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oppel-Hmnmer (Preis 60 hgiibo
Nr. 270—271. 19. Jänner 1909 X. Jahr
Die Fackel
Herausgeber:
KARL KRAUS
INHALT:
Grimassen über Kultur und Bühne. Von Karl
Kraus. — Schlafwandler. Von August Strind-
berg. — Tagebuch. Von Karl Kraus. — Weih-
nacht. — Glossen. Von Karl Kraus. — Der Fall
des Max E. Von Otto Soyka. Erdbeben. Von
Karl Kraus. — Vita nuova. Von Oskar Wilde.
Erscheint in zwangloser Folge.
Nachdruck und gewerbsmäßiges Verleihen verböte« ; gerichtliche
Verfolgung vorbehalten.
WIEN.
t/Arider nie ffnr» wm < m »««— » *» _.. . ...» .. .... .» . — ,
In zweiter Auflage erschienen:
Sittlichkeit m Kriminalität
I. Band der Ausgewählten Schriften
von
KRRL KRRÜS
Broschiert K 7.20 = Mk. 6.—
Ganzleinen „ 0.70 = „ 7.25
Bestellungen auf das im Verlag der Buchhandlung
L. Rosner, Wien und Leipzig, erschienene Werk nimmt
jede Buchhandlung, sowie der Verlag der »Fackel*,
:: Wien, III 2. Hintere Zollamtsstraße 3, entgegen. ::
Demnächst erscheint im unterzeichneten Verlag:
Die weltlichen Gesänge des
PfanzelterGidi von Polykarpszell
-:- Herausgegti -:-
GEORG QUER X.
Mit Umschlagszeichnung von Karl Arnold (München).
Zu beziehen durch jede bessere Buchhandlung.
»reis Mk. 1.50 Verlagsgesellschaft München
leg. kartonniert. c- m b- H-
München, Franz Josefstraße Nr. 9/
•
Die Fackel
NR. 270-71 19. JÄNNER 1909 X JAHR
Grimassen über Kultur und Bühne.
Bin Feuilleton-Korrespondent, einer von jenen,
die mit einer schweißigen Beobachtungsgabe aus
dritter Hand unser Geistesleben im Ausland reprä-
sentieren, beklagt in einer Münchner Zeitung den
Wiener Komödiantenkultus. Nichts Neues habe ich
zu solcher Armseligkeit zu bemerken. Es gibt Wahr-
heiten, durch deren Entdeckung man noch immer
nicht mehr beweisen muß, als daß man keinen Geist
hat. »Wohl dem Manne«, ruft er, »der (in Wien)
Schauspieler-Histörchen zu erzählen weiß ! Er wird
rasch gesellschaftlich beliebt; kennt er aber sogar
einen der Lieblinge persönlich, dann wird es ihm an
Einladungen nie fehlen, und die Huld schöner Frauen
ist ihm sicher«. Das wäre also ein ausgeleiertes Ge-
dankenwerkel, wenn nicht die immerhin neue Auf-
fassung mitspielte, wie man in Wien die Huld schöner
Frauen erringt. Doch läßt sich über subjektive Vor-
urteile nicht streiten, und die Wahrheit, daß die ver-
hätschelten Schauspieler »in den Grössenwahn hinein-
getrieben werden«, ist unbestreitbar. Bemerkenswert
ist lediglich die Wahl des Beispiels, an dem die Er-
kenntnis demonstriert wird.
Welcher Wiener Komödiantentypus wäre wohl
so recht bezeichnend für das übel, auf das unsere
Sozialkritiker ihr schärfstes Auge haben ? Ich denke,
es müßte einer sein, dessen Popularität ein Maß für
den kulturellen Tiefstand der Gesellschaft wäre, die
ihm übertriebene Ehren erweist, und Kunst und
Begeisterung müßten zu einem Gesamtbilde des
Ekels verschmelzen, das uns, wie aus dem Schaufenster
jeder Ansichtskartenhandlung, in höchster Vollkom-
menheit noeh angrinste, wenn man einen Querschnitt
durch die soziale Struktur machen könnte. Wir for-
men den Ausdruck unseres kulturellen Bewußstseins,
und wir haben den Schauspieler, den wir lieben.
Besehen wir die Figur, die beim Bleigießen unserer
Lebenswünsche zustande kam. Bei Gott, wenn sie
nicht einem Handlungsreisenden gleicht, dann gleicht
sie dem Schauspieler, dem Dichter, dem Advokaten,
dem Komponisten, dem Zeichner, den wir lieben.
Aber es stellt sich heraus, daß sie alle, alle dem Hand-
lungsreisenden gleichen. In Manufaktur oder Litera-
tur, in Juristerei oder Musik, in der Medizin oder auf
der Bühne — immer ist es der sieghafte Überkom-
mis, der den »Platz« beherrscht. An dem unermeß-
lichen Wandel der Vorstellung etwa, die einst mit dem
Namen Siegfried verknüpft war, mag man die Über-
legenheit seines heutigen Trägers erkennen. Seine
Haut hat auch nicht eine Stelle, die nicht hörnen
wäre, und den Weg zum goldenen Hort kennt er
besser als der andere, denn seine Platzkenntnis ist
verblüffend. Mühelos hat er sogar den deutschen Leut-
nant verdrängt, der nach Sedan schlecht und recht
den heroischen Ansprüchen des Publikums genügte,
bis er in die Karikatur entartete, und es ist eine über-
holte Anschauung, die das deutsche Leben heute noch
vom zweifarbigen Tuch verhängt glaubt. Nicht die es
tragen, sondern die in dem Artikel reisen, sind nunmehr
die Repräsentanten des Welt Warenhauses unserer Kul-
tur. Der Offizier und der Beamte freilich haben noch
etwas vorgestellt; der Kommis und der Redakteur
empfehlen bloß. Gehört ihnen aber die Welt, so will
es mich bedünken, daß ihnen auch die Bühne zu
gehören habe. Wie hat sich das Leben verändert,
seitdem > Gottes Segen bei Kohn« sich einstellte!
Über unseren Tragödien senkt sich ein Vorhang, und
schon erfahren wir, wo man die billigste Kunstbutter
bekommt. Und dabei wird sie wahrscheinlich gar
nicht erzeugt, sondern nur verkauft. Ehedem hatte
— 3 —
ein kleiner Schuster ein persönliches Verhältnis zu
seinen Stiefeln; heute hat der Dichter keines zu sei-
nen Erlebnissen. Es gibt keinen Erzeuger mehr, es
gibt nur mehr Vertreter. Darum können wir ohne
einen Girardi leben; aber wehe, wenn man uns den
Herrn Treumann verhaften wollte !
Die erhabene Größe einer Natürlichkeit, die uns
durch ein Augenzwinkern in eine Welt des Froh-
sinns versetzen konnte — nein, so tief hat sie
nicht in ihrer Zeit gewurzelt, wie die Technik des
tanzenden Kommis in der unseren wurzelt. Wir
verzichten auf die erdgewachsene Kunst und schätzen,
was am Platz begehrt ist. Jene geben wir an
den Berliner Bazar ab, wo zwischen Hausrat und
Schmückedeinheim gewiß zeitweise auch Leoparden
verlangt werden. Girardi in Berlin — und uns begrüßt
an allen Plakatsäulen das bedeutende Antlitz
eines wiedereroberten Herrn Josephi. Das Mutter-
aug' hat ihn doch erkannt! Und wie würde
es erst jenen flotten Geist entbehren, um den
jetzt die Exekutionsbeamten mit den Enthusiasten
raufen müssen? Das ist mein Wien, die
Stadt der Lieder! dürfte eine Girardische Be-
tonung lauten. Hat dieser Götterliebling wirk-
lich je so gut das Wiener Volkstum repräsentiert
wie jener Ghettoliebling (wieder nur eine falsche
Aussprache) die herrschende Engros-Kultur? Girardi
hat nichts repräsentiert; er war. Aber die En-
grossisten, für die heute Theater gespielt wird,
wollen für ihr Geld auch etwas sehen, was einer
nicht ist, aber was er eben kann. Der Kommis muß
heute gesellschaftlichen Schliff haben, er muß perfekt
Konversation führen, er muß tanzen können: sonst
geht die Partie zurück. Die Töchter und die übrige
Partie wäre an den Mann zu bringen, das ist Lebens-
inhalt. Das Theaterspiel, das immer nur eine Es-
komptierung der Lebenswünsche bedeutet, hat an
keine anderen Probleme zu rühren. Vor zwanzig
Jahren noch saß eine Gesellschaft im Parkett, deren
Väter die Kaution in der Brust höher gehen fühlten,
wenn der Leutnant, der Schwerenöter, auf der Szene
erschien. Dann kam die Zeit der schweren Not, die
Weber aßen Hundebraten und das Bürgertum rief:
Die Kunst soll uns erheben, den Schmutz der Gasse
habe ich zuhause! Endlich wird es wieder hell, ver-
irrte Wünsche finden in den Hafen und zu neuen
Ufern lockt ein neuer Tag. Der tanzende Prokurist
erobert sich lustige Witwen und Dollarprinzessinnen,
er wird sich auch noch, der Schwerenöter, die
Tochter der Firma Bachstelz & Bunzl erobern, die
ohnedies schon nach einem Autogramm vom
Fritz Werner fiebert, aber bisher mit einem Brief
von Peter Altenberg vorliebnehmen mußte. (Dessen
Pathos wahrlich seine eigene Unterschrift hat,
wenn es sich auch öfter in der Adresse irrt,
und dessen Humor zu dem Besten gehört, was
wir heute nicht verstehen. Auch einer, den die
Zeit in schlechte Gesellschaft gebracht hat; einer
für sich und darum keiner für alle. Seine Trivialität
wird gezüchtet, aber sein Unvergleichliches bleibt
unbeachtet. Das Gesindel nimmt ihn nicht ernst, weil
er heiter ist, und um ernst genommen zu werden,
muß er mit dem Gesindel wetteifern. Bliebe er bei
der Kunst, so würde sein Ton nicht gehört. Darum
ist er gezwungen, unter die Abdominalpropheten zu
gehen oder sich gar als Variete-Messias zu verdingen.)
Gott, wie fesch 1 rief Fräulein Isolde Bunzl, während
der Dichter sie auf die adelige Seele hin untersuchte ;
Gott, wie fesch, rief sie, als die Devise aufkam: Der
Zeit ihren Treumann I
Es war der Augenblick, da man das kolossale
Defizit an Humor, das die moderne Salonoperette
belastet, als einen Überschuß an Psychologie zu
deuten begann. Unseren Feuilletonisten gelang es,
den Viktor Leon für die Kultur zu retten. Sie waren
nicht so ehrlich, zu bekennen : was sich da oben auf
der Operettenszene abspielt, gefalle ihnen, weil es
nach der Branche riecht. Nein, der Pofel, der es zu
6 —
Jubiläen brachte, weil die Volksseele jetzt der
Hausiererfrechheit applaudiert, war ein Versuch
zur Psychologisierung der Operette. Dem Dichter der
>Lustigen Witwe«, dessen Einfluß auf das Geistes-
leben der Gegenwart ja unbestreitbar ist, wurde
nachgesagt, seine biegsame Natur sei »halt .von
der Epoche langsam gemodelt worden«. Denn er
habe den Stoff des »Attache^ nicht bloß genommen,
sondern in eine exotische Sinnlichkeit getaucht
und es sei ihm nicht so sehr um die Tantiemen,
als um die »Enthüllung des Triebhaften« zu
tun gewesen. In Herrn Treumann gar tanzte
Dionysos selbst über die Bretter, die wieder
eine lichtere Welt bedeuten sollten; wenn ich mich
recht erinnere, wurde Nietzsche als Claquechef bemüht,
und ich weiß nur, daß der Typus des Feintuch-
reisenden irgendwie als das Idealbild kommender
Kulturen hingestellt wurde. Es war ganz die Meinung,
die mich selbst erfüllt, wenn ich von unserem Theater
auf unser Leben schließe; nur mit dem Unterschied,
daß sie mich lebensüberdrüssig macht, während ein
perfekter Feuilletonist alle Engel den dummen, dummen
Keitersmann singen hörte. »Etwas so restlos Freies,
Schwerloses, Schwebendes, das wie eine große Schön-
heit ist«, wurde damals an Herrn Treumann bemerkt, und
die Fähigkeit, »einen erhöhten Zustand des Mensch-
lichen zu geben«. Ohne Zweifel: um die Reste her-
unterzuholen, auf der Leiter zu schweben, und im
nächsten Moment wieder unten zu sein und die
Kundschaft zu bedienen, dazu ist schon eine gewisse
Gelenkigkeit notwendig. Ob das aber gerade eine
schauspielerische Fähigkeit bedeutet, mag zweifelhaft
sein. »Vom Psychologischen läßt er nicht«, hieß
es damals vom Herrn Treumann. Nein, das tut er
nun einmal nicht. Weil er zum Beispiel eine ein-
gelegte Ballade nicht singen kann, wie es die früheren
Operettenhelden konnten, so wird er wohl oder
übel zum »Menschendarsteller«: »er packt die ganze
schöne Einlage, sprengt sie mit seiner Eifersucht aus-
— b' —
einander, zerfetzt sie und wirft sie der Geliebten
keuchend, stückweise, abgerissen ins Gesicht; er
singt keine Ballade, er ist dazu im Augenblick nicht
gelaunt . . .« Welch ein eigenwilliger Moderner! Er
verschmäht die billigen Mittel einer angebornen
Komik, mit der Andere arbeiten. Er hat keine
Stimme, er hat Psychologie; er ist kein Sänger, er
ist ein rasender Balladenschwengel. Auch findet seit
langer Zeit bekanntlich ein Ausverkauf mit dem Worte
»schlamperte Graziec statt, und es schwebt mir dunkel
vor, daß es zu den »abfallenden Schulternc jener gewis-
sen müden Kulturen paßte und zu der »karessanten
Sinnlichkeit«, die damals gleichfalls an Herrn Treu-
mann beobachtet wurde. Es hieß, er sei »so lyrisch,
daß sich alle Mädchen in ihn verlieben müssen«,
und anderseits »so aus dem Geblüt geschmackvoll,
daß er auch auf alle Männer wie eine Erquickung
wirkt«, und ich erinnere mich, daß das Um-
kippen seiner Stimme in dem Ausruf »Niegus . . .
Ge . . lieb . . ter, komm her« — beiläufig das Wider-
wärtigste, was ich je in einem Theater erlebt
habe — in vielen Wiederholungen als ein Echo des
Lebensrufes gepriesen wurde. »Und hat man's nur
einmal von ihm gehört, dann sagt man's ihm tage-
lang alle Augenblicke unwillkürlich nach: Njegus...
Ge . . lieb . . ter . .« Beneidenswert, wen die Gehirn-
qual dieser Lustigkeit, die das Wiener Publi-
kum fünfhundertmal bestanden hat, zu einer neuen,
rosigeren Weltbetrachtung stimmen konnte ! Ich
möchte mich aus solcher Gedankenwelt nach
Hallstatt flüchten, um wieder Sprudelgeistern zu be-
gegnen, und wenn ich dort einen Kretin fände, der
Tag und Nacht seine Katze streichelt, ich fände den
Glauben an die Menschheit wieder.
Aber diese wahrlich scheint den Lärm der Geistes-
armut zu ihrem Glücke zu brauchen, und die tanzende
Huraorlosigkeit ist das, was sie heute auf der Bühne
zu sehen verlangt. Hat schon einer einmal untersucht,
welche Elemente es sind, die die unaussprechliche
Gemeinheit dieses neuen Operettenwesens zusammen-
setzen, und was im Grunde jene tobsüchtige Be-
geisterung in allen Kulturzentren bewirkt, auf welche
die Erde mit einem Beben antwortet? Man bedenke,
daß die charmante Pracht einer Offenbachschen
Welt versunken ist, und daß sie einst mit allen
ihren Wundern nicht entfernt das Entzücken ver-
breitet hat, das heute ein bosniakischer Gassen-
hauer findet, den ein Musikfeldwebel geschickt in-
strumentiert, oder die Erinnerung an den Tonfall,
mit dem ein humorloser Komiker die Worte »Njegus,
Geliebter, komm her!« spricht. Man bedenke, daß die
Anmut Johann Strauß'scher Walzer nicht bühnenfrem-
der war als die Kitschigkeit ihrer Nachahmungen.
Man sage sich, daß die lieblichen Werke der Lecoque,
Audran, Planquette, Sullivan heute durchfallen, wenn
sie neu in Szene gehen ; daß der echtesten Soubretten-
leistung wie der der Zwerenz in einem Werk wie Supp^s
»Donna Juanita« der Schmarren einer »Försterchristel«,
in dem die überschätzte Frau Niese ihre Varietö-
talente zeigt, hundertmal vorgezogen wird; daß kein
Direktor es wagt, die guten Theaterstücke Millöckers,
»Apajune«, »Gasparone«, »Vice-Admiral« auf dem
Repertoire zu erhalten und alle die anderen,
die schon durch einen gewissen Mehlzusatz dem
musikalischen Geschmack des heutigen Wiener-
tums entgegenkamen . . . Kein Zweifel, diese Fülle
von Wohlklang, Grazie und Humor hat sich über-
lebt. Wir mögen es glauben, daß die Zeit noch
kommen wird, in der der Freudengenius eines Offen-
bach an die Seite Mozarts tritt: heute wünschen wir
ihn von dem dürftigsten Walzerspekulanten verdrängt;
und daß kein Ton jener Heiterkeit mehr aufkomme,
die einst von den Namen Orpheus, Helena, Blau-
bart, Gerolstein und Trapezunt in unsere Herzen
schlug, dafür sorgt der von der Mischpoche ge-
modelte Herr Viktor Leon. Man vergleiche nicht »Pariser
Leben« mit der »Lustigen Witwe«; man höre nur ein
paar Takte aus einer der unberühmten, stets verstoßenen
— 8 —
Operetten am Klavier, etwadas Lied vom heiligen Chry-
sostomus aus Offenbaehs »Schönröschenc, und w^nn
mau solchen Schimmer von den Reichtümern empfan-
gen hat, die ehedem mit dem Tage verschüttet wurden,
frage man sich, warum wir unsere Armut so hoch
in Ehren halten . . . Der Grund von all dem : Die
Welt wird vernünftiger mit jedem Tag. Wodurch
naturgemäß ihre Blödsinnigkeit immer mehr zur
Geltung kommt. Sie beschnuppert die Kunst auf
ihren Wahrscheinlichkeitsgehalt und wünscht ihn von
allen Symbolen entkleidet. Darum hat sie das Märchen
und die Operette in die ästhetische Rumpelkammer
geworfen.
Die Punktion der Musik: den Krampf des Le-
bens zu lösen, dem Verstand Erholung zu schaffen
und die gedankliche Tätigkeit entspannend wieder
anzuregen. Diese Funktion mit der Bühnenwirkung
verschmolzen, ergibt die Operette, und sie hat sich
mit dem Theatralischen ausschließlich in dieser
Kunstform vertragen. Denn die Operette setzt eine
Welt voraus, in welcher die Ursächlichkeit aufgehoben
ist, nach den Gesetzen des Chaos, aus dem die
andere Welt erschaffen wurde, munter fortgelebt wird
und der Gesang als Verständigungsmittel beglaubigt
ist. Vereinigt sich die lösende Wirkung der
Musik mit einer verantwortungslosen Heiterkeit,
die in diesem Wirrsal ein Bild unserer realen Ver-
kehrtheiten ahnen läßt, so erweist sich die Operette
als die einzige dramatische Form, die den theatrali-
schen Möglichkeiten vollkommen ebenmäßig ist. Das
Schauspiel kann immer nur trotz oder entgegen dem
Gedanken seine Bühnenhaftigkeit durchsetzen, und
die Oper führt durch die Inkongruenz eines menschen-
möglichen Ernstes mit der wunderlichen Gewohnheit des
Singens sich selbst ad absurdum. In der Operette ist die
Absurdität vorweg gegeben. Hier klaffi kein Abgrund,
in dem der Verstand versinkt, die Bühnenwirkung
deckt sich mit dem geistigen Inhalt. Im Schauspiel
siegt das Schauspielerische auf Kosten des Dichteri-
sehen, denn um uns zu Tränen zu rühren, ist es
ganz gleichgiltig, ob Shakespeare oder Ohnet die
Gelegenheit bietet; in der Oper spottet das Musi-
kalische des Theatralischen, und die natürliche
Parodie, die im Nebeneinander zweier Formen ent-
steht, macht auch den tatkräftigsten Vorsatz zu einem
»Gesamt kunst werk« lächerlich. Das Theater ist die
Profanierung des unmittelbaren dichterischen Ge-
dankens und des sich selbst bedeutenden musikali-
schen Ernstes; es ist der Hemmschuh jedes Wirkens,
das eine »Sammlung« beansprucht, anstatt sie durch die
sogenannte »Zerstreuung:« erst herbeizuführen. Sopho-
kles wird an dem Ausbreitungsbedürfnis des letzten
Komödianten zu schänden, und die Andachtsübungen
einer Wagneroper sind ein theatralischer Nonsens.
Zu einem Gesamtkunstwerk im harmonischesten Geiste
aber vermögen Aktion und Gesang in der Operette
zu verschmelzen, die eine Welt als gegeben nimmt,
in der sich der Unsinn von selbst versteht und in
der er nie die Reaktion der Vernunft herausfordert.
Offenbach hatte in seinen Reichen phantasiebelebender
Unvernunft auch für die geistvollste Parodierung des
Op^rn wesens Raum: die souveräne Planlosigkeit der
Operette kehrte sich bewußt gegen die Lächerlichkeit
einer Kunstform, die im Rahmen einer planvollen Hand-
lung den Unsinn erst zu Ehren bringt. Daß Operetten-
verschwörer singen, ist selbstverständlich, aber die
Opern Verschwörer meinen es ernst und schädigen
den Ernst ihres Vorhabens durch die Unmotiviertheit
ihres Gesanges. Wenn nun der Gesang der Operetten-
verschwörer zugleich den Gesang der Opernver-
schwörer parodiert, so ergibt sich jene doppelwendige
Vollkommenheit der Theaterwirkung, die den Werken
Offenbachs ihren unvergänglichen Charme verleiht,
weit über die Dauer jener politischen Anzüglichkei-
ten hinaus, auf welche die Nichtversteher seines
Wesens den größten Wert legen. An der Regellosig-
keit, mit der sich die Ereignisse in der Operette voll-
ziehen, kann nur ein rationalisiertes Theaterpublikum
— 10
Anstoß nehmen. Der Gedanke der Operette ist
Rausch, aus dem Gedanken geboren werden ; die
Nüchternheit geht leer aus. Dieses graziöse Weg-
spülen aller logischen Bedenken und dies Ent-
rücken in eine Konvention übereinander purzelnder
Vorgänge, in der das Schicksal des Einzelnen bei einem
Chorus wildfremder Passanten die unwahrscheinlichste
Teilnahme findet, dieses Aufheben aller sozialen
Unterschiede zum Zwecke der musikalischen Eintracht,
und diese Prompt heit, mit der der Vorsatz eines Aben-
teuerlustigen: »Ich stürz' mich in den Strudel, Strudel
hineinc von den Unbeteiligten bestätigt und neidlos
unterstützt wird, so daß die Devise: »Er stürzt sich
in den Strudel, Strudel hinein I« lauffeuerartig zu einem
Bekenntnis der Allgemeinheit wird — diese Summe von
heiterer Unmöglichkeit bedeutet jene reizvolle Gelegen-
heit, uns von den trostlosen Möglichkeiten des Lebens
zu erholen. Indem aber die Grazie das künstlerische
Maß dieser Narrheit ist, darf dem Operettenunsinn
ein beträchtlicher erzieherischer Wert zugesprochen
werden. Ich kann mir denken, daß ein junger Mensch von
den Werken Offenbachs, die er in einem Sommertheater
zu sehen bekommt, entscheidendere Eindrücke empfängt
als von jenen Klassikern, zu deren verständnisloser
Empfängnis ihn die Pädagogik antreibt. Vielleicht
könnte ihm sogar das Zerrbild der Götter den wahren
Olymp erschließen. Vielleicht wird seine Phantasie
zu der Bewältigung jener Pleißaufgabe gespornt, sich
aus der »Schönen Helena« das Bild jener Heroen zu
formen, das ihm die Uias noch vorenthält. Und er zieht
aus der bukolischen Posse, die die Wunderwelt des
»Blaubart« einleitet, mehr lyrische Stimmung, von dem
spassigen Frauenmord mehr echtes Grauen und Roman-
tik, als ihm Dichter bieten können, die es darauf abgese-
hen haben. Von dem Entr^e eines Aleaden, den zwei
Dorfschönen um seine Perücke herumdrehen, mag
ihm das Bild der lächerlichen Hilflosigkeit in Er-
innerung bleiben, wenn sich ihm einst die Kluft
zwischen Gesetz und Leben öffnen sollte, und alle
11
Ungebühr in Verwaltung und Politik offenbart sich
ihn schmerzlos in der Verwirrung, welche die Staats-
aktionen der Operette zur Folge haben.
Eine Gesellschaft aber, die das Lachen geistig
anstrer.gt und die gefunden hat, daß sich mit
dem Ernst des Lebens mehr Geld verdienen
läßt, hat den blühenden Unsinn der Operette
zum Welken gebracht. Sie imponierte sich mit
ihrer Pfiffigkeit, als sie die Unwahrscheinlichkeit
einer Operettenhandlung entdeckte. Wie sollte es
auch möglich sein, den im Verdienerleben unauf-
hörlich tätigen Verstand für einen ganzen Abend aus-
zuschalten? Zudem ist der Feuilletonlektüre eine
vordem nie geahnte Ausbreitung der Bildung gelungen,
und diese läßt sich mit Schäferspielen und märchen-
blauen Unmöglichkeiten nicht mehr abspeisen. Der auf-
geweckte Verstand hat den Unsinn entlarvt und seine
Rationalisierung durchgesetzt. Was geschieht? Der Un-
sinn, der früher das Element war, aus dem Kunst ge-
boren wurde, brüllt losgebunden auf der Szene. Unter
dem Protektorat der Vernunft entfaltet sich eine Gehirn-
schande, welche die dankbaren Empfänger ärger
prostituiert als die spekulativen Bereiter. Die alten
Operettenformen, die an die Bedingung des Unsinns
geknüpft bleiben, werden mit neuer Logik ausgestopft,
und der Effekt läßt sich etwa so an, als ob jetzt die
opernhafte Lächerlichkeit von einer Bande entfesselter
Tollhäusler demonstriert würde. Die Forderung, daß die
Operette vor der reinen Vernunft bestehe, ist die
Urheberin des reinen Operettenblödsinns. Der Komi-
ker, der keine Komik hat und sein Lied schlecht
singt, muß freilich ein Menschenschicksal darstellen ;
wer aber ein Menschenschicksal darstellt, macht die
Narrheit, dabei zu singen, erst komplett, und das
Gedudel im Orchester setzt den Respekt vor einem
Seelendraraa wie der »Lustigen Witwe« beträcht-
lich herab. Doch die ernstgenommene Sinnlosigkeit auf
der Bühne entspricht durchaus der Lebensauf-
fassung einer Gesellschaft, die auf ihre alten Tage
12
Vernunft bekommen hat und dadurch ihren Schwach-
sinn erst bloßstellte. Und ihren Blößen die Stcffe
zurechtzumachen, ist eine Legion talentloser Flick-
schneider am Werke. Der Drang, das Leben der musika-
lischen Burleske zu verifizieren, hat die Gräßlichkeiten
der Salonoperette erschaffen, die von der Böhe der
»Fledermaus« — des Übels Urquell — über die Mit-
telmäßigkeit des »Opernballs« in die geizige Nieder-
ung der »Lustigen Witwe« führen. Von der natürlichen
Erkenntnis verlassen, daß ein phantastisches oder
exotisches und jedenfalls ein der Kontrolle entrücktes
Kostüm notwendig ist, um das Singen in allen
Lebenslagen glaubhaft zu machen, und ahnungslos,
daß ein singender Kommis im Smoking eine Gesell-
schaftsplage sei, wagt diese neue Industrie das
Äußerste.
Aber sie darf es wagen. Denn ihrem
Publikum dient die heutige Operette bloß als ein
Vorwort zu den gröhlenden Freuden des Nacht-
lebens. Auf die weit aufgesperrten Mäuler der Volks-
sänger, die der Champagnerwurzen das Vergnügen
durch den Trost »Es muaß ja net der letzte sein«
erhöhen, will man durch den Theatergesang schonend
vorbereitet sein. Vom Psychologischen lassen sie nicht.
Und vielleicht erklärt uns ein Feuilletonist diesen
protzigen Mangel an Genußfähigkeit als tiefere Be-
deutung. Wir vermöchten sonst in dem Tasten nach
einer rohen Gegenständlichkeit der musikalischen
Genüsse nur jenen vollbusigen Geschmack wiederzu-
erkennen und jene Kolatschenweltansohauung, die
jetzt mit dem Stolz der kulturellen Überlegenheit
getragen werden. Die Wiener Operette hat sich mit
dem Geist des Drahrertums verbündet und verzichtet
auf das Opfer der Phantasie, das sie einmal ihren
Genießern zugemutet hat. Ihre Entartung ins Volks-
sängerische, ihre neue Tendenz, dem niedrigsten
Nachtlokalpatriotismus zu schmeicheln und die Welt
als einen großen Guglhupf aufzufassen mit der
Wienerstadt als dem einzigen Weinberl darin, ihre
- 13
Anbiederung an den Stefansturm, auf dessen Spitze
Herr Gabor Steiner gedacht wird, wie er eine
Schenkelparade der himmlischen Heerscharen in-
szeniert: diese ganze Entwicklung der Operette ins
Walzerische und Drahrerische würde ihre Satire in
einer musikalischen Burleske verdienen, wie sie
Offenbach aus der Lächerlichkeit der opernhaf-
ten Gebärde geschaffen hat. Der Spott ergäbe sich
umpo müheloser, als die neue Operette auf der
Höhe ihrer Verknödelung sich selbst des Opern-
gestus bedient und einen Fünf kreuzertanz mit
einem Posaunenfest der Instrumentation beschließt.
Die Satire, die hier einzusetzen hätte, wäre
eine vollkommene Rehabilitierung des wahren Kunst-
wertes der Operette. Nun kehrt sich die Parodie vom
»Petroleumkönige, die in einem Wiener Kabaret
großen Zulaut findet, allerdings gegen die volkssänger-
haften Allüren der modernen Ausstattungsoperette.
Aber es ist hundert Vorstellungen gegen eine zu
wetten, daß die Verfasser den Erfolg, den sie erzielen,
nicht diesem Spott, der von geringer Dichtigkeit ist,
sondern dem Interesse des Publikums an dem Objekt
des Spottes verdanken. Da es zwei sind, die den
Text dieser Parodieleistung zustandegebracht haben —
jedem für sich wäre Witz nicht abzusprechen — , so
wird das Publikum vielleicht in dem Glauben be-
stärkt, es handle sich um eine jener fürchterlich
ernstgemeinten Operetten, denen es die Riesenerfolge
bereitet hat, und es scheint entschlossen, auch dieser
hier seine Ausdauer zu bewähren. Da sie besser ist als
die anderen, wäre den Autoren ein solcher Lohn zu
gönnen, und mindestens könnte, wer ihre Absicht
durchschaut, den Librettisten und ihrem Komponisten
raten, einmal Ernst zu machen und eine lustige
Operette zu schreiben. Diesmal hatten sie den kunst-
widrigen Einfall, die alten Operettenformen zu ver-
höhnen, um ihre modernen Mißbraucher lächerlich zu
machen. Aber das Publikum freute sich sogar an
jtnen wieder und lachte über einen komischen
14 —
Diener, der im Hintergrund die Gebärden seines
Herrn mitmacht, ohne zu merken, daß diese Komik
tiefere Absicht sei, nämlich ein Spott auf die Komik.
Das Publikum lachte unrichtig, und daraus können
die Librettisten die Lehre ziehen, daß sie es das
nächste Mal genau so machen sollen. Sie hatten
den Vorsatz, den » Operettenblödsinn c zu geißeln. Was
jedoch ausschließlich gegeißelt werden soll, ist das
blödsinnige Streben der heutigen Operette, sich einen
Sinn beizulegen, der den Blödsinn ins Unmittelbare rückt,
ihre Tendenz, den Mangel an Komik durch Logik wett-
zumachen und die Stelle, auf der ein Sänger stehen
sollte, mit einem Psychologen zu besetzen. Aber
Konsequenz der Charaktere und Realität der Be-
gebenheiten sind Vorzüge, zu denen nicht erst
Musik gemacht werden muß. Daß ein schlafen-
des Liebespaar von einem Polizistenchor nicht
geweckt wird, ist in der Welt der musikalischen
Unberechenbarkeit durchaus möglich, und die Wahr-
scheinlichkeit, daß es im Leben geschieht, ist die
wertlose Erkenntnis einer rationalistischen Satire,
die sich nicht zu hoch über das Niveau jenes intel-
lektuellen Publikums erhebt, dem die konkrete
Albernheit der modernen Operette ihre spott-
würdigen Triumphe verdankt. Ich fürchte, wenn
dieses Publikum bei der fünfhundertsten Aufführung
des iPetroleumköuig« erfährt, daß er eine Parodie
sei, wird's bei dieser Aufführungsziffer sein Bewen-
den haben.
Was mich an dem Enthusiasmus für die
Operettenschande am tiefsten berührt, ist die demo-
kratisierende Wirkung, die von ihr auszugehen
scheint. Man gewahrt eine förmliche Lust, sich mit
Helden und Schicksalen der neuen Operettenwelt zu
encanaillieren, und eine Gesellschaftsschicht, die ge-
wiß ihrer Dienerschaft winkte, wenn befrackte Kommis
mit roten Schweißtüchern in ihre Salons eindrängen,
läßt sich von diesen ihre Liebesabenteuer und Eifer-
suchtsszenen keuchend, stückweise, abgerissen vor-
— 16 —
singen. Es herrscht eine Neugierde nach den Privat-
angelegenheiten der Kornrais, die einen Menschen, der
nach zwanzig Jahren wieder einmal in eine Operetten-
vorstellung kommt, geradezu peinlich berühren muß,
und wenn so ein koscherer Schwerenöter mit den Worten
des Meisters Leon versichert: »So eine Depesche ist
oft fatal — o Elektrizität 1 — Es gibt Zeiten, wo man
wünschte — daß man dich nicht erfunden hätt'l«, so
ruft ein den besseren Ständen angehörendes Publi-
kum nicht »Hinaus!«, sondern tobt vor Begeisterung.
Es gibt keine gesellschaftlichen Vorurteile mehr. Das
Interesse des Publikums für die Intimitäten der
Operettengestalten wäre auch heute entschuldbar, wenn
Stumpfsinn und Gemeinheit nicht ohne hinreichende
musikalische Bedeckung sich hervorwagten und vor
allem in der bizarren Tracht entfernter Länder oder
Zeiten. Unbegreiflich ist, daß wir in der sozialen
Nähe der Salonoperette den Insult ihrer Zumutungen
nicht spüren. Und es ist dann nur natürlich, daß
wir unser Interesse für die unvermummten Träger
der Handlung auch auf ihr Leben außerhalb der
Bühne erstrecken. Der Naturalismus des singenden
Kornrais erleichtert die Identifizierung mit der Privat-
person des Darstellers, und unser Schauspieler-
kultus, der ehedem ein gerechter Lohn der künstleri-
schen Persönlichkeit war, ist bloß die Konsequenz
einer einmal übernommenen gesellschaftlichen Ver-
pflichtung. Ihr unterwerlen sich selbst jene Kreise des
Publikums, von denen man annehmen müßte, daß sie in
einem Bankbeamten, der tanzen kann, noch nicht den
Gipfel der kulturellen Entwicklung erblicken. Daß aber
jene Schichten, die heute die Theaterwerte kotieren,
nicht anders denken, ist begreiflich. Die Populari-
tät des Herrn Treumann unterliegt keinem Zweifel;
seine Anhänger sind über die ganze Welt zerstreut.
Überraschend ist freilich, daß das Pathos, mit dem
sie sich zu ihm bekennen, bis zu revolutionären Stim-
mungen sich steigern kann. Das Schicksal eines Sängers,
der so verzwickte Kontraktbrüche begeht, daß die
— 16 —
Jurisprudenz versagen muß, weil sie nicht genug
Mathematik gelernt hat, und daß sie sich nur mit der
einstweiligen Verhaftung helfen kann, mag die Theater-
tinterln und Freikartenschnorrer eines Kaffeehauses
immerhin alterieren. Daß sich aber dieses Interesse
bis zur Binmengung in eine Amtshandlung, Gewalt-
anwendung gegen die Schergen des Exekutions-
gerichts und bis zu flammenden Reden der studen-
tischen Jugend steigern kann, ist ein erfreulicher
Beweis, daß in Wien der Kulissenklatsch die poli-
tische Begeisterung noch nicht ertötet hat und daß
diese jederzeit mobil zu machen ist, wenn es den
Kulissenklatsch gilt. Was wiegt die Erinnerung an
den Einzug der Wache in das Parlament gegen dieses
Erlebnis 1 Unvergeßlich bleibt der Augenblick, da ein
Tarockspieler die Meldung brachte: »Das Kaffeehaus
ist von Polizei besetzt!« Als aber gar einer der Anhänger
des Herrn Treumann den Ruf ausstieß: »Es lebe die
Freiheit 1«, bezog diesen einer der Direktoren, denen
der Mann die Treue hielt, auf den Eintritt in die
Vorstellung und verteilte auf der Stelle siebzig Frei-
karten. Hätte er Messina aufgebaut, der Jubel einer
Welt hätte den Tumult der Dankbarkeit nicht über-
bieten können, den solche Hochherzigkeit auf dem
sicheren Wiener Boden errang. Aber warum duldet
der schweigend? Warum stellt sich kein Erdstoß
ein, der uns künftig eine Zeitungsnachricht ersparte
wie die, ein Theateragent habe dem Volke zugerufen:
»Hier ist erl In Freiheit vorgeführt!«. Warum wurde
uns nicht durch ein rechtzeitiges Elementarereignis der
Anblick jenes Konterfeis entzogen, das einen kai-
serlichen Rat und Hoflieferanten darstellt, wie er eben
damit beschäftigt ist, bei der versuchten Verhaftung des
Herrn Treumann dabei zu sein? Für die versuchte
Verhaftung wird sich die Polizei vor den Billard-
spielern zu verantworten haben. Aber warum erbarmt
sich nicht die kleinste Pestilenz und verhindert uns,
Bulletins über den Gesundheitszustand, über Lektüre,
Wäschebeschaffung, Auf regungszustände des Häftlings
— 17
zu empfangen? Warum, warum! So sind wir den ent-
fesselten Zeitungsgewalten hilflos preisgegeben. Was
ist der Mensch! Und nichts erinnert an die gelinderen
Schrecken der Natur als höchstens die Tatsache,
daß bei solchen Gelegenheiten Weiber zu Hyänen
werden. Mehrere Damen benützten nämlich das
Gedränge, das bei der versuchten Verhaftung ent-
standen war, um die Tränen des Herrn Treumann
zu trocknen und für ihn zu weinen, und eine Meldung
besagt sogar, daß sie sich zwischen den Liebling und
die Staatsgewalt geworfen haben. Dös war das einzige
Moment, welches über die Interessen einer Staatsaktion
hinaus an das Walten der Naturraächte erinnerte.
Aber sie sind blind; und ich möchte es bezweifeln,
daß der Liebling für die Damen eingetreten wäre,
wenn die Polizei sie wegen Einmischung in eine
Amtshandlung verhaftet hätte . . .
Ohnmächtig stehen wir den Katastrophen der
Kultur gegenüber und wenn uns der Schrecken des
Oberstandenen und die Angst vor der Wiederholung
die Ruhe des Rückblicks gönnen, dann sehen wir,
wie sich das Bild dieser Stadt verändert hat, seitdem
sie sich den Zwischenhändlern des Geistes übergab.
