzlers  ohne  Augenspiegel  zu 
untersuchen,  und  die  Wissenschaft  erfährt  wieder  einmal  aus  der 
Tagespresse,  was  sie  zu  wissen  hat. 


Fragmente  aus  einem  Zeitungsbericht: 

»Josef  Pullitzer  wanderte  vor  mehr  als  vierzig  Jahren  als  sieb- 
zehnjähriger Jüngling  aus  Ungarn  nach  Amerika  ein,  und  er  war 
nicht  nur  mittellos,  sondern  —  er  erzählte  dies  sehr  oft  selbst  — 
Analphabet.  Nur  den  deutsch-jüdischen  Jargon  konnte 
er  in  hebräischen  Lettern  schreiben  ...  Er  wurde  Reporter 
bei  der  »Westlichen  Post'  .  .  .  und  war  bald  Chefredakteur  und 
Teilhaber  des  deutschen  Blattes.  Später  gründete  er  ein  englisches 
Blatt  in  St.  Louis,  und  bald  darauf  lenkte  er  die  amerikanische 
Journalistik  durch  die  Gründung  des  New-Yorker  ,World'  in 
neue  Bahnen.«: 


09   


Ein  Schauspieler  faßte  den  verzweifelten  Entschluß,  aus  der 
Kritik  zu  lernen.  Er  hatte  den  Galomir  in  >Weh  dem,  der  lügt« 
gespielt  und  mit  dem  unbestimmten  Gefühl,  daß  sich  manches 
noch  besser  machen  ließe,  den  Morgen  erwartet.  Man  brachte  ihm 
zwei  Zeitungen.  Da  las  er:  »Als  Galomir,  der  lallende  Trottel  mit 
Helm  und  Schwert,  übertrieb  Herr  L.  mehr  als  ausgiebig«.  Und : 
»Herr  L  war  so  diskret,  wie  es  der  Galomir  erlaubt«.  Man  brachte 
ihm  zwei  andere  Zeitungen.  Da  las  er:  > Anders  mimte  Herr  L. 
den  Galomir.  Er  faßte  ihn  als  das  vielgesuchte  Zwischenglied  auf: 
zu  vierfüßig  für  einen  Menschen  und  zu  idiotisch  für  einen 
Affen.  Er  schwelgte  in  einer  übermäßig  breit  gedehnten  seriös- 
naturalistischen Soloszene,  in  Tierlauten  und  -Grimassen  wildester 
Sorte,  und  war  von  einer  humoristischen  Grauslichkeit,  die  sich 
weit  vom  Stil  des  klassischen  Verslustspiels  entfernte«.  Und:  »Eine 
schwere  Aufgabe  war  Herrn  L.  zugefallen,  dessen  blöder  Galomir 
dank  kluger  Mäßigung  nicht  nur  erträglich,  sondern  fast  sympathisch 
wurde«. . .  Wie  der  Schauspieler,  der  sich  von  der  Kritik  talsächlich 
beeinflußen  ließ,  den  Galomir  das  zweite  Mal  gespielt  hat,  hat 
man  nicht  erfahren,  weil  zur  zweiten  Vorstellung  von  »Weh  dem, 
der  lüjt«  (einer  muß  es  getan  haben)  keine  Referatsitze  aus- 
geschickt wurden.  Vielfach  verlautet  aber,  daß  das  bekannte 
Gedicht  »Finster  wars,  der  Mond  schien  helle«  auf  den  Einfluß 
zurückzuführen  ist,  den  die  Wiener  Nachtredakteure  auf  den  Mond 

ausüben. 

*  * 

»Wer  lacht  heute  noch  darüber«,  rief  eine  Frauenrechtlerin 
in  der  .Neuen  Freie  Presse',  »wenn  er  hört,  die  Dame  studiert 
Medizin  und  jene  Philosophie?«  Ich! 


Gegen  den  Mädchenhandel 
Von  Karl  Kraus 

In  Wien  versammelte  sich  die  Internationale 
Konferenz  zur  Bekämpfung  des  Mädchenhandels. 
Nach  dem  Erapfangsabend  im  Hotel  Bristol  —  dieses 


23 


Haus  hat  schon  besseren  Zwecken  gedient  —  schrieb 
eine  Zeitung:  »In  den  nächtlichen  Straßen  trafen  die 
Delegierten  genügend  Studienmaterial,  freche  Gemein- 
heit und  verkümmertes  Elend,  das  vom  Laster  ein 
armseliges  Dasein  fristet«.  Das  ist  fast  eine  Indiskretion. 
Die  Privatangelegenheiten  der  Herren  Kongreßteil- 
nehmer gehen  keinen  Menschen  etwas  an.  Uns  hat 
nur  die  öffentliche  Tätigkeit  der  Herren  zu  beschäftigen. 
Es  sind,  hieß  es,  »bekannte  Streiter  in  dem  Kampfe 
gegen  das  schmähliche  Gewerbe,  das  sich  zur  Nacht- 
zeit in  den  Straßen  breit  macht  oder  sich  in  ver- 
schwiegene Winkel  des  Lasters  zurückzieht«.  Ob  die 
Herren,  die  ja  nach  Wien  als  Fremde  kamen,  des- 
gleichen taten  oder  sich  mit  einer  oberflächlichen 
Musterung  des  Studienmaterials  begnügten,  das  darf 
uns  hier  nicht  bekümmern.  Nur  ihre  Kongreßtätigkeit 
ist  von  Belang.  In  den  nächtlichen  Straßen  und  in 
den  verschwiegenen  Winkeln  wird  das  Laster  mit 
den  Geheimräten,  Asketen  und  Statistikern  schon 
allein  fertig.  Wichtig  ist  nur,  daß  es  sich  am  grünen 
Tisch  beschmutzen  lassen  muß  und  heutzutage  gegen 
die  Übergriffe  der  Sittlichkeit  wehrlos  ist.  So  weit 
haben  wir  es  glücklich  gebracht.  Es  traut  sich  ja 
schon  keine  Kupplerin  mehr,  der  Liga  zur  Bekämpfung 
des  Mädchenhandels  beizutreten.  Was  ist  die  Folge? 
Daß  sich  dort  die  Betschwestern  und  Blaustrümpfe 
breit  machen.  Nun  ist  es  der  Natur  ja  herzlich 
gleichgiltig,  in  welche  sozialen  Formen  sich  der  ge- 
schreckte Sexualtrieb  flüchtet.  Schon  manche  ver- 
hinderte Schnepfe  hat  als  Frauenrechtlerin  zum 
Kreuzzug  gegen  die  Prostitution  gepredigt.  Und  man 
sollte  doch  nachgerade  daran  gewöhnt  sein,  die  Ten- 
denzen, die  in  einem  Frauengehirn  reifen,  in  keinem 
Falle  unabhängig  vom  übrigen  Körper  zu  betrachten. 
Eine  Betätigung  müssen  die  Weiber  haben,  und 
wenn  sie  sich  der  Abschaffung  der  Prostitution 
hingeben,  so  ist  es  noch  die  vernünftigste,  weil 
sie  dabei  mit  der  Hauptsache  in  Beziehung  bleiben. 
In  der  unerschrockenen  Vorkämpferin,  die  dem  Laster 


—  24 


in  seine  verschwiegenen  Winkel  nachgeht,  ist  hinter 
der  Form  noch  die  Materialechtheit  erkennbar.  Solcher 
Sozialpolitik  ließe  sichmit  einer  Umarmung  beikommen. 
Es  dreht  sich  doch  um  den  Brand,  auch  wenn  die  Wei- 
ber nicht  mehr  brennen,  sondern  löschen  wollen.  Wie 
anders  die  Männer,  die  gegen  die Unsittlichkeit  rüsten! 
Sie  sind  keineswegs  durch  Geilheit  zu  entschuldigen; 
denn  die  Geilheit  .des  Mannes  ist  kein  kultur- 
schöpferischer Faktor.  Sie  ist  uninteressant,  ob  sie 
sich  nun  in  draufgängerischer  Tatkraft  oder  in 
eifernder  Zurückhaltung  auslebt.  Nur  Torheit  kann 
die  beschämenden  Exzesse  erklären,  zu  denen  sich 
die  Führer  der  Sittlichkeitsbewegung  am  hellichten 
Tag  zusammenfinden  und  die  uns  gewiß  nicht 
weniger  belästigen,  als  die  öffentliche  Schaustellung 
der  Dinge,  um  deren  Unterdrückung  es  jenen  zu 
tun  ist.  Der  Mädchenhandel  mag,  wie  jede  andere 
soziale  Einrichtung,  seine  Auswüchse  haben;  ihn 
einen  Auswuchs  nennen,  bedeutet  nichts  anderes 
als  den  Zuckerhandel  verbieten  zu  wollen,  weil  das 
Zuckerkartell  korrupt  ist.  Ob  das  Geschäft,  dessen 
Ware  die  Menschen  weniger  als  irgendeine  andere 
entbehren  können,  es  an  Reellität  nicht  mit  jedem 
bürgerlichen  Betrieb  aufnehmen  kann,  mag  zweifel- 
haft bleiben.  Sicher  ist,  daß  es  sich  neben  den  ide- 
alen Angelegenheiten  dieser  Gesellschaft  sehen  las- 
sen kann.  Freilich,  das  Schicksal  jener  Ärmsten,  die 
aus  der  Karriere  einer  Phosphorarbeiterin  gerissen 
und  in  ein  Freudenhaus  geschleppt  wurden,  ist  fürch- 
terlich. Aber  verdient  das  Schicksal  der  Mädchen,  die 
aus  den  heißen  Träumen  ihres  jungen  Lebens  ge- 
weckt, zum  Altar  geschleift  und  einem  schweiß- 
füßigen  Vertreter  erster  Firmen  auf  die  Reise  mit- 
gegeben werden,  nicht  auch  seine  Träne?  Ist  der 
Mädchenhandel,  bei  dem  Priester  und  Rabbiner  hel- 
fen, nicht  seinen  Kongreß  wert? 


Herausgeber    und    verantwortlicher     Redakteur:     Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,   Wien,   HI.  Hintere  Zollanitsstraße  3 


natürlichen 

alkalischer 


CARL  GOLSDpRF^a^k^Ho/HePeVant 

.^^ffr        KrondorF..  Berlin. 


Karlsbad,  Budapest  V.  Wien  PC. 


Unternehmen  für  Zeitungsausschnitte 
U  DO  ER  V  ER,    Wien,  I,  Concordiaplatz  Nr.  4  (Telephon  Nr.  12801) 

versendet  Zeitungsausschnitte  über  jedes  gewünschte  Thema.Man  verlange  Prospekte 

■  i.ii -i  in. ,i  in..    -„■,..,  "„.„- 

Aufruf 
betr.  Veröffentlichung  Liliencronscher  Briefe 

Im  Einverständnis  mit  Frau  Baronin   Liliencron   mache  ich 
als  testamentarisch  eingesetzter  Verwalter   des   literarischen  Nach- 
lasses von  Friedrich  Detlev  v.  Liliencron  darauf  aufmerksam,   daß 
niemand   außer  der  Baronin    und    mir  das   Recht   hat,   irgend 
welche  Manuskripte  des  Dichters  zu  veröffentlichen.  Dies  gilt  ins- 
besondere auch  für  seine  Briefe,  selbst  für  die  kleinste  Post- 
karte. Da  sie  nach  Form  wie  Inhalt  ästhetischen  oder  literarhisto- 
rischen Wert  haben,  aiso   den   sogenannten   Schriftwerk-Charakter 
aufweisen,  sind  sie  der  neueren  Rechtssprechung  zufolge  urheber- 
rechtlich geschützt;    lediglich  die  Witwe  des  Dichters  hat  als 
seine  Gesamt-Erbin    die    Befugnis    zur   öffentlichen    Verwertung. 
Auch  aus  Gründen  des  sogenannten    Persönlichkeitsrechte&s 
hat   einzig    sie    darüber    zu    entscheiden,    inwieweit    sich    solche 
ursprünglich  privaten,  bloß  für  den  Empfänger  bestimmten  Schrift- 
stücke jetzt  vielleicht   für  die  Öffentlichkeit  eignen,   gleichviel   ob 
ganz  oder  teilweise,  ob  urheberrechtlich  geschützt  oder  nicht.  Ich 
ersuche  also  alle  Besitzer  von  Briefen  oder  sonstigen   ungedruck- 
ten   Manuskripten    Liliencrons,    sich    wegen    der   Erlaubnis    zur 
Veröffentlichung    —   auch    wenn    es   sich   nur   um    Bruchstücke 
handelt   —   entweder  an  die  Baronin   (Adresse:  Alt-Rahlstedt  bei 
Hamburg)  oder  an  mich  (Blankenese  bei  Hamburg)  zu  wenden. 
Jede    unerlaubte    Verwertung    verbiete    ich    im 
Namen  der  Erbin;  dies  umso  strenger,  als  der  Dichter  selber 
einen  Abscheu  vor   der   wahllosen   Auskramung   intimer   Korres- 
pondenzen hatte.  Literarisch  oder  journalistisch   achtbaren    Wün- 
schen werden  wir  selbstverständlich  so  sehr  wie  möglich  entgegen- 
kommen. Ganz  besonders  aber  bitte  ich  auch  solche  Briefbesitzer, 
die  n  i  c  h  t  mit  der  Absicht  einer  Veröffentlichung  auf  eigne 
Hand  umgehen,  sjch  unverzüglich   mit   uns   in   Verbindung  zu 
setzen.  Denn  wir  bereiten  eine  Ausgabe  Liliencronscher  Briefe  i  n 
dervom  Dichter  gewünschten  Weise   vor;    und   ich 
leiste  Sicherheit  für  jegliches  Material,  das  man   uns   zur  Prüfuncr 


Korffs  Cacao 
Korffs  Ghocolade 

Bureau  für  Österreich  :  . 

Wien,  VI.  Mariahiiferstrasss  117 


■*«».}*<>*• 


DIE  FACKEL 

i 
HERAUSGEBER:  KiVRIv     lül^  ATTA    jj 

Die  , Fackel'  erscheint    in    zwangloser   Folge   im   Umfang   j 
von  16-32  Seiten  | 

BEZUGSBEDINGUNGEN 

rreich-Ungftrn  rn,  portofroi     K  4.50    I 

__■   8-- 

das  deutsch"  R<  »  ......  Mk.4.— 

'27  „  >   6.  - 

30  *  ■    7.25 

Das  Abonnement  erstreckt   sich  nicht  auf  einen    Zeit- 
raum, sonder.i  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von  Nummern  j 

Einzelnummer    in   Deutschland  30   Pfennig 

Zu    beziehen     durch     sämtliche    Buchhandlungen 

Berliner  Bureau:  Haiensee,  Katharinenstraße  5 

»,*****»***<—***—**»»•* ******  »♦♦♦»♦♦♦♦♦»♦♦♦♦♦««♦»»»**» 


Inhalt  der  vorigen  Nummer  287,  16.  September:  Die 
Entdeckung  des  Nordpols.  Von  Karl  Kraus.  -  An  den  unbe- 
kannten Freund.  Von  Karl  Borromaeus  Heinrkh.  —  Aphorismen. 
Von  Karl  Kraus.  —  Heilig  ist  d:e  Leidenschaft!  Von  Karl 
Hauer.  —  Meine  Schriften.  —  Begräbnis.  Von  Detlev  von 
Liliencron. 


Herausgeber  und  .  -  dakteur    Karl  Kraus 

Druck  von'Jahoda  &  Sit;  III.  Hintere  Zollamtsstr.  3 


T 


Nr.  289  25.  OKTOBER  1909  XI.  JAH] 


DIE  FACKEL 


HERAUSGEBER: 


KARL  KRAUS 


INHALT: 

Luftgaukler.  Von  Karl  Knaus.  —  Aus  dem  Papier- 
korb. Von  Karl  Kraus.  —  Der  Schatten.  Von  Otto 
Stoessl.   —  Bekannte  aus  dem  Variete.  Von  Karl 
Kraus.  —  Glossen.  Von  Karl  Kraus. 


PREIS  DER  EINZELNEN  NUMMER  30  HELLER 
ERSCHEINT    IN    ZWANGLOSER    FOLGE 


VERLAG:   ,DIE    FACKEL»  WIEN  -  BERLIN 

WIEN,    JII/2,    HINTERE    ZOLLAMTSSTRASSE    3      TEL' THON    Nr.     V 
BERLINER    BUREAU:     HALENSEE,     KATIIVRINENSTRASSF 


KARL  KRAVS 

SPRVECHE 

VNDWIDER- 

SPRVECHE 

Verlag  ALBERT  LANGEN  München 


UBCH  ALLE  BUCHHANDLUNGEN  ODER  DIREKT  VOM  VERLAG  ZU  BEZIEHEN. 
iROSCHlERT  M  3.50,  IN  LEINEN  GEB.  M  4.50,    IN   HALBFRANZ  GEB.  M  7.50. 


In  zweiter  Auflage  erschien: 


Sittlichkeit  und  Kriminalität 

:rster  Band   der  ausgewählten    Schriften   von   Karl  Kraus 

Broschiert       .  M  6.-  Ganzleinen  .    .  M  7.25 

(L.  Rosner,  Wien  und  Leipzig) 

^Stellungen    nimmt   jede    Buchhandlung,   der  Verlag  der  .Fackel',  Wien 

1/2,    Hintere    Zollamtsstraße    3    und    das    Berliner    Bureau    der    .Fackel', 

Berlin -Haiensee,    Katharinenstraße   6,    entgegen. 

Im    Verlage  Jahoda   &    Siegel,    Wien    III/2,    Hintere    Zollamtsstraße  '3 
schien : 

KARL  KRAUS       ; 

Von    ROBERT    SCHEU 

(Mit  einem  Bildnis) 
40    SEITEN    80,   broschiert 
Preis   80   Heller  (80  Pf) 

urch  alle  Buchhandlungen,  durch  das  Berliner  Bureau  der  .Fackel',  oder  direkt 
durch  den  Verlag  gegen  Einsendung  des  Betrages  zu  beziehen. 


Die  Fackel, 

Nr.  289  25.  OKTOBER  1909  XI.  JAHR 


Luftgaukler 
Von  Karl  Kraus 

Herr  Isidor  Singer  wird  es  also  sein,  der  uns 
das  Fliegen  gelehrt  hat.  Es  gibt  Vorstellungen,  die 
einem  die  ganze  Entwicklung  verleiden  können.  Auch 
wir  werden  unsere  Luftschiffe  haben,  aber  immer 
wird  es  heißen,  daß  wir  es  Herrn  Isidor  Singer  ver- 
danken. Ich  würde  keinen  Komfortable  benützen, 
wenn  ich  wüßte,  daß  Herr  Isidor  Singer  das  Unter- 
nehmen begünstigt.  Ich  täte  es  nicht.  Die  Öster- 
reicher aber  lieben  den  Fortschritt  und  es  geniert 
sie  nicht,  wer  ihn  ihnen  beigebracht  hat.  Soeben 
erst  hat  ihre  Polizei  Gehvorschriften  erlassen,  und 
sie  werden  pünktlich  gehen  lernen.  Und  schon  wollen 
sie  auch  fliegen.  Da  verschreibt  sich  Herr  Isidor 
Singer  einen  Luftballon  aus  Graz  und  zeigt  den 
Wienern,  wie  mans  machen  muß.  Über  ein  gestürztes 
Einspännerroß  kamen  wir  nicht  hinweg,  der  Taxa- 
meter ward  hier  Ereignis,  und  ein  Automobil 
hinderte  den  Verkehr.  Nun  aber  fordert  die  ,Zeit' 
die  rückständigen  Abonnenten  zur  Erneuerung 
Österreichs  auf,  und  siehe  da,  wir  fliegen.  Nichts  liegt 
mir  ferner  als  ein  Vorurteil  in  aviatischen  Dingen. 
Ich  kann  vielleicht  einen  Ble'riot  von  einem  Renner- 
Buben  unterscheiden.  Aber  es  ist  möglich,  daß  der 
Unterschied  zwischen  unseren  heimischen  Aeronauten 
und  den  Renner- Buben  wirklich  darin  besteht,  daß  jene 
sachverständig  sind  und  diese  bloß  fliegen  können.  Daß 
diese  bloß  Akrobaten  sind  und  jene  Knockabouts.  Wo- 
von ich  aber  etwas  verstehe,  das  ist  die  Mischung  aus 
Wichtigmacherei  und  Feschität,  die  in  der  Vorfüh- 
rung der    Grazer    Artistenfamilie    durch    den    Herrn 


Isidor  Singer  zu  spüren  ist.  Das  ist  das  Betragen 
eines  Zeitungsadministrators,  der  aus  Unfähigkeit 
zum  Protektor  des  vaterländischen  Fortschritts  wird, 
und  jene  bodenlose  Gemütlichkeit,  die  neben  einem 
»Xandi«  und  einem  »Toli«  auf  einmal  auch  einen  Isi  ge- 
währen läßt.  Unsere  Geduld  ist  schließlich  kein  Han- 
gar für  eine  Reklamesucht,  die  in  Strebersdorf  landet ! 
Und  in  der  Erwartung  des  Herrn  Ble'riot  können  wir 
die  Vordringlichkeit,  mit  der  uns  die  Erkenntnisse 
aus  der  Kleinen  Luftschiffgasse  offeriert  werden,  ge- 
trost ablehnen.  Der  Kaiser  hätte  sich  nicht  dazu 
bestimmen  lassen,  der  Produktion  der  »Renner-Buben« 
beizuwohnen,  wenn  er  gewußt  hätte,  daß  es  sich 
viel  mehr  um  eine  Produktion  zweier  havarierten 
Zeitungseigentümer  handeln  würde,  die  auf  Erden 
nicht  genügend  Abonnenten  haben  und  darum  mit 
der  Luft  das  Geschäft  machen  wollen.  Der  Kaiser 
hätte  diese  Leute  keiner  Ansprache  gewürdigt,  wenn 
er  geahnt  hätte,  welch  eine  spekulative  Anwendung 
das  Dichterwort:  Es  soll  der  Singer  mit  dem  König 
gehen,  am  andern  Tag  zu  gewärtigen  habe.  Und  es 
ist  gar  kein  Zweifel,  daß  der  Generaladjutant  des 
Kaisers  nicht  in  einem  Schreiben  an  die  ,Zeit'  »mit 
besonderem  Vergnügen  die  sich  ihm  bietende  Gele- 
genheit ergriffen  hätte,  um  Euer  Hochwohlgeboren 
meiner  vollkommensten  Hochachtung  zu  versichern, 
in  der  ich  mich  zeichne  als  des  Herrn  Professor  er- 
gebenster Graf  Paar«,  wenn  er  von  den  Rekords 
der  unterschiedlichen  ,Zeit'-Prozesse  Kenntnis  gehabt 
hätte.  Damit  er  aber  wenigstens  nachträglich  erfahre, 
von  welcher  Art  das  Blatt  sei,  durch  dessen  Hände 
eine  kaiserliche  Spende  geht,  damit  ferner  die  Luft- 
schiffe des  Stolzes  sich  nicht  allzu  hoch  versteigen,  und 
damit  schließlich  der  Erkenntnis  gedient  sei,  daß  es 
bei  einer  Zeitung  noch  immer  mehr  auf  Original- 
berichte als  auf  Luftballons  ankomme,  möge  hier  das 
folgende  Dokument  Raum  finden: 

Wir  sind  gegen  literarische  Piraterie,  die  gegen  uns  verübt 
wird,  ziemlich  abgehärtet  und    verschmähen  es,  über ,  jeden  zu    unserer 


Kenntnis  gelangenden  Fall  solcher  Art  gleich  ein  großes  Geschrei  zu 
erheben.  Mitunter  wird  uns  aber  so  keck  mitgespielt,  daß  uns  doch 
die  Geduld  reißt  und  wir  uns,  weniger  im  eigenen  Interesse,  als  viel- 
mehr in  dem  des  journalistischen  Anstandes,  bemüssigt  fühlen,  einzu- 
schreiten. Ein  solcher  Fall  liegt  neuestens  vor,  er  betrifft  die  Wiener 
Tageszeitung  ,Die  Zeit'.  Schon  vor  einigen  Jahren  haben  wir  der 
Redaktion  der  ,Zeit'  Vorhaltungen  darüber  machen  müssen,  daß  sie 
immer  wieder  Originalberichte  der  .Vossischen  Zeitung'  ohne  Quellen- 
angabe, ja  als  »eigene«  Meldungen  veröffentliche,  erzielten  aber  damals 
nur  verlegene  Ausflüchte.  In  den  letzten  Wochen  hat  nun  die  ,Zeit' 
zahlreiche  unserer  Konstantinopeler  Telegramme,  die  ihr  offensichtlich 
von  einem  Berliner  Mitarbeiter  drahtlich  übermittelt  worden  waren, 
wörtlich  übernommen  und  sie  ihren  Lesern  als  ihre  eigenen  Telegramme 
vorgesetzt,  indem  sie  sie  mit  einem  Konstantinopeler  Datum  versah, 
sie  ferner  ausdrücklich  als  ihre  Privattelegramme  bezeichnete  und  zur 
Vollendung  der  Täuschung  obendrein  einen  Halbmond  als  Kor- 
respondentenzeichen vorsetzte.  Die  .Zeit'  erhob  einst  bei  ihrer 
Gründung  den  Anspruch,  eine  neue  Moral  in  die  Wiener  Presse  hinein- 
tragen zu  wollen ;  man  sieht  auch  an  diesem  Beispiel,  wie  das  Blatt 
dieser  von  ihm  angekündigten  Aufgabe  gerecht  wird. 

.Vossische  Zeitung',  Berlin,  7.  August  1908 


Aus  dem  Papierkorb 
Von  Karl  Kraus 

Und  wenn  der  geistige  Unflat  des  neuen 
Deutschland  eimerweise  auf  den  Markt  geschüttet 
wird,  man  befaßt  sich  doch  immer  wieder  gern  mit 
jenen  seltenen  Büchern,  die  nicht  erscheinen.  Wie 
stehts,  so  fragt  man,  mit  den  gesammelten  Schriften 
Ludwig  Speidels?  Es  ist,  als  ob  der  Journalismus 
die  wertvollste  Beute,  die  er  je  errafft  hat,  nie  mehr 
herausgeben  wollte.  Grauenhaft,  zu  denken,  daß  es 
für  einen  Künstler,  den  der  Tag  als  Geißel  der  Un- 
sterblichkeit gefangen  hielt,  auch  nach  dem  Tod 
keine  Befreiung  geben  soll.  Er  starb,  aber  aus  dem 
Sarg  der  Zeitlichkeit,  in  dem  er  gelebt  hatte,  durfte 
er  nicht  auferstehen.   Und    kein  deutscher  Verleger 


findet  sich,  der  den  Journalisten  den  Schatz  ent- 
risse, den  sie  so  sorglich  hüten,  weil  er  ihre  ange- 
stammte Armut  verraten  könnte.  Nie  zuvor  und  nie 
seither  hat  die  Sprachkunst  eine  ähnliche  Gastrolle 
auf  den  Schmieren  des  Geistes  gespielt.  Das  Leben 
Speidels  mag  die  Presse  als  einen  Zwischenfall  emp- 
finden, der  störend  in  das  von  Heine  begonnene 
Spiel  trat.  Er  schien  es  mit  dem  leibhaftigen  Sprach- 
geist zu  halten;  er  lud  ihn  an  Feiertagen  auf  die 
Stätte  der  schmutzigsten  Unterhaltung,  damit  er 
sehe,  wie  sie's  treiben.  Nie  war  ein  Kollege  bedenk- 
licher als  dieser.  Wohl  konnte  man  mit  ihm  Parade 
machen;  aber  sein  Lebenswerk,  führte  man  es  heute 
vor,  es  brächte  jene  Demütigung,  die  man  damals 
eßlöffelweise  als  Stolz  einnahm.  Man  hat  ihm  die 
Unsterblichkeit  des  Tages,  wie  er  sein  Feuilleton 
nannte,  gegönnt;  aber  eine  Sammlung  seiner  Feuilletons 
könnte  den  Tag  der  Unsterblichkeit  einläuten.  Und 
die  Journalisten  handeln  pietätvoll,  berufen  sich  auf 
seine  Bescheidenheit,  die  ihm  eine  Buchausgabe  ver- 
sagte, und  gehen  hin  und  schenken  uns  ihre  eigenen 
Bücher. 

• 

Denn  es  ist  das  böse  Zeichen  dieser  Krise:  der 
Journalismus,  der  die  Geister  in  seinen  Stall  getrieben 
hat,  erobert  ihre  Weide.  Markierte  Personen,  die  jahre- 
lang unter  dem  Strich  gelebt  haben,  drängen  sich  in 
die  gute  Gesellschaft.  Tagschreiber  möchten  Autoren 
sein.  Es  erscheinen  Feuilletonsammlungen,  an  denen 
man  nichts  so  sehr  bestaunt,  als  daß  dem  Buchbinder 
die  Arbeit  nicht  in  der  Hand  zerfallen  ist.  Brot  wird 
aus  Brosamen  gebacken.  Was  ist  es,  das  ihnen  Hoff- 
nung auf  die  Fortdauer  macht?  Das  fortdauernde 
Interesse  an  dem  Stoff,  den  sie  sich  »wählenc.  Wenn 
einer  über  die  Ewigkeit  schwätzt,  sollte  er  da  nicht 
gehört  werden,  so  lange  die  Ewigkeit  dauert?  Von 
diesem  Trugschluß  lebt  der  Journalismus.  Er  hat 
immer  die  größten  Themen  und  unter  seinen  Händen 
kann    die    Ewigkeit   aktuell   werden;   aber  sie  wird 


ihm  auch  ebenso  leicht  wieder  inaktuell.  Der  Künstler 
aber  gestaltet  den  Tag,  die  Stunde,  die  Minute. 
Sein  Anlaß  kann  zeitlich  und  lokal  noch  so  begrenzt 
und  bedingt  sein,  sein  Werk  wächst  umso  grenzen- 
loser und  freier,  je  weiter  es  dem  Anlaß  entrückt 
ist.  Es  veralte  im  Augenblick:  es  verjüngt  sich  in 
Jahrzehnten.  Was  vom  Stoff  lebt,  stirbt  vor  dem  Stoffe. 
Was  in  der  Sprache  lebt,  lebt  mit  der  Sprache.  Wie 
leicht  lasen  wir  jenes  Geplauder  am  Sonntag,  und 
nun,  da  wirs  aus  der  Leihbibliothek  beziehen  können, 
vermögen  wir  uns  kaum  durchzuwinden.  Wie  schwer 
lasen  wir  die  Sätze  der  , Fackel',  selbst  wenn  uns 
das  Ereignis  half,  an  das  sie  knüpften.  Nein,  weil 
es  uns  half!  Je  weiter  wir  davon  entfernt  sind,  desto 
verständlicher  wird  uns,  was  darüber  gesagt  war.  Wie 
geschah  dies?  Der  Fall  war  nah  und.  die  Perspektive 
war  weit.  Es  war  alles  vorausgeschrieben.  Es  war 
verschleiert,  damit  ihm  der  neugierige  Tag  nichts 
anhabe.  Nun  heben  sich  die  Schleier. 

* 
Dawider  vermag  die  wertverschiebende  Tendenz 
des  Journalismus  nichts  auszurichten.  Er  kann  den 
Uhren,  die  er  aufzieht,  Garantiescheine  für  ein  Sä- 
kulum  mitgeben:  sie  stehen  schon,  wenn  der  Käufer 
den  Laden  verlassen  hat.  Der  Uhrmacher  sagt,  die 
Zeit  sei  schuld,  nicht  die  Uhr,  und  möchte  jene 
zum  Stehen  bringen,  um  den  Ruf  der  Uhr  zu  retten. 
Er  macht  die  Stunde  schlecht  oder  schweigt  sie  tot. 
Aber  ihr  Genius  zieht  weiter  und  macht  hell  und 
dunkel,  obschon  das  Zifferblatt  es  anders  will.  Wenn 
es  zehn  schlägt  und  elf  zeigt,  können  wir  im  Mittag 
halten,   und   die    Sonne    lacht   über    die  gekränkten 

Uhrmacher. 

* 

Daß  doch  alle  Überhebung  der  Mechanik,  die 
sich  mit  dem  Ruhm  sozialer  Nützlichkeit  nicht  be- 
scheiden will,  die  Naturnotwendigkeiten  nicht  zu 
>richten«  vermag!  Die  Journalisten  versichern 
einander,    ihre  Werke    seien   unsterblich,    aber   nicht 


—   6    — 


einmal  die  Versicherung  bleibt  erhalten,  wiewohl  sie 
wahrlich  Anspruch  darauf  hätte.  Daneben  hat  ein 
Geheimnis  die  Kraft,  sich  selbst  in  aller  Mund  zu 
bringen.  Österreich  ist  das  Land,  wo  am  lautesten 
gesprochen  wird  und  wo  die  Geheimnisse  am  strengsten 
gewahrt  werden.  Es  ist  das  Land,  in  dem  Pestzüge 
veranstaltet  und  Tropfsteinhöhlen  entdeckt  werden. 
»Dabei  stellte  es  sich  heraus,  daß  man  es  nicht  mit 
einer  der  vielen  unbedeutenden  Höhlen,  wie  sie  im 
Kalkgebirge  häufig  vorkommen,  sondern  mit  gewal- 
tigen unterirdischen  Räumen,  die  sich  stundenweit 
ins  Innere  des  Berges  erstrecken,  zu  tun  habe.  Die 
Höhle  führt  zunächst  so  regelmäßig  wie  ein  Eisen- 
bahntunnel durch  festes  Gestein  horizontal  in  den 
Berg  und  kann  bis  zur  Tiefe  von  dreihundert  Metern 
ohne  jede  Gefahr  von  jedermann  begangen  werden. 
Auch  weiterhin  sind  die  Schwierigkeiten  des  Ein- 
dringens nicht  erheblich  und  stehen  gar  nicht  im 
Verhältnis  zu  dem  wunderbaren  Anblick,  der  sich 
dem  Beschauer  bietet.  Ein  Spitzbogengewölbe  von 
unabsehbarer  Höhe  umschließt  herrliche  Tropfstein- 
bildungen. Auf  dem  Boden  liegen  ganz  absonderlich 
geformte  Gebilde  aus  Kalzit  und  noch  nicht  erstarrter 
Bergmilch.  An  den  Seiten  wänden  finden  sich  zarte 
Figuren  von  weißer  und  blauer  Struktur,  Berg- 
kristall und  Eisenblüte.  Die  Forscher  drangen 
stundenweit  gegen  die  Mitte  des  Berges  vor  und 
konnten  in  den  Gängen  und  Stollen  kein  Ende 
finden  .  .  .«  Ist  dies  die  Sprache  der  Höhlenkunde 
oder  der  Literaturforschung?  Wir  sind  andere  Sehens- 
würdigkeiten gewohnt:  Festzüge,  die  das  Auge  der 
Zeitgenossen  blenden  wie  ein  Gebilde  aus  Wunder 
und  Krida. 

* 
Kein  Zweifel,  Herr  Felix  Saiten  besitzt  das 
riesigste  Sortiment  der  Monarchie.  Er  ist  Kommerzial- 
rat  geworden.  Bedeutet  das  nicht  die  Unsterblichkeit 
in  diesen  Kreisen?  Oder  bedeutet  die  Unsterblichkeit 
in  diesen  Kreisen   etwas   anderes?     In  einer  Berliner 


Revue,  der  , Schaubühne',  war  davon  zu  lesen.  Ich 
habe  mir's  gemerkt,  denn  es  ist  mein  Fluch,  mich 
mit  den  Kleinigkeiten  abzugeben,  die  diese  Zeit  zu 
Größen  macht.  Herr  Saiten  hat  eine  Feuilleton- 
sammlung erscheinen  lassen  und  der  Kritiker  erweist 
Ludwig  Speidel  die  Ehre,  seiner  bei  diesem  Anlaß 
zu  gedenken.  Man  kann  sagen,  daß  Speidel  gut  bei 
dem  Vergleich  wegkommt,  denn  es  wird  ihm  eine 
Ähnlichkeit  mit  einem  Teil  Saltenscher  Wesensfülle 
zugeschrieben,  die  auch  noch  den  ganzen  Sarcey  nebst 
den  Herren  Bahr  und  Muther  in  sich  schließe  und 
durch  welche  die  Formel  der  Madame  de  Stael:  c'est 
un  esprit  neuf  et  hardi  .  .  .,  für  »einen  andern 
Dichter- Kritiker«,  nämlich  Lessing,  erdacht,  erst 
»lebendige  Wahrheit  geworden«  sei.  Ich  sehe  die 
, Schaubühne*  gern.  Nicht  nur,  weil  mir  —  die  Aus- 
schließlichkeit des  Theaterinteresses  und  die  Ver- 
wissenschaftlichung des  Tinterltums  zugegeben  — 
mancher  Beitrag  Freude  gemacht  hat,  sondern  auch 
weil  ihr  Notizenteil  eine  gute  Handhabe  bietet, 
sich  jeweils  über  den  Stand  des  psychologischen 
Schmocktums  in  Deutschland  zu  informieren.  Dabei 
lassen  sich  namentlich  die  Fortschritte  überblicken, 
welche  die  subtilen  Persönlichkeiten,,  die  in  den 
Wiener  Redaktionen  nicht  recht  reüssieren  konnten, 
auf  Berliner  Boden  machen.  Der  Journalismus  in 
Wien  bringt's  über  den  Geschichtenträger  und  Ge- 
bärdenspäher nicht  hinaus.  Er  ist  Amüseur  oder 
Beobachter.  In  Berlin  darf  er's  mit  der  Psychologie 
halten.  Nun  ist  es  das  Verhängnis  allen  Geistes  aus 
zweiter  Hand,  daß  sein  Unwert  dort  leichter  in  die 
Augen  springt,  wo  er  sich  der  schwereren  Leistung 
vermessen  möchte.  Der  Plauderer  ist  gewiß  eine  der 
schalsten  Kreaturen,  die  in  unserem  geistigen  Klima 
fortkommen.  Aber  er  hängt  immer  noch  eher  mit 
dem  schöpferischen  Wesen  zusammen  als  der 
Beobachter  und  vollends  der  Psychologe,  die  bloß 
den  Hausrat  der  Chuzpe  benützen  müssen,  den  die 
technische  Entwicklung   des    Geisteslebens   ihnen  in 


—   8 


die  Hand  gespielt  hat.  Der  Amüseur  sticht  durch 
eine  wertlose  Begabung  von  der  Geschicklichkeit 
des  Beobachters  ab,  so  wie  sich  dieser  wieder  von 
der  wertlosen  Bildung  des  Psychologen  vorteilhaft  ab- 
hebt. Das  sind  so  die  Grundtypen  des  geistigen  Elends, 
zwischen  denen  natürlich  ebensoviele  Varietäten 
Platz  haben,  als  die  organische  Welt  des  Geistes 
Gelegenheiten  zum  Abklatsch  bietet.  Nah  beim 
Beobachter  steht  der  Ästhet,  der  durch  Liebe  zur 
Farbe  und  Sinn  für  die  Nuance  ausgezeichnet  ist 
und  an  den  Dingen  der  Erscheinungswelt  so  viel 
noch  wahrnimmt,  als  Schwarz  unter  den  Pinger- 
nagel geht.  Er  kann  aber  auch  mit  dem  Psycho- 
logen zu  einer  besonderen  Art  von  feierlichem  Re- 
portertum  verschmelzen,  zu  jenem  zwischen  Wien 
und  Berlin,  also  in  Prag  beliebten  Typus,  der  aus 
Zusammenhängen  und  Möglichkeiten  zu  neuen  Sehn- 
suchten gelangt  und  der  in  schwelgerischen  Adjektiven 
einbringt,  was  ihm  die  Natur  an  Hauptworten  versagt 
hat.  Bei  dem  jähen  Übergang,  den  gerade  dieser 
Typus  von  der  kaufmännischen  Karriere  in  die 
Literatur  durchmacht,  wäre  ein  Dialog  wie  der  fol- 
gende nicht  bloß  kein  Zufall,  sondern  geradezu  die 
Formel  für  die  Komplikationen  eines  fein  differen- 
zierten Seelenlebens:  »Hat  Pollak  aus  Gaya  bezahlt ?< 
>Das  nicht,  aber  er  hat  hieratische  Gesten. c 

• 
Oder  zum  Beispiel:  »Es  gibt  Tagesschriftsteller, 
deren  expansiver  Wille  die  aktuelle  Einfallslinie  in 
die  Sphäre  des  Unendlichen  und  Ewigen  schwingt«. 
Und  diesen  scheint,  wenn  ich  den  Text  richtig  ver- 
stehe, Herr  Saiten  zuzugehören.  Soweit  es  in  solchen 
Dingen  auf  den  expansiven  Willen  ankommt,  dürfte 
der  Mann  in  der  , Schaubühne'  recht  haben.  Der  ex- 
pansive Wille,  der  die  Persönlichkeit  von  Westungarn 
nach  Wien  oder  direkt  nach  Berlin  schleudert,  ver- 
mag manches.  In  Wien  sichert  er  einem  ungemein 
anstelligen  Beobachter,  der  vor  ein  paar  Jahren  noch 
von  der  »Erfindung  des  Dampfes  und  der  Elektrizität« 


9  - 


sprach  und  heute  bereits  für  die  Luftschiffahrt  schwärrat, 
sein  »unsterblich  Teil«,  macht  ihn  zum  Rekomraandeur 
der  modernen  Kultur,  läßt  seine  Seele,  ja  wahrhaftig 
seine  Seele,  »scharf  gespannt  unter  den  leisesten  Vibra- 
tionen der  Strömungen  unsrer  Gegenwart  erbeben«  und 
macht  sie  zur  »willigen  Resonanz  für  alles  Große  und 
Schöne  der  neuzeitlichen  Promethiden«.In  Berlin  selbst 
macht  er  —  der  expansive  Wille  —  einen  schlauen 
Theaterkassier  zu  »einem  unserer  feinsten  Kultur- 
menschen«. Es  ist  gar  kein  übler  Zufall,  daß  die 
zweispaltige  , Schaubühne'  just  neben  der  Entdeckung 
des  Herrn  Saiten  auch  für  die  Offenbarung  der 
Wesensechtheit  des  Herrn  Reinhardt  Platz  hat.  Nein, 
es  genügt  eben  nicht,  den  Dampf  und  die  Elektrizität 
zu  erfinden,  man  muß  sie  auch  entdecken,  wenn  anders 
die  Menschheit  den  Glauben  an  sie  nicht  verlieren  soll. 
Herr  Reinhardt  ist  kein  Schriftsteller,  sondern  ein 
Theaterdirektor.  Aber  der  expansive  Wille  hätte  ihn 
ebenso  zum  Schriftsteller  machen  können,  und  er 
hätte  auch  als  Schriftsteller  seinen  Mann  gestellt  und 
sich  auch  in  dieser  Karriere  einen  Koch  für  sechs- 
tausend M.  halten  können.  Es  ist  mir  peinlich,  das 
sagen  zu  müssen;  denn  von  Herrn  Reinhardt  ist  in  der 
,  Schaubühne*  nur  gerade  deshalb  die  Rede,  weil  ihn  ein 
Schmierfink  angegriffen  hat.  Aber  ich  sage  es  auch 
nur  deshalb,  weil  ihn  ein  Schmierfink  verteidigt.  Ich 
brauche  ihn  übrigens  lediglich  als  Beispiel  für  eine  ge- 
lungene Willensexpansion  und  es  fällt  mir  nicht  ein, 
bei  diesem  Anlaß  dem  Gastmal  des  Trimalchio  nahe- 
zutreten, durch  das  sich  die  Berliner  Dramaturgie  jetzt 
durchmessen  muß.  Ganz  Deutschland  macht  lange 
Zähne,  und  ich  muß  warten,  bis  die  , Fackel'  in  ganz 
Deutschland  gelesen  wird,  um  zu  sagen,  was  nur 
jene  angeht,  die  es  heute  nicht  hören  würden. 

• 
In  diesen  Tagen,   da  Herr  Bahr  nicht  nur  Dal- 
raatien  erobert,  sondern  auch  die  Erneuerung  Öster- 
reichs   durchgesetzt    hat,     da    gegenüber    den    For- 
derungen des  Verlags  S.  Fischer  (Willensexpansion 


—  10  — 


Budapest — Berlin)  Naehgiebigkeit  ein  Gebot  der 
Klugheit  war  und  am  Wiener  Hofe  die  Friedens- 
partei siegte,  in  diesen  Tagen  ist  es  von  nicht  zu 
unterschätzender  Wichtigkeit,  der  vermittelnden 
Mission  des  Herrn  Saiten  zu  gedenken.  Ist  er  doch 
wie  kein  zweiter  Feuilletonist  in  Österreich  mit  der 
habsburgischen  Tradition  verwachsen.  Die  Intimität, 
die  ihn  an  allen  Geschicken  des  Erzhauses  teilnehmen 
läßt,  so  daß  die  ,ZehV  als  das  erste  Blatt  in  der  Lage 
war,  Leopold  Wölflings  Vorgeschichten  zu  publizieren 
und  seine  Fhotographie  im  Depeschensaal  auszustellen, 
diese  hohe  Kennerschaft  hat  ihn  auch  dazu  befähigt, 
über  die  Rangserhöhung  der  Fürstin  Hohenberg  ein 
kompetentes  Wort  zu  sagen.  Erstaunlich  war  da 
vor  allem  die  Vorurteilslosigkeit,  die  einen  in  der 
höfischen  Sphäre  heimischen  Feuilletonisten  sein  be- 
dingungsloses Ja  zu  der  Eheschließung  des  Thron- 
folgers sprechen  ließ:  »Wir  unterscheiden  nicht  so 
genau,  rechnen  nicht  nach,  daß  die  Choteks  kaum 
zweihundert  Jahre  lang  die  Grafenkrone  tragen,  wägen 
die  Vorrechte  der  Ebenbürtigkeit  nicht  allzu  sorg- 
fältig ab«.  Bereit,  das  Familieninteresse  den  staat- 
lichen Rücksichten  unterzuordnen,  erkennt  er,  daß 
>  diese  Ehe  andauernd  ein  Ereignis  bleibte  und  daß 
sie  »wichtig  bleibt  für  uns  in  Österreich,  für  unsere 
Gegetawart  wie  für  unsere  Zukunft«: .  Freilich  mußte 
er  einsehen,  daß  eine  Komtesse  Chotek  nicht  Erz- 
herzogin von  Österreich  werden  kann  und  warum 
sie  es  nicht  werden  kann.  Aber  mit  ehrlicher  Teil- 
nahme hat  er  »den  Weg  gemessen,  den  sie  seit  ihrem 
Hochzeitstag  zurückgelegt  hat:  Fürstliche  Gnaden  . .  . 
Durchlaucht  .  .  .  Herzogin  .  .  .  Hoheit  .  .  .«,  und  kann 
heute,  zurückblickend,  von  den  Schwierigkeiten 
sprechen,  von  dem  »unendlichen  Aufwand  an  Takt 
und  Taktik,  an  Energie  und  Widerstandskraft«,  den 
es  gekostet  haben  mag.  »Wir  haben's  nicht  gewußt; 
aber  jetzt  erkennen  wir's«,  sagt  er  schlicht,  mit  ver- 
haltener Empfindung,  um  sich  dann  erst  in  er- 
schöpfender Aufzählung  das  Herz  einer  Herzogin  zu 


—  11  — 


erleichtern.  Wir  haben's  nicht  gewußt.  »Merken  jetzt 
erst,  daß  es  keineswegs  etwas  Selbstverständliches 
war,  wenn  usw.«  »Erinnern  uns  jetzt  erst,  was  es  zu 
bedeuten  hatte,  daß  der  Erzherzog  mit  seiner  Frau 
jahrelang  im  Burgtheater  nur  eine  gewöhnliche  Loge 
einnahm,  und  was  es  bedeutet,  daß  er  jetzt  mit  ihr 
in  der  Hofloge  Platz  nimmt.«  Rose  Bernd  durfte  be- 
kanntlich überhaupt  nicht  mehr  ins  Burgtheater,  aber  der 
Seufzer  »Was  muß  die  gelitten  haben I«  liegt  uns  auch 
im  vorliegenden  Fall  nahe.  »Es  hat  neun  Jahre  ge- 
dauert«, sagt  Saiten  nicht  ohne  Bitterkeit;  »es  mag 
schon  nicht  leicht  gewesen  sein.«  Nu  juju,  —  nu 
neenee  .  .  .  Und  dabei  weiß  man  nicht  einmal,  »wie 
das  Wesen  dieser  Frau  ist«,  kann  »nur  vermuten, 
daß  sie  ungewöhnliche  Eigenschaften  besitzt,  eine 
starke  und  eigenartige  Persönlichkeit  ist.«  Und  in 
den  Grenzen  der  Vermutung  kann  man  wieder  nur 
raten.  »Hinter  all  dem  mag  eine  große  Kraft  des 
Wollens  sein,  eine  eiserne  Festigkeit  des  Charakters, 
oder  eine  unwiderstehliche  Güte,  oder  eine  tausend- 
fältige Weisheit  des  Lebens,  oder  eine  geniale  Feinheit 
der  Instinkte,  oder  auch  Urwüchsigkeit,  oder  selbst 
völlige  Passivität,  Zielbewußtsein  oder  gelassenes  Ver- 
trauen auf  das  Glück.  Wir  wissen  es  nicht.«  Der 
suchende  Geist  resigniert  vor  den  letzten  Dingen. 
Wer  löst  das  Problem  der  Herzogin  von  Hohen- 
berg?  »Das  berechtigte  Interesse  ist  dieser  Frau 
stürmisch  zugewendet«:  wird  sie  hervortreten,  wird 
sie  nicht  hervortreten?  Wir  wissen  es  nicht.  »Vielleicht 
ist  jetzt  der  Kampf  vorüber.  Wir  vermögen  ja  auch  das 
nicht  zu  beurteilen;  wissen  nicht,  was  noch  geschehen 
muß,  damit  die  Frau  des  Thronfolgers  auch  äußerlich 
all  die  Rechte  üben  darf,  die  sie,  menschlich  ge- 
nommen usw.«  Mit  einem  Wort,  wir  sehen,  daß  wir 
nichts  wissen  können.  Also  hoffen  wir!  »Sie  wird  und 
sie  muß  den  größten  Einfluß  und  die  erste  Stimme  haben, 
dereinst  beim  Kaiser.«  Und  wenn  sie  auch  nicht  seinen 
Titel  teilen  wird,  »die  Kinder,  die  zu  unserem  künftigen 
Monarchen   Vater  sagen,  nennen   sie:  Mutter«.     So 


—  12 


entläßt  uns  der  tief  pessimistische  Denker  doch  mit 
einem  gemütvollen  Hinweis  auf  die  Entwicklung. 
Freilich  nicht  ohne  mit  einer  aus  seiner  Weltanschauung 
geholten  Maxime  zu  schließen:  >Der  Herzogin  von 
Hohenberg  gehört  die  Zukunft  Österreichs  an.  Aber 
kein  Mensch  weiß,  was  die  Zukunft  bringt. c  .  .  . 
Dieses  ist  Herr  Felix  Saiten.  Man  sagt,  seine  Seele 
sei  eine  willige  Resonanz  für  alles  Große  und  Schöne 
der  neuzeitlichen  Promethiden. 