Sind dies die oft beklagten Exzesse des Schauspieler-
kultus? Sind es nicht vielmehr Ausbrüche jenes Selbst-
bewußtseins einer angelangten Kaste, die an ihrem
Weltbesitz nicht rütteln läßt und selbst noch das
Recht, das dem Einzelnen widerfährt, als ein Unrecht
gegen ihre Gesamtheit abwehrt? Das Tbeaterinteresse
mag dem Komiker zu Hilfe eilen, aber die Bedrängnis
des Koramis ruft jene große Solidarität herbei, die
vor einem Schuldturra so pathetisch wird wie vor
einer Teufelsinsel. Das sind nicht mehr die Aus-
wüchse eines Kultus, das sind die Zeichen einer
Kultur. Wenn aber der tiefe Sozialkritiker, dessen
Geist ich am Eingang dieser Betrachtung zitiert
habe, in der Schauspielerverehrung unsern gan-
zen Jammer sieht, wohl ihm. Und wenn er be-
hauptet, der Inbegriff dieses Jammers sei die Ver-
— 18 —
ehrung für — Alexander Girardi, so ist wahrlich
der Jammer größer, der jedem Peuilletonkommis
Druckerschwärze an die Hand gibt, um den
Glanz eines Künstlernamens zu beschmieren. Er hat,
man glaube es nur, er hat wirklich Girardi gemeint! »Es
gab nur Girardi- Stücke mit Girardi-Rollen«, klagt
dieser Theaterkenner und freudig stellt er fest, daß
nach dem Abgang des seltenen Menschen, dem eine
Stadt den Humor eines Vierteljahrhunderts verdankt,
»die Operette befreit aufatmete, daß sie »ohne und
gegen Girardi ihre Welterfolge errang« . . . Und das ist
schließlich die Wahrheit. Girardi war ein großes Bei-
spiel für die schöpferische Möglichkeit des Schau-
spielers, und sein bloßes Dasein vermochte von der
Nichtigkeit der literarischen Produktion abzulenken,
die ihm das Stichwort gab. Nun verlangt aber diese
Nichtigkeit Beachtung. Die Leere möchte nicht mehr
bloß Spielraum einer Persönlichkeitsein; die Gemeinheit
will um ihrer selbst willen geliebt werden. Solchem
Anspruch ordnen sich die Nullen des Operettenthea-
ters unter. Dekorateure und Tänzer sorgen vorerst
dafür, daß das Publikum den Ausfall an schauspieleri-
schem Vermögen nicht merke. Dem Zug der Künstler
zum Variete' entspricht die Verpflanzung: boxender Kän-
guruhs auf das Theater. Es gibt keine Girardi-Stücke
mehr, aber es gibt Girardi-Stücke ohne Girardi, und
da die Welt den Blödsinn ohne den Kommentar der
Kunst verständlicher findet, so atmet der Blödsinn
befreit auf und erringt seine Welterfolge. Die alte
Theaterliebe verfolgte den Schauspieler ins Privat-
leben, aber der Mißbrauch, der die Person umlärmte,
gehörte zum guten Brauch, die Persönlichkeit zu
verehren. Und die Passion der Menge, dem Wagen
eines Künstlers die Pferde auszuspannen, schien
das natürliche Verhältnis der beiderseitigen Bestim-
mungen wiederherzustellen. Heute ist sie noch viel
bescheidener geworden; sie wiehert schon begeistert,
wenn ein Pferdehändler im Wagen sitzt.
Karl Kraus.
- 19 -
Qirardl.*)
(»Mein Leopold«, Thalia-Theater.)
Du bist ein Sager, — kein Oestalter.
>Mein Leopold«, singst du, >mein Soooohn«
Bis in mein Wackel-Greisenalter
Denk' ich an diesen Menschenton . . .
Das Publikum, vom Klang durchschauert,
Fühlt dennoch den Effekt nicht prompt;
Es bleibt erwartend, sitzt und lauert —
Und fragt sich, ob es balde kommt.
Zwei Akte durch gibst du dann, außer
Dem einen Klang, nicht allzuviel;
Du zeigst (im Wohlstand und als Hausherr)
Halb tonlos ein markiertes Spiel.
Das Geld zerrann. ... Du bist jetzunder
Flickschuster, greisend vor der Zeit . . .
Ein lächelnd-stilles, weißes Wunder;
Armselig und gebenedeit.
Du hämmerst mit den alten Händen —
Und zwingst auch Den, der Manches kennt,
Von dir die Blicke wegzuwenden.
Das Haus ist totenstill . . . und flennt.
Magst keine Mätzchen, keine Schlager.
Ein Menschenmeister wandelt hier.
Bist ein Gestalter und ein Sager —
Dein Schuster war der König Lear.
Es ist ein Stück von unsrem Leben.
Ich fühl's, im Innersten gepackt.
Die großen Italiener geben
Nicht mehr als du in diesem Akt.
Alfred Kerr.
*) Diese ieine und einprägsame Theaterkritik eines Berliner Schrift-
stellers, die schon vielfach zittert wurde, verdient auch hier ihren Platz.
Schlafwandler. *)
Von August Strlndberg.
Es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben im
Schlaf gehen; weckt man sie, werden sie böse,
drehen sich um und schlafen wieder ein. Sie leben
wie Pflanzen und schlafen wie Pflanzen.
Um einen Versuch zu machen, will ich das
Wort lügen gegen dichten austauschen; vielleicht ist
die Gleichung auf diese schönere Art leichter zu lösen.
Sie haben sich eine Art Weltanschauung ge-
dichtet, wie sie eine Libelle haben könnte; in Sonne
und Luft schwebend, aber in einem Sumpf geboren,
fliegen sie stoßweise dahin, bleiben niemals sitzen,
hallen aber zuweilen still, während sich die Flügel
bewegen, vielleicht back gebraßt, da der Plug nicht
vorwärtskommt ; dann rücken sie wieder vor, halten
wieder still. Sie suchen beständig etwas; das ist
jedoch nicht Raub, vielleicht ein Vergnügen, eine
Kleinigkeit, nichts. Unbeständig, ohne ein fernes
Ziel, zufrieden nur, wenn die Sonne scheint; kommt
aber eine Wolke und sprüht Regen, dann verbergen
sie sich und hocken unter Blättern; die Lebenslust
ist fort, alles wird dunkel, und wenn die Sonne
untergeht, so sterben sie.
Sie stellen keine anderen Forderungen ans
Leben als Speise und Trank und Vergnügen, denn
»morgen werden wir sterbenc. Schuld können sie
nicht empfinden, denn alles Moralische ist ihnen
gleichgültig; wie der Fliege. Sie verstehen nicht,
wenn sie Unrecht tun, und immer schieben sie die
Schuld auf einen andern. Sie dichten sich einen
Charakter an, der hell und freundlich erscheinen
soll; aber im Innersten sind sie schwermütig; das
zeigt sich, wenn sie allein sind, dann denken sie
immer an Selbstmord.
Zuweilen, wenn es ihnen sehr gut geht, ge-
brauchen sie das Wort: der gute Gott. Geht es ihnen
*) Aus der schwedischen Handschrift übersetzt von Emil Schering.
21 —
schlecht, werden sie böse und glauben an böse
Mächte, verstehen aber nicht Hilfe bei dem guten
Gott zu suchen.
Alles, was sie wünschen, dichten sie in Wirk-
lichkeit um; alles, was sie wollen, wird Wahrheit;
alles, was unbequem oder unangenehm ist, ist nicht
wahr. Sie können sich eine ganze Lebensgeschichte
andichten; daß sie von Karl dem Großen oder August
von Sachsen abstammen. Ich weiß von einer, die
sich einbildete, sie sei Russin, obwohl sie Pinländerin
war; schließlich stammte sie von Matthias Corvinus,
der polnisch gewesen sein soll. Ich kann nicht sagen,
daß sie log, denn sie glaubte daran; hielt es für wahr,
obgleich sie es gedichtet hatte.
Eine solche Dichterin über eine Tatsache auf-
klären, ist unmöglich, falls diese Tatsache im Ge-
ringsten unangenehm ist. Ihr eine richtige Ansicht
über einen Tatbestand beibringen, ist ebenso un-
möglich, falls nicht Leidenschaft oder Interesse zu-
fällig dieselbe Richtung einschlagen.
Wenn einer von ihrem Hofkreis einen Buben-
streich begangen hat, so leugnet sie zuerst die Tat-
sache: »Es ist unmöglich!« Wenn es keine Hilfe
mehr gibt, verteidigt sie ihn. »Er ist im Grunde ein
guter Mensch, und ihr seid nicht ein Bischen besser!«
Es endet damit, daß wir alle Schurken sind und dort
sitzen müßten, wo er sitzt.
Sie ist dreißig Jahre alt, hat ein Kind, aber sie
dichtet sich jung, spricht von ihrer Jugend; oft ist
die allerdings geplündert vom Mann, der nichts zu
plündern fand, als sie vierundzwanzig war.
Sie kann sogar noch jungfräulich sein, obgleich
sie ein Kind bekommen hat; ja, sie weiß nicht, wie
das Kind entstanden ist . . .
Sie vergißt eine vergangene Tatsache, die
reichsbekannt ist; aber die hat sie ausgestrichen, die
hat nie existiert, die ist ganz einfach Lüge oder
weniger als Lüge.
Sie beschäftigt sich immer mit den Schicksalen
22
der Menschen; schlagen die Gekränkten aber zurück,
so beklagt sie sich über deren Bosheit und Rachgier.
Sie selber kann nicht dahinter kommen, daß sie
unrecht getan hat.
Einmal weckte er sie, indem er das rechte Wort
für ihren Charakter und ihr Betragen benutzte. Da
erwachte sie, flog aus dem Zimmer wie ein wilder
Vogel, ging davon. Er ließ sie gehen.
Sie dachte, er werde ihr nachkommen; das tat
er aber nicht. Da kam sie selber, aber nicht wie eine
Flehende, sondern wie eine Königin, um die Huldigung
entgegen zu nehmen. Die Huldigung blieb aus. Da
verlor sie den Verstand zwei Tage lang.
Er erbarmte sich über sie. Aber sie konnte nur
wieder aufgerichtet werden, wenn er sich ihr reue-
voll wieder näherte. Es war ein großes Opfer, aber
er brachte es um des Kindes willen. Da bekam sie
>ihren Verstände wieder und verzieh ihm, nachdem
sie die Bedingungen diktiert hatte: Er solle nett
sein; das heißt, sie gewähren lassen, wie sie wollte;
und er sollte nicht harte Worte gebrauchen.
Harte Worte fürchtete sie am meisten von
allem, denn die weckten sie. Die wirkten wie
Dynamit auf ihr versteinertes Herz und Gefühl. Und
was sie »den Verstand verlieren« nannte, war gleich-
bedeutend mit: den Verstand wieder bekommen,
zum Bewußtsein erwachen, sich im Spiegel sehen,
sich selber erkennen.
Ihr Ich glich einem Ballon aus Seide, der beim
geringsten Riß zu Boden fallen konnte. Daher ihre
Furcht vor Ecken und Spitzen.
Sie liebte das Feine. Das bedeutete: laß mich
gewähren, widersprich mir nicht, sonst zerstörst du
mein Netz aus Spinngewebe, mit dem ich dich
gefangen halte.
Dann schlief sie wieder ein, begann ihre Vor-
stellungen von ihrer Jungfräulichkeit, der geplün-
derten Jugend, der Geberin, die ihm alles gegeben
(wo nichts zu geben war); der Gläubigerin, der ein-
- 28
gesperrten Sklavin (die frei ging und kam); dem
unterdrückten Weib, das keine eigene Meinung haben
durfte, dem er die Lebensfreude geraubt hatte.
Jedes fünfte Jahr weckte er sie mit einer
Dynamitpatrone. Dann aber schlief sie wieder ein.
Und dann begann sie wieder aus demselben Sprach-
vorrat zu fabulieren. Dreißig Jahre lang dichtete sie
ihren Charakter, ihre Lebensgeschichte, ihre An-
sichten, ihren Geschmack, ihre Religion. Da war sie
fünfzig geworden, hatte Hauer im Mund, Muskeln
und Fett in Überfluß, graues aber gefärbtes Haar,
das nach Talg roch. Sie war alt, und wußte es nicht.
Sieh meine Zähne, sagte sie. Ich habe noch
alle. (Aber einer war künstlich, mindestens einer.)
Sie ging mit bloßen Armen auf die Hochzeit
ihrer Tochter und machte selber den jungen Herren
den Hof. Zeigte ihr schönes Haar, das jetzt weiß
war unter dem Schönheitsmittel.
Bald darauf starb der Mann; ermordet, kann
man sagen. Da fiel sie zusammen und ward ein altes
Weib. Es war des Mannes »Lebensprana«, von dem
sie gelebt hatte, ohne es zu wissen ; und es war, als
nehme er, der im Grabe lag, sein Eigentum zurück,
um die Auflösung aufzuhalten.
Jetzt ist sie fünfundfünfzig, kokettiert aber
noch immer (zeigt Zähne und Haar). Sie ist noch
nicht erwacht, und scheint nicht eher erwachen zu
können als im Tode.
Zuweilen, wenn sie traurig ist, besucht sie mich
zur Mittagszeit, bleibt eine Stunde und lügt mir
vor; dichtet, hatte ich zu sagen versprochen.
Sie spricht meistens davon, wie undankbar die
Welt gegen sie sei, die einem schlechten Mann eine
gute Gattin gewesen, eine vortreffliche Mutter,
wohlgesinnt, aufopfernd, besonders gegen den, der
>ihre Jugend geplünderte
Balzac hat den Typus in >L'art d'ötre martyre
(Petites miseres de la vie conjugale)c geschildert,
trotzdem er nicht verheiratet war,
24 —
Was ist denn das für ein menschenähnliches
Wesen, von dem der Mann nach einem Zusammen-
leben von dreißig Jahren sagen konnte: tDa ist
nicht ein menschlicher Zug zu finden !< Wenn sie
Teilnahme zeigt, geschieht es, um etwas zu gewinnen;
weint sie, will sie ein Kleid oder einen Ring haben ;
lacht sie, so benutzt sie die Gelegenheit, um die
Zähne zu zeigen; ist sie wirklich einmal zugänglich
für eine tatsächliche Auskunft, ist es aus Falschheit
und Schöntuerei. Sie versöhnt sich nur, wenn man
Besuch erwartet; sie liebt nur ihre Kinder, weil sie
die Aussicht auf ein heiteres Alter hat, in dem sie
nicht allein zu sein braucht; vom Mann wollte sie
sich nicht scheiden lassen, weil sie eine Wohnung
haben mußte, in der sie empfangen konnte; und sie
hätte ihn längst gemordet, wenn sie nicht gefürchtet,
die Pension zu verlieren.
Nichts war bei ihr ganz wirklich. Ihre Ergeben-
heit glich Ergebenheit, ihre Freude erinnerte an
Freude, war aber böse; ihre Trauer besaß eine ent-
fernte Ähnlichkeit mit Schmerz. Es waren nur
Gleichnisse.
Sie verstand nie, was er meinte, sondern faßte
es auf ihre verkehrte Art, nach ihrem Interesse. Ich
verstand nie, was sie sagte, denn sie muß Antiphrase
benutzt, das Gegenteil von dem gesagt haben, was
sie dachte. Sie gebrauchte niemals die reinen ein-
fachen Worte ja und nein; sie wich ihnen aus wie
einer Falle, denn sie glich dem Tier eines Jagd-
grundes, das überall Fallen sieht. Sie selber aber
knüpfte Schlingen mit Worten. Sie verwandelte einen
freien Vorschlag in ein festes Versprechen, sie stahl
Blicke als Beifall, verwandelte ein Nicken in einen
Revers; bot ihre Dienste an, um später die Rechnung
senden zu dürfen.
Der Mann sagte einmal: Wenn mich, ihren
Gatten, nach dreißig Jahren jemand fragt, mit wem
ich verheiratet gewesen bin, kann ich nur antworten:
das weiß ich nicht 1 Ich habe dieses Weib nie ge-
25
kanntl Wenn ich manchmal nachts erwachte, mußte
ich nachdenken, wen ich neben mir habe. Wenn sie
schlief, existierte sie nicht 1 Aber ich war an sie
gebunden; sie wuchs auf mir, nahm ihr »Prana« aus
mir. Ich muß ihr einige Eingeweide von mir gegeben
haben; wenn sie fortging, schmerzte es in mir, ich
konnte nicht atmen oder verdauen, ehe sie nicht mit
meinen Eingeweiden zurückkam. Sie gebrauchte wohl
einen Spiegel, aber nur für das Äußere; und wenn
ich zuweilen den anderen Spiegel vor ihr Inneres
hielt, entsetzte sie sich; ihr Gesicht bekam Krämpfe
wie das des Fuchses, wenn der Jäger ihn überrascht.
Sie verdrehte die Augen, verwandelte ihre Züge,
daß sich eine ganze Reihe Gesichter nacheinander
zeigten ; und statt ihrer Blicke sah ich die eines
Dämonen oder eines Tieres.
Ich habe eben in einer theosophischen Zeitschrift
gelesen, daß sich Tierdevas, Tierseelen, in den Körpern
der Menschen inkarnieren können, sich durch Schönheit
und natürlichen Reiz auszeichnen, wie die meisten Tiere.
Ich fand die Theorie unheimlich und glaubte nicht
daran, um nicht die Menschheit zu entehren. Jetzt
aber erinnere ich mich, wie ich auf einer Reise die
Gesellschaft eines Hundes erdulden mußte. Ich freute
mich, ein lebendes Wesen bei mir zu haben, fütterte
ihn und ließ ihn in meinem warmen Zimmer schlafen.
Es war ein scheinbar gutmütiger Hühnerhund, naiv,
zynisch, natürlich. Er nahm sein Essen, aber dankte
nicht; ließ es sich schmecken, aber freute sich nicht;
er duldete mich, liebte mich aber nicht. Wenn ich
seinen Kopf nahm, sah er zur Seite; und wenn sich
dann die Pupillen nach außen drehten, zeigte sich nur
das Weiße, das jedoch böse blinde Blicke aussandte.
Eines Abends, als ich im Bett lag und las, begann
der Hund mir eine beunruhigende Aufmerksamkeit zu
zeigen; als ich ihn abwies, änderte er plötzlich seinen
Charakter; nahm Formen wie ein Mensch an, machte
Gebärden und Bewegungen, so daß ich vor Schreck
270-271
26 —
außer mir geriet. Bin Kampf entstand, und ich mußte
das Tier mit meinem Revolver töten, es zum Fenster
hinauswerfen. Seine letzten Blicke waren nicht die
eines Tieres, so viel will ich sagen.
Ich habe im Jardin des Plantes zu Paris mit
Tieren »Bekanntschaft geschlossen« während meiner
täglichen Besuche im Laufeines Jahres. Der Grisly-Bär
vonNordamerika,einesderstärksten und wildesten Tiere,
die es gibt, lernte mich auf eine Art kennen, die ich er-
fand. Ich allein gab ihm nämlich Kirschen, während
andere ihm nur Brotrinden gaben. Er setzte sich auf
den Hintern und sperrte das Maul auf, wenn ich kam;
ioh konnte ihn aus seiner Höhle locken. Er wollte
mir aber nie in die Augen sehen, sondern schloß
seine, wenn er das Maul aufsperrte. Ich aber hatte
Geduld und kam täglich wieder mit meinen Kirschen.
Schließlich wollte er wohl sehen, wer ihm das höchste
Gut in seiner Gefangenschaft gab; vielleicht eine
Jugenderinnerung an die großen Berge im Westen
weckte, wo er in Freiheit und Bergluft rote Beeren
gepflückt hatte. Er versuchte zu mir hinaufzusehen;
machte aber gleich darauf eine Miene, als habe er
sein Geheimnis verraten. Und er wurde auf sich
selber böse wegen dieser Schwäche, nicht auf mich.
Er muß es aber gleich darauf bereut haben und
beschloß, zu zeigen, wer er sei. Er setzte sich mit
dem Rücken gegen die Gefängnismauer, wie ein
König auf seinen Thron, machte eine Gebärde mit
den Armen, als wolle er sich in seinen Krönungs-
mantel hüllen; aber er sah mich nicht an, sondern
zeigte sich und sein Geheimnis. Das war kein Tier
mehr; das Skelett machte menschliche Bewegungen
unter dem verkleideten Pelz. Es war ein Tierdeva,
ein König der Berge, eine Metempsychose, vielleicht
eine frühere menschliche Inkarnation in einen
Tierkörper.
Die Neger sagen, daß die Affen sprechen können;
daß sie das aber geheimhalten, denn sonst würden
sie arbeiten müssen, und arbeiten ist die Hölle für
- 27 -
einen Neger. Daran habe ich nicht eher geglaubt,
als bis ich ein Buch las, das die Leiter des Jardin
des Plantes, Forscher von Linn^s und Buffons großen
Zeiten, herausgegeben haben. In diesem Buch, das ich
bei einem Schiffbruch auf festem Land verloren,
standen lange, geduldige Betrachtungen über die
Affen. Ich erinnere mich dunkel, wie sich einer der
Gelehrten im Affenhause verborgen hatte, um die
Affen bei ihren Geheimnissen zu überraschen. Ein
Weibchen hatte eben ein Junges bekommen. Nun
wurde zuerst der offenkundige Vater hereingelassen.
Er wurde ziemlich kühl und überlegen von der stolzen
Mutter empfangen. Der verborgene Gelehrte sah, daß
sich die Gatten erst umsahen, ob jemand sie beob-
achte. Als sie merkten, daß sie allein seien, be-
gannen sie »einander in den Mund zu sprechend
Das ist eine sonderbare Art, die nur Schau-
spieler kennen, und die wahrscheinlich in einer
improvisierten triebhaften Labialraethode besteht.
Es waren keine artikulierten Laute, sondern die
Bewegungen der Lippen wurden von sprechenden
Blicken begleitet. Dem Vater wurde erlaubt, den
Neugeborenen zu liebkosen ; er mußte aber vorsichtig
dabei sein. Darauf wurden Verwandte und Freunde
in die Wochenstube gelassen. Ein lautloses Schnattern,
Komplimentieren, Bewundern entstand. Niemand aber
durfte den Neugeborenen anrühren : wollte es doch
einer, wurden die Zähne gezeigt, die zur Labial-
sprache gehören und nicht mißzuverstehen sind.
Meine eigenen Beobachtungen, die ich später
als Epigone machte, veranlaßten mich zu dem
Glauben, hier seien Geheimnisse vorhanden. Mit Teil-
nahme und Freundlichkeit hatte ich mit einem alten
Orang Bekanntschaft geschlossen, der ja noch am
meisten von allen Vierfüßlern den Menschen ähnlich
ist. Es war das Gesicht und die Blicke eines einge-
trockneten Greises. Etwas sehr Trauriges, nicht über
die Gefangenschaft, denn er kannte nichts anderes,
sondern aus Schmerz, daß er solch ein Vieh war. Er
schien sich an etwas erinnern zu wollen, konnte es
aber nicht; und das quälte ihn. Vielleicht suchte er
ein verlorenes Selbst bewußtsein wiederzufinden oder
wollte sich aus einer Art quälenden Schlafes wecken.
Ich habe diesen Ausdruck einmal in einem Irrenhaus
gesehen, wo Menschen leben, welche die Erinnerung
an sich selber verloren haben.
Gibt es einen anderen Beleg für die Annahme
der Seelenwanderung, als die Theosophen uns jetzt
aus der indischen Philosophie geben, die uns ja,
streng genommen, nichts angehen dürfte? Ja, der
göttliche Plato, dessen Weisheit auch von den christ-
lichen Kirchenvätern als ein Vorchristentum oder
offenbarte Philosophie angesehen wurde, hat aus-
führlich das wichtige Problem von dem früheren
Dasein und der Seelenwanderung hehandelt.
Im >Timaios« sagt er ohne Umschweife : seitdem
die Männer ensianden, sind einige feige und unlauter
geworden ; die wurden bei der zweiten Geburt wahr-
scheinlich in Frauen verwandelt. Zur selben Zeit
schufen die Götter die Liebe ; von der Flüssigkeit des
Lebens drang ein Teil vom Kopf hinunter durch das
Rückgrat als Mark. »Dieses Mark ist beseelt« und
weckt lebengebende Begierde. Darum sind die Organe
der Liebe ungehorsam und eigenmächtig. In der Gebär-
mutter steckt ein »nach gebären verlangendes Wesen«,
dem übel zu Mut wird, wenn es eine lange Zeit ohne
Frucht bleibt. Es hemmt das Atmen, ruft Beklem-
mungen hervor und viele Krankheiten, muß deshalb
befriedigt werden.
Aber wohlgemerkt: Der Trieb, Kinder zu ge-
bären, soll befriedigt werden, nicht der andere Trieb
(Astartetrieb), denn der kann nicht befriedigt werden,
der ist unersättlich. Und der Trieb zur Leibesfrucht
erzeugt das Bedürfnis nach einer Behausung, in der
das Kind geboren wird, und verlangt einen Mann,
der Essen schafft und das Haus beschützt! Das ist
die heilige Ehe!
Bei der zweiten Geburt (Reinkarnation) wurden
20 -
einige zu Vögeln. Das sind leichtsinnige, aber nicht
schlechte Männer gewesen, »die in ihrer Einfalt
glaubten, die Erklärung überirdischer Dinge geschehe
am sichersten durch die Beobachtungen des Auges«
(Positivisten, Materialisten und ihresgleichen).
Die vierfüßigen Tiere entstanden aus solchen
Menschen, die sich nicht mit Weisheit und Tugend
befaßten, sondern mit der Nase auf der Erde herum-
krochen.
Die Fische sind die unvernünftigsten und un-
wissendsten Menschen gewesen; darum dürfen sie
nicht reine Luft atmen, sondern müssen schmutziges
Wasser schlürfen.
Und so weiter.
Weise Männer aller Völker haben an eine zweite
Geburt geglaubt, und das Christentum selber bezieht
sich darauf wie auf eine axiomatische Tatsache.
Priester und Leviten fragten ja, ob Johannes Elias
sei; und Christus wurde oft für einen von den gewal-
tigen Propheten des Herrn gehalten, der sich wieder
verkörpert habe. Wir Christen hätten Grund, dieses
Axiom als christlich aufzunehmen, ohne darüber zu
raisonieren. Dann würden wir aufhören, uns gegen
ein mitleidlose«», unerklärliches Schicksal zu empören;
wir würden Welten hinter dem Grabe sehen, aber
auch vor der Wiege. Wir würden das Leben als einen
lehrreichen Traum hinnehmen, auf unsere Sorgen
pusten, ohne sie fort zu blasen; ergeben unsere Seele
und unser Leben in die Hand Gottes des Allmächtigen
befehlen, denn er wird alles wohl machen. Und zwar
ohne über die Rätsel zu grübeln, die wir nicht wissen
dürfen, aber ahnen können.
Nach einer langen Abschweifung komme ich
jetzt zurück auf die Sache, die das Wesentliche war:
Schlafwandler, die nicht zum Seibetbewußtsein er-
wachen können. Ich habe dieses Mal das häßliche
Wort lügen vermieden und als Erklärung das Wort
dichten eingesetzt. Sich selber belügen, hieße ja nie-
30
mals zur Wahrheit kommen; nie erfahren, wie sich
etwas in Wirklichkeit verhält. Ich nehme an, der Wirk-
lichkeit fehlt eigentlich volle Realität; sie ist eine Spie-
gelung, die durch eine rauhe materielle Fläche entstellt
ist. Wie kann sie da erreichbar für die Auffassung sein,
besonders eines unfixierten Wesens, das vielleicht aus
Äthervibrationen zusammengesetzt ist, oder geschaffen
ist wie eine Glasscheibe, die sowohl spiegelt wie die
Strahlen durchläßt. Die Wirklichkeit wird ja von
einem durchsichtigen Gegenstand nur zum Teil wider-
gespiegelt; wer aber dahintersteht, sieht überhaupt
keine Spiegelung; mit anderen Worten, es entsteht
Totalreflexion, die zuweilen die Gegenstände unsicht-
bar macht.
Diese Schlafwandler, wie ich sie genannt habe,
würden also andere Augen als wir besitzen, ein anderes
Wesen als wir; deshalb könnten sie weder ein Bild auf-
fassen, noch weniger sich selber sehen. Das käme entwe-
der von einer feineren Konstitution, die keine Verbin-
dung mit dem Materiellen eingehen kann, weil es
außerhalb ihrer Sphäre liegt; oder von einem nicht
entwickelten Auffassungsvermögen bei der materiel-
len Unterlage der seelischen Existenz.
Sollten sie denn höhere Wesen sein, und wäre
meine erste Hypothese unrichtig? Nein, die der Pflanze
gleichen, die lebt, atmet, sich ernährt, sich fortpflanzt,
immer schlafend, ohne etwas wahrzunehmen, die können
keine höhere Form des Daseins sein. Schön ist die
Hyazinthe, vollendet, wenn man sie anschaut; lieb-
lich ist ihr Duft beim Einatmen; vielleicht nimmt sie
etwas wahr, das Schmerz oder Freude gleicht; aber
ohne Vernunft, ohne Selbstbewußtsein, freien Willen
kann ja kein Seelenleben entstehen; und ohne Seele
sein, ist ja beinahe tot sein, wenigstens für uns
lebendige Menschen.
Hier stocke ich, einsehend, daß das Problem
ohne Sinn und deshalb unlösbar ist; während eine
schöne Tatsache bestehen bleibt, die Freude und Duft
verbreitet, unwillkürlich wie die Blume, die man nur
81
küssen kann, mit der man aber nicht sprechen kann;
die man pflegt, umpflanzt; der man Sonne und
Luft gibt.
Ich habe mit gutem Willen das Wort lügen mit
dichten tibersetzt, und ich bin damit dem großen
Geheimnis ein wenig näher auf die Spur gekommen.
Lügen soll Schwäche in Willen und Verstand an-
deuten; Schwäche ist hier wohl vorhanden; darum
heißt es auch so richtig: Das schwache Geschlecht.
Tagebuch.*)
Die männliche Überlegenheit im Liebeshandel
ist ein armseliger Vorteil, durch den man nichts ge-
winnt und nur der weiblichen Natur Gewalt antut.
Man sollte sich von jeder Frau in die Geheimnisse
des Geschlechtslebens einführen lassen.
Nur ein Mann sollte sich unglückliche Liebe
zu Herzen nehmen. Eine Frau sieht dabei so
schlecht aus, daß ihr Unglück in der Liebe begreif-
lich wird. •
An allen Geschäften des Lebens ist das Weib
mit seinem Geschlecht beteiligt. Zuweilen selbst an
der Liebe.
Die Ehre ist der Wurmfortsatz im seelischen
Organismus. Ihre Funktion ist unbekannt, aber sie
kann Entzündungen bewirken. Man soll sie getrost
den Leuten abschneiden, die dazu inklinieren, sich
beleidigt zu fühlen.
Eine gute volkstümliche Redensart spricht
davon, daß einer »bich einen Kren gibt«. Die Würde
;) Ans dem .Simplicissimus'.
32
macht den Mann schmackhaft, wie der Kren den
Schinken.
Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahr-
heit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder
anderthalb.
Bin guter Stilist muß bei der Arbeit die Lust
eines Narzissus empfinden. Er muß sein Werk so
objektivieren können, daß er sich bei einem Neid-
gefühl ertappt und erst durch Erinnerung darauf-
kommt, daß er selbst der Schöpfer sei. Kurzum, er
muß i^ne höchste Objektivität bewähren, die die
Welt Eitelkeit nennt.
Geistige Arbeit gleicht so sehr dem Akt der
Wollust, daß man darin unwillkürlich auch der Kon-
vention des Geschlechtslebens gehorcht. Man ist
diskret, und wenn eine Prau zu Besuch kommt,
während man bei der Arbeit ist, läßt man sie nicht
eintreten, um eine peinliche Begegnung zu ver-
meiden. Der Philister ist mit einer Prau beschäftigt,
der Künstler huldigt einem Werk.
*
Die Sprache ist das Material des literarischen
Künstlers; aber sie gehört ihm nicht allein, während
die Parbe doch ausschließlich dem Maler gehört.
Darum müßte den Menschen das Sprechen verboten
werden. Diu Zeichensprache reicht für die Gedanken,
die sie einander mitzuteilen haben, ganz und gar
aus. Ist es erlaubt, uns ununterbrochen mit Ölfarben
die Kleider zu beschmieren ?
Daß einer sich der Sprache bedient, um zu
sagen, daß ein Minister unfähig ist, macht ihn noch
nicht zum Schriftsteller.
88
Ungewöhnliche Worte zu gebrauchen, ist eine
literarische Unart. Man soll dem Publikum bloß ge-
dankliche Schwierigkeiten in den Weg legen.
Witzigkeit ist manchmal Witzarmut, die ohne
Hemmung sprudelt.
«
Je größer der Stiefel, desto größer der Absatz.
«
Das Merkmal eines schlechten Zeichners ist die
Aussichtslosigkeit, daß eine Figur, die er in einem
bestimmten Moment mit offenem Munde darstellt, diesen
je wieder zumachen wird.
•
Eine merkwürdige Art Mensch ist der Beamte
eines magistratischen Bezirksamtes. Erledige ich
eine Angelegenheit schriftlich, so lädt er mich
vor. Komme ich das andere Mal gleich selbst, so
fordert er mich auf, eine Eingabe zu machen. Ich
muß rein auf die Vermutung kommen, daß er das
eine Mal mich kennen lernen und das andere Mal ein
Autogramm von mir haben will.
•
Ich kenne eine Bureaukratie, die weniger auf
Eingebungen als auf Eingaben hält.
Jeder Wiener ist eine Sehenswürdigkeit, jeder
Berliner ein Verkehrsmittel.
Ein Polizist nimmt es meistens übel, wenn man
ihn in eine Amtshandlung einmengt.
«
Die Punktion der Milz muß ähnlich sein wie
die der Notare im Staate: notwendig, aber über-
flüssig.
84
Am Chauvinismus ist nicht eo sehr der Haß
gegen die fremden Nationen als die Liebe zur eige-
nen unsympathisch.
Die Vorstellung, daß ein Kunstwerk Nahrung
sei für den philiströsen Appetit, schreckt mich aus
dem Schlafe. Vom Bürger verdaut zu werden, ver-
schmähe ich. Aber ihm im Magen liegen zu bleiben,
ist auch nicht verlockend. Darum ist es vielleicht am
besten, sich ihm überhaupt nicht zu servieren.
Warum tadeln mich so viele? Weil sie mich
loben und ich sie trotzdem tadle.
Die Moral ist ein so populäres Ding, daß man
sie predigen kann. Aber der Unmoralprediger ver-
greift sich am Idealen.
•
Die Familie ist das, was unter allen Umständen
überwunden werden muß. Familiengefühle zieht man
nur bei besonderen Gelegenheiten an. Man liebe
seine Verwandten, wenn sie etwas angestellt haben.
Aber mit anständigen Leuten zu verkehren, wenn
sie verwandt sind, ist kompromittierend.
Das Familienleben qualifiziert sich als Eingriff
in das Privatleben.
Jede Erkenntnis sollte so erschütternd sein,
wie die eines Bauern, der eines Tages erfährt,
daß ein kaiserlicher Rat und ein Hoflieferant dem
Kaiser nichts zu raten und dem Hof nichts zu liefern
haben. Er wird mißtrauisch.
— 36
Wai einen foltert, sind verlorene Möglichkeiten.
Einer Unmöglichkeit «eher zu sein, ist eine wahre
Wohltat.
Zu allem lasse man sich Zeit; nur nicht zu den
ewigen Dingen.
*
So lange es innere Deckung gibt, können
einem die Verluste des äußeren Lebens nichts an-
haben.
Aus Lebensüberdruß zum Denken greifen: ein
Selbstmord, durch den man sich das Leben gibt.
Karl Kraus.
Weihnacht.
Als ich am Weihnachtsabend mit einem Freunde
reiste, um der Stimmung zu entgehen, zu der uns
die Stimmung fehlte, erkannte ich, wie merk-
würdig sich das Bild der Welt gestaltet hat, seit-
dem ihr jene vorgeschrieben ist. Drei Handlungs-
reisende, die in der dritten Wagenklasse nicht mehr
Platz gefunden hatten, drangen in unser Coupe* ein
und begannen sofort von Geschäften zu sprechen. Sie
sprachen aber in einem Ton, der etwa den Ernst jenes
Lebens offenbarte, aus dem die Jargonschauspieler
ihren Humor schöpfen. Wir andern räumten das Feld,
und nachdem wir eine Weile von außen einem Kar-
tenspiel hatten zusehen müssen, bekamen wir Plätze
in der ersten Klasse zugewiesen. Dort sann ich über die
tiefere Bedeutung dieses Abenteuers in dieser Nacht:
Wer als Atheist den Zug bestiegen hat, wird ihn
als guter Christ verlassen. Ihm, nur ihm wurden
solch heilige drei Könige gesendet ... So hätten
auch wir unsere Weihnacht erlebt, wenn nicht die
3« —
Stimmung, der wir uns also ergeben mußten, durch
eben jene wieder gestört worden wäre. Denn sie dran*
gen nun auch in die erste Klasse und verlangten
Genugtuung, weil sie vermuten zu können glaubten,
daß wir uns über ihr morgenländisches Betragen
beim Kondukteur beschwert hätten. Sie sagten stolz,
sie seien Kaufleute. Wir aber beugten uns jetzt vor der
Übermacht der Religion, für die sie reisten . . . Wer
vermöchte sich ihr zu entziehen? Sie drang aus der
dritten empor in die zweite Klasse und sie übt Ver-
geltung bis in die erste Klasse. Im Diesseits und im
Jenseits gewinnt sie um geringern Lohn den bessern
Platz. Sie läßt das Leben nicht zur Ruhe kommen
und in der Kunst erreicht sie es mühelos, daß man
ihr die bequeme Geltung einräumt. Sie ist da, und
man flüchtet auf den Korridor. Zieht man sich
dann aber in die Unsterblichkeit zurück, so ver-
schafft sie sich auch dort Einlaß. Sie ist da und dort.
Vor der Allgewalt des Geschäftsreisenden gibt es in
der Welt des heiligen Geistes kein Entrinnen.
Karl Kraus.
Glossen.
In einem Sexualprozeß hat das Wiener Landesgericht (Vor-
sitzender Herr Engelbrecht) wichtige Aufklärungen empfangen.
Ein Gerichtspsychiater trat vor und sagte, daß »im menschlichen
Leben zwei Triebe eine hervorragende Rolle spielen: der Erhal-
tungs- und der Geschlechtstrieb. Letzterer, dessen Grenze sehr
schwer zu bestimmen ist, kann eine solche Stärke erreichen, daß
das Individuum ihm gegenüber nicht Widerstand zu leisten ver-
mag, mit Ausnahme weniger Menschen von besonders hervor-
ragender Willensstärke . . .< Der Senat, der aus eben diesen paar
— 37
Menschen bestand, zog sich unter dem Eindrucke des Gut-
achtens zur Beratung zurück, und wiewohl er Grund hatte, sich
geschmeichelt zu fühlen, konnte er doch nicht umhin, den homo-
sexuellen Angeklagten dafür verantwortlich zu machen, daß es im
Leben so häßlich eingerichtet ist. Die Sexualität dieses Ange-
klagten war an den Tag gekommen, als er dem Gerichte den Dienst
erwies, ihm einen Menschen, der ihn hatte ermorden wollen,
auszuliefern. Die Gerichtspsychiater hatten, belehrt von den
politischen Ereignissen der letzten Zeit, ausdrücklich die Meinung
bekundet, daß selbst die Strafdrohung nicht imstande sei, so
veranlagte Menschen in eine andere Geschlechtsrichtung zu führen,
und es kam zur Sprache, daß nicht einmal die Untersuchungs-
haft den Angeklagten auf andere Gedanken gebracht habe. Zum
ersten Mal hatten Gerichtspsychiater die Unwiderstehlich keit des
sexuellen Zwanges behauptet. Nützte nichts. Es gibt bloß einen
unwiderstehlichen Zwang : dem Gesetze zu gehorchen, und die
Natur wird mit ihren Ansprüchen auf den Zivilrechtsweg ver-
wiesen. Als strafmildernd komme wohl die Veranlagung des
Angeklagten in Betracht, dagegen wieder als straf erschwerend
die Wiederholung der Tat. Er konnte nichts dafür, daß er es
einmal tat, aber da er es öfter tat, hat er das Delikt der Willens-
schwäche begangen. Immerhin haben auch die ältesten Richter
des Wiener Landesgerichtes bei dieser Gelegenheit erfahren, daß
im menschlichen Leben zwei Triebe eine hervorragende Rolle
spielen, der Erhaltungstrieb und der Geschlechtstrieb . . . Der erste
war ihnen bereits bekannt.
Wien :
»Am 8. d. M. gegen 7 Uhr abends fand in der Kärntnerstratte
eine sittenpolizeiliche Streifung statt, bei der acht junge Mädchen als
»verdächtig« arretiert wurden. Unter den beanstandeten Mädchen befand
sich die 19 jährige Viktoria Aloisia D., die gestern dem Bezirksgerichte
Josefstadt (Bezirksrichter Dr. Kesseldorfer) vorgeführt wurde, um sich
wegen unbefugter Ausübung der Prostitution zu ver-
antworten. Als die Angeklagte, ein sehr hübsches Mädchen, auf dem
Wege in den Verhandlungssaal ihren als Zeugen erschienenen Vater sah,
rief sie ihm lachend zu : Guten Moigen, Vater I Den Gruß erwiderte der
Vater mit den Worten : Verflucht seist du dein ganzes Leben, elender
Hund I Auf den Vorhalt der Anklage erklärte die Beschuldigte, daß sie
derzeit einen soliden Lebenswandel führe und ihren Lebensunterhalt auf
— 38 —
ehrliche Weise bestreite. Richter : Wovon leben Sie? — Angekl. : Ich
arbeite für ein Stickereigeschäft etwas und dann habe ich einen Freund,
einen fünfzigjährigen Bahnbeamten, der mir alles gibt, was ich brauche.
Der Polizeiagent hat mich in der Kärntnerstraße nur arretiert, weil ich,
wie er sagte, auffallend gekleidet sei. — Der Vater der Beschuldigten
erklärte, daß seine Tochter vor drei Jahren aus dem Elternhause ent-
wichen sei. — Angekl. : Ich bin vor zwei Jahren vom Hause weg-
gegangen, weil mein Vater zum zweitenmal heiratete, jetzt brauche ich
niemanden mehr, da ich einen Freund habe. — Richter: Was für ein
Lebenswandel ist dies? Als neunzehnjähriges Mädchen sollten Sie so
viel Ehrgefühl noch haben, daß Sie sich nicht einfach aushalten
lassen. Angekl. : Warum soll ich einen Freund, der von mir nichts verlangt,
zurückstoßen? Ich finde dabei nichts Unanständiges. - Richter: Und ich
erlaube es mir Ihnen öffentlich zu sagen, daß dies unan-
ständig ist. — Der Polizeiagent Powolny erklärte als Zeuge,
daß er die Angeklagte, die polizeilich wegen liederlichen Lebenswandels
vorbestraft ist, nur arretierte, weil sie durch ihre auffallende Klei-
dung (karrierte Schoß und schwarze Samtjacke mit weißem Pelzkragen)
verdächtig erschien. — Richter (zur Angeklagten): Gehen Sie halt nicht
in so auffallender Kleidung in der Kärntnerstraße spazieren! Sie sehen,
wohin das führt! - Der Richter sprach schließlich die Angeklagte
mangels eines strafbaren Tatbestandes frei. Der Vater redete nun der
Tochter zu, einer ordentlichen Arbeit nachzugehen, worauf letztere er-
widerte: Was will man denn von mir; ich arbeite ja und dann habe
ich einen anständigen Freund. Richter: Bei einer solchen
Moral ist wohl jede Mühe verloren!<
Messina !
Ein erschütternder Herzensschrei dringt aus der Redaktion
der .Arbeiter-Zeitung'. Er war als Neujahrsgruß an den Leser
gedacht und verdient als ein ehrliches Bekenntnis der journalisti-
schen Unehrlichheit gehört zu werden:
Du! Das ganze Jahr denken wir an dich, in jeder Nacht ist von
dir die Rede! Wenn wir im besten Zuge sind und die Dinge denken
und schreiben, die uns am Herzen liegen, führt gewiß irgend ein grau-
samer Kollege in unsere besten Gedanken und brummt: »Ja, das inter-
essiert Sie, aber nicht ihn!« Dieser andere, das bist du, der sogenannte
liebe Leser. Du schwebst unsichtbar und doch absolut beherrschend in
allen Redaktionszimmern; deinetwegen strengen wir uns ununterbrochen
an, verständlich und allwissend und unterhaltend zu sein. Will einer von
uns einmal ein Problem vom Grund aus lösen, sei es die Frage der
Geschäftsordnungsreform oder die Ermordung des Malers Steinheil
oder die Überschätzung Friedrich Hebbels oder die Revolution in
Venezuela, sofort tönt ihm aus irgend einem autoritativen Munde die
gebieterische Mahnung entgegen: »Sie glauben wohl, die Zeitung ist
nur für Sie da und nicht für die Leser. < Tag und Nacht beherrschst du
39
uns, du verbindest uns das Maul mitten im besten Dreschen, du zwingst
uns zu schreiben und zu reden, wenn wir uns am liebsten still aus
deinem Dienst schleichen wollen I Fortwährend sind wir besorgt, daß du
uns, um Gottes willen, nicht mißverstehst. Wie oft möchten wir in
unseren Aufsätzen (vergleichsweise) wütend auf den Tisch hauen, aber
das würde zur Verwilderung deiner Sitten beitragen! Zuweilen wollen
wir auch einen Feind, den ausnahmsweise eine bessere Regung überkam
(vergleichsweise), freundlich anlächeln, aber du könntest das mißver-
stehen, es könnte deinem Charakter schaden. Immer und ewig denken
wir an dich, nehmen Rücksicht auf dich, wählen die Worte für dich,
plagen uns, um dir ein Lächeln oder einen ernsten Gedanken abzuringen.
Selbstverständlich denken wir auch heute an dich, den Leser, selbstver-
ständlich sind wir auch heute die ersten, die dir ein Prosit Neujahr!
zurufen. Und nun, raff' dich auf, Leser, und — denk' einmal an uns!
Vielleicht bist du nur ein Leser und kein Abonnent, vielleicht hast du
einen Vetter, der nur ein Leser und kein Abonnent ist ! ! Jetzt rühr* du
dich, einmal im Jahr, und denk" an deine Zeitung. Wir werben das
ganze Jahr um dich. Jetzt wirb du einmal für uns! . . .
Nun weiß der Leser für das ganze Jahr, was er von der
Selbständigkeit der Meinung und von der Unentwegtheit der
Überzeugung, die man ihm servieren wird, zu halten habe. »Fort-
während sind wir besorgt, daß du uns, um Gottes willen, nicht
mißverstehst. < Von nun an ist jede Besorgnis überflüssig. Wenn
die ,Arbeiter-Zeitung' einen politischen Gegner beschimpfen wird,
so weiß der Leser, daß sie es wider besseres Wissen und wider
besseren Willen tut, daß sie ihn ursprünglich anlächeln wollte, aber
aus Furcht, Abonnenten zu verlieren, das Gegenteil tun muß. Ein
erschütternder Herzensschrei hat uns das verraten. Die korrupten
Redakteure der bürgerlichen Meinung bewahrt größere Klugheit
davor, ihre Prostitution so öffentlich zu beklagen. Sie markieren ein
Freudenleben, während die , Arbeiter-Zeitung' das Tagebuch einer
Verlorenen schreibt. Wenn sie aber im Jahre 1909 die Frechheit
haben sollte, den anderen ihre Lebensführung vorzuwerfen, dann
wird man sie rücksichtslos aus dem Bordell hinausjagen müssen,
dem sie nicht nur durch ihre Sentimentalität, sondern auch durch
ihre Heuchelei zur Schande gereicht.
Als ein drolliges Pendant zu dem Bekenntnis der ,Arbeiter-
Zeitung' mag hier die Stelle wirken, die ich in meinem Artikel
»Bekenntnisse« (Oktober 1905) gefunden habe:
». . . Aber habe ich denn nicht oft genug bewiesen, daß mir der
Wunsch des Lesers lieber Verbot als Befehl ist? Nfcht offen bekannt,
daß ich die Abhängigkeit vom Publikum als die schlimmste aller publi-
zistischen Unfreiheiten empfinde, schlimmer als jene, zu der die Gunst
— 40 —
zahlender Finanzinstitute verpflichtet? Ein anderes Recht, als eine Zeit-
schrift, die ihm mißfällt, nicht zu lesen, kann ich dem Leser nicht ein-
räumen, und die Reklamationen, die er erheben kann, haben der Ex-
pedition, nicht der Redaktion zu gelten. Wenn etwa ein Heft, das den
Beitrag einer literarischen Persönlichkeit, auf deren Hilfe ich stolz bin,
bietet, von fünfhundert Lesern ignoriert wird, so sehe ich darin bloß
eine abfällige Selbstkritik, und die schlimmste Erfahrung könnte mich
dann nur zu dem Entschlüsse bringen, lieber auf die Leser, als auf den
Mitarbeiter zu verzichten. Ein allzuschlauer Geschäftsmann bin ich also
nicht. Nur ein planvoller Verschwender. Das ist kein gutgeführtes
Blatt, bei dem der Abfall der Anhänger nicht durch einen Willensakt
des Herausgebers geleitet wird. Die Enttäuschung des Lesers darf nicht
die Überraschung des Autors sein. Kann er sie seiner Lebensansicht
nicht gewinnen, dann mag er lieber materiell an ihrer Empörung als
geistig an seiner Ergebung zugrunde gehen. Solche Gemeinschaft mit
dem bauchrutschenden Gesinde, das täglich zweimal den Wünschen
abonnierender Familienväter pariert, würde ihn tiefer erniedrigen, als
der förmliche Eintritt in die Sklavenlegion.«
Unter dem Titel > Beglückwünschung des Korrespondenten
der ,Neuen Freien Presse' durch Abgeordnete im türkischen
Parlament« läßt sie sich aus Konstantinopel depeschieren:
>Halb 4 Uhr. Ein englischer Diplomat brachte in die Couloirs
des Parlaments die Nachricht, der Ministen at habe soeben den Vor-
schlag Österreich-Ungarns unverändert angenommen .... Arabische und
albanesische Abgeordnete, welche die festesten Stützen des Kabinetts
sind, beglückwünschten Ihren Korrespondenten in herzlichsten Worten
zur Lösung . . .«
Das gehört sich auch. Und da die ,Neue Freie Presse'
vielleicht zu bescheiden ist, um es selbst mitzuteilen, so sei ver-
raten, daß auch der österreichisch-ungarische Botschafter in die
Angelegenheit verwickelt ist. Er hat nämlich offenbar während der Be-
glückwünschung des Korrespondenten die Depesche an die
,Neue Freie Presse' abgeschickt.
K. K.
*
Der Fall des Max E.
Um Schuld oder Unschuld eines Knaben handelt es sie*.
Er hatte jenen vierzehnten Geburtstag erst um wenige Monate
überschritten, an dem sich ein Wunder ohne gleichen im Gehirn
des Menschen vollzieht: plötzlich, innerhalb von vierundzwanzig
41
Stunden, erwacht hierzulande das Verständnis für Recht und Un-
recht, entwickeln sich sämtliche Voraussetzungen der Verantwort-
lichkeit einer Person, und es erblüht mit einer Schnelligkeit, die
jedes tropische Wachstum weit hinter sich läßt, aus dem Kinde
eine ethisch reife Persönlichkeit. Damit ist endlich jene kostbare
Reife erreicht, die den jungen Menschen in den Stand setzt, von
nun an durch einen Fehltritt seine bürgerliche Existenz vernichten
zu können.
Ein Gerichtshof hat über den vierzehnjährigen Max Ehr-
mann sein Schuldig ausgesprochen. Der Vater und der Verteidiger
des Verurteilten halten an der Überzeugung von seiner Unschuld
fest. Neue Umstände und Details werden durch ihre Bemühungen
zutage gefördert. Das Ansuchen um Wiederaufnahme des Straf-
verfahrens wird trotzdem zurückgewiesen. Beschwerden und ein
zweites Gesuch um Wiederaufnahme bleiben erfolglos, obwohl
ernstliche Zweifel an der Schuld des Verurteilten unabweisbar sind.
Die Energie von entlastenden Tatsachen, die zweifellos genügt hätte,
einer im Gange befindlichen Untersuchung eine durchaus andere
Richtung zu geben und sie vermutlich zu einem andern Urleil zu
führen, diese Energie reicht nicht aus, die ruhende Sache, die chose
jugee, in Bewegung zu setzen. In der Judikatur kommt das Gesetz
der Trägheit zur Geltung, und wir sehen mit Schrecken, daß
auch hier zugeführte Kräfte scheinbar spurlos verschwinden,
weil sie bei der Überwindung der inneren Widerstände des Appa-
rates aufgebraucht werden. Der Verteidiger des Max, Doktor
Markus Ettineer, führt einen schwierigen Kampf in Eingaben und
Broschüren mit rücksichtsloser Schärfe. Anschuldigungen gegem
einzelne Zeugen und Funktionäre werden erhoben. In Ehrenbeleidi-
gungsprozessen setzt sich der Straffall fort. Eine gewaltige Menge
von Haß ist auf beiden Seiten aufgespeichert, so daß es dem
Beurteiler oft scheinen könnte, vom Rechtsstreite sei nur der Streit
geblieben und es handle sich nicht so sehr um Schuld oder Unschuld
als um Sieg oder Niederlage.
Der Verteidiger wird heute vielfach als Rechtsfanatiker an-
gesehen und als solcher gelobt oder angegriffen. Wie sehr aber
wird seine Bemühung um das Recht von den Leistungen der
Gegenseite, z. B. der Frau Frieda A., in den Schatten gestellt 1 Er
will jemandem Hilfe bringen, die Führung von Rechtssachen ist sein
Beruf, er hat auch einen Eid abgelegt, seine Pflicht zu tun. Diese
42 —
Dame aber leitet offenbar kein anderes Motiv als die reine Liebe
zum Recht. Sie kämpft für die Schuld des Knaben; sie hat ihr
mitleidiges Gemüt, ihre weibliche Liebenswürdigkeit aufopferungs-
voll überwunden. Sie wendet unsägliche Mühe auf, daß der
Schuldspruch zu Recht bestehe, sie dient niemandem als der großen,
starren Idee des Rechtes. Immer neue Zeugen bringt sie für die
Schuld des Knaben, immer neue Erinnerungen erweckt sie in ihnen.
Sie hat eine Lebensaufgabe. >Sie müssen etwas wissen, es wird Ihr
Schade nicht sein«, mit dieser Formel wirbt sie die Gerechten
für die Wahrheit. Nach einer Darstellung im Verhörsprotokoll.
Em einziges Mal weicht sie von dem erhabenen Gedanken der
Sühne ab, der ihr Leben beherrscht. Da konnte es geschehen,
daß ihr Anwalt in ihrem Namen das Versprechen gibt, ein Be-
gnadigungsgesuch für den verurteilten Knaben zu befürworten.
Aber schon zwei Tage später findet sie sich wieder, und derselbe
Anwalt schreibt an den Vater des Verurteilten: >Gelegentlich
der heute erfolgten Abrechnung mit meinen Klienten haben
dieselben erklärt, daß sie ihre Zustimmung zur Befürwortung des
Begnadigungsgesuches davon abhängig machen, daß ihnen diese
K 82 von Ihnen rückvergütet werden. Andernfalls wären sie genö-
tigt beim Strafgerichte die von mir abgegebene Befürwortungs-
erklärung zurückzunehmen«. 82 Kronen! So geringfügig ist
oft der Anlaß, der einen für eine große Sache wieder-
gewinnen kann !
Es ist hier unmöglich, den verschlungenen Wegen des Be-
weisverfahrens zu folgen. Aber es genügt ein kurzer Abriß der
Vorgänge, die zur Verurteilung führten, um einen Schluß auf
Schuld oder Unschuld zuzulassen. Die Dinge waren einmal
so ganz einfach und unwichtig, ehe sie anfingen kompliziert, be-
deutungsvoll, also juridisch zu werden.
Man war in einer Privatrealschule. Man ist ein junger Herr
von elf Jahren, heißt Egon und ist der Sohn der früher erwähnten
tatkräftigen Zeugin. Nun besuchte man die erste Klasse und hatte
ungeheuren Respekt vor einigen Persönlichkeiten, Persönlichkeiten
voll Männlichkeit und Kühnheit, die in der dritten oder gar vier-
ten Klasse der Anstalt waren. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg,
und der Wille des kleinen Egon, mit diesen imponierenden Wesen
in Verkehr zu treten, war stark. In seinem Interesse dominiert
zweifellos Rudolf S., Schüler der vierten Klasse. Ein schnei-
— 43
diger Kavalier! Er hat eine führende Rolle in der Anstalt, ist
Weltmann und ein sehr freier Geist. Ferner mußte auch Max
Ehrmanns Bekanntschaft ein heißersehntes Ziel für Egon sein. Max
und Rudolf haben in seinen Augen das eine gemein, daß ihr Geist
auf höhere Interessen gerichtet ist, die das Schulleben nicht be-
friedigen kann; sie führen, jeder in seiner Art, neben diesem
Schulleben ein zweites, ein höheres Dasein. Und der kleine Egon
möchte so gerne an diesem teilnehmen dürfen. Ist man doch
augenblicklich zu einer höchst trübseligen Lebensführung ver-
urteilt ! Man sitzt den ganzen Tag auf Schulbänken, soll Französisch
lernen und kann es nicht, wird von Tadelbriefen und ähnlichen
Gemeinheiten des Schicksals bedroht. Das höhere Interesse
Rudolfs ist auf die >Hermania« gerichtet. Das ist ein Verein,
dem er angehört, der sich aus Schülern der vierten Klasse
rekrutiert, Bänder und Kappen trägt, Kneipen abhält und
Fecht- und Ehrenangelegenheiten auf seinem Programm hat. Dort
gibt es Freiheit, Säbel, Stierköpfe und gar kein Französisch. Es
ist offenbar, daß dieser Verein viel Ähnlichkeit mit dem Paradiese
hat. Und auch Max Ehrmann hat hochfliegende Gedanken und ein
berückendes Ziel : reiten! Seine ehrgeizigen Pläne befassen sich mit
Sporen und Gamaschen, das Hippodrom im Prater übt eine unheim-
liche Anziehungskraft auf ihn aus. Der Vater hat nicht das richtige
Verständnis für die Sache. Er läßt den Max, der einigemal unmotiviert
von der Schule fortgeblieben war, fortan zum Unterricht und
zurück begleiten.
In diesem Milieu spielt sich das Verbrechen ab, für das
das Landesgericht eine Kerkerstrafe über Max verhängt hat. Zur
Begnadigung wurde der Vierzehnjährige nicht empfohlen, weil er
angeblich systematisch zum Diebstahl verleitet und verslockt
geleugnet hatte.
Der kleine Egon A. wollte nämlich gerne für voll angesehen
werden; wollte auch etwas abkriegen von der Atmosphäre der
»Hermania« und jener des Hippodroms. Er nahm Portepees
aus dem Geschäfte der Eltern und später auch Geld aus dem
Wäschekasten der Mutter. Erstens, weil das eine Tat war und man
durch Taten zum Manne wird, dann wohl auch, weil Geld und
Geldeswert dem Besitzer Ansehen geben; und um dieses war es
ihm zu tun. Herr Dr. Ettinger betont dieses Verbrechen und nennt den
vollen Namen des Verbrechers. So rühmenswert die Konsequenz und
44
Entschlossenheit ist, mit der er für seine Überzeugung eintritt, so tut
er hier ein wenig zuviel. Wenn der kleine Egon in einigen Jahren ein
Mann geworden ist, möge man sich nicht mehr daran erinnern,
daß er, als Elfjähriger, zwischen der Heiligkeit der »Hermania«, des
Hippodroms und des mütterlichen Waschekastens die richtige
Wahl nicht zu treffen wußte.
Abgesehen von den Details, von dem starken Tatsachen-
material, das Dr. Ettinger zur Führung des Unschuldsbeweises
zustande brachte — ist es psychologisch möglich, daß in diesem
Falle eine Verleitung zum Diebstahl durch Max Ehrmann statt-
gefunden hat? Neben Max verkehrte auch der ältere Rudolf S. mit Egon.
Er mußte den weitaus stärkeren Eindruck auf den Elfjährigen
machen. Er, der Führer in der >Hermania«, der fünfzehnjährige
Student mit Kappe und Band, ist eine jener Personen, in deren
Kreis nicht viel Raum für fremde Taten ist. Geschweige denn für
eine Oroßtat, als welche er und Egon den Diebstahl auffaßten!
Für Egon war ferner der Verkehr mit den älteren Knaben
höchst wertvoll, und er mußte bestrebt sein, für die eigene Jugend
(das ist in diesem Falle: Minderwertigkeit) notwendig ein Äqui-
valent zu bieten. Das ist so selbstverständlich, daß die An-
nahme, es sei von ihm aus dunkeln, verbrecherischen Instinkten,
aufs Geratewohl hin zuerst Geld gefordert worden, daneben
völlig absurd erscheint. Die richterliche Psychologie sagt: Der
ältere Knabe verkehrt mit dem jüngeren, weil er Geld haben will. Aber
dieser Schluß ist aus einer Erfahrung an erwachsenen Verbrechern
gezogen. Hier muß es heißen : Der Jüngere will dem Älteren Geld
geben, um mit ihm verkehren zu dürfen.
Und endlich geht geradezu die Unmöglichkeit einer Ver-
leitung aus den Charaktereigentümlichkeiten Egons hervor. Nicht
weil er ihr zuviel Widerstand entgegensetzte, sondern weil selbst
das Minimum von Widerstand, das sie erfordert, bei ihm nicht
vorhanden war. Aus jeder seiner Aussagen geht die ungewöhnliche,
vielleicht krankhafte Suggestibilität des Knaben hervor. Sein Anleh-
nungsbedürfnis, seine psychische Widerstandslosigkeit sind offenbar.
Dieses Kind ist so wenig verleitbar, als Wasser schneidbar oder spalt-
bar ist. Wenn er als Zeuge beschuldigt, heißt es einfach: er hat mir
gesagt, ich soll ihm Geld bringen, am nächsten Tag hab ich ihm das
Geld gebracht. . . . Ohne Motivierung, ganz selbstverständlich,
eins folgt für ihn mit Notwendigkeit aus dem andern: man hat
45
mir gesagt — ich habe gebracht. Und das nennt man Beein-
flussung? Hier wurde übersehen, daß es für einen älteren Knaben,
der mit Egon sprach, einfach unmöglich war, Egon nicht zu be-
einflussen. Bloß weil er älter war, weil er in der >Hermania« war
oder weil er reiten konnte.
Nur für die gekränkte Mutter ist es selbstverständlich, daß
sie nach Verleitern fragt, daß sie nicht glauben kann, ihr Kind
hätte das aus Eigenem getan. Ungeheuerlich aber ist es, daß ihre
Ansicht und die unsichere Antwort des geängstigten Knaben sich
weitere Geltung verschaffen, von Advokaten und Richter über-
nommen und festgehalten werden und schließlich als zurei-
chende Zeugenaussagen zu einer Verurteilung führen.
Aus der einfachen Übersicht des Falles und ebenso aus
dem eingehenden Studium der von Doktor Ettinger veröffentlichten
Akten ergeben sich zwei unabweisbare Folgerungen: erstens, daß
das Unterlassen der Empfehlung zur Begnadigung auf eine offen-
kundig irrtümliche Annahme des Gerichtes zurückzuführen ist
und zweitens, daß schwerwiegende Gründe gegen die Richtigkeit
das Urteils sprechen. Und mit diesem Resultate hat der Anwalt
teilweise den Zweck, den er anstrebt, die Rehabilitierung des
Knaben, erreicht. Nicht bei der großen Menge und nicht vor dem
Gesetze; aber bei jedem, der sich ohne Voreingenommenheit
mit dem Fall beschäftigt hat. Otto Soyka.
Erdbeben.
In einem sehr berechtigten Protest gegen die neueste Art
von Parvenütum, die sich in der Satire auf die Komtessen be-
friedigt, zitiert ein Kritiker die Worte Montaignes:
. . . Warum schätzen wir einen Menschen nicht nach dem ab, was
ihm selber zu eigen ist? Er hat ein großes Gefolge, einen schönen
Palast, so viel Kredit, so viel Einkommen: alles das ist nur um ihn
herum, nicht in ihm . . . Wenn ihr nun einen Menschen abschätzet,
weshalb schätzet ihr ihn dann ganz eingehüllt und eingepackt ab? . . .
Kr lege seine Reichtümer und Würden beiseite ; er erscheine im Hemde . . .
Auf die wahren Abstände zwischen den Menschen achten wir nicht,
während wir hingegen, wenn wir einen Bauer und einen König, einen
Leibeigenen und einen Edelmann, einen Privatmann und einen Beamten
betrachten, die sich sozusagen nur durch die Beinkleider von einander
unterscheiden, plötzlich den Eindruck einer außerordentlichen Ver-
schiedenheit erhalten . . .
46
Aber ein Erdbeben ist ein demokratischer Faktor. In der-
selben Zeitung, in der das Zitat steht, war der Brief einer Prin-
zessin an einen Grafen veröffentlicht:
» . . . Die Schiffe kommen an, die Bahnzüge folgen einander
und unaufhörlich und führen uns tausende und abertausende Verwundete
zu, halbnackt, zitternd vor Schreck, vor Hunger, vor Elend. Die ver-
einten Bemühungen aller Gesellschaftsklassen vermögen nicht, dieses
gebrochenen, ruinierten, hoffnungslosen Leuten, die die teuersten Familien-
mitglieder verloren haben, zu helfen, und sie befinden sich durchwegs
in einem Zustande, der nicht einmal den Schluß gestattet, welcher Ge-
sellschaftssphäre sie angehören. Sie wurden von der entsetzlichen Kata-
strophe im Schlafe überrascht und sind geflohen in einem Hemde . .
Ich gehöre einem Damenkomitee an, das den Verwundeten hilft, Nah-
rung für alle die Halbverhungerten beschafft und sucht, ihre Blöße*
zu decken . . .<
•
Der Liberalismus spricht:
>In Palermo ziehen jetzt die Menschenmassen, Heiligenbilder
tragend, durch die Straßen, und in Catania wurde die silberne Büste
der heiligen Agathe aus dem Silberschrein geholt .... Die fromme*
Sizilianer rufen jetzt den Himmel an, er möge ihnen helfen und sie vor
weiterem Unheil bewahren . . .«
Wir flüchten zur Wissenschaft. Wenn wir nämlich nicht
gerade das Pech haben, in Sizilien eine liberale Zeitung heraus-
zugeben.
> Schon haben die Männer der Wissenschaft Apparate gebaut,
die selbst in einer Entfernung von vielen tausend Meilen die Erdbewe-
gungen verzeichnen . . ,*
Je größer die Entfernung, desto sicherer funktionieren die
Apparate. Nur wenn sie sich am Orte des Erdbebens befinden, ist
Gefahr vorhanden, daß sie kaput gehen.
>Das, was Eduard Sueß so geistvoll den Pulsschlag des Erdballs
genannt hat, wird mit wissenschaftlicher Genauigkeit bekannt sein . . .<
Das wird aber den Pulsschlag der Erde nicht weiter genieren.
Und ihre Bonmots sind überraschender.
•
Die Sizilianer werden sich doch einmal darüber aufklären
lassen, daß die Priester sie vor Erdbeben nicht bewahren können.
Die frommen Redakteure der ,Neuen Fieien Presse' werden dem
Glauben, daß die Geologen es imstande seien, nie abschwören.
•
Goethe habe geschrieben :
... In Messina waren alle Gebäude vom Erdboden zusammen-
jjerüttelt, aber die Kirche und das Kloster der Jesuiten standen ungerührt,
47 —
als wären sie gestern gebaut. Es war nicht die Spur an ihnen zu be-
merken, daß die Erderschütterung den geringsten Effekt auf sie gehabt
»Mit diesen Worten«, beeilt sich die .Neue Freie Presse'
hinzuzufügen, »wollte Goethe auf die vorzügliche Bauart der
Kirche und des Klosters hinweisen«. Beileibe nicht auf eine über-
natürliche Protektion. Goethe war ja aufgeklärt.
•
Apropos — was sagt denn der »Zivilingenieur Berdach« ?
*
Eine tröstliche Nachricht aus Sizilien hat man dem Spezial-
korrespondenten der ,Neuen Freien Presse' zu verdanken. Er malt
doch wenigstens nicht durchaus grau in grau:
>Palmi ist zerstört. Im Schutt seiner Häuser fanden 6000
Menschen ihren wer weiß wie schmerzhaften Tod. Bagnara ist ein
Massengrab. Scilla und Cannitelli sind dem Boden gleichgemacht. . . .
Südwestwärts von Bagnara ist das Geleise verschüttet, der Tunnel zwi-
schen San Giovanni und Reggio zerstört .... Die dem Erdbeben
nachfolgende Sturmflut hat das Ufergelände, auf welchem die Baha
gebaut ist, zerissen, zerklüftet und verwüstet. Drei Wegstunden von
Reggio liegen seit Tagen dreißig Lastwagen mit Lebensmitteln und
können nicht durch. Angesichts dieser Umstände ist es ein
Glück, daß der Abgeordnete De Nava sich unser annimmt. Wir fahren
mit ihm nach Neapel zurück. . .«
Generalleutnant Mazza zum Spezialkorrespondenten : »Fra-
ge n Sie nicht zu viel, wir werden tun, was Vernunft und Herz
uns eingeben«.
Aus allen Berichten, so sehr sie auch sonst divergieren,
scheint mit Sicherheit hervorzugehen, daß sich die Handlungs-
reisenden gerettet haben.
•
»Austria non se muove«, hatte ein italienisches Lügenblatt
behauptet. Aber es wird nicht nur Geld gesammelt, sondern der
Gastwirt vom Semmering hat auch dem Minister Tittoni seine
Teilnahme ausgedrückt. Eppur si muove !
•
Die Erde will nicht mehr. Es war bloß ein nervöses
Zucken, - und der Jammer ist unendlich. Wenn ihr aber wirklich
einmal die Geduld reißt?
48
Die Erde macht mobil, seitdem die Menschen die > Erober-
ung der Luft« versuchen.
•
Es gewährt einige Beruhigung, dies Wüten der Natur
gegen die Zivilisation als einen zahmen Protest gegen die
Verheerungen aufzufassen, die diese in der Natur angerichtet hat.
Was hat sie aus den Weibern gemacht! Durch eine grandiose
Huldigung ließe sich die Natur versöhnen, durch ein Opferfest
des Wohltuns zum wohltätigen Zweck. Christliche Liebe vergesse,
christlich zu sein ! Heran die Samariterinnen ! Heran die Sama-
riter! Alle, die heute bloß mit Unlust spenden, heran! Man kann
an einem Tage Völker ersetzen. Man kann an einem Tage Reich-
tümer sammeln und Städte auferbauen. Ein Tag zur Feier des Lebens
in der ganzen Welt, die eine Totenklage erfüllt!
Karl Kraus.
Vita nnova.
Von Oskar Wilde.
Das Meer war stürmisch, wo ich schweigend stand,
bis mir der Schaum um Haar und Wangen hing.
So traurig pfiff der Wind — zu Ende ging
des Abends Atem mit purpurnem Brand.
Der laute Schrei der Möwen brach ins Land —
und dann mein Ruf: »Wie schal ist dieses Ding,
das ,Leben' heißt — in diesem engen Ring
voll Qual und Arbeit erntet keine Hand.c —
Noch einmal warfen meine müden Hände
zerrissne Netze aus von alten Küsten —
zum letzten Mal (war dies denn nicht ein Ende?)
trug meine tote Seele Hoffnungsschauer.
Als ach! aus dumpfem Traum und dunkler Trauer
aufstieg ein Glanz von siegreich weißen Brüsten.
Übersetzt von Felix Orafe.
Heransgeber nnd verantwortlicher Redakteur : Karl Kran«.
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3.
DIE FACK
Herausgebor:
KIARL KRAU»
erscheint in zwangloser Folge im umfange von 16—32 Seiten.
BEZUGSBEDINGUNGEN :
für Österreich-Ungarn, 36 Nummern, portofrei K 9.—
n » „18 „ „ „
„ die Länder d, Weltpostv., 36 Nummern, portofrei . . . . „ 12.—
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München und Leipzig bei GEORG MÜLLER.
Durch alle Buchhandlungen zu bezie
Inhalt der vorigen Nummer 269, 31. Dezember: Mehr
Läuse! Von Karl Kraus. —Jubel und Jammer. Von Karl Kraus.—
Missa Solemnis Tragica. Von Karl Borromäus Heinrich. — Der
Sexual korrespondent. Von Karl Kraus. — CHossen (Weihnachts-
fragen. — Der thaufrische Hofrat. — Der Fall Kuranda-Pergelt. —
Mord, Operette, Nachtleben und Polizei. - Eine Entdeckung.)
Von Karl Kraus.
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alkalischer
CARL GOLSDORF
Karlsbad, Budapest V. Wien JX
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Die Deutsche Briefqesellschaft ^S^ss
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Doppel-ZVilmmei1 (Preis 60 Heller)
Nr. 272 — 273. 15. Februar 1909 X. Jübr
Herausgeber:
KARL KRAUS
INHALT:
Messina. Von Karl Kraus. — Das Ehrenkreuz.
Von Karl Kraus. — Kunst und Moral. Briefe
Von Oskar Wilde. — Glossen. Von KarlKraus.
— Abend. Von Otto Stoessl. — Eine Zuschrift.
Von Elisabeth Förster-Nietzsche. — Sprüche
und Widersprüche. Von Karl Kraus.
Erscheint in zwangloser Folge.
-
ciidruck und gewerbsmäßiges Verleihen verboten ; gerichtliche
Verfolgung vorbehalten.
WIEN.
KARL KRAV
SPRVECHE
VND WID
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Verlag ALBERT LANGEN München.
DURCH ALLE BUCHHANDLUNGEN ZU BESTELLEN.
••x.-r> *■ a fft iv nnil)!.')1Vi"; r.KD U 7
Die Fackel
Nr. 272-73 15. FEBRUAR 1909 X. JAHR
Messina.
Als Stiefmutter Erde ihren Kindern dort unten
übel mitspielte, staunte man über nichts mehr
als darüber, daß die Natur mit den Verbrechern ge-
meinsame Sache gegen die Gesellschaft machte. Die
Nachricht, daß die Verbrecher aus den Gefängnissen
ausgebrochen seien, schien unter jenen, die die Haare
der Menschheit sträuben machten, die stärkste.
Daß die Gelder der Wohltätigkeit gestohlen, daß
bis dahin unbescholtene Gauner verlockt wurden,
aus sich selbst auszubrechen, wirkte bei weitem
nicht so beunruhigend wie die Tatsache, daß Ver-
brecher, die man schon so lange hatte, aus
denGefängnissen entkommen waren. Die Sträf-
linge von Messina waren die einzigen Men-
schen, von denen man verlangen konnte, daß
sie genügend Besinnung und genügend Respekt
vor der staatlichen Autorität haben, um die
destruktiven Tendenzen der Natur nicht zu unter-
stützen. Die Enttäuschung, die sie den euro-
päischen Zeitungslesern bereitet haben, mag tief
sitzen. In allen Kulturzentren regt sich die Besorgnis,
daß man im Falle eines Erdbebens gegen Eigentums-
delikte nicht geschützt sei. Daraus spricht jener
Heroismus, der bei der Wahl zwischen Leben und
Börse sich zum Verzicht auf das Leben entschließt.
Die Gesellschaft denkt das »fiat justitia, pereat raun-
dus« mit äußerster Konsequenz zu Ende und bis zu dem
Wunsche, daß die letzten Häuser, jene, die einem Erd-
beben getrotzt haben, die Gefängnisse sein mögen.
Und wenn dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen
sollte, dann ist's eine schmackhafte Vorstellung, daß
die Leichname der Verbrecher Ketten tragen ... So
rührt ein Brdbeben die Gedankenwelt der Erwachsenen
auf. Sie denken an die Verbrecher. Kinder denken an den
Teufel und fürchten ihn nicht mehr. Die Größe des Un-
glücks befreit sie von der Angst, daß darüber hinaus
noch etwas geschehen könnte. Die Erwachsenen halten
sich die Taschen zu. Ein Kind findet vor der Größe
der Vision Worte, wie sie ein Dichter spricht. »Der
Teufelc, sagt es, »hat ein Erdbeben angerichtet, das
war go groß, daß der Teufel selbst dabei zugrunde-
gegangen ist!« Karl Kraus<
Das Ehrenkreuz.
In Österreich gibt es für junge Mädchen, die
sich dem Laster in die Arme werfen, eine Klimax
der Strafbarkeit. Man unterscheidet Mädchen, die
sich der unbefugten Ausübung der Prostitution
schuldig machen, Mädchen, die fälschlich angeben,
daß sie unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehen, und
schließlich Mädchen, die zwar zur Ausübung der
Prostitution, aber nicht zur Tragung eines Ehren-
kreuzes befugt sind. Diese Einteilung wirkt auf den
ersten Blick verwirrend, aber sie entspricht durchaus
den tatsächlichen Verhältnissen. Ein Mädchen, das
einem Detektiv bedenklich schien — nichts scheint
in Wien einem Detektiv bedenklicher als ein Mäd-
chen — , gab an, sie stehe unter sittenpolizeilicher
Kontrolle. Sie hatte sich einen Scherz erlaubt, aber
man ging der Sache nach. Da sich ihre Angabe als
unrichtig herausstellte, wurde sie wegen unbefugter
Ausübung der Prostitution in polizeiliche Untersuchung
gezogen. Da sich aber dieser Verdacht als unge-
rechtfertigt erwies und sich also herausstellte, daß das
Mädchen überhaupt nicht Prostitution treibe, so er-
hob die Staatsanwaltschaft die Anklage wegen
Falschmeldung. Das Mädchen hatte sich, wie es in
der Anklage hieß, »gegenüber dem Detektiv eine
soziale Stellung angemaßt, die ihr nicht zukam«. Sie
trieb weder erlaubte noch unerlaubte Prostitution, sie
war also eine Schwindlerin, und nur weil sie bei der
Verhandlung auf die Frage des Richters, was sie
sich dabei gedacht habe, die Antwort gab: »Nichts«,
entging sie der Verurteilung. Um also zu rekapitu-
lieren: Sie hatte behauptet, sie stehe unter sitten-
polizeilicher Kontrolle. Da das eine Unwahrheit
war, wurde sie unter dem Verdachte des unsittlichen
Lebenswandels in Untersuchung gezogen. Sie konnte
nun zwar beweisen, daß sie nicht unsittlich genug sei,
um einen unsittlichen Lebenswandel zu führen, aber sie
konnte doch wieder nicht beweisen, daß sie sittl ich genug
sei, um unter sittenpolizeilicher Kontrolle zu stehen. So
blieb nichts übrig, als sie wegen Falschmeldung anzukla-
gen, wegen deren ja schließlich auch die Mörder in Öster-
reich verurteilt werden, wenn man ihnen den Mord
nicht nachweisen kann. Jetzt gehen wir einen Schritt
weiter. Wenn ein Mädchen zur Ausübung der Prosti-
tution befugt ist, so könnte es vorkommen, daß sie es ver-
schweigt und schwindelhafter Weise vorgibt, sie sei
zur Ausübung der Prostitution nicht befugt. Sie
würde sich also einen unsittlichen Lebenswandel an-
maßen, den sie nicht deshalb führt, weil sie dazu be-
rechtigt ist, sondern den sie führt, wiewohl sie dazu
nicht berechtigt ist, während sie in Wahrheit bloß
berechtigt ist, einen unsittlichen Lebenswandel
zu führen, den zu führen sie berechtigt ist. Solche
Fälle kommen in der Praxis selten vor, und die
Judikatur des Obersten Gerichtshofes ist schwankend.
Am schwierigsten ist aber der Fall, der sich kürzlich
in Wiener-Neustadt zugetragen hat. In einem dortigen
Freudenhause lebt ein Mädchen, das zur Ausübung der
Prostitution befugt ist und bisher noch keinen
Anstand gehabt hat. Sie hat sich nie einen unsitt-
lichen Lebenswandel angemaßt, den sie nicht führt,
und es ist ihr noch nicht einmal nachgewiesen
worden, daß sie fälschlich angegeben hat, eine Pro-
stitution nicht zu treiben, zu der sie befugt ist.
Aber der Teufel reitet das bisher unbescholtene
Mädchen, und sie geht eines Abends im Salon mit
einem Militärjubiläumsehrenkreuz an der Brust herum.
> Dadurch erregte sie bei den Gästen «, ja was
glaubt man, hat sie dadurch bei den Gästen erregt?
Nicht das, was man glaubt, sondern im Gegenteil:
Ärgernis. Und wenn ein Freudenmädchen bei den
Gästen eines Bordells Ärgernis erregt, dann ist es
wirklich höchste Zeit, daß die Staatsanwaltschaft
einschreitet. Tatsächlich wurde das Mädchen wegen
einer Erregung, zu der sie nicht befugt war, an-
geklagt. Der erste Richter sprach sie frei. Er sagte,
das Militärjubiläumsehrenkreuz sei kein Orden und
das Ärgernis sei bloß ein solches Ärgernis, das von
der Polizei zu ahnden sei. Damit gab er freilich zu,
daß das Mädchen schuldig gewesen wäre, wenn sie
etwa den Takowa-Orden getragen hätte. Es liegt
zwar auf der Hand, daß das unbefugte Tragen eines
Ordens immer nur einen Journalisten und kein
Freudenmädchen strafbar machen kann, aber in
Wiener-Neustadt scheint die Frauenbewegung bereits
derartige Fortschritte gemacht zu haben, daß man dort
beide Geschlechter in gleichem Maße der Ordensstreberei
für fähig hält. Immerhin sagte der erste Richter, ein
.Jubiläumskreuz sei kein Orden. Aber der Staatsanwalt
war anderer Ansicht, er berief und das Landesgericht
verurteilte die Angeklagte zu zwanzig Kronen Geld-
strafe. Ein Jubiläumskreuz, sagte das Landesgericht,
sei als Ehrenzeichen jedem Orden gleichzustellen.