Aber  tun  wir  einem  tüchtigen  Menschen  nicht 
Unrecht.  Ziehen  wir  ihn  aus  der  Unsterblichkeit 
zurück  und  lassen  wir  ihn  hienieden  sich  nützlich 
machen.  Scheiden  wir  endlich  die  soziale  Funktion 
des  Journalismus  von  den  Müßigkeiten  der  Literatur. 
Kein  besseres  Beispiel  kann  uns  solche  Einsicht 
empfehlen.  Der  beste  Journalist  Wiens  weiß  über 
die  Karriere  einer  Gräfin  wie  über  den  Aufstieg  eines 
Luftballons,  über  eine  Parlamentssitzüng  wie  über 
einen  Hofball  zu  jeder  Stunde  das  Wissenswerte  aus- 
zusagen. In  Westungarn  kann  man  nachts  Wetten  ab- 
schließen, daß  der  Zigeunerprimas  binnen  einer  halben 
Stunde  mit  seinem  ganzen  Orchester  zur  Stelle  sein 
wird;  man  läßt  ihn  wecken,  er  tastet  nach  der  Fiedel, 
weckt  den  Cymbalschläger,  alles  springt  aus  den 
Betten,  in  den  Wagen,  und  in  einer  halben  Stunde 
gehts  hoch  her,  fidel,  melancholisch,  ausgelassen, 
dämonisch  und  was  es  sonst  noch  gibt.  Das  sind  un- 
erhörte praktische  Vorteile,  die  nur  der  zu  unter- 
schätzen vermag,  der  die  Bedürfnisse  der  Welt  nicht 
kennt  oder  nicht  teilt.  In  Bereitschaft  sein  ist  alles. 
Wenn  nur  die  Welt  selbst  nicht  ungerecht  wäre!  Sie 
sagt,  einer  sei  der  beste  Journalist  am  Platz,  und  er  ist 
es  zweifellos.  Sie  sagt  aber  nie,  einer  sei  der  bedeu- 
tendste Bankdisponent.  Und  doch  dient  er  ihr  so  gut 
wie  jener,  und  steht  den  Müßigkeiten  der  Literatur 
genau  so  fern. 


—  13  — 


Mit  den  perfekten  Feuilletonisten  ließe  sich 
leben,  wenn  sie  es  nicht  auf  die  Unsterblichkeit  ab- 
gesehen hätten.  Sie  wissen  fremde  Werte  zu  plazieren, 
haben  alles  bei  der  Hand,  was  sie  nicht  im  Kopf 
haben,  und  sind  häufig  geschmackvoll.  Wenn  man 
ein  Schaufenster  dekoriert  haben  will,  ruft  man  nicht 
einen  Lyriker.  Er  könnte  es  vielleicht  auch,  aber  er 
tut's  nicht.  Der  Auslagenarrangeur  tut's.  Das  schafft 
ihm  seine  soziale  Position,  um  die  ihn  der  Lyriker 
mit  Recht  beneidet.  Auch  ein  Auslagenarrangeur 
kann  auf  die  Nachwelt  kommen.  Aber  nur,  wenn  der 
Lyriker  ein  Gedicht  über  ihn  macht. 


Die  Grenzen  der  Persönlichkeit  scheint  indeß 
auch  der  Berliner  Psychologe  zu  spüren.  Saiten  führe 
»nie  über  das  Sicht-  und  Hörbare  hinaus  in  das  Reich 
der  Mütter«.  Ein  Mangel,  den  man  zum  Beispiel  dem 
Willi  Handl  nicht  nachsagen  könne.  Ein  andermal 
weiß  man  aber  in  Berlin  aucH  wieder  die  Spannweite 
der  Persönlichkeit  zu  erfassen.  Jede  künstlerische 
Äußerung  trage  von  selbst  —  wie  wahr!  —  dasZeichen 
der  innern  Eigenart,  > durch  das  der  Kunstsinnige  trotz 
mancher  Gemeinschaft  einen  vollgültigen  Temers 
von  einem  anerkannten  Breughel  und  einen  -  guten 
Saiten  von  einem  echten  Polgar  unterscheidet«.  Ins 
Reich  der  Mütter  aber  führen  Handl  und  etwa 
noch  Willi  Shakespeare.  Jenem  bin  ich  bereits  in 
einer  Würdigung  begegnet,  die  unser  Psycholog 
dem  Lebenswerk  des  Feuilletonisten  Hevesi  ange- 
deihen  ließ.  Damals  hob  Ferdinand  Kürnberger  viel 
Ehre  auf,  denn  es  hieß,  zwischen  Kürnberger  und 
Handl  könne  man  noch  »Stammbäume  legen«.  Um 
ihn  aber,  Hevesi,  »ist  die  große  Stille;  er  trägt  seinen 
Anfang  und  Ausgang  in  sich«.  Dies  nun  möchte  ich 
nicht  so  ganz  unterschreiben.  Herr  Hevesi  ist  ein 
älterer  Herr,  der  vom  jüngsten  Nachwuchs  abstammt 
und  sich  immer  weiter  entwickelt.  Er  hat  mehr  Ein- 
fälle,   als  seinen  Jahren   ziemt,   was  entschieden  ein 


14 


Vorzug  wäre,  wenn  er  nicht  auch  mehr  Bindrücke 
hätte,  als  er  verarbeiten  kann.  So  muß  er  manchmal 
einen  Kalauer  unterdrücken,  sehr  zum  Schaden  der 
augenblicklichen  Wirkung  des  Feuilletons-  und  ohne 
durch  solche  Abgeklärtheit  seinen  Büchern  zu  nützen. 
Denn  sein  Stil  ist  zwar  prickelnd,  aber  obschon  Soda- 
wasser den  Vorteil  bietet,  daß  man  es  auch  stehen 
lassen  kann,  so  schmeckt  es  darum  doch  nicht  wieder, 
wenn  man  es  nach  Jahren  wieder  trinkt.  Ein  Flaneur 
älteren  Stils,  den  die  Muse  über  und  über  mit  Konfetti 
beworfen  hat  und  der  sich  nun  schüttelt  und  mit 
kurzem  Atem  die  Freude  hervorpustet,  daß  er  bei 
solchen  Unterhaltungen  noch  mittun  darf,  wobei  er 
der  Losen  eine  ganze  Menge  von  Fremdwörtern, 
griechischen  Zitaten  und  Fachausdrücken  nachwirft. 
Denn  er  ist  kein  Spielverderber,  aber  ein  Polyhistor, 
Sein  Humor  ist  von  einer  Frische  der  Senilität,  die 
wieder  auf  den  Nachwuchs  ansteckend  wirkt,  und 
seine  Weisheit  ist  hüpfende  Wissenschaft.  Wenn  wir 
aber  dem  Berliner  Psychologen  glauben  wollen,  so 
liegt  der  Kernpunkt  seines  Wesens  in  dem  »Vagieren 
zwischen  den  Zwielichtgierden  des  Bluts  und  den 
Zwitterstimmungen  der  Seelec.  »Sein  Assozionc  — 
ein  Fremdwort,  das  selbst  Herrn  Hevesi  unbekannt 
ist  — werfe  seltsame  Schnörkel.  »Sonnensystem  und 
Bazillus«  seien  in  seinem  Hirn  »bloß  zwei  Gedanken 
verschiedener  Stärke,  aber  nicht  verschiedener  Art. 
Auf  überirdischer  Höhe  schwinden  die  Unterschiede 
zwischen  Welt  und  Spinne,  Stern  und  Sternchen  auf 
einem  Stern,  und  beide  werden  nur  Spielball  einer 
göttlichen  Phantasie.  Er  hat  das  große  Gelächter 
über  Leben  und  Tod,  Jehovah  und  Menschlein  .  .  .« 
So  sah  ich  unsern  Hevesi  nie.  Nicht  einmal  damals, 
als  er  einer  verstorbenen  Ballberichterstatterin  die 
Charakteristik  nachrief:  »Dämonische  Automatik  des 
modernen  Reportertums,  in  einer  das  Aparte  streifenden, 
oft  im  Exklusiven  sich  bewegenden  Sondersphäre«.. . 


i 


15  - 


Der  ihn  hauptsächlich  auf  dem  Gewissen  hat, 
ist  Herr  Hermann  Bahr,  der  hierzulande  noch  die  Jugend 
jeden  Alters  verdorben  hat.  Die  »dampfenden  Jüng- 
linge« aber,  die  er  seinerzeit  entdeckte,  sind  längst 
Journalisten  geworden,  die  überall  Kritiken  über 
Herrn  Bahrs  Bücher  unterbringen  können,  und  das 
neue  Österreich  ist  fertig.  »So  viele  Stimmen  im 
Staate  sein  mögen,  aus  allen  dringt  nur  ein  Ruf: 
der  Jugend  werde  Kraft,  Mut,  Freiheit!  Nur  ein 
Gefühl  pulst  in  unserem  Österreich:  eine  freie, 
starke,  ehrliche  Jugend  erstehe  unserer  Zukunft!« 
Der  Starke,  der  es  zur  Einführung  des  Bahrschen  »Buchs 
der  Jugend«  sagt,  ist  jener  Zeuge,  der  bei  meiner  Ver- 
urteilung im  Prozeß  Bahr-Bukovics  ohnmächtig  wurde. 
Zuerst  verließ  ihn  die  Erinnerung,  später  auch  die  Be- 
sinnung. Ich  hatte  mich,  ohne  ihn  zu  kennen,  seiner 
angenommen  und  sein  Autorenerlebnis  als  typischen 
Fall  besprochen.  Ich  hatte  behauptet,  ihm  sei  von 
der  Theaterdirektion  ein  Ehrenwort  nicht  gehalten 
worden.  Drei  Zeugen,  die»  es  aus  seinem  Mund  gehört 
haben  wollten,  stützten  die  Behauptung.  Er  sagte, 
er  könne  sich  nicht  erinnern.  Im  Gerichtssaal  wurde 
vom  beeideten  Kläger  die  Aufführung  des  Stückes 
versprochen.  Es  ist  bis  heute  nicht  aufgeführt. 
Fast  zehn  Jahre  sind  es  her.  Er  wird  sich  nicht 
erinnern  können.  Aber  er  will  ein  neues  Österreich 
und  eine  Jugend,  die  Kraft  und  Mut  hat.  Das 
sind  berechtigte  Ansprüche.  Wie  sich  Herr  Bahr  ihre 
Erfüllung  denkt,  zeigt  er  in  dem  Buch,  das  eben 
jenen  typischen  Vertreter  des  neuen  Österreich  be- 
geistert hat.  Es  enthält  eine  Vorrede,  die  an  ein 
zweiundeinhalbjähriges  Kind  gerichtet  ist  und  ihm  be- 
stätigt, daß  es  sich  von  den  österreichischen  Mächten 
noch  nicht  habe  kirre  machen  lassen.  Der  kleine  Karli 
hätte  nämlich  vor  Herrn  Bahr,  als  er  auf  Besuch  kam, 
einen  »schönen  Diener«  machen  sollen.  Er  aber  wollte 
nicht  (aha!)  und  seine  »Nänä«  war  bös  darüber.  Herr 
Bahr  war  begeistert.  »Mach  keinen  Diener!  Nie  sollst 
du   und  niemandem  den  Diener  machen!«  Natürlich, 

789 


—  16 


meint  Herr  Bahr,  sind  darüber  die  Nänäs  alle  sehr 
bös,  denn  die  Nänäs  glauben  ja  noch,  die  Macht  in 
Österreich  zu  haben.  »Aber  die  Nänäs  werden  ver- 
trieben werden,  und  keiner  wird  einen  schönen  Diener 
machen,  dann  werden  aus  euch  Menschen  werden. 
Auf  diese  warte  ich.  Und  mein  ganzes  Sein  und 
Tun  ist  immer  nur  ein  solches  Warten  auf  die 
menschlichen  Menschen  in  Österreich.  Beeilt  euch 
doch  ein  bißchen,  beeilt  euch  heranzuwachsen!  Ich 
möchte  so  gern  erleben,  daß  eine  Jugend  kommt,  die 
mich  erkennt  und  spricht:  Seht,  das  ist  der,  der  auf 
Österreich  gewartet  hatl  Denn,  wenn  dir  die  Nänäs 
sagen,  daß  ich  ein  schlechter  Österreicher  sei,  ist 
das  eine  Lüge«.  Nachdem  er  nun  noch  dem  kleinen 
Karli  —  dem  Sohn  des  Gründers  der  »Wiener  Werk- 
stätte« —  erzählt  hat,  daß  Österreich  in  den  Künsten 
stark  genug  sei,  es  mit  allen  Völkern  aufzunehmen, 
schließt  er:  »Habt  den  Mut  zu  Österreich!  Seit  Jahren 
rufe  ich  hinaus:  Habt  den  Mut  zu  Österreich!«  So 
steigt  diese  Anrede  von  eirfer  herzigen  Symbolik  zu 
den  erschütternden  Tönen  eines  ganz  alten  Atting^ 
hausen  empor.  Was  werden  aber  die  Nänäs  dazu  sagen, 
daß  man  die  zweieinhalbjährigen  Kinder  auffordert, 
sich  ans  Vaterland,  ans  teure  anzuschließen?  Man 
mag  begierig  sein,  wie  sie  sich  daraufhin  entwickeln. 
Oh,  ich  sehe  es  kommen.  Mit  drei  Jahren  fangen  sie 
an,  Feuilletons  zu  schmieren.  Mit  vier  bringen  sie 
ihre  ersten  Stücke  an.  Zehn  Jahre  warten  sie  auf  die 
Auffführung.  Mit  zwanzig  fallen  sie  im  Gerichtssaal 
um.  Dann  aber  gehen  sie  hin  und  haben  den  Mut 
—  zu  Österreich.  Karli!  Karli!  Ich  kenne  dich  nicht 
mehr. 


I 


—  17  — 

Der  Schatten 
Von   Otto  Stoessl 

Es  steht  ein  Mann  in  seiner  Kraft, 

Eisen  in  Paust  und  Willen. 

Und  was  er  schafft, 

Das  äfft  ein  Feind  im  Stillen, 

Der  steht  und  schlägt  mit  Antwortschlag 

Den  Reim  auf  was  da  werden  mag, 

Auf  Herz  fällt  Haß,  auf  Liebe  Leid, 

Kalt  hat  heiß  und  schwarz  hat  weiß  gefreit. 

Ein  Paaren  schlimmer  Gatten: 

Ein  Mann  und  Mannes  Schatten. 


Bekannte  aus  dem  Variete*) 
Von  Karl  Kraus 

Nur  ein  schmales  Plätzchen  ist  dem  Variete  geblieben,  um 
seinen  Spiegel  aufzustellen,  der  die  großen  Sonderbarkeiten  des 
Lebens  reiner  spiegelt  als  das  Theater  die  kleinen  Regelmäßig- 
keiten. Denn  das  Leben  will  vom  Leben  nichts  wissen  und  von 
der  Kunst  nichts  anderes,  als  was  es  ohnehin  schon  weiß.  Daß 
aber  zweimal  zwei  am  Ende  doch  fünf  sind,  ist  eine  jener  Erfahrungen, 
bei  welchen  dem  Rechner  die  Pulse  stocken.  Das  Theater  erspart  sie 
ihm.  Es  befriedigt  seine  Neugierde,  während  das  Variete  sein 
Wissen  enttäuscht.  Das  Theater  kitzelt,  das  Variete  peitscht.  Das 
Theater  bietet  Handlung  und  Meinung,  die  der  Durchschnitts- 
mensch fast  so  notwendig  zum  Leben  braucht  wie  die  Nahrung : 
rauchlosen  Unterhalt  des  Gehirns.  Im  Theater  darf  bloß  ge- 
schwitzt werden,  wie  vor  jeder  höheren  Offenbarung.  Die  Ge- 
heimnisse des  Varietes  bleiben  in  eine  Wolke  gehüllt.  Man  kann 
sie  mit  dem  Messer  schneiden,  aber  man  kommt  nicht  durch. 
Was  sich  hier  abspielt,  ist  ganz  danach  angetan,  dich  zu  beun- 
ruhigen. Du  kannst  es  nicht  nachmachen.  Und  spendest  schließlich 
eine  kalte  Bewunderung,  die  sich  mehr  der  heilen  Glieder  freut 
als  daß  sie  sich  der  trägen  Glieder  schämte.  Dies  Übermaß  er- 
schreckt dich,  ermuntert  dich  nicht.  Dieser  halsbrecherische  Humor 


*)  Aus  dem  .Simplicissimus'. 


—  18 


macht  dich  nicht  munter,  sondern  beklemmt  dich,  als  ging's  dir 
selbst  an  den  Hals.  Treibt  es  das  Schauspiel  noch  so  bunt, 
>sie  spaßen  nur,  vergiften  im  Spaß,  kein  Ärgernis  in  der  Welt«, 
kann  Hamlet  den  besorgten  Nachbar  trösten.  Wo  viel  Worte 
gemacht  werden,  ist  Zeit,  zwischen  Tat  und  Spiel  zu  unterschei- 
den. Akrobaten  aber  und  Clowns  spielen  jenseits  der  Grenze  unserer 
Möglichkeiten  und  bieten  darum  schon  im  Spaß  das  Ärgernis. 
Daß  zwei  übereinander  purzeln  und  auf  die  Nase  fallen,  das  ist 
ein  Humor,  zu  derb  für  unsern  Geschmack  und  zu  dürftig  für 
unsern  Verstand.  Wir  sagen,  es  sei  ein  kindisches  Spiel,  weil 
seine  tiefere  Bedeutung  uns  beleidigt. 

Ein  Humor,  so  grundlos  wie  wir  selbst.  Nichts  stellt  er 
dar  als  uns  selbst.  Also  alles,  was  wir  nicht  wissen.  Er  läßt  uns 
Familie  spielen,  ehe  er  uns  ins  Leben  stößt.  Eine  erstklassige 
Akrobatentruppe  tritt  auf.  Ist  das  Wesen  der  Sippschaft  in  Freud  und 
Leid  sinnfälliger  darzustellen?  Wie  hier  alles  doch,  vom  erwachsenen 
Sohn  bis  zum  jüngsten  Schößling  beiträgt,  den  Eltern  ein  sorgen- 
freies Alter  zu  sichern !  Mit  berechtigtem  Stolze  sieht  das  Mutter- 
auge im  Hintergrund  auf  die  Tochter,  von  der  man  lange  be- 
fürchtet hat,  sie  werde  es  über  den  Sautperilleux  nicht  hinaus- 
bringen, und  die  heute  bereits  durch  einen  dreifachen  Saltomortale 
für  ihr  Leben  ausgesorgt  hat,  während  der  leichtsinnige  Schwieger- 
sohn unaufhörlich  die  Welle  schlägt.  Russische  Tanzfamilien  waren 
mir  stets  unsympathisch,  weil  ich  die  tiefe  Kniebeuge  beim  Laufen 
als  einen  übertriebenen  Beweis  slawischer  Schicksalsergebenheit 
auffaßte.  Aber  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Familienlebens  brachte 
ich  auch  diesen  Produktionen  Verständnis  entgegen  und  ich 
stellte  mir  gerne  vor,  daß  im  Kaukasus  die  Kinder  wippend  zur  Welt 
kommen,  auf  das  bereit  stehende  Podium  springen  und  den  Tanz  ums 
Dasein  aufnehmen,  für  den  sich  die  Eltern  nicht  mehr  elastisch 
genug  fühlen.  Sicherlich  ist  kein  künstlerischer  Beruf  so  mit  dem 
Wesen  seines  Trägers  verwachsen  wie  der  des  Akrobaten.  Kommt 
er  von  Kräften,  so  bleibt  ihm  immer  die  Geste,  die  dem  kundigen 
Auge  verrät,  daß  er  einst  in  besseren  Tagen  Hanteln  gestemmt 
hat.  Kommt  er  aber  in  Lebensumstände,  die  es  ihm  ermög- 
lichen, endlich  zu  genießen,  nachdem  er  so  lange  nur  gearbeitet 
hat,  dann  kann  es  geschehen,  daß  ihn  plötzlich  eine  tiefe  Nostalgie 
befällt.  In  Offenbachs  lieblicher  > Prinzessin  von  Trapezunt«  wird 
gezeigt,  wie  eine  Artistenfamilie  sich  aufführt,  wenn  sie  unglücklicher- 


—  19  - 


weise  den  Haupttreffer  gemacht  und  die  Baronie  erlangt  hat :  der  Herr 
Sohn  kann  nicht  anders  als  über  den  Tisch  springen,  wenn  er  sich 
auf  den  Stuhl  setzen  will,  und  der  Alte  wird  dabei  betreten,  wie 
er  heimlich  in  die  Küche  schleicht  und  Feuer  frißt.  Das  Familien- 
leben droht  in  Fransen  zu  gehen,  und  es  findet  sich  erst  wieder, 
bis  sie  alle  zusammen  wieder  auf  dem  Podium  stehen. 

Draußen  aber  stürmt  das  Leben  mit  seiner  Unrast 
und  seinen  Gefahren.  Die  Knockabouts  treten  auf.  Ward  das 
Wesen  der  Familie,  mit  ihren  Vorzügen  und  ihren  Fehlern,  an 
der  Solidarität  einer  Akrobatentruppe  erkennbar,  so  eröffnet  die 
Leistung  der  Knockabouts  tiefere  Perspektiven.  Hier  steht  nicht 
mehr  der  Bruder  dem  Bruder  nah,  hier  steht  der  Mensch  dem  Men- 
schen im  Wege.  Der  Blutsverwandte  kann  ein  Auge  zudrücken, 
wenns  einmal  auf  dem  Trapez  schief  geht.  Aber  hier  offenbart 
sich  der  menschliche  Charakter  dem  erbarmungslosen  Auge  des 
Nebenmenschen.  »Oh,  lieber  Freund,  was  machen  Sie  hier?« 
beginnt  es,  und  mit  Püffen  und  Knüffen  endet  es.  Am  Hintern 
seines  Nächsten  zündet  einer  sein  Streichholz  an.  So  ist  das  Leben. 
Einer  will  Bier  trinken.  So  bohrt  er  seinen  besten  Freund  an  und  hält 
ein  Gefäß  unter  die  so  entstandene  Öffnung.  Was  ist  der  Mensch! 
Taugt  er  zur  Maschine  nicht,  mag  er  kaput  gehen.  Wir  volti- 
gieren über  alle  Widerstände  der  Materie,  wir  schwingen  uns  in 
die  Luft,  nichts  scheint  uns  unerreichbar,  und  am  Ende  wären 
wir  wirklich  die  Sieger  über  das  Leben,  wenn  wir  nicht 
im  letzten  Moment  über  einen  Zahnstocher  stolperten.  Der 
Knockabout  —  das  ist  der  Triumph  der.  maschinellen  Kultur : 
Hurtigkeit,  die  nicht  vom  Fleck  kommt,  Zweckstreberei,  die  ein 
Loch  in  die  Luft  macht.  Der  Komfort  aber  ist  mit  aller  Huma- 
nität der  Neuzeit  ausgestattet,  und  wenn  es  praktisch  ist,  einem 
Menschen  den  Schädel  einzuschlagen,  so  ist  es  doch  wieder  fein- 
fühlig, ihn  dabei  zu  fragen,  ob  er  es  bemerkt  hat.  Er  könnte  es 
übersehen  haben,  denn  im  Gemetzel  der  Automaten  fließt  kein 
Blut.  Der  Knockabout  stellt  uns  alle  zusammen  dar.  Sein  Humor 
ist  grundlos,  wie  wir  selbst  es  sind.  Er  hat  Wirkung  ohne  Ur- 
sache, wie  wir  selbst  von  nirgendwo  kommen,  um  fortzuschreiten. 
Sein  gewalttätiger  Humor  umfaßt  die  ganze  Tragik  unserer  Zweck- 
beflissenheit, und  das  Riesenmaß  seiner  Gesten  hat  kein  Vorbild  in 
einem  einzelnen  Lebenstypus. 

Nur    einer    friedlichen    Abart    des    Knockabout    ist    jeder 


20  — 


von  uns  schon  begegnet.  Sie  gleicht  ihm  aufs  Haar,  bis  zu  dem 
Punkt,  wo  er  seine  Lebensauffassung  mit  der  Hacke  durchzusetzen 
beginnt.  Bis  dahin  ist  er  bloß  der  Mann,  der  weitläufig  wird, 
um  nur  ja  keine  Umstände  zu  machen,  einer,  der  die  Berge 
kreißen  läßt,  um  der  Oeburtshelfer  einer  Maus  zu  sein,  und  der 
viel  Lärm  macht,  wenn  er  eine  Omelette  bereitet,  weil  er  wie  alle 
anderen  Künste  selbstverständlich  auch  die  Kochkunst  aus  dem 
FF  versteht.  Sein  Lebensmotto  ist  die  Versicherung:  »Das  werden 
wir  gleich  haben !<  Das  Resultat  seiner  Bemühungen  ist  aber, 
daß  wir  es  nicht  nur  nicht  gleich,  sondern  daß  wir  es  überhaupt 
nicht  haben,  ja,  daß  wir  es  noch  weniger  haben  als  vor  seiner  freund- 
lichen Intervention.  Wenn  du  ein  Wimmerl  hast,  das  dich  nicht  ge- 
niert, so  zieht  er  ein  Pflaster  aus  der  Tasche  und  du  hast  am  andern 
Tag  einen  Karbunkel.  Der  Knockabout  ist  edel,  hilfreich  und  gut.  Er 
schlüge  dir  die  Schädeldecke  ein,  um  deinen  Kopfschmerz  weg- 
zubringen. So  radikale  Mittel  wählt  er  im  Leben  freilich  nicht.  Er 
hat  es  auf  dein  Wohl  abgesehen,  aber  er  erzwingt  es  nicht  mit 
Gewalt.  Wenn  du  an  Hühneraugen  leidest,  so  gibt  er  dir  den  Rat, 
dir  das  Bein  amputieren  zu  lassen,  aber  er  legt  in  so  verzweifelten 
Fällen  nicht  selbst  die  Hand  an.  Der  Knockabout  ist  entgegen- 
kommend und  praktisch.  Aber  wenn  er  dir  entgegenkommt,  weiche 
ihm  aus,  die  Vereinfachung  des  Lebens,  die  er  sich  und  dir  ansinnt, 
erfordert  Aufwand  und  viel  Qeduld.  Er  trägt  zehn  Westen  auf  dem 
Leib  und  erspart  sich  deshalb,  sie  zu  wechseln.  Er  ist  der  Mann  des 
»omnia  mea  mecum  porto«.  Nun  bedeutet  es  gewiß  eine  der  größten 
Schwierigkeiten  des  Lebens,  im  Kaffeehaus  einen  Brief  schreiben  zu 
wollen.  Aber  ist  der  arme  Teufel  nicht  viel  bedauernswerter,  der 
Papier,  Füllfeder,  Löschpapier,  Siegellack  und  Marken  mit  sich 
und  für  die  Erneuerung  dieses  Inventars  immer  Sorge  tra- 
gen muß?  Schnupfen  bekommen  ist  fatal.  Aber  viel  schlimmer 
denke  ich  mir  die  Selbstkasteiung,  immer  ein  Mittel  gegen 
Schnupfen  bei  sich  zu  haben,  weil  einmal  der  Fall  eintreten  könnte, 
daß  man  Schnupfen  bekommt  und  die  Apotheke  geschlossen  ist. 
Und  das  Schlimmste  dabei  ist,  daß  jener,  der  zu  solcher  Vorsicht 
inkliniert,  zuverlässig  auch  ein  Mittel  gegen  Kopfschmerzen,  eines 
gegen  Zahnweh  und  etwa  auch  eins  gegen  Magendrücken  sich  zu- 
ziehen wird,  weil  es  eben  ein  ganz  lächerlicher  Optimismus  wäre, 
zu  glauben,  daß  Schnupfen  die  einzige  Gefahr  ist,  die  den  Men- 
schen bedroht,  wenn  die  Apotheke    geschlossen   ist.   Der   Knock- 


—  21  — 


about  bepackt  sich  mit  Dingen,  die  überflüssig  sind,  so  lange  sie 
nicht  notwendig  sind.  Schafft  es  ihm  bloß  der  Trieb  der  Selbst- 
erhaltung? Gewiß  nicht.  Er  hat  die  Eigenschaft,  sich  den 
Menschen  wohlgefällig  zu  machen.  Da  aber  in  der  Fülle 
der  Gelegenheiten  Irrtümer  unterlaufen  können,  darfst  du 
dich  nicht  beklagen,  daß  dir  einmal  gegen  Zahnweh  das  Mittel 
gegeben  wird,  das  eigentlich  für  Magendrücken  bestimmt  war. 
Auch  die  Eile,  dir  das  Mittel  anzubieten,  ehe  du  noch  die  Schmer- 
zen hast,  könnte  einen  Mißgriff  entschuldigen.  Der  Knockabout 
streift  die  Asche  von  seiner  Zigarre  mit  der  Kleiderbürste  ab  und 
läßt  sie  auf  deinen  Anzug  fallen.  Denn  er  hat  selbstverständlich 
eine  Kleiderbürste  bei  sich,  und  wenn  sein  Kleid  rein  ist,  wozu 
sollte  man  sie  sonst  verwenden?  Mit  Kleidern  weiß  er  überhaupt 
umzugehen.  Er  macht  sich  sofort  erbötig,  dir  deinen  Koffer 
zu  packen,  wenn  du  nur  den  Wunsch  äußerst,  auf  Reisen  zu 
gehen.  Oh,  das  werden  wir  gleich  haben !  sagt  er,  denn  er  hat 
eine  Methode,  die  Kleider  so  zu  legen,  daß  sie  ein  Jahr  lang  im 
Koffer  bleiben  können,  ohne  zum  Schneider  wandern  zu  müs- 
sen. Aber  du  begehst  eben  den  Fehler,  sie  nicht  ein  Jahr 
lang  im  Koffer  zu  lassen,  sondern  schon  nach  einem  Tag 
herauszunehmen,  und  wunderst  dich  dann,  daß  sie  vollständig 
zerknittert  sind  und  zum  Schneider  wandern  müssen.  Der 
Knockabout  ist  der  Mann  der  Übertreibungen,  aber  er  behält 
nur  deshalb  nicht  recht,  weil  die  Leute  so  kleinmütig  sind,  sie 
nicht  wörtlich  zu  nehmen.  Sonst  würde  er  zweifellos  reüssieren. 
Er  hat  einen  praktischen  Zweck  im  Auge  und  ist  bereit,  ihm 
alle  unwichtigeren  Interessen  unterzuordnen.  Wenns  finster  wird, 
zündet  er  das  Haus  an,  um  sich  bei  der  Lektüre  nicht  die  Augen 
zu  verderben.  Er  ist  durchaus  der  Mann  der  Resultate,  die  um 
nichts  bedeutungloser  sind,  weil  sie  auf  Kosten  unserer  Gesund- 
heit, Ehre,  Freiheit  oder  wirtschaftlichen  Wohlfahrt  erzielt  wurden. 
Der  Knockabout  ist  der  Fortschritt.  Wahrlich ,  er  verschluckt 
Kamele,  aber  keine   Mücke  bleibt  in  seinem  Sieb! 

Wenn  er  gezeigt  hat,  daß  das  Leben  ein  grober  Unfug  ist, 
der  mit  dem  Tod  nicht  schwer  genug  gestraft  wird,  tritt  ein 
Philosoph  auf  die  Szene,  ders  ganz  anders  treibt.  Der  Jongleur 
hat  das  Leben  hinter  sich.  Was  muß  er  alles  durchgemacht  haben, 
ehe  er  so  weit  kam,  nämlich  zu  sich  selbst.  Er  keucht  keinem 
Zweck    entgegen    und     spielt    mit    den     Dingen.    Er    lebt    im 


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sichern  Port  der  Skepsis,  hantiert  mit  zehn  Bällen  und  weiß,  daß 
einer  wie  der  andere  ist.  Mißlingt  ein  Wurf,  so  hat  er  eine 
wundervoll  resignierte  Miene  und  wendet  das  Malheur  zum  Trick. 
Viele  Illusionen  können  ihm  nicht  mehr  zerstört  werden,  und  im 
Bedarfsfalle  hat  er  immer  eine  andere  bei  der  Hand.  Bis  ein 
Teller  herunterkommt,  hat  er  noch  Zeit,  ein  Messer  hinaufzuwerfen, 
und  findet  stets  einen  gedeckten  Tisch.  Er  ist  ein  Sonderling.  Mit 
Weibern  gibt  er  sich  längst  nicht  mehr  ab.  Die  Erfahrungen  der 
Liebe  haben  ihm  die  Nase  abgefressen,  aber  sein  Verstand  ist 
ganz  geblieben.  Ihm  ist  so  viel  geschehen,  daß  ihm  zu  gesche- 
hen fast  nichts  mehr  übrig  blieb. 

Im  Spiegel  des  Varietes  wird  uns  bei  unserer  Menschen- 
ähnlichkeit bange.  Darum  wird  ihm  der  Platz  streitig  gemacht, 
und  Tiere  und  Schauspieler,  die  von  allen  Seiten  eindringen, 
sollen  uns  darüber  beruhigen,  daß  wir  doch  bessere  Menschen 
sind.  Das  Variete  kämpft  einen  Verzweiflungskampf.  Mit  den 
boxenden  Känguruhs  könnte  es  paktieren,  aber  die  Librettisten 
sind  ein  Pfahl  in  seinem  Fleische.  Ein  Kalauer  weckt  die  Lebens- 
freude der  versammelten  Intelligenz,  die  sich  vor  dem  kindi- 
schen Spiel  der  Akrobaten,  Clowns  und  Jongleure  fürchtet.  Der 
Geschmack  des  Publikums  hilft  ihm  zur  Flucht.  Hier  wie  allerwärts 
klauben  sich  die  Qourmands  die  Fliegen  aus  dem  Honig. 


Glossen 
Von  Karl  Kraus 

Ich  glaube,  es  wird  sich  allmählich  so  herausstellen,  wie 
ich  es  in  dem  Augenblick  gesehen  habe,  als  die  Nachricht  von 
der  Entdeckung  des  Nordpols  durch  Herrn  Cook  eintraf:  Er  hat 
das  Bedürfnis  der  Welt  nach  einem  Nordpolentdecker  entdeckt  und 
einfach  getan,  was  zu  tun  war.  Er  hat  das  richtige  Wort  zur  richtigen 
Zeit  gesprochen.  Hätte  er  gesagt,  daß  er  aus  Christiania  komme, 
wäre  ihm  niemand  hereingefallen.  Da  er  sagte,  er  käme  geradenwegs 
vom  Nordpol,  umarmten  sich  die  Menschen  zweier  Hemisphären. 


—  23  — 


Allmählich  wird  sich's  herausstellen,  daß  es  so  ist.  Für  die  feuille- 
tonistische  Begabung,  die  ich  ihm  nachrühmte,  hat  er  inzwischen 
die  Belege  beigebracht.  Die  Artikelserie  »Die  Eroberung  des 
Nordpols«  erschien  gleichzeitig  im  .Newyork  Herald'  und  in  der 
,Neuen  Freien  Presse',  aber  da  zeigte  es  sich  doch,  daß  man  der- 
gleichen in  beiden  Redaktionen  ohne  jede  arktische  Vorschulung 
besser  getroffen  hätte.  Ein  Femlletonist  soll  ein  Feuilletonist  sein, 
und  wenn  man  über  Gegenden,  die  man  nicht  kennt,  zu  schreiben 
hat,  dann  soll  man  besser  gar  nichts  von  ihnen  wissen,  weil  eben 
auch  schon  das  geringste  Maß  von  Fachkenntnis  dem  Schwung  der 
Darstellung  hinderlich  ist.  Man  kann  aus  dem  Cafe  des  Westens 
Petersburger  Briefe  für  das  .Berliner  Tageblatt'  schreiben,  und  da 
schadet  es  schließlich  nicht,  wenn  man  Land  und  Leute  von 
früheren  Gelegenheiten  aus  Bjalystok  kennt.  Was  aber  Herr  Cook 
über  den  Nordpol  liefert,  hätte  unser  Zifferer,  ohne  Schlittenhunde 
einzuspannen  —  und  diese  vorbereitende  Handlung  kann  man 
Herrn  Cook  nicht  bestreiten  — ,  zweifellos  viel  besser  getroffen. 
Man  lese  nur  nach,  wie  er  dem  größten  Ereignis,  an  das  die 
Welt  bisher  glaubte,  gerecht  wird.  Der  große  Tag  ist  da,  er 
fühlt  —  jetzt  oder  nie: 

.  .  .  Die  melancholischen  Hunde  peitschten  sich  mit  den  Schweifen 
und  liefen  rascher.  .  .  .  Obgleich  sie  viel  vom  munteren  Bellen  und  Heulen 
der  ersten  Tage  eingebüßt  hatten,  so  unterbrachen  sie  (loch  zuweilen 
noch  die  totenstille  Frosteinsamkeit  mit  ihrem  urwüchsigen  Konzert.  .  .  . 
Unsere  abgemagerten,  erfrorenen,  verbrannten,  verrunzelten  Antlitze 
glichen  Landkarten,  auf  denen  alle  Strapazen  der  Reise  eingegraben 
waren.  .  .  .  Die  Eiszapfen  an  Augenbrauen  und  Wimpern  trugen  zur  Er- 
höhung der  dekorativen  Wirkung  bei.  .  .  .  Wir  mußten  fortwährend  die 
größten  Anstrengungen  machen,  diese  Fenster  der  Seele  offen  zu  halten.  .  . . 

Und  nun  schildert  Herr  Cook,  wie  das  Auge  über  farben- 
glänzende Ebenen  zu  tanzenden  Horizonten  schweifte,  und  macht 
die  auffallende  Bemerkung,  daß  »je  mehr  wir  uns  dem  Pol  näher- 
ten, desto  lebendiger  die  Einbildungskraft  spielte«.  Gewöhnlich 
pflegt  bei  solchen  Geschichten  das  Gegenteil  der  Fall  zu  sein.  Aber 
hören  wir  nur,  was  weiter  geschah : 

Am  19.  April  um  8  Uhr  morgens  lagerten  wir  auf  einem  male- 
rischen alten  Eisfeld,  umgeben  von  mächtigen  Eiswällen,  auf  die  wir 
leicht  hinaufklettern  konnten,  um  häufigen  Ausguck  zu  halten.  Das  Zelt 
wurde  aufgeschlagen,  die  Hunde  mit  ein  paar  Klumpen  Pemmikan  zum 
Schweigen  gebracht.  In  unserer  Brust  entzündete  sich  das  edle  Feuer 
der  Begeisterung  aufs  neue  an  einem  mächtigen  Topf  heißer  Erbsensuppe 
und  ein  paar  Schnitten  gefrorenen  Fleisches.     Dann  badeten  wir  uns  in 


-  24 


den  belebenden  Sonnenstrahlen,  welche  die  schneidend  kalte  Luft  durch- 
drangen. Es  war  ein  wundervoller  Tag.  .  .  .  Die  Eskimos  waren  bald 
in  tiefen  Schlaf  versunken,  den  einzigen  Trost  in  ihrem  harten  Leben. 
Aber  ich  blieb  meiner  Gewohnheit  gemäß  wach,  um  Positionsbestimmungen 
auszuführen.  Die  Längenbeobachtungen  ergaben  94  Grad  3  Minuten 
westlicher  Länge.  .  .  .  Mein  Herz  tat  vor  Freude  einen  Sprung,  und 
ohne  daß  ich  es  wollte,  weckte  meine  Aufregung  Etukishuk.  Ich  erzählte 
ihm,  daß  wir  in  zwei  Märschen  den  »Tigi  Shu«  (den  großen  Nagel) 
erreichen  könnten.  Etukishuk  weckte  Ahwelah  mit  einem 
kräftigen  Puff.  Sie  stiegen  zusammen  auf  einen  Eiswall  und  suchten 
durch  das  Fernrohr  nach  dem  großen  Nagel.  Sie  konnten  sich  die  Erd- 
achse nicht  ohne  eine  bedeutungsvolle  räumliche  Marke  vorstellen.  Ich 
versuchte  ihnen  zu  erklären,  daß  der  Pol  für  das  Auge  nicht  wahr- 
nehmbar sei,  daß  seine  Lage  nur  durch  wiederholten  Gebrauch  ver- 
schiedener Instrumente  ermittelt  werde.  Das  befriedigte  ihre  Neugier  und 
sie  brachen  in  Freudenhurras  aus.  Zwei  Stunden  lang  tanzten  und 
sangen  die  Burschen  wie  die  Wilden.  Es  war  das  erste  Zeichen 
von  Freude  und  geistiger  Erregung,  das  sie  seit  einigen  Wochen  gezeigt 
hatten.  .  .  .  Wir  brauten  eine  große  Kanne  Tee,  bereiteten  eine  famose 
Pemmikansuppe,  gönnten  uns  ein  Extradessert  von  Biskuit  und  füllten 
uns  mit  allen  diesen  guten  Dingen  so  weit  an,  als  es  die  Rücksicht  auf 
die  uns  noch  bevorstehende  Fastenzeit  erlaubte.  Die  Hunde,  die  in 
den  Freudenchorus  mit  einstimmten,  erhielten  eine  Extraration 
Pemmikan.  Ein  paar  angenehme  Ruhestunden  wurden  noch  im  Zelt  ver- 
bracht, dann  erfolgte  der  Aufbruch  zum  Pol.  Wir  glühten  alle  in  Fieber- 
hitze. .  .  .  Unser  Enthusiasmus  hatte  die  Hunde  angesteckt.  Sie  stürmten 
in  einem  Tempo  vorwärts,  das  es  mir  schwierig  machte,  den  richtigen 
geraden  Kurs  nach  Norden  einzuhalten.  Die  Augen  durchsuchten  den 
Horizont  nach  einer  Maike,  welche  die  Nähe  des  Polarzentrums 
bezeichnen  könnte,  aber  nichts  Außergewöhnliches  ließ  sich  erblicken.  .  .  . 
Nur  durch  unsere  freudigen  Augen  gesehen,  gewann  das  gewohnte  Bild 
einen  neuen  Nimbus.  Das  waren  goldene  Ebenen  zwischen  purpurnen 
Mauern,  die  mit  vergoldeten  Zinnen  gekrönnt  waren.  ...  Während 
die  Eskimos  sangen  und  die  Hunde  heulten,  brachen  wir  am 
21.  April  um  Mitternacht  auf.  Die  Hunde  sahen  imponierend  und 
vornehm  aus,  als  sie  an  diesem  Tage  einherkamen,  während 
Etukishuk  und  Ahwelah.  obgleich  dürr  und  abgemagert,  eine  Würde 
zur  Schau  trugen,  gleich  den  Helden  der  größten  Männer- 
schlachten, die  jemals  mit  bemerkenswertem  Erfolge  ausgefochten 
wurden.  Wir  fühlten  uns  alle  in  das  Erobererparadies  versetzt.  .  .  . 
Der  Boden  unter  unseren  Füßen  erschien  uns  fast  geweiht.  Als  der 
Schrittzähler  14V2  Meilen  wies,  kampierten  wir  und  schliefen  ruhig 
in  dem  Gefühl,  daß  wir  uns  auf  der  Erdachse  drehten.  .  .  . 
Etukishuk  und  Ahwelah  verbrachten  den  Tag  in  beschaulicher  Ruhe, 
aber  ich  schlief  nur  wenig.  Mein  Ziel  war  erreicht,  der  Ehrgeiz  meines 
Lebens  erfüllt.  Wie  hätte  ich  in  einem  solch  überwältigenden  Momente 
zu  schlafen  vermocht  I  Der  Traum  der  Nationen  war  verwirklicht.  Wir 
hatten  im  Rennen  der  Jahrhunderte  gesiegt.  .  .  . 


—  25 


Nun,  die  Eskimos  behaupten  das  Gegenteil.  Wohl  gaben 
sie  einander  einen  kräftigen  Puff,  aber  das  soll  sich  nur  auf  die 
Erzählungen  des  Herrn  Cook  bezogen  haben.  Denn  Herr  Cook 
sei  umgekehrt,  als  er  auf  offenes  Wasser  stieß.  Und  inzwischen  hat 
auch  der  Bergführer  vom  Mount  Mac  Kinley  eidlich  bekräftigt, 
daß  der  höchste  Punkt,  den  Herr  Cook  damals  erreicht  hat,  noch 
mehrere  tausend  Fuß  vom  Gipfel  entfernt  gewesen  und  das  Tage- 
buch den  Bedürfnissen,  nicht  den  Erlebnissen  angepaßt  worden 
sei.  Und  ein  Photograph  hat  beeidet,  daß  die  Photographien  in 
geringer  Höhe  aufgenommen  worden  seien.  Herr  Cook  tat  solchem 
Einwand  gegenüber,  was  er  gegenüber  dem  großen  Nordpol- 
zweifel tat.  Er  riet,  eine  Expedition  auf  den  Gipfel  zu  ent- 
senden, dort  werde  man  die  von  ihm  hinterlegten  Aufzeichnungen 
finden.  Es  ist  aber  auch  in  diesem  Falle  nicht  ganz  sicher,  daß 
man  die  unbequemste  Methode  wählen  wird,  um  Herrn  Cook  das 
Gegenteil  zu  beweisen.  Es  ist  sogar  möglich,  daß  man  ihm  bedeuten 
wird,  endlich  andere  Witze  zu  machen.  Schließlich  reißt  auch  der 
Dummheitdie  Geduld.  Die  Newyorker  Damen  freilich  müssen  es  nicht 
bereuen,  Herrn  Cook  abgeküßt  zu  haben.  Denn  erstens  kommt  bei 
einem  so  reellen  Zweck,  wie  es  das  Küssen  ist,  die  wissenschaftliche 
Würdigkeit  des  Petenten  nicht  in  Frage,  und  zweitens  entbehrte 
das  Vorbringen  nicht  der  lyrischen  Begründung.  Es  sind  Heineische 
Stimmungen,  die  das  Erlebnis  des  Herrn  Cook  auslöst.  Die 
Eskimos  behaupten,  daß  er  und  der  Nordpol  nicht  zusammen- 
kommen konnten,  weil  das  Wasser  zu  tief  war.  Und  die  Schlitten- 
hunde bellten  so  laut  .  .  . 


Zur  Hebung  des  Fremdenverkehrs.  Herr  Hermann 
Bahr,  um  seine  Meinung  über  dieses  alle  Geister  bewegende 
Problem  befragt,  schrieb  die  Antwort: 

.  .  .  Gebt  den  Leuten  von  der  Kunstschau  die  Mittel,  ein 
Gartentheater  nach  ihrem  Sinn  zu  machen !  Führt  einen  Monat  lang 
uns  auf!  Den  ganzen  Schnitzler,  den- ganzen  Hofmannsthal, 
den  ganzen  Schönherr,  Beer-Hofmann  und  michl  Und  statt 
auf  uns  zu  schimpfen,  sagt  den  Fremden:  ,Das  ist  das  Beste,  was 
wir  haben,  und  in  dieser  Art  können  Sie  nirgends  was  besseres 
sehen  I'«    ... 

Ein  Traum  verwirklicht  sich,  die  Wiener  kriegen  einen 
Fremdenverkehr.    Das  Einfachste  war  zu  tun,  und  nun  glückt  die 


—  26  — 


Sache.    Die  Engländer  strömen  massenhaft  nach  Wien :    man  be- 
kommt den  ganzen  Beer-Hofmann  zu  sehen! 


Herr  Nordau,  der  eben  in  vollster  körperlicher  Frische 
seinen  sechzigsten  Geburtstag  gefeiert  hat,  schrieb  den  Satz: 

.  .  .  Aber  kaum  hatte  Schack  ihn  fallen  lassen,  als  ein  anderer 
Veiehrer  erschien,  Dr.  Konrad  Fiedler  aus  Leipzig,  der  ihn  zwanzig 
Jahre  lang,  bis  zu  seinem  Tode,  gegen  alle  nüchternen  Sorgen  ver- 
teidigte, alle  Prosa  des  Lebens  von  ihm  abwehrte,  nicht  nur  seine 
gemeine  Notdurft  versah,  sondern  usw.  Fiedler  verlangte  von  ihm 
nichts  im  Austausch  . .  . 

Nun,  so  einem  alten  Ritter  kann  schon  auch  einmal  etwas 
Menschliches  passieren.  Sprechen  wir  weiter  nicht  davon.  Übrigens 
hat  ihm  der  Qratulant  der  ,Neuen  Freien  Presse'  bestätigt,  daß 
er  als  Kunstkritiker  »den  Fachmann  ganz  hinter  dem  Weltmann 
verschwinden  läßt«.  Das  ist  wahr,  denn  Herr  Nordau  ist  gewiß 
noch  immer  eher  zimmerrein  als  kunstverständig.  Der  rüstige 
Jubilar  hat  erst  kürzlich  die  Dichtung  Mallarmes  für  das  »Wort- 
gesabber  eines  blödsinnigen  Faselhanses«  erklärt,  und  der  Jargon 
des  Herrn  Nordau  läßt  ihn  gewiß  als  Weltmann  erscheinen, 
sofern  man  die  >Welt«  als  zionistisches  Organ  auffaßt.  Mit  Recht 
meint  der  Qratulant,  die  Montaignesche  Devise  >Que  sais-je?« 
lasse  sich  auf  keinem  seiner  Werke  anbringen,  denn  >das  feine 
Lächeln  der  Skepsis  erhelle  nie  das  Antlitz  dieses  Schriftstellers, 
dem  die  naturwissenschaftliche  Erkenntnis  usw.«  Sehr  richtig! 
»Que  sais-je«  nicht,  aber  eine  Übersetzung:  Weiß  ich? 


Norddeutsche  Blätter  bringen  unter  dem  Titel  »Preßgemein- 
heit« die  folgende  Notiz: 

Kurzlich  war  folgende  Anzeige  in  den  Zeitungen  zu  lesen: 
Dr.  Sigwart  Graf  zu  Eulenburg 
Helene   Gräfin   zu  Eulenburg 
geb.  Staegemann. 
Vermählte. 
Liebenberg  Leipzig 

den  21.  September  1909. 
Dazu  bemerkte  das  .Neue  Wiener  Journal': 
>Wir  müssen  gestehen,  daß  Fräulein  Helene  Staegemann  ziemlich 
vorurteilslos  und  couragiert  ist,  wenn  sie  es  riskiert,    in    die  etwas  an- 


27 


rüchig  gewordene  Familie  des  Lisjaenbergers  hineinzuheiraten.«  Karl  Kraus 
meint  in  der  .Fackel'  anläßlich  dieser  erstaunlichen  Rüpelei  mit  Recht: 
Künftige  Kulturhistoriker  werden  den  Jammer  unserer  Zeit  vielleicht  in 
die  Formel  fassen,  daß  auf  hundert  Federn  kaum  eine  Hunds- 
pe  itsch  e  kam. 

Ebenso  ging  vor  einiger  Zeit  die  Rede  des  Grafen  Sternberg 
aus  der  , Fackel'  in  die  deutsche  Presse  über,  und  die  Blätter 
machten  dazu  Bemerkungen  wie  die  folgende: 

Auf  diese  furchtbaren  Anklagen,  die  selbst  durch  Sternbergs 
Persönlichkeit  nichts  an  Wucht  verlieren,  hat  das  angegriffene  Weltblatt 
bisher  mit  keiner  Silbe  geantwortet.  Sollte  Herr  Benedikt  warten  wollen, 
bis  sich  einer  findet,  der  diese  Verteidigung  in  Form  eines  bezahlten 
Inserates  einfordert? 