Als besonders erschwerend nahm der Gerichtshof
»das Tragen des Kreuzes im Freudenhause« an. Als
die Angeklagte gefragt wurde, was sie sich dabei
gedacht habe, gab sie zur Antwort: »Nichts«. Aber
diesmal nützte die Antwort nichts. Denn eher noch
dürfte sich ein anständiges Mädchen die Prostitution
anmaßen als eine Prostituierte das Ehrenkreuz.
Welche Entschuldigung hatte sie? Ein Zivilist, sagte
sie, habe es ihr geschenkt. Er war nobel und gab
— 5 —
ihr das Ehrenzeichen als Schandlohn. Aber dann hätte
sie es eben in den Strumpf stecken sollen. Das Tragen
eines Ehrenzeichens im Freudenhause steht nur
dessen Gästen zu, und wenn sie dadurch das Ärgernis
der Mädchen erregen sollten, so würden sich die
Mädchen einer strafbaren Handlung schuldig machen.
Gibt aber ein Gast einem Mädchen statt zwanzig
Kronen ein Ehrenkreuz, so darf sie das Ehrenkreuz
nicht tragen und muß die zwanzig Kronen dem Gericht
bezahlen. Denn die Justiz ist eine Hure, die sich
nicht blitzen läßt und selbst von der Armut den
Schandlohn einhebt. tt«,i tt-«,^
Karl Kraus.
Kunst und Moral.
Briefe von Oskar Wilde.
Vorbemerkung des Übersetzers: Im letzten Dritteides
Juni 1890 erschien Wildes >Dorian Gray« in ,Lippincott's Magazine';
noch in demselben Monat brachten zahlreiche angesehene Tages-
blätter und Zeitschriften Besprechungen des Werkes, und in
seinem Briefe vom 13. August spricht Wilde bereits von zwei-
hundertsechzehn Kritiken, die von seinem Schreibtisch in den
Papierkorb gewandert -seien. Nur wenige dieser Beurteiler wagten
das Werk ohne starke Einschränkungen zu loben. Die übergroße
Mehrzahl der Kritiker erhoben ihre Stimmen gegen den Autor in
allen Tonstärken von würdevoller Mißbilligung bis zum wütenden
Geschrei. Seine künstlerische Erwiderung auf diese Kritiken mag
man in dem Vorwort zu der etwa ein Jahr später erschienenen Buch-
ausgabe finden. Damals jedoch holte sich Wilde zwei der ärgsten
Schreier, den der ,St. James's Gazette' und den des ,Daily Chronicle',
heraus und erwies ihnen die Ehre, sie zu widerlegen.
»Ihr Kritiker», schreibt er der ,St. James's Gazette"), »beginnt
'•') Die Briefe an diese sind bereits in einer deutschen Zeitschrift
erschienen. Alle anderen erscheinen hier zum erstenmale in deutscher
Sprache
« —
damit, mich mit lächerlicher Heftigkeit anzugreifen, weil die Haupt-
personen meiner Geschichte Gecken seien. Jawohl, sie sind Gecken.
Glaubt er, daß die Literatur auf den Hund gekommen ist*), als
Thackeray jüber das Geckentum schrieb? Ich halte dafür, daß
Gecken vom künstlerischen ebenso wie vom psychologischen Stand-
punkt höchst interessant sind. Sie scheinen mir für alle Fälle weit
interessanter als Pedanten, und ich bin der Ansicht, daß Lord
Henry Wotton ein vortreffliches Korrektiv für das hohle Ideal
bildet, das in den halbtheologischen Romanen unserer Zeit dar-
gestellt wird. - Ihr Kritiker macht ferner unbestimmte und
drohende Anspielungen auf meine Grammatik und meine Gelehr-
samkeit. Was die Grammatik betrifft, so bin ich der Meinung, daß,
zum mindesten in der Prosa, die Korrektheit stets der künstleri-
schen Wirkung und der musikalischen Kadenz untergeordnet
werden muß. Absonderlichkeiten des Syntax, die im ,Dorian Gray'
etwa vorkommen mögen, sind daher wohl beabsichtigt und dienen
nur zur Betätigung dieser künstlerischen Theorie.« Weiterhin: >Ihr'
Kritiker, wenn ich ihm diesen ehrenvollen Titel zuerkennen darf
behauptet, daß die Menschen meiner Erzählung kein Vorbild im
Leben haben, daß sie, um mich seiner starken, wenn auch ziemlich
plumpen Ausdrucksweise zu bedienen, »Schundliteratur und Dar-
stellungen des Nichtexistierenden' sind. Ganz richtig. Wenn sie
existierten, so wäre es nicht der Mühe wert, über sie zu schreiben.
Die Aufgabe des Künstlers ist es, zu erfinden, und nicht, zu
registrieren. Es gibt keine solche Menschen. Wenn es deren gäbe,
würde ich nicht über sie schreiben. Das Leben verdirbt durch
seinen Realismus stets der Kunst ihren Gegenstand. Der höchste
Genuß des Dichters ist es, das Nichtexistierende zu gestalten«.
Und ferner: »Es ist wohlgetan, der Tat Schranken zu setzen. Es
ist nicht wohlgetan, der Kunst Schranken zu setzen. Der Kunst
gehören alle Dinge, die sind, und alle Dinge, die nicht sind, und
selbst der Herausgeber einer Londoner Tageszeitung hat nicht das
Recht, die Freiheit der Kunst in der Wahl ihres Gegenstandes zu
beschränken«.
Noch einem dritten Blatte erwiderte Wilde: dem ,Scots
Observer'. Dessen Kritik war allerdings, verglichen mit den andern,
ziemlich maßvoll und durch Komplimente für den Autor gemildert;
*) Anspielung auf den Doppelsinn des hier für *Geck< ge-
brauchten Wortes »puppy«, das auch >junger Hund< bedeutet.
aber sie scheint Wilde besonders nahe gegangen zu sein, wohl
deshalb, weil der Herausgeber der von ihm sehr geschätzte Dichter
W. E. Henley war. In diesem Blatte setzt sich Wilde auch mit
einigen jener Zuschriften aus dem Leserkreise auseinander, die die
englischen Blätter — eine gute und nachahmenswerte Sitte —
immer dann empfangen und abdrucken, wenn irgend eine Sache
die öffentliche Meinung stärker erregt. Ich führe neben den Zunft-
kritiken auch diese La'enurteile hier an, zum besseren Verständnis
der Erwiderungen Wildes, und weil ich glaube, daß sie einen
interessanten Beitrag bilden zur Charakteristik des Engländers der
Intelligenzklassen, seiner gesunden Lebensanschauung, seines
prächtigen Humors und seiner Beschränktheit in gewisser Richtung.
tines darf billigerweise nicht unbetont bleiben: Wenn wir
Wildes Erwiderungen kennen, so danken wir dies der Ehrlichkeit
eben der Zeitungen, gegen die sie sich wendeten, und die sie un-
verkürzt abdruckten. Die 'St. James's Gazette' hat zum Beispiel selbst
eine Stelle wie diese: >Zu sagen, daß ein Buch wie das meinige
,ins Feuer geworfen werden Mite', ist einfältig. Das tut man mit
Zeitungen«, nicht unterdrückt. Es gibt Länder, wo das anders ge-
wesen wäre. — Und derselbe ,Daily Chronicle', der [den »Dorian
Gray« am brutalsten angriff, war später das einzige Blatt, das dem
aus dem Gefängnis entlassenen, geächteten Dichter Raum gab für
jene Briefe über den »Fall Martin< und über die Gefängnisreform,
die neben »De Profundis« als ein Denkmal des Menschen Wilde
vor uns stehen. Leo Ronig.
Kritik des ,Daily Chronicle' vom 30. Juni 1890.
Langeweile und Schmutz sind die Hauptzüge der letzten Nummer
von .Lippincott's Magazine'. Das unsaubere, allerdings unleugbar
auch amüsante Element wird durch Oskar Wildes Erzählung >Das
Bildnis des Dorian Gray« beigesteuert. Es ist ein Werk, bei dem die
Aussatzliteratur der französischen Dexadence Pate gestanden hat, ein
giftiges Buch, dessen Atmosphäre verpestet ist von den mephitischen
Dünsten seelischer und moralischer Fäulnis, eine mit perversem Behagen
ausgeführte Darstellung des körperlichen und geistigen Verfalles eines
jungen, schönen und vornehmen Mannes — ein Buch, das furchtbar
und faszinierend sein könnte, wären nicht seine weibische Frivolität,
seine gesuchte Unaufrichtigkeit, sein theatralischer Zynismus, seine
seichtgeschwätzige Philosophie, sein angeschminkter Mystizismus und
jene klebrige Sauce preziös tuender Vulgarität, die über den ganzen
ausgeklügelten Ästhetizismus des Herrn Wilde und über seine auf-
dringliche, billige Wissenschaftlichkeit gegossen ist. Herr Wilde
sagt, sein Buch habe »eine Moral <. Soweit wir diese Moral heraus-
finden können, ist es die, daß es der vornehmste Daseins-
zweck des Menschen ist, seine Natur dadurch zur Vollendung zu ent-
wickeln, daß er >stets nach neuen Sensationen sucht«, daß, wenn die
Seele erkrankt, das Mittel zu ihrer Heilung darin besteht, >den Sinnen
nichts zu verweigern« - denn nichts, sagt eine von Wildes Gestalten,
Lord Henry Wotton, »nichts kann die Seele heilen, als die Sinne,
ebenso wie nichts die Sinne heilen kann, als die Seele«. Der Mensch
ist halb Engel, halb Affe, und Wildes Buch ist nutzlos, wenn es nicht
dazu dient, die »Moral« einzuprägen, daß man, wenn man sich zu
engelhaft fühlt, nichts besseres tun kann, als eiligst ein Tier aus sich zu
machen. Es gibt nicht eine gute und reine Regung der menschlichen
Natur, fast keine Veredelung des Gemütes oder des Instinktes, die im
Laufe der Jahrhunderte durch Zivilisation, Kunst und Religion als Teil
der Scheidewand. zwischen Mensch und Tier in uns entwickelt worden,
die nicht im »Dorian Gray« der Lächerlichkeit und der Verachtung preis-
gegeben würde — wenn anders solche starke Wirkungen der windigen
Leichtfertigkeit und wortgewandten Anmaßung des Herrn Wilde über-
haupt zugeschrieben werden können. Sein gewaltsamer Versuch, am
Ende des Buches eine »Moral« zusammenzustöppeln, ist vom künstleri-
schen Standpunkt plump und roh, denn der Tod des Dorian Gray fällt
aus dem Rahmen der ganzen Geschichte heraus. Dorians einziges Be-
dauern ist, daß zügelloses Schwelgen in jeder Art geheimen und unnenn-
baren Lasters, in allen Genüssen des Luxus uud der Kunst und — was
die entnervten Modejünglinge, deren Leben der »Dorian Gray« zu be-
schreiben vorgibt, noch mehr reizt — in ekelhaftestem Schmutz und
Unrat — sein Bedauern ist also, was? Daß alles dies Linien vorzeitigen
Alters und abstoßender Verlebtheit in sein hübsches Gesicht zeichnen
könnte, in das Gesicht, dessen rosige Schönheit von der Art ist, die
Jünglinge seiner widerwärtigen Gattung den paralytischen Patriziern des
byzantinischen Kaiserreiches teuer machte. Dorian Gray betet also, daß
sein Porträt, gemalt von einem Künstler, der von ihm schwärmt, wie
Männer von Mädchen schwärmen, die ihre Geliebten sind, daß dieses
Porträt an Stelle des Originals alt werden möge. Dies geschieht denn
auch durch die Einwirkung einer übernatürlichen Macht, deren Auftreten
durchaus possenhaft ist; Dorian erfreut sich Jahr um Jahr unver-
welklicher Jugend und könnte bis in die Ewigkeit fortfahren, straflos
seine Sinne dazu zu gebrauchen, »seine Seele zu heilen« und die
englische Gesellschaft mit der moralischen Verpestung zu besudeln, von
der er durchdrungen ist, wenn nicht etwas dazwischen käme. Das ist
sein plötzlicher Impuls, nicht nur den Maler zu ermorden — was künst-
lerisch damit verteidigt werden könnte, daß es nur eine Weiterent-
wicklung seines Lebensprinzipes ist, jede Art von Erlebnis auszukosten —
sondern auch das Bild wütend mit dem Dolch zu durchbohren, weil es,
obgleich er sich dazu herbeigelassen hatte eine gute Tat zu tun, von
seiner Abscheulichkeit nichts verloren hatte. Dies ist aber ganz unver-
einbar mit dem kalten, berechnenden, gewissenlosen Charakter des Dorian
Gray, den Wilde ziemlich logisch in seinem »neuen Hedonismus« ent-
wickelt hat. Der Autor beendigt dann seine Geschichte damit, daß er
uns erzählt: -Die Dienerschaft eilte herbei, als sie einen schweren Fall
hörte, und fand das Bild an der Wand in voller Jugendlichkeit strahlend,
während seine greisenhafte Häßlichkeit auf den Elenden übergegangen
war, der mit durchbohrtem Herzen auf dem Fußboden lag>. — Das ist
eine Talmi-Moral, wie denn alles in dem Buche Talmi ist, bis auf das
eine Element, daß jedes junge Gemüt, das mit ihm in Berührung kommt,
unheilvoll beeinflussen muß. Dieses Element ist die mit einschmeichelnder
Logik verfochtene Berechtigung des Appells an die Sinne, »die Seele zu
heilen *, wenn diese Seele unter zu großer Reinheit und Selbstver-
leugnung leidet.
Wildes Erwiderung.
An den Herausgeber des , Daily Chronicle*.
Geehrter Herr!
Gestatten Sie mir einige Irrtümer zu korrigieren,
die Ihrem Kritiker in seiner Besprechung meiner
Erzählung »Das Bildnis des Dorian Gray« unter-
laufen sind.
Ihr Kritiker behauptet vorerst, daß ich einen
gewaltsamen Versuch mache, am Schluß meiner Er-
zählung eine Moral »zusammenzustöppeln«. Ich muß
gestehen, daß ich nicht ganz genau weiß, was unter
»zusammenstoppeln« zu verstehen ist. Es ist jedoch
nicht meine Absicht, hier in eine Untersuchung ein-
zelner Ausdrücke des modernen Journalisten Jargons
einzugehen. Ich will lediglich folgendes sagen: Weit
entfernt, irgend eine Moral in meiner Erzählung her-
vorheben zu wollen, war meine einzige Sorge bei
ihrer Verfassung vielmehr nur, die sich von selbst
aufdrängende Moral gegen die künstlerische und
dramatische Wirkung zurückstehen zu lassen.
Als die Idee der Darstellung eines jungen
Mannes, der seine Seele gegen ewige Jugend ver-
kauft — eine Idee, die alt ist in der Literatur, der
ich aber eine neue Form gegeben habe — in mir
auftauchte, fühlte ich sofort, daß es schwer sein
würde, die Moral so im Hintergrunde zu halten wie
es vom ästhetischen Standpunkt aus nötig ist; und
ich bin noch immer nicht gewiß, ob mir das auch
zufriedenstellend gelungen ist. Ich halte die Moral
für zu offenkundig. Wenn die Erzählung in Buch-
form erscheint, hoffe ich diesen Mangel beseitigen
zu können.
10 -
Was nun die Frage betrifft, worin die Moral
besteht, so behauptet Ihr Kritiker, sie bestehe darin,
daß, wenn ein Mensch fühle, daß er zu engelhaft
werde, er »eiligst ein Tier aus sich machen« solle.
Ich kann nicht sagen, daß mir dies eine Moral zu
sein scheint. Die Moral der Erzählung ist in Wahr-
heit die, daß jede Ausschreituns: ebenso wie jede
Selbstverleugnung ihre Strafe nach sich zieht. Diese
Moral ist mit künstlerischer Absicht so verborgen,
daß sie nirgends als Gesetz ausgesprochen erscheint,
sondern sich nur in den Schicksalen der handelnden
Personen ausdrückt und derart lediglich ein drama-
tisches Element in einem Kunstwerk darstellt, und
nicht den Zweck dieses Kunstwerkes selbst.
Ihr Kritiker begeht ferner einen Irrtum, wenn
er sagt, daß es »unvereinbar mit dem kalten, be-
berechnenden, gewissenlosen Charakter des Dorian
Gray« sei, das Bild seiner Seele zu zerstören, bloß
weil es nichts an seiner Häßlichkeit verlor, als er in
seiner Eitelkeit sich schmeichelte, seine erste gute
Tat getan zu haben. Dorian Gray ist keineswegs ein
kalter, berechnender, gewissenloser Charakter. Er ist
im Gegenteil ungemein impulsiv, töricht romantisch
und wird sein ganzes Leben hindurch von einem
überempfindlichen Gewissen gequält, das ihm seine
Vergnügungen vergällt und ihn ermahnt, daß Jugend
und Genuß nicht alles in der Welt sind. Und gerade
um dieses Gewissen los zu werden, das ihm unab-
lässig auf Schritt und Tritt nachgeht, zerstört er das
Bild. Indem er also versucht, das Gewissen zu töten,
tötet Dorian Gray sich selbst.
Ihr Kritiker spricht sodann von »aufdringlich
billiger Wissenschaftlichkeit«. Nun, was immer ein
wissenschaftlich gebildeter Mann schreiben möge, so
wird er Wissenschaftlichkeit erkennen lassen in der
Vornehmheit seines S.tils und in der sorgfältigen
Wahl seiner Worte. Aber meine Erzählung enthält
keine gelehrten oder pseudo-gelehrten Gespräche, und
die Bücher, deren darin Erwähnung geschieht, sind
— 11
nur solche, von denen vorausgesetzt werden kann,
daß ein Mann von Bildung sie kennt, wie zum Bei-
spiel das »Satiricon« des Petronius Arbiter oder
Gautiers >Emaux et Cam^es«. Bücher wie Le
Consos »Clericalis Disciplina« sind nicht Gegen-
stand der Wissenschaft, sondern der Liebhaberei. Es
kann niemandem ein Vorwurf daraus gemacht werden,
daß er sie nicht kennt.
Z\im Schlüsse nur noch dies: Die ästhetische
Bewegung hat gewisse eigenartige, zartduftige, durch
ihren beinahe mystischen Ton faszinierende Farben-
mischungen hervorgebracht. Sie waren und sind
unsere Reaktion gegen die rohen Primärfarben einer
zweifellos ehrbareren, aber sicherlich minder kultivierten
Zeit. Meine Erzählung ist eine Studie dekorativer
Kunst. Sie reagiert gegen die rohe Brutalität des
deutlichen Realismus. Sie ist giftig, wenn Sie wollen,
aber Sie können nicht leugnen, daß sie auch voll-
kommen ist, und Vollkommenheit ist es, was der
Künstler anstrebt.
Ich bin, geehrter Herr, Ihr hochachtungsvoll
ergebener . 0. W.
16, Tite Street, 30. Juni 1890.
In seiner Nummer vom 5. Juli 1890 schreibt der »Scots
Observer« :
Warum in Düngerhaufen wühlen ? Die Welt ist schön, und die
Majorität gesund gearteter Männer und ehrenhafter Frauen über die An-
gefaulten, Unnatürlichen und Gefallenen ist groß. Oskar Wilde hat
wieder einmal ein Ding geschrieben, das besser ungeschrieben geblieben
wäre. Wohl ist seine Erzählung »Das Bildnis des Dorian Gray« originell,
interessant, voll Geist und zweifellos das Werk eines begabten S
stellers; aber sie ist ein Werk falscher Kunst, denn ihr Held ist ein Teufel;
und sie ist ein Werk falscher Moral, d^yj es geht nicht genügend klar
daraus hervor, ob der Autor nicht ein Leben widernatürlichen Lasters
einem Leben der Gesundheit, Reinheit und Kraft vorzieht. Die Erzählung
— die Gegenstände behandelt, welche nur für die Kriminalgerichtsbar-
keit oder für die Besprechung in camera geeignet sind — macht dem
Autor eben so wenig Ehre wie dem Verleger. Herr Wilde hat Geist,
Talent und Stil; aber wenn er nur für deklassierte Lebemänner und
perverse Kellnerjungen schreiben kann, so wäre es, je eher er sich der
12
Schneiderei*) (oder einem anderen ehrenhaften Berufe) zuwendet, desto
besser für seinen Ruf und für die allgemeine Sittlichkeit.
Wildes Erwiderung.
An den Herausgeber des ,Scots Obs erver'.
Geehrter Herr!
In Ihrem Blatte erschien dieser Tage eine Kritik
meiner Erzählung »Das Bildnis des Dorian Gray*. Da
diese Kritik mich als Künstler mit grober Unge-
rechtigkeit behandelt, bitte ich Sie, mir für mein
Recht auf Erwiderung in Ihren Spalten freundlichst
Raum zu geben.
Obgleich Ihr Kritiker zugesteht, daß die frag-
liche Erzählung »zweifellos das Werk eines begabten
Schriftstellers c ist, »eines Mannes, der Geisf, Talent
und Stil besitzte, so nimmt er doch an, und das
offenbar in allem Ernste, daß ich es nur im Hinblick
auf verbrecherische und ganz ungebildete Leser ge-
schrieben habe. Nun glaube ich aber, daß Verbrecher
und ungebildete Menschen überhaupt nichts anderes
lesen als Zeitungen. Sicherlich kann von ihnen nicht
vorausgesetzt werden, daß sie ein Buch wie das
meinige verstehen. Lassen wir sie also beiseite, und
gestatten Sie mir nur über die große Frage, warum
ein Dichter überhaupt schreibt, einige wenige Worte
zu sagen.
Das Vergnügen, das es gewährt, ein Kunstwerk
zu schaffen, ist ein rein persönliches, und nur um
dieses Vergnügens willen schafft der Künstler. Er
arbeitet, alle seine geistigen Kräfte auf den Gegen-
stand konzentriert. Nichts anderes interessiert ihn.
Was die Leute sagen werden, daran denkt er nicht
einmal. Er ist fasziniert durch das Gebilde unter
seinen Händen. Alles andere besteht für ihn nicht.
Ich schreibe, weil es mir den denkbar größten künst-
lerischen Genuß gewährt, zu schreiben. Wenn mein
Werk den Wenigen gefällt, bin ich erfreut. Wenn es
ihnen nicht gefällt, bin ich nicht betrübt. Und was die
•) Ansphlung auf Wildes Propaganda für eine Reform der Kleidung.
Anm. d. Obers.
— 18 —
Menge betrifft, so habe ich kein Verlangen, ein
populärer Schriftsteller zu werden. Es ist viel zu leicht.
Ihr Kritiker begeht den ganz unverzeihlichen
Fehler, den Künstler mit seinem Gegenstande zu ver-
mengen. Für diesen Fehler gibt es überhaupt keine
Entschuldigung. Von dem Manne, der die gtößte Er-
scheinung der Weltliteratur seit den Tagen der alten
Griechen darstellt, sagt Keats, daß es ihm ebensoviel
Freude machte, das Böse dichterisch zu gestalten,
wie das Gute. Empfehlen Sie Ihrem Kritiker, Herr
Redakteur, diesen schönen Satz Keats* recht wohl zu
beherzigen. Denn dasselbe gilt von jedem Künstler.
Dieser steht entfernt von seinem Gegenstande. Er
schafft ihn und betrachtet ihn. Je weiter entfernt
sein Subjekt von dem Objekt ist, desto freier schafft
er. Ihr Kritiker meint, daß ich es dem Leser meines
Buches nicht klar genug mache, ob ich die Tugend
dem Laster oder das Laster der Tugend vorziehe.
Er möge sich gesagt sein lassen, daß ein Künstler
überhaupt keine ethischen Sympathien oder Anti-
pathien hat. Laster und Tugenden sind ihm einfach
das, was dem Maler die Farben auf seiner Palette
sind. Nicht mehr und auch nicht weniger. Er findet,
daß durch ihre Anwendung eine gewisse künstlerische
Wirkung hervorgebracht werden kann, und er bringt
sie hervor. Jago mag vom moralischen Standpunkt
scheußlich sein, und Imogen fleckenlos rein. Shake-
speare hatte, wie Keats sagt, ebensoviel Freude an
der Schaffung des einen wie der andern.
Um der dramatischen Entwicklung meiner Ge-
schichte willen war es nötig, Dorian Gray mit einer
Atmosphäre sittlicher Fäulnis zu umgeben. Andern-
falls hätte die Erzählung keinen Sinn und die
Handlung keinen Ausgang gehabt. Diese Atmo-
sphäre vag und unbestimmt und geheimnisvoll zu
halten, war die künstlerische Absicht dessen, der die
Geschichte schrieb. loh nehme für ihn in Anspruch,
daß ihm diese Absicht gelang. Jeder Mensch sieht
seine eigenen Sünden in Dorian Gray. Welches die
14
Sünden Dorian Grays sind, weiß niemand. Der, der
sie findet, hat sie mitgebracht.
Zum Schlüsse lassen Sie mich Ihnen sagen,
Herr Redakteur, wie tief ich es bedauere, daß Sie
einer solchen Besprechung, wie die, zu deren Zurück-
weisung ich mich gedrängt fühle, Aufnahme in Ihr
Blatt gewährt haben. Daß der Herausgeber der
,St. James's Gazette' Caliban zum Kunstkritiker
macht, ist vielleicht natürlich. Der Herausgeber des
,Scots Observer' sollte nicht zugeben, daß Thersites
in seinem Blatte Grimassen schneidet. Es ist eines
so hervorragenden Schriftstellers unwürdig.
Empfangen Sie u. s. w. 0. W.
London, 16, Tite Street, 9. Juli lb90.
*
*
Hiezu bemerkt das Blatt:
Es war nicht zu erwarten, daß Herr Wilde mit seinem Kritiker
über den künstlerischen Wert seines Werkes derselben Meinung sein
werde. Es sei ihm zugestanden, daß es ihm gelungen ist, seinen Helden
mit jener Atmosphäre zu umgeben, die er beschreibt. Das ist sein Lohn.
Der Kritiker ist nichtsdestoweniger berechtigt, der Ansicht zu sein und
sie auszudrücken, daß keine noch so geschickte Behandlung diese Atmo-
sphäre für den Leser erträglich machen kann. Das ist seine Strafe.
Zweifellos ist es das Vorrecht des Künstlers, abscheulich zu sein; aber
er muß dieses Vorrecht auf seine Gefahr ausüben.
Ein Herr Charles Whibley schreibt einige Tage darauf:
Der alte Streit, hier Objekt, hier Gestaltung, dürfte fortdauern,
solange Künstler und Kritiker denselben Planeten bewohnen. Und da
eine endgiltige Entscheidung dieser Frage die lebhafteste und inter-
essanteste aller Diskussionen vorzeitig abschließen würde, so wollen wir
hoffen, daß eine solche Entscheidung niemals eintreten wird.
(Es folgt eine längere theoretische Erörterung, in deren Verlauf
der Schreiber Maupassants »Bei Ami« und Daudets »Sapho« scharf
tadelt und ihnen Dostojewskis »Verbrechen und Sühne« und Flauberts
»Madame Bovary« als Beispiele künstlerischer Behandlung eines ab-
stoßenden Stoffes entgegenhält.)
. . Die Kunst ist also unmoralisch. Wenn diese Theorie irgend-
wie feststeht, so scheint mir Ihre Kritik des »Dorian Gray» zu wohl-
wollend in ihrem Lobe und zu ungerecht in ihrer Verurteilung zu sein.
Sie finden in der Erzählung Kunst und keine Moral; ich finde darin
Massen von Moral und keine Kunst. Vom Anfang bis zum Ende über-
ließ Wilde seiner Liebe zu Paradoxen die Herrschaft über seinen Sinn
für Proportion. Wenn ich den Gesprächston des Lords Wotton —
— Iß
sicherlich eines der ermüdendsten Menschen der Literatur — parödietep
darf: E$ gibt nichts so Langweiliges wie ein Epigramm. Und «in
Roman, der aus nichts anderem besteht als aus umgestülpten Gemein-
plätzen und na$ä ngodioatcv gewendeten leeren Phrasen, hat nicht mehr
Recht, künstlerisch genannt zu werden, als ein Gemälde, das nur aus
farbigen Punkten bestünde.*) Unterbricht ein Künstler den Gang seiner
Erzählung mit ermüdenden Abhandlungen über Juwelen und mit Öden
Möbelkatalogen? Und vermeidet er nicht, wenn er einen zugestandener-
maßen delikaten Gegenstand behandelt, überflüssiges Detail und exotische
Sentimentalität? Wilde hat bewiesen, daß ihm der Takt und die Selbstzucht
fehlen, einen Helden künstlerisch zu gestalten, der halb Jack der Auf-
schlitzer, halb Gaveston**) ist. Die Aufnahme, die sein Buch gefunden
hat, muß ihm übrigens besonders schmerzlich gewesen sein. Er erhebt
Anspruch auf einen künstlerischen Triumph, und er wurde zum mindesten
von einer religiösen Zeitschrift als Sittenreformator begrüßt. Hat e« je
eine unerwünschtere Apotheose gegeben?
*
Wildes zweite Erwiderung.
Geehrter Herrl
In einer Zuschrift, die vor einigen Tagen in
Ihrem Blatte erschien und die das Verhältnis der
Kunst zur Moral behandelt — eine Zuschrift, die mir
in vieler Hinsicht vortrtffl ch zu sein scheint, ins-
besondere in ihrer Betonung der Freiheit des Künstlers,
seinen Stoff nach Gefallen zu wählen — , sagt der
Unterzeichner, Herr Charles Whibley, es müsse be-
sonders schmerzlich für mich sein, zu sehen, daß die
ethische Bedeutung des Dorian Gray von den hervor-
ragendsten christlichen Blättern Englands und Amerikas
so stark betont wird, und daß ich sogar von mehr als
einem von ihnen als Sittenreformator begrüßt werde.
Gestatten Sie mir, nicht nur Herrn Charles
Whibley selbst, sondern auch Ihre zweifellos besorgten
Leser in dieser Hinsicht zu beruhigen. Ich zögere
nicht im Geringsten zu erklären, daß ich eine solche
Kritik als eine sehr willkommene Huldigung für mein
Werk betrachte. Denn wenn ein Kunstweik reich-
*) Herr Whibley wußte wohl noch nichts vom Pofntillismus,
der damals wohl schon erfunden, aber noch nicht Kunstmode ge-
worden war. Anm. d. Übers.
•*) Begabter und übermütiger Günstling Eduards II,, der ihm
in blinder Liebe zugetan war. Anm. d. Ob«rs.
haltig, lebensvoll und vollendet ist, so werden die,
die künstlerischen Sinn haben, seine Schönheit fühlen,
während die, auf die das Ethische mehr wirkt als
das Ästhetische, seine sittliche Lehre herausfinden
werden. Es wird den Feigen mit Schrecken erfüllen,
und der Unreine wird seine Schande darin sehen.
Es wird jedem das sein, was er selber ist. In Wahr-
heit ist es der Beschauer und nicht das Leben, was
sich in der Kunst spiegelt.
Und so hat denn auch im Falle des Dorian
Gray der rein literarische Kritiker, wie zum Beispiel
der des , Speaker', darin ein »ernstes und reizvolles
Kunstwerk« gesehen; der Kritiker, der es in seiner
Beziehung zur Moral betrachtet, wie zum Beispiel
der des , Christlichen Führers' oder der der Christ-
lichen Welt', eine ethische Parabel; das ,Licht',
welches, wie man mir sagt, das Organ der englischen
Mystiker ist, betrachtet es als »ein Werk von hoher
spiritualistischer Bedeutung«; die ,St. James's Ga-
zette', die offenbar das Organ der Lüstlinge zu sein
bestrebt ist, sieht darin alle möglichen schrecklichen
Dinge und empfiehlt es der Aufmerksamkeit des
Staatsanwaltes; und Ihr Herr Charles Whibley sagt
launig, daß er darin »Massen von Moral« finde. Es
ist freilich wahr, daß er hinzufügt, er könne keine
Kunst darin entdecken; aber man kann billiger-
weise nicht von einem Kritiker verlangen, daß er
ein Kunstwerk von allen Seiten sehe. Auch Gautier
hatte seine Beschränkung, ebenso wie Diderot, und
in dem heutigen England sind die Goethes selten.
Ich kann Herrn Charles Whibley nur die Versicherung
geben, daß keine Moral-Apotheose, — der er einen
höchst bescheidenen Beitrag hinzufügt — eine Ur-
sache des Harmes für einen Künstler sein kann.
Ich bin, geehrter Herr Redakteur, Ihr sehr er-
gebener 0. W.
16, Tite Street, Chelsea, 30. Juli 1890.
17
Unterm 9.Augu»tl8yo «schien folgender Brief des Herrn Wh a b i • y :
Vor nicht viel lflnger als einem Monat tat Herr Oskar Wilde
den Lesern des ,St. James's Qazette' kund, daß er infolge seines
Temperaments oder seines Geschmackes oder beider durchaus nicht zu
begreifen vermöge, wie man ein Kunstwerk vom moralischen Gesichtspunkte
aus beurteilen könne. > Das Gebiet der Kunst und das Gebiet der Ethik«,
schrieb er, »sind vollkommen getrennt und verschieden«. Nun hat aber
seine Erzählung den Beifall einiger berufsmäßig frommer Blätter gefunden,
und er akzeptiert die Kritik seiner neuen Verbündeten als eine »sehr
willkommene Huldigung« für sein Werk. Wenn seine Erklärung in der
,St. James's Gazette, aufrichtig war, dann müßte er das Urteil eines
Kritikers »der die Kunst in ihrem Verhältnis zur Tugend bet achtet« als
eine sinnlose Anmaßung zurückweisen. Hat er nicht erklärt, daß »kein
Kunstwerk vom moralischen Standpunkt aus kritisiert werden darf« ?
»Geschmack und Temperament« des »Künstlers« sind ja notorisch
schwankend und unberechenbar, aber man sollte doch meinen, daß sie
ein paar Wochen ohne Wechsel überdauern könnten. Aber die .Christ-
liche Welt' läßt ihr salbungsvolles Lob auf Herrn Wilde herabträufeln,
und stracks verleugnet er seine teuren Prinzipien und vermengt Ethik
und Ästhetik mit einer Unbekümmertheit, die der Mrs. Grundy*) selber
würdig wäre. Wenn es der höchste Ehrgeiz jedes Künstlers ist, Seite
an Seite mit dem talentierten Autor von »Wir zwei« zur Bewunderung
aller derer, die sittenverbessernde Literatur lieben, auf ein Piedestal
gestellt zu werden, dann hat Herr Wilde sicherlich einen großen Triumph
errungen. Aber sein Erfolg mag billigerweise von jenen angezweifelt
werden, die nicht der Ansicht sind, daß aufdringliche Moral die unent-
behrliche Eigenschaft jedes Kunstwerkes sei.
Es scheint, daß, um die Vorzüge des »Dorian Gray« vollkommen
würdigen zu können, der »rein literarische Kritiker« mit dem verschmelzen
muß, der »die Kunst in ihrem Verhältnis zur Tugend betrachtet«. Weder
Gautier noch Diderot wären also im Stande, dieser Aufgabe zu genügen,
ohne die Mithilfe des , Licht' und der .Christlichen Welt'. Und Goethe
ist tot und hat den Dorian Oray nicht gekannt I Ich weiß nicht, wer
mehr zu bedauern ist, der deutsche Kritiker oder der englische Moralist.
Aber Herr Wilde hat den bedauernswerten Umstand in bestmöglicher
Weise korrigiert : da kein Goethe da ist, um ihm Beifall zu spenden,
ist er unermüdlich in der öffentlichen Belobung seines eigenen Werkes.
Ein Herr J. E. Brown untersucht, ob Wilde im »Dorian Gray«
mit Kabelais oder mit Swift zu vergleichen sei, und verneint beides. Er
findet ihn näher zu Zola in Bezug auf die Wahl eines abstoßenden
Stoffes und in Bezug auf seine moralisierende Absicht, stellt aber Zola
viel höher und führt insbesondere *La Terre« als Beispiel der kraft-
vollen Behandlung eines häßlichen Gegenstandes an. Er fährt dann fort:
Ich bin überzeugt, er meint es gut. Er ist ebenso
■*) Etwa: Frau Klatschbase, Sinnbild der urteilslosen Menge.
Anm. d. •bers
18
moralisch wie Zola; «mer Ihrer Korrespondenten hat ja, glaube ich,
bereits hervorgehoben, daß die Moral die starke Seite Wildes ist, und
ich stimme diesem Urteil vollkommen zu. Die Moral ist in der Tat
seine starke Seite, aber ich glaube nicht, daß die Kunst es ist. Darin
rag: Zola weit über ihn hinaus. Zola ist eine starke Natur, Wilde nicht.
Zola meistert seinen Stoff — kann man das auch von Wilde sagen?
Schriftsteller sollten sich in folgender Weise befragen oder sich befragen
lassen: Bist du Rabelaisisch? Dann lache sein lautes, derbes Lachen
über alles dies, und Qott befohlen! Bist du Swiftisch? Kannst du auf
diesem furchtbar gefährlichen Seil tanzen, ohne zu stürzen? Bist du
realistisch, Zolaisch? Ein Mann von dem Bau Zolas kann sich mit
seinen Bauern in den Morast priapischer Scheußlichkeit legen und sich
als ein Riese wieder daraus erheben. Nichts davon ist in ihn einge-
drungen. Aber schwächere Menschen, welkere Menschen, weichere,
durchlässigere Menschen - ist es geraten für sie, dasselbe zu wagen?
Künstler müssen auf sich Acht haben : der Künstler hat ein moralisches
Qefühl, und er muß es behüten, je ängstlicher, desto besser, wenn er
nicht zu den wenigen Allergrößten zählt.
*
Ein mit >H.< unterschriebener Brief polemisiert gegen die von
Charles Whibley in seiner Zuschrift aufgestellte Forderung, der Kritiker
solle nur die künstlerische Qestaltung des Gegenstandes beurteilen und
den Qegcnstand selbst außer Acht lassen. «H.« erklärt dies für un-
möglich, da der Gegenstand sich dem Kritiker ebenso aufdränge wie
seine Behandlung. Dann kommt folgende Stelle:
Nehmen wir an, ein außerordentlich begabter Sänger trüge bei
einem Konzert >God save Ireland« ungemein schön vor. Nach Herrn
Whibley müßte die Kritik lauten: »Herr Jones sang eine Ballade, die
seine herrliche Stimme und seinen wunderbaren Vortrag in schönstem
Lichte zeigte. Sein hohes / ist von außerordentlicher Reinheit, und seine
tiefen Töne klangen unendlich weich und sonor«.*) — Nach meiner
Ansicht müßte ein richtiger Kritiker sagen: »Dann begann Herr Jones
uns einige miserable Verse über drei feige Mörder vorzusingen. Jeder
anständige Mensch im Publikum verließ sofort den Saal. Die Konzert-
leitung verdient schärfsten Tadel, daß sie zugab, daß das Auditorium
durch diesen schändlichen und verräterischen Vortrag beleidigt werde.«
Zum Schlüsse faßt >H.« seine Ansicht dahin zusammen, der
Kritiker habe selbstverständlich zuvörderst die Aufgabe, auf Kunstfehler
tadelnd hinzuweisen, aber das enthebe ihn nicht der Pflicht, »Verbrechen,
Roheit, Radikalismus (sie!) und Obszönität« zu verdammen, wo er
sie finde.
Ein Herr J. Mac Laren Cobban schreibt:
*) »God save Ireland« ist ein irisches Kampflied, das drei
politische Mörder glorifiziert, und es ist auf den Durchschnittsengländer
berechnete grimmigste Ironie von Seite »H.s«, eine solche Kritik für
möglich zu halten. Zu erinnern ist auch, daß Wilde Irländer war.
Anrn. d. Übers.
19 -
In der Kontroverse, die sich in den Spalten ihres Blattes eni
wickelt hat, hat nur einer der Beteiligten den Versuch gemacht, schö-
pferisch zu sein. Dieser eine ist Herr Oskar Wilde, und sein Beitrag 2u
der Diskussion besteht nur aus einem unverschämten Paradoxon. Die
verschiedenen Kritiker haben einander mit der Ochsenblase lustig und
unermüdlich über den Kopf gehauen, daß es nur so knallte. Wozu der
Lärm? muß man fragen. Denn es will mir scheinen, daß sie alle in
ihrer Weise recht haben; der Unterschied zwischen ihnen beruht ledig-
lich auf dem Unterschied der Gesichtspunkte, und der Streit wurzelt
nur darin, daß jeder von ihnen darauf besteht, nur einen Gesichtspunkt
gelten zu lassen. Das ist aber weder weise noch förderlich. Es gibt,
hat immer gegeben und wird zweifellos immer geben, drei Gesichts-
punkte, von denen aus ein Kunstwerk beurteilt wird: 1. Der des
Künstlers. 2. Der des Kritikers. 3. Der des Publikums. Der Standpunkt
des Künstlers und der des Publikums waren immer ziemlich stabil; der
des Kritikers schwankt zwischen beiden und nähert sich zuweilen bis
auf eine kaum merkbare Entfernung dem einen oder dem andern. Der
Künstler hat stets das Recht gefordert, seinen Gegenstand zu nehmen,
wo er ihn fand. Das ist sehr berechtigt von seinem Standpunkte aus,
und je mehr er Künstler ist, desto mehr findet er, daß das Wichtigste
in seiner Kunst und in der Kunst anderer nicht der Stoff sondern seine
Gestaltung ist: diese ist es, die seine ganze Aufmerksamkeit und seine
ganze Kraft in Anspruch nimmt. Das Publikum seinerseits beurteilt ein
Kunstwerk vollkommen natürlicherweise nach dem einzigen Werte, den
es schätzen kann, nämlich nach der Wirkung auf sich selbst. Wenn das
Publikum von einem Buch, einem Stück, einem Bild getroffen, gepackt
wird, wenn es zum Lachen oder Weinen, zum Mitleid oder zum Mora-
lisieren gebracht, wenn es unterhalten oder erregt wird, dann nennt es
das Buch, das Stück oder das Bild »gut<. Wie das Buch, das Stück,
das Bild es angestellt haben, diese Wirkung hervorzubringen, das weiß
es nicht, und danach fragt es nicht. > Stoff« und »Gestaltung«, alle
die theoretischen Streitfragen der Kunst, sind ihm ebenso gleichgiltig,
und mit vollem Recht; denn Kaufen und Verkaufen, Erfolg und Miß-
erfolg, Liebe und Heirat, das sind die Dinge, die es vor allem beschäf-
tigen, und nicht die Kunst. Zwischen den beiden Extremen, Künstler
und Publikum, bewegt sich dann der Berufskritiker und einige wenige
Menschen aus dem Publikum, die ich Amateure nennen will. Diese,
Kritiker und Amateure, haben nicht die intime oder esoterische Sach-
kenntnis des Künstlers, aber sie interessieren sich für die Kunst, und sie
haben einen gewissen Geschmack und ein gewisses Urteil, mit deren
Hilfe sie als Interpreten zwischen Künstler und Publikum auftreten. Aber
es ist natürlich und unvermeidlich, daß auch sie ihre eigene Meinung
haben. Auch sie haben noch andere Interessen im Leben als die Kunst,
und ihnen wird nicht wie dem Künstler das Gefühl der überragenden
Wichtigkeit der Gestaltung durch den täglichen Kampf mit ihren
Schwierigkeiten aufgezwungen. Wenn ihnen also ein Kunstwerk gefällt oder
mißfällt, so legen sie die Ursachen davon In einer Weise dar, wie es
der Künstler nicht tun würde, und nähern sich dabei bald mehr dem
Standpunkt des Künstlers, bald dem des Publikums, je nach Ihrem
20 —
Temperament, üeschmack und Verständnis. Sie bringen Erwägungen
vor, die, wir dürfen nicht sagen, der Kunst, aber der Anschauung
des Künstlers von der Kunst fremd sind; sie erheben Anklagen wegen
Unmoralität, und der Künstler ist erstaunt, wenn nicht erzürnt. Denn für
den Künstler als Künstler gibt es nur eine Art der Unmoralität : schlechte
Kunst, das heißt, schlechte Gestaltung des Stoffes.
Ich will jedoch nicht mit dem Kritiker rechten, obgleich
er, wie mir scheinen will, mit seinen Erörterungen über die Kunst einen
großen Teil der Aufmerksamkeit absorbiert, die besser der Kunst selbst
zugewendet werden sollte. Denn die Kunst ist lang, aber die Kritik
ist länger.
Wildes dritte Erwiderung.
Geehrter HerrI
Ich bin zu meinem Bedauern nicht in der Lage,
mich mit Herrn Whibley in eine Zeitungskontroverse
über die Kunst einzulassen ; schon deshalb nicht,
weil ich nicht die Möglichkeit habe zu beurteilen,
inwieweit Herr Whibley die Befähigung zur Diskussion
eines so wichtigen Gegenstandes besitzt. Ich habe
von seiner Zuschrift nur Notiz genommen, weil er
— wie ich überzeugt bin, ohne jede Absicht — eine
Vermutung über meine persönlichen Gefühle aus-
sprach, die ganz unzutreffend war. Er sagte, es müsse
peinlich für mich sein, zu sehen, daß ein gewisser
Teil der Öffentlichkeit, bestehend aus ihm selbst und
den Kritiken einiger religiöser Zeitschriften, durchaus
das, was er »Massen von Moral« nennt, in meiner
Erzählung »Das Bildnis des Dorian Gray« finden wollte.
Da mir natürlicherweise daran liegen mußte,
Ihre Leser in einer für den Literarhistoriker so wich-
tigen Sache von der Wahrheit zu unterrichten, legte
ich in Ihren Spalten dar, daß ich jede solche Kritik
als eine sehr erfreuliche Anerkennung der ethischen
Schönheit des Buches betrachtete; und ich fügte
hinzu, ich sei vollkommen bereit zuzugeben, daß es
unbillig wäre, von jedem gewöhnlichen Kritiker zu
verlangen, daß er ein Kunstwerk von jedem Gesichts-
punkte aus zu würdigen wisse. Ich bin nach wie
vor dieser Ansicht. Wenn jemand die künstlerische
Schönheit einer Sache sieht, wird er sich vermutlich
wenig um ihre moralische Bedeutung kümmern; ist
21 —
aber seine Natur empfänglicher für die ethischen als
für die ästhetischen Wirkungen, so wird er kein Interesse
für Stil, Behandlung des Gegenstandes und der-
gleichen haben. Es bedarf eines Goethe, um ein
Kunstwerk ganz, vollkommen und allseitig zu be-
trachten, und inh stimme Herrn Whibley durchaus
zu, wenn er sagt, es sei schade, daß Goethe den
Dorian Gray nicht gelesen hat. Ich bin ganz überzeugt,
daß er davon entzückt gewesen wäre, und ich kann
nur hoffen, daß ein schattenhafter Verleger eben jetzt
eine Geisterausgabe davon in den Elysäischen Ge-
filden verteilt, und daß der Einband des Exemplares,
das Gautier in die Hand bekommt, mit vergoldeten
Affodilen überstreut ist.
Sie könnten die Präge stellen, warum mir daran
liegen sollte, daß die ethische Schönheit meiner Er-
zählung anerkannt werde. Darauf erwidere ich: ein-
fach deshalb, weil sie existiert, weil sie darin ist.
Die hervorragendste Eigenschaft von >Madame Bo-
vary< ist nicht die Morallehre, die darin zu finden
ist, ebenso wenig wie die hervorragendste Eigenschaft
des »Salammbo« die Altertumskunde ist, die es ent-
hält. Aber Flaubert war vollkommen im Rechte, wenn
er die Unwissenheit derjenigen bewies, die das eine
Werk ab unmoralisch, das andere als unrichtig bezeich-
neten. Und nicht nur war er im Rechte im gewöhn-
lichen Sinne des Wortes, sondern er war künstlerisch
im Rechte, was das Entscheidende ist. Der Kritiker
hat das Publikum zu belehren; der Künstler hat den
Kritiker zu belehren.
Gestatten Sie mir noch eine kleine Richtig-
stellung, und dann nehme ich Abschied von Herrn
Whibley. Er schließt seine Zuschrift mit der
Bemerkung, ich sei unermüdlich in der Öffentlichen
Belobung meines Werkes. Ich zweifle nicht, daß er
mir damit eine Schmeichelei sagen wollte, aber er
überschätzt wirklich meine Fähigkeit ebenso wie
meine Lust zur Arbeit. Ich muß offen gestehen, daß
ich durch Anlage ebensosehr wie durch Wahl außer-
22
ordentlich träge bin. Kultivierter Müßigang scheint
mir die angemessenste Beschäftigung des Menschen.
Zeitungskontroversen jeder Art sind mir zuwider,
und unter den zweihundertundsechzehn Kritiken des
»Dorian Gray«, die von meinem Schreibtisch in den
Papierkorb gewandert sind, habe ich nur von dreien
öffentlich Notiz genommen. Eine davon war die im
,Scots Observer' erschienene. Ich reagierte darauf,
weil sie dem Autor eine Absicht bei Verfassung des
Buches unterschob, die berichtigt werden mußte. Die
zweite war ein Artikel in der ,St. Jamets's Gazette*.
Er war beleidigend und ungeschlacht und schien mir
eine sofortige Zurechtweisung zu erheischen. Der Ton
des Artikels war eine Unverschämtheit gegen jeden
Schriftsteller. Die dritte war ein schwächlicher An-
griff in einem Blatte, das ,The Daily Chronicle*
heißt. Ich glaube, daß ich an den , Daily Chronicle'
schrieb, war eine Handlung puren Übermuts. Ja, ganz
sicher war es das. Ich weiß absolut nicht mehr, was
in der Kritik stand. Wenn ich nicht irre, hieß es
dort, der Dorian Gray sei giftig, und ich glaube, ich
hielt es für höflich, aus Gründen der Alliteration
darauf hinzuweisen, daß er auf alle Fälle auch genial
sei. Das war alles. Die übrigen zweihundertdreizehn
Kritiken habe ich nicht beachtet. Ja, ich habe kaum
die Hälfte davon gelesen. Es ist sehr betrüblich, aber
man wird selbst des Lobes überdrüssig.
Was nun die Zuschrift des Herrn Brown betrifft,
so ist sie nur insoferne interessant, als sie einen Be-
weis für die Wahrheit dessen bietet, was ich oben
über die Stellung der beiden Hauptarten der Kritik
zueinander gesagt habe. Herr Brown sagt oflvn, daß
er die Moral die »starke Seite« meiner Erzählung
finde. Herr Brown meint es gut und hat eine halbe
Wahrheit gefunden, wenn er es aber dann unter-
nimmt, das Buch vom künstlerischen Standpunkt zu
behandeln, geht er natürlich weit in die Irre. Den
»Dorian Gray« auf eine Linie mit Zolas »La Terre<
zu stellen ist ebenso töricht, als ob man Mussets
23
»Fortunio* auf eine Linie mit den Melodramen des
Adelphitheaters stellen wollte. Herr Brown sollte es
bei der sittlichen Beurteilung bewenden lassen; da
ist er unbesieglich.
Herr Cobban beginnt unglücklich, indem er
meinen Brief, worin ich Herrn Whibley in Bezug auf
eine Tatsache berichtigte, ein »unverschämtes Para-
doxon* nennt. Der Ausdruck »unverschämt* ist nicht
verständlich, und der Ausdruck »Paradoxon* ist
unangebracht. Es will mir leider scheinen, als ob
das Schreiben an Zeitungen einen zerstörenden
Einfluß auf den Stil hätte. Die Leute werden heftig,
geraten ins Schimpfen und verlieren alles Gefühl für
Proportion, wenn sie die seltsame journalistische Arena
betreten, in welcher stets der Lärmendste das Rennen
gewinnt. »Unverschämtes Paradoxon* ist nun aller-
dings weder heftig, noch beschimpfend, aber es ist
ein Ausdruck, der für meinen Brief nicht hätte ge-
braucht werden sollen. Herr Cobban tut jedoch als-
bald Buße für das, was offenbar nur ein Mißgriff der
Manieren war, indem er das unverschämte Paradoxon
als sein eigen adoptiert und auseinandersetzt, daß,
wie ich vorher gesagt hätte, der Künstler ein Werk
stets nur vom Standpunkt der Schönheit und der
Behandlung der Form betrachte, und daß die, die
keinen Schönheitssinn hätten, oder deren Schönheits-
sinn durch ethische Anforderungen in den Hinter-
grund gedrängt werde, ihre Aufmerksamkeit vor allem
dem Stoffe zuwendeten und die moralische Wirkung
als den Prüfstein für den Wert des Gedichtes oder
des Romanes oder des Bildes ansähen, das sie zu be-
urteilen hätten, während der Zeitungskritiker bald
den einen und bald den andern Standpunkt einnehme,
je nachdem er kultiviert oder unkultiviert sei. Kurz,
Herr Cobban münzt mein unverschämtes Paradoxon
in eine platte Wahrheit um, und ich glaube, er tut
damit ein nützliches Werk. Das englische Publikum
liebt die Plattheit und sieht es gern, wenn man ihm
die Dinge in platter Weise erklärt. Herr Cobban be-
— 24
dauert, wie ich überzeugt bin, bereits den mißlungenen
Ausdruck, mit dem er debütierte, ich will also nichts
mehr darüber sagen. Soweit ich in Betracht komme,
ist ihm vollkommen vergeben.
Und indem ich nun von dem ,Scots Observer'
Abschied nehme, fühle ich mich gedrängt Ihnen, Herr
Redakteur, ein offenes Geständnis abzulegen. Ein
guter Freund von mir, ein geistvoller und hervor-
ragender Schriftsteller, der auch Ihnen persönlich
nicht unbekannt ist, sprach die Vermutung aus, daß in
dieser furchtbaren Polemik in Wirklichkeit nur zwei
Personen einander gegenüber gestanden hätten, und
daß diese zwei Personen der Herausgeber des ,Scots
Observer* und der Verfasser des »Dorian Gray« seien.
Noch heute Abend beim Diner, während wir bei
einer Flasche vortrefflichen Chianiis saßen, behaup-
tete mein Freund ganz zuversichtlich, daß Sie unter
angenommenen und geheimnisvollen Namen einfach
nur den Ansichten der halbgebildeten Klassen unse-
rer Stadt dramatischen Ausdruck gegeben hätten,
und daß die mit »H« gezeichneten Briefe nur Ihre
witzige, wenn auch etwas bittere Karikatur des Phi-
listers darstellten, so, als ob er sie selbst gezeichnet
hätte. Ich muß gestehen, daß ich selbst etwas Ähn-
liches gedacht habe, als ich »H«s ersten Brief las,
— den, worin er dafür eintritt, daß der Maßstab für
die Kunst durch die politische Überzeugung des
Künstlers gegeben werden sollte, und daß, wenn
man mit dem Künstler über die beste Art Irland
schlecht zu regieren verschiedener Meinung sei, man
verpflichtet sein solle, sein Werk schlecht zu finden.
Es gibt jedoch so unzählig viele Abarten des Phi-
listers, und Nordengland hat einen solchen fest-
begründeten Ruf der Ernsthaftigkeit, daß ich den
Gedanken als einen des Herausgebers eines schotti-
schen Blattes unwürdigen wieder verwarf. Ich fürchte
aber nun fast, daß ich darin unrichtig urteilte, und
daß Sie sich die ganze Zeit her damit unterhalten
haben, kleine Puppen zu erfinden und sie zu lehren,
2ö
große Worte au gebrauchen. Nun, geehrter Herr,
wenn es so ist, — und mein Freund behauptet eg
steif und fest — so gestatten Sie mir, Sie zu der
Geschicklichkeit zu beglückwünschen, mit der Sie
sich jenen Mangel an künstlerischem Stil angeeignet
haben, der, wie man mir sagt, unerläßlich ist für
jede dramatische und lebenswahre Charakterisierung.
Ich gestehe, daß ich vollständig getäuscht wurde ;
aber ich trage Ihnen nichts nach, und da Sie sich
zweifellos weidlich ins Fäustchen gelacht haben, so
gestatten Sie mir, nun laut in das Lachen mit ein-
zustimmen, wenn es auch ein wenig auf meine
Kosten geschieht. Eine Komödie ist zu Ende, wenn
das Geheimnis verraten ist. Lassen Sie den Vorhang
fallen und legen Sie Ihre Puppen zu Bett. Ich liebe
den Don Quixote, aber ich habe kein Verlangen län-
ger mit Marionetten zu kämpfen, wie geschickt auch
die Meisterhand sei, die die Drähte regiert. Lassen
Sie sie in die Schublade zurückkehren, wohin sie
gehören. Zu einer künftigen Gelegenheit mögen Sie
ihnen neue Etiketten aufkleben und sie zu unserer
Unterhaltung wieder auftreten lassen. Sie bilden eine
treffliche Truppe und machen ihre Kunststückchen
vorzüglich, und wenn sie ein wenig unwirklich sind,
so bin ich nicht derjenige, der gegen Unwirklich-
keit in der Kunst etwas einzuwenden hat. Der Spaß
war wirklich gut. Das einzige, was ich nicht ver-
stehe, ist, warum Sie Ihren Marionetten solche außer-
gewöhnliche und unwahrscheinliche Namen gegeben
haben.
Ich bin, geehrter Herr, Ihr sehr ergebener
0. W.
16, Tite Street, Chelsea, 13. August 1890.
>i+-i'i
26
Glossen.
Dreiviertel Stunden lang sah ich einen Mann auf der Straße
in epileptischen Krämpfen sich winden, ehe der Wagen der telt phonisch
berufenen Freiwilligen Rettungsgesellschaft kam. Da die Humanität
zu jeder Minute des Tages und der Nacht funktioniert, so ist es
wahrscheinlich, daß sie damals mehrfach vergeben war. Wahrschein-
lich ist aber auch, daß die Aussicht auf den Segen der Presse und des
Papstes Samariterwerke zu beschleunigen vermag. Denn bis Catania
ist immerhin weiter als bis zum Schwarzenbergplatz, und wiewohl
der Transport auf den italienischen Bahnen gestört war, kam die
Barmherzigkeit ans Ziel und wiewohl der telegraphische Verkehr
erschwert war, haben wir überreichliche Kenntnis von den Wundern
jener ausgekochten Nächstenliebe erhalten, die Herr Dr. Charas
auf den Trümmern der sizilischen Städte verrichtet hat. Qewiß
wäre diese Rettungsaktion auch unternommen worden, wenn ihre
Veranstalter, vor allem jener Herr, von dem sich das Wort Charitas
direkt herzuleiten scheint, rechtzeitig erfahren hätten, daß die
telegraphische Verbindung zwischen Catania und Wien für alle
Zeiten abgebrochen sei. Die Selbstlosigkeit hätte sich auch betä-
tigt, wenn sie erst nach Wochen Gelegenheit gehabt hätte, in einem
Vortragsabend von sich zu sprechen. Immerhin hätte uns ihr aus-
drücklicher Verzicht auf den Segen des Papstes und auf jede Mög-
lichkeit, auch nur in absehbarer Zeit mit einem Orden belohnt zu
werden, noch mehr imponiert als ihr Werk. Die Freiwillige Ret-
tungsgesellschaft ist eine Unternehmen, gegen das selbst vom
Standpunkt der Inhumanität nicht das geringste einzuwenden ist.
Nur beachte man den Unterschied zwischen ihr und einer Freiwilligen
Feuerwehr. Der Rettungsgescllschaft gegenüber hat man sich so sehr
ein- für allemal auf die Vorstellung des Samaritertunis festgelegt,
daß man das unaufhörliche und plötzliche Erscheinen ihres Chefarztes
in der Lokalrubrik der Zeitungen für die Vorzüge ihres Betriebs
hält. Der Rettungsbetrieb würde zwar in jedem Fall die öffentliche
Anerkennung verdienen, aber er müßte mit dem Betrieb der Popu-
larität annähernd gleichen Schritt halten, um sein Verdienst nicht zu
kompromittieren. Allerhand Hochachtung vor den Samaritern, aber
wenn ihre Eile den Eindruck macht, daß nicht sie dem Unglück,
sondern das Unglück ihnen wie gerufen kommt, dann laufen sie
Oefahr, daß man sie für Ästheten hält. Und die Peinlichkeit dieses
Eindrucks wird vermehrt, w«nn die Ansichten der Verunglückten
27
über den Wert der Hilfeleistung geteilt sind. Aus den divergieren-
den Darstellungen der italienischen Presse geht nicht ganz klar her-
vor, ob der politische Haß oder bloß die Abneigung gegen die Wiener
Mehlspeisen die Begeisterung der Italiener für die Wohltat der
Feldküchen gedämpft hat. Ich stelle es mir ja. besonders gräulich
vor, wenn ein Catanier Maccaroni verlangt - was er übrigens
auch in erdbebenlosen Zeiten zu jeder Stunde des Tages und
gegenüber jedermann tut — , und Herr Charas antwortet: Be-
daure, kann nicht mehr dienen; oder wenn ein Catanier
Wiener Maccaroni verschmäht und Herr Charas ihn trotz-
dem fragt: Schon bestellt, bitte? Immerhin, der Chefarzt der
Rettungsgesellschaft mag recht haben, wenn er die Angriffe der
italienischen Blätter als lügenhaft bezeichnet und den Interviewern
versichert, die Leute hätten die Erzeugnisse der Feldküchen
»geradezu verschlungen«. Aber die Ärzte, deren Kollege der Mann
ist, sagen, der Erfolg, daß den Cataniern die Wiener Maccaroni
nicht in der Kehle stecken geblieben sind, sei der Ruhm eines
Kochs, vielleicht der eines Kellners, aber gewiß nicht der eines
Arztes. Und sie nehmen es übel, daß in Sizilien die Wiener
Speisesitten selbst bis zu jenem Punkt konsequent befolgt
wurden, wo das unvermeidliche Trinkgeld die Mühe der
Servierung lohnt.
*
Herrn Dr. Charas gehts gut; aber schon seit mindestens zwei
Wochen war in der Presse nicht von Herrn Professor Noorden die
Rede. Darum sei wenigstens hier seines Werkes »Die Zuckerkrankeit
und ihre Behandlung« (Berlin, 1907; gedacht, und auf die Seiten 206
und 207 verwiesen, wo »allgemeine prognostische Anhaltspunkte«
verzeichnet werden. Da es sich um ein wissenschaftliches Werk han-
delt, so hat der Verfasser recht getan, unterden »günstigen« Anhalts-
punkten als 11.: »gute äußere Lebensverhältnisse« anzuführen,
während er ausdrücklich unter den ungünstigen Anhaltspunkten
als 6.: »ungünstige äußere Lebensverhältnisse« bezeichnet. Leider
hat Herr Noorden es verabsäumt, die besonderen Wirkungen eines
schlechten Ultimo auf die Zuckerkrankheit anzuführen und
die günstigen Folgen eines Konkurses. Es versteht sich von selbst,
daß die Klienten des Herrn Noorden sich ausschließlich aus jenen
Kreisen rekrutieren, in denen von ungünstigen prognostischen
Anhaltspunkten nicht die Rede sein kann. Selbstredend! Das
28 -
Oeschäft floriert an allen Enden, seitdem es sich mit der Wissen-
schaft assoziiert hat. Ein hoher Perzentsatz bei Zuckerkrankheit
führt zu Stoff Wechselprolongierungen, und wenns gut geht, zu jenen
Finanzoperationen, die in den Sanatorien ausgeführt werden.
* *
*
Ernst von Wildenbruch ist tot, und war gewiß ein ehren-
werter Mann. Aber aus einer Danksagung seiner Oattin ersehe
ich, daß ihn >das deutsche Volk in Weimar neben unseren Dichter-
fürsten bestattet« hat. Die Rücksicht gegenüber Toten ist eine
Forderung, die man schließlich auch den früher Verstorbenen
gegenüber erfüllen soll. Herr von Wildenbruch hat die
»Rabensteinerin« geschrieben. Das läßt sich nicht aus der
Welt schaffen. Aber seine Angehörigen sollten öffentlich Verwah-
rung dagegen einlegen, daß die .Phonographische Zeitschrift'
(Berlin) behauptet, Herr v. Wildenbruch habe einmal »in einer
besonderen Dichtung« eine Walze besprochen, und daß sie deren
Vervielfältigung anregt. Die Dichtung, die ihm unterschoben wird,
endet nämlich mit den Versen :
Darum erscheint mir der Phonograph
Als der Seele wahrhafter Photograph,
Der das Verborg'ne zutage bringt
Und das Vergang'ne zu reden zwingt.
Vernehmt denn aus dem Klang von diesem Spruch
Die Seele von Ernst von Wildenbruch.
* *
Im Blätterwald so für mich hinzugehen und nichts als Stilblüten
zu suchen, ist längst nicht mein Pläsier. Ich möchte sagen, es ist
eine Aufgabe, wie wenn man Wasser in ein — nun, wie sagte
die ,Neue Freie Presse' kürzlich? »Wie wenn man Wasser in ein
hohles Faß schöpfen wollte«.
* *
*
Dagegen mag es noch hin und wieder interessant sein, die
Unabhängigkeit der kritischen Meinung zu bewundern. Ein Variet£-
direktor beklagte sich beim Administrator des Blattes über die un-
günstigen Referate. Die Antwort war: »Wozu laden Sie überhaupt
den Burschen ein, der bei uns das Ressort hat? An mich wenden
Sie sich das nächste Mal!« Jetzt hat der Direktor Ruhe, schreibt sein
Referat und zahlt gern ein paar Oulden für die Erfahrung, wie
sehr noch immer das Lob der ,Neuen Freien Presse' dem Publikum
w
imponiert. Die Redaktion würde ihren Kritikern gewiß keine Mei-
nung vorschreiben. Sie bewahren ihre Unabhängigkeit, nur dürfen
sie sie nicht betätigen. Sonst passiert zwischen Morgen- und
Abendblatt, was kürzlich, am 20. Jänner, passiert ist. Es hatte eine
Matinee für die Erdbebenopfer von Messina gegeben. Aber ein
Unglück kommt selten allein. Der Musikkritiker schrieb das
Urteil nieder, ein Pianist habe »auf einem von der Bühne herab
schlecht klingenden Klavier mtt feurigem Schwung zwei Stücke
von Chopin und Liszt gespielt«. Das war im Morgenblatt. Wer
beschreibt seine Überraschung, als er schon im Abendblatt die
folgende Notiz las: »Bei dem gestern im Theater an der Wien
veranstalteten Konzert des Wiener Tonkünstlerorchesters erregte
der Ton des herrlichen Steinwayf lügels, welcher von der Firma
in uneigennützigster Weise kostenlos beigestellt wurde, allseitige
Bewunderung«. Nicht alles wird freilich kostenlos beigestellt. Aber
den Musikkritiker freute seine ganze schöne Unabhängigkeit nicht
mehr. In ein paar Minuten war sie zerstört wie die Stadt, zu deren
Gunsten er das Klavier getadelt hatte. Was ist der Mensch ! Ich
habe das tiefste Mitgefühl für diese armen Teufel von Kunstbürgern,
die auf schwankem Grunde ihre Hütten bauen. Immer wieder
nehmen sie den Kampf mit den Elementen auf, aber ein administra-
tiver Ruck, und der feuerspeiende Benedikt macht allem organi-
schen Leben ein Ende. Es gibt nämlich Erdbebeninteressenten.
* *
Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein. Eine Kata-
strophe kann auch wieder allen Beteiligten Gewinn bringen. Wohl-
tätig ist des Feuers Macht, wenn der Brand eines Teppichhauses
diesem zum Ruhme und den Zeitungen zu Aufträgen ver-
hilft. Brennts bei Schein, so ist der Schein des Brandes wochen-
lang sichtbar, die Presse ist die freie Tochter der Natur, wehe,
wenn sie losgelassen, flackernd steigt die Feuerkolumne und im
Textteil werden die schönsten Brandberichte veröffeni licht. Tief
erschüttert las mar. und las, bis man allmählich meikte, daß das
Feuer von den Inseratenagenten gelegt und von den Reportern
gelöscht worden war. Man wunderte sich nun nicht mehr,
daß es gelungen war, eine Ausbreitung des Brandes auf die
benachbarten Geschäftshäuser zu verhüten: sie hatten nicht
inseriert. Überraschend war immerhin eines. Daß durch ein Brand-
unglück reichlich hereingebracht werden kann, was durch
90 -
ein Brandunglück verloren wurde, verstand man. Daß aber nicht
nur die Presse, sondern auch die Feuerwehr zur Löschung
des Reklamedurstes herangezogen wird, ist verblüffend. »Die
Wiener Feuerwehr besitzt von dem Teppichhaus S. Schein genaue
Piäne, und die Funktionäre und Kommandanten der Wiener
Feuerwehr, sämtliche langjährige Kunden dieser Firma, kennen
sowohl durch ihre Amtstätigkeit als auch durch ihre häufigen
Besuche als Kunden alle Räume des Teppich- und Möbelhauses
in- und auswendig, Kenntnisse, die ihnen natürlich in diesem
Falle sehr zu statten kamen.« Daran erkennt man die Vorteile
eines Einkaufes bei Schein. Wenn man zufällig Feueiwehr-
mann ist und wenns einmal brennt, so hat man es nicht
zu bereuen, daß man dort eingekauft hat. Die Leistungsfähigkeit
der Feuerwehr läßt sich an der Menge der geretteten Waren
messen. Was aber bedeutet sie gegenüber der Leistungsfähigkeit
der Firma? Für diese sprechen »die großen vernichteten Roh-
materialmengen«. Nicht jede Firma kann von sich sagen, daß
»6 Ballen Wolle für Steppdecken, billiger Qualität, enorme Quan-
titäten der feinsten Daunen für Plumeaux und Polster, 16 Ballen
Roßhaar für Matratzen und Polstermöbel, sehr große Quantitäten
verkupferter bester Tapeziererstahlfedern für Polstermöbel und
zahllose Sorten von Schleißfedern für billigere Bettwaren ein Raub
der Flammen wurden«. War man nicht versichert? Und wie!
»Der gerettete Teil wurde von der Feuerwehr auf die Straße ge-
worfen und von den Versicherungsgesellschaften, die einer Firma
von dem Renommee des Teppich- und Möbelhauses S. Schein die
Verarbeitung selbst auch nur teilweise naß gewordener oder an-
gerauchter Materialien gar nicht zumuten, in vielen Wagenladun-
gen von der Straße weg in die Lagermagazine geführt, wo diese
Materialien an Händler abgegeben wurden«. Nun handelt es sich nur
noch um solche Waren, »die, ohne beschädigt zu sein, einen Oeruch
erhielten, der sich jedoch bereits nahezu verloren hat«. Da aber
eine Firma von dem Renommee dieser Firma solche Waren regu-
lär nicht verkauft, so bietet sich - nun, was bietet sich, wenn
eine Stätte leergebrannt ist und wenn der Mensch fröhlich dann
zur Annonzentabelle greift? Ein Anblick? Nein, etwas ganz an-
deres. Was Feuers Wut ihm auch geraubt, ein süßer Trost ist
ihm geblieben: Es bietet sich eine nicht wiederkehrende Gelegen-
heit zum Einkauf.
31 -
Die Diskretion der bürgerlichen Presse berichtet über einen
Skandal, den sie sich nicht entgehen lassen kann, etwa so: »Der
Großindustrielle hatte eine verheiratete Frau kennen gelernt . . . Der
Großindustrielle veranlaßte sie, sich von ihrem Gatten scheiden zu
lassen ... Sie tat es . . . Inzwischen war aber in dem Großindustriellen
eine merkwürdige Wandlung vor sich gegangen . . . Der Groß-
industrielle ließ die Dame sitzen . . . Der Großindustrielle ant-
wortete ausweichend . . . Die Dame war lediglich das Opfer einer
flüchtigen Laune des Großindustriellen geworden ... Da ging der
Bruder der Dame, der Chemiker ist, hin und ohrfeigte den Groß-
industriellen . . . Der Chemiker entschuldigte sich beim Kaffee-
sieder wegen des Vorfalls.« So typisch gefaßt, darf der Fall zum
Nachdenken über das Seelenleben eines Großindustriellen, das
einen sonst nichts angeht, wohl anregen. Die gute Gesellschaft
erhofft inzwischen von einem Duell die Reparatur der Ehre des
Großindustriellen. Das Duell findet statt. Der Großindustrielle
erfreut sich wieder allgemeiner Hochachtung. Niemand kann dem
Großindustriellen die Ohrfeige nachsagen. Und die Dame? Ach
was, nach Jahren wird's schon einmal heißen, daß der Groß-
industrielle sich für die geschlagen hat
• *
In einer durchaus würdigen Besprechung von Thomas
»Moral« hatte der Kritiker des, Neuen Wiener Tagblatts' die Sätze:
. . . Das unterscheidet ihn von unsern Parvenüs der Satire, die plötz-
lich in ihrem öden Hirn den Hang zur Weltverbesserung entdeckt haben.
Es gibt keine Torheit, keine Verkehrtheit, keine Lächerlichkeit, keine
Mode, in die sie selbst nicht eingeschlichen sind, keine närrische Clique,
der sie sich nicht angebiedert haben — mit einemmal aber ein Ruck,
und sie fühlen sich für gesellschaftliche Satire berufen. Ihre Schriften
starren von Eitelkeit, und sie verhöhnen die kleinen Eitelkeiten andrer
Menschen. Doch man fühlt, wie fremd ihnen diese Wege sind; man
fühlt es an ihrer eigenen Überraschung, an der unnatürlichen Wucht,
mit der sie auftreten, um die innere Unsicherheit zu verbergen; man
merkt es an ihrem verdickten Humor, an der erzwungenen Lustigkeit,
an den Schweißtropfen, die von ihren Witzen fallen . . .
Hätte es der Kritiker deutlich gemacht, daß er mich mit
dieser Meinung treffen wolle, so stünde meine bessere Meinung
gegen seine, ich würde nur die Kritik der Eitelkeit unterschreiben
und hätte im Übrigen nichts gegen eine ungerechte Absicht, wenn
sie nur Absicht wäre. Was mich trifft, ist die fehlende Absicht.
Der Kritiker hat die dramatischen Dilettanten gemeint, die uns
- 32
neuesten» mit dem Nachweis belästigen, daß auch in gräflichen
Familien nicht alles so ist, wie es in den Familien des Schotten-
rings sein sollte. Er hat allerdings den Fehler begangen, die Vor-
stellung, die heute ein Angriff auf einen nichtgenannten Wiener Sa-
tiriker in bösartigen Dummköpfen erzeugt, nicht rechtzeitig zu
unterbinden, und so kam es, daß mir die Stelle vielfach ins
Haus geschickt wurde. Daß ich keinen Humor habe, solche Ver-
sicherung entschädigt viele dafür, daß der Vorwurf der Cliquen-
anbiederung selbst sie von meiner Spur ablenkt. Aber schließlich
muß man ihnen den guten Qlauben zubilligen. Sie konnten es
für die Art halten, einen Schriftsteller anzugreifen, der eben in
der Wiener Presse nicht deutlicher bezeichnet werden darf. Nun
ist nichts peinlicher als ein Angriff, der einem nicht gilt. Man
fühlt natürlich nicht, daß man getroffen ist. Aber man fühlt immer*
hin, daß man nicht getroffen ist.
Über die Wiederaufführung von »Fatinitza« schreibt ein
Theaterkritiker:
. . . Also eine veritable Suppee-Renaissance, die aus der Not
der modernen Operette eine Tugend macht. Die unlogische Operette
gewinnt in der Zelt der Versuche, das Genre zu »vertiefen«, und man
stürzt sich in den Unsinn, den eine natürlich quellende Musik ver-
gessen läßt, statt sich einem Sinn zu bequemen, dem wohl der größeren
psychologischen Wahrhaftigkeit zuliebe alle Melodie abhanden gekommen
ist. Die romantischen UnWahrscheinlichkeiten der »Fatinitza«, sie spielt
im Krimkrieg, also gewiß ein illustrativ ergiebiges Milieu, stellen sozu-
sagen die Reinkultur des Operettenunsinns dar. Unmotiviertes ereignet
sich, man singt, ohne vorher zu sagen warum man singt, und es bleibt
lediglich dem Temperament, dem Spielelan der Darsteller überlassen,
den Umschwung aller Gefühle zu motivieren, die Folge gesprochener
und gesungener Worte zu einer logischen zu machen. Keine Operetten-
psychologie kann es deuten, warum jemand, der mit einer Dame soeben
sehr angelegentlich über Privataffären gesprochen hat, ihr dieselben An
gelegenheiten noch einmal in Gesangsform auseinandersetzt, keine Psy-
chologie wird den Operettengeneral zu einer menschlichen Figur ge-
stalten können, weil, wie der Mann nur zu singen anfängt, alle Wahr-
haftigkeitsillusion verfliegt. In >Fatinitza« ist eine ganze Armee unwirk-
licher Soldaten bemüht, keine logischen Einwände aufkommen zu lassen.
Und von einer heiteren, graziösen, originellen Musik bestrahlt, siegt der
Unsinn mühelos . .
Das ist seit zehn Jahren ein eigenartiges Schauspiel, wie
sich die Wiener Publizistik zu mir stellt. Der Heroismus, mit dem
sie meinen Namen ablehnt, hat etwas Ergreifendes. Es wäre ja
M-H
gar keine Kunst, mich zu nennen. Und wie oft bietet sich nicht
ein Anlaß! Jedes Heft der .Fackel' bringt neue Ideen, die sich
für das Feuilleton, für Glossen und Notizen, für die Kritik von
Kunst und Gesellschaft famos abplatten lassen. Es ist oft sehr
schwer, meinen Namen nicht zu nennen, aber die Wiener Presse
weiß sich zu beherrschen, und das macht ihre Größe aus. Da
habe ich neulich etwas zur Ästhetik der Operette geschrieben —
hastdunichtgeseh'n, steht es in einer Theaternotiz. Morgen vielleicht
in einem Essay. Erscheint dieser dann in einem Buch, so wird
die Originalität solcher Ideen gelobt werden, und von meinem
eigenen Buch erfahren ja die Leser nichts. Die Presse ist in der
Tat oft schon nahe daran, meinen Namen zu nennen, immer glaubt
der Leser, jetzt, in der nächsten Zeile müsse er kommen. Aber
eine eiserne Willenskraft bewahrt die spröde Schöne vor dem
Äußersten, und sie knöpft mir bloß das Geld ab. Es ist, als ob
ihr Nachdruck nur ohne Quellenangabe gestattet wäre. Ein Blatt
aber, in dem meine moralsatirische Betrachtung tagtäglich den
Glossenschreibern hilft, tut noch ein übriges. Es streicht sogar meinen
Namen aus dem Inhalt einer deutschen Zeitschrift, den es abdruckt.
Eigentlich behagt mir dieser Zustand. Es wäre ja scheußlich,
wenn man mich wie alle anderen zeitgenössischen Schriftsteller
mit Reklame dafür entschädigen müßte, daß man keine Ge-
danken von mir nehmen kann.
+
Wir glauben noch immer, das Unmögliche sei nicht mög-
lich. Aber neulich lasen wir in einem Blatte, das allerdings erst
erscheint, wenns schon finster wird, ein Referat über einen Vor-
trag, das die folgende Stelle enthielt:
». . . Und nun entwickelte der Vortragende eine Historie des Tanzes ;
man vernahm erstaunt, daß diese fröhliche graziöse Kunst ebenso eine
Qeschlchte habe, wie eine andere Kunst und daß sie ebenfalls Gegen-
stand ernsten Studiums sein könne. Der erste Tanz, der sogenannte
Promenadentanz, entstand zu Florenz im 15. Jahrhundert; es tanzte ein
Paar durch den Saal, während die übrige Gesellschaft bewundernd zusah. «
Und wann wurde das Schreiben erfunden? Man wird er-
staunt vernehmen, daß auch diese fröhliche graziöse Kunst ihre
Qeschichte habe, aber bedauern, daß sie nicht ebenfalls Gegenstand
ernsten Studiums sei. Denn der erste Artikel, das sogenannte Feuil-
leton, entstand zu Wien im 19. Jahrhundert; ein Schmock
schrieb, während das Publikum bewundernd zusah.
— H4
Dar folgende »Offene Brief an Herrn Ludwig Karpath«,
der von der gesamten Wiener Presse unterdrückt worden ist,
wird mir vom Verfasser zugesendet. Er ist an einen Wiener Musik-
reporter gerichtet, der kürzlich in einem Konzert demonstriert
und bald darauf in einem Feuilleton Wildes »Salome« ohne die
Musik des Herrn Richard Strauß »abstoßend« gefunden hat:
Sie schreiben in den .Signalen' vom 6. Jänner 1909 :
»Noch wäre die Aufführung eines neuen Streichquartetts von Arnold
Schönberg zu erwähnen. Ich beschränke mich auf die Konstatierung, daß es
zu einem heillosen Skandale kam, wie ein solcher in einem Wiener Kon-
zertsaale bisher noch nicht erlebt worden war. Mitten drin in den
einzelnen Sätzen wurde anhaltend und stürmisch gelacht und mitten
drin im letzten Satze schrie man aus Leibeskräften .Aufhören !