Die  norddeutsche  Presse  kennt  den  Mann  nicht.  Er  ist  für 
Geld  zu  keiner  ehrlichen  Regung  zu  haben. 


Sie  hatte  sich  also  zu  den  Ideen  der  Heilsarmee  bekehrt. 
Das  ließ  man  angehen.  Reklame  oder  Religion?  Komödie  oder 
Ekstase?  Man  schwankte  lange.  Da  stellte  es  sich  heraus,  daß  ein 
Leutnant  der  Heilsarmee  im  Spiele  sei.  Die  Wahrheit  lag  also, 
wie  überall,  auch  hier  in  der  Mitte.  Und  da  sich  somit  ergab,  daß 
die  Dame  gesund  sei,  so  blieb  nichts  übiig,  als  sie  ins  Irrenhaus 
zu  sperren. 


Während  die  ,Zeit'  die  Renner-Buben  hoch  leben  läßt,  ist 
die  ,Neue  Freie  Presse'  unaufhörlich  damit  beschäftigt,  der  Lage 
der  Deutschen  in  Österreich  aufzuhelfen.  Vor  allem  beklagt  sie  die 
Zurücksetzung,  welche  sich  die  deutsche  Sprache  hierzulande  gefallen 
lassen  muß.  Und  von  einem  Angeklagten  schrieb  sie  neulich:  »Er 
versuchte  auch,  sich  durch  ein  stets  bei  sich  führendes  Rasier- 
messer das  Leben  zu  nehmen«.  Es  ist  bezeichnend,  daß  dieser 
Mann  Dworzak  heißt  und  offenbar  kein  Deutscher  ist.  Aber 
nichts  als  Not  und  Tod  an  allen  Enden.  »Von  Pulitzers 
Verwandten«,  hieß  es  gleich  in  der  benachbarten  Spalte,  »konnte 
sich  niemand  zum  Begräbnis  einfinden.  Pulitzers  Gattin,  die 
in  Amerika  lebt,  ist  vor  einigen  Monaten  gestorben«.  Wiederum 
bezeichnend;  denn  von  einem  Pulitzer  haben  wir  neulich 
gehört,  daß  er  Analphabet  war  und  sich  erst  den  deutsch-jüdischen 


28  — 


Jargon  aneignete,  ehe  er  Chefredakteur  einer  großen  Zeitung 
wurde.  Was  aber  die  deutsche  Sprache  anlangt,  so  schrieb  der 
Chefredakteur  der  .Neuen  Freien  Presse'  die  Erkenntnis  nieder : 
>.  . .  das  heißt  die  deutsche  Sprache  geradezu  zum  Paria  machen 
und  sie  unter  die  übrigen  Landessprachen  her  abstoßen. <  Und 
das  heißt  wiederum:  sie  ist  jetzt  dort  angelangt,  wo  der 
Schreiber  steht  und  wo  die  Landessprache  der  Herren  Benedikt 
und   Pulitzer   gesprochen   wird.    Nun   wollen   sie   ihr  auch  noch 

durch  eine  stets  bei  sich  führende  Feder  das  Leben  nehmen. 

*  • 

• 

Eine  immer  bereite  Legende  wartet  nur  den  Tod  der  Dichter 
ab,  um  im  Land  herumzuerzählen,  sie  seien  Hungers  gestorben, 
während  die  Librettisten  in  Fülle  leben.  Damit  möchte  die  Legende 
das  Volk  gegen  die  Herren  Leon,  Bodanzky,  Dörmann,  Stein  und 
Jakobsohn  aufhetzen  und  ihnen  die  Freude  am  Schaffen  vergällen. 
Es  wird  ihr  nicht  gelingen.  Umso  weniger,  als  ihr  jetzt  auch  von 
maßgebender  Seite  aufs  Maul  geschlagen  wurde.  Im  , Neuen  Wiener 
Journal',  das  sonst  nur  berufen  wäre,  sozusagen  die  Interessen  der 
dem  Redaktionsverbande  angehörenden  Schöpfer  der  neuen  Werke 
der  leichten  Muse  zu  vertreten,  veröffentlich^  der  Kürnberger- 
Biograph  selbst  eine  Erinnerung  zum  dreißigsten  Todestag,  deren 
Schlußpassus  geeignet  ist,  jener  aufrührerischen  Legende  den 
Garaus  zu  machen  und  das  Volk  auch  bezüglich  der  Einkommens- 
verhältnisse jener  Autoren,  die  nicht  Libretti  geschrieben  haben, 
zu  beruhigen: 

>Und  dann  sprach  noch  Oskar  Falke,  der  Abgeordnete,  ein 
Jugendfreund  Kürnbergers,  der  seine  Hinterlassenschaft  zu  ordnen  hatte. 
.Wien  hat  oftmals  vergessen',  sagte  er,  ,was  es  an  Kürnberger  besessen  ; 
jetzt  weiß  es,  was  es  an  ihm  verloren.'  Kränze  und  Palmzweige,  auch 
von  den  fernen  Freunden  und  Verehrern  des  Dichters,  schmückten  das 
Grab.  —  Kürnberger  ist  nicht,  wie  man  häufig  hört,  mittellos  gestorben. 
In  seinem  Tagebuch  sind  im  Jahre  1879  allerdings  nur  170  fl.  41  kr. 
als  Vermögen  eingetragen.  Aber  er  hatte  Angloaktien  bei  Oskar  Falke 
deponiert,  die  durch  eine  günstige  Konstellation  noch  knapp  vor  seinem 
Tode  um  1200  fl.  verkauft  werden  konnten.  Den  größeren  Teil  davon 
haben  freilich  die  Spital-  und  Begräbniskosten  wieder  verschlungen. 
Aber  immerhin :  diese  literarhistorische  Unrichtigkeit  sollte  einmal 
berichtigt  werden.  < 

Na  alstern  ! 

Herausgeber    und    verantwortlicher     Redakteur:     Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsstraße  3 


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CARL  GOLSDORF-jg^k.dc.HoFlleFeranr 

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2  Jahren  vollständig  vorliegen.  —  Als  erster  Band  wird  noch  im 
Oktober  dieses  Jahres  die  vergriffene  Sammlung  politischer 
Feuilletons:  >Siege!ringe«  erscheinen,  die  in  einem  Anhang 
wesentlich  vermehrt  werdefl  soll.  —  Die  Einteilung 
der  Gesamtausgabe  in  8  Bänden  ist  folgende:  1.  Band: 
Politische  und  kirchliche  Feuilletons  (»Siegelringe«).  2.  Band: 
Literarische  und  dramaturgische  Feuilletons  (> Literarische  Herzens- 
sachen*). 3.  Band:  Touristische  und  vermischte  Feuilletons. ' 
4.  Band:  >Das  Schloß  der  Frevel«,  Roman.  5.  Band:  >Der 
Amerikamüde«,  Roman.  6.  Band:  Novellen  (u.  a.  »Das  Gold- 
märcrnn«).  7.  Band:  Novellen  (u.  a.  »Der  Haustyrann«).  8.  Band: 
Tagebücher,  Aphorismen,  Gedichte.  —  Wie  bei  der  textlichen 
Gestaltung  möglichste  Vollkommenheit  erstrebt  wird,  so  00II  auch 
die  buchtechnische  Ausstattung  mustergültig  sein.  Der  Preis 
würde  trotzdem  möglichst  niedrig  angesetzt.  —  Alle,  die  das 
Zustandekommen  dieser  Ausgabe  fördern  wollen,  werden  gebeten, 
ihre  Subskriptionserklärung  möglichst  bald  an  den  unterzeichneten 
Herausgeber  oder  Verleger  zu  senden ;  eventuell  mit  dem  Namen 
des  Buchhändlers,  durch  den  das  Werk  bezogen  werden  soll.  Ein 
Verzeichnis  der  Subskribenten  erscheint  im  letzten  Band. 


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weiße  Kultur  oder:  Warum  in  die  Ferne  schweifen?  Von  Karl 
Kraus.  —  Briefe  Ferdinand  Kürnbergers.  —  Gedichte.  Von  Else 
Lasker-Schüler.  —  Aphorismen.  Von  Karl  Kraus.  —  Glossen. 
Von  Karl  Kraus.  -  Gegen  den  Mädchenhandel.  Von  Karl  Kraus. 


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und  zum  fünfzigsten  der  »Concordia«.  Von  Otto 
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Aphorismen.  Von  Karl  Kraus.  —  Meine  Bücher. 
—  Glossen.  Von  Karl  Kraus.  —  Berechtigte 
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und  Karl  Kraus.  —  Wer  war  denn  dabei?  Was 
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Nr.  290  11.  NOVEMBER  1909  XI.  JAHR 


Zum   hundertfünfzigsten  Geburtstag  Schillers 
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Von    Otto    Weininger*) 

In  so  schlechte  Gesellschaft  man  sich  leider 
heute  begibt,  wenn  man  an  das  Ansehen  dieses 
Namens  tastet,  indem  hauptsächlich  er  es  ist,  gegen 
welchen  die  Schuljungen- Opposition  der  Modernen 
wider  alle  offiziellen  Größen  der  Historie  sich  richtet, 
so  sollte  diese  Furcht  doch  nicht  dazu  verleiten, 
Schiller  für  einen  wahrhaft  bedeutenden  Menschen 
zu  erklären,  ihn  für  mehr  zu  halten,  als  einen  extrem 
begabtenMann  und  zugleich  den  tüchtigsten  Jour- 
nalisten, den  die  Welt  bisher  gesehen  hat.  Diese 
Wertung  läßt  sich  mit  wenigen  Worten  begründen; 
das  übrige  ist  in  Otto  Ludwigs  > Dramatischen  Studien« 
nachzulesen. 

Schillers  einzige  Größe  ist  darin  zu  erblicken, 
daß  er  die  Tragödie  vollkommen  ruiniert  hat:  sie  hat 
sich  noch  lange  nicht  davon  erholt.  Die  Helden  seiner 
Dramen  haben  nie  die  geringste  innere  Vergangenheit; 
einzig  der  »Fiesco«,  sein  bestes  und  wohl  darum  von 
den  Literaturgeschichtsschreibern  so  schlecht  behan- 
deltes Stück,  weniger  bereits  die  »Jungfrau  von 
Orleans«  könnten  als  Ausnahme  in  Betracht  kommen. 
Er  selbst  ist  so  völlig  ohne  Verständnis  für  Probleme 
i  m  Menschen,  es  fällt  ihm  sowenig  ein,  den  Mord 
oder  -die  Liebe,  den  Erkenntnistrieb  oder  die  Eitelkeit, 
die  Herrschsucht    oder    die  Opferwilligkeit   irgendwo 


*)  Die  Abhandlung  Ȇber  Friedrich  Schillere  die  in  Weiningers 
nachgelassenem  Band  »Über  die  letzten  Dinge«  enthalten  ist. 


wahrhaft  ernstlich  zum  Vorwurf  einer  Dichtung  zu 
machen,  daß  er  vielmehr  stets  die  »größere  Hälfte« 
aller  Schuld  »den  unglückseligen  Gestirnen«  zuschreibt. 
Damit  ist  das  Schicksal  seiner  Dichtung  besiegelt 
und  Schiller  das  Urteil  gesprochen.  Die  Konstellation 
der  Gestirne  ist  relativ  zum  Menschen  immer  Zufall, 
und  sie  kann  selbst  bei  Schiller  nur  in  die  alier- 
äußerlichste  Verbindung  mit  der  Handlung  treten. 

Der  Zufall  ist  das  absolut  Atragische,  auf  ihn 
baut  sich  gerade  das  Lustspiel  auf.  Es  gehört  der 
ganze  Waffenlärm  der  beredten  Schillerschen  Heroen 
dazu,  um  die  Erkenntnis  zu  übertäuben,  das  hier  die 
entgegengesetztesten  Dinge  überhaupt,  Fatum  und 
Zufall,  verwechselt  werden.  Ist  es  nicht  kläglich,  einen 
Don  Carlos  an  einem  überlegenen  Spionage- System 
scheitern,  einen  Wallenstein  an  einer  äußeren,  nie 
wiederholten  Schuld  zugrunde  gehen  zu  lassen  (daß 
er  einmal  einen  ehrgeizigen  Soldaten  in  einer  allzu- 
ungeschickten Weise  als  Mittel  für  seine  Pläne  be- 
nutzt hat)?  Diese  Dichtung  das  größte  Drama  der 
Deutschen?  Eine  spannende  Intrigue,  wie  in  allen 
Schillerschen  Stücken,  ein  hohler  diplomatischer 
Klapperapparat,  keine  kosmische  Gegensätzlichkeit, 
bilden  ihr  Getriebe.  Es  sind  keine  Spuren  eines 
inneren  Kampfes  an  Schillers  Personen  wahrzu- 
nehmen, sie  atmen  eine  verdammt  verdächtige  Ob- 
jektivität, aber  nicht  die  Naivetät  alles  dreifach  aus- 
gedehnten Natürlichen,  sondern  die  Anämie  flächen- 
hafter  Schatten;  als  ob  sie  nichts  vom  Herzblut  des 
Dichters  empfangen  hätten;  Schiller  ist  im  Grunde 
ein  Epiker  und  kein  Dramatiker,  oder  es  mangelt 
ihm  wenigstens,  was  der  Dramatiker  vom  Lyriker 
übernehmen  kann:  die  Subjektivität  des  Helden. 
Hier  sind  nicht  ein  Unbegrenztes  und  Begrenztes  im 
Menschen  entzweit,  hier  steht  nicht  die  geistige 
mit  der  sinnlichen  Welt  im  Kampfe.  Es  ist  im 
Grunde  nur  die  Tücke  und  die  Gemeinheit  der 
Außenwelt,  welcher  der  Held  schließlich  zum  Opfer 
fällt.     Darüber   beklagt   sich  Schiller   noch  in  seiner 


letzten,  völlig  phraseologischen  und  das  Laster  der 
Rachsucht  verherrlichenden  Dichtung,  dem  »Teil« :  »Es 
kann  der  Frömmste  nicht  in  Frieden  bleiben,  wenn  es 
dem  bösen  Nachbar  nicht  gefällt. c  Den  Feind  in  der 
eigenen  Brust,  die  Einsamkeit  und  ihre  Schrecken, 
das  Schicksal  im  Menschen,  scheint  Schiller  kaum 
gekannt  zu  haben.  Die  »Braut  von  Messina«  hat  den 
»König  Oedipus«  schlecht  nachgeäfft;  was  diesem 
seine  Größe  und  seine  alles  überragende  Wirkung 
verleiht,  ist  ja  nur  die  Einbeziehung  des  Zufalls 
in  die  Schuld,  die  der  Held  selbsttätig  vollzieht, 
der  höchste  Heroismus  des  Nicht- Entlastet- Sein- 
Wollens,  der  jede  Entschuldigung  verschmäht. 

Merkt  man  übrigens  nicht,  wie  gänzlich  seicht, 
wie  ametaphysisch  Schillers  Dramen  sind?  —  »Aber 
die  Gedichte!«  wird  man  einwenden;  »sind  sie  nicht 
eher  zu  philosophisch?« 

Was  ist  es  doch,  das  an  jenen  Gedichten  so 
beleidigt?  Es  ist  das  Verletzende  an  Schiller  über- 
haupt, es  ist  seine  Freude  im  Chor,  in  der  Herde; 
sein  ganz  ungeniales  Glücksgefühl,  gerade  in  der 
Zeit  zu  leben,  in  der  er  lebte;*)  seine  willige  Selbst- 
begrenzung innerhalb  der  Geschichte,  sein  befriedigter 
Zivilisationsstolz.  Er  hat  recht  eigentlich  den  Dünkel 
des  Europäers  und  den  verlogenen  Enthusiasmus  des 
Fortschrittsphilisters  begründet  —  Eigenschaften, 
deren  vollgültige  Repräsentanten  heute  zumeist  Juden 
sind,  auch  wenn  sie  von  Schillers  Namen  sich  loszu- 
sagen erklären.  Was  tiefere  Menschen  von  Schiller 
immer  abstoßen  sollte,  was  Goethe  trotz  Schillers 
Zudringlichkeit  in  der  Annäherung,  wie  im  Begreifen- 
Wollen,  von  diesem  stets  in  so  großer  Entfernung 
gehalten  hat,  ist  jener  voraussetzungslose  Opti- 
mismus in  ihm,  kein  transzendent-religiöser,  kein 
nach  dem  Herausbrechen  aus  der  Zeit  verlangender, 
kein     des     Gottesvertrauens     voller,     sondern     ein 

*)  Wenn  man  es  zu  wörtlich  nicht  nimmt,  muß  man  Hebbel 
Recht  geben:  >Schiller  ist  ein  Verdienst  des  großen  französischen 
Kaisers. <  (Anm.  d.  Autors.) 


immanent-historischer  Optimismus;  ein  Optimis- 
mus, der  sich  freut,  wenn  die  Menschheit  um  tausend 
Jahre  älter  geworden  ist,  und  begeistert  die  Addition 
in  seinen  Kalender  einträgt;  ein  Optimismus,  der 
nichts  hofft,  sondern  selbst  in  seinen  Hoffnungen 
schon  gesättigt  ist,  weil  ihm  die  Erscheinungen  nicht 
das  Mittel  sind,  um  zu  den  Symbolen  durchzudringen, 
sondern  die  Symbole  ihm  njir  die  Erschei- 
nung sollen  verschönern  helfen.  Darum  ist 
Schiller  nicht  sehnsüchtig,  sondern  nur  sentimen- 
tal, wenn  die  Erscheinung  mit  der  Idee  nicht  kon- 
gruiert.*) 

Er  ist  so  auch  der  eigentliche  Schöpfer  des 
Asthetentums,  das  unter  den  modernen  Juden  die 
meisten  Anhänger  zählt:  es  flüchtet  vor  aller  Tiefe, 
oder  heuchelt  Tiefe,  um  den  Schein  sich  retten  zu 
können.  Schiller  ist  der  eminent  unerotische  Mensch; 
und  niemand  sowenig  wie  er  Dichter  des  Einsamen, 
niemand  so  ganz  wie  er  Dichter  der  Familie.  Und 
neben  der  ungeheueren  technischen  Routine  seiner 
Werke  ist  es  diese  verlogene  Vergoldung  des  Philister- 
tums, diese  raffiniert-künstliche  Weihe  des  Alltags- 
lebens (>Die  Glocke«),  aus  dessen  Perspektive  er  alle 
geschichtlichen  Erscheinungen  erblickt,  um  sie  zum 
Hintergrunde  des  bürgerlichen  Idylls  zu  machen, 
welche  zu  seiner  Popularität  das  meiste  beigetragen  hat. 

Hierdurch  erst  wird  das  Bild  Schillers  vervoll- 
ständigt. Seine  Philosophie  ist  so  monistisch  wie 
seine  Dichtung,  seine  Weltanschauung  sowenig 
tragisch  wie  seine  Tragödien.  Er  ist  der  Typus  jener 
Menschen,  die  auf  die  Gründe  des  Seins  gekommen 
zu  sein  glauben,  bloß  weil  sie  seine  Abgründe  nie 
empfunden  haben.  Schillers  Kantianismus  ist  ein 
pures  Mißverständnis;  leicht  konnte  er  den  Pflicht- 
begriff ins  Lächerliche  ziehen  und  die  Kantische 
Ethik  dort  verspotten,  wo  sie  am  tiefsten  ist.  Denn 
die  Resignation   der  Vernunftkritik    verwandelt  sich 

*)  Die  Sentimentalität  ist  noch  mehr  jüdisch  als  weiblich ;  sie  ist 
der  Weltschmerz  der  Schmöcke.  (Anm.  d.  Autors.) 


bei  ihm  zur  Süffisance  der  Immanenz,  und  die  teilt 
er  mit  dem  stets  positivistisch  veranlagten  Judentum; 
nicht  ohne  Grund  war  auch  er  Antisemit. 

Einen  Journalisten  durfte  ich  ihn  mit  Grund 
nennen.  Denn  er  ist  dem  Journalismus  durch  seine 
Versatilität  verschrieben,  die  ihn  in  » Wallen steins 
Lagere  goethisch,  bald  darauf  wieder  romantisch, 
nun  griechisch,  nun  shakespearisch  sein  läßt;  und 
daß  er  gewisse  Gedichte  und  vieles  aus  dem  »Teil* 
bloß  nach  Erzählungen  Goethes  über  Italien  und  die 
Schweiz  abfassen  konnte,  das  ist  eben  der  stärkste 
Beweis  für  meine  Meinung,  daß  er  nicht  aus  eigenstem 
Erleben  heraus  singen  mußte,  sondern  in  raffinierter 
und  affektierter  Steigerung  anderen,  was  sie  geschaut 
hatten,  nachleben  konnte.  Was  ihn  aber  endgültig 
zum  Journalisten  stempelt,  ist  die  Rührseligkeit,  die 
von  einem  tragischen  Geschehnis  schwätzt,  wenn  ein 
Mensch  auf  der  Gasse  überfahren  wird;  und  es  ist 
vor  allem  eben  jene  Bindung  an  den  Tag  und  die 
Stunde,  jene  Philistrosität,  die  sich  am  kosmischesten 
gestimmt  dann  fühlt,  wenn  ein  Jahrhundertwechsel 
vor  sich  geht.  In  Schiller  haßt  die  journalistische 
Moderne  nur  sich  selbst. 


Balzac*) 
Von  Otto  Stoessl 

Indem  uns  das  Kunstwerk  sein  »Dies  bin  ich« 
oder  sein  »So  seid  ihr«  entgegenhält,  erweckt  es  in 
uns  jenes  Menschheitsgefühl,  das  unser  höchstes  Er- 
lebnis, unser  eigentliches  Schicksal,  die  Religiosität 
der  »eistigen  Menschen  einer  entgötterten  Erde  be- 

*)  Bemerkungen  anläßlich  der  deutschen  Ausgabe  der  »Mensch- 
lichen Komödie  <  (Leipzig,  Inselverlag). 


—  6 


deutet.  Die  Urformen  dieser  subjektiven  und  objek- 
tiven dichterischen  Offenbarung  sind  Lyrik  und  Epik. 
Beide  machen  die  'Welt  als  Ordnung  und  umfassende 
Einheit  sichtbar  und  leuchtend.  Das  schöpferische 
Vermögen  ist  sonnenhaft  wie  das  Sehen  selbst.  Die 
allwissende  Gerechtigkeit  der  Sprache  nennt  darum 
den  Dichter  auch  »Seher«.  Der  subjektive  Schöpfer 
blickt  in  sich  und  erschließt  aus  der  Unendlichkeit 
seines  Innern  das  Wesen  der  Welt,  er  ist  >anschaulich«, 
der  objektive  sieht  von  sich  ab,  er  »schaut  an«. 

Zu  diesen  objektiven,  anschauenden  Darstellern 
gehört  Balzac. 

Der  elementare,  innerlich  gehaltene,  schon 
durch  die  Mystik  des  Rhythmus  zwingende  Vers 
der  alten  epischen  Gesänge  fällt  mit  der  rhap- 
sodischen Unmittelbarkeit  des  poetischen  Wirkens. 
Der  »Seher«  legt  das  Purpurgewand  des  Priesters 
ab,  ohne  auf  den  Gemütsreichtum  seiner  Weihe  zu 
verzichten.  Aber  es  gibt  freilich  feine  Schattierungen 
dieser  Herablassung  zur  Prosa,  welche  das  not- 
wendige demokratische  Übel  des  modernen  Erzählers 
bedeutet.  Balzacs  Sprache  gewinnt  wie  die  Mimicry 
von  Tieren  das  Ansehen  seiner  Umwelt,  sie  paßt 
sich  ihrem  Stoff  an  und  wird  —  seiner  objektiven 
Natur  gemäß  —  so  sachlich  wie  ein  Gerät  des  Ge- 
brauchs. In  dieser  Zweckgestaltung  der  Sprache  war 
Balzac  wie  in  seinen  Motiven  der  erste  neue  Epiker 
der  neuen  Zeit.  Wer  aber  den  Herzschlag  einer  Prosa 
als  ihre  poetische  Rechtfertigung  vornehmen  kann, 
wird  auch  in  der  seinen  zuweilen  jenes  unsachliche 
Wunder  der  elementaren  persönlichen  Notwendigkeit, 
jene  Urkraft  erbrausen  hören,  die  mit  ihrer  inneren 
Rhythmik,  ihrem  auffliegenden  Pathos  den  Dichter 
ausmacht,  zwingt,  hervortreibt.  Da  scheint  ein  Haupt, 
das  abgewandt  in  die  Weite  sah,  uns  plötzlich  anzu- 
schauen. Im  erzählenden  Stil  gibt  es  unvergeßliche 
Momente,  wo  der  Erzähler  all  das  Warum  des  Er- 
zählens durch  einen  solchen  Blick  aufs  ergreifendste 
verständlich  macht. 


7     — 


Inhalt  und  Wirkung  seiner  Gestaltungen  haben 
die  bleibende  Gemeingültigkeit  der  epischen  Art. 

Balzac  geht  aus  dem  Prankreich  der  Restauration 
hervor,  aus  dem  wilden  Werden  einer  unbekannten 
Ordnung.  Neue  soziale  Kategorieen  werden  durch 
Revolution  und  Empire  zusammengefaßt  und  herauf- 
geführt. Das  Ergebnis:  Kapital  und  Maschine  er- 
obern den  Erdkreis  ohne  Waterloo,  ohne  Napoleon. 
Der  Zeitgeist  ist  kein  Genie,  der  Sieg  der  Masse 
sticht  allen  Binzelwert  aus.  Es  beginnt  die  Epoche 
der  papierenen  Vertretbarkeit,  des  ausgleichenden 
Verkehres.  Die  Gesellschaft  wird  aus  ihren  bisherigen 
Gruppierungen  und  Gebieten  gerissen  und  zu  neuen 
Vereinigungen  gedrängt,  in  neuen  Existenzformen 
erweisen  sich  neue  Gaben  der  Anpassung,  welche 
neue  Charaktere  erzeugen,  gleichsam  eine  neue 
psychologische  Flora  und  Fauna  in  einem  neuen 
geistigen  Klima.  Die  Umwandlung  erfolgt  unter  der 
steten  Gegenwirkung  der  vorhandenen  Organisationen. 
So  wird  mit  dem  gegebenen  sozialen  Material  des 
monumentalen  historischen  Aufbaues  der  neue  er- 
richtet, wie  man  im  alten  Rom  die  Marienkirche  über 
den  Minervatempel  stellte  und  mit  den  Säulen  der 
antiken  Heiligtümer  die  neuen  stützte.  Maschine, 
Kapital,  Verkehr,  Demokratie,  vier  Namen  für  eine 
Sache,  schaffen  in  einem  fieberhaften  Unmaß  das 
moderne  Stadtungeheuer  Paris.  Dort  wird  dieser 
Prozeß  einer  unwillkürlichen  Neubildung  wie  in 
einem  Reagenzglase  sichtbar.  Das  weite  Land  draußen 
kennt  die  unsterblichen  natürlichen  Kategorieen  der 
primitiven  Ordnung:  den  Bauer,  Jäger,  Hirten,  den 
Handwerker,  den  großen  Grundherrn,  der  die  irdische, 
die  Kirche,  welche  die  geistige  Schutzhand  über 
diese  Gesellschaft  hält.  Das  Land  behauptet  mit  der 
Zähigkeit  des  Naturgegebenen  den  wirkenden  frucht- 
baren Widerspruch  gegen  das  fressende  Unwesen 
Stadt.  Innerhalb  dieser  Gegensätze  rundet  sich  alles 
Leben  zum  Schicksal.  Die  Stadt  bedeutet  Bewegung, 
das     Land    Ruhe.    Vermischung    und    Ausgleichung 


setzen  in  der  städtischen  Demokratie  ein  und  schlagen 
gegen  den  Konservatismus  von  draußen  ihre 
Maschinenpranken,  als  gelte  es,  selbst  die  Gewohn- 
heiten der  Jahreszeiten  zu  zernichten,  das  Surrogat 
kniet  sich  dem  Produkt  wie  ein  Alp  auf  die  Brust. 

Das  sind  die  ungeheuren  epischen  Elemente 
des  neuen  Dichters,  des  ersten  und  größten  der 
neuen  Erde.  Er  hat  die  Dämonie  dieser  Gegensätze 
mit  jener  schöpferischen  Anschauung  durchdrungen, 
die  den  Dichter  göttlich  macht  und  mit  jenem  ruhe- 
vollen Mitgefühl,  dessen  Lust  der  Anschauung  und 
Notwendigkeit  der  Gestaltung  das  höchste  Maß  von 
Macht  bedeutet,  das  im  Leben  überhaupt  zu  ver- 
geben ist.  Diese  Fülle  von  Figur  wird  ihrem  irdischen 
Gefäß  zum  Schicksal,  das  Epos  hat  seine  angestammte 
Funktion  einer  umfassenden  Erkenntnis  und  darstel- 
lenden Schlichtung,  es  ist  selbst  eine  soziale  Aufgabe. 

Balzac  hat  sie  vollendet,  er  war,  wie  nur  einer  der 
ewigen  Erzähler,  der  Herr  der  Dinge:  er  gab  dem 
Chaos  Ordnung,  indem  er  es  als  Ordnung  wahrnahm, 
er  erhellte  es  und  schied  Tag  von  Nacht,  Feste  von 
Wasser.  Und  alles  dies  mit  der  schlichten,  sachlichen, 
freilich  romanisch  durchdringenden  Klarheit  der 
Prosa.  In  seinem  Gehirn  dünkt  uns  die  ganze  Erfahrung 
der  Menschheit  bis  in  die  mikroskopischen  Einzel- 
heiten versammelt,  das  gehorsamste  Gedächtnis  bietet 
sie  dem  fordernden  Augenblick  und  sie  erscheinen 
selbstverständlich  und  wunderbar,  wie  am  ersten 
Tag.  Er  kennt  zum  Beispiel  die  Finten  eines  Wechsel- 
protestkreislaufes, eines  Zivilprozeßverfahrens,  einer 
Börsenspekulation  bis  in  ihre  äußersten  Möglichkeiten 
ebenso  genau,  wie  die  Schliche  der  Spionage  und 
die  Methoden  der  Gauner.  Er  weiß,  daß  wer  einmal 
im  Bagno  die  Kette  geschleift,  auch  in  der  Freiheit, 
wenn  auch  unmerklich,  das  ehedem  gefesselte  Bein 
nachzieht.  Er  setzt  das  Verfahren  des  Buchdrucks 
und  die  Arten  der  Papiergewinnung  auseinander. 
Die  Wirksamkeit  einer  komplizierten  technischen 
Arbeit  ist  ihm  gleich  deutlich,  wie  der  Mechanismus 


des  Denkens  und  Fühlens  und  er  sieht  das  Ineinander- 
greifen der  menschlichen  Regungen,  welche  sich  vor 
sich  selber  verbergen,  wie  das  offene  Räderwerk  einer 
Maschine.  Immer  wieder  machen  überraschende,  doch 
selbstverständliche  Einzelheiten  für  die  untrügliche 
Wahrheit  des  Ganzen  Beweis  und  dies  mit  einer  Einfalt, 
die  über  ihre  Genialität  gleichsam  zu  lächeln  scheint, 
wie  dem  schöpferisch  Erhabenen  eben  Bewußtheit 
und  unwillkürliches  Walten  des  Gefühls  in  eine 
Lebenskraft  zusammenfließt.  Seine  Helden  sehen  wir 
noch  heute  in  unseren  Städten  um  Troja  und  Helena 
kämpfen  trotz  einem  Odysseus  und  Achill.  Politik, 
Kunst,  Lebensgenuß,  Spielerleidenschaft,  Weiberlist, 
Intrigue,  Verbrechen,  Karriere,  Adel,  Schönheit,  Ehr- 
geiz, Leichtsinn,  Habsucht  sind  in  einer  Reihe  ewig 
typischer  Gestalten  verkörpert,  deren  Erlebnisse 
ineinander  verschlungen,  doch  deutlich  heraustreten, 
wie  das  Muster  in  einem  Gewebe.  Eine  Einsicht,  die 
viel  wunderbarer  scheint  als  die  Erfindung,  faßt  mit 
der  zartesten  Sicherheit  das  wesentliche  Problem 
jedes  Charakters. 

Die  Schicksale  der  Männer  schreiten  durch 
Reihen  von  Weibern  hin,  der  Glanz  von  Schönheit, 
von  lustvollem  Weiberfleisch,  von  sinnlicher  Freude 
und  Freiheit  macht  einen  verwirrenden  Vordergrund 
aus,  von  dessen  Pracht  die  schroffen  Geschehnisse 
sich  unheimlich  absetzen.  Die  Fülle  dieser  Weiber- 
welt unter,  neben,  über  der  männlichen  wird  gleich- 
wohl aufs  deutlichste  umrissen  durch  die  genial  ver- 
einfachende Überzeugung:  Das  Weib  ist  in  allem 
Tun,  Wollen  und  Denken  durchaus  vom  Geschlecht 
bedingt,  von  jenem  Schöße,  der  zur  Lust  und  zur 
Mutterschaft  gemacht,  seinen  ewigen  Funktionen 
zustrebt.  Alles  Erlebnis  der  Frau  ist  ihrer  Natur, 
ihrer  Lebensquelle  zugewandt  und  es  gibt  nur 
mannigfache  Verschwisterungen  zweier  Schicksale: 
der  Mutter  und  der  Geliebten.  Aber  welcher  Blick 
für  diese  Abschattungen!  Er  zeigt  einmal  die  Mutter 
zweier    Söhne.     Der    eine    ist    ein    kindlich    reiner 


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Künstler,  der  andere  ein  ruchloser  Schurke.  Die 
Mutter  hängt  ihr  ganzes  Herz  an  den  mißratenen, 
eben  weil  er  ihrer  mehr  bedarf,  und  der  um  ihre 
Liebe  verkürzte  Sohnv  versteht  als  schöpferischer 
Mensch  auch  aufs  innigste  dieses  schmerzliche  Muß 
der  Mutterschaft.  Auf  der  anderen  Seite  die  Kurtisane, 
dazwischen  alle  Lebensstufen  der  weiblichen  Natur 
und  überall  der  Heroismus  des  Geschlechtes  als  die 
reine  Blüte  des  Instinkts.  Er  zeigt  ein  andermal 
das  Martyrium  einer  verdorbenen  Kurtisane,  die  ein 
zweites,  wahreres,  weil  willentliches  Magdtum  ge- 
winnt, um  es  zu  opfern,  einer  raffinierten  Weltdame 
letzte  Lust  der  erfundenen  und  darum  höheren 
zweiten  Unschuld.  Er  sagt  gelegentlich  über  ihren 
Blick:  »es  war  einer  jener  Blicke,  die  eine  blonde 
Frau  brünett  erscheinen  lassen c  und  in  einem  Scherze 
formuliert  er,  was  den  Frauenzimmern  das  Genie  des 
Mannes  bedeutet,  indem  er  eben  diese  Weltdame,  da 
sie  den  scheuen  Handkuß  eines  Dichters  empfängt, 
sich  nach  dieser  Probe  »von  der  Literatur  sehr  viel 
versprechen«  läßt. 

Alles  Männliche  aber  nimmt  gleichsam  vom 
Haupte  seinen  Ausgang  und  ist  vielfältig  wie  das 
Denken  selbst. 

Er  fesselt  jeden  Mann  an  sein  typisches  Sckicksal 
und  die  Zahl  der  ewig  sinnbildlichen  Ereignisse  läßt  sich 
nicht  einmal  beiläufig  angeben,  denn  seine  Komposition 
kennt  keine  Nebenfiguren  und  keine  unentschiedenen 
Konflikte,  sondern  schließt  in  ihrer  ineinandergreifen- 
den Gliederung  die  Probleme  aller  Berufe,  Stände, 
Individuen  zusammen,  wie  steinerne  Pfeilerbündel, 
die  das  Gewölbe  tragen.  In  eine  Erzählungsreihe 
tritt  der  junge  Provinziale,  der  Paris  erobern  will, 
von  einem  Verbrecher  gefördert,  von  Frauengunst 
getragen  und  von  der  eigenen  Haltlosigkeit 
endlich  gestürzt  wird.  Gleich  steht  ihm  der  ungeheure 
Missetäter  zur  Seite,  welcher  von  der  Einsicht  eines 
Gottes  zum  Weiberfeind  bestimmt  wird,  denn  wenn 
das  Genie  des  Verbrechens  die  endgiltige  Verneinung 


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der  Gesellschaft  bedeutet,  muß  es  von  der  Natur 
selbst  zur  Unfruchtbarkeit  verdammt  sein.  Und  auf 
die  Spuren  dieses  erhabenen  Ungeheuers  tritt  wieder 
der  lauernde  Spion,  auf  ihn  folgt  der  Richter  und 
erlebt  an  seinem  Objekte  seinen  tragischen  Konflikt, 
indem  der  Richter  nicht  Diener  einer  absoluten, 
sondern  einer  relativen  Gerechtigkeit  bleibt,  kein 
zwingendes,  sondern  ein  letzten  Endes  willkürliches, 
relatives,  bezwungenes  Gesetz  verwaltet,  so  daß  der 
Schutz  der  ihm  anvertrauten  Ordnung  zuweilen  die 
Befreiung  des  Schuldigen,  nicht  die  Strafe  verlangt. 
Der  Einzelne  setzt  das  Recht  des  Stärkeren  selbst 
gegen  das  Gewissen  des  Gesetzes  durch.  Es  gibt 
eine  Legitimität  des  solidarischen  Unrechts.  Und  in  der 
gleichen  epischen  Reihe  stehen  die  Verwicklungen 
der  Politik  und  Verschwörungen ;  Ehrgeiz  und  Hab- 
sucht liegen  wie  Spinnen  auf  der  Lauer;  das  Leben 
der  Menschen  vergegenwärtigt  die  allgemeine  furcht- 
bare Priedlosigkeit  der  ganzen  Natur,  die  fortgesetzte 
Vernichtung  zu  ihrer  Erneuerung  verlangt.  So  kehren 
auf  wechselnden  Schauplätzen  verwandte  Ereignisse 
wieder,  kein  Geschehen  mündet  ins  Leere,  kein  Faden 
verliert  sich,  vielmehr  reicht  jeder  in  die  Ferne  und 
die  Anschauung  ist  so  vollkommen,  daß  sie  im  Keim 
der  Gegenwart  den  künftigen  Baumriesen  der  Ent- 
wicklung vorherbestimmt  und  nichts  Folgenloses 
auch  nur  denken  kann.  Balzac  spricht  vom  Journa- 
lismus, der  aus  einem  Beruf  eine  Eigenschaft  ge- 
worden ist  und  durchdringt  diese  Pest  des  Gedankens 
so  ganz,  daß  uns  heute  ein  Schauer  überläuft,  da  wir 
erleben,  was  er  voraussah.  Es  ist,  als  zeigte  eine 
Hand  aus  dem  Grabe.*) 

Und  inmitten  des  gewaltigen  Stromes  von 
Handlung  und  Erscheinung  blitzt  wie  tausendfältige 
Sonnenbilder  im  Wasser,  Erfahrung  in  unvergeßlichen 
Worten  auf.  Nur  eines  dieser  unzählbaren  Worte  will 


*)  Siehe  die  Komposition  von  Zitaten  in  Nr.  283/84  der  .Fackel'. 
Anm.   d.  Herausgeb. 


-   12 


ich  wiederholen:  »Die  Macht  beweist  sich  selbst  ihre 
Kraft  nur  durch  den  seltsamen  Mißbrauch,  daß  sie 
irgend  eine  Absurdität  mit  den  Palmen  des  Erfolges 
krönt  und  zwar  dem  Genie  zum  Spott,  der  einzigen 
Kraft,  die  die  absolute    Macht  nie   erreichen   kann.« 

Diese  Erfahrung,  in  einem  Satz  eine  Welt 
ergreifend,  war  in  diesem  einzigen  Manne  einer 
Kraft  gesellt,  welche  der  ungeheuren  Organisation 
des  Lebens  eine  künstlerische  des  Abbildes  entgegen- 
hielt, deren  Geist  und  Reichtum  der  Wirklichkeit 
gewachsen  war,  ja  sie  zu  übertreffen  scheint. 

Es  ist  die  Erhabenheit  der  epischen  Sendung: 
sie  kommt  aus  ihrem  Tag,  aber  sie  überholt  ihn 
durch  die  Macht  ihrer  Anschauung  und  ordnenden 
Erkenntnis  um  eine  Ewigkeit.  Die  Dichtung  ist  dem 
Leben  so  weit  voraus,  wie  die  Menschheit  dem 
Menschen.  Solcher  Flug  hat  Balzac  über  seine  Zeit 
getragen. 


Aphorismen  *) 
Von  Karl  Kraus 

Die  Kunst  des  Schreibenden  läßt  ihn  auf  dem 
Luftseil  einer  hochgespannten  Periode  nicht  schwan- 
ken, aber  sie  macht  ihm  einen  Punkt  problematisch. 
Er  mag  sich  des  Ungewohnten  vermessen ;  aber  jede 
Regel  löse  sich  ihm  in  ein  Chaos  von  Zweifeln. 

• 

Den  Polen  wurde  die  Weltgeschichte  zum  Exe- 
kutionsgericht. Aber  sicher  nur,  weil  sie  einen  Ter- 
min versäumt,  einen  Gang  unterlassen,  eine  Formalität 
nicht  erfüllt  haben.  Die  Pfändungskosten  waren 
größer  als  die  Schuld. 

Jede    Art   von    Erziehung    hat    es    darauf    ab- 


")  Aus  dem  .Simplicissimus'. 


—  13 


gesehen,  das  Leben  reizlos  zu  machen,  indem  sie 
entweder,  sagt,  wie  es  ist,  oder  daß  es  nichts  ist.  Man 
verwirrt  uns  in  einem  fortwährenden  Wechsel,  man 
klärt  uns  auf  und  ab. 

* 

Humanität  ist  das  Waschweib  der  Gesellschaft, 
das  ihre   schmutzige   Wäsche   in  Tränen    auswindet. 


Meine  Bücher 

Im  Juristischen  Literaturblatt'  (Bd.  XXI,  Nr.  8, 
Berlin,  15.  Oktober),  dem  kritischen  Zentralorgan  der  Rechtswissen- 
schaft ist  ein  Artikel  über  »Sittlichkeit  und  Kriminalität« 
von  einem  mir  unbekannten  Autor  erschienen.  Es  verdient 
erwähnt  zu  werden,  daß  der  Herausgeber  des  Juristischen  Literatur- 
blattes', in  welchem  so  meiner  Kritik  der  Sexualjustiz  zugestimmt 
wird,  »Geheimer  Ober-Regierungsrat  und  vortragender  Rat  im 
Ministerium  des  Königl.  Hauses«  ist.  In  Österreich  hat  noch  kein 
einziges  Juristenblatt,  nicht  einmal  das  sozialdemokratische,  den 
Mut  gehabt,  den  sogenannten  Fachleuten  die  Lektüre  des  Buches  zu 
empfehlen,  wiewohl  gerade  jetzt  die  sogenannte  Strafgesatzreform 
die  Rehabilitierung  der  alten  Schande  verheißt.  Pfui  über  unsere 
Juristen,  Sozialdemokraten,  Fachleute,  Reformer  u.  s.  w.;  u.  s.  w. ! 
Die  Besprechung  lautet: 

Sieht  man  sich  die  kleine  Zahl  der  heutigen  Kulturmenschen  an, 
so  bemerkt  man  an  ihnen  einen  Konservativismus  eigener  Art.  Der 
Künstler  —  und  welcher  Kulturmensch  hätte  nicht  etwas  vom  Künstler 
—  ist  ja  im  Grunde  immer  konservativ:  er  hat  an  allem,  sei  es  im 
landläufigen  Sinne  schlecht  oder  gut,  seine  menschliche  Freude  und 
bringt  deshalb  für  umstürzende  Veränderungen  wenig  Interesse  auf.  Die 
Fabel  vom  Radikalismus  des  Künstlers  ist  aus  einer  Verwechslung  der 
seelischen  Labilität  mit  der  Seele  des  Künstlers  entstanden.  Hatte  aber 
noch  Hebbel  einen  Konservativismus,  der  einen  starken  Einschlag  von 
Disziplin  und  Patriarchentum  aufwies,  so  ist  die  erhaltende  Tendenz 
unserer  Jüngsten  durchaus  individualistisch  gerichtet.  Man  ist  nicht 
umsonst  durch  Nietzsche  hindurchgegangen.  Und  dieser  konservative 
Individualismus  ist  ästhetisierender  Art.  Man  hat  nicht  umsonst  Oskar 
Wilde  kennen  gelernt.  Das  Leben  ist  so  paradox,  daß  man  Paradoxe 
braucht,  um  es  einzufangen. 

Wir   verlieren   also  langsam    unsere  Gewichtigkeit.     Das   ist    für 


—  14  — 


Schulmeister  —  und  der  zweite  Deutsche  ist  ja  ein  Schulmeister  — 
eine  fürchterliche  Angelegenheit,  für  Menschen  aber,  die  außer  Sozial- 
politik auch  noch  anderes  kennen,  das  Leben  heller  zu  rhachen,  eine 
recht  erfreuliche  Tatsache. 

Einer  der  Hauptführer  gegen  Gewichtigkeit  und  Demokratie  — 
ist  beides  eigentlich  nicht  dasselbe?  —  ist  heut  der  Wiener  Karl  Kraus. 
Man  würde  ihn  beleidigen,  hieße  man  ihn  einen  Feuilletonisten  -  dazu 
hat  der  Mann  zu  viel  Geist  und  ist  zu  wenig  »geistreich«.  Er  hat  so  ewige 
Worte  geprägt  wie  dies:  >Die  Demokratie  teilt  die  Menschen  in  Arbeiter 
und  Faulenzer.  Für  solche,  die  keine  Zeit  zur  Arbeit  haben,  ist  sie 
nicht  eingerichtet.«  Man  kann  in  weniger  Worten  nichts  Treffenderes 
beibringen. 

Nun  veröffentlicht  Kraus  dies  Buch  über  Sittlichkeit  und  Krimi- 
nalität, das  ich  mit  größtem  Vergnügen  hier  anzeige.  Es  sind  lose  Auf- 
sätze, die  vordem  in  der  .Fackel'  —  dem  Blatte  von  Kraus  —  erschienen 
sind.  Sie  richten  sich  sämtlich  gegen  die  Überspannung  der  Sexual- 
justiz, die  in  der  Tat  zu  den  unangenehmsten  Erscheinungan  unserer 
öffentlichkeitstollen  Zeit  gehört.  Unter  allen  Umständen  sollte  der 
Kriminalist  sich  das  Buch  vornehmen.  Er  wird  oft  genug  erschrecken 
über  die  Formulierungen  des  Verfassers,  aber  er  wird  doch  nirgends 
reiche  Anregung  vermissen.  Wenn  Kraus  z.  B.  behauptet:  »Ein  Sittlich- 
keitsprozeß ist  die  zielbewußte  Entwicklung  einer  individuellen  zur  all- 
gemeinen Unsittlichkeit,  von  deren  düsterem  Grunde  sich  selbst  die 
erwiesene  Schuld  des  Angeklagten  leuchtend  abhebt«,  so  klingt  das 
zunächst  ungeheuer  lästerlich.  Man  wird  aber  beim  Nachdenken  finden, 
daß  hier  ein  sehr  gesunder  Gedanke,  wenn  auch  in  recht  starker 
Zuspitzung,  vorliegt. 

Daß  Kraus  dabei  das  Kind  durchaus  nicht  mit  dem  Bade  aus- 
schüttet, sagt  folgender  Satz:  »Der  Gesetzgeber,  der  heue  so  ahnungslos 
am  Geschlechtsleben  herumstümpert,  könnte  sich  wohl  nützlich  machen, 
wenn  er  ins  freie  Feld  der  Lust  die  Vogelscheuche  des  Paragraphen 
stellte,  aber  nur  um  drei  Rechtsgüter  zu  schützen:  die  Gesundheit,  die 
Willensfreiheit  und  die  Unmündigkeit.« 

Sehr  schlecht  kommt  bei  Kraus  die  Gerichtspsychiatrie  fort,  sie 
sei  von  allen  Gesellschaftsspielen  das  unterhaltendste.  Man  wird  fragen: 
Kommt  denn  überhaupt  etwas  gut  fort  bei  dem  Verfasser?  O  ja  —  die 
freie  Menschlichkeit,  die  nicht  nach  Pöbelwünschen  und  Pöbelinstinkten 
fragt.  Und  so  steckt  denn  in  der  Schrift  am  Ende  trotz  der  mangelnden 
»Gewichtigkeit«  ein  prächtiger  Ernst.  Was  manchen  Deutschen  besonders 
verwundern  wird. 

Berlin.  Adolf  Grabowsky. 

,Die  neue  Generation'  (V.  11.,  Berlin,  November)  bringt 
die  folgende  Besprechung: 

Der  Herausgeber  der  Wiener  .Fackel'  reproduziert  hier  die 
schärfsten  und  unterhaltsamsten  Stücke  seiner  Essaykunst.  Man  glaube 
nicht,  daß  es  sich  nur  um  eine  brillante  Glossierung  von  Lokaltratsch 
oder  Sensationsprozessen  handle.  Hinter  diesem  atemberaubenden  Stil, 
diesen  wirbelnden  Paradoxen  erbaut  sich  eine  Weltanschauung  im  besten 


15 


Sinne,  die  gesamte  Wesenheit  einer  Individualität,  die  in  der  Tat  mehr 
Farbnuanzen  zu  sehen  weiß,  als  das  bloße  Lokalkolorit.  Man  wird 
finden,  vielleicht  wo  man's  am  wenigsten  vermutet,  daß  sich  plötzlich 
eine  Weite  auftut,  die  sich  dahinaus  erstreckt,  wo  wir  alle  nichts  als 
Menschen  sind.  Das  erzeugt  ein  Gefühl,  das  ich  nicht  definieren  kann; 
eine  gewisse  Sicherheit,  ein  Erfülltsein  bei  dem  ewigen  Tasten  nach 
Wahlverwandtschaft.  Diese  Befriedigung  ist  die  höchste,  die  uns  ein 
Buch  gewähren  kann. 