Schluß! Wir lassen uns nicht narren 1' Ich muß zu meinem Leidwesen
konstatieren, daß ich mich zu ähnlichen Rufen hinreißen Heß. Zum
ersten Male in meine- zwanzigjährigen Praxis. Gewiß, ein Kritiker hat
im Konzertsaale kein Mißfallen zu äußern. Wenn ich aus meiner ge-
wohnten Reserve trotzdem heraustrat, so will ich damit nur den Beweis
liefern, daß ich physische Schmerzen ausstand, und wie ein arg Qepel-
nigter, trotz aller guten Absicht selbst das Schlimmste zu überwinden,
nun doch aufschreien mußte. Indem ich hier öffentlich mich selber
tadle, habe ich auch das Recht gewonnen, über meine Angreifer zu
lächeln. Diese, ungefähr ein Dutzend an der Zahl, behaupten, daß das
Quartett Schönbergs ein Kunstwerk sei, daß wir anderen es nicht ver-
stehen, Ja daß wir nicht einmal die Beschaffenheit der Sonatenform
kennen. Nun, ich für mein Teil bin gern bereit, vor jedem Areopag
die Prüfung aus der Harmonielehre, Formenlehre und allen anderen
musikalischen Disziplinen abzulegen. Ich habe freilich noch nach dem
Muster der .Alten' studiert und könnte mithin meine Prüfung nur bei
den Befolgern des .alten Systems' bestehen. .Das gilt nicht !'
sagt das Dutzend. Auch gut.«
Ich gehöre nicht zu dem Dutzend, welches sagt: »Das gilt
nicht« und will Ihnen das beweisen, indem ich jeden »Areopag« an-
nehme, er möge nach dem »neuen« oder nach dem »alten System« zu-
sammengesetzt sein. Im Gegenteil, ich schlage Ihnen für einen der-
artigen »Areopag« die folgenden Herren vor, die hoffentlich bereit sein
werden, dieses Amt zu übernehmen: Herrn Professor Robert Fuchs,
Herrn Prof. Dr. Eusebius Mandyczewsky, Herrn Professor Richard Heu-
berger, Herrn Professor Hermann Grädener, Herrn Professor Josef Labor.
Ich fordere Sie nun auf Grund Ihrer Erklärung heraus, diese Prüfung
»aus der Harmonielehre, Formenlehre und allen anderen musikalischen
Disziplinen«, zu der Sie sich doch wohl unter der Voraussetzung
bereit erklärt haben, daß man sie von Ihnen verlangen kann,
vor diesem »Areopag« abzulegen. Wie Sie es wünschen — ich
m
überlasse Iknen, wie Sie sehen werden, auch die Wahl der
Waffen — , wird die Prüfung nur nach dem > alten System* geschehen,
nach dem Sie ja studiert haben, und ich überlasse es Ihnen, die Theo-
retiker, die der Fragestellung zugrunde liegen sollen, selbst zu nennen.
Ich stelle nur die folgenden Bedingungen: Die Prüfung findet öffent-
lich statt und die Fragen werde ich selbst an Sie richten. Ob Sie ent-
sprochen haben, mögen die Herren vom >Areopag« beurteilen. Sie haben
nun Gelegenheit, zu erweisen, was Sie behaupten. Entziehen Sie sich
dieser Prüfung aus was immer für einem Grund, so bekräftigen Sie
dadurch zur Evidenz, daß Sie sie zu scheuen haben.
Arnold Schönberg.
Dieser Offene Brief wurde von der Presse, an die er ge-
schickt wurde, einstimmig verschwiegen. Aber der Kandidat
hat die Prüfungsfrist noch nicht versäumt. Er sollte sich doch
die Gelegenheit nicht entgehen lassen, das alte Mißtrauen zu zer-
stören und durch einen Durchfall endlich den Befähigungsnachweis
für sein musikkritisches Amt zu erbringen.
Einige Kabaret-Pensionisten haben in Graz gastiert. Sie
nennen sich >E!f Scharfrichter«. Und da b»gab es sich:
>. . . Das Galeriepublikum scheint den Charakter dieser Künstler-
vereinigungen mißverstanden zu haben und erwartete insbesondere das
Erscheinen wirklicher Scharfrichter auf der Bühne. Da es sich enttäuscht
sah, begann es seinem Unwillen Ausdruck zu geben, zunächst durch
Murren. Als aber Hugo Wolf-Lieder vorgetragen wurden, begann die
Galerie laut ,Pfui!' zu rufen. . . .«
Nun möchte ich ja gerne der Auffassung beipflichten, daß das
Publikum empört war, weil Hugo Wolf-Lieder von Kabaretiers gesun-
gen wurden, anstatt von Sängern. Aber sympathischer ist mir doch die
andere Auffassung, daß nämlich das Publikum empört war, weil
die Kabaretiers Hugo Wolf-Lieder sangen, anstatt eine Hinrichtung
vorzunehmen. Man kann nicht genug Züge aus dem Leben des
Publikums zusammentragen. Einst prügelte es den Schauspieler,
der den Franz Moor spielte, jetzt prügelt es ihn, wenn 'er unter
diesem Pseudonym Lieder singt. Als ich einmal mit meiner kleinen
Nichte einer Vorstellung des Lustspiels »Goldfische« beiwohnte,
hörte sie drei Akte lang mit gespannter Aufmerksamkeit zu, bis
ihr endlich die Geduld riß und sie aus voller Kehle rief: »Wo
sind die Ooldfische?« Auf diesem Standpunkt steht heute das
erwachsene Theaterpublikum. Seine Äußerungen gehören In die
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Rubrik »Aus Kindermund«. Immer ist es in teilnahmsvoller Spannung,
und es verträgt nur nicht, daß man ihm Rätsel zu lösen gibt. Wenn
ein Dramatiker zum Beispiel im ersten Akt 1 00000 Oulden verschenken
läßt und den ganzen Abend hindurch von dieser großmütigen Hand-
lung nicht mehr die Rede ist, so wird man im verzweifelten Ringen
um die Qarderobe die bange Frage hören : »Ich möcht' nur
wissen, was mit den 100.000 Qulden geschehen ist!« Wie kann die
Theaterästhetik so herzlos sein, von den Direktoren immer wieder
zu verlangen, daß sie Ibsen spielen ! »Tus nicht !« rief ein braver Mann
von der Oallerie dem Teil zu, als er eben auf das Haupt des leiblichen
Kindes anlegt. Als aber einmal auf der Bühne des Burgtheaters
eine Person in einem französischen Sittenstück den Satz aussprach:
»Es ist eine schöne Pflicht der großen Banken, notleidenden Kaufleu-
ten beizustehen!«, rief eine Damenstimme aus einer Loge ein lang-
gedehntes, inhaltsschweres »Bravo!«. Einen Kritiker, der gern in
Bildern spricht, traf dieses Familienschicksal, das wie ein Opern-
gucker ins Parkett fiel, direkt auf den Kopf.
*
Da in früheren Jahren der mir feindselige Kretinismus zu
dem Argumente gegriffen hat, daß es meine Beschäftigung sei,
die Druckfehler der Tagespresse zu korrigieren, so will ich diese
Meinung einmal ins Recht setzen und mitteilen, daß ich bei der
Lektüre eines Aufsatzes über Edgar Poe im ,Fremdenblatt' den
folgenden Satz gefunden habe : »Poe, der Instinktmensch, Poe,
der ehrliche Phantast im ehrlichen Trance Kleipert, sein berühm-
testes Qedicht mit handwerksmäßig kühler Berechnung«. Nach der
Lektüre dieses Satzes hatte ich sofort eine grauenhafte Poe'sche
Vi-ion. Ich stellte mir den Bildungszuwachs vor, der beim
Normalleser in solchem Falle eintritt. Dieser Kleipert beginnt ihn
zu interessieren. Wer ist Kleipert? Ein Instinktmensch, ein ehrlicher
Phantast im Stile Poes? Nein, sagt ein anderer, der Satz ist zwar
unklar, aber darüber kann kein Zweifel sein, daß Kleipert kein
Autor ist, sondern bloß der Titel eben jenes Poe'schen Gedichtes.
Aber er sucht, und findet es in den Werken Poes nicht. So muß
es doch wohl der Name eines ollen ehrlichen Phantasten sein, den
das Konversationslexikon aus irgend einem Orunde nicht nennt?
Wer ist Kleipert? Man weiß es nicht; aber die Frage wiid so oft
gestellt werden, daß der Name bleibt. Europa wird sich an den
Namen gewöhnen und gerade weil niemand weiß, wen er vor-
— 37 —
stellt, werden sich viele dadurch hervortun, daß sie es zu wissen
behaupten. Und wenn man das Problem dieses neuen Ruhmes
behorcht, so muß man sich fragen, wie viele Meinungen in der Welt
durch Druckfehler entstanden sein mögen, und ob nicht die Druck-
fehler überhaupt der verläßlichere Teil dessen sind, was die Tages-
presse bietet. Man sagt viel zu wenig, wenn man einen Autor,
der sich der Druckpresse anvertraut, mit dem Tröste beruhigt,
das Publikum merke Druckfehler nicht. Das Publikum beachtet
gerade sie und zieht aus ihnen den besten Gewinn an Bildung.
Ich erinnere mich an meine erste kritische Arbeit. Sie erschien
und enthielt den Satz: »Die Inhaltsangabe des ersten Aktes sollte etwas
weniger dürftig sein«. Es war eine schlichte Bemerkung, die der
Redakteur zu dem Zwecke ins Manuskript geschrieben hatte, um mir
eine Ergänzung zu empfehlen. Das Manuskript wurde aber vor-
schnell gedruckt, und ich glaube, daß die Leser einen starken
Eindruck von dieser kritischen Bemerkung empfangen haben. In
derselben Zeitschrift, die sich damals infolge ihrer originellen
Druckfehler ein Publikum erobert hatte, erschien einmal die Kritik
einer Burgtheateraufführung, in der die Schauspielerin Stella
Hohenfels nicht mit jener Anerkennung bedacht wurde, die sie
verdiente. Das scheint auch der Redakteur empfunden zu haben.
Denn an die Reihe kritischer Bemerkungen des Autors schloß sich
der Satz: »Wäre mir unangenehm wegen meiner Verbindung mit
Berger«. Ich bin davon überzeugt, daß gerade dieser Satz seine
Wirkung auf die Leser nicht verfehlt hat. Die Druckfehler sind
die Opposition des Setzers gegen Lüge und Unverstand, und der
Setzer ist der erste Leser. Schon deshalb ist es töricht, sie zu
korrigieren. Sie sind das, was von einem Artikel bleibt. Ich warf
einem Moralisten einen »Salto morale« vor. Das gibts nicht, sagte
der Setzer, der den Standpunkt der Intelligenz vertrat, und wollte
einen Salto mortale daraus machen. Ich telegraphierte an die Druckerei,
es solle nicht Salto mortale, sondern Salto morale heißen. Der
Telegraphenbeamte, der der zweite intelligente Leser war, fragte
mich, ob ich das nicht umgekehrt habe sagen wollen, und als
ich dabei blieb, ergab er sich mit einem Kopfschütteln in
seinen schweren Dienst. Der Leser hat immer recht, also auch der
Setzer. Als ich einmal aus der Sprache des Herrn Harden die
Wendung übersetzen wollte: »Innerer Hader, der sich an die Stelle
des Festens drängt«, sagte der Setzer nein und behauptete, es
38 —
müsse heißen: Immer der Harden, der sich an die Stelle des
Fechters drängt. Hat er nicht recht gehabt? Und als einer sich
vermaß, zu sagen, daß Poe, der ehrliche Phantast, sein berühm-
testes Gedicht mit Berechnung klempnert, half sich der Setzer
und sagte: Kleipert. Denn es ist besser, daß sich bei den Lesern
des ,Fremdenblatts' der Glaube an diesen als ein Mißtrauen gegen
Poe festsetzt.
*
In Charles Baudelaires > Tagebüchern* findet sich die
folgende Stelle:
Jede Zeitung, von der ersten bis zur letzten Zeile, ist nichts
als ein Gewebe von Schrecken. Kriege, Verbrechen, Diebstähle, Scham-
losigkeiten, Martern, Verbrechen der Fürsten, Verbrechen der Nationen,
Verbrechen der Einzelnen: ein Rausch von allgemeiner Scheußlichkeit.
Ich begreife nicht, wie eine reine Hand das anrühren kann, ohne vor
Ekel zu zucken !
»Es bedarf keines Hinweises«, bemerkt ein deutsches Blatt zu
diesem Zitat, »daß sich Baudelaire auch hier in einer splendid
isolation sondergleichen befindet«. Aber ich nicht !
• *
•
Ultimatum: Wenn ich noch einmal in einem Blatte in der
Besprechung eines Geschwornenurteils den Satz finde, es sei »das
schöne Vorrecht der Richter aus dem Volke, auch dort noch Recht
und Billigkeit zu üben, wo der starre Buchstabe des Gesetzes.. .«,
haue ich die Zeitungslektüre definitiv hin. Seit Jahren nehme ich
ängstlich ein Abendblatt zur Hand, in welchem unter der Spitz-
marke »Ein Freispruch« immer dieselbe Betrachtung steht. Eine
Abwechslung wird nur darin geboten, daß die Richter aus dem
Volke für die Anwendung des schönen Vorrechts entweder gelobt
oder daß sie ermahnt werden, sich darin zu mäßigen. Aber immer
ist es der gewisse Buchstabe des Gesetzes, der mich anstarrt, so
oft ich das Blatt aufschlage. Es ist eine fixe Idee des Liberalismus,
der starrer ist als alles Gesetz. Das Leben selbst ist zum Buchstaben
erstarrt, und was bedeutet neben solchem Zustand die Leichenstarre
der Gesetzlichkeit! Karl Kraus.
— 39 —
Abend.
»Nieder tauchte die Sonn' und schattiger wurden die
Pfade«,
Dies las ich heut, am Abend eines Sommertags
Und ließ das alte Buch Homer aut meine Kniee
Hinsinken, also sinnend: Allen Erdenkindern
Mißt diese heitre Sonn' ihr holdes Maß von Licht,
Ein Schicksal reifend nach verschwiegenem Gesetze
Vom Aufgang bis zum Schatten eines Menschenpfads.
Ich wuchs in Zeiten, trüber als die Nacht,
Ein Jüngling, feind mir selbst und im Gemüt bedrängt,
Nun endlich ruft auch mir die liebe Sonne:
Gibst du, erhellt, dein eignes Licht dem Lichte
wieder? —
Doch hinter jedem Strauch im Garten wachsen
Schatten,
Was war mein Maß an Tag gering! Ihr Götter wägts
Den Menschen, wollt mir diesen späten Strahl nicht
neiden,
Laßt mir den Abend, dem der Morgen war geweigert,
Gönnt mir den Blick der herbstlich tiefen, klaren
Stunden,
Den letzten Glanz, den ich mit fleh'nden Augen halte,
Laßt mir den Abend, seht, die Pfade dunkeln schon.
Otto Stoessl.
Zuschrift :
Weimar d. 21. Jan. 1909. Sehr geehrter Herr! Verbindlichen
Dank für die liebenswürdige Erwähnung jenes Zitats. Ich möchte
hinzufügen, daß in diesen Worten in der Tat meine bescheidene
Stellung, die ich stets zu den Lehren meines Bruders einge-
nommen habe, ausgedrückt ist. Die Qegner haben hier, wie in
hundert andern Fällen, diese einfache Wahrheit auf den Kopf
gestellt. Ich habe mich immer alles Urteils über meinen
Bruder enthalten. Mit vorzüglicher Hochachtung Ihre
Elisabeth Förster-Nietzsche.
40
Sprüche und Widersprüche.*)
Ein Weib, dessen Sinnlichkeit nie aussetzt, und
ein Mann, dem ununterbrochen Gedanken kommen :
zwei Ideale der Menschlichkeit, die der Menschheit
krankhaft erscheinen.
•
Die Begierde des Mannes ist nichts, was der
Betrachtung lohnt. Wenn sie aber ohne Richtung
läuft und das Ziel erst sucht, so ist sie wahrlich ein
Greuel vor der Natur.
*
Den Vorzug der Frau, immer erhören zu kön-
nen, hat ihr die Natur durch den Nachteil des
Mannes verrammelt.
Für den Nachteil des Mannes, nicht immer er-
hören zu können, wurde er mit der Feinfühligkeit
entschädigt, die Unvollkommenheit der Natur in je-
dem Falle als eine persönliche Schuld zu empfinden.
•
Als die Zugänglichkeit des Weibes noch eine
Tugend war, wuchs dem männlichen Geiste die Kraft.
Heute verzehrt er sich vor der Scheidemauer einer
verbotenen Welt. Geist und Lust paaren sich wie
ehedem. Aber das Weib hat den Geist an sich ge-
nommen, um dem Draufgänger Lust zu machen.
*
Wie schnell kam der Mann an sein Tagewerk,
als er noch den bis auf Widerruf eröffneten Durch-
gang benützen durfte. Der neue Hausherr der
Menschheit duldets nicht.
•
Griechische Denker nahmen mit Huren vor-
*) Unter diesem Titel wird demnächst mein Aphorismenbuch
im Verlag Albert Langen, München erscheinen. Es hat neun Abteilungen:
1. Weib, Phantasie. 11. Moral, Christentum. III. Mensch und Neben-
mensch. IV. Dummheit, Demokratie, Intellektualismus. V. Der Künstler.
VI. Über Schreiben und Lesen. VII. Länder und Leute. VIII. Stimmungen,
Worte. IX. Sprüche und Widersprüche.
— 41 —
lieb. Germanische Komrais können ohne Damen nicht
leben.
•
Das vom Mann verstoßene Weibchen rächt sich.
Es ist eine Dame geworden und hat ein Männchen
im Haus.
•
Der christliche Tierpark : Eine gezähmte Löwin
sitzt im Käfig. Viele Löwen stehen draußen und
blicken mit Interesse hinein. Ihre Neugierde wächst
an dem Widerstand der Gitterst äbe. Schließlich zer-
brechen sie sie. Händeringend flüchten die Wärter,
•
Wenn der Geist der Weiber in Betracht kom-
men soll, dann werden wir anfangen, uns für die
Sinnlichkeit der Männer zu interessieren. Welch eine
Aussicht 1
•
Die Frauenemanzipation macht rapide Port-
schritte. Nur die Lustmörder gehen nicht mit der
Entwicklung. Es gibt noch keinen Kopfaufschlitzer,
*
Eine, die mit viel Vitriol umgeht, wäre auch
imstande zur Tinte zu greifen.
Es geht nichts über die Treue einer Frau, die
in allen Lagen an der Überzeugung festhält, daß sie
ihren Mann nicht betrüge.
»
Daß eine einen Buckel hat, dessen muß sie
sich nicht bewußt sein. Aber daß sie einen Zwicker
hat, sollte sie doch nicht leugnen.
Der Philister verachtet die Frau, die sich von
ihm hat lieben lassen. Wie gerne möchte man ihm
recht geben, wenn man der Frau Schuld geben könnte f
•
Die Unsittlichkeit der Maitresse besteht in der
Treue gegen den Besitzer.
— 42 —
Keine Grenze verlockt mehr zum Schmuggeln
als die Altersgrenze.
•
Die Moralheuchler sind nicht darum hassens-
wert, weil sie anders tun, als sie bekennen, sondern
weil sie anders bekennen als sie tun. Wer die Moral-
heuchelei verdammt, muß peinlich darauf bedacht sein,
daß man ihn nicht für einen Freund der Moral halte,
die jene doch wenigstens insgeheim verraten. Nicht der
Verrat an der Moral ist sträflich, sondern die Moral.
Sie ist Heuchelei an und für sich. Nicht daß jene
Wein trinken, sollte enthüllt werden, sondern daß sie
Wasser predigen. Widersprüche zwischen Theorie
und Praxis nachzuweisen ist immer mißlich. Was
bedeutet die Tat aller gegen den Gedanken eines
einzigen? Der Moralist könnte es ernst meinen mit
dem Kampf gegen eine Unmoral, der er selbst zum
Opfer gefallen ist. Und wenn einer Wein predigt,
mag man ihm sogar verzeihen, daß er Wasser trinkt.
Er ist mit sich im Widerspruch, aber er macht, daß
mehr Wein getrunken wird in der Welt.
*
In Deutschland bilden zwei einen Verein. Stirbt
der eine, so erhebt sich der andere noch zum Zeichen
der Trauer von seinem Platze.
•
Die »Männer der Wissenschaft«! Man sagt ihr
viele nach, aber die meisten mit Unrecht.
•
Die Religion wird die »gebundene Weltan-
schauung« genannt. Aber sie ist im Weltenraum
gebunden, und der Liberalismus ist frei im Bezirk.
*
Die Vorsehung einer gottlosen Zeit ist die Presse,
und sie hat sogar den Glauben an eine Allwissenheit
und Allgegenwart zur Überzeugung erhoben.
*
Das größte Lokalereignis, das in allen Städten
gleichzeitig und unaufhörlich sich begibt, wird am
43
wenigsten beachtet: Der Einbruch des Komrnis in
das Geistesleben.
Die Mission der Presse ist, Geist zu verbreiten
und zugleich die Aufnahmsfähigkeit zu zerstören.
Die Medizin: Geld her und Leben I
• *
Ein Agitator ergreift das Wort. Der Künstler
wird vom Wort ergriffen.
*
Das individuelle Leben der Instrumente ist von
übel. Ich kann mir denken, daß sie eine politische
Überzeugung haben, aber daß sie atmen stört mich.
*
Das Publikum läßt sich nicht alles gefallen. Es
weist eine unmoralische Schrift mit Empörung zurück,
wenn es ihre kulturelle Absicht merkt.
•
Ein Hausknecht bei Nestroy wird mit der Last
des Lebens fertig und wirft die Langeweile zur Tür
hinaus. Er ist handfester als ein Professor der Philo-
sophie.
*
Stimmung der Wiener: das ewige Stimmen
eines Orchesters.
Wenn man nicht weiß, wovon einer lebt, so ist
das noch der günstigere Fall. Auch die Volkswirtschaft
hat ein wenig Phantasie notwendig.
Ein Blitzableiter auf einem Kirchturm ist das
denkbar stärkste Mißtrauensvotum gegen den lieben
Gott.
Nie ist größere Ruhe, als wenn ein schlechter
Zeichner Bewegung darstellt. Ein guter kann einen
Läufer ohne Beine zeichnen.
44 —
Bin armseliger Hohn, der sich in Interpunktionen
austobt und Rufzeichen, Fragezeichen und Gedanken-
striche als Peitschen, Schlingen und Spieße ver-
wendet!
*
Nicht immer darf ein Name genannt werden.
Nicht, daß einer es getan hat, sondern daß es möglich
war, soll gesagt sein.
*
Der Politiker steckt im Leben, unbekannt wo.
Der Ästhet flieht aus dem Leben, unbekannt wohin.
Im Theater muß man so sitzen, daß man das
Publikum als eine schwarze Masse sieht. Dann kann
es einem so wenig anhaben wie dem Schauspieler.
Nichts ist störender als die Individualitäten der
Menge unterscheiden zu können.
*
Die einzige Kunst, über die das Publikum ein
Urteil hat, ist die Theaterkunst. Der einzelne Zu-
schauer, also vor allem der Kritiker, spricht Unsinn,
alle zusammen behalten sie recht. Vor der Literatur
ist es umgekehrt.
*
Die wahren Schauspieler lassen sich vom Autor
bloß das Stichwort bringen, nicht die Rede. Ihnen ist
das Theaterstück keine Dichtung, sondern ein Spielraum.
•
Die Hausherrlichkeit des Schauspielers im Theater
erweist sich darin, daß die Veränderungen, die er
mit der dichterischen Gestalt vornimmt, dem Erfolg
zum Vorteil gereichen. Die Tantiemen gebühren dem
Schauspieler.
•
Wenn ein Väterspieler als Heinrich IV. in dem
Satz: »Dein Wunsch war des Gedankens Vater,
Heinriche den Vater betont, kann er das Publikum
zu Tränen rühren. Der andere, der sinngemäß den
»Wunsche betont, wird vom Publikum bloß nicht
45
verstanden. Dieses Beispiel zeigt, wie aussichtslos
das Dichterische auf dem Theater gegen das Schau-
spielerische kämpft, um schließlich von dessen Siegen
zu leben. Das Drama behauptet seine Bühnenhaftig-
keit immer nur trotz oder entgegen dem Gedanken.
Auch am Witz schmeckt ein Theaterpublikum bloß
den stofflichen Reiz. Je mehr Körperlichkeit der
Witz hat, je mehr er dem Publikum etwas zum An-
halten bietet, um so leichter hat er es. Deshalb ist
Nestroys gedanklicher Humor weniger wirksam als
etwa die gleichgültige Situation, die ihm ein fran-
zösisches Muster liefert. Das Wort, daß »in einem
Luftschloß selbst die Hausmeisterwohnung eine para-
diesische Aussicht hat«, versinkt. Wenn ihm nicht
die vertraute Vorstellung des Hausmeisters zu einiger
Heiterkeit verhilft.
*
Ich traue der Druckmaschine nicht, wenn ich
ihr mein geschriebenes Wort überliefere. Wie kann
ein Dramatiker sich auf den Mund eines Schauspielers
verlassen !
*
Die Entfernung der schauspielerischen Persön-
lichkeit von der dichterischen zeigt sich am auf-
fälligsten, wenn die Figur selbst ein Dichter ist. Man
glaubt ihn dem Schauspieler nicht. Ihm gelingen
Helden oder Bürger.
*
Bin Schauspieler, der sich für Literatur inter-
essiert? Ein Literat gehört nicht einmal ins Parkett.
*
Die modernen Regisseure wissen nicht, daß man
auf der Bühne die Finsternis sehen muß.
*
Der Naturalismus der Szene läßt wirkliche
Uhren schlagen. Darum vergeht einem die Zeit so
langsam.
Der Schauspieler hat Talent zur Maske. Die
4«
Veränderlichkeit eines weiblichen Antlitzes ist das
Talent. Schauspielerinnen, die Masken machen, sind
keine Weiber, sondern Schauspieler.
*
Man gibt zu, die Kunst der Schauspielerin sei
8ubliraierte Geschlechtlichkeit. Aber außerhalb der
Bühne muß das Feuer den Dampf wieder in Körper
verwandeln können.
*
Nur eine Frau, die sich im Leben ganz ausgibt,
behält genug für die Bühne. Komödiantinnen des
Lebens sind schlechte Schauspielerinnen.
•
Man kann eine Schauspielerin entdecken, wenn
man sie die natürlichste Situation, in die ein Weib
geraten kann, darstellen läßt.
•
Das "Buch eines Weibes kann gut sein. Aber
ist dann auch das Weib zu loben?
*
Es kommt gewiß nicht bloß auf das Äußere
einer Frau an. Auch die Dessous sind wichtig.
*
Das eben ist der Unterschied der Geschlechter:
die Männer fallen nicht immer auf einen kleinen
Mund herein, über die Weiber immer noch auf eine
große Nase.
Ein Weib, das zur Liebe taugt, wird im Alter
die Ehren einer Kupplerin genießen. Eine frigide
Natur wird bloß Zimmer vermieten.
*
Hundert Männer werden ihrer Armut inne vor
einem Weib, das reich wird durch Verschwendung.
Eine neue Erkenntnis muß so gesagt sein, daß
man glaubt, die Spatzen auf dem Dach hätten nur
durch einen Zufall versäumt, sie zu pfeifen.
Eine Antithese sieht bloß wie eine mechanische
Umdrehung: aus. Aber welch ein Inhalt von Erleben,
Erleiden, Erkennen muß erworben sein, bis man ein
Wort umdrehen darf!
*
Der Liberalismus kredenzt ein Abspülwasser als
Lebenstrank.
Das ist kein rechtes Lumen, das dem Verstände
nicht zum Irrlicht wird.
♦
Der gesunde Menschenverstand sagt, daß er mit
einem Künstler bis zu einem bestimmten Punkt »noch
mitgeht«. Der Künstler sollte auch bis dorthin die
Begleitung ablehnen.
An einem Dichter kann man Symptome beob-
achten, die einen Kommerzienrat für die Internierung
reif machen würden.
Der Philister möchte immer, daß ihm die Zeit
vergeht. Dem Künstler besteht sie.
•
Witzblätter sind ein Beweis, daß der Philister
humorlos ist. Sie gehören zum Ernst des Lebens,
wie der Trank zur Speise. »Geben Sie mir sämtliche
Witzblätter I« befiehlt ein sorgenschwerer Dummkopf
dem Kellner, und plagt sich, daß ein Lächeln auf
seinem Antlitz erscheine. Aus allen Winkeln des
täglichen Lebens muß ihm der Humor zuströmen,
den er nicht hat, und er würde selbst die Zündholz-
schachtel verschmähen, die nicht einen Witz auf
ihrem Deckblatt führte. Ich las auf einem solchen:
»Handwerksbursche (der sich eine zufällig in ein Ge-
dicht eingewickelte Wurst gekauft hat): ,Sehr gut!
Nun ess' ich erst die Wurst für die körperliche und
dann les* ich das Gedicht für die geistige Nahrung!'«
Dergleichen freut den Philister, und er empfindet die
Methode des Handwerksburschen nicht einmal als
eine Anspielung.
— 4b —
Warum mutet man einem Musiker nicht «u,
daß er gegen einen Übelstand eine Symphonie ver-
fasse? Ich mache schon längst keine Programm-
musik mehr.
•
Gegen den Fluch des Gestaltenmüssens ist kein
Kraut gewachsen.
*
Mein Geist regt sich an den Sinnen, meine
Sinne regen sich an dem Geist der Frau. Ihr Körper
gilt nicht.
*
Sinnlichkeit des Weibes lebt so wenig vom
Stoff wie männliche Künstlerschaft. Je lumpiger
der Anlaß, desto größer die Entfaltung. Der Geist
ist an kein Standesvorurteil gebunden und die Wol-
lust hat Perspektive.
Ich beherrsche die Sprache nicht; aber die
Sprache beherrscht mich vollkommen. Sie ist mir
nicht die Dienerin meiner Gedanken. Ich lebe in
einer Verbindung mit ihr, aus der ich Gedanken
empfange, und sie kann mit mir machen, was sie
will. Ich pariere ihr aufs Wort. Denn aus dem Wort
springt mir der junge Gedanke entgegen und formt
ruckwirkend die Sprache, die ihn schuf. Solche Gnade
der Gedankenträchtigkeit zwingt auf die Knie und
macht allen Aufwand zitternder Sorgfalt zur Pflicht.
Die Sprache ist eine Herrin der Gedanken, und wer
das Verhältnis umzukehren vermag, dem macht »ie
sich im Hause nützlich, aber sie sperrt ihm den Schoß.
*
O mark verzehrende Wonne der Spracherlebnisse!
Die Gefahr des Wortes ist die Lust des Gedankens.
Was bog dort um die Ecke? Noch nicht ersehen und
schon geliebt! Ich stürze mich in dieses Abenteuer.
Karl Kraus.
Heranaeeber and verantwortlicher Redakteur: Karl Krau s.
Drock von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollarattatraße 3
Mitteilung der »Fackel«.
In der Nr 239-40 (31. Dezember 1907) war der Aufsatz: »Eine Musik-
id Theaterausstellung« enthalten. Darin war als der Leiter der Ausstellung
t Herr Korbuly Herausgeber der »Matador«-Zeitung und Erfinder des Bau-
stens »Matador« genannt. Tatsächlich hat aber ein anderer Herr dieses Namens
tie Ausstellung geleitet. Nicht dieser nun, den die Kritik betraf, sondern der mit
m verwechselte Herr klagte den Herausgeber der ,Faekel' wegen Ehrenbe-
ing. Abt einer Berichtigung des Irrtums wollte sich der Klager nicht zu-
eden aeben. In der Schwurgerichtsverhandlung, die am 19. Janner 19Ü9 -
ch einem Jahr - stattgefunden hat, wurde der Herausgeber der ,Fackel irei-
Usnrochen Da die Presse über den Prozeß wegen des günstigen Ausgangs
cht berichtet hat, so ist der Kläger um sein Recht einer Richtigstellung des
chverhalts gekommen. Deshalb wird sie hier aus freien Stücken vorgenommen.
Herausgeber: KARL KRATJ^
erscheint in zwangloser Folge im Umfange von 16—32 Seiten.
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schrift von Detlev von Liliencron. — Leben.
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Erscheint in zwangloser Folge.
Preis der einzelnen Nummer 30 h.
achdruck und gewerbsmäßiges Verleihen verboten ; gerichtliche
Verfolgung vorbehalten.
WIEN.
Varia» .HIP FACKEL« MI. Hintere Zallamtsstraßa 3.
({freiwillige ^Anzeige)
Werke von Steter Mltenherg
Wie ich es sehe
Vierte vermelirte Anfinge. Mit dem Bild des Dichters in Lichtdrua
Geh. 5 Mark, geb. 6 Mark.
Was der Tag mir zuträgt
Stadien. Dritte vermehrte Anfinge. Mit dem Bild des Dichter.
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Zw i Mark, geb. 5 M
Ganzpergament 6 Mark 50 Pf.
Die Auswahl aus meinen Büchern
Zweite Auflage. Mit dem Bild des Dichters in Photogravüre.
Geh. 3 Mar/t, geb. 4 Mark, in Leder 5 Mark.
S. FISCHER, VERLAG, BERLIN
Die Fackel,
NR. 274 27. FEBRUAR 1909 X. JAHR
Peter Altenberg.
Zum 9. März.
Er feiert nun wirklich diesen oft versprochenen, oft
verschobenen fünfzigsten Geburtstag. Aber mag das
Datum schwankend sein wie das Urteil über den Mann,
ja schwankend selbst wie das Urteil des Mannes,
die Gelegenheit, ihn respektvoll zu grüßen, möchte
sich einer nicht versagen, der dabei war, als jener
seine Haare ließ, um einen Kopf zu bekommen.
Und nichts steht heute fester in unserm Geistes-
leben als dies Schwanken, nichts ist klarer umris-
sen als diese knitterige Physiognomie, nichts bietet
besseren Halt als diese Un Verläßlichkeit. Unter den
vielen, die hier etwas vorstellen, ist einer, der bedeu-
tet, unter den manchen, die etwas können, ist einer,
der ist. Unter den zahllosen, die ihre Stoffe aus
der Literatur geholt haben und Migräne bekamen,
als es an die Prüfung durchs Leben ging, ist einer,
der im schmutzigsten Winkel des Lebens Literatur
geschaffen hat, gleich unbekümmert um die Regeln
der Literatur und des Lebens. Weiß der liebe Herr-
gott, wie die anderen ihren Tag führen, ehe sie zu
ihren Büchern gelangen, die Nächte dieses eiüen
waren allzeit der ' öffentlichen Besichtigung preis-
gegeben, und manch ein champagnertrinkender Pferde-
jude dürfte um die Zeugung dessen Bescheid wissen,
was für alle Zeiten den Werten einer lyrischen Prosa
zugerechnet bleibt. Dieses Künstlerleben hatte einen
Zug, den in seiner Welt die Weiber verloren haben:
Treue im Unbestand, rücksichtslose Selbstbewahrung
im Wegwurf, Unverkäuflichkeit in der Prostitution.
— 2 —
Seitdem und so oft er vom Leben zum Schreiben
kam, stand das Problem dieser elementaren Ab-
sichtslosigkeit, die heute leichtmütig eine Perle und
morgen feierlich eine Schale bietet, in der Rätselecke
des lesenden Philisters. Die bequemste Lösung war
die Annahme, einer sei ein Poseur, der zeitlebens
nichts anderes getan hat als die Konvention der Ver-
stellung zu durchbrechen. Oder es sei ein echter
Narr. Denn das Staunen des gesunden Verstandes,
dessen niederträchtige Erhabenheit sich hier voll
entfaltet, sieht bloß die gelockerte Schraube und
fühlt die bewegende Kraft nicht, die den Schaden
schuf, um an ihm zu wachsen. Aber wenn die Dich-
ter heute zu nichts anderm taugen, als daß die
Advokaten an ihnen ihrer Vollsinnigkeit inne wer-
den, so haben sie ihren Zweck erfüllt, und die Advo-
katen sollten darauf verzichten, in das Verständnis
der Dichter weiter eindringen zu wollen, als zum
Beweise ihrer eigenen Daseinsberechtigung notwen-
dig ist. Mag sein, daß der Altenbergsche Ernst diese
Art mechanischer Betrachtung auf Kosten der leben-
digen Persönlichkeit verschuldet hat. Im Altenberg-
schen Ernst kreischt die Schraube, und verlockt die
Neugierde einer wertlosen Intelligenz, die man besser
ihren Weg ziehen ließe. Es ist dieser künstlerischen
Natur zu eigen, das Unscheinbare aus der Höhe
anzurufen, und solche Aufmerksamkeit wird ihr un-
versehens zur Kunst, wenn die Kontraste sich im
Humor verständigen. Er ist Lyriker, wenn er sich
zur unmittelbaren Anschauung seiner kleinen Welt
begibt, und er ist Humorist, wenn er sich über sie
erhebt, um sie zu besprechen. Er ist persönlich und
reizvoll in und über den Dingen, und wir haben
ihm hier und dort Kunstwerke zu danken, die ihm
keiner nachmachen kann, weil er selbst ohne Vorbild
ist. Aus einer Gruadstimmung zwischen Überlegen-
heit und lyrischem Befassen, aus einer umkippenden
Weisheit, die vor einem Kanarienvogel ernster bleibt
als vor sich selbst, aus einer Bescheidenheit, die sich
nur vorschiebt, um die Welt in einer Narrenglatze
sich spiegeln zu lassen, könnte er uns eine »Empfind-
same Reise« beschreiben, die er aus Ersparnisrück-
sichten im Kinematographentheater erlebt. Ich gebe
für die paar Zeilen seiner »Maus« oderseines »Lift«, sei-
nes »Spazierstock« oder seines »Gesprächs mit dem
Gutsherrn« sämtliche Romane einer Leihbibliothek her.
Dazu aber auch jenen P. A., der die Distanz zu
seiner Welt durch Lärm ausgleichen möchte. Ich
kann es verstehen, daß einem Künstler die Geduld
reißt und daß er eines Nachts dazu gelangt, das
Leben im Vokativ anzusprechen. Er scheint mir in
solchen Augenblicken ehrwürdig, aber nicht eben
schöpferisch zu sein. Ich sehe ihn hoch, aber der Ab-
stand, der Humor verlangt, schafft sich ihn von selbst,
wenn der Betrachter pathetisch wird. In dieses
Kapitel scheint mir die Altenbergsche Gastrologie
zu gehören mit jenem Materialismus der Frauen-
seelen und jenem Spiritualismus der Material-
waren, mit der Unerbittlichkeit jenes »erstklas-
sigen« akrobatischen Evolutionsgedankens, daß der
Affe vom Menschen abstammt. P. A., der vor
einer Almwiese zum Dichter wird, wird vor
einer Preisjodlerin zum Propheten. Er ist ein Seher,
wenn er sieht, aber er ist ein Rufer, wenn er ein
Seher ist. Seine Schrullen sind schöpferische Hilfen,
wenn sie sich selbst entlarven; sie sind Hindernisse,
wenn sie auf sich bestehen. Die zarteste Künstler-
hand beschwichtigt sie, und zu einer widrigen Un-
sprache lassen sie sich alarmieren. Und das ist der
Humor davon. An ihn hält sich der Philistersinn,
wenn diese Fülle sich selbst zu einer Sonderbarkeit
verkleinert, die mit visionärer Verzückung Küchen-
rezepte verfertigt, tant de bruit pour une Omelette
macht und die Anweisung von sich gibt: 0 nähme
man doch endlich drei Eier!!? Gewiß bildet diese aus-
fahrende Sucht, die eine alltägliche Sache bloß ver-
stärkt, ein Teil von jener Kraft, die eine alltägliche
Sache zu erhöhen vermag, und ich möchte den
Mißton in der Zigeunermusik dieses Geistes nicht
entbehren. In der restlosen Ehrlicheit, die das Unsag-
bare sagt, ist er wohl liebenswerter als ein Pre-
ziösentum, das vom Sagbaren nur die Form ent-
hüllt, und beschleunigte Herztätigkeit ist es, was
den Menschenwert des Predigers über die Zweifel der
Lehre erhebt. Aber ihr Lärm scheint mir von der Schwer-
hörigkeit de3 Philisters gefördert und er bedeutet jenen
Trotz, welcher die Konzession de3 Künstlers ist, der
keine Konzessionen macht. Und wie sollte die stärkste
Stimme nicht heiser werden in einem Vaterlande,
in dem der Prophet der Niemand ist, aber der Poet
ein Journalist? Peter Altenbergs Ruhm ist aus dem
sicheren Auslande noch nicht nach Wien gedrungen
und das intellektuelle Gesindel dieser Stadt hat nooh
nicht geruht, ihn so ernst zu nehmen wie ihre Jour-
dichter und Journalisten. Dennoch sollte man diesen
Reichtum der Mittel sich nicht auf Kosten des Inhalts
entfalten lassen. Man müßte eine Zeitung, die die-
sem Temperament die Interpunktionen ihrer Druckerei
zu schrankenloser Verfügung überläßt, boykottieren,
man müßte vor Preisrichtern der Literatur, die eine
Persönlichkeit von solchem Wuchs in der Variete*-
Kritik exzedieren lassen und jahraus jahrein harmo-
nische Plattköpfe dekorieren, auf der Straße aus-
spucken. Kurzum, man müßte alles das tun, wodurch
man den Zorn P. A.'s auf sich laden könnte, den ein-
zigen stadtbekannten Zorn, der um seiner selbst willen
wertvoll ist und auch dort noch berechtigt, wo der Eigen-
tümer fälschlich annimmt, man habe es auf seine Frei-
heit abgesehen. Denn man hat es in Wahrheit darauf
abgesehen, ihn auf einen Stand zu bringen, auf dem
er die wohlverdiente literarische Anerkennung end-
lich für die Ehre eintauscht, die Zielscheibe der
Betrunkenheit zu sein. Oder gar das Merkziel jener
vollsinnigen Betrachtung, welohe die Kunst des
- 5 -
Mannes als eine Privatangelegenheit belächelt, aber
vor seinem Nachtleben wie vor einer Praterbude
steht, und die überglücklich ist, wenn sie eine Probe
Altenbergscher Urteilswütigkeit kolportieren kann.
Daß hier ein ewig junges Temperament bei der Sache
ist, ob es nun für oder gegen die Sache ist oder beides
zugleich, schätzt keiner, Aber auch die Ansichten
der Natur sind geteilt, auf Schön folgt Regen und
es ist derselbe Ackerboden, der den Vorteil von sol-
chem Widerspruch hat. Dieser Dichter hatte Anhän-
ger, die ihm abtrünnig wurden, weil sie den Zufällen
seiner klimatischen Verhältnissenichtgewachsen waren.
Nun, wen es trifft, zwischen dem Einerseits einer
höchsten Begeisterung und dem Anderseits einer
tiefsten Verachtung zu leben, der bleibe zuhause, aber
er preise die Allmacht des Schöpfers und rümpfe
nicht die Nase über die Natur. Denn die Natur ist
weise, sie nimmt ihre Donner nicht ernst und ihre
Sonne lacht über die eigene Inkonsequenz. Ach,
wir haben genug Dichter, die mit fünfzig Jahren
dasselbe sichere Urteil bewähren werden wie mit
zwauzig. Gott erhalte sie als ganze. Von Peter Alten-
berg genügen uns ein paar Zeilen.
Karl Kraus.
*
Einmal las ich in einem Buch von Peter Alten-
berg, ich glaube es war in >Wie ich es sehe«, eine
Stelle, wo ein Nachen durch einen engen, mit Rosen
und Ranken überhangenen Kanal fährt — seitdem
liebe ich Peter Altenberg.
Detlev Baron Liliencron.
Alt-Rahlstedt bei Hamburg, 19. 2. 9.
_ B _
Leben.
Zwischen zwei Nächten ein Traum.
Im Dunkel ruht und wächst ans Licht
Ein Baum.
Hat ein wunderbar Gesicht
Von Sonne in Säften und Ästen,
Von Himmelsbläue und Wolkenwandern
Über dem Haupt
Und glaubt
Und lauscht den Vogelgästen,
Die von Herrlichkeiten sagen.
Alle seine Arme tragen
Von Wunsch und Weh die grüne Last
Und können den Schatz nicht wahren,
Ein Sturmwind kommt gefahren,
Da zuokt und stöhnt ein Baum,
Ein Halm am Saum
Der Unendlichkeiten.
Und in das Wehren und Spreiten
Fährt ein Blitz und loht,
Bleibt und starrt der Tod,
Bläst ein Ding fort wie einer Feder Flaum.
Ein wunderbar Gesicht:
Es löscht ein Licht
Zwischen zwei Nächten im Traum.
Otto Stoessl.
Spiel.
Von allem Satanswerk auf Erden hatte das Spiel
das ärgste Schicksal, denn es wurde als Zerstreuung
und Erholungsbeschäftigung in die bürgerliche Lebens-
ordnung eingefügt. Auch die andern Sünden kamen
um Purpurmantel und Höllenglanz, sie fristen ein
armseliges Dasein als simple Gesetzesverletzung oder
— 7
als pathologische Erscheinung. In dieser Stellung
aber haben sie Frieden und müssen nicht, wie das
Spiel, dazu herhalten, den Feierabend eines bis sechs
Uhr tätigen Lebens zu verschönen. Es ist ein kläg-
liches Ding das erlaubte, das Kombinationsspiel. Man
hat den Zufall in einer Schlinge gefangen, ihm die
Krallen beschnitten und ihn in einen Käfig von
Regeln gesetzt. Da macht er seine jämmerlichen
Bewegungsversuche, seine Parodien auf Gunstbezeu-
gungen, und ehrsame Leute erfreuen sich daran. Das
reine Glücksspiel aber ist selbstverständlich unter-
sagt. Hier entzieht sich der Erfolg jeder Berechnung,
hier schaltet ein Unbekanntes mit menschlichen
Wünschen und das darf nicht geduldet werden. Gibt
es denn sonst unbefugte Einraengungen des Schick-
sals in das menschliche Leben ? Gibt es sonst in der
Welt Ereignisse, die sich der Kontrolle und der so-
zialen Ordnung entziehen? Erdbeben etwa, Feuers-
brünste oder gar Todesfälle? Ein grobes Versehen,
wenn es dergleichen gibt I Man hätte es natürlich
längst verbieten sollen. Oder sind diese Unberechen-
barkeiten vielleicht gar nicht so arg, als jene des
Glücksspieles? Mag der Zufall über Tod und Leben
entscheiden, sein keckes Hineinspielen in Geldver-
hältnisse wird man ihm untersagen müssen. Den
Menschen selbst kann er nach Gutdünken vernich-
ten, aber in seine Taschen hat er nicht zu greifen,
denn hier empört sich die gesunde Vernunft gegen
sein unsinniges Walten und gebietet ihm Halt. Und
es ist merkwürdig anzusehen, wie man eifrig bestrebt
ist, die kleinen und kleinsten Zufälligkeiten des
Lebens in Mausefallen einzufangen, während die
große Bestie Zufall die schlauen Fallensteller in ihrem
Rachen trägt. Ein würdeloses Schauspiel ist diese
hilflose Furcht vor dem Unbekannten, dieses Zappeln
in der Gewalt des Stärkeren; das Unberechenbare
beherrscht das Leben, es ist hoffnungslos, ihm Dämme
zu bauen, die Flut ist stärker.. Und Spielen — das
— 8
heißt, sich dieser Flut anvertrauen. Gewiß stellt das
Hazardspiel eine der wirklich vornehmen Handlungen
dar, zu welchen sich die Menschen aufzuschwingen
vermochten ; eine vollständige Hingabe an den Zufall,
ein ehrliches Waffenstrecken vor dem Schicksal. Die
Karte nimmt, die Karte schenkt. Geräuschlos, ohne
das Gerassel des kommerziellen Apparates vollzieht
sich der Wechsel. Hier ist das Walten des Schicksals
mit den allereinfachsten Mitteln, es ist die Reduktion
des Lebenskampfes auf die allerei nfachste Form,
Gewinnen oder Verlieren, der Rest von Mühsal und
Arbeit, von Zuwarten und langwierigem Sorgen ist
Beiwerk, und verschwindet. Das Glücksspiel ist ein
T6te-ä-Töte mit dem Schicksal, es ist der außer-
gewöhnliche und direkte Verkehr mit einer hohen,
dem Leben vorgesetzten Instanz. Das Zeitalter der
Bureaukratie wehrt sich dagegen, es liebt die Men-
schen, die ihr Dasein führen wollen, und der Spieler ist
ein Mensch, der sich von seinem Dasein führen läßt.
Man erhebt Vorwürfe gegen das Spiel. Es sei
eine nichtige Beschäftigung, ohne wertvolles Resultat.
Die Nichtigkeit dürfte das Spiel mit manchen anderen
Dingen gemein haben, aber eine Tätigkeit, die den
andern nicht nachsteht, ist es unbedingt. Repräsentiert
es doch den einzigen bedeutenden Nervensport, den
wir kennen. Die Übung von Arm- und Beinmuskula-
tur hat soviel begeisterte Aufmerksamkeit gefunden,
da ist es nur Mangel an Konsequenz, den Sportwert
des Spieles nicht anzuerkennen. Es ist eine Art seeli-
scher Freiübungen im Ertragen der Wechselfälle, das
Training der Nerven vor dem Zufall.
Ferner wird behauptet, daß im Spiel nicht die
Würdigkeit über das Erlangen des Gewinnes ent-
scheidet. Wenn dem so ist, so kann man es nur be-
dauern. Die Krönung des Verdienstes ist sehr
wünschenswert. Aber solange die soziale Ordnung
selber diesen Wunsch nicht berücksichtigt, solange
die wohlerwogenen Vorschriften der Vernunft nicht
— 9
zu diesem Resultate führen, ist es unbillig, vom
Zufall mehr zu verlangen. Eine blinde Absichtlichkeit
darf keinen sehenden Zufall fordern. Es ist durchaus
ungerecht, der Karte jenen Zahlungsauftrag für mensch-
liche Werte zuzuweisen, den man selbst nicht
honorierte.
Das Spiel sei ein gar zu müheloser, ein allzu-
leichter Erwerb. Dafür ist es auch der reinlichste
von allen. Keine Art des Geschäftes gibt es unter
Menschen, keinen Handel, wo Vorteil und Nachteil
so streng abgewogen, so peinlich genau ins Gleich-
gewicht gebracht sind, wie beim Spiel. Hier das
Risiko, dort die Chance. Nichts Unbekanntes, keine
Möglichkeit der Täuschung gibt es. Kein Vorwurf
kann entstehen, kein Gefühl des Übervorteiltseins sich
regen. Der Mechanismus des Erwerbens funktioniert
hüllenlos, freigelegt vor aller Augen. Die bunte Ver-
kleidung des Handels mit Waren, des Tausches von
Werten ist abgestreift, und in ihr allein kann sich
ein ungerechtfertigtes Zuviel für einen der Teile ver-
bergen.
Weiterhin hätte das Spiel Existenzen unter-
graben, Menschen zu Grunde gerichtet. Das hat seine
Richtigkeit. Aber in dieser seiner Wirkung leistet
das Spiel verhältnismäßig so Geringes, hat es so viele
überlegene Konkurrenten, daß es füglich außer Be-
tracht bleiben darf. Es sei daran erinnert, wie das
Leben selbst mit seinen Menschen verfährt, wie viel
Verluste ihnen zuzufügen, sein Ernst sich vorbehält.
Ein Unterschied ist, daß es beim Spiele bis zur
letzten Minute Erfolge gibt, das' Leben aber noch
niemand mit Gewinn verlassen hat.
Unsere Zeit sieht mit erklärter Feindschaft auf
das Spiel. Sie hat so vieles vergeblich ausgerechnet,
sie fährt noch unaufhörlich fort zu rechnen und
wittert in allem Unberechenbaren eine feindliche
Verhöhnung- ihres Tuns. Sie möchte gerne das
Spiel assimilieren, seinen Geist in Rechnungen er-
— 10 —
sticken. Mit seinem eigenen Sinn und Wesen weiß
sie nichts anzufangen und hat es in ihrer Weise inter-
pretiert. Sie faßt es als Geschäft auf, und gegen Ge-
schäfte mit gleicher Chance hat sie ein tiefgehendes
Miß rauen. Daher die Verachtung. Sie weist dem Spiel
als bloße Zerstreuung eine dienende Rolle unter den
Beschäftigungen an, sie wacht strenge darüber, daß
Mdß gehalten wird in diesem Genüsse. Eine schöne
sittliche Entrüstung hat sie für die Spielhölle übrig,
der gegenüber sie in den Fabriksräumen, die sie
baute, ihren Arbeitshimmel geschaffen hat. Sie ver- '
weigert dem Rechte des Spielers ihren Schutz, sie
erkennt die Spielschuld vor dem Gesetz nicht an.
Sie begünstigt offen den unzweideutigen Betrug, der
damit gegeben ist, daß jemand, der daran denkt, als
Verlierer nicht zu zahlen, von der Möglichkeit zu
gewinnen Nutzen zieht. Sie hat damit alles getan,
um das Spiel auf ein tiefes Niveau zu drücken, sie
hat für jede Art von Gesindel eine Lockung in das-
selbe gelegt. Und es ist ein starkes Zeugnis für den
inneren Gehalt des Spieles, wenn es trotz solcher
Maßregeln immer wieder über die Zeit triumphiert
und das bleibt, was sie niemals war: vornehm. Zur
Arbeit konnte man Tiere erziehen, ja selbst Menschen
dressieren. Niemals zum Spiel; das konnte nur frei ge-
wählt werden. Mühsam mußte man und lange für jene
Wahrheit Anerkennung erkämpfen, daß die Arbeit
nicht schändet, vergeblich aber will man stets ver-
suchen, die andere Wahrheit zu unterdrücken, daß
das Spiel adelt.
Otto Soyka.
■I
Glossen, Notizen, Aphorismen.
Der Liberalismus hatte gesprochen:
»Schon haben die Männer der Wissenschaft Apparate gebaut,
die selbst in einer Entfernung von vielen tausend Meilen die Erdbewe-
gungen verzeichnen . . .«
Darauf habe ich geantwortet:
»Je größer die Entfernung, desto sicherer funktionieren die Appa-
rate. Nur wenn sie sich am Orte des Erdbebens befinden, ist Gefahr
vorhanden, daß sie kaput gehen. «
Das Erdbeben hat das Wort:
»In Reggio und Messina haben gestern und vorgestern neue
heftige Erschütterungen stattgefunden, welche zwar keinen Schaden ver-
ursachten, aber furchtbaren Schrecken erregten. Zwei Seismologen,
welche in Reggio Beobachtungen anstellten, wurden von den Erschüt-
terungen zu Boden geschleudert, ihre Instrumente zerbrachen. Die Ge-
lehrten sind der Ansicht . . .<
Die Ansichten sind bis heute unbeschädigt.
Als ich letzthin der wohltätigen Bemühungen des Herrn
Dr. Charas gedachte, der in Catania die Hungernden gespeist,
sich dann in Rom aufgehalten und in Wien die Blinden sehend
gemacht hat, Heß ich die Möglichkeit offen, daß die Angriffe der
italienischen Presse auf chauvinistische und nicht auf kulinarische
Vorurteile zurückzuführen seien. Ich dachte nämlich, daß die Lei-
stung der Wiener Rettungsgesellschaft auf sizilischem Boden in der
Verteilung von Makkaroni bestanden hätte. Nun weide ich darauf
aufmerksam gemacht, daß ich das Maß jener Wohltätigkeit
unterschätzt und somit auch den Tadel der italienischen Presse
mißverstanden habe. Oegen die Einfuhr von Makkaroni,
die ja als Nudeln durchaus in das Ressort des goldenen
Wiener Herzens fallen, hat man in Sizilien füglich nichts einzu-
wenden gehabt. Aber der Unmut der Bevölkerung, von dem die
italienische Presse erzählt und von dem Herr Dr. Charas nichts
wissen will, soll sich eben nicht gegen die Makkaroni, die in der Tat
»geradezu verschlungen« wurden, sondern gegen ein wahrhaft
fürchterliches Ansinnen gekehrt haben : gegen die Wiener Bohnen.
Da mag man den Unwillen einer durch das Schicksal genug
gereizten Bevölkerung begreifen, und es müßte einen nicht
12
wundern, wenn die Italiener in solcher Zumutung einen feind-
lichen Anschlag Österreichs gewittert hätten. Denn es gehört schon
eine tüchtige Portion Größenwahn aus der Wiener Küche dazu,
einem fremdländischen Magen jenen Mehlpapp, der hier Gemüse
genannt wird, anzubieten. In der Stadt der Echtheit wird natür-
lich streng darauf gesehen, daß das Gemüse nur mit echtem Mehl
zubereitet wird, und die Fremden, die etwa hieher kommen, fragen
in unseren Restaurants vergebens nach jenem Grünzeug, das in
der ganzen Welt als Surrogat für unser Mehl auf den Tisch
kommt. Die ganze Welt versteht eben nichts von der Küche, und
Wien ist in Wahrheit der Einbrennpunkt der kulinarischen Kultur.
Wer hierzulande dennoch den Mut hat, den ihm vorgesetzten
Kleister zurückzuweisen, und seine Ansprüche schließlich auf
»kleine Gurken« reduziert, mag sich besorgt erkundigen, ob nicht
auch die in der Geschwindigkeit »a wengerl eing'stäubt« werden.
Ich kann die Wut der Cätanier begreifen. Zuerst das Erdbeben,
und dann die Hilfe ! Wenn ich unter Trümmern läge und Herr
Oharas brächte mir eingebrannte Fisolen, ich schickte ihn damit
unverzüglich in die Feldküche zurück. Manna in der Wüste, als
»Einbrenn< zubereitet, ist eine Provokation. Die Antwort könnte
dann hundertmal lauten: »Aber es wird allgemein gelobt*, ich
bliebe unerbittlich, und wenn der Papst mit den Köchen selbst die
Mahlzeit gesegnet hätte, ich würde ostentativ verhungern.
Der Leser erliegt dem Zauber des gedruckten Wortes, aber
er wird dieser Wirkung nicht inne. Sonst wäre es unerklärlich,
daß er noch nicht auf die Idee verfallen ist, ein Blatt zu gründen.
Der verbrecherischen Suggestion, die von der Privatmeinung eines
beliebigen Dummkopfes ausgeht, sobald sie in Druck gelegt ist,
ließe sich nur dadurch ein Ende machen, daß alle Leser sich in
Redakteure verwandeln. Dann würden sie sich das Staunen ab-
gewöhnen. Für ein paar Gulden kann jeder Kommis von jedem
Drucker in jene höchste Macht eingesetzt werden, welche die
Gesellschaft heute zu vergeben hat. Die Banken lassen es sich nicht
nehmen, Inserate zu spenden, Theater und Bahnen gewähren Frei-
karten, Verleger schicken Rezensionsexemplare. Da in einer Groß-
stadt jährlich nur fünfzig Sudler auf die gute Idee kommen, den
13
Kredit einer Buchdi uckerei und den Glauben des Publikums in
Anspruch zu nehmen, so floriert das Geschäft. Erstünden fünf-
hundert, so würden die Gebrandschatzten bald merken, daß der
täuschende Schein ein Verdienst des Setzers ist. Vor allem merk-
würdig ist, daß so wenige Druckereien selbst die Gelegenheit wahr-
nehmen, Zeitschriften herauszugeben. Die Lettern, auf die es aus-
schließlich ankommt, sind da, und der Vorwand, Freikarten und
Annoncen zu bekommen, wäre in einer Stunde hergestellt. Geradezu
grotesk ist es, daß ein Buchdrucker, der seine Familie ins Theater
oder auf das Land schicken will, in jedem einzelnen Falle erst einen
befreundeten Redakteur in Anspruch nehmen soll, da er doch viel
rascher ein Blatt drucken und sich ein für allemal das Recht auf
Benefizien sichern könnte. Mir ist weit und breit nur eine einzige
Zeitschrift bekannt, die solcherart dem Haushalt eines Druckers
dient. Früher hatte er sich auch einen Redakteur gehalten, der so
lange im Wege stand, bis er zum Kaiserjubiläum ausgezeichnet
wurde. Aber um Waschzettel und Vordrucke zu übernehmen, dazu
braucht wahrlich keine Druckerei einen kaiserlichen Rat. Und jetzt
erst wird der Leser sehen, was eine Zeitschrift zu leisten imstande
ist. Wie ein Alpdruck lastete die Individualität jenes Mannes auf
ihr. Das wird in einem Aufruf an das Volk durch die Versicherung
angedeutet, das Blatt werde mit diesem Jahre ein »frischeres Aus-
sehen« bekommen. Und dann heißt es wörtlich:
Wir haben vor, die von uns zur Schlichtung des österreichischen
Völkerstreites stets verfochtene Idee der Autonomie auch in den redak-
tionellen Betrieb einziehen zu lassen. An Stelle einer >Zentralleitung«
haben wir einigen unserer bewährten Mitarbeiter die selbständige
Leitung der Ressorts : Politik, Volkswirtschaft, Schule, Naturwissenschaft
und Philosophie, Literatur, Kunst und Musik übertragen und hoffen,
durch ein wenn auch nur im kleinen gelungenes Beispiel die Richtigkeit
unser politischen Ideen beweisen zu 'können. Wir stehen vor großen
politischen Ereignissen und Kämpfen, die entscheidend auf die Gestaltung
unseres Vaterlandes sein werden. Wir werden in diesen Kämpfen immer
offen und entschieden . . .
Merks, Österreich, und kassiere dir deine Steuern autonomisch
ein ! Die Hauptsache ist, daß gedruckt wird. Auf die Zentralleitung
wird gepfiffen.
274
14
». . . Eine Zeitschrift aber verdient es, einmal an den Pranger gestellt
zu werden, da sie aus dem verhältnismäßig anständigen Rahmen unserer
literarischen periodischen Veröffentlichungen ganz herausfällt, und das
ist Maximilian Hardens .Zukunft*. Nehmen Sie doch einmal ein Heft
dieser Wochenschrift in die Hand. Es ist so ungefähr das Schlechteste,
was Sie überhaupt finden können; an Minderwertigkeit nicht einmal über-
troffen von den Indianer-Schmökern und Hintertreppen-Romanen.
Diese Kritik betrifft nicht etwa den Inhalt der .Zukunft',
sondern bloß ihre Ausstattung. Sie steht im .Graphischen Centralblatt'.
Das Papier holzig, die Typen abgenutzt, der Druck so liederlich,
daß eine Seite lichtgrau und die andere wieder so rußig schwarz er-
scheint, daß, wenn man mit dem Finger darüber hinstrefcht, die
Druckerschwärze in Kometenform über die Seite fliegt. Dann die unsag-
bar rohe Weise, das Heft zu beschneiden, so daß auf einer Seite der
Text in einem Abstand von 2 cm vom oberen Rande einsetzt und auf
der Gegenseite eventuell nur in einem solchen von 2 mm. Ja, beim
Inseratenteil kann man es sogar häufig genug erleben, daß gleich eine
halbe Zeile mit weggeschnitten ist!
Und nun meine Herren, lassen Sie uns doch einmal ein kleines
Rechenexempel bezüglich der .Zukunft' anstellen: Diese Zeitschrift wird
in einer durchschnittlichen Auflage von ungefähr 35.000 Exemplaren
gedruckt. Das Heft kostet 50 Pfg. Wir nehmen an, daß es die Abon-
nenten billiger haben und rechnen deshalb nur einen Durchschnittspreis
von 40 Pfg. pro Heft. Das würde einen Umsatz von mehr als 15.000 Mk.
ergeben. Von diesem Betrage rechnen wir ab 5000 Mk. für den Buch-
händlerverkehr: bleiben 10.000 Mk. Davon ziehen wir weiter ab
3000 Mk. für die Herstellung des Heftes. Rest: 7000 Mk. Von diesen
wären dann weiterhin noch in Abzug zu bringen die Honorare. Sie
wissen, Harden schreibt seine .Zukunft' zur Hälfte selbst; es ist also
hoch genug gegriffen, wenn wir für jedes Heft 1000 Mk. ansetzen. Bleiben
6000 Mk. Hiervon rechnen wir dann noch einmal 1500 Mk. herunter für un-
verkaufte Exemplare; doch haben wir diese auf der anderen Seite wieder
voll und ganz hinzuzuzählen für Inserate und Extrabeilagen. Es bleiben
also in jedem Falle mindestens 6000 Mk. blanker Reingewinn für ein
Heft; das heißt also jährlich 312.000 Mk.! Meine Herren! Für 312.000 Mk.
jährlichen Reingewinn kann man, wenn man ein Kulturförderer sein
will, etwas mehr für die Buchdruckerkunst tun; für die Kunst, der es
Harden doch in erster Linie verdankt, daß er weit gekannt, weit ge-
rühmt und weit gefürchtet ist. So, nun hat Herr Harden das Wort. Wie
sagt er doch ? ,Ich hab's gewagt, bin unverzagt und will des Ends
erwarten.'«
Daß jetzt auch schon der Outtenberg an der Ehrlichkeit
des Hütten zu zweifeln beginnt, das könnte einem alle Freude an
der historischen Bildung verderben. Wenn jener aber glaubt, es
sei eine Lust zu leben, wenn man bloß 312.000 Mark jährlich
— 15 —
verdient, so irrt er. Die Qeister werden erst wieder wach, wenn
man für das Vaterland eine Konzerttournee unternimmt und für
jeden Vortrag 3000 Mark bekommt. Dabei hat sich Herr Harden
ursprünglich die Entbehrung auferlegt, bloß 1500 Mark zu verlangen,
über die der Münchner Impresario bei den schlechten Zeiten
nicht hinausgehen konnte. Erst als ein anderer Münchner Im-
presario von dem Plan erfuhr und beherzt depeschierte: ich biete
3000, war er bereit, sich an das teurere Vaterland anzuschließen
und das deutsche Volk zu erhöhten Preisen vor dem Kaiser zu
warnen. Aber auch das deutsche Volk kommt dabei nicht zu kurz.
In Magdeburg zum Beispiel hat der reisende Patriot die vernünf-
tige Einrichtung getroffen, daß vor dem Vortrag > ergebenste Ein-
ladungen« verschickt und jene Einwohner, die eine solche an der
Abendkassa vorweisen, eines Rabatts von 25 Prozent teilhaftig
werden. Eine Herrn Harden feindliche Zeitung meint, er habe
sich vom ,Simplicissimus' inspirieren lassen, den er zwar nicht mehr
ganz so gern sieht wie früher, dessen Bild »Komm mit, Kleener
- ickjebe Rabattmarken!« er aber unbedingt gesehen haben müsse.
Mit Unrecht erinnert das Blatt an die Belagerung Magdeburgs
durch Tilly; wir halten bei Hütten. In einem Punkte aber
hat jenes andere Blatt, welches wieder die Erfindung der
Buchdruckerkunst auf Kosten der Kultur überschätzt, deren
entschiedenstem Bahnbrecher Unrecht getan. Es wäre ein
lächerliches Mißverhältnis, wenn Schäbigkeit der Ausstattung
mit einer Noblesse gepaart wäre, die 1000 Mark für jedes
Heft der ,Zukunft' an die Mitarbeiter zahlt. In welcher
Welt lebt denn das »Graphische Centralblatt', und mit welchen
Augen sieht es, daß es nur das holzige Papier wahrnimmt und
nicht, womit es bedruckt ist? Wenn die kostenlosen Vordrucke
aus soeben erscheinenden Werken und die Selbstanzeigen der
Autoren noch Raum für einen Originalbeitrag lassen, so gehört
die ganze Fachverlorenheit eines graphischen Blattes dazu, zu
glauben, daß für ein Heft der ,Zukunft' mehr als hundert Mark in
Honoraren aufgehen. Es gibt kein zweites Beispiel in der Publizistik,
das cineso praktikable Verbindung wirtschaftlicher Zurückhaltung und
literarischen Entgegenkommens vorstellte. Und daß sich mit der Ein-
richtung der Selbstanzeigen auch noch andere Effekte herausschlagen
lassen, hat Herr Harden kürzlich bewiesen, als er die Notiz eines
16
Mitarbeiters der »Fackel' brachte, der sie ihm lange vor den
Sexual-Triumphen geschickt hatte. Allgemein ist die Ansicht ver-
breitet, daß der Herausgeber der ,Zukunft' heute für gute Namen
selbst Honorar auszuwerfen bereit wäre. Die Auflage — mag auch
die Schätzung jenes Fachblattes übertrieben sein — hat sich gewiß
nicht verringert. Aber ein Erlebnis, das eine heroische Natur um-
warf, ist die Erfahrung, daß Enthüllungen aus dem Leben hoch-
gestellter Päderasten bloß dem Qeschäft nützen, aber nicht zu-
gleich auch der Ehre.
Daß die Seele der Schauspielerin ein Defekt ihrer Schönheit
sei, diese Erkenntnis, die hier oft geformt wurde, fliegt jetzt der
deutschen Theaterkritik aus dem Auslande zu. Der .Frankfurter
Zeitung' wird aus Italien geschrieben:
>Frau Düse gehört der Vergangenheit an. Wenigstens in Italien,
wo man wohl ihr ungewöhnliches Talent zu schätzen wußte, aber sich
doch stets einen zu starken Sinn für die Form, die schöne Form be-
wahrt hat, um in dem Charakteristischen ä tout prix je die Kunst zu
erblicken. Die Vorzüge, die man hier von jeher am höchsten einschätzte
und, wenn nicht alles täuscht in nicht allzu langer Zeit auch in Deutsch-
land wieder zu sehen lernen wird, liegen in einer anderen Richtung,
als die ist, welche Eleonora Duses unerhörte Kunst notgedrungen ein-
schlagen mußte. Eine sehr ernste Bühnenzeitschrift, die Maschera, hat
vor kurzem eine Rundfrage erlassen, deren Resultat jetzt vorliegt. Eine
Rundfrage ist nun nicht gerade eine einwandfreie Sache ; aber die Ant-
worten sind doch für den Kenner interessant genug. Die Leser hatten
darüber abzustimmen, welche Schauspielerin Italiens ihrer Meinung nach
die talentvollste, welche die schönste und welche die eleganteste sei.
Schon die Fragestellung ist delikat genug. Das Resultat aber beweist
eine überraschende Höhe des Geschmacks. Die talentvollste ist danach
Teresa Mariani, die große Tragödin, die in gewisser Weise mit der Düse
verwandt, weniger intensiv als diese, aber um vieles anmutiger und
frauenhafter, nie vergißt, daß die Kunst, daß jede Kunst symbolischen
Charakters ist. Den Preis der Schönheit trug Tina di Lorenzo davon,
die auch in Deutschland Bewunderer besitzt. Die eleganteste ist nach
dem Urteil der Leser der Maschera Lida Borelli.«
Das ist natürlich Unsinn, denn die talentvollste ist immer
auch die schönste und eleganteste und umgekehrt. Und so richtig
es ist, daß die Kunst der Düse eine notgedrungene Kunst ist, so
unmöglich ist es, daß unerhörte Kunst je notgedrungen sein kann
und umgekehrt. Immerhin, es mehren sich die Zeichen, daß mit
- 17
der Seele aufgeräumt wird. Man ist irgendwie unbefriedigt. Aber
man wird es bleiben. Denn wenn das heutige Leben den Frauen
bloß eine Seele gestattet, wie sollte das heutige Theater ein
Höheres bieten?
Die empfängliche Tageskritik, die einen geistigen Dukaten
sofort in kleine Münze umwechselt und mit frischen Kreuzern so
splendid herumwirft, daß man rein glaubt, es seien Dukaten,
geht jetzt ernstlich daran, vom Theater eine andere Meinung zu
bekommen. Daß eine Schauspielerin, die den Sinnen nichts gibt,
von der Seele beweint wird, daß der Unsinn der Operette roman-
tischer Abkunft sei und dem Gefühl zuspreche, wenn er dem
Verstand widerstrebt, es räuspert sich und spuckt allerorten nach
solcher Erkenntnis. Die Forderung aber, daß der Schauspieler wieder
vom Theater Besitz ergreife und daß man ihn mit allen literari-
schen Weisungen ungeschoren lasse, finde ich in einem deutschen
Tagesblatt wie folgt vertreten:
Kann Schauspielkunst sich dämonischer manifestieren, als wenn
sie durch schlechte, unlebendige Stücke wie ein Strom braust, der von
den Quellen des Lebens kommt, und totes Gestein mit Blüten segnet?
Und können wir die Sehnsucht, die uns ins Theater treibt, in ihrer
Wesenheit deutlicher erfüllen, als wenn uns eine schöpferische Kraft
aus den engen Buchstabenzäunen und dumpfen Wortgebüschen mittel-
mäßiger Autoren plötzlich hinaushebt in reinere, sonnenhelle Lande?
Dann wissen wir: daß wir dieses eine nur wünschen im letzten, für
dies eine uns an den Kassen balgen, in unbequemen Stühlen klemmen,
und unzählbare Abendstunden unseres Lebens hingeben, um dieses
einzige Erlebnis zu erhaschen, dieses Hinausgehobenwerden . . . Und
darum ist es gleichgiltig, wie die Stücke heißen, in denen sie auftritt,
ob sie dumm sind oder erhaben, oder beides zusammen. Und wie wir
dem amusischen Schauspieler den Vorwurf als größten entgegen werfen,
daß er immer derselbe ist in allen Rollen, so haben wir einer Persön-
lichkeit wie der ... . gegenüber den Wunsch, sie möge uns immer
als die gleiche, frische, urtümliche Natur erscheinen, deren prachtvolle
Selbstherrlichkeit wir nicht eingeengt sehen wollen.
Das unterschreibe ich ja alles, oder vielmehr, das alles
unterschreibt mich, aber welchem weiblichen Girardi gilt die gute
Anwendung?
Diese Frau revolutioniert für ihre Person gewissermaßen die
Schulgesetze der Schauspielkunst als dei proteischen, und schmeißt das
dramaturgische Lehrgebäude pedantischer Perücken mit einem Anhauch
ihres elementaren Lachens über den Haufen.
18 -
Welche künstlerische Macht ist es, die so alles Urteil über
den Haufen wirft, daß von einem aufnahmsfähigen Kritiker nichts
übrig bleibt als ein Schmock?
...Kann sein, dies war eine von den Halluzinationen, wie sie die
Götter denen zuweilen senden, die ihre mechanistische Weltanschauung
draußen in der Garderobe zu lassen pflegen und gläubigen Herzens im
Parkett sitzen wie im Vorhof eines Mysteriums. Das aber will ich
gegen zwanzig Professoren der Philosophie verteidigen, daß ich nachher
gesehen habe, wie gegen das Finale des Stückes aus der Mitte des
beglückten Saales etwas wie ein Gehäuse nach der Bühne sich hin-
bewegte und, einem gläsernen Sturz nicht unähnlich, sich um die
lächelnde Frau schloß. Und sie saß darin und sang wie der Vogel im
..iurchen, der erlöst wurde aus quälenden Träumen . . .
Die Dame heißt Pepi Glöckner. Ich ziehe alles zurück.
*
In den Zeiten der lustigen Witwenpest war auch die Kinder-
sterblichkeit groß. Einige Wiener Lehrer haben eine Statistik des
Theaterbesuchs der Schuljugend ausgearbeitet. Die »Lustige Witwe«
wurde zwar nicht so oft besucht, wie man vermuten sollte, aber
auch ohne unmittelbare Berührung ist die ansteckende Wirkung
nachweisbar. In der Statistik werden nämlich einige Titelverstüm-
melungen vermerkt, die sich die Schüler geleistet haben. Die trau-
rigste, deren Ursprung die unkundigen Lehrer nicht ahnen, ist das
Bekenntnis, die »Vilja Hospitalis« besucht zu haben. So peinlich
nun die Tatsache berühren mag, daß ein junges Gemüt so ver-
leitet wurde, noch gräßlicher ist die Vorstellung, daß ein
junges Qehirn eine beliebige Filia in jene berüchtigte Vilja ver-
wandelt, die als Waldmägdelein des Okkupationsgebietes uns
Erwachsenen fünf Jahre lang den Aufenthalt in jedem NachtcafS
verleidet hat.
*
Es kann eine Bosheit sein, wenn ein Blatt dem Lokal-
redakteur eines andern, der nebenbei auch Vorträge über »Tausend
und Eine Nacht« hält, das Lob nachsagt, er sei »ein Pfadfinder
im Labyrinthe orientalischer Märchendichtung«.
*
Wenn es in einem Dampfbad hocharistokratisch zugeht,
wendet die Presse eine eigene Terminologie an. Im Münchner
Hofbade haben sich ein paar Herren auf ihre Weise vergnügt,
19 -
und ein Wiener Blatt sagt, daß ihnen >der Boden unter den
Füßen zu heiß wurde« und daß sie es deshalb vorgezogen
haben, >den Staub Münchens von ihren Schuhen zu schütteln<.
Dampfbad, heißer Boden trotz Schuhen, Staub trotz Dampf-
bad . . . man sieht, wie toll es in der Heißluftkammer der
journalistischen Gehirne zugeht. Aber auch besseren Schrift-
stellern kann Hitze zu Kopf steigen. Einer schreibt etwa gegen
die »Nacktkultur«: »Eine merkwürdige Zeit, die unsrige. Sie
schwitzt Kultur aus allen Poren, aber das erste dürftige Kleidungs-
stück, das der Wilde auzulegen pflegt, wenn er zum Bewußtsein
seiner Nacktheit kommt, möchte sie abschaffen.« Ja, wie denn auch
nicht? Wenn die Zeit schwitzt, ist es doch natürlich, daß sie die
Kleidung ablegt.
Aus Milwaukee (Wiskonsin, U. S. A.) wird mir eine Zeit-
schrift ,Der Einsame' geschickt, die unter allen in zehn Jahren
entstandenen und vergangenen Nachahmungen der , Fackel' die weit-
aus sympathischeste vorstellt. Daß sie ganz so unpraktisch ist, wie
das Original, beweist sie dadurch, daß sie selbst die zwanglose Folge
und das Erscheinen in Doppelnummern nachahmt. Aber der
Spiegel ihres Inhalts läßt mich nicht vor meinem Gesicht erschrecken,
das mir durch die antikorruptionistische Fratze meines Wirkens
hierzulande verleidet wurde. Es ist offenbar, daß das Vorbild
keinen anderen Anteil an dem Werke hat, als daß es dem Be-
dürfnis, sich selbst zu regen, einen Stützpunkt gab, und es scheint,
daß das deutsche Geistesleben Nordamerikas für solches Bedürfnis
Platz hat. Zwischen mancherlei Beweisen eines angestrengten-
Wollens bricht Unmittelbarkeit, Frische und polemische Jugendlust
durch. Über ein Interview einer Dame mit Häckel (welch eine
Welt, in der dergleichen möglich ist!) wird ganz Zutreffendes ge-
sagt. Mir ist diese Flachsinnsorgie entgangen und darum zitiere
ich gern - mit kleinen Abschleifungen - , was die deutsch-amerika-
nische Zeitschrift darüber sagt. Einen Satz, der im Eingang steht,
lasse ich stehen, wiewohl ich ihn selbst in diesem Heft ge-
schrieben habe. Ich habe ihn natürlich früher geschrieben als
gelesen, und vielleicht hatte ich ihn schon vor Jahren geschrieben.