Dr.  Alfred  Kind. 
* 

Über  »Sprüche  und  Widersprüche«  brachte  das  Lite- 
rarische Echo'  (XII.  3.,  Berlin,  1.  November)  einen  Essay  von 
Felix  Stössinger  unter  dem  Titel  »Spruchweisheit«,  dem  auch 
Proben  aus  dem  Buch  und  ein  Porträt  beigegeben  waren.  Dieser  kriti- 
schen Arbeit,  die  vor  der  Wiener  Auffassung  wieder  dadurch  be- 
glaubigt wird,  daß  man  angibt,  dem  Kritiker  persönlich  völlig 
ferngestanden  zu  haben,  danke  ich  vor  allem  die  Genugtuung, 
eine  der  größten  Gemeinheiten  abgewehrt  zu  sehen,  die  je 
von  der  journalistischen  Blutrache  an  meinen  Geisteskindern  ver- 
übt wurden.  Ein  Herr  Otto  Weiß,  >dessen  humorvolle  Gasthaus- 
studien den  Lesern  der  , Münchener  Neuesten  Nachrichten'  gewiß 
noch  in  angenehmer  Erinnerung  sind«  und  der  überhaupt  einer 
der  banalsten  Menschen  zu  sein  scheint,  die  es  zur  Zeit  in 
Deutschland  gibt,  hat  ein  Aphorismenbuch  unter  dem  Titel 
»So  seid  Ihr!«  herausgegeben  und  erntet  dafür  in  allen 
Literaturrubriken  wie  auf  ein  Signal  just  die  Anerkennung, 
die  das  triste  Pack,  das  sie  redigiert,  über  höheren  Auftrag 
mir  vorenthält.  Aber  nicht  mein  Anspruch  auf  eine  Meinung,  die 
wertlos  genug  ist,  um  verschleudert  zu  werden,  sondern  der  An- 
blick besudelten  Kunstwerts  treibt  mich  zum  Protest.  Daß  Romane 
von  Reportern  geschrieben  werden,  daran  hat  man  sich  allmählich 
gewöhnt;  die  journalistische  Versauung  des  Aphorismus  ist  uner- 
träglich. Schließlich  kann  man  in  der  Nordsee  baden,  auch  wenn 
einer  einmal  hineingespuckt  hat.  Wer  aber  wollte  unter  der 
gleichen  Voraussetzung  ein  Glas  Quellwasser  trinken?  Die  ,Neue 
Freie  Presse'  offeriert  trotzdem  das  Buch  des  Herrn  O.  W. 
und  bekundet  bei  dieser  Gelegenheit  ein  tiefes  Verständnis  für 
das  Genre.  >Je  kürzer  gefaßt,  desto  treffender  sind  die  Apho- 
rismen«. Wie  wahr!  Als  Beleg  dafür  zitiert  sie  den  folgenden  des  Herrn 
Weiß:  »Im  Leben  wird  oft  besser  Komödie  gespielt,  als  auf  der 
Bühne«.     Wie     wahr!      Und    Herrn     Georg     Brandes    hat    es 


—  16  — 


direkt  dazu  begeistert,  Herrn  Weiß  eine  Vorrede  zu  schreiben. 
>Gewiß  einer  der  berufensten  Beurteiler  dieser  Literaturgattung«, 
bemerkt  die  ,Neue  Freie  Presse'.  Wie  wahr!  Daß  sich  Herr  Brandes, 
der  immerhin  bessere  Tage  gesehen  hat,  wenn  man  bedenkt,  daß 
Nietzsche  und  Ibsen  sich  für  alle  Zeiten  durch  ihre  Verbindung 
mit  ihm  befleckt  haben,  daß  also  Herr  Brandes  sich  nicht  selbst 
unerhört  schäbig  vorkommt  und  anstatt  Selbstmord  zu  begehen, 
hingeht  und  Herrn  Weiß  eine  Vorrede  schreibt  -  das  ist  das 
Sensationelle  an  dem  Fall.  Dieser  alte  Rekommandeur  ist  tiefer 
gesunken,  als  es  eigentlich  erlaubt  ist.  Er  hat  der  Welt  gute  Sachen 
aufgeschwätzt;  das  war  seine  Mission.  Was  er  heute  tut,  ist  nur 
mehr  ein  Verrat  an  den  Renommeen,  die  er  begründen  half.  Man 
sollte  ihm  die  Provision  geben  und  ihn  hinauswerfen.  Oder  man 
wird  es  noch  erleben,  daß  er  für  Weiß  mehr  erreicht,  als  für 
Ibsen.  Ich  fürchte  ohnedies,  daß  ihm  jener  persönlich  näher  steht. 
Weißens  Lebensanschauung  wird  nun  in  dem  Essay  des  literarischen 
Echo'  gewürdigt,  der  zum  Schluß  auch  ein  Aphorismenbuch 
von  Arno  Nadel  bespricht.   Er  beginnt   mit  den  Sätzen: 

In  einer  Aphorismensammlung  suche  ich  den  Abdruck  einer 
Persönlichkeit  oder  Weltanschauung.  Innerlich  zusammenhanglosen  Ge- 
dankensplittern fehlt  der  Boden  des  Charakters,  Der  Verfasser  stammt 
wahrscheinlich  ans  Meggendorf  oder  ist  ein  Epigone  von  Wilde  und 
Shaw  oder  redet  kluge  Dinge  wie  tausend  andere  Deutsche,  die  im 
Gegensätze  zu  ihm  die  Mühe  scheuen,  alles  niederzuschreiben,  was 
ihnen  ein-  und  ausfällt.  .  .  . 

Im  Aphorismus  ist  Sprache  und  Gedanke  ineinander  ver- 
schmolzen. ...  Er  verschlingt  Voraussetzung  und  Beweis  in  sich  und 
tritt  dem  Leser  als  Behauptung  gegenüber.  Die  Sprache  aber  gibt  erst 
dem  Gedanken  die  Geschlossenheit,  aus  der  er  die  Fähigkeit  zur  selbst- 
ständigen Existenz  schöpft,  und  der  Gedanke  wiederum  muß  so  tief  in 
die  Sprache  gedrungen  sein,  daß  beide  ein  ineinander  verschränktes 
Hysteron-Proteron  bilden,  daß  die  Sprache  ebensosehr  Formulierung  des 
Gedankens  ist,  als  der  Gedanke  aus  der  Sprache  gerissenes  und  ge- 
griffenes Produkt.  Im  Aphoristen  soll  deswegen  die  Klarheit  des 
Denkens  die  Form  der  Sprache,  die  Klarheit  der  Sprache  die  Form  des 
Denkens  befruchten. 

Von  den  Spruchbüchern,  aus  denen  ich  die  Gesetze  des  Apho- 
rismus abstrahierte,  ist  die  Sammlung  von  Otto  Weiß  am  minderwer- 
tigsten. An  und  für  sich  bestände  kein  Grund,  das  Buch  überhaupt  zu 
erwähnen,  schiene  es  nicht  für  Deutschlands  geistige  insanity  sympto- 
matisch. Jener  tiefe  Denkersinn,  der  sich  in  Friseur- Witzblättern  mit 
schlauen  Dackeln,  schnoddrigen  Gardeleutnants,  saufenden  Studenten, 
eleganten  Dienstboten  und  verliebten  Hochzeitspaaren  befaßt,  betastet 
dumm    und    unverfroren    geistiges  Leben    und  wagt    ein   beschämendes 


—  17  — 


Abbild  seiner  Wichtigtuerei  ein  Konterfei  der  Menschen  zu  nennen: 
So  seid  Ihr!  Mit  gleichem  Recht  schreibt  ein  Schuljunge  unter  seine 
Kritzeleien  den  Namen  seines  Lehrers,  nur  daß  er  aus  einem  positiven 
menschlichen  Naturtrieb  handelt,  während  für  die  Autorschaft  und  den 
Druck  dieser  Banalitätssplitler  bloß  negative  Gründe  mitgesprochen 
haben.  Herr  Weiß  hänselt  die  Kultur  wie  ein  Schusterjunge  die 
Passanten  oder  redet  gescheit  wie  eine  Zimmervermieterin,  stößt  die 
Nase  des  Lesers  durch  Gedankenstriche  und  Sperrdruck  auf  seine 
> ironischen«  Pointen  und  erleichtert  durch  ein  Register  die  Stichproben, 
über  welche  Begriffe  er  das  Albernste  gesagt  haben  mag. 

Es  folgen  Beispiele.  Dann: 

Die  Feder  gewechselt,  einen  tiefen  Atemzug,  .und  ich  versuche, 
Karl  Kraus  zu  charakterisieren, 

Wie  viele  in  Deutschland  kannten  bis  vor  wenigen  Monaten 
diesen  jungen  Österreicher,  der  sich  seit  zehn  Jahren  in  der  .Fackel' 
mit  der  Presse  schlägt  oder,  da  er  konsequent  totgeschwiegen  wird, 
besser  gesagt,  auf  die  Presse  losschlägt.  (Eine  besondere  Schrift  über 
Karl  Kraus  hat  der  Wiener  Schriftsteller  Robert  Scheu  soeben  im  Verlage 
von  Jahoda  &  Siegel  in  Wien  erscheinen  lassen.)  Bald  zertrümmert  er 
mit  dem  Pathos  eines  elementar  Leidenden  das  geistig-sittliche  Bürger- 
milieu und  wirft  wie  Polyphem  mit  Felsblöcken  um  sich;  dann  setzt  er 
wie  ein  Panther  dem  Feind  in  den  Nacken  und  saugt  ihm  das  Blut  aus 
dem  Genick,  bis  er  zusammenbricht;  wie  ein  Kätzchen  die  Maus 
zwischen  die  Zähne  nimmt,  sie  kratzt  und  mit  den  Krallen  ohrfeigt,  sie 
bis  zum  letzten  Athemzug  herumschleudert,  so  spielt  er  mit  der  Ohn- 
macht des  Gegners,  ohne  ekelhaft,  oder  grausam  zu  wirken,  weil  jeder 
ein  artistisches  Vergnügen  an  dem  sprudelnden  Witz  und  der  sprung- 
bereiten Lauer  findet,  in  die  Blößen  seine  Klauen  zu  schlagen.  Mitten 
in  die  Analyse  des  Menschen  leitet  das  Bild  des  Kämpfers,  der  in  sub- 
jektivster Weise  Distanz  empfindet  und  Distanz  wahrt.  Er  schießt  nicht 
mit  Kanonen  nach  Spatzen  und  mit  Bolzen  nach  Adlern,  sondern  legt  sich 
die  Taktik  des  Kampfes  so  zurecht,  wie  er  das  Pathos  des  Stiles  nach 
der  Wirkung  der  Eindrücke  anschlägt.  So  kann  ihm  ein  vielleicht  ge- 
ringer Anlaß  das  Oebrflll  des  verletzten  Löwen  entlocken,  während  ihn 
ein  tieferes  Problem  kaum  zur  Satire  aufstachelt.  Es  ist  also  schwer, 
eine  so  vielflächige  Persönlichkeit  in  wenigen  Sätzen  zu  charakterisieren. 
Sie  ist  zu  groß,  um  sic>  in  eine  Formel  sperren  zu  lassen,  und  scheint 
jeder  Klassifizierung  zu  spotten.  In  die  Erkenntnis  einer  Seite  klingt  die 
Dissonanz  anderer  Saiten  hinein,  und  jagt  man  einem  greifbaren  Punkte 
nach,  so  schwillt  er  an,  zeigt  sich  vielfach  zusammengesetzt,  wie  ein 
Molekül  aus  Atomen.  Kraus  läßt  sich  wahrscheinlich  nicht  auf  einen 
Grundstoff  zurückführen,  weil  seine  wahre  Art  der  Kampf  zwischen 
mehreren  Grundstoffen  ist.  Daraus  erklärt  sich  auch  seine  polemische 
Natur,  die  wahrscheinlich  polemisch  mit  und  feindlich  gegen  sich  selber 
ist.  Kraus  ist  ein  durchaus  realer  Mensch,  der  unter  den  Realien  leidet 
und  sie  deshalb  wütender  und  mannhafter  als  heute  ein  anderer 
Deutscher  bekämpft.  Ich  habe  oft  einen  sentimentalen  Satz  oder  eine 
träumerische  Stimmung  oder  eine  utopistische  Forderung  von  ihm  erwartet. 

290 


18 


Aber  diese  Regungen  schweigen  in  ihm,  obgleich  sie  nicht  immer  ge- 
schwiegen haben  werden.  Die  klugen  Augen,  die  so  viel  sagen,  weil 
sie  so  viel  verschweigen  wollen,  sind  trüb  umflort  wie  die  eines 
Menschen,  der  zu  elementar  empfindet,  um  den  zertrümmerten  Träumen 
melancholisch  nachzuschwärmen.  Kraus  muß  kämpfen,  weil  der  Kampf 
sein  Element  ist,  und  der  Kampf  ist  sein  Element,  weil  die  Satire  sein 
Wesen  fundiert.  Er  ist  zu  gesund,  um  an  Enttäuschungen  zugrunde  zu 
gehen,  trafen  sie  ihn  auch  härter  als  andere.  Ihn  erweckte  der  Zusammen- 
stoß mit  dem  Leben  zum  pathetischen  Satiriker,  weil  er  sich  aus  seinen 
Träumen  riß  und  die  Kämpfernatur  in  ihm  auftischte.  Ein  Schwächerer 
wäre  Don  Quixote  geworden,  dem  der  klare  Blick  fehlt,  das  Leben  zu 
begreifen,  das  Leben  zur  Waffe  zu  schmieden  und  mit  ihr  die  Riesen  zu 
erschlagen,  ob  sie  nun  Windmühlen  sind  oder  nicht.  Der  Satiriker  mit 
Ethos  wird  Pathetiker,  der  Bourgeois  sinkt  zum  Witzbold  herab.  Das 
unterscheidet  Swift  von  Saphir.  Und  Kraus  stammt  zweifellos  aus  dem 
Geschlechte  des  Iren.  Daß  er  also  seinen  Witz  zur  Waffe  gegen  die 
natürlichen  Feinde  seiner  Seele  erhebt,  zeugt  schon  für  den  wahren 
Wert  seines  Menschentums.  Ginge  er  ironisch  über  die  Widersacher 
hinweg,  so  empfände  er  sie  wohl  gar  nicht  feindlich,  sondern  posierte 
nur  Neid  und  Haß  gegen  Mächte,  mit  denen  sich  billig  streiten  läßt. 
Der  Grundunterschied  zwischen  ihm  und  den  meisten  feuilletonistischen 
Gesellschaftskritikern  besteht  nun  in  seinem  eingewurzelten  Haß  gegen 
die  Gesellschaft  und  dem  tiefen  Zwang,  unter  der  Gesellschaft  zu  leiden. 
Kraus  ist  ferner  kein  Pessimist,  denn  er  zweifelt  nicht  am  Leben, 
sondern  preist  seine  Herrlichkeit  und  flucht  der  Dummheit  und  Massen- 
verblödung, die  aus  dem  Paradies  ein  Irrenhaus,  aus  der  Landschaft 
einen  Acker,  aus  der  Kunst  eine  Volksbelustigung  gemacht  hat.  Das 
Leben  meiden?  Nein  —  es  leben:  und  deswegen  Kampf  den  Feinden 
der  Lebensherrlichkeit.  Und  hier  entwickelt  sich  nun  der  grausame 
Humor,  daß  seine  eingewurzelte  Waffe  die  Gesellschaft  fesselt,  daß  die 
vielen  nicht  namentlich  Getroffenen  (betroffen  sind  natürlich  alle)  an  ihm 
Gefallen  finden  und  seinen  Witz  zum  Zeitvertreib  genießen.  Und  so 
stachelt  ihre  Impotenz,  seine  Sprachkunst  zu  begreifen  (in  Klammer:  er 
sollte  sie  übrigens  weniger  beredt  preisen,  sondern  sie  für  sich  wirken 
lassen;  Dummköpfe  überzeugt  seine  Selbstverhimmelung  doch  nicht),  so 
stachelt  sie  ihn  also  wieder  zum  Ekel  und  Kampf  auf  und  entfesselt 
seinen  Witz,  wodurch  er  diesen  Lebenskreis  beschließt.  Den  Menschen 
Kraus  erklärt  des  weiteren  seine  Zusammensetzung  aus  Sensibilität  und 
urkräftigem,  elementarem  Lebenswillen.  Das  überfeinerte  Empfinden 
sträubt  sich  gegen  die  blasse,  schale  Farbe,  die  das  Leben  durchtränkt 
hat.  Wie  sich  das  Auge  und  das  Ohr  nach  sattem  Kolorit  und  vollen 
Harmonien  sehnt,  so  verlangt  ^lie  Seele  Größe  und  Wahrheit  und  voll- 
kommene Entfaltung  der  brach  gehaltenen  Lebensmächte.  Sein  Kultur- 
verlangen ist  durchaus  rein  und  groß,  das  Licht  der  Sonne,  in  dem  der 
elementare  Mensch  leben  muß,  ist  auch  die  Nahrung  für  ihn,  den  Ver- 
feinerten und  Zarten,  der  die  Natur  anders,  sehnsüchtiger  sucht,  sie 
aber  genießen  möchte  und  kann.  Daraus  ergibt  sich  das  Leid  über  den 
Zwang,  unter  den  er  das  Leben  gestellt  sieht.  Wo  ein  anderer  lacht, 
schrickt    er  zusammen,    wo  ein    anderer  genießt,    ekelt  es  ihn,    wo  ein 


—  19  — 


anderer  richtet,  blickt  er  auf  in  gläubiger  Bewunderung.  Sein  Glücks- 
gefühl stillen  weniger  befriedigende  Eindrücke  der  Außenwelt  als  ver- 
miedene Berührungen  mit  ihr.  Ein  anderer  verwünschte  das  Leben; 
er  aber  kann  es  nicht  übersehen  und  muß  es  erleben.  Er  muß  sich  in 
diesen  Trubel  von  Dummheit  und  Häßlichkeit  stürzen,  sich  gegen  die 
Lebensäußerungen  des  Kleinbürgertums  wehren,  weil  sie  ihn  zu  tiefsten 
Erlebnissen  und  tragischen  Erschütterungen  aufrütteln.  Wenn  man  seine 
Schriften  liest,  wundert  sich  mancher,  daß  dieser  scharfe  Kopf,  der  die  Bildung 
haßt,  weil  er  das  Denken  vergöttert,  keine  tieferen  Probleme  berührt  und 
die  vorletzten  und  letzten  Gründe  nicht  näher  zu  kennen  scheint.  Hier  ent- 
puppt sich  aber  der  tragische  Konflikt  zwischen  seinem  Können  und  Müssen. 
Gewiß  ist  Kraus  kein  philosophischer  Kopf,  aber  er  kann  es  nicht  sein, 
obgleich  er  es  könnte.  Die  Schale  des  Lebens  ist  für  ihn  das  Leben, 
durch  die  er  nicht  dringen  kann.  Sein  Wille  zum  Leben  wird  von  seinen 
mimosenhaft  feinen  Nerven  umstrickt,  die  ihn  zwingen,  die  Torheit  zu 
sehen,  statt  sie  zu  überwinden.  Vor  ihm  wächst  ein  Wall  turmhoch 
empor  und  umschließt  ihn,  wohin  ihn  auch  sein  Angstgefühl  treibt:  Rettung 
vor  der  Zivilisation,  sie  ist  unmöglich  zu  ertragen!  Wie  über  die  Welt- 
ordnung schreiben,  wenn  er  über  die  bürgerliche  nicht  hinwegkommt? 
Das  sind  tiefe  Probleme,  an  die  er  gekettet  ist  und  aus  denen  ihn  kein 
Sturm  losreißt.  Stürmt  das  Leben  um  ihn,  so  stemmt  er  sich  ihm  nur 
noch  wütender  entgegen  und  sucht  den  Jammer  zu  stillen,  der  aus  der 
Gigantomachie  tönt.  Und  empfindet  das  Leben,  je  tieferen  Jammer  es 
erweckt,  um  so  gewaltiger,  brutaler.  Da  dringt  aber  wieder  sein  Positivis- 
mus durch,  und  er,  der  noch  eben  gegen  Mensch  und  Nebenmensch, 
Moral,  Polizei,  Familie,  Psychiater,  Politik,  Presse,  Dummheit,  Kunst- 
pfuscher und  Feuilletonisten  kämpfte,  läßt  aus  dem  Lärm  die  tiefe 
Sehnsucht  nach  Größe  und  Macht,  Persönlichkeit  und  Recht  auf  Ein- 
samkeit durchdringen.  Da  zeigt  sich,  daß  alles,  was  er  bekämpft,  dem 
Elementaren  feind  ist,  und  daß  sich  das  Elementare  zum  Sensiblen  wie 
Praxis  zur  Theorie,  wie  Tat  zur  Sehnsucht  verhält.  Dadurch,  daß  die 
beiden  Grundfaktoren  des  Kosmos:  Können  und  Wollen  in  ihm  ver- 
einigt sind,  entsteht  der  große  Kampf  seines  Innern,  der  von  Jahr  zu 
Jahr  immer  machtvoller  tobt  und  doch  in  unfruchtbarem  Jammer  eines 
unglücklich  Konstruierten  verlaufen  muß. 

Die  Sprüche  und  Widersprüche  enthüllen  nicht  das  ganze  Bild 
des  Menschen.  Natürlich  ist  jeder  Satz  ein  Abbild  seines  Charakters, 
wie  auch  die  Samenzelle  eine  Trägerin  der  ganzen  Art  ist.  Aber  man 
muß  doch  einige  Jahrgänge  der  .Fackel',  dieses  amüsantesten,  kulturellsten, 
europäischsten  Kunst-  und  Witzblattes  kennen,  um  zu  dem  Hasser  und 
Schwärmer  ein  Verhältnis  zu  gewinnen.  Die  jungen  Leute  in  Wien 
haben  ihre  Krausjahre,  wie  sie  ihre  Bahrjahre  und  wie  die  Berliner  ihre 
Kerr-  und  Hardenjahre  haben.  Die  Aphorismen  und  Glossen  dieses 
Buches,  auf  das  ich  nur  noch  kurz  eingehen  kann,  so  daß  der  Schrift- 
steller Kraus  hier  nicht  mehr  erschöpfend  gewertet  werden  kann,  standen 
im  .Simplicissimus'  und  haben  dort  auf  mich  wenigstens  keinen  sonder- 
lich günstigen  Eindruck  gemacht.  Es  fanden  sich  eine  Unmenge  lustiger 
Bemerkungen  und  allerlei  Glossen,  über  die  man  lachte  und  dachte; 
aber  das   Profil   fehlte.   Das  haben  sie  in  der  neuen  Zusammenstellung 


-  20  — 


gewonnen.  Man  erkennt  die  Gesetze,  nach  denen  der  Autor  das  Leben 
richtet,  und  sieht  seine  lebhafte,  bewegliche  Art,  Probleme  darzustellen 
und  zu  entwickeln.  Man  erkennt  den  Ursprung  manches  Wortes,  das 
aus  dem  vorhergehenden  herausgewachsen  ist,  und  findet  manche 
Brillanten  wieder,  die  aus  dem  Geschmeide  früherer  Aufsätze  ausge- 
brochen sind.  Man  bewundert  die  Kunst,  eine  Weltanschauung  in  einen 
Satz  zu  pressen,  und  empfindet  deren  Formulierung  als  endgültig.  Man 
fühlt  den  unterirdischen  Zusammenhang  der  Worte,  die  Blasen  gleichen, 
auf  einer  Wasserfläche  treibend.  Kraus  kann  zweifellos  seine  An- 
schauung an  einem  konkreten  Fall  erschöpfend  erörtern,  aber 
zweifellos  könnte  er  nicht  seine  Philosophie  als  abstraktes  Lehr- 
gebäude aufführen.  Er  wendet  die  Weisheit  metaphorisch  zum 
Witze,  der  meistens  mit  einem  Sprachwitz  identisch  ist.  Aber 
von  den  Feuilletonepigonen,  die  er  famos  >Wanzen  aus  Heines 
Matratzengruft«  nennt,  scheidet  ihn  die  tiefe  Kluft  seiner  Persönlichkeit. 
Oft  liebt  er  es,  gleichbedeutende  Wörter  gegeneinander  auszuspielen, 
Teile  von  stabilen  Phrasen  auseinanderzubiegen  oder  durch  kleine  Ver- 
schiebungen des  Tonfalles  oder  der  Ordnung  zwerchfellerschütternde 
Wirkungen  auszulösen.  Witz  und  Stil  und  Gedanke  und 
Stoff  u  n  d  C  h  a  r  a  k  t  e  r  s  i  n  d  a  u  f  s  engste  verwachsen. 
Wie  das  Leben  sein  künstlerischer  Vorwurf  ist,  so 
hebt  er  das  Alltagsdeutsch,  manchmal  journalistischen 
Sprachgebrauch  zu  seinem  Stil  empor.  Deswegen  ist  seine 
Sprache  so  leicht,  flüssig,  körperlos,  der  Rede  nachgeformt.  Aber  zu 
ihr  verhält  sie  sich  wie  der  Konversationston  der  Schauspieler  zu  dem 
im  Zimmer.  Mit  seinem  Wesen  füllt  er  die  Sprache  aus,  gibt  ihr 
lebendige  Biegsamkeit,  weiche  Grazie,  feurigen  Rhythmus,  der  dem 
Leser  vorausjagt.  Schon  anfangs  erwähnte  ich  sein  Distanzierungsver- 
mögen.  Dieses  überträgt  er  auch  in  seinen  Stil,  indem  er  ihn  im  Pathos 
durch  Substantivierung  der  Begriffe  und  Relativsätze  zu  einer  an  Shake- 
speare geschulten  Geschlossenheit  verhärtet.  Dann  neigt  aber  Kraus  auch 
zur  Manier  und  zum  Schwulst,  der  aus  Überkonzentration  entstanden 
ist.  Die  Adern  sind  zu  eng  um  das  Blut  gespannt.  Wie  dem  auch  sei, 
wo  man  sein  Buch  aufschlägt,  finden  sich  tief  gedachte  oder  tief  emp- 
fundene Worte,  intuitive  Gedanken,  Esprit  und  Selbstbewußtsein,  das 
dem  Leser  ins  Gesicht  lacht,  Witz,  der  ihn  herzhaft  lachen  macht.  Und 
wenn  man  nun  bedenkt,  daß  dieser  Mann  elf  Jahre  in  prachtvoller  Ent- 
wicklung und  Vervollkommnung  ridendo  verum  dich,  und  so  wenige 
sehen,  daß  sein  Lachen  blutendes  Leid  verbirgt,  begreift  man  erst  den 
Reichtum  und  die.  Tragkraft  seiner  Menschlichkeit. 

Foigt  eine  Besprechung  der  (leider  recht  belanglosen) 
Nadel'schen  Aphorismen  mit  vielfachen  Beziehungen  auf  mein 
Buch.  Nur  gegen  die  parenthetische  Kritik  der  >SeIbstver- 
himmelung«  möchte  ich  mich  wehren.  Das  bin  ich  einem 
so  verständigen  Beurteiler  schuldig.  Daß  ich  Rezensionen  ab- 
drucke, ist  Notwehr.  Daß  ich  sie  über  mich  selbst  schreibe, 
ist    tiefere     Rücksicht.     Ich     spreche     nie     von    mir,     sondern 


21  - 


immer  an  mir  von  der  Sprache.  Ich  habe  nie  einen  Satz 
über  mich  geschrieben,  ohne  selbst  noch  an  diesem  Stil- 
problematisches zu  erörtern.  Ich  bin  nur  das  nächstbeste  Beispiel 
für  mich.  Das  nächste,  wie  ich  selbst  zugeben  muß,  das 
beste,  wie  auch  mein  Kritiker  zugibt.  Von  den  Nadel'schen 
Aphorismen,  die  er  ausgewählt  hat,  möchte  ich  einen  —  mit 
Weglassung  des  platten  Abschlusses  —  zitieren:  »Goethe  hat  viel 
über  sich  geschrieben:  weil  ihm  nur  das  Geschriebene  als  rechtes 
Eigentum  galt,  weil  er  seinen  Entwicklungsgang  an  sich  für  wert- 
voll genug  hielt,  um  durch  dessen  Darstellung  den  Menschen  zu 
dienen,  und  endlich,  um  einer  Entstellung  seiner  Persönlichkeit 
vorzubeugen  .  . .«  Das  muß  jedem  zustehen,  der's  tut.  Es  tut's 
keiner,  der's  nicht  darf.  Ich  sagte  einmal,  daß,  »wer  mit  einer 
Sache  verschmolzen  ist,  immer  zur  Sache  spricht  und  am  meisten, 
wenn  er  von  sich  spricht«.  Daß,  »was  sie  Eitelkeit  nennen,  jene 
nie  beruhigte  Bescheidenheit  ist,  die  sich  am  eigmen  Maße  prüft 
und  das  Maß  an  sich,  jener  demütige  Wille  zur  Steigerung,  der 
sich  dem  unerbittlichsten  Urteil  unterwirft,  welches  stets  sein 
eigenes  ist.  Eitel  im  schlechten  Sinne  wäre  eine  Frau,  die  nie  in 
den  Spiegel  schaue.« 


Glossen 
Von  Kar!  Kraus 

Der  Nigger,  den  Herr  Peary  mitgenommen  hat,   stellt  sich 
soeben  der  Welt,    die   noch   immer  nicht  genug  hat,    als    dritten 

Nordpolentdecker    vor.    Ich    sei,    gewährt    mir  die    Bitte 

Die  Entdeckung  des  Nordpols  ist  überhaupt  eine  passende  Ehrung 
fürs  Schillerj^hr.  Der  große  ideale  Bauchaufschwung  der  Mensch- 
heit, Aeonen,  Regionen,  wo  keine  Menschen  wohnen  etc.  Nur  daß 
im  großen  Fortschrittsballabile  zum  Schluß  ein  Nigger  auftritt, 
der  der  weißen  Menschheit  fletschend  die  weißen  Zähne  zeigt, 
paßt  nicht  ganz  ins  Programm.  Wenn  du  entdecken  Pol,  ich  auch 


—  22  — 


entdecken  Pol  —  und  die  eben  noch  in  den  idealsten  Sphären 
schwelgende  Andacht  plumpst  in  die  Drastik  einer  erstklassigen 
Varietenummer  hinunter.  Herr  Cook,  ein  Anführer  der  Menschheit, 
wurde  bereits  aus  einer  wissenschaftlichen  Versammlung  hinaus- 
geworfen, und  das  Ende  wird  sein,  daß  es  zwischen  Herrn  Peary 
und  seinem  Neger  zur  engeren  Wahl  kommt.  Dieser  ist 
im  Vorteil;  denn  während  Herr  Peary  sich  bloß  auf  die  Zeugen- 
schaft eines  unzuverlässigen  Negers  berufen  kann,  kann  sich 
der  Neger  auf  die  Zeugenschaft  eines  bewährten  Arktikers 
stützen.  Was  mir  selbst  dabei  einen  Heidenspaß  macht, 
ist  die  Beobachtung,  wie  jetzt  sämtliche  Olossenschreiber,  über 
welche  die  deutsche  und  österreichische  Presse  verfügt,  satirische 
Expeditionen  gegen  den  Nordpol  ausrüsten.  Am  ersten  Tage,  da 
die  ganze  papierne  Welt  noch  im  heiligen  Glauben  brannte, 
erkannte  ich  die  satirische  Nichtigkeit  des  entdeckten  und  die 
satirische  Realität  des  nicht  entdeckten  Nordpols.  Heute  spielen  sie 
sich  alle  als  Entdecker  des  Nordpolhumors  auf.  Man  vergleiche, 
was  dieselben  Federn  vor  zwei  Monaten  geschmiert  haben.  Man 
lese  meine  getreue  ,Wiener  Allgemeine  Zeitung'  —  im  Schiller- 
jahr muß  man  sie  von  der  gemeinen  Zeitung  für  Alle  wohl 
unterscheiden  — ,  deren  vorlaute  satirische  Jugend  manchmal  An- 
schauungen produziert,  die  sie  nach  Lektüre  der  , Fackel'  dann 
doch  wieder  zurückziehen  muß.  Woran  sollen  sich  die  Leser  der 
, Allgemeinen  Zeitung'  halten?  Ach,  wie  hat  sich  nur  das  Bild  des 
Herrn  Cook  in  diesen  paar  Wochen  verändert!  »Er  lügt  wie  der 
Satan«,  sagten  die  Eskimos,  als  sie  die  Behauptung  des  Herrn 
Cook  vernahmen,  er  habe  mit  ihnen  den  Nordpol  erreicht.  Die 
Eskimos  glauben  also  wenigstens  an  den  Satan.  Woran  aber  sollen 
die  Juden  glauben  ? 

»Und  wenn  die  bürgerliche  Gesellschaft  wirklich  daran 
vergessen  haben  sollte,  daß  in  Zeiten  der  schwersten  politischen 
Not  Journalisten  die  einzigen  waren,  die  das  Amt  der  Volksver- 
tretung geführt  haben,  so  erachten  wir  es  umsomehr  als  unsere 
Pflicht,  die  Erinnerung  an  die  Tage  der  Gründung  der  ,Con- 
cordia'  hochzuhalten.  Der  Journalistengeneration,  die  heute  dem 
Volke  täglich  seine  geistige  Nahrung  bietet,  schweben 
andere  Ideale  vor,  als  es  jene  waren,  die  einst  die  Gründer  der 
,Concordia'    bewegten.    Aber  wir  dürfen  und  wollen  nicht  daran 


23   - 


vergessen,  daß  sie  es  waren,  die  uns  den  Weg  geebnet,  auf  dem 

wir  vorwärts  schreiten  . . .« 

• 

Die  ,Neue  Freie  Presse'  spricht  von  einer  >vox  alterae 
partis«.  Nun,  zu  den  Berufen,  die  ein  Journalist  verfehlt  hat,  muß 
nicht  unbedingt  auch  der  eines  Lateinprofessors  gehören,  und  da 
man  auch  an  das  bischen  Latein  vergessen  hat,  das  man  auf  der 
Schulbank  lernte,  so  mag  man  froh  sein,  daß  man  wenigstens  ein  gutes 
Deutsch  schreibt.  Und  in  diesem  Sinne  wollen  wir  auf  dem  einmal 
betretenen  Wege  vorwärts  schreiten.  Denn  wie  sagt  doch  Schiller, 
in  dessen  Zeichen  wir  jetzt  wieder  einmal  die  Schauspieler  zur 
Gratismitwirkung  an  einer  Vorstellung  zu  Gunsten  unserer  eige- 
nen Wohltätigkeit  —  Concordia  soll  ihr  Name  sein  —  pressen, 
wie  sagt  er  doch  so  treffend:  Mut  zeiget  auch  der  Mameluk,  Ge- 
horsam ist  der  Schmuck  jener,  die  nicht  dem  Redaktionsverbande 
eines  liberalen  Blattes  angehören. 

* 

Der  bekannte  Neu-Österreicher  Hermann  Bahr  schreibt  im 
Feuilleton  des  »Berliner  Tageblatts': 

>Wir  freuen  uns  zu  wenig  über  die  Menschen,  welche  wir  haben, 
und  über  die  Werke,  die  sie  tun.  Das  denk'  ich  mir  immer  und 
denk  mir's  jetzt  wieder,  so  oft  ich  an  die  zwei  Prachtbuben  denke, 
die  Rennerbuben  in  Graz.  War'  das  in  England  oder  Frankreich  ein 
Tumult,  wenn  sie  so  zwei  hätten,  die  Welt  würde  davon  hallen!  .  .  . 
Pindar  hat  geringere  Helden  angesungen,  d'Annunzio  hätte  die  zwei 
mit  dantesken  Oden  verbrüht,  in  England  wären  sie  durch  öffentliche 
Spenden  schon  für  ihr  ganzes  Leben  versorgt  ....  Es  gibt  jetzt  zwei 
Buben  in  Österreich,  über  die  man  sich  freuen  kann.< 

Also  wohl  gemerkt,  nicht  die  Herren  Bahr  und  Burckhard 
sind  gemeint,  sondern  die  Rennerbuben.  (Schon  bei  dem  Wort 
wird  mir  übel).  Doch  —  pardon,  wir  sind  im  Schillerjahre  —  das 
Unglück  schreitet  schnell.  In  derselben  Nummer,  auf  der  anderen 
Seite,  bemerkt    die  Redaktion  des  »Berliner  Tagblatts': 

>Das  Schauspiel,  das  die  Rennerbuben  dem  Wiener  Publikum 
bieten,  wird  immer  kläglicher  ....  Unser  Wiener  Korrespondent  tele- 
graphiert uns :  Gestern  wollte  der  Ballon  wieder  nicht  fliegen.  —  Die 
Polizei  verbot  einen  weiteren  Aufstieg.  Siehe  das  Feuilletons 

• 

»Gehören  wir  doch  zusammen!«  sagte  der  österreichische 
Ministerpräsident  auf  dem  Fest  der  Presse  von  der  Regierung  und 
den  Journalisten.  Gehören  schon  zusammen! 


24 


Berechtigte  Interessen 

Ich  werde  um  die  Aufnahme  der  folgenden 
Erklärungen  ersucht: 

Durch  Vertrag  vom  21.  Jänner  1909 wurde Herwarth  Waiden 
als  Reorganisator  und  Redakteur  der  Deutschen  Bühnen-Genossen- 
schafts-Zeitung engagiert,  die  auf  seinen  Vorschlag  den  Namen 
,Der  neue  Weg4  erhielt. 

Durch  einen  Vertragsbruch  des  Genossenschaftspräsidenten 
Hermann  Nissen  wurde  Herwarth  Waiden  am  14.  Februar  1909 
unter  Mitteilung  einiger  mühselig  zusammengesuchter  Scheingründe 
entlassen. 

Am  12.  März  1909  erschien  ein  von  mir  und  einigen 
anderen  Schriftstellern  angeregter  Protest,  der  Waldens  Diskredi- 
tierung durch  die  unwissende  und  unfähige  Leitung  der  Bühnen- 
genossenschaft in  den  Augen  einer  schlecht  unterrichteten  Öffent- 
lichkeit paralysieren  sollte. 

Am  15.  März  1909  kam  auf  Anregung  der  Genossenschaft 
deutscher  Bühnenangehöriger  zwischen  ihrer  Leitung  und  Herwarth 
Waiden  ein  sogenannter  Vergleich  zustande,  durch  den  Herwarth 
Waiden  sämtliche  Forderungen  bewilligt  wurden,  die  er  nach 
seiner  Entlassung  gestellt  hatte. 

Jeder  Einsichtige  stellt  fest:  Falls  Herwarth  Waiden  sich 
während  seiner  Tätigkeit  auch  nur  das  Geringste  hätte  zu  Schulden 
kommen  lassen,  wäre  es  die  Pflicht  der  Genossenschaftsleitung 
gewesen,  ihm  nicht  den  kleinsten  Teil  seiner  Ansprüche  zu  be- 
willigen. 

In  der  Delegierten-Vorversammlung  vom  8.  April  1909 
wurde  der  Präsident  Nissen  wegen  der  Entlassung  Waldens 
zur  Rede  gestellt.  Die  Verhandlung  war  nicht  öffentlich 
und  der  Wortlaut  der  Nissenschen  Rechtfertigung  wurde  nicht 
bekannt.  Aber  schon  am  nächsten  Tage  ergab  sich  aus  Munkeln, 
Tuscheln,  Anspielungen,  Andeutungen  und  versteckten  Fragen, 
daß  Nissen  in  dieser  Versammlung  über  Waiden  Mittei- 
lungen gemacht  hatte,  die  ihn  als  im  höchsten  Grade  schuldig 
hinstellen  sollten.  So  viel  des  Näheren  zu  erfahren  war,  stellten 
diese  Mitteilungen,  falls  Nissen  sie  nicht  beweisen  konnte,  Ver- 
leumdungen im  Sinne  des  §  187  D.  Str.-G.-B.  dar.  Anstatt  aber 
seine  Vorwürfe,  wie  es  die  Pflicht  eines  anständigen  Menschen 
ist,  klar  und  deutlich  zu  formulieren,  beging  der  Präsident  der 
Genossenschaft  die  Feigheit,  durch  versteckte  Andeutungen  den 
Anschein  zu  erwecken,  als  habe  Herwarth  Waiden  sich  in  seiner 
Geschäftsführung  unlauterer  Manipulationen  schuldig  gemacht. 

Herr  Nissen  hatte  früher  gegenüber  einer  schweren  Belei- 
digung durch  den  Intendanten  a.  D.  Dr.  Bürklin  auf  dessen 
gerichtliche  Belangung  öffentlich  verzichtet,  weil  der  Beleidiger 
vermutlich  den  Schutz  des  §  193  D.  Str.-G.-B.  (Wahrnehmung 
berechtigter  Interessen)  in  Anspruch  nehmen  werde. 


25 


Da  Herr  Waiden  befürchten  mußte,  daß  Nissen  gegenüber 
seinem  (Waldens)  Vorwurf  der  Verleumdung  sich  wiederum  auf 
jenen,  seinein  Gegner  zustehenden  §  193  berufen,  also  eine  ge- 
richtliche Aufdeckung  des  Tatbestandes  vermeiden  würde,  erhob 
ich  in  einem  an  alle  Delegierten  versandten  Zirkularschreiben 
gegen    Herrn    Nissen   den  Vorwurf   der  Lüge   und  Verleumdung. 

Obwohl  Herr  Nissen  wußte,  daß  mir  der  Schutz  des  §  193 
nicht  zustand,  obwohl  er  wußte,  daß  mein  Angriff  wegen  der 
beleidigenden  Form  unbedingt  zu  einer  Verurteilung  führen 
mußte,  hat  er  mich  nicht  verklagt.  Statt  dessen  erschien  im 
.Neuen  Weg'  eine  lendenlahme  Erklärung,  worin  der  Zentral- 
ausschuß der  Genossenschaft  bemerkte,  man  werde  auf  derartige 
> Schreibereien«  nicht  eingehen.  Daß  ihr  Präsident  auf  den  öffent- 
lichen Vorwurf  der  Lüge  und  Verleumdung  nicht  reagiert,  blieb 
durch  diese  harmlose  Charakterisierung  meines  schweren  Vorwurfs 
den  Genossenschaftern  unbekannt. 

Daraufhin  erhob  Waiden  gegen  Nissen  die  Beleidigungsklage. 
Er  wußte  zwar,  daß  Nissen  mit  ziemlicher  Sicherheit  der  Schutz 
des  §  193  zustehe,  hoffte  aber,  daß  Nissen  sich  nicht  auf  diesep 
Paragraphen  berufen  werde,  und  wollte  auf  keinen  Fall  das  tun, 
was  Nissen  im  Falle  Bürklin  getan  hatte. 

In  der  gerichtlichen  Verhandlung  vom  16.  Oktober  1909 
hat  sich  Nissen  auf  den  Schutz  des  §  193  berufen.  Das  Gericht 
hat  ihm  den  Schutz  der  Wahrnehmung  berechtigter  Interessen  zu- 
erkannt, und  Nissen  hat  es  wiederum  durchgesetzt,  sich  einer 
gerichtlichen  Aufdeckung  der  Wahrheit  zu  entziehen. 

Ich  stelle  fest: 

Herwarth  Waiden  sowohl  wie  ich  haben  bis  jetzt  alles  getan, 
um  eine  gerichtliche  Klarstellung  zu  erreichen. 

Nissen  hat  bis  jetzt  alles  getan,  um  einer  gerichtlichen  Klar- 
stellung aus  dem  Wege  zu  gehen. 

Allen  jenen  nun,  die  nicht  bereit  sind,  unter  dem  Deckmantel 
der  Humanität  Vertragsverletzungen,  Verleumdungen  und  Wahr- 
heitsunterdrückungen zu  begehen  oder  zu  dulden,  lege  ich 
die  Fragen  vor: 

Wenn  Nissen  im  Recht  ist,  warum  hat  er  Waldens  Forde- 
rungen., befriedigt?  Warum  verteidigt  er  sich  im  Geheimen,  scheut 
er  die  Öffentlichkeit;  sucht  er  noch  jetzt  die  Gründe  der  Entlassung 
geheim  zu  halten;  geht  er  jeder  gerichtlichen  Klarstellung,  die 
Waiden  wünscht,  aus  dem  Wege.  Warum  ist  gegen  Waiden  bei 
seiner  Entlassung  keiner  jener  schweren  Vorwürfe  erhoben  worden? 
Ist  keinem  einzigen  der  Delegierten  aufgefallen,  das  Nissen  ihnen 
Dinge  mitgeteilt  hat,  die  er  selbst  erst  nach  der  Entlassung 
erfahren  haben  konnte?  Daß  Nissen  ihnen  keinen  einzigen  jener 
lächerlichen  Entlassungsgründe  genannt  hat,  die  Waiden  am 
14.  Februar  bekanntgegeben  wurden? 

Der  Orts- Verband  des  Deutschen  Theaters  hat  mich  für  den 
kommenden  Delegiertentag  zum  Delegierten  gewählt.  Ich  irre  mich 
wohl   nicht,   wenn   ich  befürchte,   daß   man  wie   bisner   mit  den 


—  26 


unwürdigsten  Mitteln  dagegen  kämpfen  wird,  daß  durch  mich  die 
Wahrheit  an  den  Tag  kommt.  Ich  werde  trotzdem  mit  allen 
Mitteln  des  menschlichen  Anstands  an  der  Aufdeckung  der  Wahrheit 
arbeiten.  Das  sittliche  Niveau  derer,  die  mich  dafür  mit  dem 
leisesten  Worte  tadeln,  trägt  alle  Schuld.  Daß  die  Affäre  für  die 
im  Kampfe  gegen  die  Direktoren  (die  auch  ich  bekämpfe)  stehende 
Genossenschaft  mehr  als  unerquicklich  ist,  weiß  ich.  Ich  weiß 
auch,  daß  die  Leitung  der  Genossenschaft  mehr  verdecken  will, 
als  einen  von  einer  humanitären  Anstalt  begangenen  beispiellosen 
Rechtsbruch.  Aber  gerade  aus  diesem  Grunde  werde  ich  jetzt,  als 
Delegierter,  zu  überzeugen  versuchen,  daß  durch  Verschleierung 
skandalöser  Ereignisse  und  Zustände  mehr  Unglück  angerichtet 
wird,  als  durch  Aufdeckung  der  Wahrheit,  die  nur  den  wenigen 
zum  Schaden  gereicht,  die  sich  ihr  widersetzen. 

Da  ich  wie  bisher  eine  gerichtliche  Verhandlung  wünsche, 
wiederhole  ich: 

In  der  Delegierten-Versammlung  vom  8.  April  1909  hat  der 
Präsident  der  Genossenschaft  Deutscher  Bühnen-Angehöriger  in 
Beziehung  auf  Herrn  Herwarth  Waiden  verschiedene  Tatsachen 
Behauptet.  So  weit  sie  wahr  sind,  handelt  es  sich  um  die  not- 
wendigen und  selbstverständlichen  Maßnahmen  eines  Organisators 
und  Redakteurs,  die  Herr  Nissen  mit  dem  Pathos  eines  dem 
Verlags-  und  Redaktionswesen  fremd  Gegenüberstehenden  auf- 
gebauscht hat.  Sonst  hat  Herr  Nissen  in  dieser  Versammlung  Tatsachen 
behauptet,  die  geeignet  sind,  Herrn  Herwarth  Waiden  verächtlich 
zu  machen,  in  der  öffentlichen  Meinung  herabzuwürdigen  und 
seinen  Kredit  zu  gefährden.  Er  hat  es  wider  besseres  Wissen  getan. 

Berlin.  Rudolf  Blümner. 

Es  ist  mir  peinlich,  mich  mit  der  Person  des  für  mich 
völlig  interesselosen  Herrn  Hermann  Nissen  fortgesetzt  beschäftigen 
zu  müssen.  Nur  seine  gegenwärtige  Eigenschaft  als  Präsident  der 
Genossenschaft  Deutscher  Bühnenangehöriger  zwingt  zur  Beachtung 
seiner  Tätigkeit.  Soweit  sie  mich  betraf,  bestand  sie  in  einem  Vertrags- 
bruch. Da  mir  nach  dem  Vorgefallenen  die  Lust  zu  einer  weiteren 
durch  die  Gerichte  zu  erzwingenden  Zusammenarbeit  mit  Herrn 
Nissen  abging,  nahm  ich  einen  Vergleich  an,  der  meine  Forde- 
rungen völlig  befriedigte.  Trotzdem  beliebte  es  Herrn  Nissen,  in 
einer  üeheimversammlung  der  Delegierten  der  Genossenschaft 
Deutscher  Bühnenangehöriger  unwahre  Tatsachen  über  mich  zu 
verbreiten.  Dies  wurde  durch  meine  Beleidigungsklage  neuerdings 
festgestellt.  Statt  den  Wahrheitsbeweis  für  seine  Behauptungen  zu 
erbringen,  versteckte  sich  Herr  Nissen  sorgsam  hinter  den  §  193 
des  Deutschen  Strafgesetzbuches  (Wahrnehmung  berechtigter  Inter- 
essen). Gründe  zu  meiner  Entlassung  als  Schriftleiter  des  ,Neuen 
Wegs'  waren  nie  vorhanden.  Sie  mußten  also  erfunden  werden. 
.  Gegenüber  der  Taktik  des  Herrn  Nissen,  die  ganze  Ange- 
legenheit auf  ein  geschäftliches  Gebiet  zu  schieben,  betone  ich : 
Nur  die  ernste  literarische  Haltung   des  ,Neuen  Wegs'  führte  zur 


27 


»Katastrophen  Wiewohl  sie  durch  Vorverhandlungen  und  Ver- 
trag beschlossen  war.  Zur  Leitung  eines  offenbar  gewünschten 
Familienblattes  hätte  ich  mich  nie  erboten.  Meine  Mitarbeiterliste 
lag  dem  Präsidium  vor.  Sie  wurde  anstandslos  gebilligt.  Konnte 
ich  ahnen,  daß  Herr  Nissen  nie  etwas  von  Strindberg,  Lublinski, 
Wied,  Scheerbart  u.  s.  w.  gelesen  hatte?  Von  diesen  Autoren  enthielten 
die  drei  von  mir  redigierten  Nummern  des  ,Neuen  Wegs'  Beiträge. 
Sie  gefielen  Herrn  Nissen  nicht.  Und  deshalb  wurde  ich  entlassen. 

Ich  kann  kein  Pathos  gegenüber  diesen  Tatsachen  aufbringen. 
Aber  etwas  Humorvolles  soll  doch  *  noch  den  alten  Weg  in  die 
Öffentlichkeit  finden,  weil  es  charakteristisch  für  die  Tätigkeit  des 
Herrn  Nissen  ist.  Ich  hatte  für  die  zweite  Nummer  des  ,Neuen 
Wegs'  einen  Beitrag  von  Rene  Schickele  >Am  Grabe  Coquelins< 
angenommen.  Die  Veröffentlichung  wurde  mir  (vertragswidrig) 
»untersagt«,  mit  der  Motivierung,  sie  beleidige  den  deutschen 
Schauspielerstand.  Drei  Wochen  später  erschien  der  Essay  in  der 
,Neuen  Rundschau'  (seinetwegen  war  eine  halbe  Auflage  des 
,Neuen  Wegs'  eingestampft  worden).  Und  im  neunten  Heft  des 
,Neuen  Wegs'  wird  der  Essay  aus  der  , Neuen  Rundschau'  zum 
größten  Teil  abgedruckt!  Aber  noch  nicht  genug.  Der  Beitrag 
war  in  Form  einer  Rede  eines  deutschen  Schauspielers  gehalten 
und  schloß  mit  den  Worten:  »Solche  Selbstverständlichkeiten 
sprach  ein  deutscher  Schauspieler  am  Grabe  Coquelins«.  Die 
Redaktion  des  ,Neuen  Wegs',  der  ein  sogenannter  »Überwacher« 
beigesellt  ist,  hielt  die  Rede  für  wirklich  gehalten  und 
fügte  hinzu:  »Rene  Schickele  bemerkt  in  der  ,Neuen  Rundschau' 
Heft  3:  Die  Franzosen  sehen  erstaunt  auf  den  Deutschen,  der 
sich  in  solchen  Selbstverständlichkeiten  entlud.  Wir  freuen  uns, 
daß  Herr  Scbickele  u.  s.  w.«  Man  war  also  auf  dem  Präsidium 
der  Meinung,  daß  die  ,Neue  Rundschau'  Reden  irgendeines  Schau- 
spielers abdruckt  und  der  unterzeichnete  Autor  eine  gleichgiltige 
Bemerkung  dazu  macht. 

Diese  Herren  waren  berufen,  meine  redaktionelle  Tätigkeit 
zu  »überwachen«.  Ich  kann  kein  Pathos  dazu  aufbringen.  Aber  wie 
schützt  man  sich  gegen  die  »Wahrnehmung  berechtigter  Interessen«  ? 

Berlin.  Herwarth  Waiden. 

Die  berechtigten  Interessen  der  Verleumdung 
und  die  unberechtigten  Interessen  der  Ehre:  das  ist 
ein  spannendes  Kapitel  der  deutschen  Justiz.  Be- 
rechtigt sind  die  Interessen  des  Brotgebers,  der  einen 
Angestellten  grundlos  beschuldigt.  Er  ist  ein  un- 
erbittlicher Altruist,  denn  er  bewahrt  seine  Berufs- 
genossen vor  Schaden,  selbst  um  den  Preis  der 
Existenz  des  Angestellten.  Wer  im  öffentlichen  In- 
teresse ein  Wort  zu  viel  gesagt  hat,  wird  verurteilt, 


—  28  — 

weil  öffentliche  Interessen  keine  berechtigten  In- 
teressen sind.  Er  mischt  sich  in  Dinge,  die  ihn  nichts 
angehen.  Geschäftliche  Interessen  aber  machen 
jede  Verleumdung  straflos.  In  Österreich  ist  solche 
Grenzbestimmung  der  Ethik  dem  freien  Ermessen 
der  Geschwornen  überlassen;  in  Deutschland  ist  sie 
durch  Entscheidung  des  Reichsgerichts  den  gelehrten 
Richtern  vorgeschrieben.  Derlei  Justizkatastrophen 
spornen  mich  längst  nicht  mehr  zur  Hilfeleistung, 
weil  ich  mich  bei  dem  Glauben  an  eine  Weltord- 
nung, der  man  ein  paar  Schurken  und  ein  paar 
Dummköpfe  glücklich  exstirpiert  hätte,  nicht  mehr 
beruhigen  könnte.  Immerhin  ist  meine  Erinnerung 
an  die  Tage  des  Glaubens  stark  und  wertvoll  genug, 
um  fremder  Klage  Raum  zu  geben,  wenn  der  Mensch, 
den  ich  dem  >Übelstand«  geopfert  sehe,  der  Beach- 
tung wert  ist.  Herr  Herwarth  Waiden  ist  es.  Er  macht 
im  Stillen  Musik  und  Lärm  für  die  Musik  der  An- 
dern. Er  hat  den  »Verein  für  Kunst«  gegründet  und 
hat  von  einer  großen  Fähigkeit,  sich  zu  begeistern, 
und  von  einem  kleinen  Besitz  an  Nervenkraft  und 
sonstigen  Lebensgütern  nichts  für  sich  behalten,  um 
alles  an  die  undankbare  Aufgabe  zu  wenden,  den 
Künstlern  zu  einem  Publikum,  an  die  trostlose  Auf- 
gabe, einem  Publikum  zu  den  Künstlern  zu  verhelfen. 
Die  literarische  Propaganda  der  Tat,  die  ein  Handwerk 
der  Routiers  und  Schwindler  geworden  war,  hat  durch 
ihn  ihre  Ehre  wiedergewonnen.  Aber  die  Ehre  dieses 
Ehrlichen  sollen  wir  einem  Komplott  formalistischer 
Geistlosigkeit  und  standesbewußter  Bosheit  geopfert 
sehen.  Das  wollen  wir  nicht.  Und  wollen  eintreten, 
wo  eine  luderige  Berichterstattung  es  versäumt  hat, 
die  Polgen  juristischer  Mechanik  durch  die  laute 
Feststellung  gutzumachen,  daß  der  Freispruch  des 
Beleidigers  durch  keinen  Wahrheitsbeweis  erfolgt  ist. 
Jener  Herr,  der  die  verbürgerlichende  Tendenz  des 
deutschen  Schauspielerstandes  vertritt,  scheint  es 
für  weniger  erstrebenswert  zu  halten,  daß  seine  Berufs- 
genossen eine  Ehre  erhalten,   als  daß  sie  sie  straflos 


-  29 


anderen  nehmen  dürfen.  Und  er  weiß  sich  bei  solcher 
Ambition  der  Unterstützung  der  deutschen  Presse 
sicher.  Denn  dieser  genügt  es,  daß  die  deutschen 
Schauspieler  in  Furcht  vor  dem  letzten  Nachtreporter 
aufwachsen,  und  sie  läßt  es  hingehen,  wenn  sie 
dafür  gegen  einen  Künstler  frech  werden.  Die  Leute, 
die  >Komödche«  spielen,  sind  Bürger  geworden 
und  haben  somit  alle  Prärogativen  des  Bürgers. 
Sie  verachten  die  Narren,  die  für  die  Kunst  leben 
und  von  ihr  nicht  leben  können.  Sie  verachten 
die  Kolleginnen,  die  für  die  Liebe  leben  und  sich 
die  Toiletten  durch  eine  Prostitution  erwerben,  die 
beiläufig  hundertmal  ehrenvoller,  gesünder  und  natur- 
gemäßer ist  als  das  soziale  Bewußtsein  von  Männern, 
die  den  schäbigsten  Revolverjournalisten  >Doktor« 
titulieren.  Die  Sittlichkeit  ist  es,  in  der  jetzt  ein 
Komödiant  einen  Pfarrer  lehren  könnte.  Aber  darum, 
weil  man  heute  vor  ihnen  die  Wäsche  nicht  mehr 
in  Sicherheit  bringt,  sondern  ihnen  im  Gegenteil  das 
sächsisch-ernestinische  Hauskreuz  umhängt,  sollten 
sie  nicht  üppig  werden  und  in  der  Wahrung  berech- 
tigter Interessen  es  nicht  zu  weit  treiben.  Noch  gibt 
es  faule  Äpfel,  und  wir  könnten  einmal  Lust  ver- 
spüren, sie  gegen  Leute,  die  in  Delegiertenversamm- 
lungen verständlicher  sprechen  als  auf  der  Bühne, 
unter  dem  Schutze  des  §  193  hervorzuholen. 

Karl  Kraus. 


Wer  war  denn  dabei?  Was  ist  denn  dabei! 

0 

Von  Karl  Kraus 

Der  Geheimrat  v.  Leyden  soll  wegen  jener 
Affäre,  in  der  etlichen  Berliner  Kapazitäten  ein  ge- 
wisser Übereifer  im  Streben  nach  Erweiterung  ihrer 
Klientel    nachgewiesen    werden    konnte,    diszipliniert 


30  — 


worden  sein.  In  Wien  liegen  die  Verhältnisse  anders. 
Da  die  Hebung   des  Fremdenverkehrs  eine  Herzens- 
sache  der  Wiener  Bevölkerung   ist,   so  würde  keine 
medizinische  Instanz   dem   Herrn   Professor  Noorden 
einen  Vorwurf  machen,  wenn  er  der  Anziehungskraft, 
die  schon  sein  Name  ausübt,  etwa  noch  durch  Zutreiber 
ein  wenig  nachhelfen  wollte.  Ich  habe  nie  einen  der  aus 
Warschau  eintreffenden  Schnellzüge  auf  dem  Perron 
des  Nordbahnhofs  erwartet  und  darum  nie  feststellen 
können,    ob    unter   den    von    den  Lohndienern   aus- 
gerufenen Gasthöfen    sich   auch   das  Sanatorium  des 
Herrn  Noorden   befindet.     Ich   bin  aber  davon  über- 
zeugt, daß  es  nicht  der  Fall  ist.  Denn  abgesehen  von 
der   Selbstlosigkeit   der  Hotelportiers    und  Fremden- 
führer, die  auch  einem  andern  Wirtsgeschäftgelegentlich 
etwas  zukommen  lassen,  scheint  mir  die  Insertion  allein 
vollkommen    auszureichen,    um  den  Ruf  der  Wiener 
Wissenschaft   im  Ausland  zu  verbreiten.     Zumal  die 
auf    dem    Noordenbahnhof   ankommenden    Fremden 
dürften    sich    einer   Empfehlung    der    , Neuen  Freien 
Presse*    nicht  unzugänglich    zeigen,  und   selbst  jene 
unter   ihnen,    die    das    Grand   Hotel   und   das  Hotel 
Imperial  bereits  kennen,  werden  heute  nicht  zögern, 
dem  Cottage-Sanatorium  den  Vorzug  zu  geben.  Denn 
während     die     Gäste     jener    anderen     hygienischen 
Institute  bloß  in  die  Fremdenliste  des  , Fremdenblatts' 
kommen,     haben     die     Passagiere,     die    im    Hotel 
des   Herrn  Professors   Noorden   absteigen,   Aussicht, 
im    redaktionellen    Teil    der    ,Neuen    Freien   Presse* 
genannt  zu  werden.   Was  abgesehen  von  den  teuren 
Preisen,    den  Konzerten  und  der  gelegentlichen  teil- 
nahmsvollen Erkundigung   des  Herrn  Noorden   nach 
dem  Stuhlgang  gewiß  eine  große  Annehmlichkeit  ist. 
Leider  wird  diese  nicht  von  allen  Reisenden  gewürdigt, 
und   während    sich    zum    Beispiel    der    akademische 
Senat   und  sogar   das  Gremium  der  Hoteliers  längst 
mit   einem  Etablissement  abgefunden  haben,  das  als 
den  höchsten  Komfort  der  Neuzeit  eine  weltstädtische 
Reklame      bietet,     haben      sich      einige     Patienten 


—  31  — 


entschlossen,    sich   bei   mir   über   die   Unverschämt- 
heit   zu    beschweren,   mit    der    man     ihre    Namen 
ohne  ihre  Erlaubnis   in    die   Zeitung  setzte.     Es  hat 
sich   nämlich   ereignet,   daß  die  Bezeichnung  > Sana- 
torium« auch  ein  paar  Kranke  anlockte,    die  mit  der 
Absicht,  ihr    Leiden    vor   Vätern,   Söhnen,    Bräuten, 
Freunden   oder  Feinden   zu   verbergen,   sich  in  eine 
Heilanstalt     zurückziehen     wollten,     um    dort    ihre 
Genesung    abzuwarten     und     dann    zu     ihrer     alten 
Lebensweise    wieder    zurückzukehren.     Sie     hatten 
aber    ihre  Rechnung,    auf    deren  Höhe    sie    ja    ge- 
faßt waren,  ohne  den  Wirt  gemacht,  der  das  Cottage- 
Sanatorium  leitet.    Sie  wurden    entdeckt,    die  ,Neue 
Freie  Presse'  hatte  ihre  Namen  in  der  wöchentlichen 
Besucherliste  veröffentlicht.  Ich  habe  diesen  Patienten 
den  Rat  erteilt,  künftig   ihre   Krankheiten  auch  vor 
den  Ärzten  zu  verheimlichen,  weil  sie  nur  dann  sicher 
sein  könnten,  daß  das  ärztliche  Berufsgeheimnis  gewahrt 
wird;  diesmal  aber  die  gerichtliche  Anzeige  zu  erstat- 
ten, weil  ich  nämlich  der  Ansicht  bin,  daß  ein  Arzt 
nicht  nur  über  die  Art  der  Erkrankung  seines  Klienten, 
sondern    auch    über    die    Tatsache    der  Erkrankung 
das  Maul   zu   halten  hat.  Wir  in  Wien  haben  es  vor 
ein    paar    Monaten    erlebt,     wie     Sanatoriumsleiter, 
Samariter   und   dergleichen  Mitarbeiter  der  liberalen 
Presse     sich     ihrer     Diskretion     rühmten     und     die 
Fälle  andeuteten,  an  denen  sich  diese  bewährt  hatte. 
Wir  sind  also  gegen  die  Zumutungen  der  ärztlichen 
Ethik   schon  ein    wenig   abgehärtet.   Die  Veröffent- 
lichung   der  Patientenliste    eines  Sanatoriums   aber 
dürfte  wohl  selbst  das  ortsübliche  Maß  medizinischer 
Moral  insanity  übersteigen.   Der  Meldezwang  in  den 
Gasthöfen  wird   manchmal  lästig  genug  empfunden, 
und  bei  aller  Einsicht,  daß  die  Polizei  eine  Kontrolle 
der  Hochstapler  braucht,  dürfte  man  nicht  immer  von 
einer  Publikation  seines  Namens  in  der  Fremdenliste 
erbaut  sein.  Muß  aber  der  Kranke,  der  sich  in  eine  Mast- 
kur    zu     Herrn     Professor     Noorden      begibt,     es 
sich  gefallen  lassen,  daß  am  nächsten  Tag  die  Be- 


—  82  — 

völkerung  einer  Großstadt  teilnahmsvoll  nach  seinem 
Leidenslager  blickt?  Die  medizinischen  Instanzen, 
die  in  Berlin  über  die  Ehre  der  Wissenschaft  zu 
wachen  haben,  beurteilen  Ansehen  und  Alter  jener, 
die  sich  an  ihr  versündigen,  nicht  als  Entschuldigung, 
sondern  als  Vermehrung  der  Schuld.  Hier  in  Wien, 
wo  die  Welt  schon  auf  dem  Krepierstandpunkt 
geboren  ist  und  wo  man  sich  vor  jeder  neuen 
Häßlichkeit  mit  einem  >Eh  schon  alles  wurscht<  oder 
»Was  ist  denn  dabeiU  auf  die  andere  Seite  legt,  um 
weiter  zu  schnarchen,  hier  wäre  die  Enthüllung  eines 
Systems  von  Patientenschacher  kaum  einen  akademi- 
schen Rülpser  wert.  Was  ist  denn  dabei  1  Und  daß 
die  Alma  mater  eine  Pensionsmutter  ist,  welche  die 
Kunden,  die  sie  einlangt,  auch  noch  ausruft,  ist  uns 
keine  erhebliche  Sensation.  Die  einzige  Regung,  die 
sie  weckte,  wäre  das  Bedauern,  daß  wir  nicht  auch 
die  Namen  der  Krankheiten  in  der  Zeitung  zu  lesen 
bekommen.  Denn  die  Menschen  dieser  Stadt  sind  auf 
das  Genanntwerden  eingerichtet.  Nicht  die  wenigen 
von  großem  Wuchs,  die  da  leben  und  sterben,  ohne 
daß  die  kleine  Chronik  von  ihnen  Notiz  nimmt.  Aber 
die  vielen,  die  dabei  sind,  wenn  Herr  Bl^riot  fliegt, 
oder  sonst  etwas  geschieht.  Wer  war  denn  dabei? 
fragen  wir,  und  alle,  alle,  ob  Ärzte  oder  Patienten, 
werden  dann  genannt.  Die  Frau  Pinkeies  trug  ein 
taillor-made-Kleid  und  eine  Toque  ä  la  Turque,  und 
der  kleine  Advokat  mit  dem  Doppelnamen  —  für  den 
Fall,  daß  der  eine  durch  einen  Druckfehler  ver- 
stümmelt wird  —  war  auch  dabei.  Immer  ist  er  dabei, 
wenns  einen  Fortschritt  der  Menschheit  zu  erringen 
gilt,  immer,  immer,  und  wenn  darob  die  große  Flucht 
der  Menschheit  vor  dem  Fortschritt  anheben  wird, 
ist  er  dabei,  und  alles,  was  nicht  Namen  hat,  aber 
genannt  wird.  Was  ist  denn  dabei! 


Herausgeber    und    verantwortlicher     Redakteur:     Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,   Wien,   III.  Hintere  Zollamtsstraße  3 


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Berliner  Bureau:  Halensee,  Katharinenstraße  5 


I  1 1 1 1 II  ii  II I  I  I  1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1  m  1 1 1 M 


Inhalt  der  vorigen  Nummer  289,  25.  Oktober  :  Luft- 
gaukler. Von  Karl  Kraus.  -  Aus  dem  Papierkorb.  Von  Karl 
Kraus.  -  Der  Schatten.  Von  Otto  Stoessl.  —  Bekannte  aus 
dem  Variete.  Von  Karl  Kraus.  —  Glossen.  Von   Karl   Kraus. 


mnim>t»t>iin>iMi»n>(M  »»««««»»»««»«»«« 


Kraus 
utsstr.  3 


iNUVCMDCK     ItfUU 


AI.    JrxflK 


HERAUSGEBER: 


KARL  KRAU 


INHALT: 

Sie  gehören  zusammen!  —  Sie  gehören  nicht 
zusammen !  —  Der  Giftmord,  die  Moral  und 
der  Postverkehr.  —  Glossen.  —  Schrecken  der 
Unsterblichkeit.     Sämtliche    Beiträge    von    Karl 

Kraus. 


PREIS  DER  EINZELNEN  NUMMER  30  HELLER 
ERSCHEINT    IN    ZWANGLOSER    FOLGE 


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Die  Fackel 

Nr.  291  30.  NOVEMBER  1909  XI.  JAHR 


Sie  gehören  zusammen! 
Von  Karl  Kraus 

Die  »Concordia«,  der  Verein  gegen  Verarmung 
und  für  Bettelei,  hat  also  richtig  dank  der  sinnigen 
Erfindung,  sich  am  gleichen  Tag  in  die  Welt  zu 
setzen,  den  größeren  Teil  der  Schillerehren  ab- 
bekommen. Ihr  Präsident,  jener  emeritierte  Börsen- 
redakteur des  Herrn  Benedikt,  von  dem  das  geflü- 
gelte Wort  stammt:  »Ich  lass'  mich  nicht  länger 
sekieren,  ich  geh,  ich  hab'  genug !<,  hielt  eine  Fest- 
rede, in  der  er  ausdrücklich  dementierte,  daß  der 
Idealismus  tot  sei,  und  rief:  »Sind  denn 
die  Menschen,  denen  die  Errungenschaften  der 
Freiheitskämpfer  in  den  Schoß  fielen,  wirklich  alle- 
samt dem  reinen  Eigennutz,  der  nackten  Selbstsucht 
Untertan?  Ich  wage  es,  die  Frage  zu  verneinen  .  .  . 
Ich  bestreite  entschieden,  daß  die  neue  Generation 
dem  herzlosen  Materialismus  verfallen  sei«.  Man 
blicke  nur  um  sich.  Im  Leitartikel  und  im  Feuilleton 
zeige  sich  »neben  vollendeter  Darstellung  stupendes 
Wissen,  Scharfsinn,  sprühender  Geist,  Liebreiz  und 
feinster  Geschmack.  Selbst  kleine  Tagesnotizen  sind 
oft  literarische  Kabinettsstücke,  die  den  Meister  der 
Sprache,  die  den  Dichter  verraten«.  Auf  diese  Eröff- 
nung hin  konnte  sich  der  Ministerpräsident  Freiherr 
v.  Bienerth,  den  man  unter  den  Anwesenden  be- 
merkte, nicht  länger  zurückhalten.  Er  rief  aber  nicht 
etwa:  »Ich  hab'  genug!«;  wie  er  denn  auch  in  seiner 
amtlichen  Tätigkeit  noch  immer  jener  Gefühlsregung 
ausweicht,    die   sich   in    dem  Entschluß  ausdrücken 


—    2    — 

ließe:  »Ich  geh'!«.  Im  Gegenteil.  Er  ließ  ein  Lied 
auf  die  Wiener  Presse  aus  der  Kehle  dringen,  von 
dem  er  in  seiner  Anspruchslosigkeit  gewiß  glaubte, 
daß  es  Lohn  sei,  der  reichlich  lohnet.  Aber  er  hatte 
die  Rechnung  ohne  den  Wirt  gemacht,  der  ihm  noch 
draufzahlte.  Wie  mag  er  überrascht  gewesen  sein, 
als  er  schon  am  nächsten  Tage  sich  extra  be- 
lohnt und  als  genialen  Staatsmann  in  eben  jenen 
Blättern  gefeiert  sah,  die  ihm  bis  dahin  auch  nur 
die  bescheidensten  Fähigkeiten  abgesprochen  hatten. 
Wahrlich,  er  hatte  ein  Recht,  zu  sagen,  die  »Con- 
cordia«  zähle  heute  »zu  den  stolzesten  Schöpfungen 
des  Mutualismus  in  Österreich«.  (Stürmischer  Beifall). 
Wohl,  er  hatte  ein  Recht  zu  behaupten,  »das  ganze 
öffentliche  Leben  der  Epoche«  sei  »auf  Publizität  auf- 
gebaut«. Und  wahre  Publizität  werde  heute  »fast  nur 
noch  durch  die  Presse  vermittelt,  lebe  nur  in  der 
Presse  und  durch  die  Presse«.  Zweifellos.  Denn  was 
nützt  es  dem  Herrn  v.  Bienerth,  daß  das  Gerücht 
von  seinen  staatsmännischen  Fähigkeiten  im  Wege 
des  Tratsches  christlichsozialer  Hausmeisterinnen 
verbreitet  wird?  Wenns  in  der  Judengasse  nicht 
kolportiert  wird,  also  nicht  schwarz  auf  weiß 
zu  lesen  ist,  kann  eine  österreichische  Regie- 
rung mit  den  schönsten  Talenten  Pleite  machen. 
Darum  muß  ein  österreichischer  Minister  von  Zeit 
zu  Zeit  die  Gelegenheit  wahrnehmen,  der  »Neuen 
Freien  Presse*  zu  sagen,  daß  er  ohne  sie  nicht 
regieren  könne,  ja,  wenns  sein  muß,  daß  er  ohne 
sie  nicht  frühstücken  könne.  Und  von  Zeit  zu  Zeit 
muß  ein  österreichischer  Minister  sich  genau  so  ge- 
bärden, als  ob  er  der  bekannte  Schabbes-Goi  wäre,  jener 
Funktionär,  den  die  liberalen  Redaktionen  sich  halten, 
damit  er  an  hohen  Festtagen  die  den  Redakteuren 
unerlaubten  Handlungen  für  sie  verrichte,  oder  solche, 
die  sie  selbst  nur  mit  geringerer  Autorität  verrichten 
könnten.  Wenn  es  nun  die  Unschuld  des  Hilsner  oder 


—  3  — 

die  Denkmalswürdigkeit  Heines  gilt,  genügt  in  der 
Regel  Herr  Pötzl  als  Eideshelfer  oder  sonst  ein  boden- 
ständiger Jochanaan,  den  der  Redaktionsherodes  in 
der  Zisterne  schmachten  läßt,  bis  er  eines  Tages  —  doch 
nicht  den  König  von  Cappadocien  meint.  Die  ,Neue 
Freie  Presse'  verschreibt  sich  für  solche  Zwecke 
einen  arischen  Hofrat  und  fünf  Ärzte,  die  eidlich  be- 
gutachten. Jetzt  aber  haben  Siemes  alle  zusammen  bis 
zum  Ministerpräsidenten  gebracht,  der  bei  einem  so 
außerordentlichen  Anlaß,  wie  dem  des  fünfzigsten  Ge- 
burtstages des  Journalistenvereins,  der  berufene 
Mann  ist,  der  Welt  zu  sagen,  daß  der  Reinertrag  der 
kulturellen  Entwicklung  der  » Concor dia«  zufällt.  Daß 
die  deutschen  Dichter  und  alle  anderen  abhängigen 
Kaufleute,  Musikanten  und  Komödianten  mit  ihrem 
Glückwunsch  aufwarten,  ist  gar  nichts.  Solche  Heer- 
schau bietet  auch  die  Präsenzliste  eines  gewöhnlichen 
Concordiaballes  oder  der  Inhalt  seiner  Damenspende. 
Daß  ein  Gerhart  Hauptmann,  bekanntlich  »Deutsch- 
lands erster  Dichter«,  die  Concordia  die  »große 
Kulturträgerin«  nennt,  ist  auch  noch  nicht  viel,  und 
nicht  einmal,  daß  er  sich  ihren  sprachlichen  An- 
regungen dankbar  erweist,  indem  er  »das  Wachsen 
und  Blühen  der  Concordia  aufrichtig  beglückwünscht«. 
Auch  ist  es  noch  immer  kein  Ereignis,  daß  Herr 
Bernhard  Shaw,  der  schon  bald  den  Trebitsch  wird 
ins  Deutsche  übersetzen  können,  die  feinsinnige  Be- 
merkung macht,  er  beglückwünsche  die  Concordia 
»nicht,  weil  sie  sechzig  Jahre  alt  ist,  sondern  weil 
sie  ihre  Jugend  mit  jeder  neuen  Journalistengeneration 
erneuert«  ;  nicht  ohne  die  Pointe  hinzuzufügen,  je 
jünger  sie  sei,  desto  besser  verstehe  sie  seine  Stücke. 
(Der  Schäker!)  Und  nicht  einmal  die  Carmen  Sylva 
macht  mit  ihrem  Sprüchlein  das  Kraut  fett,  wiewohl 
ihr  so  wirtschaftliche  Abwechslung  in  ihrem  Dichter- 
leben immerhin  gut  anschlüge.  Ja,  selbst  der  Archivar 
Albert  Josef  Weltner,    der    wie  der  gute  Krondorfer 


nie  auf  unserra  Geburtstagstische  fehlt,  dürfte  mit 
seinen  Versen  das  Selbstbewußtsein  der  »Concordia« 
noch  nicht  wesentlich  gehoben  haben.  Nichts,  was  sie 
nicht  schon  hundertmal  gehabt  hätte.  Aber  ein  öster- 
reichischer Ministerpräsident,  christlichsozialer  Sym- 
pathien dringend  verdächtig,  der  unter  sie  tritt  und 
ihr  faustdicke  Liebenswürdigkeiten  sagt  —  das  konnte 
sie  brauchen.  Er  suchte  nach  Genossen  der  Schmach. 
Er  langte  sichtlich  nach  Teilnehmern  der  Situation, 
deren  peinliche  Neuheit  er  fühlte.  Er  redete  sich  auf 
die  Epoche  aus,  er  berief  sich  auf  die  Entwicklung, 
er  appellierte  an  das  Schicksal,  er  holte  Tod  und 
Teufel  herbei,  um  nicht  so  ganz  nackt  unter  den 
Reportern  zu  stehen.  Da  verfiel  er  auf  die 
Wissenschaft.  Hat  sich  die  nicht  längst  schon  mit 
der  Presse  kompromittiert?  Jawohl,  »selbst  die  Wis- 
senschaft«, sagte  Herr  v.  Bienerth,  »erkennt  die  Presse 
heute  als  den  ebenbürtigen  jüngeren  Bruder  an,  der 
ihre  Geistesschätze  in  Scheidemünze  umprägt  und 
in  Verkehr  bringt«,  und  wies  in  sinniger  Weise  darauf 
hin,  daß  die  feierliche  Versammlung  von  Geschichten- 
trägern sich  im  Pestsaal  der  Akademie  der  Wissen- 
schaften breitmache.  Versteht  sich,  auch  der  große 
Bruder  ist  auf  Reklame  angewiesen,  und  wie  stünde 
der  Herr  Professor  Noorden  mit  seiner  Wissenschaft 
da,  wenn  ihm  die  ,Neue  Freie  Presse'  nicht  die 
Patientenliste  abdruckte  und  wenn  man  nicht  heute 
auch  die  Geistesschätze  nach,einem  bestimmten  Tarif  in 
Verkehr  zu  bringen  vermöchte.  Wobei  freilich 
bemerkt  werden  muß,  daß  die  Annahme  des  Minister- 
präsidenten, daß  dergleichen  gegen  Scheidemünze  zu 
erreichen  sei,  noch  immer  eine  gewisse  Geringschätzung 
der  Presse  bedeutet.  Davon  können  sich  die  offiziel- 
len Herren  eben  doch  nicht  ganz  freimachen.  Und 
wenn  sie  die  Presse  selbst  so  dringend  brauchen  wie 
der  Herr  v.  Bienerth.  Er  bekannte  seine  Notdurft  mit 
wohltuender  Aufrichtigkeit,  ja,    er   nahm   sich   kein 


—  5  — 

Blatt  vor  den  Mund,  als  er  allen  Blättern 
zum  Munde  sprach.  Er  begann  damit,  von 
den  »großen  Schwierigkeiten«  zu  erzählen,  die 
man  ihm  jetzt  in  der  österreichischen  Politik  mache, 
und  drückte  die  Überzeugung  aus,  daß  das  »erlösende 
Wort«  bald  gesprochen  würde.  »Von  dieser  Zuversicht 
erfüllt,  bin  ich  gerne  der  freundlichen  Einladung 
gefolgt,  in  Ihrer  Mitte  zu  erscheinen.«  Am  nächsten 
Tag  schon  stand  das  erlösende  Wort  in  den  Zeitungen. 
Es  war  ein  Erfolg,  als  ob  Herr  v.  Bienerth  die  An- 
trittsvisite des  Debütanten  in  den  Redaktionen  mit  einem 
einzigen  Bückling  nachgeholt  hätte.  Der  Wunsch, 
daß  sämtliche  Bureaux,  in  denen  die  Chefredakteure 
sitzen,  nur  einen  hintern  Aufgang  hätten,  schien 
erfüllt  zu  sein.  Der  Ministerpräsident  sollte  erfahren, 
daß  er  nicht  zu  viel  gesagt  habe,  als  er  der  Wiener 
Presse  außer  Geschmack  und  Anmut  auch  die  »Be- 
weglichkeit« nachrühmte,  die  in  ihren  Spalten  lebe, 
und  hervorhob,  es  sei  »das  Wunderbare  an  ihr,  daß 
sie  selbst  die  Wunden  heilt,  die  sie  schlägt«.  Sie  tat 
es.  Aber  sie  konnte  nicht  anders.  Der  Herr  hatte  ihr 
Komplimente  angetan,  auf  die  auch  die  anständigste 
Person  hereingefallen  wäre.  Er  hatte  sogar  alle  Ver- 
dächtigungen ihrer  Unschuld  abgewehrt,  um  sie 
dranzukriegen.  Und  er  hatte  beteuert,  daß  gerade 
die  Schönheitsfehler,  die  man  ihr  immer  vorwerfe, 
einen  erotischen  Reiz  auf  ihn  ausüben.  Was  ent- 
schuldigte er  nicht  alles!  »Selbst  der  Plural  der 
Majestät,  den  der  Journalist  anwendet«,  rief  er,  »ist 
nicht  der  Ausdruck  von  Stolz  oder  Überhebung, 
sondern  nur  ein  Zeichen  der  Hingebung  und  des 
Entsagens,  denn  in  diesem  ,Wir'  opfert  der  einzelne 
sein  ,Ich'  auf  und  läßt  seine  Persönlichkeit,  seine 
Individualität  ganz  im  Wesen  des  Blattes  aufgehen, 
dem  er  dient.«  Gewiß  ist  diese  Bordelltreue  ein  sym- 
pathischer Zug;  aber  ich  möchte  den  Wert  der  Persönlich- 
keiten und  Individualitäten  nicht  wägen,  die  das  Zeug 


—  6  — 

dazu  haben,  sich  der  Lebensaufgabe  einer  geistigen 
Madame  Riehl  unterzuordnen.  Liegt  Vergewaltigung 
der  Menschenwürde  vor,  geht  es  wirklich  um  den 
Verzicht  auf  Ruhm  und  Nachruhm,  wie  Herr 
v.  Bienerth  meint,  dann  hinaus  mit  einer  Regierung, 
die  anstatt  die  Gitterstäbe  des  publizistischen  Lebens 
zu  brechen  und  eine  strenge  Untersuchung  an- 
zuordnen, solchem  System  öffentlich  das  Wort 
redet  1  Natürlich  haben  wiederum,  wie  damals,  ein 
paar  Beamte  den  Vorteil  gehabt,  indem  sie  gratis 
zur  Liebe  gekommen  sind.  Pfui  Teufeil  > Generatio- 
nen stiller  Arbeiter  und  Diener  am  Wortec,  sagte 
dieser  Ministerpräsident,  »sind  dahingegangen,  und 
die  Presse  ist  immer  höher  gewachsen«.  Natürlich, 
die  Bordellmütter  sind  umso  reicher  geworden,  je 
widerspruchsloser  ihre  Opfer  sich  ausnützen  ließen. 
So  und  nur  so  fasse  ich  die  stille  Dienerschaft  am 
Wort  auf.  Denn  daß  Herr  v.  Bienerth  meinen  Apho- 
rismus kennt,  der  das  Wesen  des  Sprachkünstlers  in 
die  nämliche  Formel  faßt,  will  ich  nicht  glauben.  Er 
wird  doch  nicht  auch  noch  meine  Gedanken,  durch 
die  ich  die  Distanz  des  Künstlers  vom  Journa- 
listen abstecke,  zur  Verherrlichung  des  Journalismus 
verwenden  wollen?  Wehe  ihm!  Daß  die  Presse  durch 
den  »immer  großartiger  werdenden  Nachrichtendienst 
ein  unlösliches  Band  um  Völker  und  Staaten  schlingt«, 
mag  er  ihr  nachsagen.  Wenn  den  Bau  der  Welt 
sonst  nichts  zusammenhält,  mir  kanns  recht  sein. 
Einstweilen  scheint  aber  der  Nachrichtendienst  nicht 
die  Völker  untereinander,  sondern  bloß  die  Regierungen 
und  die  Redaktionen  zu  verbinden.  Gehören  wir  doch 
zusammen  1  sagte  Herr  v.  Bienerth,  als  er  beim  Fest 
der  Presse  erschien;  und  damit  hat  er  wahrlich  eine 
Wahrheit  ausgesprochen,  die  jenes  erlösende  Wort 
ist,  auf  das  die  Schwierigkeiten  der  Politik,  aber 
auch    die    Beschwerden  der   Kultur  gewartet  haben  1 


Sie  gehören  nicht  zusammen! 

Die  folgende  Gegenüberstellung  enthält  wie  durch  ein 
Wunder  alle  Sätze,  die  von  den  beiden  Staatsmännern  über  das- 
selbe Thema  gesprochen  worden  sind : 

v.  Bienerth:  v.  Bistnarck: 

Was  die  Zeitungen  über  mich 
schreiben,  das  ist  Staub,  den  ich 
mit  der  Bürste  abwische,  das  ist 
mir  gleichgiltig.  Ich  lege  nur  Wert 
auf  die  Geschichte,  was  die  später 
über  mich  sprechen  wird.  (1890) 

In  ihrem  gegenwärtigen  Zu- 
stand gewährt  die  Tagespresse 
weder  für  die  Regierung  noch  für 
die  politische  Bildung  der  Be- 
völkerung einen  Nutzen,  vielmehr 
das  Gegenteil.  (1873) 

Wenn  jemand  in  einem  anonym 
geschriebenen  Brief  verleumdet,  so 
hält  man  das  im  allgemeinen  für 
eine  ehrlose  Beschäftigung;  wenn 
jemand  aber  in  gedruckten  Blättern 
verleumdet,  ebenso  anonym,  so  ist 
es  »Freiheit  der  Presse«,  für  die 
einzutreten  ist  gegen  jedermann, 
der  sich  gegen  diese  Verleumdung 
wehren  will.  (1885) 


Ich  war  der  Meinung,  daß  die 
Regierung  nicht  fehlen  dürfe,  wenn 
eine  angesehene  Vereinigung  hei- 
mischer Publizisten  ein  so  bedeut- 
sames   Jubiläum   begeht. 

Gehören  wir  doch  zusammen, 
ergänzen  wir  doch  einander,  und 
diese  Gemeinsamkeit,  die  uns  an 
Werktagen  verbindet,  darf  auch  an 
Festtagen  nicht  versagen. 

Der  ernste  und  ehrliche  Journa- 
list von  heute  strebt  nicht,  über 
sich  selbst  hinauszuwachsen,  er 
tritt  im  Gegenteile  genügsam  zu- 
rück, bescheiden  fügt  und  ordnet 
er  sich  ein  .  .  .  Ein  reiches  ur- 
sprüngliches Lebenswerk  taucht 
auf  diese  Art  nicht  selten  in  Namen- 
losigkeit  unter,  für  die  es  keinen 
zeitlichen  und  keinen  Nachruhm 
gibt.  So  mancher  schafft  da  sein 
ganzes  Leben,  spricht  täglich  zu 
den  Lesern  seines  Blattes,  aber 
sein  Name  wird  vielleicht  dann 
zum  erstenmal  genannt,  wenn  seine 
Augen  sich  geschlossen  haben. 

So  sind  Generationen  stiller  Ar- 
beiter und  Diener  am  Worte  dahin- 
gegangen, und  die  Presse  ist  immer 
höher  gewachsen.  Aus  dem  gei- 
stigen und  materiellen  Leben  unserer 
Zeit  läßt  sich  die  Zeitung  gar  nicht 
mehr  wegdenken.  Man  kann  sagen, 
das  ganze  öffentliche  Leben  der 
Epoche  ist  auf  Publizität  aufgebaut. 


Wir  haben  uns  gegen  die  Autori- 
tät des  Gedruckten  erst  allmählich 
abstumpfen  können,  und  das  ist 
namentlich  seit  1848  gelungen; 
bis  dahin  hatte  für  einen  großen 
Teil  der  Bevölkerung  alles  Ge- 
druckte seine  besondere  Bedeutung; 
jeder,  der  auf  dem  Lande  nur  ein 
Amtsblatt  las,    hielt  das  Gedruckte 


—   8   — 


Wahre  Publizität  aber  wird  heute 
fast  nur  noch  durch  die  Presse 
vermittelt,  lebt  nur  in  der  Presse 
und  durch  die  Presse. 


Sie  ist  es  auch,  die  durch  ihren 
immer  großartiger  werdenden  Nach- 
richtendienst ein  unlösliches  Band 
um  Völker  und  Staaten  schlingt 
und   diese   einander  näher   bringt. 


Das  ist  eben  die  große,  völker- 
vereinigende Sendung  der  Journa- 
listik, eine  Sendung,  der  sich  gleich 
bedeutsam  ihre  Aufgabe  als  das 
rege  kritische  Gewissen  der  Zeit 
zugesellt. 


Gewiß  ist  auch  die  Presse  wie 
alles  Menschenwerk  unvollkommen, 
aber  das  ist  das  Wunderbare  an 
ihr,  daß  sie  selbst  die  Wunden 
heilt,  die  sie  schlägt. 


für  wahr,  ungeachtet  des  üblichen 
Sprichworts:  er  lügt  wie  gedruckt; 
es  wird  vielleicht  auch  dahin 
kommen,    zu    sagen:    er   lügt  wie 


telegraphiert. 


(1869) 


Denn  gegen  den  Mißbrauch,  der 
mit  diesem  Beförderungsmittel  ge- 
trieben wird,  sind  bisher  die 
wenigsten  Leute  noch  auf  der  Hut; 
sie  denken  nicht  an  den  Reichtum 
von  Geldmitteln,  der  es  jemandem 
möglich  macht,  zum  Telegraphieren 
aller  in  drei  bis  vier  Sprachen  über- 
setzten Tendenzlügen  in  verschie- 
denen Weltstädten  Lektoren  zu  be- 
zahlen .  .  .  (1869) 

Es  wird  in  unseren  Zeitungen 
zu  viel  auf  Sensationelles  gesehen, 
als  ob  alle  Tage  so  etwas  passieren 
müßte ...  Da  setzt  er  (der  Korrespon- 
dent) sich  dann  hin  und  berät  sich 
mit  seiner  Phantasie  oder  er  macht 
sich  an  auswärtige  Gesandschaften, 
die  ihn  natürlich  gern  mit  Nach- 
richten versehen,  welche  ihren 
Zwecken  entsprechen.        (1875) 


.  .  .  Verdrehungen,  zum  großen 
Teil  in  der  ohne  Zweifel  patrioti- 
schen Absicht,  das  Ausland  auf  die 
Abwege  der  Regierung  aufmerksam 
zu  machen  .  .  .  (1863) 

Sie  (die  Presse)  hat  die  drei  letzten 
Kriege  veranlaßt.  Die  dänische  zwang 
den  König  und  die  Regierung  zur 
Einverleibung  Schleswigs,  und  die 
österreichische  und  die  süddeutsche 
hetzte  gegen  uns,  die  französische 
hat  zur  Verlängerung  des  Feld- 
zuges beigetragen.  (1877) 


Jedes  Land  ist  auf  die  Dauer 
doch  für  die  Fenster,  die  seine 
Presse  einschlägt,  irgend  einmal 
verantwortlich.  (1888) 


-  9  - 


Große  Anforderungen  werden 
heute  an  den  Journalisten  gestellt, 
dafür  aber  wird  ihm  die  Genug- 
tuung zuteil,  daß  sein  Werk 
immer  mehr  im  allgemeinen  *n 
Geltung    und    Bedeutung  gewinnt. 

Die  Gedanken,  die  Einfälle,  die 
Pläne,  die  seines  Geistes  eigen 
sind,  werden  in  dem  Augenblicke, 
da  sie  in  Druckerschwärze  erscheinen, 
zum  Gemeingute  .  . . 

Indem  jede  Meinung  zum  Worte 
gelangt,  ist  ein  freier  Wettkampf 
der  Ideen  möglich. 


Selbst  die  Wissenschaft  erkennt 
sie  als  den  ebenbürtigen  jüngeren 
Bruder  an  .  .  .  Die  Zeitung  wirkt 
als  die  tagtäglich  sich  fortsetzende 
Schule  der  Erwachsenen. 

Ich  fürchte  sehr,  Sie  werden 
mir  den  Vorwurf  machen,  daß  ich 
viel  zu  viel  von  der  Presse  im  all- 
gemeinen und  viel  zu  wenig  von 
unserer  heimischen  Presse  spreche. 
Ich  gestehe  offen,  daß  ich  diesen 
Fehler  nicht  ohne  Absicht  begehe, 
denn,  wenn  ich  von  unserer  heimi- 
schen Journalistik  sprechen  soll, 
so  empfinde  ich  einige  Verlegen- 
heit  .  .  . 

Ich  würde  mich  aber  einer  Unter- 
lassung schuldig  machen,  wollte 
ich  nicht  der  höchst  erfolgreichen 
charitativen  Tätigkeit  unserer  Presse 
gedenken  . .  . 

Die  >Concordia<  zählt  heute  zu 
den  stolzesten  Schöpfungen  des 
Mutualismus  in  Österreich. 


Denn  manches,  das  in  den 
Zeitungen  steht,  ist  denn  doch 
wahr,  wenn  auch  nicht  alles. 

(1869) 


Druckerschwärze  auf  Papier, 
(1888) 


Es  gibt   kaum   eine  absichtliche 
Entstellung,  kaum  eine  Verdrehung, 
die  in  dieser  Sache  von  der  Presse 
nicht  geübt  worden  wäre  .  .  . 
(1863) 

Die  Zeitungen  sind  gegenwärtig 
kein  Bildungs-,  sondern  ein  Ver- 
bildungsmittel,  das  keine  Begünsti- 
gung verdient.  (1873) 

Wenn  jemand  wie  ich  weiß,  wie 
die  Freiheit  der  Presse  von  prin- 
zipienlosen gebildeten  Männern, 
die  den  Wert  der  Wahrheit  kennen 
oder  doch  kennen  sollten,  benützt 
werden  kann,  wie  unendlich  ge- 
fährlicher muß  es  dann  sein,  einen 
solchen  Spielraum  einem  unerzo- 
genen und  nicht  unterrichteten 
Volke  zu  gewähren.  (1887) 

Es  dürfte  in  der  ganzen  Monar- 
chie von  der  höchsten  Wichtig- 
keit sein,  unsere  Mitbürger  so  schleu- 
nig als  möglich  vor  dieser  moralis- 
chen Brunnenvergiftung  durch  die 
Presse  zu  schützen.  (1850) 

Mir  aber  ist  es  klar,  daß  wir 
heruntergekommen  sind;  das,  was 
das  Schwert  uns  Deutschen  gewon- 
nen hat,  wird  durch  die  Presse 
wieder  verdorben.  (1881) 


-  10  — 


Ich  kenne  keinen  anderen  Beruf, 
der  an  seine  wahrhaftigen  Be- 
kenner  einen  solchen  Anspruch 
von  Opfermut  und  Entsagungskraft 
stellt,  wie  der  journalistische.  Der 
Beruf  der  Publizisten  gleicht  dem 
Baume,  der  nicht  für  sich  blüht 
und  grünt,  dessen  Frucht  und 
Schatten    immer    andere  genießen. 

An  der  Wiener  Presse  besonders 
wird  allerorten  die  große  tech- 
nische Vollendung  anerkannt,  der 
Geschmack,  die  Anmut  und  Be- 
weglichkeit, die  in  ihren  Spalten 
leben,  der  Eifer,  womit  sie  bestrebt 
ist,  die  Koryphäen  des  geistigen 
Lebens  heranzuziehen  und  in  den 
Dienst  der  Volksaufklärung  zu 
stellen. 

Es  gereicht  mir  zur  Genugtuung, 
Ihnen  zu  den  großen  Errungen- 
schaften die  wärmsten  Glückwünsche 
und  die  aufrichtige  Anerkennung  der 
Regierung  aussprechen  zu   dürfen. 


Sie  befindet  sich  zum  großen  Teil 
in  den  Händen  von  Juden  und 
unzufriedenen  Leuten,  die  ihren  Le- 
bensberuf verfehlt  haben.  (1862) 


Die  Presse  ist  hier  in  Wien 
schlimmer,  als  ich  mir  vorgestellt 
hatte,  und  in  der  Tat  noch  übler 
und  von  böserer  Wirkung  als  die 
preußische.  (1864) 


Sie  begreifen,  daß  ich  jetzt  von 
der  Presse  nur  noch  mit  ironischer 
Geringschätzung  rede.        (1890) 


Der  Giftmord,  die  Moral  und  der  Postverkehr 

(Situationsbericht  vom  26.  November) 
Von  Karl  Kraus 
Die  Bevölkerung  ist  in  größter  Erregung.  Sie  bestürmt  die 
Presse,  die  gleichfalls  in  größter  Erregung  ist,  mit  Anfragen  und 
die  Polizei,  die  nicht  nur  in  größter  Erregung  ist,  sondern  auch 
>fieberhaft  arbeitet«,  mit  Vorschlägen.  Alles  ist  auf  den  Beinen, 
alles  nimmt  den  Mund  voll,  alles  Interesse  ist  jener  Rubrik  des 
öffentlichen  Lebens  zugewendet,  wo  die  kriminellen  Bilderrätsel 
stehen:  »Ein  Offizier   macht  einen  Brief  auf.  Wo  ist  der  Mörder?« 


5 


JUU/M'  f  *{m*U<a/ 


—  11  — 


Die  bekannte  Unterstützung,  die  die  Polizei  vom  Publikum  erfährt, 
wenn  es  sich  darum  handelt,  einen  zu  fangen,  hat  diesmal  ihren 
besondern  Sporn.  Es  geht  jeden  an.  Aber  nicht,  weil  jeder  in 
Gefahr  schwebt,  einen  Giftbrief  zu  bekommen  -  er  braucht  ja 
die  Pille  nicht  zu  schlucken  — ,  sondern  weil  in  so  aufgeregten 
Zeiten  jeder  in  Gefahr  schwebt,  als  Giftmörder  verhaftet  zu 
werden.  Schließlich  hat  jeder  Mensch  ein  Merkmal,  das  die 
Diktyloskopen,  Schriftgelehrten  und  Pharisäer  in  den  Spuren  des 
Täiers  gefunden  haben.  Zur  Zeit,  da  ein  stadtbekannter  Mörder 
einen  Havelock  trug,  ging  es  allen  an  den  Kragen  und  alle 
wurden  erwischt,  die  das  Kainszeichen  dieser  Kleidung  trugen.  Jetzt 
hat  der  Polizei  jemand  gesagt,  daß  der  Mensch  irrsinnig  sein 
müsse,  der  solche  Dinge  tut,  wie  sie  jener  Giftmörder  getan  hat. 
Die  Fdge  davon  ist,  daß  sie  in  die  Irrenanstalten  eindringt,  um 
den  Mö-der  zu  suchen,  und  die  Insassen,  die  bisher  nur  von 
Psychiatern  beobachtet  waren,  nun  auch  der  Obhut  der  Detektivs 
unterstellt  Weil  bei  einem  Mörder  Irrsinnsverdacht  vorliegt,  lenkt 
sie  den  Mordverdacht  auf  die  Irrsinnigen.  Es  könnte  immerhin 
sein,  daß  ein  Internierter  Urlaub  bekommen  hat,  um  die  Giftbriefe 
aufzugeben.  Aber  auch  jener  Teil  der  österreichischen  Bevölkerung, 
der  auf  freiem  Fuß  ist,  muß  sich  stündlich  von  dem  Arm  der 
Gerechtigkeit  gestreift  fühlen.  Es  herrscht  die  bange  Spannung 
einer  Schulstunde.  Und  dabei  ist  es  nicht  so  sehr  die  Frage,  wer 
drankommen  wird,  die  alle  Gemüter  bewegt,  als  die  Erwartung, 
die  sich  so  oft  einer  Klasse  bemächtigt,  wenn  einer  etwas  ange- 
stellt hat,  der  sich  nicht  melden  will,  und  die  Untersuchung  auf 
einem  toten  Punkt  steht:  Einer  muß  es  gewesen  sein,  und  wenn 
er  sich  nicht  freiwillig  meldet,  bleibt  die  ganze  Bevölkerung  hier! 

Wenn  wir  aber  ein  gutes  Gewissen  haben  und  die  Sache 
ohne  Erregung  betrachten,  so  können  wir  sagen,  daß  sich  uns 
in  dieser  Giftmordsensation  vor  allem  drei  Faktoren  aufdrängen: 
Herr  Stukart,  die  Sittlichkeit  und  die  findige  Post. 

Die  Sittlichkeit  ist  eigentlich  wie  immer  die  Hauptsache. 
Allgemeine  Entrüstung  herrscht  über  den  Elenden,  der  einen 
Giftmord  nicht  einfach  beging,  sondern  >in  das  Schellenkleid 
der  Zote  und  in  die  Form  eines  derben  erotischen  Spasses< 
kleidete.    Man    kanns  gar  nicht  aussprechen,  welchem  Zwek  die 


—  12  — 

Pille  zugedacht  war,  wenn  sie  nicht  eben  eine  tötliche  Wirkung 
gehabt  hätte.  Die  andeutende  Moral  findet  zwar  auch  den  Gift- 
mord als  solchen  anstößig,  aber  näher  geht  ihr  der  >aphrodisische 
Zweck«,  dem  der  Täter  die  Pillensendung  empfahl  und  den 
man  zwar  im  Annoncenteil,  aber  nicht  im  Leitartikel  erläutern 
darf.  Nicht  der  vergiftete  Pfeil,  aber  daß  Eros  der  Absender 
war,  beunruhigt  die  Gemüter.  Die  Aussicht  auf  Erhöhung  der  Potent, 
die  ein  Blick  in  den  Annoncenteil  ohne  poetische  Umstände 
eröffnet,  wird  im  Leitartikel  passend  umschrieben.  >Er  wüllte 
in  der  Vorstellung  herum,  wie  gerade  Lebensgier  die  UngUck- 
lichen  mitten  aus  der  Hoffnung  auf  berauschenden  Genuß  in  das 
Verderben  hineinreißen  wird.  Er  sah  in  der  Phantasie,  wie  diese 
armen  Menschen,  von  der  Lockung  gereizt,  das  Unbekanrte  zu 
versuchen,  noch  von  Zärtlichkeiten  träumend  sich  auf  dem  Boden 
in  Schmerzen  winden  u.  s.  w.«  Der  Offizier,  dem's  geschah, 
muß  aber  gegen  den  Verdacht,  als  ob  er  das  Mittel  nötig  gehabt 
hätte,  in  Schutz  genommen  werden.  Offenbar  nahm  er  es  nicht  zur 
Hebung  der  Manneskraft,  sondern  um  zu  sterben.  »Er  hat  sich 
vielleicht  um  den  Inhalt  der  Gebrauchsanweisung  gar  nicht  ge- 
kümmert oder  nur  achtlos,  wie  das  jedem  geschehen  kann,  darüber 
hinweggelesen  und,  ohne  zu  denken  und  ohne  sich  des  Zwecks 
bewußt  zu  sein,  die  verhängnisvolle  Pille,  die  von  Oblaten 
verhüllt  war,  geschluckt.«  Also  gewiß  nur,  weil  er  sie  für  tötlich 
hielt  und  ohnedies  sterben  wollte.  Die  Pille  war  von  Oblaten  verhüllt, 
er  konnte  daher  nicht  ahnen,  daß  sie  ein  gemeines  Aphrodisiakum 
sein  könnte.  Hätte  er  das  geahnt,  er  hätte  sie  nicht  geschluckt,  son- 
dern mit  Entrüstung  zurückgewiesen.  Wofür  hielt  er  sie?  Im  ersten 
Moment  hatten  wir  angenommen,  er  habe  sie  geschluckt,  weil  er 
sich  ihres  tötlichen  Zwecks  nicht  bewußt  war.  Warum  hätte  er 
sie  aber  schlucken  sollen,  wenn  er  sich  auch  ihres  aphrodisischen 
Zwecks  nicht  bewußt  war?  Nein,  es  wird  nicht  gelingen,  ihn  zu 
entschuldigen.  Er  hat  im  vollen  Bewußtsein,  daß  die  Pille  als 
ein  Mittel  gegen  Männerschwäche  offeriert  wurde,  gehandelt, 
und  er  hat  sie  vielleicht  nicht  nur  trotz,  sondern  wegen  dieses 
Wissens  geschluckt.  Die  Moral  müßte  ihn  verurteilen.  Aber  sie 
sucht  nach  Argumenten  für  seine  Entlastung.  »Diese  Auffassung« 
(daß  er  an  ein  Aphrodisiakum  auch  nicht  einmal  gedacht  habe), 


-  13   -- 

sagt  sie,  »hat  die  größte  Wahrscheinlichkeit.  Der  junge  Mann 
hatte  eine  Braut  und  schrieb  gerade  an  sie,  als  das  Unglück  ge- 
schah. Er  war  sicher  in  diesem  Augenblicke  weit  davon  entfernt, 
sich  auf  Spässe  einzulassen,  die  seinem  ganzen  Wesen  und  der 
Würde,  die  ihm  nachgerühmt  werden,  widersprachen.«  Spässe? 
Die  Hebung  der  Manneskraft  ein  Spaß  ?  In  Widerspruch  zur 
Manneswürde?  Die  Tatsache,  daß  er  eine  Braut  hatte  und  an  sie 
gerade  schrieb,  als  ihm  das  Mittel  ins  Haus  kam,  ein  Beweis 
gegen  die  Möglichkeit,  daß  er  sich  einer  aphrodisischen  Lockung 
zugänglich  zeigte?  Aber  schon  ist  ein  weiterer  Beweis  zur  Stelle. 
»Auch  der  Diener  berichtet,  daß  sein  Herr  den  Abend  bei  der 
Lampe  zu  Hause  zubringen  wollte,  und  dieses  Symptom  beweist, 
daß  der  arme  Hauptmann  kaum  ahnte,  was  in  der  Gebrauchs- 
anweisung enthalten  war,  als  er  mechanisch  eine  der  auf  seinem 
Schreibtische  vor  ihm  liegenden  Pillen  in  den  Mund  nahm.«  Es 
ist  in  der  Natur  eines  Symptoms  gelegen,  daß  es  nicht  ganz 
verläßlich  ist.  Daß  einer  bei  der  Lampe  sitzt,  ist  bloß  ein  An- 
zeichen dafür,  daß  er  eine  Gebrauchsanweisung  nicht  liest,  immer- 
hin aber  ein  Beweis,  daß  er  sie  kaum  liest.  Sicher  aber  ist,  daß 
ein  ernster  Mensch  eher  eine  Pille,  die  ihm  der  Briefträger  bringt, 
mechanisch  in  den  Mund  nehmen  als  den  Brief  lesen  wird, 
der  ihr  mitgegeben  war.  Jedenfalls  ist  die  Schärfe  der  Unter- 
suchung bemerkenswert,  die  gegen  den  verstorbenen  Haupt- 
mann geführt  wird.  Den  hat  man.  Und  die  Symptome,  Spuren, 
Beweise  für  seine  sittliche  Lebensauffassung  sind  wichtiger  als  die 
Anhaltspunkte,  die  man  etwa  auf  der  Suche  nach  dem  Mörder 
findet.  Ein  Giftmord  eröffnet  den  Verdacht,  daß  die  Moral  ver- 
letzt worden  sei,  es  besteht  die  Aussicht,  daß  man  endlich  einmal 
hinter  so  etwas  kommt,  und  Presse,  Polizei,  der  gesamte  General- 
stab der  Moral  sind  am  Werke,  den  Tatbestand  zu  verschleiern 
und  den  Schuldigen  herauszuhauen. 

Die  einzige  Post,  jene  Institution,  die  den  Ruf  der  Findigkeit 
vor  der  Polizei  voraus  hat,  scheint  sich  durchaus  für  die  Überführung 
jenes  Unbekannten  zu  interessieren,  der  an  den  Hauptmann  nicht  nur 
eine  unsittliche  Zumutung  gestellt,  sondern  ihn  auch  ermordet 
hat.  Man  soll  unserer  Post  nicht  nachsagen,  daß  sie  sich  damit 
begnügt,  Giftbriefe  an  die  Adressaten  richtig  zu  befördern.    Ihre 


__    14  — 


Findigkeit  bewährt  sich  auch  in  der  Ermittlung  des  Absenders. 
Wie  sollte  sie  aber  diesen,  da  er  sich  doch  vorsichtshalber  nicht 
auf  dem  Kuvert  unterschreibt,  anders  herauskriegen,  als  durch  eine 
Eigenschaft,  die  sie  vor  allem  auszeichnet,  nämlich  durch  ein  vor- 
zügliches Physiognomiengedächtnis?  Unsere  Post  ist  imstande,  sich 
an  jeden  Aufgeber,  der  an  ihren  Schalter  tritt,  zu  erinnern.  In 
den  Hauptstädten  anderer  Staaten  pflegt  diese  Eigenschaft  der 
expedierenden  Beamten  in  der  Fülle  der  Gesichte,  die  ein  riesiger 
Parteienverkehr  mit  sich  bringt,  zu  verkümmern.  Bei  uns  bleibt  ein 
Vorfall,  wie  die  Übergabe  eines  Briefes  am  Schalter,  noch  lange 
im  Gedächtnis  des  Beamten  haften,  und  wenn  die  friedliche  Ruhe 
eines  Postamts  nicht  gerade  durch  das  Fangerlspiel  der  Tele- 
graphistinnen  —  ich  hatte  neulich  meine  helle  Freude  an  solcher 
Übung  jugendlichen  Frohsinns  —  unterbrochen  wird,  so  bedeutet 
gewiß  ein  Mann,  der  acht  Pakete  bringt,  eine  so  starke  Abwechslung, 
daß  seine  Erscheinung  noch  lange  den  Gesprächsstoff  in  den 
beteiligten  Kreisen  bildet.  Man  höre  nur,  was  die  Funktionäre 
jenes  berühmten  Postamts  erzählten,  als  die  Polizei  darauf  bestand, 
daß  sie  ihre  Beobachtungen  aus  den  letzten  Wochen  zu 
Protokoll  gäben: 

Der  Amtsdiener  Born,  der  beim  Auflegetisch  stand,  sah  den 
Fremden  kommen  und  sagte:  >Was  bringen  S'  denn  da  für  einen 
Haufen?«  Der  Fremde  sagte:  »Es  sind  ja  nur  acht  Stück«,  legte  sie 
auf  den  leeren  Tisch  hin  und  entfernte  sich.  Die  Manipulantin  Fräulein 
Posselt  sowohl  wie  der  Amtsdiener  Born  haben  also  den  Mann  gesehen, 
und  als  der  Unbekannte  fort  war,  entspann  sich  folgender  Dialog:  Fräulein 
Posselt:  »Was  muß  denn  das  für  ein  Sportsmann  sein  mit  seinen  ge- 
scheitelten Haaren  und  seinen  lichten  Gamaschen?«  Born:  »Ausschauen  tut 
er  wie  ein  Engländer.«  Fräulein  Posselt:  »Was  sind  denn  das  für  Briefe?« 
Born:  »An  lauter  Offiziere,  's  is  überall  was  drin.«  Fräulein  Posselt: 
»Wahrscheinlich  eine  Überraschung  zu  Leopoldi.«  Dann  bekam  Fräulein 
Posselt  die  Briefe  in  die  Hand  und  sah,  daß  einige  vollständige  Haus- 
adressen hatten,  andere  nur  die  Bezeichnung  »Wien«.  Der  Giftbrief  an 
den  unglücklichen  Hauptmann  Mader  aber  war,  wie  sie  durch  die  zu- 
fällige Erinnerung  an  ein  nebensächliches  Detail  beim  Kartieren  be- 
stimmt weiß,  in  die  Hainburgerstraße,    also  in  die  Wohnung  adressiert. 

Wenn  es  gelingt,  durch  solche  Unterstützung  des  Mörders  hab- 
haft zu  werden,  so  wird  es  ein  Verdienst  unserer  Post  sein,  um  das  sie 
etwa  die  Berliner  Post  beneiden  könnte.  Je  geringer  der  Parteien- 
verkehr,  desto  größer  die  Aussicht,   eine  Partei  zu  entlarven,   die 


—  15  — 

Böses  im  Schilde  führt.  Daß  aber  die  Absendung  von  Oiflbriefen 
durch  eine  Aufhebung  der  ganzen  Institution  wesentlich  erschwert 
würde,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Postämter,  in  denen  Nestroysche 
Unterhaltungen  geführt  werden,  könnte  man  zwar  aus  Pietät  be- 
stehen lassen;  sie  sind  ganz  herzig  und  bewähren  sich  schließlich 
in  ihrer  Art.  Aber  es  ist  eine  alte  Wahrheit,  daß  die  Eisenbahn- 
katastrophen von  den  Eisenbahnen  kommen,  und  ich  kann  es  mir 
darum  nicht  versagen,  auch  aus  dieser  Sphäre  einen  Nestroyschen 
Dialog  zu  zitieren,  nämlich  einen  echten,  in  dem  das  Neuartige  dieses 
Verkehrsmittels  nicht  anders  zum  Ausdruck  kommt,  als  die  posta- 
lische Sensation  der  acht  Pakete  in  jenem  Gespräch: 

Ignaz :  Na,  du  wirst  Augen  machen,  Vetter,  wannst  auf  die 
Eisenbahn  kommst.  —  Peter:  Ich  furcht'  mich  a  bisserl  vor  die 
Dampfkessel  und  vor  die  Lokomotiver.  —  Frau  Zaschelhuberin  aus 
Neustadt:  Fürchten  vor  der  Eisenbahn?  —  Peter:  Ja  bei  mir  is  es  's 
erste  Mal,  Sie  scheinen  zwar  eine  resolute  Frau  zu  sein,  aber  's  erste 
Mal  werd'n  Sie  Ihnen  auch  g'forchten  haben.  —  Frau  Zaschelhuberin: 
Fahren  Sie  mit  nach  Neustadt?  —  Peter:  Bitt'  untertänig,  nur  nach 
Brunn.  —  Frau  Zaschelhuberin:  O  das  is  nix,  da  is  kein  Tunnel  aufm 
ganzen  Weg  ....  Wenn  Sie  einmal  den  schauerlichen  Tunnel  bei 
Gumpoldskirchen  werden  passiert  haben  ...  —  Ignaz:  Das  is  was 
Außerordentliches. 

So  richtig  nun  die  Polizei  handelt,  wenn  sie  die  Aussagen 
der  Postbeamten  ernst  nimmt,  denen  die  Abwicklung  des  Parteien- 
verkehres starke  Erlebnisse  bringt,  so  richtig  es  eben  ist,  sich  auf  die 
Findigkeit  der  Post  in  der  Eruierung  des  Absenders  zu  verlassen, 
so  verfehlt  ist  es,  ihre  Einrichtungen  selbst  zur  Grundlage  einer 
Untersuchung  zu  machen.  Denn  wenn  ein  Giftmord  verübt  wird, 
kommen  nicht  nur  erotische  Mißbräuche,  sondern  etwas  noch  viel 
Schlimmeres  au  den  Tag:  die  Schlamperei.  Eine  einzige 
unter  den  vielen  Zuschriften  aus  dem  Publikum,  mit  denen 
die  Affäre  uns  gepeinigt  hat,  hat  einen  tieferen  österreichischen 
Sinn.  Der  Einsender  macht  nämlich  darauf  aufmerksam,  daß  bei  den 
polizeilichen  Forschungen  immer  angenommen  wurde,  daß  die 
Giftbnefe  zu  einer  bestimmten  Stunde  aus  den  Briefsammeikästen 
ausgehoben  worden  seien.  »Ich  habe  jetzt  schon  mindestens  fünf- 
bis  sechsmal  festgestellt,  daß  der  mir  zunächst  liegende  Sammel- 
kasten in  der  Titlgasse  statt  um  8  erst  um  V2IO,  statt  um  10  erst 
nach  V412,  statt  um  12  erst  nach  >/<  oder  V22  Uhr  und  so  weiter 


291 


—  16  — 


immer  etwa  um  1  oder  IV2  Stunden  nach  der  vorgeschriebenen 
Zeit  ausgehoben  wurde.  Kann  dergleichen  nicht  auch  in  anderen 
Bezirken  vorkommen?«  Auf  die  Frage,  wann  ein  Zug  eintrifft, 
wird  einem  in  Österreich  bekanntlich  die  Antwort:  »So  um  a  elfe 
kommt  er  gern.«  Wenn  nun  ein  Unglück  geschah  und  die  Behörde 
sich  bei  der  Untersuchung  auf  den  Fahrplan  verließ,  so  kann  es 
leicht  passieren,  daß  ihre  ganze  Mühe  umsonst  war.  Solche  Über- 
raschungen brächten  freilich  zwar  einen  Sheilock  Holmes  um  den 
Ruhm,  aber  nicht  Herrn  Stukart.  Er  arbeitet  fieberhaft.  Und  wenn  ihn 
das  Qedächtnis  der  Postmanipulantin  im  Stich  läßt,  so  wendet  er 
sich  an  eine  Qraphologin.  Diese  stellt  fest,  daß  die  Schrift  in  den 
Begleitbriefen  der  Giftsendungen  die  »eines  jungen,  gesunden, 
untersetzten  Mannes  von  blühendem  Kolorit  und  sympathischem 
Aussehen  sei<.  Stimmt  mit  den  Beobachtungen  der  Postmanipu- 
lantin. Nur  daß  der  Mörder  untersetzt  war,  hatte  sie  nicht  bemerkt. 
Aber  das  sieht  man  eben  nicht  bei  einem  oberflächlichen  Blick  auf 
die  Statur,  sondern  erst  beim  genauen  Studium  der  Schrift.  »Er 
scheint  sich  in  bescheidenen  pekuniären  Verhältnissen  zu  bewegen, 
ist  sparsam  im  Hause,  nach  außen  jedoch  bemüht,  zu  repräsen- 
tieren.« Stimmt,  ein  Offizier  »Sein  Auftreten  ist  bescheiden,  aber 
sicher  und  selbstbewußt.«  Ein  Offizier!  »Bemerkenswert  ist  seine 
Vorliebe  für  Häuslichkeit  und  eingezogenes  Leben.«  Auch  das 
läßt  darauf  schließen,  daß  das  Fräulein  Poppee  die  Ansicht  teilt, 
der  Mörder  sei  ein  Offizier.  »Sein  Beruf  bringt  es  mit  sich,  daß 
er  ein  vorzüglicher  Zeichner  ist.  Der  Beruf  ist  technischen  Wissen- 
schaften sehr  naheliegend.«  Stimmt!  Er  schreibt  »abreiszen«  mit 
»sz«:  die  Qraphologin  schließt  daraus,  daß  er  ein  Ungar  sei. 
Auf  die  nächstliegende  Vermutung,  daß  er  lichte  Gamaschen 
trage,  ist  sie  nicht  verfallen.  Trotzdem  braucht  man  es  nicht  zu 
bereuen,  daß  man  sie  befragt  hat.  In  Österreich  herrscht  das 
gesunde  Prinzip,  daß  bei  der  Fülle  von  Reklame,  die  durch  ein 
Ereignis  ins  Verdienen  gebracht  wird,  alle  Berufe  beteiligt  werden. 
Wenn  Zyankali  verschickt  wurde,  werden  die  Apotheker  interviewt, 
um  »Kola-Dultz«  anzupreisen,  die  Professoren  kommen  zum 
Handkuß,  die  Ärzte  geben  Ratschläge,  die  Advokaten  machen 
Vorschläge,  das  Publikum  stellt  Beobachtungen  an,  die  Polizei 
arbeitet  fieberhaft:   warum   sollte  gerade  das  Fräulein  Poppee  mit 


-  17 


leeren  Händen  ausgehen?  Ein  Bankdirektor  stirbt  an  einer  Tapeten- 
vergiftung und  sein  Tod  wird  zur  Tapeziererreklame.  Der  Grundsatz 
alles  österreichischen  Denkens:  >Lass'n  verdienen!«  Die  Öffentlich- 
keit dieses  Landes  ist  in  fortwährender  Bewegung.  Es  ist  das 
lebhafte  und   malerische  Treiben,  das  sich  auf  einem  alten  Stück 

Gorgonzola  abspielt. 

• 

In  letzter  Stunde:  Es  ist  der  Polizei  trotz  energischer  Un- 
tersuchung un<f  der  Aufwendung  eines  beispiellosen  Scharfsinns 
gelungen,  des  Täters  habhaft  zu  werden.  —  Ein  präterierter  General- 
stäbler: kein  anderer  konnte  es  sein;  der  Fall  war  nicht  schwierig. 
Aber  wenn  er  selbst  nicht  einmal  heiklig  gewesen  wäre:  ehe  man  sich 
entschließt,  einen  unter  siebzig  zu  finden,  sucht  man  ihn  unter  sieben 
Millionen.  Die  Polizei  macht  es  sich  nicht  gern  so  leicht,  wie  es  ihr 
die  Mörder  machen.  Sie  ist  dankbar,  aber  sie  streckt  den  Arm  erst 
aus,  nachdem  sie  eine  Woche  lang  fieberhaft  gestikuliert  hat.  Dann 
liegt  alles  vor  Bewunderung  auf  dem  Bauch,  und  das  Antlitz  des  Herrn 
Stukart  glänzt  wie  die  Sonne,  die  es  an  den  Tag  bringt. 


Glossen 
Von  Karl  Kraus 

Der  Angeklagte  sagte,  die  Statthalterei  habe  ihm  das  Zeug- 
nis ausgestellt,  seine  Fabrik  sei  eine  Musterfabrik.  »Wie  wenig  das 
Urteil  begründet  war«  —  sagt  der  Angeklagte  —  »haben  die  Kata- 
strophe und  deren  schauerlicher  Ausgang  bewiesen.«  Und  nun 
erzählt  er: 

Die  Gründe  der  Katastrophe  sind:  Ich  wollte  das  Materialmagazin 
auf  dem  Boden  anlegen  —  allgemeines  Schütteln  des  Kopfes.  Ich  sagte: 
»Ich  baue  einen  Schacht,  der  mit  dem  übrigen  Dachboden  nicht  in  Ver- 
bindung steht.«  —  »Nein,  das  ist  ausgeschlossen«,  war  die  Antwort. 
Ich :  »Wenn  Sie  mir  das  schon  nicht  gestatten,  erlauben  Sie  mir  den 
Bau  eines  Magazins  längs  der  Feuermauer.«  Daraul  keine  Antwort. 
»Gehen  wir  in  die  Keller  hinunter!«  Hier  waren  die  Herren  ganz  ent- 
zückt. »Da,  der  Keller  ist  das  geeignetste  Magazin.«  Und  gerade  durch 
die  Einlagerung  im  Keller  war  die  Möglichkeit  der  Katastrophe  eigentlich 
gegeben.  Das  war  es,  was  der  Fabrik  den  Charakter  einer  Menschenfalle 
gab,  und  ich  saß  in  meiner  Fabrik  auf  einem  Vulkan.  Diese  behörd- 
lichen Anordnungen  haben  die  Katastrophe  verschuldet  ...  Ich  mache 
die  Behörde    hier  von   diesem  Platze   verantwortlich  .  .  . 

Präs. :  Sie  haben  also  selbst  erkannt,   daß  beim  Bau  etwas  nicht 


18 


in  Ordnung  ist.  Wenn  Sie  gescheiter  waren,  als  die  Behörden, 
dann  war  es,  ich  muß  schon  so  sagen,  gewissenlos,  daß  Sie 
doch  den  Betrieb  eröffneten.  —  Angekl.  (achselzuckend):  Es  ist  leichter, 
nachher  zu  urteilen.  Ich  kann  doch  nicht  beurteilen,  ob  der  Bau  richtig 
ist,  wenn  die  Sachverständigen  dies  sagen.  —  Präs. :  Daß  Ihnen  erlaubt 
wurde,  das  Fabriksgebäude  mitten  in  der  Stadt  anzulegen,  war  doch 
nur  ein  Entgegenkommen  dem  Gewerbe  und  der  Industrie  gegen- 
über. Man  hat  Ihnen  gestattet,  was  eigentlich  nicht  hätte 
gestattet  werden  dürfen.  —  Angekl.:  Für  mich  wäre  es  vorteil- 
hafter gewesen,  wenn  man  mir  kurzweg  erklärt  hätte,  der  Bau  genüge 
nicht,  die  Fabrik  entspreche  baulich  nicht  ihren  Zwecken.  —  Präs. :  Sie 
brauchen,  da  man  Ihnen  gegenüber  nachsichtig  gewesen  ist,  nicht  so 
sehr    auf    die   Behörde    hinzuhauen. 

Es  ist  gewissenlos,  in  Österreich  gescheiter  als  die  Behörden 
zu  sein,  und  es  ist  undankbar,  auf  sie  hinzuhauen,  wenn  durch 
ihr  Entgegenkommen  eine  Katastrophe  herbeigeführt  wurde.  Ver- 
waltung und  Gericht:  Man  kann  sich  in  Österreich  alles  richten 
und  es  gibt  noch  Richter  in  Österreich  .  .  .  Wieder  ein  gutes 
Stück  Tradition,  das  ich  da  im  Fluge  der  Zeitungslektüre  er- 
hascht habe. 

*  * 

Womit  sich  die  Herren  Richter  die  Zeit  vertreiben. 

(Ein  Abenteuer  im  »Moulin  Rouge«.)  Eine  der  Pikanterie 
nicht  entbehrende  Betrugsanzeige  beschäftigte  gestern  den  Straf richter 
des  Bezirksgerichtes  Josefstadt  Bezirksrichter  Dr.  Bilek.  Die  derzeit 
im  Etablissement  »Moulin  Rouge«  gastierende  Tänzerin  Lola  F., 
eine  hübsche,  üppige  Blondine,  soll  nach  einer  von  dem  in 
Triest  wohnhaften  Kaufmann  Rachumin  erstatteten  Strafanzeige  ihn 
um  den  Betrag  von  siebzehn  Kronen  unter  der  listigen  Vor- 
spiegelung betrogen  haben,  ihm  ihre  Gunst  zu  schenken.  In  dem 
Bestreben,  »Wien  bei  Nacht«  kennen  zu  lernen,  wurde  er  von  einem 
Geschäftsfreunde  in  das  Vergnügungsetablissement  »Moulin  Rouge«  ge- 
führt, woselbst  es  ihm  bald  sehr  gut  gefiel.  Es  entspann  sich  zwischen 
der  Tänzerin  und  dem  Triester  Kaufmann  eine  sehr  angeregte  Unter- 
haltung, und  die  Tänzerin  nahm  aus  der  Geldbörse  des  Kaufmannes  mit 
dessen  Zustimmung  einen  Betrag  von  17  Kronen,  wogegen  (gegen 
dem  daß)  sie  ihm  den  Schlüssel  zu  ihrer  Wohnung  übergab.  Bald 
verschwand  jedoch  in  einem  unbewachten  Moment  die  Tänzerin  auf 
Nimmerwiedersehen,  und  der  Fremde  aus  Triest  hatte  das  Nachsehen. 
In  seinem  Zorn  erstattete  er  gegen  die  Tänzerin  eine  Betrugsanzeige, 
die  auch  zur  Erhebung  der  Anklage  führte.  Zu  der  Verhandlung  war 
die  Angeklagte  erschienen  und  bestritt  entschieden,  den  Anzeiger 
betrogen  zu  haben,  denn  sie  habe  ihm  nichts  versprochen.  Die  siebzehn 


19 


Kronen  habe  sie  von  ihm  dafür  erhalten,  daß  sie  ihm  an  seinem  Tische 
Gesellschaft  leistete.  Der  Richter  beschloß,  zur  vollständigen  Aufklärung 
der  eigenartigen  Angelegenheit  den  Anzeiger  in  Triest  im 
Requisitionswege  vernehmen  zu  lassen,  und  vertagte  zu 
diesem  Zwecke  die  Verhandlung. 

Später  wurde  die  Tänzerin  freigesprochen,  und  Herr 
Rachumin  hatte  schon  wieder  das  Nachsehen.  Aber  es  ging  nicht 
an,  ihm  dieses  Vergnügen  sofort  zu  verschaffen,  und  deshalb 
mußten  zuerst  Akten  beschmiert  werden.  Die  Herren  behaupten  nicht 
mit  Unrecht,  daß  sie  überbürdet  seien.  Denn  sie  müssen  auch  noch 
»Kopf  oder  Adler«  spielen.  Zum  Exempel: 

Zwei  15jährige  Schusterbuben  Josef  B.  und  Franz  M.  waren  vor 
dem  Bezirksgericht  Leopoldstadt  wegen  Hasardspiels  angeklagt,  weil 
sie  mit  einem  dritten  Kollegen  auf  einer  Wiese  im  Prater  »Kopf  oder 
Adler  <  gespielt  hatten.  Der  eine  hatte  vier,  der  andere  sechs  Heller  bei 
sich.  Der  Richter  sprach  beide  Jungen  frei,  da  nicht  ein  Hasardspiel 
angenommen  werden  könne,  das  geeignet  sei,  das  wirtschaftliche 
Verderben  der  Spieler  herbeizuführen. 

Wie  lange  wird  noch  Kopf  oder  Doppeladler  gespielt 
werden?  Es  sollte  ein  verbotenes  Spiel  sein,  weil  der  Einsatz 
groß  und  die  Chance  gering  ist.  Und  der  Kopf  gewinnt  nie. 

*  * 

* 

Herr  Moriz  Benedikt  beginnt  seinen  Nachruf  für  Herrn 
v.  Taussig  mit  den  folgenden  Sätzen: 

Theodor  v.  Taussig  ist  heute  gestorben.  Aus  dem  Mittelstande 
hervorgegangen,  schloß  er  die  Augen  in  den  Prachträumen  eines  Bank- 
palastes und  lebte  den  größten  Teil  des  Jahres  in  einer  Villa,  die,  auf 
der  Höhe  des  Küniglberges  gelegen,  ein  Merkmal  der  Land- 
schaft von  Hietzing  geworden  ist.  Die  Natur  war  ihm  sehr  wohl- 
gesinnt und  hat  ihn  zu  solchen  Erfolgen  gut  ausgestattet.  Er  hatte 
einen  schlanken  Körper,  der  über  die  mittlere  Größe  hinausgewachsen 
war  und  dessen  eleganter  Schwung  selbst  an  der  Vorstufe  zum  höheren 
Alter  nicht  durch  Ansatz  schwerer  Leiblichkeit  verdorben  wurde. 

Anders,  begreif  ich  wohl,  als  sonst  in  Menschen  köpfen 
malt  sich  in  diesem  Kopf  die  Welt. 

Wenn  er  aber  von  ungarischer  Politik  spricht,  beginnt  er: 
Auf  seidenem  Bette  ruht  Franz  Kossuth.  Ein  seidener  Baldachin 
ist  über  seinem  Lager  gespannt,  seidene  Vorhänge  fließen  an  den  Seiten 
herunter,  und  all  die  seidene  Pracht,  die  beim  Tapezier  zu  bestellen  ist, 
umgibt  ihn.  Weich  sind  die  Federn,  worauf  sein  krankes  Bein  ausge- 
streckt ist,  weichlich  die  Luft  im  Zimmer  und  von  allerlei  Wohlgerüchen 


20  — 


durchzogen —  Vor  diesem  Bette  sind  in  den  letzten  Monaten  die  ungarischen 
Staatsmänner  oft  gesessen.  Vielleicht  sind  manche  darunter,  die,  erzogen 
in  der  Waldesluft  der  von  den  Ahnen  vererbten  Güter,  die  Freuden,  die 
ein  Parfümerieladen  verschaffen  kann,  nicht  mögen.  .  .  .  Alle  haben 
jedoch  diese  Gefühle  unterdrückt  und  sind  zu  dem  kranken  Handels- 
minister gekommen.  .  .  .  Die  ungarische  Politik  begegnete  sich  mit  den 
höfischen  Ansichten  in  der  gemeinschaftlichen  Überzeugung,  daß  der 
von  Gliederreißen  schwer  geplagte  Kossuth  einen  geradezu  entscheidenden 
Gefechtswert  habe. 

Sonderbarer  Schwärmer! 


Es  ist  ein  pietätvoller  Usus  bei  der  ,Neuen  Freien  Presse',  daß 
die  Hinauswürfe,  die  dem  Herausgeber  doch  manchmal  widerfahren, 
getreulich  in  den  Nachrufen  quittiert  werden,  in  denen  die  hinaus- 
werfende Persönlichkeit  beschrieben  wird,  sobald  sich  hinter  ihr 
die  Tür  des  Lebens  schließt.  Darauf  mußte  auch  Herr  v.  Taussig 
vorbereitet  sein,  und  er  kann  sich  heute  gewiß  nicht  dagegen 
wehren,  daß  der  Leitartikel  mit  Poesie  anfängt  und  mit  Perfidie 
aufhört.  Die  Stachelkränze  mit  Immortellen  (zwischendurch  mit 
Stilblüten  bespickt),  das  sind  nun  einmal  die  Kondolenzen  eines 
volkswirtschaftlichen  Journalisten,  der  gern  am  Schmerz  teilnimmt, 
wo  er  an  den  Freuden  nicht  beteiligt  war.  Es  ist  etwas 
Eigenes  um  die  Wahrheiten  am  frischen  Qrab,  die  aus  dem 
innern  Drang  der  Heuchelei  kommen.  Man  soll  ihnen  nicht 
wehren.  Was  man  aber  den  Hinterbliebenen  ersparen  könnte,  sind 
jene  Aufrichtigkeiten,  die  einem  Nachrufer  wider  seine  bessere 
Absicht  entfahren.  Es  ist  ein  Malheur,  daß  man  einem  Rabbi- 
ner nicht  genau  sagt,  was  er  zu  sprechen  hat.  So  konnte  es 
geschehen,  daß  am  Grabe  des  Herrn  v.  Taussig  Herr  Oüdemann 
eine  Charakteristik  des  Mannes  gab,  die  er  offenbar  für  die  Quint- 
essenz alles  dessen  hielt,  was  in  solchen  Fällen  zum  höchsten 
Preise  —  ich  bitte  das  nicht  mißzuverstehen  —  des  Toten  gesagt 
werden  kann.  Wenn  sie  aber  in  einer  antisemitischen  Zeitung 
gestanden  hätte,  hätte  man  sie  für  die  schärfste  Kritik  des  sozialen 
Begriffes  Taussig  gehalten.  Der  Oberrabbiner  sagte  nämlich:  »Die 
Qlaubensangelegenheiten  betrieb   er  mit  einem    Ernst,   als   ob   es 


—  21  — 


Oeschäfte  wären,  während  er  die  Geschäfte  mit  einer  Gewissen- 
haftigkeit verwaltete,  als  ob  es  sich  um  Glaubensangelegenheiten 
handeln  würde.« 


Man  kann  schließlich  auch  die  Inhaltsangabe  von  Richard  II. 
telegraphieren. 

Berlin,  13.  November.  Josef  Kainz  setzte  als  Richard  II.  sein 
Gastspiel  im  Königlichen  Schauspielhause  fort.  Diese  Tragödie,  in  der 
Shakespeare  so  eindringlich  auf  die  Hinfälligkeit  aller  irdischen  Größe 
hinweist,  indem  er  zeigt,  daß  ein  König,  wenn  man  ihn  seiner  Macht 
entkleidet,    ein   unglücklicher  Mensch  ist  .  .  . 

Der  Berliner  Telegraphenbeamte  wird  schön  gestaunt  haben. 
Er  machte  Herrn  Paul  Goldmann  darauf  aufmerksam,  daß  im 
Satz  von  dem  seiner  Macht  entkleideten  König  die  Pointe  fehle, 
nämlich  die  Fortsetzung:  »während  ein  Moderner,  selbst  wenn 
er  einen  Bettler  sich  in  einen  König  verwandeln  ließe,  ihn 
damit  noch  nicht  zum  glücklichen  Menschen  machen  würde«. 
Aber  Paul  Goldmann  wehrte  ab.  Die  ,Neue  Freie  Presse' 
habe  bloß  gewünscht,  vor  allen  anderen  Blättern  den  Inhalt  von 
Richard  II.  zu  erfahren. 


Was  sich  alles  in  Wien  begibt,  wenn  man  einmal  eine  Woche 
nicht  da  ist.  >Drei  aus  der  Steiermark«  haben  sich  zusammen- 
getan, um  den  Wienern  ihre  Dichtungen  vorzulesen.  Es  ist  zu 
hoffen,  daß  der  berühmte  Buchtitel  des  Herrn  Bartsch  nach  dem 
Muster  der  zwölf  kleinen  Negerlein  eine  noch  weitere  Reduzierung 
erfährt.  Jetzt  waren's  zwar  nur  mehr  drei,  aber  sie  sind  Heimat- 
künstler. Und  von  denen  kommen  immer  noch  zwölf  aus  der  Steiermark 
auf  ein  Dutzend.  Der  eine  las  eine  >Schnurre«.  Das  brauchen  wir 
nicht.  Der  andere  war  »fidel«.  Wir  sind  es  nicht.  Und  der  dritte, 
ach  der  dritte,  war  der  Sohn  des  »steirischen  Klassikers«,  des 
Rosegger,  aus  dessen  Augen  bekanntlich  der  Schalk  blitzt.  Auch 
an  dem  Sohne  wurde  diese  Erscheinung  wahrgenommen.  Das  war 
also  Graz.  Aber  auch  Prag  stellt  seine  Heimatkünstler,  und  darum 
blieb  uns  eine  Vorlesung  des  Herrn  Hugo  Salus  nicht  erspart.  Der 
ist  wieder  einer  von  einer  ganz  andern  Rass'.  Fern  von  jeder  Schnurrig- 


—  22 


keit  und  mehr  jenem  Schmerz  hingegeben,  der  darum  nicht  kurz- 
weiliger wirkt,  weil  er  schon  tausendjährig  ist.  >Man  kennt  die 
sympathische  Art  dieses  Poeten.«  Ich  hatte  gewettet,  daß  in  den 
Referaten  das  Wort  »nachdenklich«  vorkommen  werde.  Natürlich 
hätte  ich  diese  Referate  auch  schreiben  können,  wiewohl  ich  fern 
von  der  Vorlesung  weilte.  Etwa  so:  >Es  war  die  anmutigste 
Sprechstunde  eines  Frauenarztes«  (Herr  Salus  ist  nämlich  ein 
solcher  und  las  natürlich  in  einem  Frauenverein).  >Die  lyrische 
Seele  ordinierte.  Und  manches  duftige  Frauengeheimnis  fand  in 
dieser  müden  Stimmung  lyrischer  Boudoirs  seine  Lösung.  Salus 
fühlt  den  Puls  der  Unverstandenheit,  fängt  ihn  gleichsam  in  zarten 
Rhythmen  ein.  Ein  bisserl  preziös,  wie  eben  auch  dieses  Prag 
schon,  so  zwischen  der  weicheren  Wiener  Anmut  und  deutscher 
Ernsthaftigkeit  seine  preziöse  Note  hat.  Aus  der  nachdenklichen 
Stimmung  dieser  Versreihen,  wie  ,Kornfeld'  und  , Abendreigen' 
(ich  will  nur  rasch  bemerken,  daß  diese  Namen  keine  Prager 
Firmatafel  bedeuten),  führen  Sehnsuchten  in  dem  Adagio  des 
Entsagens  zu  klareren  Qedankenketten,  die  sich  zum  lyrischen 
Qeschmeide  schlingen,  wenn  Salus  in  dem  Gedicht  ,Die  alte 
Uhr'  uns  den  Ablauf  des  Daseins  gibt.  Salus  trifft  die  lyrische 
Wirkung,  die  das  empfänglichere  Nervensystem  der  Frau 
auch  von  seinem  Äußeren  empfängt:  nur  die  Krawatte,  die  nicht 
die  schlamperte  Nuance  der  älteren  Lyrik  liebt,  bringt  auf  den 
ersten  Blick  eine  gewisse  Enttäuschung.  Aber  diese  schulmeisterliche 
Schlichtheit  ist  vielleicht  eine  hübsche  Pointe.  Hugo  Salus  ist  der 
Lyriker  der  Frauenseele,  die  auch  in  Prag  auf  den  Erlöser  wartet.« 
Nun,  bin  ich  nicht  ein  Ästhet?  Sollen's  mir  nachmachen!  . . . 
Aber  was  sehe  ich:  in  derselben  Spalte,  in  der  ein  Arzt  als  Lyriker 
gewürdigt  wird,  die  Darstellung  eines  fürchterlichen  Spitalsjammers! 
Man  höre  nur.  »Mit  einem  Liedervortrage  des  Herrn  Paul  Schmedes, 
der  für  den  erkrankten  Dr.  Lulek  einsprang,  endete  der  musikalische 
Teil  der  Feier.  Da  auch  Fräulein  Ritscher  aus  Berlin  abgesagt 
hatte,  mußte  Hofschauspieler  Löwe  zur  Freude  des  Publikums  so 
lange  Gedichte  von  Schiller  vorlesen,  bis  endlich  Fräulein 
Hannemann  vom  Deutschen  Volkstheater  eintraf  und  die  Vor- 
lesung Schillerscher  Poesie  fortsetzte.«  Es  war  also  keine  Eisen 
bahnkatastrophe    mit    den    unter    Trümmern   Wimmernden,   Ver- 


23 


wundeten  und  Rettern,  sondern  nur  eine  Schillerfeier,  bei  der  alles 
rennet,  rettet,  flüchtet.  Sie  war  von  dem  bekannten  Idealisten 
Großmann  in  der  Freien  Volksbühne  veranstaltet  worden.  Um 
einem  dringenden  Bedürfnis  abzuhelfen.  In  einem  andern  Saale 
ging's  gleichfalls  stürmisch  zu.  Dort  »bestritt«  HerrGregori  »beide 
Programme  allein«,  »mischte  sogar  Novitäten  des  Vortragstisches 
hinein«  und  »riß«  zu  wiederholtenmalen  »hin«.  Wohin?  .  .  .  Aber 
es  geht  viel  vor,  wenn  man  einmal  eine  Woche  nicht  da  is* 


Schrecken  der  Unsterblichkeit 
Von  Karl  Kraus 

Denn  er  war  unser.  Nämlich  der  Herren 
Minor,  Kalbeck,  Bettelheim,  Blumenthal,  Holzbock, 
Lothar  u.  s.  w.  Sie  werden  hervorkriechen,  ich 
ahnte  es,  sie  werden  hervorkriechen.  Wenn  ein 
Denkmal  renoviert  wird,  kommen  unfehlbar  die 
Mauerasseln  und  die  Tausendfüßer  ans  Licht  und 
sagen:  Denn  er  war  unser  1  Es  sind  die  Leichenwürmer 
der  Unsterblichkeit.  Und  was  Schillers  Andenken  mit 
Fug  verkleinert,  es  ist  die  leichte  Möglichkeit  solcher 
Patronanz.  Sein  Stoffliches  war  so  sehr  das  Stoffliche 
aller  Welt,  daß  sich  die  schwärmerische  Impotenz 
ihm  blutsverwandt  glaubt,  daß  sich  die  Lebensblind- 
heit, die  nur  den  Blick  »gen  Himmele  richtet,  die 
Taubheit,  die  nur  auf  Sphärenmusik  eingestellt  ist, 
und  alles  Nichts,  das  sich  durch  ideales  Streben 
präsentabel  macht,  an  seinem  Ehrentag  geschmei- 
chelt fühlt.  Was  immer  in  Deutschland  in  seines 
Nichts    durchbohrendem    Gefühle    krepieren    müßte, 


—  24 


wenn  ein  Dichter  gefeiert  wird,  lebt  auf,  wenn  dieser 
Dichter  gefeiert  wird.  So  daß  es  ungeheuer  schwer 
hält,  durch  die  Schatzkammern  der  Banalität,  die 
diesem  Dichter  vor  allem  andern  den  Zuspruch  der 
Nachwelt  verschafft  haben,  zu  seinem  wahren  Kunst- 
gehalt vorzudringen.  Denn  hinter  ihm,  vor  ihm, 
neben  ihm  liegt,  was  uns  alle  bändigt,  das  Gemeine. 
Ja,  einen  Aufwand  übermenschlicher  Gerechtigkeit 
verlangt  die  Pflicht,  dahinter  zu  kommen,  daß 
Schiller  besser  war  als  sein  Ruf.  Wo  sind  die 
Nerven,  die,  stündlich  von  den  Schmarotzern  des 
Wahren,  Guten  und  Schönen  beleidigt,  sich  zur  Ruhe 
solcher  Untersuchung  bequemten?  Im  Kampf  gegen 
sein  Gefolge,  und  möge  dabei  auch  Schiller  selbst 
verletzt  werden,  wirkt  man  für  sein  Andenken  .am 
sichersten.  Wenn  an  ihm  ein  Unsterbliches  ist,  so 
wird  es  erst  erstehen,  wenn  die  Unsterblichkeit 
erledigt  ist,  die  ihm  zweifellos  eine  glückliche  Mi- 
schung von  Minderwertigkeiten  errungen  hat.  Ehe 
wir  von  dem  Künstler  reden  wollen,  muß  unbedingt 
auch  nur  die  entfernteste  Möglichkeit  beseitigt  sein, 
daß  vor  einer  Schillerbüste  ein  Männergesangsverein 
Aufstellung  nimmt.  Daß  mir  sein  zweihundertster 
Geburtstag  vor  solchen  Zwischenfällen  bewahrt  bleibe ! 
Und  daß  bis  dahin  überhaupt  alle  kompromittierenden 
Beziehungen  zwischen  einem  Genius  und  den  ge- 
stärkten Vorhemden  aufgehört  haben  —  das  walte 
Gottl 

Bis  zu  diesem  Termin  werden  die  Herren,  die 
sich  heute  noch  als  Kostgänger  des  Schillerschen 
Ruhmes  lästig  machen,  ja  reichlich  Gelegenheit  haben, 
selbst  die  Unsterblichkeit  zu  erwerben.  Besser,  es 
gelingt  ihnen  durch  die  Kraft  ihrer  Reklame  und 
durch  die  Ausdauer,  mit  der  sie  hinter  Särgen  ge- 
laufen sind,  als  daß  der  Typus  noch  weiter  das 
Gesichtsfeld  der  Mitlebenden  verunziere  oder  gar 
bei  späteren  Dichterehrungen  anwesend  sei.  Denn  es 


25 


ist  dringend  zu  wünschen,  daß  die  Leute,  die,  sobald 
von  Kunst  die  Rede  ist,  das  Wahre,  Gute  und  Schöne 
zu  berufen  beginnen,  die  mit  den  Idealen  auf  dem 
besten  Fuß  stehen  und  bei  der  Anrufung  Schillers 
das  Himmelsgewölbe  eindrücken,  endlich  zur  Ruhe 
kommen.  Was  will  das  Pack?  Wenn  Schiller  bloß 
die  Verse  gedichtet  hätte:  »Und  wirft  ihn  unter  den 
Hufschlag  seiner  Pferde  —  Das  ist  das  Los  des 
Schönen  auf  der  Erde!  <,  so  wäre  ja  die  Aufregung  noch 
begreiflich.  Aber  so?  Warum  rückt  denn  diese  ganze 
freiwillige  Feuerwehrbegeisterung  aus,  wenn  Schiller 
Geburtstag  hat?  Warum  begeht  man  dieses  himmel- 
schreiende Unrecht  an  Wildenbruch,  der  doch  all 
das  in  noch  viel  handlicherer  Form  bietet,  was  ein 
deutsches  Herz  zu  Schiller  zieht,  und  der  doch  auch 
in  der  Fürstengruft  begraben  liegt?  Was  bestimmt 
die  Turnvereine,  uns  den  Ausblick  auf  Schiller  zu 
verstellen?  Muß  denn  ein  Dichter  erst  hundertfünf- 
zig Jahre  alt  sein,  um  der  allgemeinen  Anerkennung 
jener  teilhaftig  zu  werden,  die  bloß  der  Gedanke 
berauscht,  daß  es  so  etwas  gibt,  wie  das  Teilhaftig- 
werden der  allgemeinen  Anerkennung?  Lebt  nicht 
ein  Lauff?  Steht  er  nicht  auch  schon  mit  einem  Fuß 
in  der  Fürstengruft?  Und  wäre  dieser  armselige 
Reichtum  an  Idealen  nicht  schließlich  sogar  durch 
Herrn  Paul  Wilhelm  der  Jugend  zu  bieten,  wenn  sich 
ein  Kultusministerium  entschlösse,  einen  neuen  Gym- 
nasialklassiker zu  kreieren?  Diese  Jugend,  die  mit 
ein  bißchen  Schall  fürs  Leben  versorgt  ist,  wird  ja  erst 
bei  einer  Revision  ihrer  Begeisterungen  lebens- 
überdrüssig ! 

Da  muß  man  aber  doch  sagen,  daß  der  einzige 
ehrliche  Kulturfaktor  im  deutschen  Sprachbereich  der 
Burgtheaterdirektor  Hofrat  Schienther  ist.  In  stür- 
mischer Zeit,  da  ihn  die  Demissionsgerüchte  nur  so 
umschwirren,  wohnt  er  am  Schillertag,  unter  der 
Devise:     die    Lebenden    fordern    ihre    Rechte,    der 


26 


Berliner  Premiere  eines  Werkes  der  Herren  Kadel- 
burg  und  Presber  bei.  Pur  die  Wochentage  muß 
auch  gesorgt  sein.  Dagegen  wohnten  der  Schillerfeier 
im  Königlichen  Schauspielhause,  wie  der  Beiwohner 
Holzbock  meldet,  einige  »  Kollegen  des  großen 
Dramatikers  Schillere  bei,  nämlich  die  Herren 
Lindau,  Blumenthal,  Philippi,  Lubliner,  Zobeltitz,  Max 
Bernstein  u.  s.  w.  Nichts  stelle  ich  mir  aufreibender 
vor  als  die  Repräsentationspfltchten,  die  so  eine 
Berliner  Saison  an  die  deutschen  Dichter  stellt.  Eine 
Zeitungsnotiz  vom  selben  Tage  und  im  Stil  der 
Berichte  über  die  Schillerfeier  spricht  wieder  von 
dem  »Ereignis  im  Berliner  Gesellschaftsleben  c, 
welches  das  Diner  bedeutet  habe,  >mit  dem 
der  Kommerzienrat  Jacob  seine  Wiedergenesung 
von  schwerer  Krankheit  feierte.  Die  Literatur 
war  vertreten  durch  Lindau,  Blumenthal,  Fulda, 
Zobeltitzc  Ach,  eine  einfache  Verhebung,  wie  sie 
im  Zeitungsbetrieb  so  häufig  vorkommt,  hat  die 
Verwechslung  verschuldet.  Natürlich  sollten  die 
Herren  Lindau,  Blumenthal,  Fulda,  Zobeltitz  bei  der 
Schiller  feier  als  schlichte  Vertreter  der  Literatur  erschei- 
nen und  bei  der  Jacobfeier  als  die  Kollegen  des  großen 
Kommerzienrats.  So  weit  sind  die  beiden  Welten, 
in  denen  unsere  Zeitgenossen  leben:  Schiller  und 
der  Kommerz,  nicht  von  einander  entfernt,  daß  der 
Irrtum  nicht  begreiflich  wäre.  Finden  wir  sie  doch 
geradezu  vereint  in  der  Tätigkeit  des  Herrn  Felix 
Holländer,  der  als  Dramaturg  des  Herrn  Rein- 
hardt nicht  nur  mit  den  großen  Dramatikern, 
sondern  auch  mit  den  Kommerzienräten  Fühlung 
hat,  und  schon  deshalb  berufen  war,  den  Kunden 
des  Passage- Kaufhauses  mit  einem  Vortrag  über 
Schiller  aufzuwarten.  Die  entscheidende  Anregung 
zu  diesem  Entschlüsse  mag  freilich  das  Gerücht 
gegeben  haben,  daß  Schiller  sich  irgendwo  selbst  als 
Kollegen  des  großen  Kommerzienrats  deklariert  hat, 


—  27  — 

nämlich  in  dem  bekannten  Vers:    Euch,  ihr  Götter, 
gehört  der  Kofmich. 

»Wie  sagt  doch  Schiller  .  .  .«  Alle  jene,  die  so 
anfangen,  wenn  sie  zur  Quelle  ihre  Banalität  führen 
wollen,  müssen  erst  vom  Schauplatz  des  deutschen 
Geisteslebens  weggeputzt  werden,  ehe  wir  uns  über- 
haupt wieder  in  ein  Verhältnis  zu  Schiller  setzen 
lassen.  Was  sie  an  ihm  anbetungswürdig  finden, 
sind  Ideen,  die  als  Phrasen  gestorben  sind,  wenn  sie 
nicht  als  Phrasen  geboren  wurden.  Wenn  seines 
Geistes  Blut  in  ihnen  lebte,  so  gerann  es  und  taugte 
nicht  zum  Lebenssaft  nachkommender  Geister.  Von 
einer  Gebärde  der  Verzückung,  die  wir  als  Erbe 
bewahren,  würde  unsere  Kultur  auf  die  Dauer 
ein  klägliches  Dasein  führen.  Was  die  Schillerfeierer 
der  Jugend  einimpfen  wollen,  kann  in  Wahrheit 
nicht  das  sein,  was  wir  ihm  zu  danken  haben. 
Schlimm  stünde  es  um  Deutschland,  wenn  wir  mit 
diesem  Schutt  einer  zu  den  Sternen  emporgereckten 
Voraussetzungslosigkeit,  wenn  wir  mit  den  Trümmern 
dieser  baufälligen  Wolkenkratzer  der  Empfindung  durch 
die  Jahrhunderte  wirtschaften  wollten.  Wenn  nur  erst 
Schiller  als  Ofenschmuck  des  deutschen  Heims  ent- 
fernt ist,  kann  er  noch  als  Revolutionär  in  das 
deutsche  Heim  zurückkehren  und  die  züchtige  Haus- 
frau, die  drinnen  waltet,  zum  Erröten  bringen,  ja 
selbst  Laura  am  Klavier  an  die  Tage  erinnern,  da 
er  noch  die  Brüste  des  Weibes  >  Halbkugeln  einer 
bessern  Weite  genannt  hat.  Damals  nämlich,  als  noch  in 
keinem  Haushalt  der  Zitrone  saftiger  Kern  zu 
populär-philosophischen  Vergleichen  gepreßt  wurde; 
da  noch  nicht  des  Zuokers  lindernder  Saft  die  herbe 
Kraft  des  Dichters  zähmte,  noch  nicht  des  Wassers 
sprudelnder  Schwall  seinem  Temperament  sich  ver- 
mischt hatte,  und  überhaupt  der  Punsch  des  Lebens 
ganz  anders  zubereitet  wurde.  0,  damals  lohte  noch 
ein  Moralhohn  und  tobte  so  laut,  daß  er  heute  selbst 


—  28  — 


die  Peiertagsglocke  übertönen  könnte,  daß  er  die 
ministeriellen  Redner  verstummen,  die  Säkularfresser 
sich  erbrechen  und  alle  jene  sich  bekreuzigen  ließe, 
die  im  überkommenen  Glauben  ihr  >denn  er  war 
unsere  beten.  Was  heute  in  Deutschland  an  Schiller 
glaubt,  an  ihn  »voll  und  ganz«  glaubt,  sind  die 
Leeren  und  Halben.  Die  den  Gipfel  der  Poesie 
darin  erblicken,  daß  sich  alles  reimt,  und  vor  allem 
Leben  auf  Streben.  Denen  der  Portschritt  eine 
Wandeldekoration  ist,  vor  der  sie  staunend  stehen 
bleiben.  Alle  Maulaffen  der  Zivilisation  und  alle 
Dunkelmänner  der  Freiheit.  Alles  Ungeziefer  des 
Ruhms:  Germanist,  Schöngeist  und  Reporter;  Toten- 
gräber, Tausendfüßer  und  Holzbock.  Alle,  die  sich 
ihrer  Persönlichkeit  erst  bewußt  werden,  wenn  sie  die 
Menschheit  ans  Herz  drücken,  und  vor  dem  Sturz 
ins  Chaos  nur  bewahrt  bleiben,  wenn  sie  einen 
Verein  gründen.  Pastoren,  Sozialdemokraten,  Schla- 
raffen,  Mitglieder  des  Vereins  »Flamme«,  Mitglieder 
des  Vereins  »Glocke«,  überhaupt  Mitglieder.  Nicht 
Männer,  sondern  Obmänner.  Alle,  die  da  sagen,  daß 
für  das  Volk  das  Beste  gerade  gut  genug  sei,  oder 
alle,  die  da  sagen,  daß  uns  die  Kunst  erheben  soll, 
und  überhaupt  alle,  die  da  sagen,  was  alle  sagen.  Sie 
sind  es,  die  nur  eine  Frage  frei  haben  an  das 
Schicksal,  nämlich  die:  »Wie  sagt  doch  Schiller?« 
Hätte  er  sie  geahnt,  hätte  er  sie  heraufkommen  sehen, 
wie  sie  die  Kultur  umwimmeln,  wie  sie  mit  ihren  Platt- 
köpfen an  seinen  Himmel  stoßen  und  mit  ihren 
Plattfüßen  seine  Erde  zerstampfen,  so  daß  kein 
Entrinnen  ist  vor  der  Allgewalt  ihrer  Liebe  —  er  hätte 
sich  die  Unsterblichkeit  genommen! 


Herausgeber    und    verantwortlicher     Redakteur:     Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  8c  Siegel,  Wien,   III.  Hintere  Zollamtsstraße  3 


na  Hl  r*  I  ich  er 

alkalischer 

^AUERBRUNN 

"CARL  GÖLSDORF^Ö^k.uJc.Hq/lieFeranl 

Karlsbad*  Budapest  V.  WienDC.^®*^      KrondorF.    Berlin. 

Unternehmen  für  Zeitungsausschnitte 

OBSERVER,    Wien,  I.  Concordiaplatz  Nr.  *  (Telephon  Hr.  1281 

versendet  Zeitungsausschnitte  über  jedes  gewünschte  Thema.Man  verlange  Pröspe! 

Ä  _^j,Ä-iÄ««   verlangen  vor  Drucklegung  ihrer  Werke  im  eig( 

jHLMLl/OrO mM,  sten  Interesse  die  Konditionen  des  alten  bewährt 

_■___*—  Buchverlags  sub  C.  M.410  bei  Haasenste 

&  Vogler  A.-C,  Leipzig  h.  4200  d 

| PETER    ALTENBERG 

Bilderbogen  des  kleinen  Lebens 

Durch  alle  Buchhandlungen  zu  beziehen 

[ÖS  KAR  KOKOSCHKA 

Die   träumenden   Knaben 

Zu  beziehen  durch  die  Buchhandlung  Hugo  Heller,  Wien,  I.  Bauernmarkt  3 

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Korffs  Cacao 
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DIE  FACKEL 

^AUSGEBER:  KARL    KRAT7Ä 
oheint    in   zwangloser   Folge   im   Umfang 

BEZUGSBEDINGUNGEN : 

ti-TJngarn:  18  Nummern,  portofrei K  4.50 

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the  Reioh:  18  „  „  Mk.4.— 

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Das  Abonnement    erstreckt   sich   nicht  auf  einen    Zeit- 
raum, sondern  auf  eine  bestimmte  Anzahl  von  Nummern 

Einzelnummer    in   Deutschland  30   Pfennig 
Zu    beziehen     durch     sämtliche    Buchhandlungen 

Berliner  Bureau:  Haiensee,  Katharinenstraße  5 


Inhalt    der   vorigen  Nummer  290,  11.  November  1909: 

Zum  hundertfünl  Schillers  und  zum  fünfzigsten 

der  >C:  ■.    Von   Otto  Weininge r.  —    Balzac.  Von  Otto 

-   Aphorismen.  Von    Karl    Kraus.  —  Meine  Bücher. 

ossen.  Von  Karl  Kraus.  —  Berechtigte  Interessen.  Von 
Rudolf  Blümner,  Herwarth  Waiden  und  Karl  Kraus.  - 
Wer  war  denn   dabei?    Was   ist  denn   dabei?  Von  Karl   Kraus. 


Herausgeber  und  verantwortlicher  Redakteur    Kar!  Kraus 
Druck  von  Jaboda  &  Siegel,  Wien,  III.  Hintere  Zollamtsttr.  3 


Nr.  292  17.  DEZEMBER  1909  XL  JAHF 


HERAUSGEBER: 


KARL  KRAU 


INHALT: 

Cyankali  —  Asa  foetida  —  Rhabarber 

Sämtliche    Beiträge    von    Karl     Kraus 


PREIS  DER  EINZELNEN  NUMMER  30  HELLER 
ERSCHEINT    IN    ZWANGLOSER    FOLGE 

VERLAG:  ,DIE   FACKEL'  WIEN— BERLIN 

WIEN,  m/2,  HINTERE  ZOLLAMTSSTRASSE  3   TELEPHON  Nx.  187 


KARL  KRAVS' 

SPRVECHE 

VNDWIDER- 

SPRVECHE 

Verlag  ALBERT  LANGEN  München 

DURCH  ALLE  BUCHHANDLUNGEN  ODER  DIREKT  VOM  VERLAG  ZU  BEZIEHEN. 
BROSCHIERT  M  3.50,  IN  LEINEN  GEB.  M  4.50,   IN  HALBFRANZ  GEB.  M  7.50. 

In  zweiter  Auflage  erschien: 

Sittlichkeit  und  Kriminalität 

Erster  Band  der  ausgewählten   Schriften   von   Karl  Kraus 

Broschiert  .    .  M  6.-  Ganzleinen  .    .  M  7.25 

(L.  Rosner,  Wien  und  Leipzig) 

Bestellungen    nimmt  jede    Buchhandlung,  der  Verlag  der  , Fackel',  Wien 

H/2,    Hintere    Zollamtsstraße   3    und    das    Berliner    Bureau    der   , Fackel', 

Berlin -Haiensee,    Katharinenstraße   6,    entgegen. 

Im    Verlage  Jahoda   &    Siegel,   Wien   III/2,   Hintere   Zollamtsstraße  3 
rschien : 

KARL  KRAUS 

Von    ROBERT    SCHEU 

(Mit  einem  Bildnis) 
40    SEITEN    80,   broschiert 
Preis   80   Heller  (80  Pf) 


Die  Fackel 

NR.  292  17.  DEZEMBER  1909  XI.  JAHR 


Cyankali 
Von  Karl  Kraus 

Dreißig  Millionen  Zeitungsleser  —  oder  wieviel 
nach  der  letzten  Volkszählung  herauskommen  — 
sind  vergiftet,  die  Analphabeten  haben  es  im  Wege 
mündlicher  Überlieferung  von  den  Abonnenten  er- 
fahren, und  der  Täter  ist  noch  immer  nicht  festgestellt. 
Wohl  hat  man  dem  Volkswillen,  der  zu  jeder  Mord- 
tat auch  einen  Mörder  braucht,  den  Gefallen  getan 
und  mit  dem  Oberleutnant  Hofrichter  einstweilen 
den  vakanten  Posten  besetzt.  Aber  >die  Bevölkerung<, 
die  man  sich  trotz  vielfachen  nationalen  und  kon- 
fessionellen Meinungsverschiedenheiten  als  eine  Ein- 
heit vorstellen  muß,  mit  der  man  zu  rechnen  hat, 
schüttelt  den  Kopf.  Sie  war  acht  Tage  lang  in 
höchster  Erregung,  die  dadurch  noch  erhöht  wurde, 
daß  ihr  »die  Behörde«  —  vorgestellt  durch  die  Einheit 
des  Herrn  Stukart  —  durch  die  Zeitungen  versichern 
ließ,  daß  sie  fieberhaft  arbeite.  Dann  entschloß  man 
sich,  zur  Erholung  von  den  ausgestandenen  Strapazen 
nach  Linz  zu  reisen  und  den  Oberleutnant  Hofrichter 
zu  verhaften.  Ist  es  ein  Wunder,  daß  jetzt  auch  die 
Bevölkerung  das  tat,  was  in  solchen  Fällen,  wenn 
ein  Mensch  gefangen  wird,  immer  geschieht:  daß  sie 
nämlich  »aufatmete«  ?  Wenn  aber  die  Bevölkerung 
aufatmet,  so  wird  die  Luft  schlechter.  Dieses  Zu- 
standes,  in  dem  die  Spannung  eines  Kolportageromans 


—   2   — 


dem  elegischen  Bedauern  weicht,  daß  die  Gerech- 
tigkeit nicht  das  Lynchen  erlaubt  hat,  hatten  wir 
uns  nicht  allzulange  zu  freuen,  und  es  stellte  sich 
heraus,  daß  die  Verhaftung  des  Oberleutnants  Hof- 
richter dem  Befinden  der  Bevölkerung  nichts  genützt 
hatte.  Im  Gegenteil.  Die  Temperatur  war  wieder 
gestiegen  und  sie  wurde  jetzt  dadurch  erhöhl,  daß 
nicht  mehr  die  Polizei  fieberhaft  arbeitete,  son- 
dern hinter  den  Mauern  der  militärischen  Autorität 
der  Prozeß  seinen  schleichenden  Fortgang  nahm.  Daß 
keine  Bulletins  mehr  ausgegeben  werden,  trägt  bei  die- 
ser Krankheit  zur  Verschlimmerung  des  Zustandes 
bei.  Gut  informierte  Zeitungen  können  höchstens 
mit  der  Meldung  aufwarten,  daß  sich  der  Bevöl- 
kerung Unruhe  »bemächtigt«  habe.  Wo  die  Krankheit 
steckt,  wer  Arzt  ist,  wer  Patient,  weiß  man  nicht. 
Man  fühlt  nur,  daß  es  geraten  ist,  Bierbänke  zu 
meiden  und  Zeitungen  nicht  in  die  Hand  zu  neh- 
men, um  vor  Ansteckung  sicher  zu  sein.  Die  Bevöl- 
kerung, die  ich  persönlich  mir  in  Österreich  nicht  als 
Einheit,  sondern  als  ein  Vereinskomitee  vorstelle,  beste- 
hend aus :  dem  Lohnfuhrwerker  Anderle,  dem  Devo- 
tionalienhändler Chramosta,  dem  Rauchfangkehrer 
Maloja,  dem  Gemischtwarenverschleißer  Bösbauer, 
dem  Realitätenbesitzer  Dalmata,  dem  Bürger  HrnzMrä, 
dem  Abonnenten  des  Deutschen  Volksblattes  Sigurd 
Waclawicek  und  dem  alten  Abonnenten  der  Neuen 
Freien  Presse  Siegfried  Gollerstepper  —  die  Bevöl- 
kerung also  findet,  daß  die  Kautelen  für  eine  geordnete 
Rechtsprechung  in  der  Militärjudikatur  nicht  gege- 
ben seien.  Hieß  es  früher  »Aufhalten!«,  so  heißt  es 
jetzt  »Auslassen!«,  beides  ist  österreichisch,  aber  die 
Servierkellner  der  österreichischen  Sensationen,  die 
durch  ein  Gedränge  hindurchkommen  wollen,  rufen 
in  jedem  Falle:  »Sauce  (sprich  Ssosss)  bitte!«  Kau- 
telen sind  das,  worauf  sich  hierzulande  »fehlen« 
reimt.  Weil  nämlich  zu  den  unveräußerlichen  freiheit- 


—  3  — 


liehen  Gütern  der  Menschheit  die  Verteidigung  durch 
den  jungen  temperamentvollen  Dr.  Goller  (den  Sohn 
jenes  alten  Abonnenten  der  Neuen  Freien  Presse) 
gehört.  Da  nun  das  Barreau  von  der  Sensation 
nichts  abschöpfen  kann,  da  die  Aussicht,  daß  die 
Bevölkerung  um  ein  Plaidoyer  kommt,  unverrückbar 
feststeht  und  auf  das  heftigste  Klopfen  an  der  Tür 
eines  Militärgefängnisses  die  Frage:  »Nix  zu  ver- 
teidigen ?c  ohne  Antwort  bliebe,  so  meldet  sich 
wenigstens  an  jedem  Tage  ein  anderer  Hofrichter- 
advokat zum  Wort,  in  dessen  Kanzlei  ein  Zeuge  er- 
schienen ist,  der  den  Offizier  da  und  dort  gesehen  oder 
nicht  gesehen  hat.  Hätte  der  Zeuge  Wesentliches 
zu  sagen,  so  dürfte  der  Advokat,  der  das  Glück 
hat,  nicht  die  Redaktionen  vor  dem  Militärgericht 
verständigen;  aber  es  bleibt  zweifelhaft,  ob  die 
wertvollste  Angabe  ihn  zu  solcher  Zeugenvertretung 
vermöchte,  wenn  auch  sie  ein  Geheimnis  der  Militär- 
judikatur  bleiben  müßte.  Solange  die  Polizei  die 
Sache  in  Händen  hatte,  war  sie  sich  der  Ver- 
pflichtung bewußt,  von  dem  amerikanischen  Ver- 
mögen an  Reklame,  das  ein  solcher  Fall  ins  Ver- 
dienen bringt,  an  alle  Faktoren  abzugeben,  und 
keine  Graphologin  ging  unbeschenkt  von  ihrer  Schwelle. 
Jetzt  ist  es,  als  ob  ein  Vanderbilt,  der  eben  noch 
sein  Geld  auf  die  Straße  geworfen  hat,  das  Fenster 
zugeschlagen  und  Schmecks!  gesagt  hätte  —  Alles 
steht  mit  offenen  Händen  da  und  schreit  nach  Öffentlich- 
keit des  Verfahrens.  Die  Nachrichtenschnorrer  rennen 
mit  dem  Kopf  gegen  eine  stumme  Wand.  Wenn  der 
Bosniak,  der  vor  der  Zelle  steht,  verriete,  wie  oft 
er  Hofrichter  sich  schneuzen  gehört  hat  —  was 
immer  noch  eine  subjektiv  gefärbte  Darstellung  sein 
könnte  — ,  er  wäre  der  publizistische  Held  des  Tages. 
Als  ob  man  nicht  selbst  diese  Dinge  erfinden  könnte  1 
Als  ob  es  nicht  umständlicher  wäre,  sie  zu  erfahren 
als  zu  schreiben.  Man  begreift    die    Gewissenhaftig- 


—  4 


Keit  wirklich  nicht,  die  auf  Authentisches  geht.  Man 
begreift  nicht,  warum  sich  das  , Extrablatt'  Zwang 
antut  und  nicht  endlich  mit  dem  Tagebuch  Hof- 
richters herausrückt.  >Hofrichter  als  Mietpartei«,  Hof- 
richter als  Stammgast,  Hofrichter  als  Billardspieler: 
es  geht  ja  bei  einigem  guten  Willen.  Und  dankens- 
wert sind  die  bildlichen  Darstellungen.  Die  Apo- 
theke, in  der  Hofrichter  die  Chininpulver  machen 
ließ;  in  der  Tür  rechts  der  Provisor  Schmetter er:  ja, 
ja,  so  muß  sie  und  so  muß  er  aussehen!  Die  Apotheke, 
in  der  Hofrichter  die  Oblaten  kapseln  kaufte;  in  der 
Tür  links  der  Provisor  Katzwendl:  so  haben  wir 
uns  ihft  vorgestellt.  Die  Papierhandlung,  in  der  die 
Schachteln  gekauft  wurden,  und  daneben  —  zum 
Unterschied  —  die  Papierhandlung,  in  der  die  Kuverts 
gekauft  wurden.  Aber  dannl  »Der  Postamtsdiener,  der 
die  Giftbriefe  aushob«  :  nun,  man  trauts  ihm  zu.  Der 
Blick  hat  etwas  Starres,  auf  ein  Ziel  Gerichtetes,  als 
ob  er  mit  einem  Ruck  einen  Postkasten  entleeren 
könnte,  in  dem  Giftbriefe  sind.  Den  hätte  man  also 
auch.  Wie  man  das  Opfer  des  Giftmords  hat.  Ferner 
haben  wir  noch  den  Regierungsrat  Stukart.  Daß  wir 
aber  auch  den  Oberleutnant  Hofrichter  haben,  das 
bedeutet  vielleicht  keinen  ganz  so  guten  Fang  und 
es  ist  jenes  Faktura,  auf  das  sich  gerade  die  heftigsten 
Zweifel  der  Bevölkerung  konzentrieren. 

Wo  alle  Indizien  stimmen,  ist  im  Strafprozeß 
noch  immer  Raum  für  einen  Irrtum.  Das  ist  keine 
neue  Erkenntnis.  Je  kleiner  der  Verdachtskreis  ist, 
in  dem  die  Indizien  spielen,  desto  geringer  ist 
die  Möglichkeit  eines  Irrtums.  Wenn  auf  der 
Ringstraße  ein  Mord  geschah  —  trotzdem  kein  Wach- 
mann in  der  Nähe  war  —  und  der  Mörder  von 
Passanten  gesehen  und  »agnosziert«  wurde,  so  wäre 
die  absolute  Identität  seines  Rocks  mit  dem  Rock  des 
Verdächtigten  noch  kein  Schuldbeweis.  Wenn  aber 
unter  siebzig  Generalstäblern  einer  in  der  harmlosesten 


5  — 


Absicht  alle  die  Handlungen  gesetzt  haben  soll,  die 
auch  zur  Ermordung  eines  Kameraden  geführt  haben, 
so  ist  die  Indizienfläche  mit  der  Verdachtsfläche 
kongruent  und  es  bleibt  keine  leere  Stelle  für  Zufall 
und  Irrtum.  So  stand  die  Angelegenheit,  ehe  sich 
herausstellte,  daß  die  Indizien,  die  Herr  Stukart  fand 
und  deren  Gediegenheit  er  sich  zu  einem  Inter- 
viewer rühmte  —  ein  Fall,  der  selbst  im  Ausland 
besprochen  wurde  und  ebenso  dringend  der  Unter- 
suchung bedarf  wie  der  Fall  Hofrichter  — ,  ehe  sich  also 
herausstellte,  daß  diese  Indizien  viel  eher  eine  Kritik 
vertragen  als  eine  Anpreisung  im  Odol-Stil.  Heute 
kann  nur  mehr  von  einer  annähernden  Ähnlichkeit 
der  Handlungen  des  Offiziers  und  der  Voraus- 
setzungen des  Giftmordes  die  Rede  sein.  Und 
gerade  diese  Beobachtung  müßte  die  Behörde,  die 
jetzt  den  Fall  übernommen  hat  und  die  durch  Tra- 
dition und  ein  veraltetes  Gesetz  vor  den  Verlockun- 
gen der  Reklame  geschützt  ist,  auf  die  Fährte  einer 
neuen  Möglichkeit  führen:  daß  die  »Annäherung«  der 
begleitenden  Umstände  eine  künstlich  hergestellte 
ist  (»Wie-Giltmord«).  Von  einer  Person  hergestellt, 
die  —  unweit  dem  Verdachtskreis  wirkend  —  die 
Verrichtungen  des  Oberleutnants  Hofrichter,  seine 
Schachtelmanipulationen,  seine  Hundspillenexperi- 
mente gekannt,  seine  Reise  nach  Wien  ver- 
folgt hat;  den  Giftmord  ausgeführt,  die  Polizei  irgend- 
wie an  die  Linzer  Adresse  verwiesen,  so  dem 
Hauptmann  Mader  ein  zweites  Opfer  gesellt 
und  in  der  entfachten  Sensation  die  eigene  Spur 
verwischt  hat.  Es  ist  doch  wahrscheinlicher,  daß  der 
Ruf  Hofrichters  als  »Bastler«  einen  Kombinator  an- 
gelockt, als  daß  seine  Bastlertätigkeit  ihn  selbst  auf 
die  Idee  gebracht  habe,  unverdächtig  morden  oder 
sich  gegen  den  Verdacht  durch  eine  plausible  Erklärung 
seines  Tuns  verteidigen  zu  können?  Was  man  für  sein 
zurechtgelegtes   Alibi    hält,    könnte   doch  weit  eher 


—  6  — 


die  Falle  sein,  die  ihm  der  andere  gelegt  hat,  indem 
er  in  ein  vorhandenes  Milieu  die  Tat  stellte.  Gegen 
die  Schuld  Hofrichters  spricht  die  unwahrscheinliche 
Dummheit,  mit  seinem  notorischen  Handwerkszeug 
einen  Giftmord  zu  verüben  und  zu  hoffen,  daß  er 
dem  Verdacht  durch  Harmlosigkeit  begegnen  könne. 
Oder  es  wäre  überschlau,  auf  offener  Straße  einen 
Mord  zu  begehen  und  damit  zu  rechnen,  daß  man 
ihm  eine  solche  Dummheit  nicht  zutrauen  werde.  So 
gewitzt  ist  weder  ein  Mörder,  der's  anlegt,  noch 
die  Polizei,  die  es  durchschaut.  Man  halte  sich  an 
die  simple  Schlauheit  eines  Menschen,  der  mit  der 
Bedenklichkeit  der  Hofrichterschen  Manipulationen 
rechnet  und  die  Polizei  von  ihrer  Identität  mit  den 
Vorbereitungen  des  Giftmords  überzeugt.  Diese  Dosis 
Schlauheit,  nicht  die  Oblaten  sind  es,  womit  ein 
Giftmord  verübt  wird.  Es  ist  viel  weniger  wahr- 
scheinlich, daß  Hofrichter  die  gegebene  Harmlosigkeit 
benützt  hat,  um  dem  Verdacht  zu  entgehen,  als  daß 
ein  anderer  die  gegebene  Bedenklichkeit  benützt  hat, 
um  Hofrichter  verdächtig  zu  machen  und  selbst  aus 
dem  Spiel  zu  bleiben.  Einer  schaufelt  eine  Grube, 
ein  Mörder  weiß  das,  legt  seine  Leiche  hinein,  am 
nächsten  Morgen  kommt  der  Mann  mit  der  Schaufel, 
und  wird  verhaftet.  Weil  er  eine  Schaufel  hat  und 
meinetwegen  die  Grube  sein  Werk  ist.  Aber  ist  dann 
die  Polizei  nicht  selbst  hineingefallen?  Es  soll  sogar 
vorkommen,  daß  den  besten  Patrioten  falsche  Doku- 
mente über  einen  echten  Vaterlandsverrat  in  die  Hände 
gespielt  werden.  So  dumm  sind  die  Männer  mit  der 
Schaufel  nicht,  daß  sie  sich  ihrer  nicht  entledigen, 
wenn  sie  einen  Leichnam  verscharrt  haben,  und  daß 
sie  sich  schon  Wochen  vorher  mit  dem  Werkzeug 
sehen  lassen.  Aber  so  schlau  sind  die  Mörder,  daß 
sie  eine  vorhandene  Grube  benützen  und  den  Mann, 
der  mit  der  Schaufel  vorübergeht,  schuldig  werden 
lassen.  Die  Indizien  im  Fall  Hofrichter  stimmen  wirklich 


gerade  so  genau,  daß  der  Oberleutnant  der  Täter 
sein  kann:  das  wäre  vielleicht  der  Beweis  dafür, 
daß  ein  anderer  der  Täter  sein  muß.  Jener  müßte 
es  nur  dann  sein,  wenn  er  die  Absicht  gehabt  hätte, 
es  der  Polizei  leicht  zu  machen.  Aber  dann  hätte  er 
wohl  auch  noch  das  Geständnis  großmütig  zugelegt. 
Es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  die  Handlungen  Hol- 
richters mit  der  Tat  zusammenhängen,  aber  so, 
daß  der  Zufall  der  Übereinstimmung  von  einer  Ab- 
sicht benützt  erscheint.  Wenn  die  militärische  Ge- 
richtsbarkeit sich  vornimmt,  auf  die  täuschende 
Ähnlichkeit  der  Handlungen  Hofrichters  und  der 
Vorbereitungen  des  Mörders  zu  achten,  so  wird  ihr 
die  exkulpierende  Kraft  der  Beweise  zu  imponieren 
beginnen. 

Nur  glaube  man  nicht,  daß  die  Bevölkerung, 
der  noch  immer  täglich  der  Puls  gefühlt  wird,  einer 
stillen  Gerechtigkeit  nicht  einen  geräuschvollen  Justiz- 
irrtum vorzöge.  Was  sie  an  dem  geheimen  Ver- 
fahren auszusetzen  findet,  ist  die  Heimlichkeit,  nicht 
das  Verfahren.  Man  lasse  sich  doch  nicht  durch  die 
liberalen  Phrasen  zum  Wahn  bekehren,  daß  hier 
wirklich  der  Drang  einer  höheren  Gesittung  und 
nicht  die  Wut  über  einen  an  der  spannendsten 
Stelle  abgebrochenen  Kolportageroman  das  Wort  führt. 
Die  Militärjudikatur  hat  vor  dem  Zivilgericht 
wenigstens  den  Vorteil,  daß  sie  einen  Beschuldigten  vor 
der  moralischen  Lynchjustiz  der  Zeitungsleser  bewahrt. 
Im  Falle  Hofrichter  hat  sie  ohnedies  Konzessionen  ge- 
macht und  sich  ein  paar  spannende  Kapitel  abhandeln 
lassen.  »Die  Pastorstochter  von  Hermannstadt  oder: 
Der  Brief  in  der  Grüfte  und  »Mit  einem  roten  Roserl 
im  Schnaberl«.  Hier  muß  ein  Romanzier  die  Justiz 
beraten  haben.  Es  ist  nicht  zu  glauben,  daß  ein 
Jurist  es  war,  der  das  Vorleben  des  Oberleutnants 
auf  Cyankali  untersucht  und  den  Tod  seiner  herz- 
kranken Braut  verdächtig  gefunden  hat.  Das  leichen- 


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schänderische  Moment,  das  in  die  Untersuchung 
hineinkam,  ist  unbedingt  die  Eingebung  eines  Mannes, 
der  dafür  sorgt,  daß  die  Vorlesung  bei  der  Haus- 
meisterin genußreich  ausfällt  (»und  herein  trat  der 
Attache"  —  sprich  Attache  — ,  der  aus  einer  sehr 
dischtinkerten  Familie  stammte.  Auf  dem  Katafalke  — 
lies  Katasalke  —  brannten  viele  Kirzen«).  Eher 
traue  ich  schon  die  Untersuchung  des  Vorlebens  auf 
Erotik  einer  österreichischen  Behörde  zu.  Das  Mäderl 
mit  dem  Roserl  im  Schnaberl  ist  nicht  nur  vom 
, Extrablatt'  interviewt,  konterfeit  und  zur  Be- 
lohnung seiner  Tugend  mit  Namen  und  Adresse  ver- 
ewigt worden,  sondern  scheint  wirklich  auch  in  der 
Untersuchung  eine  Rolle  gespielt  zu  haben.  Ja,  es 
macht  sogar  den  Eindruck,  als  ob  man  den  Ober- 
leutnant Hofrichter,  selbst  wenn  sich  herausstellen 
sollte,  daß  er  der  Ermordung  des  Hauptmanns 
Mader  fernsteht,  wegen  eines  erwiesenen  Hotelaben- 
teuers unschädlich  machen  woDte.  Hier  erkenne  ich 
mein  Österreich  wieder.  Hier  grinst  es  unter  der  Spitz- 
marke »Hofrichter  als  Don  Juan«.  Aus  dem  Satz : 
»Es  tritt  da  ein  stark  sinnliches  Moment  in  seinem 
Charakter  zutage«,  tönt  uns  die  Stimme  des  Votan- 
ten  entgegen,  der  etwa — unter  atemloser  Spannung  des 
Auditoriums — einem  Mörder  die  Worte  zuruft:  »Sie 
sollen  einmal  eine  außereheliche  geschlechtliche  Be- 
ziehung gehabt  haben.  Antworten  Sie  auf  die  Frage!« 
(Bewegung).  Man  hat  in  dem  Mann,  der  ein  Mädchen 
auf  dem  Linzer  Bahnhof  erwartete,  einen  Mädchen- 
händler vermutet.  Jetzt  vermutet  man  in  ihm  einen  Gift- 
mörder. Das  sinnliche  Moment  wird  »durchaus  nicht  als 
unwichtig«  betrachtet,  weil  daraus,  wenn  schon  nicht  ge- 
rade der  Giftmord,  so  doch  die  Kenntnis  der  Mittel 
zur  Hebung  der  Manneskraft  hervorzugehen  scheint. 
Einer  wollte  ein  Mädchen  auf  dem  Bahnhof  erwar- 
ten: da  war  schon  vor  ihm  ein  Detektiv  zur  Stelle!  Das 
Mädchen  ging  beruhigt  ins  Hotel.  Auffallend  ist,  daß 


—  9  — 


der  Mann  einen  halben  Liter  süßen  Rotwein  bestellte 
und  ein  großes  Stück  Mandelbrot  einem  Paket  ent- 
nahm. »Kaum,  daß  der  Mann  aber  das  Weinglas  für 
mich  eingeschenkt  hatte,  klopfte  es  an  der  Tür.  Ich 
atmete  erleichtert  auf,  da  ich  wußte,  daß  es  der 
Polizeiagent  Pelikan  war.t  Nicht  jedes  Mädchen 
hält  so  rein.  Der  Don  Juan  warf  ihr  einen  scharfen, 
stechenden  Blick  zu  und  wurde  hierauf  zur  Polizei 
gebracht.  »Es  war  der  Oberleutnant  Hofrichter.« 
Später  kam  der  Polizeiagent  wieder,  »kostete  vor- 
sichtig von  dem  Wein  und  dem  Mandelbrot  und 
nachdem  er  sich  überzeugt  hatte,  daß  nichts  Schäd- 
liches darin  war,  griffen  wir  herzhaft  zu,  so  daß  das 
Mandelbrot  rasch  verzehrt  war«.  Nachdem  die  Be- 
hörde auf  diese  Art  die  Untersuchung  der  be- 
denklichen Speise  zu  Ende  geführt  hatte,  reiste 
das  Mädchen  nach  Wien  zurück.  Sie  war  vor 
Vergiftung,  ja  sogar  vor  Verführung  dank  der 
Umsicht  jenes  wackeren  Schiffskapitäns  bewahrt 
worden,  der  rechtzeitig  die  Polizei  verständigt  hatte, 
und  dem  das  Mädchen,  wie  es  sagt,  nie  vergessen 
wird,  was  sie  ihm  zu  danken  habe.  Nun  wäre  es  noch 
immer  möglich,  daß  der  geheimnisvolle  Mann,  der  so 
Böses  im  Schilde  führte,  damals  den  Namen  Hofrichters 
mißbraucht  hat.  Zuzutrauen  wäre  ihm  auch  das!  Wa- 
rum nicht:  ein  Mensch,  der  ein  Mädchen  aufs  Zimmer 
führt?  Aber  die  Behörde  hat  ein  untrügliches  Beweis- 
mittel in  der  Hand.  Das  Mädchen  gibt  ausdrücklich 
an,  sie  habe  das  Bild  Hofrichters  im  ,  Extrablatt* 
gesehen  und  »sofort  den  Mann  erkannt,  der  sie  nach 
Linz  gelockt  hat«  .Vorsicht  shalber  begab  sie  sich  auch  zur 
Schwiegermutter  des  Offiziers  und  fragte  sie,  »ob  ihre 
Tochter  von  dem  damaligen  Streiche  ihres  MannesKennt- 
nis  gehabt  habe  « .  Die  Frau  verneinte  dies  a ber  un d  »  schien 
dem  Vorfalle  selbst  keine  besondere  Bedeutung  beizu- 
messen«. Was  sagt  man  I  Sie  war  vielleicht  nicht  einmal 
dankbar  für  die  Vervollständigung  der  Vorlebensfakten 


-  10  — 


ihres  Schwiegersohnes.  Ja,  gegenüber  dem  Gravamen, 
>daß  derOberleutnant,dessen  glücklichesEhelebenin  den 
lockendsten  Farben  geschildert  wird,  nach  verhältnis- 
mäßig so  kurzem  Ehestande  schon  Schleichwege  der 
Liebe  geht  und  sich  in  ziemlich  komplizierte  galante 
Abenteuer  einläßu,  hatte  sie  am  Ende  gar  eine  ver- 
zweifelte Gebärde  des  Abscheus.  Vor  einer  Publizistik, 
die  es  niederschreibt,  vor  einer  offiziellen  Moral,  die 
darin  afierredet.  Vor  dieser  ganzen  polizeihündischen 
Gesinnung,  die,  einmal  losgekoppelt,  in  der  wilden  Jagd 
auf  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  eines 
Beschuldigten  nicht  mehr  Halt  macht.  Zu  jedem 
Mordverdacht  findet  sich  in  Österreich  mindestens 
eine  Falschmeldung  in  irgendeinem  Hotel,  in  dem 
der  außereheliche  Beischlaf  zwar  versucht,  aber  nicht 
ausgeübt  wurde.  Und  so  überzeugt  ist  jeder  Öster- 
reicher von  seiner  Verpflichtung,  ein  »Detail«  beizu- 
stellen, daß  es  dem  Kameraden  nichts  verschlägt,  den 
Beschuldigten  anzuschwärzen,  und  sogar  dem  Gegner 
nichts,  ihn  reinzuwaschen.  Dem  einen  war  er  ein 
Streber,  dem  andern  war  er  immer  unsympathisch,  und 
der  dritte  versichert  einem  Interviewer,  daß  Hofrichter 
»desSchwiranaens  unkundig«  war:  »damals  bat  er  mich, 
über  die  Sache  Stillschweigen  zu  bewahren,  was  ich 
auch  bis  heute  getan  habe«.  Aber  um  keinen  Tag 
länger!  Ein  Sarajevoer  Blatt  fühlt  sich  verpflichtet, 
einen  Brief  Hofrichters  preiszugeben,  der  aus  dem 
besten  kameradschaftlichen  Gefühl  entstanden,  An- 
griffe gegen  hochgestellte  Personen  enthält,  mit  dem 
Giftmord  nichts  zu  tun  hat,  aber  für  den  Schreiber 
noch  Konsequenzen  haben  wird,  wenn  er  als  Absen- 
der der  Giftbriefe  längst  rehabilitiert  sein  wird.  Das 
Motiv  der  reinen  Infamie  ist  für  die  meisten  Zeugen 
einer  Kriminalsensation  ausschlaggebend.  Was  bleibt 
von  Hofrichter  noch  übrig,  wenn  er  kein  Mörder 
ist?  »Wißt,  mein  Nam'  ist  hin,  zernagt  vom 
gift'gen  Zahne  des  Verrats! . . .«  Seine  Frau  wird  unter 


—  11 


lern  Grauen  dieser  Wochen  Mutter.  Sie  glaubt  ihm 
ien  Mord  nicht:  vielleicht  trifft  sie  der  Klatsch,  der 
sich  zwischen  einem  Hotelzimmer  und  einer  Gruft 
spinnt,  ins  Herz.  Warum  müssen  Familien  gemordet 
Verden,  wenn  einer  eines  Mords  beschuldigt  ist  ? 
Die  Infamie  ist  zwecklos,  man  kann  sie  nur  zurück 
/erfolgen  und  stößt  auf  die  Dummheit.  Die  natürlich 
auf  das  Zustandekommen  von  »Beobachtungen«  einen 
noch  größeren  Einfluß  hat  als  auf  die  Lieferung  von 
Details  aus  dem  Vorleben.  Typisch  ist  die  Figur  des 
Linzers,  der  zu  der  Polizei  mit  der  Angabe  rennt, 
vor  einiger  Zeit  habe  sich  ein  Offizier  nach  Adressen 
von  »Gottscheern«  —  auch  eine  österreichische  In- 
stitution —  erkundigt,  weil  er  tags  vorher  von  einem 
solchen  um  zehn  Kronen  zu  wenig  herausbekommen 
hatte:  Gottscheer  haben  bekanntlich  Schachteln  und 
Giftpillen  werden  auch  in  Schachteln  versendet .  .  . ; 
sofort  erscheint  ein  Bericht  unter  der  Spitzmarke : 
»Hofrichter  sucht  Gottscheer«.  Wir  leben  in  einem 
angenehmen  Land.  Die  Geburt  eines  neuen  Öster- 
reich wird  stündlich  erwartet.  In  Prag  haben  sie 
einen  Giftmörder  gehabt,  einen  Chemiker,  der  einer 
Frau  für  ihren  Mann  Bromkali  als  Beruhigungsmittel 
empfahl.  Indizium :  ein  Brief,  der  verloren  ging  und 
der  Polizei  übergeben  wurde.  Daraufhin  siebzigstün- 
diger  Transport  in  Fesseln  von  Czernowitz  nach  Prag, 
vier  Wochen  Untersuchungshaft  —  für  Prager  Ver- 
hältnisse genug.  Folgen :  Publizität  eines  Liebes- 
verhältnisses, Ehescheidung  etc.  Wenn  sich  also 
die  Polizei  auch  manchmal  irrt,  ganz  umsonst  be- 
müht sie  sich  nie.  Zwischen  Wien  und  Linz,  auf 
der  augenblicklich  gefährlichsten  Strecke  des  Reiches, 
wird  noch  viel  zu  holen  sein. 

Die  Indizien  des  Herrn  Stukart  gleichen 
den  Beweisen  des  Herrn  Cook:  sie  werden  jetzt 
überprüft  und  wenn  auch  nicht  der  richtige 
Nordpol  entdeckt  sein  sollte,  aus  dem  Familienleben 


—  12 


der  Eskimos  erfuhr  die  Welt  doch  manches  Wissens- 
werte. Der  Unterschied  ist  nur  der,  daß  uns  die  arktischen 
Enthüllungen  zwar  auch  langweilen,  daß  sie  aber 
doch  nicht  dermaßen  ruinös  für  die  Betroffenen  und 
so  demoralisierend  auf  die  Interessenten  wirken,  wie 
die  Abwicklung  einer  Mordaffäre.  Zuerst  ist  bloß 
die  Gewinnsucht  aufgewiegelt,  und  der  Preis  von 
zweitausend  Kronen  für  den  ehrlichen  Entdecker  recht- 
fertigt noch  die  Erhebung  eines  wirtschaftlich 
darniederliegenden  Volkes.  Aber  dann  verliert  die 
Bestialität  ihre  Entschuldigung  und  sinkt  zu  einem 
idealen  Interesse  für  die  Sache  selbst  herab.  Weil 
ein  Menschenleben  vernichtet  wurde  —  Tötung  eines 
Fahrlässigen  — ,  wütet  die  Sensation  gegen  alle 
Lebensgüter,  gegen  das  Kind  im  Leib  der  Mutter 
und  gegen  die  Leiche,  di«  im  Sarg  liegt.  Den  ge- 
heimen Wunsch  so  vieler  Österreicher,  ihre  Vorder- 
männer aus  dem  Weg  geräumt  zu  sehen,  hat  ein 
einziger  in  Tat  umgesetzt.  Man  verdankt  ihm  die 
Entdeckung,  daß  es  eine  Eigenschaft  der  Streberei 
gibt.  Sonst  ziehen  wir  aus  dieser  Affäre  keinen 
geistigen  Gewinn.  Die  Dummheit  im  Zustand  der 
Ruhe  lastet  schwer  genug  auf  diesem  Lande;  wenn 
man  sie  durch  Kolportageromane  aufregt,  wird's 
ungemütlich.  Die  Behörden  sollten  solche  Literatur 
verbieten  und  nicht  verfassen.  Es  wäre  besser,  wenn 
kein  Giftmord  geschähe.  Der  moralische  Schaden,  der 
durch  die  Verfolgung  entsteht,  ist  größer  als  wenn 
man  den  Täter  in  des  Teufels  Namen  entkommen 
ließe.  Schließlich  hat's  einer  getan,  und  dreißig 
Millionen  sind  vergiftet. 


—   13  — 

Asa  foetida 
Von  Karl  Kraus 

Im  Schwurgerichtssaal  des  Wiener  Landesgerichts  wird  jetzt 
ein  Prozeß  aufgeführt,  dessen  Autorschaft  in  verschiedenen 
offiziösen  Noten  verwischt  wird.  Herr  Oberlandesgerichtsrat  Wach, 
selbst  Verfasser  mancher  schlechten  Volksstücke  —  »Ein  heuriger 
Has<,  wenn  ich  mich  recht  erinnere  und  anderer  — ,  leitet  die 
Mise  en-scene.  Auf  dem  Zettel  steht  der  Name  Friedjung.  Hinter 
diesem  Pseudonym  aber  verbirgt  sich  ein  Autor,  der  im, Fremden- 
blatt' so  eindringlich  versichern  läßt,  es  sei  kein  politisches  Spektakel, 
daß  man  ihm  seinen  Wunsch,  uns  \om  Gegenteil  zu  überzeugen, 
gern  erfüllt.  Daß  die  Annexion  Bosniens,  jenes  Stück,  bei  dem  die 
Kassen  Österreichs  gestürmt  wurden,  von  ihm  war,  wird  er  viel- 
leicht eher  einmal  dementieren  wollen.  Während  man  aber  in  jedem 
andern  Theater  schon  während  der  Vorstellung  sein  Urteil  ab- 
geben darf,  ist  es  nicht  gestattet,  über  die  Kraft  der  Beweismittel, 
die  hier  produziert  werden,  eine  Kritik  laut  werden  zu  lassen.  Nur 
den  Autor  und  die  Mitspieler  unsympathisch  zu  finden,  kann  die 
Theaterhausordnung  nicht  verwehren.  Jener  selbst  hat  ja,  noch  ehe 
er  die  Annexion  in  Szene  setzte,  die  Kritik  befragt.  Er  war  damals 
noch  Baron.  Aber  selbst  von  einem  Baron  eingeladen  zu  werden,  war 
für  die  Chefredakteure  der  großen  Wiener  Zeitungen  Ehre  genug, 
sie  kamen  und  es  ist  bis  heute  nur  zweifelhaft  geblieben,  ob  er  mit 
Hilfe  dieser  Bandenführer  Serbien  bekämpfen  oder  mit  Hilfe  dieser 
Orientalen  die  orientalische  Frage  lösen  wollte.  Immerhin  erreichte 
er  die  Zustimmung  der  Presse  zur  Annexion.  Und  niemals  habe, 
so  behaupten  die  Neider,  Bismarck  so  viel  Lob  für  die  Einigung 
Deutschlands  empfangen  als  jener  für  die  Annexion  Bosniens.  Aber 
Österreich  habe  auch  mehr  als  die  Kosten  von  1866  für  den  zwei- 
fachen Gewinn  zahlen  müssen,  der  aus  der  Tat  resultiere:  Was 
früher  Okkupation  hieß,  heiße  jetzt  Annexion,  was  früher  Baron 
Aehrenthal  hieß,  heiße  jetzt  Giaf  Aehrenthal.  Ob  das  Nachspiel  zur 
Kriegsgefahr,  das  jetzt  im  Wiener  Schwurgericht  aufgeführt  wird, 
einen  noch  besseren  Erfolg  haben  wird,  ob  es  also  zum  Vorspiel 
einer  größeren  Sensation  taugen  könnte,  wird  sich  ja  zeigen. 
Über  die  Kraft  der  europäischen  Beweismittel  datf  im  Zuge  des 
Verfahrens  nicht  gesprochen  werden.  Ich  für  meine  Person  unter- 
scheide übrigens  nicht  so  genau  zwischen  Serben,  die  in  Kroatien 


14  — 


serbisch  sprechen,  und  Kroaten,  die  in  Serbien  kroatisch  sprechen, 
wozu  noch  die  Serbo-Kroaten  kommen,  die  in  Kroatien  ungarisch 
und  die  Kroato-Serben,  die  in  Ungarn  kroatisch  sprechen,  na  und 
so  weiter.  Kurzum,  wir  leben  in  einem  Milieu,  in  dem  ein 
Mann  namens  Stefanovic  entweder  Bandenführer  oder  Ministerial- 
sekretär  sein  kann,  und  ich  würde  mich,  schon  damit  den  fort- 
währenden Verwechslungen  vorgebeugt  wird,  im  Ernstfall  für  die 
Ausbrennung  des  Balkans  bis  Bodenbach  entscheiden.  Bis  dahin 
hat's  freilich  noch  lange  Weile,  die  passend  mit  patriotischen 
Ausführungen  des  Herrn  Dr.  Friedjung  ausgefüllt  werden  könnte. 
Herr  Dr.  Friedjung  ist  der  größte  lebende  Historiker.  Aber  ich 
bin  davon  überzeugt,  daß  die  Historie  die  kleinste  lebende  Wissen- 
schaft ist.  Was  Herr  Dr.  Friedjung  im  Oerichtsaal  vorbringt,  hat 
in  der  Länge  und  Tiefe  etwa  das  Maß  eines  Leitfadens  für  Mittel- 
schulen. Er  sagt  nicht:  »Als  die  Mobilisierungsordre  kam«,  son- 
dern: »Als  unser  greiser  Monarch  Tausende  und  Abertausende 
unserer  Brüder  und  Söhne  zu  den  Waffen  rief«.  Dabei  läßt  er  in 
dem,  was  er  spricht,  kein  Interpunktionszeichen  aus.  Seine  Diktion 
ist  hin  und  wieder  von  wohltuenden  Maximen  gewürzt.  So  bin  ich 
überzeugt,  daß  er  dem  Grafen  Aehrenthal  zu  der  Annexion  mit 
den  Worten  geraten  hat:  »Frisch  gewagt,  ist  halb  gewonnen«.  Ich 
wünsche  ihm, daß  sein  Prozeß  nicht  schlechter  ausfällt,  als  ein  Wagnis, 
und  daß  er  Recht  behält,  wenn  er  sich  bei  dem  Lachen  der 
Kläger  denkt:  »Wer  zuletzt  lacht,  lacht  am  besten«.  Denn  wenn 
sich  herausstellen  sollte,  daß  echte  Bomben  mit  falschen 
Dokumenten  gefüllt  waren,  so  würde  der  Trost  »Ehrlich  währt 
am  längsten«  nur  eine  geringe  Entschädigung  für  die  von 
ihm  aufgewendete  patriotische  Mühe  bedeuten.  Er  war  nicht 
immer  für  Österreich  und  für  die  ,Neue  Freie  Presse';  aber 
man  kann  nicht  sagen,  daß  er  sich  aus  unlauteren  Motiven  zur 
schlechteren  Überzeugung  bekehrt  hätte.  Er  ist  wahrscheinlich  besser 
als  der  Angeklagte  dieses  Prozesses.  Als  der  Mitspieler  dieser 
patriotischen  Veranstaltung,  in  welcher  ein  Herr  Chlumecky  die 
Treue  verletzt,  zu  der  ein  Bestecher  so  gut  verpflichtet  ist  wie  der 
Bestochene,  und  in  der  der  Vorsitzende  den  von  Österreich  ver- 
ratenen Herrn  Supilo  des  Ehrenwortbruches  beschuldigt  und  es 
den  Herren  Mitklägern  »überläßt,  ob  sie  weiter  mit  ihm  verkehren 
wollen«.  Die  Frage,  wer  Herrn  Chlumecky,  den  Nachkommen  eines 


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alten  Qschaftlhubergeschlechtes,  dazu  ermächtigt  hat,  für  Öster- 
reich aus  eigener  Tasche  zu  bestechen,  wird  nicht  gestellt.  Herr 
Chlumecky  ist  Verwaltungsrat  des  ,Lloyd'  und  einer  der  zahllosen 
Herausgeber  der  österreichischen  Rundschau'.  Er  hat  das  unbe- 
streitbare Verdienst,  daß  diese  angesehene  vaterländische  Revue 
jetzt  auf  allen  fünfundvierzig  Lloyddampfern  aufliegt,  so  daß  sich 
die  Passagiere  nur  mehr  durch  die  Seekrankheit  vor  den  Gefahren 
der  Langeweile  retten  können.  Er  hätte  besser  getan,  die  zwei- 
hundert Kronen  aufzuheben ;  Herr  Supilo  war  damit  nicht  zu 
halten,  und  die  .Österreichische  Rundschau'  kanns  brauchen.  Der 
Oberlandesgerichtsrat  Wach,  der  die  journalistischen  Verhältnisse 
bisher  nur  aus  der  Theater-  und  der  Qerichtssaalrubrik  gekannt 
hat,  erfährt  bei  dieser  Gelegenheit  auch,  wie  die  Politik  gemacht  wird. 
Trotzdem  würde  er  es  nicht  glauben,  daß  außer  Herrn  Supilo  in 
Österreich  noch  jemand  bestochen  wird.  Und  wenn  er  es  selbst 
glaubte,  gegen  die  Verbrecher,  die  Staatsgelder  für  die  Presse  und 
für  die  Lieferung  hochverräterischer  Dokumente  verwenden,  brächte 
er  keine  judizielle  Entrüstung  auf.  Wenn  nun  die  serbischen  Zeugen 
sagen,  daß  die  Dokumente  echt  sind,  droht  ihnen  die  Verhaftung 
wegen  Hochverrats,  wenn  sie  sagen,  daß  sie  falsch  sind,  wegen 
Meineids.  Und  der  Beweis,  daß  Herr  Supilo  sechstausend  Dinars 
von  Serbien  bekommen  hat,  ist  durch  den  Beweis  erbracht, 
daß  er  von  Österreich  zweihundert  Kronen  und  —  nach 
der  Quote  -  von  Ungarn  fünf  Gulden  bekam.  Er  hat  also 
vor  zehn  Jahren  für  einen  Pappenstiel  Serbien  an  Österreich 
verraten,  und  darüber  können  sich  die  Patrioten  nicht  genug  ent- 
setzen. >Er  soll  für  die  Taxe  eines  Lohnkutschers  für  die  Politik  der 
Regierung  geschrieben  haben«  —  Herr  Moriz  Benedikt  sagt  es  mit 
Geringschätzung.  Der  Präsident  aber  wendet  ein  Pathos  auf,  als  ob  der 
erste  Fall  von  Preßkorruption  entdeckt  worden  wäre,  und  es  fehlte 
nicht  viel,  so  hätte  er  auch  zu  diesem  Punkt  seine  stereotype  Be- 
merkung gemacht:  Meine  Herren,  wir  sind  hier  in  Wien!  . .  .  Und 
es  ist  doch,  wie  man  auch  aus  dieser  Affäre  wieder  ersieht,  nicht 
einmal  ein  so  großes  Vergnügen,  hier  in  Wien  zu  sein. 


16 


Rhabarber 
Von  Karl  Kraus 

»Die  Berufungsklage  des  Herrn  Herwarth 
Waiden  gegen  das  erstinstanzliche  Urteil 
auf  Freispruch  unseres  Präsidenten  wurde 
am  30.  November  vor  der  ersten  Straf- 
kammer des  Königl.  Landgerichts  II, 
Berlin,  verhandelt.  Der  Beklagte  Nissen 
wurde  wiederum  freigesprochen  und  Waiden 
zur  Tragung  der  Kosten  verurteilt.« 

,Der  neue  Weg',  amtliche  Zeitung  der 
Genossenschaft  Deutscher  Bühnenangehöri- 
ger, 4.  Dezember  1909. 

Das  in  Deutschland  Mögliche  —  wie  einem 
Echten  und  Gerechten  mitgespielt  wurde  und  wie 
es  kam,  daß  ein  Komödiant  einen  Richter  lehrte  — 
muß  noch  einmal  erzählt  werden.  Es  ist  eine  win- 
zige Affäre,  die  im  kleinsten  Druck  der  Tagespresse 
ihr  Dasein  fristet,  und  doch  laufen  in  ihr  alle  Fäden 
zusammen,  die  sich  einem  auf  die  Brutalität  des 
Lebens  Unvorbereiteten  zum  Strick  verdichten.  Denn 
das  Leben  schämt  sich  noch  immer  nicht,  den  Fibel- 
pessimisraus,  daß  das  Unrecht  auf  allen  Linien  siegt 
und  der  Gerechte  leiden  muß,  zu  bestätigen.  Wohl,  weder 
der  ahnungslose  Spaziergänger  noch  der  Ziegelstein 
können  etwas  dafür,  daß  sie  miteinander  in  Berüh- 
rung kommen.  Aber  es  gibt  eine  Organisierung  des 
täppischen  Zufalls,  und  das  ist  die  soziale  Welt.  Man 
gehe  nicht  auf  die  Gasse.  Man  setze  den  Acheron 
nicht  für  künstlerische  Interessen  in  Bewegung.  Man 
reize  den  Pöbel  nicht  durch  den  Versuch,  für  die 
Verbreitung  kultureller  Werte  sich  die  Haut  vom 
Leib  zu  schinden.  Man  lasse  sich  nicht  von  Herrn 
Hermann  Nissen,  Präsidenten  der  Deutschen  Bühnen- 
genossenschaft und  Besitzer  von  mehr  Orden,  als 
unbedingt  nötig  ist,  als  Redakteur  des  ,Neuen 
Wegs*  anstellen,  um  einen  Horizont,  der 
eben  noch  Kontrakte  und  Repertoirs  umschließt,  mit 


-  17  - 


literarischen  Rätseln  zu  illuminieren.  Denn  das,  was 
wir  wollen,  und  das,  was  die  andern  wollen,  ob  sie 
nun  Schauspieler  sind  oder  andere  Bürger,  ist  nicht 
vereinbar.  Durch  keinen  Kontrakt  der  Welt.  Und 
jeder,  der  geschlossen  wurde,  war  brüchig,  ehe  er 
gebrochen  war.  Berechtigt  war  die  Enttäuschung 
dieser  Theaterleute,  als  sie  die  Literatur  sahen,  von 
der  sie  so  viel  schon  gehört  hatten.  Berechtigt  der 
Widerstand,  nutzlos  die  Bekehrung.  Berechtigt  die 
Interessen  der  Indolenz,  vermessen  aller  selbstlose 
Eifer.  Lassen  wir  die  geistigen  Werte  nur  in  der 
schwersten  Verpackung  liegen:  ihr  Aroma  wird 
durchdringen,  wenns  nach  hundert  Jahren  noch 
Nasen  gibt.  Gegen  den  Stockschnupfen  der  Zeit 
können  wir  nicht  an,  und  wenn  wir  mit  Knüppeln 
gegen  ihn  losgingen.  Genug  des  Opfers,  wenn 
wir  schreiben,  malen,  Musik  machen.  Tragen 
wir  nicht  fremde  Kreuze  1  Herr  Herwarth  Waiden, 
Musiker,  wollte  sich  auch  nicht  einen  Splitter  von 
allen  denen  entgehen  lassen,  die  heute  in  Deutsch- 
land getragen  werden.  Er  hat  fünf  Jahre  lang  in 
Berlin  den  »Verein  für  Kunst«  geleitet,  er  büßte 
an  Freiheit,  Vermögen  und  Gesundheit  für  das, 
was  andere  zeitgenössische  Künstler  dem  Publikum 
angetan  hatten.  Aber  die  begehrlichen  Konsumenten 
finden,  es  sei  nicht  genug,  und  dursten  nach 
seiner  Ehre. 

Nun,  es  ist  eine  so  beispiellose  und  doch  so 
beispielhafte  Gräßlichkeit,  die  dieser  vorzügliche 
Mensch  erlebt,  daß  ich  ihn  darum  bedaure  und 
beneide.  Denn  er  kann  damit  nichts  anfangen,  seine 
Kunst,  dereu  Reinheit  hinter  der  Kunstpolitik  alle 
Kenner  mit  tiefster  Rührung  erfüllt,  kann  bei  dem 
Handel  nicht  gewinnen,  während  meine  Qualbereitschaft 
so  schöpferisch,  so  sehr  ein  Teil  von  meiner  Kraft  ist,  daß 
ich,  wo's  an  eigener  Bedrängnis  fehlt,  übernehme, 
wessen  ich  von  fremden  Sorgen  habhaft  werden  kann. 
Man  unterschätze  diesen  Drang   nicht,    indem    man 


v92 


lt 


ihn  etwa  als  Altruismus  wertet.  Ich  hülfe  meinem 
Nächsten  nicht,  wenn  ich,  was  ihm  widerfuhr,  nicht 
als  einen  Insult  empfände,  der  mir  als  dem  mündi- 
gen Zeugen  der  Begebenheit  angetan  wurde.  Man 
sehe  sich  vor,  so  lange  ich  lebe.  Man  rechne  damit, 
daß  die  Schlechtigkeiten,  die  einer  an  dem  andern 
begeht,  sich  nur  zu  leicht  mir  zu  den  Projektions- 
bildern  gestalten,  in  denen  ich  den  Teufel  an  die 
Wand  male.  Man  kann  mit  mir,  der  an  seinen  eige- 
nen Miseren  nicht  immer  beteiligt  ist,  fertig  werden. 
Aber  ich  bin  nicht  gesonnen,  mir  das  gefallen  zu 
lassen,  was  mich  nichts  angeht!  Diese  Schwäche,  die 
als  Reiz  empfindet,  was  in  ihrem  Gesichtsfeld 
sich  begab,  und  diese  Phantasie,  die  den  Ein- 
druck auf  eine  Welt  überträgt,  deren  Teilnahms- 
losigkeit nur  wieder  ein  Reiz  ist,  die  Beziehung  fort- 
zusetzen: zu  solch  unseligem  Verein  sind  meine 
Fähigkeiten  gebunden,  um  als  fortwirkende  Drohung 
der  Gesellschaft  zu  nützen.  Meine  Trophäen  sind 
die  Unterlassungen,  wo  selbst  die  Schrecken  des 
jüngsten  Tags  nicht  mehr  imstande  wären,  gute  Hand- 
lungen durchzusetzen.  Wenn  einer  nur  nachdrück- 
lich genug  es  ausspricht:  ich  will  es  nicht  miterleben, 
was  die  Leute  in  Amt  und  Würde  dem  Menschen- 
gefühl und  dem  Menschenverstand  ansinnen,  so  muß 
ihm  die  Schande  der  Zeugenschaft  erspart  bleiben. 
Und  wenn  einer  nur  sagt,  daß  er  so  paradigmatische 
Taten  als  Reizmittel  brauche,  dann  warnt  und  wirkt 
er  in  die  Allgemeinheit.  Ich  sage,  daß  ich  diesen 
Herwarth  Waiden  bedaure,  weil's  ihm  geschah,  und 
beneide,  weil's  ihm  geschah.  Denn  die  Fälle  sind 
selten,  in  welchen  man  einen  so  runden  Überblick 
über  die  Chancen  eines  Lebens  hat,  worin  sich  uns  der 
große  Krumme  in  den  neuen  Weg  stellt  oder  sich 
in  die  tausend  kleinen  Krummen  spaltet,  die  alle 
Auswege  besetzt  halten:  Standesbewußte  Schau- 
spieler, gesetzeskundige  Juristen,  informierte  Redak- 
teure —  man  weiß  doch  wenigstens,  woran  man  ist. 


—  19  - 


Herwarth  Waiden  wußte  es  Jahre  lang  nicht.  Er 
hat  geglaubt,  daß  das  Leben  so  einfach  sei:  man 
lebt  für  die  Kunst,  zahlt,  drauf  und  weiter  kann  einem 
nichts  passieren. 

So  einfach  ist  aber  das  Leben  im  allgemeinen  und  in 
Deutschland  im  besondern  nicht.Nachdem  er  binnen  zehn 
Tagen  den  Ehrgeiz  des  Herrn  Hermann  Nissen  nach  der 
Literatur  befriedigt  und  mit  jener  unerhörten  Über- 
bietung physischer  Möglichkeiten,  die  sich  nur  durch 
den  Glauben  an  die  Sache  entlohnt  weiß,  aus  dem 
trostlosen  Theaterzettelblatt  den  ,Neuen  Weg'  ge- 
schaffen hatte,  beschlossen  die  literarischen  Gönner,  sich 
das  nicht  gefallen  zu  lassen.  Das  ewige  Einerlei  einer  so- 
zialen Gesinnung,  zu  der  sie  gegenüber  den  tyrannischen 
Theaterdirektoren  gezwungen  sind,  konnte  hier  ein- 
mal durch  die  Gelegenheit  unterbrochen  werden, 
sich  als  Brotgeber  vor  der  Literatur  zu  fühlen. 
Man  konnte  sich  sie  leisten,  man  wollte  sie  auch 
prüfen.  Der  >Überwacher<,  der  Herrn  Waiden  an  die 
Seite  gegeben  war,  fing  an,  sein  Geschäft  ernst  zu 
nehmen,  und  immer  lauter,  gleich  dem  bekannten  Volks- 
gemurmel, das  auf  der  Bühne  durch  Wiederholung 
des  Wortes  >Rhabarber«  erzeugt  wird,  begann  sich 
jene  Stimmung  zu  regen,  in  der  man  sich 
fragt,  wie  man  für  sein  Geld  dazu  komme,  Strind- 
berg  und  die  Publikationen  des  Nietzsche  -  Archivs 
zu  lesen.  Wenngleich  dieser  Luxus  durch  die  Er- 
sparnisse reichlich  hereingebracht  war,  die  der  neue 
Redakteur  im  Druck  und  in  der  Expedition  ein- 
geführt und  durch  die  er  einer  grotesken  Wirtschaft 
redigierender  Laien  ein  Ende  gemacht  hatte  —  der 
Chor  von  Heldenspielern,  Bonvivants  und  Intri- 
ganten war  nicht  mehr  zu  besänftigen.  Sie  hätten 
Herrn  Herwarth  Waiden  ehrfürchtig  gegrüßt,  wenn 
er  bloß  der  Mann  gewesen  wäre,  der  die  Notizen  in 
den  , Lokalanzeiger'  bringen  oder  durch  Kulissen- 
plaudereien gefährlich  werden  kann;  sie  hätten 
seine      Stücke     protegiert,     sie     hätten     ihn     zum 


—  20  — 


*  Doktor  c  jpromo  viert.  Aber  so,  da  er's  mit  Strind- 
berg  hielt,  war  seine  Position  erschüttert.  Herr 
Nissen,  der  Präsident,  trat  vor,  prüfte  die  drei  Nummern 
und  sagte:  Raus!  Und  dies  mit  einem  so  dramati- 
schen R,  wie  es  auch  in  dem  Wort  >  Kontraktoruch«  schon 
lange  nicht  enthalten  war,  und  so  effektvoll,  daß  die 
deutsche  Literatur  erschrak  und  die  Rehabilitierung  des 
mißhandelten  und  in  seiner  Existenz  getroffenen  Redak- 
teurs unter  deutlichen  Zischlauten  besorgte.  Lilien- 
cron,  Heinrich  Mann,  Dehmel,  Altenberg,  Morabert,  Holz, 
Lublinski,  Paul  Ernst,  Bang,  Blümner,  Frau  Förster- 
Nietzsche  und  viele  andere,  schrieben  jeder  der  Fähig- 
keit, der  Ausdauer  und  dem  Opfermut  dieses  seltenen 
Menschen,  dem  das  Kunstleben  Berlins  so  viel  zu 
danken  und  dem  Herr  Hermann  Nissen  schon  damals 
so  viel  abzubitten  hatte,  ein  Ehrenzeugnis.  Die  Deutsche 
Bühnengenossenschaft  läßt  sich  unter  dem  Hochdruck 
eines  Schamgefühls,  das  erst  durch  Druckerschwärze 
emporgetrieben  ward,  zur  Bewilligung  sämtlicher 
Ansprüche  Waldens,  zur  Bezahlung  eines  Pönales  herbei, 
wie  es  dem  Geschädigten  von  jedem  Zivilgericht  zuer- 
kannt worden  wäre,  und  Rhabarber  beginnt  sich  nun- 
mehr gegen  den  Präsidenten  selbst  zu  kehren.  Dieser, 
in  der  >  Geheim  Versammlung«  zur  Rede  gestellt,  ist 
sichtlich  nicht  verlegen.  Ja,  meine  Herren — 1  Der  Grund 
der  plötzlichen  Entlassung  —  —  Und  dann  kommen 
Worte,  und  dann  kommt  ein  kräftiges  Pfui,  das  aber 
nicht  Herrn  Hermann  Nissen  gilt,  sondern  dem  Ab- 
wesenden. Was  in  der  Versammlung  gesprochen 
wird,  wird  hinter  den  Kulissen  besprochen.  >Hören 
Sie  mal,   das   was  Nissen   zu  den  Delegierten  gesagt 

hat «    »Wie  ist  das?  Waiden  soll «     »Ich 

habe     gehört,      Nissen     hat    in     der    Versammlung 

den    Fall    so    dargestellt,    als    habe    Waiden « 

»Wenn  einer  von  mir  sagte,  was  Nissen  von  Waiden 
gesagt  hat,  dann  würde  ich  hingehen  und  ihn  mit 
der  Reitpeitsche  ins  Gesicht  hauen.«  »Sie  müssen 
unbedingt  Nissen   verklagen,    denn  man  erzählt  sich 


—  21  — 


in  sämtlichen  Schauspielerkreisen,  Sie  hätten < 

Rhabarber,  Rhabarber Das  Gemurmel  wendet 

sich  wieder  eregen  den  Andern,  es  wird  laut  und 
lauter  und  erhebt  sich  schließlich  zu  einer  Anklage, 
die  mit  klaren  Worten  sagt:  Der  Präsident  der 
Bühnengenossenschaft,  Hermann  Nissen,  hat  den 
Schriftsteller  und  Komponisten  Herwarth  Waiden  der 
Unterschlagung  beschuldigt. 

Wenn  er  eine  Uhr  jetzt  gehen  hörte,  er  wüßte, 
daß  es  ein  böser  Traum  sei,  und  scheuchte  gleich  dem 
Träumer  Rustan,  der  auf  Lebenskämpfe  ausging,  mit 
der  Hand  den  vorgestellten  Schrecken  von  der 
Stirne.  Aber  diesem  da  sollte  sich  das  Spiel  der  Ge- 
fahren zur  endlosen  Folter  fortsetzen.  Denn  es  gibt 
noch  Richter  in  Deutschland.  Herwarth  Waiden  ver- 
klagt den  Beleidiger  und  erwartet  von  der  Beweis- 
führung, daß  jene  Öffentlichkeit,  in  welcher  die  An- 
schuldigung gehört,  kolportiert  und  wieder  gehört 
wurde,  die  Tatsachen  erfahren  werde,  durch  die  sie 
widerlegt  wird.  Verletzt  ist  mit  der  Ehre  das 
Gefühl  kultureller  Distanz;  die  Abwehr  gilt  der  Be- 
leidigung und  mit  ihr  der  Zumutung,  die  einen 
Menschen  von  solcher  Beschaffenheit,  den  Träger 
solcher  Interessen,  den  Mann,  den  ein  geistiges  Vor- 
leben vor  der  Diskussion  ethischer  Selbstverständ- 
lichkeiten schützt,  auf  das  Niveau  eines  Ehrenhandels 
hinabzerrt.  Zu  der  maßlosen  Gräßlichkeit  zwingt,  einer 
tatsachendurstigen  Gesellschaft  zu  beweisen,  daß  er 
kein  frauduloser  Kommis  sei,  wenngleich  das  Schicksal 
Herrn  Hermann  Nissen  als  Chef  über  ihn  gesetzt 
habe.  Aber  die  Qual  einer  solchen  Rehabilitierung 
muß  übernommen  sein.  Schon  die  eigene  Neugierde 
drängt  zu  einem  Prozeß,  der  das  Rätsel  lösen 
wird,  wie  jener  Brotgeber  zu  solcher  Anschuldigung 
kommen  konnte.  Das  Gericht  erster  Instanz  erkennt  zu 
Recht,  Hermann  Nissen  werde  von  der  Anklage 
freigesprochen,  weil  er  in  Wahrnehmung  berechtigter 
Interessen    gehandelt    habe.     Ein    Beweis   über   den 


—  22  — 


Sachverhalt  wurde  nicht  zugelassen;  die  Kosten  trägt 
der  Kläger.  Das  ist  furchtbar.  Denn  nun  werden  die 
Leute,  die  bloß  die  schluderigen  Notizen  der  Tages- 
presse lesen,  davon  überzeugt  sein,  Herr  Nissen  habe 
den  Wahrheitsbeweis  erbracht ;  daß  der  Preispruch 
aus  formalen  Gründen  erfolgt  ist,  wird  man  nicht  erfah- 
ren. Aber  ist  denn  diese  heillose  Praxis  der  deutschen 
Beleidieungejustiz  auf  den  Fall  anwendbar?  Wenn 
ein  Arbeitgeber  den  Genossen  vor  einem  ihm  verdäch- 
tigen Angestellten  warnt,  so  handelt  er  in  berechtigtem 
Interesse  und  ist  nicht  verpflichtet,  die  Wahrheit 
der  üblen  Nachrede  zu  erweisen.  Aber  wenn  schon 
die  Auffassung  des  Reichsgerichts  richtig  wäre,  daß 
Ehre  und  Existenz  des  Angestellten  hinter  dem  Profit 
des  Brotgebers  stehen  und  daß  es  außer  den  geschäft- 
lichen Interessen  keine  berechtigten  Interessen  in  der 
deutschen  Welt  gibt;  wenn  diese  Überzeugung 
schon  ihre  ethische  Weihe  haben  soll:  war 
sie  denn  auf  den  Fall  Walden-Nissen  anzuwenden? 
Hat  hier  der  Arbeitgeber  seine  Aufschlüsse  über  die 
Vertrauenswürdigkeit  des  Angestellten  den  Berufs- 
genossen im  Vertrauen  gemacht,  und  nicht  mit 
dem  vollen  Bewußtsein,  daß  sie  aus  einem  Kreis  von 
hundert  Ohren  in  eine  Welt  von  zehntausend 
Mäulern  übergehen  werden?  Ist  eine  Versammlung 
von  Delegierten  der  Deutschen  Bühnengenossenschaft 
nicht  eine  Versammlung  von  Leuten,  die  im  Zwischen- 
akt hundert  Ensembles  mit  Neuigkeiten  versorgen 
können?  Erscheint  in  der  Theaterperspektive  nicht 
die  Ehre  oft  verkürzt,  wächst  in  jenen  Kreisen  das 
Gerücht  nicht  schneller,  ist  dort  der  Verdacht  nicht 
das  Stichwort  der  Verleumdung?  Hat  nicht  Herr 
Nissen  selbst  einmal  den  Ausspruch  getan :  »Semper 
bleibt  aliquid  haeret«  ?  Und  um  Himmelswillen,  wenn 
schon  das  Interesse  dieses  Angeklagten,  unwahre 
Dinge  zu  behaupten,  ein  berechtigtes  war,  wenn  es 
schon  nicht  Strafe  verdient  hat,  wie  ist  es  möglich, 
daß    ein  Gericht  nicht  wenigstens  das  Bedürfnis  des 


23  — - 


Klägers  nach  dem  eigenen  Freispruch  anerkennt 
und  den  Wahrheitsbeweis  durchführt?  Herwarth 
Waiden  legt  Berufung  ein.  Die  zweite  Instanz  läßt 
den  Beweis  zu,  erkennt  zu  Recht,  er  sei  durchaus 
mißlungen,  von  einer  Unterschlagung  könne  nicht  die 
Rede  sein,  das  Gegenteil  dessen,  was  Herr  Nissen 
behauptet  hat,  sei  erwiesen.  Aber  Nissen  werde 
freigesprochen,  weil  er  in  Wahrnehmung  berechtigter 
Interessen  und  im  guten  Glauben  gehandelt  habe.  Denn 
die  Aufzeichnungen  des  Herrn  Waiden  seien  im  buch- 
halterischen Sinne  so  inkorrekt,  daß  Herr  Nissen 
den  Verdacht  gewinnen  und  ihn  im  Kreise  der 
Genossen  äußern  durfte.  Die  Kosten  trägt  der  Kläger. 
Herwarth  Waiden  könnte  sich  nun  dabei  be- 
ruhigen, daß  man  von  der  irdischen  Gerechtigkeit 
nicht  mehr  verlangen  kann,  als  sie  bei  so  gutem 
Glauben  zu  geben  imstande  ist.  Daß  er  als  Redakteur 
und  nicht  als  Buchhalter  engagiert  war,  hätte  man 
ihr  etwa  noch  beibringen  können.  Und  daß  Herr 
Nissen,  wenn  er  schon  nicht  wider  besseres  Wissen 
unwahre  Behauptungen  aufgestellt  hat,  doch  in  un- 
verantwortlicher Weise  die  Gelegenheit  umging,  sich 
das  gute  Wissen  zu  verschaffen.  Denn  die  Gelegenheit 
war  ihm  geboten.  So  wie  sie  mir  geboten  ist,  der  zu 
solcher  Wissenschaft  nicht  verpflichtet  ist  und  der 
in  diese  öde  Tatsächlichkeit  nur  hinuntersteigt,  um 
den  Rhabarber  zum  Schweigen  zu  bringen,  der  sich 
nach  der  zweiten  Instanz  erst  recht  gegen  den 
Kläger  erhebt.  So  muß  denn  gesagt  werden:  Daß 
beim  Abschluß  des  Vergleiches  zwischen  Herrn 
Waiden  und  der  Bühnengenossenschaft  gegenseitig 
die  Loyalität  der  Parteien  festgestellt  wurde.  Daß  dies 
geschah,  nachdem  Herr  Nissen  die  Dinge,  die  Herrn 
Waiden  belasten  sollten,  erfahren  haben  mußte  und 
bevor  er  sie  in  der  Delegiertenversammlung  zur 
Sprache  brachte.  In  Wirklichkeit  hat  er  nichts 
erfahren,  was  es  ihm  verwehrt  hätte,  die  Loyalität 
des  andern  Teils  zu  bestreiten;    was    es    ihm  gewiß 


—  24  - 


verwehrt  hätte,  ihm  auch  nur  den  kleinsten  Teil 
seiner  Ansprüche  zu  bewilligen.  In  Wirklichkeit 
mußte  er  bei  der  oberflächlichsten  Prüfung  der  Belege 
von  dem  Gegenteil  dessen  überzeugt  sein,  was  er 
nachträglich  behauptete,  und  nur,  wenn  er  das 
Material  überhaupt  nicht  angesehen  hat,  war  es 
möglich,  daß  ihn  die  Tatsache,  daß  zwei  Angestellte 
der  Redaktion  ihren  Gehalt  für  Februar  reklamiert 
haben,  den  Verdacht  der  Unterschlagung  schöpfen 
ließ.  Ein  solcher  Verdacht  hätte  ihn  zur  Unter- 
suchung treiben  müssen,  nicht  zur  Anklage.  Und  der 
gute  Glaube,  mit  dem  er  ihn  unter  Diskretion  an  die 
große  Glocke  hängte,  hätte  ihm  in  jedem  andern  Staat 
nicht  den  Freispruch,  sondern  eine  schwere  Arreststrafe 
eingetragen.  Am  27.  Februar  und  am  10.  März  haben  die 
beiden  Angestellten  ihre  Forderungen  geltend  gemacht 
und  der  Genossenschaft  die  Verträge  übergeben,  die  sie 
mit  dem  Redakteur  geschlossen  hatten.  Wenn  Herr  Nissen 
sich  die  Sache  überhaupt  angesehen  hat,  so  mußte  er 
damals  wissen,  daß  die  Leute  von  Mitte  Jänner  ange- 
stellt waren  und  daß  die  Genossenschaft  Herrn  Waiden 
die  Jännergehalte  nicht  gezahlt  hatte.  Er  mußte 
damals  wissen,  daß  Herr  Waiden  laut  Vertrag  vom 
18.  Jänner  das  Recht  hatte,  zwei  Personen  mit  einem 
Gehalt  von  100,  beziehungsweise  50  Mark  anzustellen. 
Waiden  selbst  waren  fünfhundert  Mark  zugestanden, 
und  er  bezog  diesen  Gehalt  für  den  Monat  Jänner, 
zu  dessen  Beginn  —  vor  der  Vertragsfertigung 
—  er  bereits  offiziell  arbeitete.  Die  beiden  An- 
gestellten, deren  Verträge  vom  18.,  beziehungs- 
weise 21.  Jänner  lauteten,  waren  vom  15.  Jänner 
an  tätig.  Die  erste  Zahlung  für  die  beiden  leistete 
die  Genossenschaft  am  1.  Februar.  Die  Redaktions- 
sekretärin  hatte  vertragsgemäß  nebst  dem  Gehalt  An- 
spruch auf  Vergütung  der  Überstunden,  so  daß  sie 
für  die  Jännerhälfte  64  Mark  zu  bekommen  hatte. 
Der  Inseratenbeamte  hatte  als  Gehalt  und  Ersatz 
für  Auslagen    113  Mark    zu    fordern.    Herr  Waiden 


—  25  — 


zahlte  also  177  Mark  aus,  mehr,  als  er  von  der 
Genossenschaft  für  diesen  Zweck  bekam.  Herr 
Nissen  behauptet  nun,  er  habe  nicht  gewußt,  daß 
das  Personal  schon  im  Jänner  angestellt  gewesen 
sei,  sein  guter  Glaube  sagte  ihm,  dies  sei  erst  vom 
1.  Februar  der  Fall  gewesen,  und  er  habe  die  150  Mark 
für  den  Februar  gezahlt.  Was  Herr  Nissen  pränumerando 
leistete  —  wiewohl  man  doch  nicht  wissen  konnte,  ob 
sich  der  Gehalt  nicht  durch  Überstunden  und  der- 
gleichen erhöhen  werde  — ,  verwendete  Herr  Waiden 
postnumerando  für  die  zweite  Jännerhälfte.  Und  er 
konnte  sich  keine  Quittungen  über  den  Gehalt  Februar 
geben  lassen,  sondern  mußte  kaufmännisch  korrekt 
auf  Jänner  quittieren  lassen.  So  war  ihm  die  Ge- 
nossenschaft nur  mehr  27  Mark  statt  177  Mark 
schuldig.  Konnte  Herr  Nissen  den  Verdacht  fassen, 
so  konnte  guter  Wille  ihn  überzeugen,  daß  er  Wahn- 
witz sei.  Gegen  den  guten  Glauben  des  Herrn  Nissen, 
der  eine  Leichtfertigkeit  bedeuten  würde,  die  mindestens 
so  sträflich  ist,  wie  die  böse  Absicht,  sprechen  fast 
dieselben  Tatsachen,  die  für  die  gute  Ehre  des  Herrn 
Waiden  sprechen.  Noch  einmal:  Erstens  hatte  Herr 
Waiden  laut  Vertrag  das  Recht,  die  Beamten  spätestens 
am  18.  Jänner,  also  noch  immer  vierzehn  Tage  vor  dem 
Termin  anzustellen,  an  dem  der  gute  Glaube  des 
Herrn  Nissen  beginnt.  Ferner,  die  erste  Nummer  des 
,Neuen  Wegs'  erschien  am  29.  Jänner.  Inserate  für 
diese  Nummer  waren  bereits  vorhanden  —  am  25. 
war  Herrn  Nissen  brieflich  mitgeteilt  worden,  daß  für 
mehr  als  8000  Mark  Inserate  gewonnen  seien  — ,  und  es 
war  einleuchtender  Weise  gerade  am  Anfang  eine  unge- 
heure Korrespondenz  zu  bewältigen.  War  Herr  Nissen 
so  sehr  im  guten  Glauben,  daß  er  auch  annahm, 
Herr  Waiden  habe  die  administrativen  Geschäfte 
und  die  Akquisition  von  Inseraten  selbst  besorgt? 
So  sehr  überschätzt  selbst  ein  Mime,  der  sich  als 
Brotgeber  fühlt,  nicht  die  Arbeitskraft  seines  Ange- 
stellten, so  sehr  unterschätzt  selbst  Herr  Nissen  nicht 


26  — 


die  geistige  Persönlichkeit  seines  Gegners,  daß  er 
ihn  dieser  Leistung  für  fähig  hält.  Drittens:  Am 
10.  März  wandte  sich  die  Sekretärin  an  die  Genossen- 
schaft und  ersuchte  um  ihren  Gehalt  für  Februar. 
Sie  schrieb  den  Brief  auf  Anraten  des  Herrn  Waiden 
selbst,  der  am  14.  Februar  »entlassen«  war.  Am 
12.  März  wurde  sie  ersucht,  ihren  Vertrag  einzu- 
senden. Am  15.  März  spätestens  hatte  also  Herr 
Nissen  nichts  mehr  zu  glauben,  sondern  mußte 
wissen,  daß  sie  vom  18.  Jänner  angestellt  war.  Auf 
ihren  letzten  Brief  erhielt  sie  keine  Antwort.  Offen- 
bar hatte  es  Herr  Nissen  bereits  vorgezogen,  sich 
allen  Gelegenheiten  zu  entziehen,  die  ihm  eine 
Information  über  die  Sache  verschaffen  konnten. 
Bin  Blick  hätte  ihm  gesagt,  daß  die  Genossen- 
schaft Herrn  Waiden  die  Gelder  für  die  Jännerhälfte 
nicht  übergeben  hatte,  und  daß  er  also  nicht  nur 
berechtigt,  sondern  verpflichtet  war,  das  am  1.  Februar 
übergebene  Geld  auf  Jänner  anzurechnen.  Seine 
Bücher  sind  nur  Aufstellungen  über  die  Einnahmen 
und  Ausgaben,  die  sämtlich  mit  Quittungen  belegt 
waren.  Diese  Quittungen,  aus  denen  die  Gehalts- 
zahlung für  Jänner  klar  hervorgeht,  waren  in  Händen 
der  Genossenschaft.  Wenn  Herr  Waiden  nicht  jene 
buchhalterischen  Fähigkeiten  besitzt,  die  das  Gericht 
von  einem  Komponisten  derDaphnislieder  verlangt,  und 
wenn  Herr  Nissen  ein  Recht  hatte,  sich  nicht  aus- 
zukennen,  so  mußte  er  von  Herrn  Waiden  Aufschluß 
verlangen,  ehe  er  ihn  beschuldigte.  Hatte  er  ein 
Recht  auf  den  Verdacht,  so  hatte  er  die  Pflicht, 
sich  von  dessen  Absurdität  zu  überzeugen.  Er 
muß  aber  ein  berechtigtes  Interesse  gehabt  haben,  jeder 
Gelegenheit  der  Erkundigung  aus  dem  Wege  zu 
gehen.  Er  hat  vielleicht  nicht  wider  besseres  Wissen 
gehandelt;  aber  er  hat  am  Ende  absichtlich  die 
Möglichkeit  vermieden,  es  sich  anzueignen.  Er  hat 
vielleicht  in  doloser  Fahrlässigkeit  gehandelt,  als  er 
am  9.  April  in  der  Geheimversammlung  aufstand  und 


—  27  — 


sagte,  Herr  Waiden  habe  den  Leuten  Gelder  »nicht 
abgelieferte:  denn  sie  hätten  sieh  »nochmals«  an  die 
Genossenschaft  gewandt.  Diese  Tatsache  allein  konnte 
ihn  bei  einiger  Prüfung  darüber  aufklären,  daß  sie 
Grund  für  den  gegenteiligen  Schluß  sei.  Herr  Nissen 
prüfte  nicht,  sondern  behauptete.  Wenn  ich  aber  einem 
Menschen  den  Beweis  unter  die  Nase  halte,  daß  ich 
kein  Einbrecher  bin,  und  er  nießt,  und  behauptet 
hierauf,  ich  hätte  eingebrochen,  so  scheint  mir  ein 
solcher  Gutgläubiger  viel  strafwürdiger  zu  sein,  als 
der  ehrliche  Lügner.  Wenn  aber  dann  die  deutschen 
Gerichte  >zum   Wohlsein«  sagen,  dann  helfe  Gott! 

Er  helfe  uns  von  einer  Gerechtigkeit,  die  den 
Redakteur  eines  künstlerischen  Satirenblattes  wegen 
Beleidigung  der  Urheber  einer  Grubenkatastrophe 
auf  sechs  Monate  ins  Gefängnis  schickt  und  einen 
Menschen,  der  einem  Armen  die  Existenz  untergräbt, 
berechtigte  Interessen  zuerkennt.  Er  zeige  einem  Ehr- 
lichen den  Weg,  aus  dieser  Misere  zu  entkommen, 
aus  diesem  Gestrüpp  von  Paragraphen  und  Tücke 
sein  Ehrenkleid  zu  retten,  damit  er  nicht  unbekleidet 
vor  dem  Pöbel  erscheine.  Diese  prinzipielle  Rechts- 
verlassenheit ist  wahrlich  schlimmer  als  der  Justiz- 
irrtum, durch  den  ein  Unschuldiger  wegen  Giftmords 
verurteilt  werden  könnte.  Einer  hat  gemordet,  einer 
nur  kann  fremde  Schuld  büßen,  aber  alle  sind  in 
Erregung  und  die  stoffliche  Sensation,  die  hier  die 
Justiz  liefert,  ist  Glück  und  Gewähr  der  Ver- 
einzelung. Wir  sind  Leser,  und  es  geht  uns  nicht  ans 
Leben.  Dort  sind  wir  Menschen,  und  es  geht  uns  an  die 
Existenz.  Gegen  Cyankali  kann  man  sich  schützen. 
Nicht  vor  Rhabarber.  Hier  muß  der  Unschuldige 
daran  glauben,  weil  der  andere  den  guten  Glauben 
hat.  Ist  es  nicht  tragisch,  wie  die  Gesetzlich- 
keit Wohltat  und  Plage  schon  unter  den  Mit- 
lebenden vertauscht?  Berechtigt  sind  die  Interes- 
sen des  Mannes,  der  mit  Unrecht  und  Leichtfertig- 
keit beschuldigt  und  in  einer  Intimität  von  Hundert, 


—  28  — 

aus  der  hundert  Wege  in  die  Öffentlichkeit  führen. 
Nicht  berechtigt  sind  die  Interessen  des  Be- 
schuldigten, wenigstens  die  gerichtliche  Feststellung 
der  Wahrheit,  wenn  schon  nicht  die  Bestrafung  des 
Zweiflers,  zu  erlangen.  Wären  sie  berechtigt,  so 
würden  sie  nicht  so  viel  Geld  kosten.  Der  Arme, 
den  die  Nachrede  in  der  Wurzel  seines  wirt- 
schaftlichen Lebens  trifft,  muß  dafür  zahlen,  daß 
es  ihm  nach  langer  Qual  gelungen  ist,  die  Un- 
wahrheit der  Nachrede  festzustellen.  Der  grundlose 
Angriff  ist  berechtigt,  die  berechtigte  Notwehr 
ist  kostspielig.  Und  ihr  Erfolg  von  zweifelhaftem 
Wert.  Denn  der  Chor  hört  und  spricht  nur 
das  Wort  »Freispruch«.  Das  läßt  sich  wieder 
mit  einem  dramatischen  R  aussprechen,  wie  es 
noch  nie  gehört  worden  ist.  Und  man  freut  sich 
etwa  noch  der  Feststellung,  daß  die  Aufzeichnungen 
»inkorrekt«  geführt  waren.  Man  sagt  beim  Theater 
»Rhabarber«  und  es  klingt  wie  Gemurmel,  man  sagt 
Unordnung  und  es  klingt  wie  Betrug.  Daß  das 
Gericht  die  äußere  Form  der  schriftlichen  Arbeiten 
des  Herrn  Waiden  zur  Entschuldigung  des  überbür- 
deten Herrn  Nissen  bemängelt  hat,  wird  gern  mit  einer 
schlechten  Sittennote  verwechselt.  Es  sind  also  »doch 
Inkorrektheiten  vorgekommen«,  sagen  sie,  und  das 
Gerücht  wächst  wie  ein  Ferienbart  und  die  Ehre  geht 
ab  wie  Schminke,  und  der  schwergekränkte  Herr 
Nissen  ist  rehabilitiert.  Der  Ungeheuerlichkeit  der 
Tatsache,  daß  ein  solcher  Prozeß  zu  Ende  geführt 
und  der  Kläger  mit  den  Kosten  für  seine  Ehren- 
rettung belastet  werden  kann,  verschließt  sich  das 
Gefühl  dieser  für  Menschenrechte  kämpfenden 
Theaterdemokratie.  Ihr  Präsident  zieht  nicht  nach 
der  vollständigen  Abführung  seines  Verdachts, 
nach  der  klaren  Feststellung,  daß  sein  Gegner 
kein  Betrüger  ist,  den  abscheulichen  Vorwurf  zurück 
und  macht  dem  Unfug  durch  anständigen  Ausgleich 
ein  Ende.  Nein,  er  heimst  den  schmählichen  Gewinn 


29  — 


eines  formellen  Freispruchs  ein,  zieht  mit  strahlen- 
dem Gesicht  von  dannen  und  verkündet  in  seinem 
Amtsblatt  das  Ergebnis,  ohne  mit  einem  Wort  der 
Ehre  des  Gegners  zu  gedenken.  Und  steht  am  andern 
Tag  wieder  vor  der  Delegiertenversammlung  und  wird 
nicht  mit  einem  tosenden  Pfui  zur  Tür  hinausgeworfen, 
sondern  mit  einem  heilkräftigen  Rhabarber  der  Begei- 
sterung und  mit  Berufung  auf  Schiller  in  seiner  Würde 
bestätigt.  Ein  »warmherziger  Anwalt  des  Schauspieler- 
standes« steht  auf  und  verkündet,  »da  der  Präsident 
noch  in  der  letzten  Zeit  vielen  Angriffen  ausgesetzt 
gewesen  sei,  so  spreche  er  aus,  daß  die  deutschen 
Schauspieler  nach  wie  vor  Herrn  Nissen  für  ihren 
besten  und  geeignetsten  Vertreter  halten.  Wir  ver- 
ehren in  unserem  Präsidenten  nicht  nur  den  Prä- 
sidenten, sondern  auch  den  Menschen!«  Langan- 
haltender, sich  immer  wiederholender  Beifall  folgt 
diesen  Worten,  Nissen  verneigt  sich  dankend . . .  »Ich 
sage  Ihnen  nur  soviel,  wenn  nur  der  kleinste  Teil 
von  dem,  was  Nissen  über  Waiden  gesagt  hat,  nicht 
wahr  ist,  so  muß  Nissen  mit  Schimpf  und  Schande 
davongejagt  werden«,  hatte  einer  hinter  den  Kulissen 
gesagt,  und  ein  anderer:  » dann  würde  ich  hin- 
gehen und  ihn  mit  der  Reitpeitsche  ins  Gesicht 
hauen !« 

Soll  er  es  tun?  Soll  er  sich  wirklich  von  einer 
Justiz,  die  ihm  die  Hilfe  versagt  und  selbst  die  Bitte 
teuer  berechnet,  auf  den  Weg  einer  noch  kostspieligeren 
Notwehr  drängen  lassen?  Ich  gebe  ihm  den  Rat, 
jene  ultima  ratio  zu  wählen,  die  das  vornehmste  und 
billigste  von  allen  Mitteln  ist,  die  eine  dürftige  soziale 
Ordnung  unsereinem  an  die  Hand  gegeben  hat:  die 
Verachtung.  Wenn  er  nicht  genug  davon  hat,  ich 
liefere  sie  ihm  zentnerweise.  Möge  er  sich  ferner  noch 
dabei  beruhigen,  daß  er  nach  diesem  Preispruch  des  Herrn 
Nissen  immerhin  die  Möglichkeit  hat,  jeden  Charakter- 
darsteller oder  Naturburschen,  der  jetzt  die  Beschul- 
digung aufgriffe,  als  einen  Verleumder,  als  Beleidiger 


—  30 


wider  besseres  Wissen  auch  von  einem  deutschen  Gericht 
verurteilen  zu  lassen.  Die  besten  Männer  des  geistigen 
Deutschland  haben  ihn  ihrer  dankbaren  Achtung  ver- 
sichert, Nietzsches  Schwester  hat  erklärt,  daß  sie  ihr 
Versprechen,  Briefe  des  Bruders  oder  Publikationen 
des  Archivs  im  ,Neuen  Weg'  zu  veröffentlichen,  an 
die  Person  des  Herrn  Herwarth  Waiden  geknüpft 
habe,  alle  Menschen,  die  deutsch  Geschriebenes  lesen 
können,  sind  einig  darüber,  daß  sie  in  ihm  einen 
ernsten  Helfer  moderner  Geistesbildung  und  nicht 
einen  betrügerischen  Kommis  zu  sehen  haben:  er 
wird  es  ertragen  können,  daß  die  Herrschaften,  die 
in  Dresden  den  »Giesecke«  verkörpern  oder  in  Prankfurt 
den  Posa  hinlegen,  ihn  mit  stiller  Geringschätzung 
betrachten. 

Nur  wehe,  wenn  sie  sie  laut  werden  lassen  I 
Die  Gefahr  ist  nämlich  die,  daß  ich,  wie  gesagt,  ein 
sehr  reizbares  Naturell  habe  und  in  solchen  Dingen 
nicht  mit  mir  spaßen  lasse.  Daß  ich  unter  keinen 
Umständen  gesonnen  bin,  den  Skandal  fortsetzen  zu 
lassen,  daß  sich  Ensembles  gegen  den  Geist  aufspielen 
und  einen  Schriftsteller  malträtieren,  weil  er  ihnen 
einmal  die  Ehre  erwiesen  hat,  sie  zu  höheren  Inter- 
essen führen  zu  wollen.  Daß  ich  kulturelle  Distanzen, 
die  durch  prozessuale  Verbindungen  verwischt  werden, 
wieder  herstellen  kann  1  Wie  mir  zu  Ohren  gekommen 
ist,  hat  man  die  erste  Warnung,  die  ich  ergehen 
ließ,  als  eine  »Beleidigung  des  Standesbewußtseins« 
empfunden,  und  sich  mit  einem  mäßigen  Rhabarber 
gegen  die  , Fackel'  gekehrt.  Ich  möchte  nun  dem 
Standesbewußtsein  raten,  sich  mir  außer  Hörweite  zu 
bringen.  Ich  habe  in  meinem  Leben  nebst  vielen 
Personen  und  Ständen  auch  schon  ganze  Nationen, 
Rassen  und  Zeitalter  beleidigt, .  es  kommt  mir  nicht 
darauf  an,  und  ich  lasse  mich  durch  die  Empfindlich- 
keit der  Betroffenen  in  den  Operationen,  die 
ich  für  heilsam  und  unvermeidlich  halte,  nicht 
stören.     Wenn's  weh  tut,     daß  ich   die  Prostitution 


—  31 


der  Theaterfrauen  für  eine  ethisch  höhere  Betätigung 
ansehe,  als  das  Verhalten  von  Männern,  die  einem 
Revolverjournalisten  »Grüß  Gott,  Doktorc!  sagen, 
wenn  es  einem  Standesbewußtsein  weh  tut, 
daß  ich  Weiber,  die  Weiber  sind,  für  wertvollere 
Menschen  halte  als  Männer,  die  Weiber  sind,  so  muß 
sich  eben  das  Standesbewußtsein  narkotisieren  lassen, 
damit  es  für  die  Wahrheiten,  die  ich  auszusprechen 
habe,  unempfindlich  werde.  Dann  will  ich  aber  gleich  den 
Nerv  abtöten  und  sagen:  Daß  ich  das  ganze  soziale 
Getue  der  Schauspieler  für  hundertmal  weniger 
wichtig  halte,  als  ihr  Benehmen  auf  der  Bühne. 
Daß  wir  von  der  Sozialpolitik  des  Theaters  genug 
haben.  Daß  alle  Organisierung,  alle  Verbürgerlichung 
dem  Wesen  der  Schauspielkunst  auf  eine  peinliche  Art 
widerstreitet.  Daß  der  Schauspieler,  der  außerhalb  der 
Bühne  nach  Menschenrechten  und  Gedankenfreiheit 
brüllt,  unglaubhaft  ist  und  daß  er  der  erste  wäre,  sie 
zu  verweigern,  wenn  ein  Schriftsteller  ihn  darum 
bäte.  Zurück  mit  der  Rolle  des  schlichten  Arbeit- 
nehmers, der  doch  sofort  den  Brotgeber  hervorkehrt,  wo 
er  sich  wirtschaftlicher  Überlegenheit  bewußt  ist! 
Ich  habe  den  Schauspielern  immer  das  gegeben,  was 
ihrer  ist,  und  habe  durch  Jahre  für  sie  gegen  die 
Unterdrückung  gekämpft,  der  sie  ihre  künstlerische 
Existenz  ausgeliefert  haben;  ich  habe  versucht  ihnen 
Mut  gegen  die  Notizentyrannen  zu  machen,  und  ihnen 
bewiesen,  daß  ich  für  die  wahren  Nöte  ihres  Standes 
mehr  Gefühl  habe  als  die  Agitatoren,  die  ihnen  ein 
soziales  Bewußtsein  einreden  und  ethische  Ideale 
aufbürden  möchten.  Sie  aber  ließen  sich  auf  den 
Konkordiaball  zu  Paaren  treiben  und  aller  Eifer, 
ihnen  die  Furcht  vor  der  Druckerschwärze  auszu- 
reden, die  sie  schon  als  Eigenschaft  im  Blute  tra- 
gen, war  umsonst.  Ich  habe  ihre  Herrschaft  der 
Szene  anerkannt  und  gegen  den  kunstfeindlichen 
Glauben  gewirkt,  der  Schauspieler  sei  ein  Diener 
des   Autors.    Größenwahn,    Eitelkeit,    Reklamesucht, 


32  — 


Applaus bedürfnis  —  alle  die  Laster,  an  denen  die  Jour- 
nalisten zu  Satirikern  werden,  wenn  sie  sie  zufällig  nicht 
züchten,  habe  ich  als  Tugenden  des  Schauspielers 
gerettet  und  ihren  Tadel  als  die  Blindheit  einer 
naturfremden  Kritik  enthüllt,  die  dem  Menschen 
den  Sauerstoff  verübeln  wollte.  Ich  war  durch- 
aus bemüht,  die  besonderen  Bedingungen  der 
besondern  Welt  zu  erkennen  und  sie  zu  ehren,  in- 
dem ich  ihre  Werte  von  den  Maßen  der  andern 
Welt  verschont  wünschte.  Übergriffe,  durch  die  sie 
sich  selbst  herabsetzt,  «weise  ich  zurück.  Schau- 
spieler, die  außerhalb  der  Bühne  den  Geist  als  ihren 
Kommis  behandeln  möchten,  jage  ich  in  die  Garde- 
robe zurück.  Einen  Präsidenten  der  Deutschen 
Bühnengenossenschaft,  der  in  dem  standesgemäßen 
Trachten  nach  bürgerlicher  Ehre  sie  erst  einem 
andern  abschneiden  muß,  erkläre  ich  ihrer  für  ver- 
lustig. Und  wenn  er  noch  immer  keine  Ruhe  gibt,  dann 
garantiere  ich  ihm  dafür,  daß  im  Chor  der  litera- 
rischen Wortführer  Deutschlands  ein  Rhabarber  los- 
gehen wird,  daß  ihm  Hören  und  Sehen  vergeht 
und  daß  er  mit  jenem  Gestank  vom  Thron  seines 
Reiches  scheidet,  mit  dem  er  schon  einmal  von  einem 
Hoftheater  geschieden  istl  Ich  will  doch  sehen,  ob  wir 
uns  in  der  sozialen  Entwicklung  des  Schauspielerstandes 
auf  die  Sicherheit  unserer  Wäsche  gar  so  viel  zugute 
tun  müssen,  aber  dafür  unsere  Ehre  verstecken  sollen, 
wenn  der  Ruf  ertönt:  Die  Komödianten  kommen  1 
Denn  sie  haben  es  weit  gebracht,  sind  Bürger  ge- 
worden und  könnten  am  Ende  behaupten,  daß  wir 
ihnen  die  Wäsche  gestohlen  haben. 


Herausgeber    und    verantwortlicher     Redakteur:     Karl     Kraus 
Druck  von  Jahoda  &  Siegel,  Wien,   III.  Hintere  Zollamtsstraße  3 


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Inhalt   der   vorigen  Nummer  291,  30.  November  1909: 
ii  zusammen!  —  Sie  gehören  nicht  zusammen!  —  Der 
Giftmord,  die  Moral  und  dr r  Postverkehr.  —  Glossen.  -  Schrecken 
der  Unsterblichkeit.  Sämtliche  Beiträge  von  Karl  Kraus. 


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Herauseeber  und  verantwortlicher  Redakteur    Karl  Kr  nn  < 


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F32 

Nr. 270- 
292 


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