20 -
Aber gerade dieser Satz und dieses Zusammentreffen sind für die
Stilwirkung der ,Fackel' bezeichnend:
In der Rätselecke des .Berliner Tageblattes' wurden am 12. De"
zember des Vorjahres die letzten Probleme gelöst. >Im Häckel'schen
Hause in Jena, Gespräche mit dem Meister«, nennt sich das Zwiege-
spräch, das eine geschäftige Dame, Fräulein Else Roth von Otto, mit
dem Aufdecker der »Sieben Welträtsel« gepflogen hat und dessen triple
extrait sie in fast vier Spalten verspritzt. Sie begnügt sich nicht mit
der bescheidenen Wallfahrt zu Häckels Hause in der Bergstraße, nein
Exzellenz muß erscheinen und über die letzten Dinge befriedigenden
Aufschluß geben. Zwar konstatiert Frl. von Otto in selbstentsagendem
Tone, daß sie sonst stillschweigend neben Häckel einhergeht und nur
die Saale murmelt; aber heute sind die Rollen vertauscht: Elsa — ach,
n i e sollst du mich befragen ! — murmelt geheimnisvoll, Häckel ant-
wortet und nur die Saale schweigt, hurtig die Wogen wegwälzend . . .
die freundlich-geschäftige Fragerin aber nennt das grausame Spiel »den
Kultus des Wahren, Outen und Schönen«. Nachdem der Gelehrte höflich
konstatiert hat, daß es zwar kein Paradies im Jenseits, aber ein solches
in Jena gibt, geht sie sofort scharf ins Zeug und fragt ihn die Gewissens-
frage, wie er es mit der Religion halte, indem sie ihn um einen kurzen
Leitfaden über den Monismus als Band zwischen Religion und Wissen-
schaft bittet. Häckel — der, nebenbei gesagt, nie den Mut des kon-
sequenten Atheismus gehabt hat und stets bemüht war, neuen Sprudel
in alte Schläuche zu gießen — antwortet, daß »bei folgerichtiger Auf-
fassung des Monismus tatsächlich die beiden Begriffe von Religion
und Wissenschaft zu einem verschmelzen. Schon Spinoza und Goethe
haben dieser klugen Weltanschauung Ausdruck gegeben. . . Schließlich
wird sich niemand dem mehr verschließen können.« Aber Elsa Roth von
Otto posiert den advocatus diaboli: »Sind Exzellenz davon wirklich so
fest überzeugt? Meiner Ansicht nach gehen wohl die meisten Menschen
deshalb in die Kirche, weil sie es von altersher so gewohnt sind, der
Bureaukrat aber glaubt an den Kirchenregeln festhalten zu müssen,
weil seine soziale Stellung es verlangt.« Mit elastischer Nachgiebigkeit
vollzieht der Gelehrte den Sprung von den letzten Fragen der Philo-
sophie zur ersten Gesellschaft Berlins, gibt mit hoher Befriedigung die
tiefe Erkenntnis kund, daß die Dummen in der Mehrzahl sind und die
Gescheidten in der Minderzahl, spricht aber doch schließlich seine
Hochachtung aus für die heutige Menschheit, die sich durch eine ein-
heitliche Weltanschauung auf eine höhere Stufe — der Erkenntnis, des
Wissens? — nein, der Vollendung erheben wird. Hier kann Frl. von
Otto es sich nicht verbeißen, einzuschalten, daß der eigentliche Reiz,
den Häckel auf seine Umgebung ausübt, darin besteht, die verschiedensten
Fragen geistreich zu behandeln, ohne langweilig zu werden. Aber
eine Dame fragt mehr, als hundert Geistreiche beantworten können.
»Glauben Sie nicht auch, Exzellenz, daß jedes einzelne Individuum mit
seinem Gemütsleben der Religion anders gegenübersteht?« »Gewiß«,
sagt Häckel ernst; und er setzt ihr auseinander, daß die verschiedenen
21 —
Religionen »den Menschen in die Poesie einer höheren idealen Welt
versetzen sollen.« (In unserer Philisterwelt ist bekanntlich alles zu einem
bestimmten Sollen da.) »Aber der wirklich moderne Mensch findet nur
in der freien Natur das wirklich Gute, Wahre und Schöne.« Frl. von
Otto nennt dies einen »bedeutenden geistigen Standpunkt« und konstatiert
bedauernd, daß nicht alle Menschen auf demselben stehen. »Viele be-
dürfen der Kirche, sie ist das Rückgrat, das ihnen einen Halt gibt.»
Darauf Häckel: »Das verstehe ich nicht!« (Das bezieht sich natürlich auf
die Sache und nicht auf die kristallklaren, fein zugespitzten Apercus der
scharfen Dialektikerin.) Und er stellt fest, daß die Wahrheit nur von der
Wissenschaft gelehrt wird, »Und wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
hat damit auch einen Ersatz für den streng orthodoxen Kirchenglauben
gefunden.« — Was ist Wahrheit! sagt Pilatus, aber Frl. von Otto klappt
behende das Hörrohr zu und das Sprachrohr auf; mit echt weiblicher
Verdrehung des Streitgegenstandes sagt sie: »Aber die Kirche will
doch keinerlei wissenschaftliche Aufklärung anerkennen«. Dies gibt
Häckel zu und mit vereinigten Kräften wird in wenigen Zeilen der
Widerspruch zwischen Kants reiner und praktischer Vernunft aufgedeckt
und nochmals vernichtet, sozusagen mit zwei Tritten ins Leere; denn
Häckel konstatiert selbst, »daß der offenkundige Gegensatz der beiden
Vernünfte schon im Anfange des IQ. Jahrhunderts erkannt und widerlegt
wurde.« Jetzt aber wird es fürchterlich, denn Frl. von Otto ist nicht
mehr zu halten. Sie erzählt, daß der Deutsche Monistenbund eifrig be-
müht ist, der neuen monistischen Ethik die größte Verbreitung zu
sichern ; fragt, ob man die christüichen und israelitischen Sagen nicht
als Dichtungen lehren könnte; konstatiert, daß dies auch für die Kinder
vorteilhaft wäre und das Substanzproblem noch nicht gelöst ist — was
Häckel »lachend« zugibt — und fragt »gespannt«, wie eigentlich die
Aktien des Vereines zur Zertrümmerung der alten Weltanschauung
stehen .... Wer für Häckels Wirken jenen Respekt hat, den das Schaffen
dieses auf naturwissenschaftlichem Gebiete Großen hervorrufen muß, der
hat es wohl schon schmerzlich empfunden, daß er in pseudophilosophi-
schen Werken am Schleier der Maja herumzupft, ohne ihn auch nur
um Millimeterbreite zu lüften. Aber wer es lesen muß, wie dieser Ge-
lehrte in Interviews mit geschäftigen Damen ä la Suttner mit billigen
Redensarten herumwirft, kaum gut genug, um in populären Vorträgen
vorgebracht zu werden; und wer diese Brocken, halbverdaut, wieder-
findet in deutschen Blättern, die vom intelligenteren Teil der Bevölkerung
gelesen werden, der wird solchem billigen Zeugs gegenüber — und
wäre er überzeugter Atheist - kaum die Meinung unterdrücken können:
Wenn Gott nicht existierte, man müßte ihn erfinden!
In dem entzuckenden Buche »Lichtenbergs Mädchen«
(Verlag der .Süddeutschen Monatshefte'), das die Korrespondenz
mit Hofrat Meister (herausgegeben von Erich Ebstein) und das
22 —
Faksimile eines Gedichtes bringt und das gewiß weniger Deutsche
gelesen haben als den Briefwechsel von Moritz und Rina, finde
ich einen Brief, dessen satirische Meinung von stärkstem Interesse
für das heutige Wien sein müßte. Sie trifft die schnöden Umbau-
meister unserer Stadt und befaßt sich mit jener Architektonik des
Überflüssigen ganz und gar in dem Sinne, in welchem heute
Adolf Loos dem herrschenden Geschmack die Indianerfreude an
dem Ornament nachweist. Lichtenbergs Vorliebe für den engli-
schen Stil des Lebens verleugnet sich hier nicht:
»Ew. Wohlgeb. sende ich hierbey die vorgestreckten
Bücher rr.it gehorsamsten Dank wieder zurück. HE. Prof.
Feder, der ein sehr vertrauter Freund des Ob(er) Commiss(är)
Maynberg ist, soll gelegentlich einmal meine Meinung
über die Schönheit eines Stadtthors vernehmen, und ob
ich gleich mehrere schöne Thore gesehen, auch selbst dem
Bau zweyer beygewohnt habe, die ebenfalls mehr gegen die
Feinde der Licent-Casse als des Vaterlands angelegt worden sind,
so wolte ich doch gern meine dunckeln, oder höchstens klaren
Ideen ein bisgen aus Büchern deutlich machen, und diesen Zweck
habe ich durch Ihre Gütigkeit, so viel als nöthig erreicht. Nur
Schade, ich hatte mich auf eine Rede geschickt, die ich, wies zum
Knoten kam, nicht halten konnte. Nemlich die Göttingischen
Thore, (auf diese nemlich war es angesehen), sollen keine Bogen
und kein anderes Gewölbe haben, als den blauen Himmel. Bey
solchen Vorschlägen weint freylich die architectonische Muse und
überträgt die Sache dem Mauermeister. Alles, was ich bey der
Sache gethan habe, war zu verhindern, daß keine Würfel auf die
Spitze gestellt wurden, daß keine Ananas auf den Thorpfosten
einer Stadt blühen mögten, wo die Cartoffeln kaum in der Erde
gerathen. Auch den Artischocken habe ich mich widersezt und
eben so den Urnen und Blumentöpfen, wo dagegen gerathen,
daß man ja Blumentöpfe da haben wolte, man lieber gelben Lack
und die Viola matronalis in Natura hinstellen mögte, als die
Bildung derselben unsern Künstlern überlassen, die ihren Stil an
den Fußbänken verdorben und sich daher selten über 6 Zolle über die
Gosse erhöben. Es werden also wohl der Stadt Leu und der Lüneburg-
ische Hengst und zwar von HE. Nahl in Cassel gearb(eitet) sich
einander Wappen weisen und Gesichter schneiden, und jeder
28 —
Pfosten soll aus gekuppelten Dorischen Pfeilern bestehen, just
stark genug, um den blauen Himmel zu tragen. Ich hatte einen
Plan im Kopf, der würklich, recht wenig zu sagen, von der Art
war, von denen man zu sagen pflegt, daß sie sich gewaschen
hätten. Das Thor sollte einen Fronton erhalten, auf dessen schar-
fer Kante ich einen Globum coelestem und eine Punsch Bowle
nach Art der Würfel balancieren wolte, um sie sollte ein Krantz
aus Coquarden, Zwieback und Rosen nebst Citronen Schaale
Bändern geschlungen seyn mit der Ueberschrift Omnibus idem.
Zwischen die Triglyphen hatte ich in die Quadrate Mettwürste,
ebenfalls Zwiebäcke in Pythagorischen Triangeln nebst Pottkuchen
gestellt. In den Fronton nach dem Felde solte Kulenkamps Sil-
houette mit dem Matrikulwerk aufgeschlagen und der deutlichen
Zahl 999 und der Unterschrift kommt her zu mir zu stehen
kommen; nach der Stadt zu solten Stocks und Maynbergs Sil-
houette gestellt wtrden mit der Unterschrift Stocklo et Maynbergio
in Philistaea Leinana conss. Im Schlußstein nach dem Feld hätte
ich eine Fuchsfalle abgebildet, auf dem andern aber gegen die
Stadt einen Fuchs im Taubenhaus, oder auch den Storch, wo er
den Fuchs auf eine Flasche Milch invitiert, in die er mit seinem
dicken Maul nicht hineinkann, oder so etwas. Sagen Sie selbst,
liebster HE. Professor, ob es nicht schändlich ist, in diesen Tagen
des dringenden Genies solche Sachen zu unterdrücken, ja ich
habe sogar gedacht, ob man nicht selbst dem Orönder und Ween-
der Thor Flügeln das Ansehen von einer Fuchsfalle hätte geben
sollen, um einen zudringlichen Postwagen nicht sowohl auszu-
schließen, als vielmehr zu fernerer Behandlung einzuklemmen.
Allein nun Schertz bey Seite, und (den Dank zu Anfang
allein ausgenommen) zur eigentlichen Absicht meines Briefs «
Da in den nächsten Tagen mein Aphorismenbuch er-
scheinen wird, dessen Durcharbeitung und Komposition jene
Plage war, deren Wohltat das Erscheinen leider ein Ende setzt,
so fühle ich mich gedrängt, den Freunden zu danken, die mir
als erste, wertvollste Leser und Hörer durch Urteil, Rat und vielfache
^ 24 —
Unterstützung in den Korrekturen beigestanden sind: den — in
alphabetischer Folge genannten — Herren Karl Hauer in München,
Ludwig R. v. Janikowski und Otto Stoessl in Wien. Das Buch
»Sprüche und Widersprüche« erscheint zunächst außerhalb der
Reihe meiner Ausgewählten Schriften, in die ich es gemäß einer
Vereinbarung mit dem Verleger erst nach fünf Jahren aufnehmen
kann. Die Arbeit an dem Bande >Kultur und Presse« (I. Teil), die
ich lange aussetzen mußte, wird hoffentlich In diesem Frühjahr
beendet sein.
Das älteste Wort sei fremd in der Nähe, neu-
geboren und mache Zweifel, ob es lebe. Dann lebt
es. Man hört das Herz der Sprache klopfen.
Ein Paradoxon entsteht, wenn eine frühreife Er-
kenntnis mit dem Blödsinn ihrer Zeit zusammenprallt.
Ei sieh, der Verwaltungsrat der Kretinose-
Aktiengesellschaft und der Direktor der vereinigten
Banalitätswerke !
Er starb, von der Äskulapschlange gebissen.
Bevor man das Leben über sich ergehen läßt,
sollte man sich narkotisieren lassen.
Karl Kraus.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraut.
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamisciraße 3.
N DEN NÄCHSTEN TAGEN
GELANGT ZUR AUSGABE:
KARL KRAVS
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Verlag ALBERT LANGEN München
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€%!& natürlicher
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DIE F A C K B I>
Herausgeber: KARL KRAUS.
erscheint in zwar ifange von 16—32 Seil
BEZUGSBEDINGUNGEN :
innmern, portofrei .... • . K 9.50
."......, 4.-
(i. Weltp . . . „ l'j.—
» i» n „....„ 6. —
Das Abonnement erstreckt sich nicht auf einen Zeitraum,
sondern auf eine bestimmte Anzahl von Nummern.
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ichland :
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München, Franz Josefstraße 9.
Inhalt der vorigen Doppel-Nummer 272—273, 15. Fe-
a. Von Karl Kram — Das Ehrenkreuz. Von Karl
Mi?. — Kunst und Motal. n Oskar Wi
■ Karl Kraus I. VonOttoSto Eine
Schrift Von Elisabeth che. - Sprüche
liehe. Von Karl Kraus.
SUBSKRIPTIONS-EINLflDUNG.
flb Ende März erscheint bei der unterzeichneten Verlagsgesellschaft ein aus
zwölf Kunstblattern erotischen Charakters bestehendes Mappenwerk
„DER PHÖNIX". Die zwölf Ein/elkunstblätter stammen von den
folgenden Künstlern:
Th. Th. Heine (München) Pascin (Paris)
Konstantin Somoff 'St. Petersburg) fllbert Weisgerber (München)
Yasuda Minori (Tokio) Willi Geiger (München)
Karl Arnold (München) G. J agerspacher (München)
Heinrich Kley (Karlsruhe) Luis Vesco (Salzburg)
Otto Kopp (München) Hubert Wilm (München)
Das Werk erscheint in 6 Lieferungen, die einander In monatlichen ftbständer
folgen. Alles Nähere über Bezugsbedingungen etc. enthält ein aus-
führ!icherProspekt,der auf,Verlangen umsonstu. portofrei zugesandt wird.
München, Verlagsgesellschaft Münch<
Franz Josefstraße 9/0. G. m. b. H.
Doppel Nummer (Preis eo Heiler)
Kr. 275 — 276. 22. März 1909 X. Juhi
Die Fackel
Herausgeber:
KARL KRAUS
INHALT:
Die Hundsgrotte. Von Karl Kraus. — Mittel-
schule. Von Otto Soyka. — Literatur. Von
Karl Kraus. — Erotische Krisen. Von Paul
Barchan. — Glossen. — Sprüche und Wider-
sprüche. Von Karl Kraus. — Pascin. Von Karl
Borromaeus Heinrich. — Der Fortschritt. Von
Karl Kraus.
Erscheint in zwangloser Folge.
Nachdruck und gewerbsmäßiges Verleiben verboten ; gerichtliche
▼erfolgung vorbehalten.
WIEN.
SOEBEN ERSCHIENEN:
KARL KRAVS
SPRVECHE
VND WIDER-
SPRVECHE
Verlag ALBERT LANGEN München
DURCH ALLE BÜCHHANDLUNGEN ODER DIREKT VOM VERLAG ZU BEZIEHEN.
Die Fackel
Nr. 275-76 22. MÄRZ 1909 X.JAHR
Die Hundsgrotte.
»Ein Ort verborgen unter faulem Nebel,
Von Sümpfen, die herquellen vom Cocytus,
Aushaucht er lauter heiße gift'ge Dämpfe.
Es kann Autumnus keine goldnen Früchte
Hintragen, und der Frühling keine Blumen
Und keine blühnden Zweige voll von Sängern
Der süßen Liebe, keine Nachtigallen.
Hier wohnt das alte Chaos . . .«
Petronius.
Es ist unmöglich, der Justiz Unrecht zu
tun. Aus dem flüchtigsten und entstelltesten Gerichts-
saalbericht gewinnt man das richtige Bild einer
Verhandlung. Es mag der Fall sein, daß kein Wort
so gesprochen wurde, wie es der Bericht wiedergibt:
die Justiz würde den schärfsten Haß schon darum
verdienen, weil sie selbst die Wahrheit hinter die
Reklame stellt und ihr der Respekt vor der Tages-
presse den Willen lähmt, falsche Tatsachen durch
eine Berichtigung aus der Welt zu schaffen. Die
polemische Betrachtung aber, die sich mit den Ver-
brechen der Justiz befaßt, stützt sich mit Recht auf
das Material der Reportage, nicht nur weil die Un-
widersprochenheit für die Wahrheit zeugt, sondern
weil sie auch für eine Gesinnung zeugt, der noch
schlimmere Wahrheit zuzutrauen wäre. Mein an-
klägerisches Gewissen bliebe ruhig, wenn sich heraus-
stellte, daß das wahre Bild der Sexualjustiz sich
nicht völlig mit jenem deckt, das ich mir aus
den unwiderlegten Schändlichkeiten des Tages kom-
poniert habe. Ich wüßte, daß es noch häßlicher ist. Bei
diesem täglichen Koi flikt zwischen dem Leben und
der Borniertheit ist die Unfähigkeit der Bericht-
erstattung eher ein versöhnendes Element. Ob sie
will oder nicht, ob sie kann oder versagt, eine Hand-
voll Unmenschlichkeit holt sie aus diesem Inferno
doch hervor. Wer nur mit halbem Ohr hinhört, hört
genug, und wer mit einem Stockschnupfen in ein
Gerichtszimmer tritt, kriegt dennoch eine Nase voll
jener Gerüche, die ein lebensfeindlicher Geist an einen
Ort gebannt hat, damit in dieser pflichtenvollen Welt
wenigstens die Pflicht zu stinken erfüllt werde.
In der Nähe von Bajä ist eine Grotte, in
der giftige Gase aufsteigen. Zur Ergötzung der
Reisenden wurde dort gezeigt, wie weit ein Hund
hineingeführt werden könne, bis er ohnmächtig
wird; denn die deutschen Reisenden sind wider-
standsfähig und opfern dem Genuß einer Sehens-
würdigkeit gern die Gesundheit eines Hundes.
Die grausame italienische Regierung aber entzog der
heimischen Bevölkerung eine Einnahmsquelle und
verbot das Tierexperiment. Die Einrichtungen der
Staaten nun sind wie Sehenswürdigkeiten, die der
Neugierde höherer Wesen dienen, und diesen über-
weltlichen Reisenden ist das Vergnügen bis heute
nicht geschmälert worden, zu sehen, wie weitMenschen
in die Hundsgrotte der Justiz geführt werden müssen,
um nicht mehr atmen zu können.
Sagt mir nun einer, so und so hätte sich
der Vorgang nicht abgespielt, so antworte ich, daß
die Nachricht von einem Sterbefall noch so über-
trieben sein könne, sie sei noch immer nicht über-
trieben genug, solange sie vom Tod bestätigt
wird. Die Lobredner unserer Justiz haben eine fatale
Ähnlichkeit mit jenem Tröster, der auf die Klage
einer Witwe, ihr Seliger habe an einer schweren
Lungenentzündung gelitten, die beruhigenden Worte
findet, es werde hoffentlich nicht so schlimm gewesen
sein. Was die Gerichtssaalberichte melden, hat sich
möglicherweise nicht immer so schlimm zugetragen,
aber anders und schlimmer. Die Verkürzung, in der der
Bericht ein Bild der Verhandlung gibt, ist sein Fehler
und Vorzug. Sein Fehler, weil die Kürze von hundert
Angriffen gegen Menschengefühl und Takt kaum fünf
— 3 —
berücksichtigt und an diesen möglicherweise durch
Unterstreichung einbringt, was sie an der Fülle ver-
säumt hat ; weil sie den perspektivenlosen Leser nicht
allein in den Glauben versetzt, dieser Text sei der
Wortlaut, sondern er sei der Inhalt einer fünfstündigen
Verhandlung. Die Verkürzung ist aber wieder ein
Vorzug, indem die Unperspektive der Darstellung
der passende Ausdruck der Unperspektive ist, in
der die Justiz das verhandelte Stück Leben sieht.
Für den Schall der Lebensfremdheit hat gerade
die Dummheit das beste Ohr, und so unwahr sie
sein mögen, so wahrscheinlich klingen diese lächer-
lichen Bemerkungen, die tagtäglich den überlegenen
Verhandlungsleitern, den neugierigen Votanten und
don achselzuckenden Anklägern in den Mund gelegt
werden. Ich habe um zweifacher Kontrolle willen
vielen Verhandlungen beigewohnt; und ich muß
bekennen, daß mein allzuscharfes Gehör mir eine Fülle
von Eindrücken gab, aber kein Bild sich entwickeln
ließ, und daß ich dieses erst in den ungenauen Be-
richten fand, die ich am andern Tage zu Gesicht bekam.
Kein besserer Abdruck einer geistlosen Willkür
wäre herstellbar, und er reicht fast an die Wahr-
heit jenes Berichtes heran, den ich im Voraus
über jede Verhandlung vor einem Sexualsenat
verfassen könnte. Denn er gibt nicht bloß
eine Vorstellung von der Geraütsbeschaffenheit der
Menschen, die über Menschen richten, von einem
Zustand, der Zweifel macht, ob diese Praxis schlechter
sei oder diese Gesetzlichkeit. Er stellt auch
wieder das Gleichgewicht her zwischen einem gegen-
wärtigen Jammer und der Aussichtslosigkeit aller
Reformen. Denn er vermag in zehn abgerissenen
Sätzen eines Zeugenverhörs das Bild einer mensch-
lichen Gesellschaft zu zeichnen, zu deren Lumpenhülle
eine gefl'.ckte Justiz ganz so gehört, wie zu dieser
eine schleißige Presse. Wenn in einem Bericht von
zehn Zeilen die gegenseitige Zufriedenheit, die diese
Institutionen am Leben erhält, und weiter nichts
zum Ausdruck kommt, dann sagt er die Wahrheit.
Der Bericht über die Verhandlung gegen die
»Hochstaplerin Berta Hannemann« soll nicht zeigen,
daß die Merkmale des Betruges auf die Tat der
Angeklagten passen, sondern er soll zeigen, daß die
Merkmale des Betruges auf eine Weltordnung
passen, die ein schönes Weib unter der falschen Vor-
spiegelung des Paradieses durch die Syphilis in den
Kerker lockt.
Daß sie sich in der Notwehr so weit vergißt,
von der deutschen Botschaft 23 Kronen und von einem
Oberleutnant 30 Kronen als Vorschuß für eine Reise
zu verlangen, die sie nicht antritt, das bedeutet
gegen den Schwindel, den ihr die Welt vorgemacht
hat, nichts, weniger als nichts, aber immerhin sechs
Monate Kerker. Sie war einst ein vielumgeiltes
Theaterweib und zwischen Petersburg und Buenos-
Ayres warteten viele Botschafter, Oberleutnants und
Staatsanwälte auf den Schluß der Vorstellung. Will
es der Zufall und ein Bankier steckt sie an. Sie
verliert ihre Stimme, sie verliert ihr Engagement, und
die Vertreter der sittlichen Ordnung warten jetzt
nur mehr auf das Ende ihrer Schönheit. Sie können
es gar nicht erwarten, und bald werden dieser auf-
geregten Spannung die Gerichtssaalreporter gerecht.
»Ihr feingeschnittenes Profil, die funkelnden schwarzen
Augen«, meint der eine, >lassen trotz der Zerstörung,
die Ausschweifung und Trunksucht in ihren Zügen
angerichtet, die Spuren einstiger Schönheit erkennen«.
Oh, frohlockt ein anderer, >in einem verwaschenen
alten Kattunkleid, das Gesicht verblüht und gelb« steht
sie heute vor dem Erkenntnisgericht. Spuren einstiger
Schönheit?, beruhigt der Vertreter eines gewissen
Lippowitz jenen Bankier, der den Grund zu ihrer zwei-
ten Karriere gelegt und ihr eine Sinekure für ein soli-
deres Leben verschafft hat: »die Angeklagte ist heute
eine trotz ihrer fünfunddreißig Jahre schon sehr ältlich
aussehende Frau«. »Jugend und Schönheit, mit denen
sie bestach, sind dahin«, triumphiert der Vertreter
6 —
eines antikorruptionistischen Blattes, >und es ist nicht
mehr die sieghafte Verve, mit der sie spielend leicht
ihre Opfer fand«. Er würde sich am Ende getrauen,
ähnliches auch jenem Bankier nachzusagen, wenn
er wüßte, wo er wohnt. Immerhin ist es tröstlich,
aus einem unabhängigen Blatte zu erfahren, daß
»eine schwere, jahrealte Erkrankung des Blutes die
Elastizität der Angeklagten vernichtet hat«. Da man
aber noch immer nicht ganz sicher ist und auch
Männer zu Falle kommen könnten, die den Spuren
einstiger Schönheit errötend folgen, so erklärt der
Staatsanwalt Budinsky, man müsse eine so gefährliche
Person unschädlich machen, und beantragt die Abgabe
an eine Zwangsarbeitsanstait. Der Gerichtshof schließt
sich der Ansicht der Reporter an, beruhigt sich dabei,
daß sie ohnedies schon verwese, und läßt es beim
Rade bewenden . . .
Nichts vermöchte das Verhältnis der Justiz zum
Leben besser auszudrücken, als die Erstarrung des
journalistischen Wortes zum Klischee. Paragraphe und
Phrasen werden mit einer Materie fertig, an der
Kunst und Psychologie stümpern. Das Handwerk
schöpft einen Ozean aus, und es bleibt der »Sumpf
der Großstadt«. Irgendwo haben Freude und Jammer
zu laute Zwiesprache geführt: »Wieder eine Laster-
höhle ausgehoben.« Zwischen Strafregister und Spitz-
marke fristen die Triebe ihr Dasein. »Dann begann
sie ihre Laufbahn als Kurtisane und Betrügerin.« Als
Vorsatz glaubt man es nicht einmal der Justiz oder
der Presse, aber von einer Frau muß es unbedingt
gelten. Denn sie rühmte sich hoher Bekanntschaften
und »will sogar vorübergehend die Geliebte des serbi-
schen Kronprinzen gewesen sein«. Man denke 1 Und
selbst dem sozialdemokratischen Berichterstatter
kommt die Sache nicht geheuer vor, da jener
Kronprinz »jetzt mit anderen Dingen beschäftigt«
sei. Man spürt deutlich, daß an dieser Stelle des
Berichtes nur durch einen Zufall die Paranthese
»Bewegung« ausgelassen wurde. Denn nichts
— 6
setzt die Kostgänger der Strafjustiz mehr in
Erstaunen, als daß die geschlechtlichen Beziehungen
weiblicher Angeklagten in Sphären reichen sollen,
die ihrer Kontrolle entrückt sind. Daß die De-
linquentin »den im hiesigen Landesgericht in Unter-
suchungshaft befindlichen Pfandscheinschwindler B.
zur Heirat zu bewegen suchtet, scheint allen plau-
sibel, aber ein außerehelicher Verkehr mit dem
serbischen Kronprinzen — darüber kommt kein Votant
hinweg. Man kann es als ein wahres Glück bezeichnen,
daß nicht alle Frauenzimmer, die von den Obreno-
vitsch und Karageorgevitsch um den Schandlohn ge-
prellt wurden, gezwungen waren, die deutsche Bot-
schaft zu betrügen, es wäre sonst des Staunens in
den Wiener Gerichtssälen kein Ende. Solch eine
Abenteurerin richtet genug Schaden an, wenn sie in
die bürgerliche Gesellschaft einbricht und für die Er-
regung eines flüchtigen Sinnenkitzels eine Vermögens-
leistung begehrt. Noch schlimmeren Schaden, wenn
sie nicht einmal bietet, wofür sie im Voraus Geld
empfangen hat. Ein Opfer meldet sich nach dem andern,
sie alle haben annonciert, daß sie eine Maitresse
brauchen, die Angeklagte hat Reisevorschuß be-
kommen und sich damit begnügt, aufregende Briefe
zu schreiben. Die Angeklagte sagt zu ihrer Verant-
wortung, sie habe tatsächlich die Absicht gehabt, die
Prostitutionsverträge zu erfüllen. Das Gericht aber
weist ihr nach, daß sie auch dann sich eines Betruges
schuldig gemacht hätte. Denn sie >gab an, sie besitze
eine tadellose Vergangenheit, ein sehr gutes Herz,
offenen und ehrlichen Charakter«. Ist das wahr,
Berta Hannemann ? In einem zweiten Brief schrieb sie
wieder, »sie besitze nichts als ihre Jugend und Schön-
heit«. Herzeigen 1 Aber selbst wenn es wahr ist, über
den Widerspruch der beiden Behauptungen kommt
kein Votant hinweg. Es kamen auch Briefe aus der
Liebeskorrespondenz der Angeklagten zur Verlesung,
in denen sie angab, »daß sie noch kein Mann be-
rührt habe«. Nun, der Gerichtshof nimmt die Un-
Wahrheit dieser Behauptung als notorisch an. Man
kennt diese Sorte von Schwindlerinnen; es ist die
weitaus gefährlichste. Und es ist jener Betrug, den
die Männer am schwersten verzeihen, und wenn der
Staatsanwalt ihn auch nicht anklagen kann, als
Illustrationsfaktura tut er seine Schuldigkeit. Der
Gesetzgeber hat dieses Schulsbeispiel einer listigen
Vorstellung, durch welche eine Person in Irrtum ge-
führt und dadurch in ihren Rechten geschädigt wird,
nicht berücksichtigt, und der Gerichtshof ist leider
nicht einmal in der Lage, den Privatbeteiligten auf
den Zivilrechtsweg zu verweisen. Aber die Unglück-
lichen, die das Opfer des Betruges geworden sind,
spüren es, daß hier die Idealkonkurrenz zweier Tat-
bestände vorliegt: daß eine keine Jungfrau mehr ist
(lucrum cessans) und daß sie behauptet hat, es zu
sein, und sich das Gegenteil herausstellt (daranum
emergens).
Eine Angeklagte, die mit solchen Mitteln ge-
arbeitet hat, die sich durch Trotz dem körperlichen
Verfall und durch List der sozialen Verachtung
zu widersetzen versuchte, muß sich der Hoffnung
begeben, daß ihr die irdische Justiz, die in jeder
Lage die Wahrheit und nichts als die Wahrheit for-
dert, auch nur mildernde Umstände zubillige. Von
welcher Verworfenheit zeugt es, einen annoncieren-
den reichsunmittelbaren Fürsten, schöne Männer-
gestalt, der zehn Millionen Mark zu besitzen vorgibt
und die Bekanntschaft einer Dame mit ebensolchem
Vermögen sucht, derart hineinzulegen 1 Die Bertha
Hannemann besaß keinen Knopf und da der Fürst
Bortia ebensoviel besaß, mußte er die Täuschung
doppelt schmerzlich empfinden. Als sie erfuhr, daß er
mittellos sei, war sie herzlos genug, die Korrespondenz
abzubrechen. Aber der Fürst war noch nicht enttäuscht,
schrieb glühende Liebesbriefe »in Verzweiflung, daß
ich mit Innen die Verbindung verliere«, und bat, ihm
wenigstens noch einmal zu schreiben, »wenn Sie mir
nicht mehr wünschen«. Was tat sie? Sie nützte diese
— 8 —
Korrespondenz aus, um von der deutschen Botschaft
zuerst 23 Kronen und als ihr diese verweigert wurden,
3 Kronen zu erbetteln. Man erkundigte sich beim
reichsunmittelbaren Fürsten. Dieser, von Bertha Hanne-
mann zum Glauben verführt, er besitze zehn Millionen
Mark, brachte eben noch so viel Geld auf, um zu
depeschieren, er sei einer Schwindlerin zum Opfer
gefallen. »Mir ist wirklich leid, daß die Geschichte so
endet«, hatte er ihr kurz vorher geschrieben, »wir
hätten sehr glücklich sein können«. Aber weil sie die
zehn Millionen nicht hatte, die ihm gerade fehlten,
erstattete er die Anzeige bei der Polizei. Der Ober-
leutnant hätte dies wegen der 30 Kronen allein
noch nicht getan. Aber als ihm »die wirkliche Photo-
graphie der Angeklagten gezeigt wurde, war er so
empört, daß er sich dem Strafverfahren anschloß«.
Der Vorsitzende verliest diese und ähnliche Pest-
stellungen etwa mit jener Zufriedenheit über eine
harmonische Weltordnung, die einst das Schöpfungs-
protokoll mit dem Eindruck besiegelte: Und er sähe,
daß es gut war. Durch das Weib kam das Übel in die
Welt. Aber die Männer sind ganz so, wie sie sein sollen.
Solange der Mann noch nicht völlig vom Weibe ent-
täuscht ist, schreibt er einen Brief, der die Sätze enthält:
»Liebe Freundin ! . . . Sie wechseln zu oft Ihre Pläne, und
kurz vor Ihrer Abreise bekommen Sie ein prächtiges
Bukett vom , Fürsten4, sind gerührt, bleiben in Wien
und ich blamiere mich und fahre umsonst nach Fiume!
Nel Scherz bei Seite, das ist nicht nach meinem Ge-
schmack! Warum haben Sie sich denn die Haare
schwarz gefärbt? Die waren doch »goldblond'. Nicht?
Schade! Viele Männer haben ein Faible tür blondes
Haar, so auch ich. Eigentlich eine blöde Einbildung,
was? Im allgemeinen sind aber die blonden Damen
doch viel sanfter und etwas weniger launenhaft wie
die schwarzen, nicht? In Ihrem vorigen Briefe sagten
Sie, der »Fürst* möchte Sie gern nackt sehen. Schau,
schau! Gar kein übler Geschmack, doch den Anblick
gönnen Sie lieber einem Ihrer Freunde, nicht? . . .
9 —
Ich habe nämlich in Wien einige Feindinnen,
wissen Sie; da dachte ich mir vielleicht, Sie haben
irgend einen , Tratsch* gehört, nicht? Eine nannte
mich ,Tiger', ein hübsches Prädikat, was? Wahr-
scheinlich war ich ihr zu grausam!... Vielleicht fahren
Sie zuerst nach Budapest, nicht? Eine hübsche Stadt,
manche Teile sogar schöner als Wien! Und ein lusti*
ges Nachtleben; so eine fesche Zigeunerkapelle, die
lasse ich mir gefallen ! . . . Viel Glück. Herzliche Grüsse
und einen Abschiedskuß von Ihrem unglücklichen
Jules. < Ein prächtiger Brief, was? Ein interessanter
Mensch, nicht? Aber bald soll es anders kommen,
und der Tiger erwacht. »Madame!« (Bei dieser An-
rede kann sich der Vorsitzende, der ein Weltmann
ist, einer Kritik nicht enthalten. »Wenn man , Madame'
schreibt«, meint er, »ist es immer aus!« Heiterkeit. Die
hoffentlich auch nicht ausblieb, als der Vorsitzende
das reumütige Geständnis der Angeklagten, sie habe
nicht mehr singen können, durch die Peststellung
ergänzte: »Ihre Stimme war schon früher durch eine
Krankheit beeinträchtigt.«) »Madame ! Soeben erhalte
ich Ihre flüchtigen Zeilen. Sie nehmen sich nicht
einmal die Mühe, mir einen ordentlichen Brief zu
schreiben. Da bin ich ganz anders gewöhnt, ich
könnte Ihnen 16 Seiten lange Briefe von sehr feinen
Damen zeigen, welche sich um meine Gunst bemüh-
ten ! Sie glauben mit einem Ihrer schweifwedelnden
Freunde aus Wien zu tun zu haben. Bin kein
Gigerl, das den Weibern nachlauft, wissen Sie; ich
behandle diese Rasse im Gegenteil mit solenner
Verachtung, wie sie es verdient. Ich brauche bei
meiner Lebensweise überhaupt keine ,Liebe', und
wenn ich gerade einmal eine , Liebe* wollte, so habe
ich hier genug Frauenzimmer, die sich ein Vergnü-
gen draus machen, wenn ich sie überhaupt ansehe !
Sie haben keine Nachricht ! Ha! Ha! Sie hätten
damals kommen sollen, als ich Sie haben wollte ;
jetzt kann ich Sie nicht mehr brauchen und will
überhaupt nichts mehr von Ihnen wissen! Ich hab'
10
mich genug mit Ihnen früher geärgert und pfeif
auf so ein herz- und gefühlloses Geschöpf! Lesen
Sie die Zeitung, dort steht, daß vor ein paar Tagen
ein Offizier, den ich zufällig kenne, das Opfer einer
Damenbekanntschaft wurde, indem eine , Freundin'
8000 K aus seiner Wohnung geraubt hat. So ein
Gewürm sollte man zertreten, durch welches ein
Ehrenmann durchs ganze Leben ruiniert wurde. Ich rate
Ihnen, sich ehrliche Arbeit zu suchen und mich nicht
mehr zu belästigen, sonst zeige ich Sie noch der
Polizei an. Sie sind eine Komödiantin, nichts weiter !
Hüten Sie sich, sonst könnte es Ihnen noch schlecht
gehen. Sie Schwindlerin! Mit verachtungsvollem
Gruß Jules.t Das ist der Tiger; aber er hat sie
doch erst angezeigt, als er ihre Photographie sah.
Denn sie war nicht mehr schön genug, um hinaus-
geworfene 30 Kronen verschmerzen zu lassen.
Bin Reigen beschädigter Männlichkeit zieht an
uns vorüber, der sich trotz Spesenverlust und be-
trogener Erwartung noch sehen lassen kann. Solche
Prozesse gegen Weiber, die sich die Haare färben,
den Namen wechseln und das Alter nicht wahrheits-
getreu angeben, sind nützlich, weil im Zuge der
Enthüllungen der wahre Stand der männlichen Ethik
bekannt wird. Es ist ein untrügliches Zeichen einer
Zeit, wie sie die Agenden zwischen den Geschlechtern
verteilt hat : ob sich mehr Weiber dem Strafverfahren
gegen einen Mann oder mehr Männer dem Strafver-
fahren gegen ein Weib anschließen. Unsere bietet
das Schauspiel, wie ein Dutzend Inhaber eines
sittlichen Bewußtseins, ein Dutzend Träger geistiger
Verantwortung und ein Staatsanwalt hinter einem
Geschöpf her sind, dessen ganze Wehrkraft gegen-
über dem Leben in der Fähigkeit besteht, sich zur
rechten Zeit die Röcke aufzuheben. Das Weib ver-
letzt durch Gewährung die Ansprüche der Moral und
durch Versagung die Ansprüche der Unmoral. Aber
die Moral läßt mit sich reden, sie konzessioniert Freuden-
häuser, sie erteilt »Erlaubnisscheine«. Die Unmoral ist
il
unerbittlich, ihre Forderungen sind vollstreckbar und
aus jedem Gerichtszimmer geht sie mit erhobener
Stirne. Was hätte unsere Angeklagte den Wartenden
bieten können ? Vielleicht hielt sie eine sittliche Über-
legung davon zurück, jenes gefährliche Geheimnis
an die Männer weiterzugeben, das ihr ein Mann
bedenkenlos anvertraut hatte. Sie wollte sich ihre
paar Gulden auch ohne diese Leistung verdienen,
und konnte glauben, daß damit die Illusion, die zu
geben sie sich begnügte, nicht überzahlt sei. Schließ-
lich möchte man, solange die Männer ungestraft die
Frauen anstecken dürfen, wenigstens für ein Gesetz
stimmen, das es den Frauen erlaubt, einen Tribut
von den Männern einzuheben, die durch sie vor
Ansteckung bewahrt bleiben. Solche Entschädigung
sollte rühmlich sein, und weitab von der Möglichkeit,
unter die Strafsanktion des Betruges zu fallen, sollte
jene Vorspiegelung liegen, die den Himmel auf Erden
bloß verspricht, anstatt die Hölle zu gewähren. Es
ist eine erbarmungslose Zeit, in der der Verfall des
Frauenkörpers ein Ziel sozialer Wünsche bildet, und
kein Reporter vermöchte an ihr Spuren einstiger
Schönheit zu entdecken. Aber die namenlose Gemein-
heit, die Wonne und Weh des Geschlechts zu einem
Prozeß thema macht, sollte uns erspart bleiben. Die
Humanität möge endlich zu den Menschenopfern
sehen, die der Gerechtigkeit gebracht werden. Das
Experiment der Hundsgrotte werde in allen Staaten
verboten I
Karl Kraus.
Mittelschule.
Sehr viel liebevolles Interesse bringt die Gegenwart der
geistigen Minderwertigkeit entgegen. Das öffentliche Mitleid ist bei
der Not der Dummen angelangt, die moderne Hilfsbereitschaft
12 -
hat die Qrenzen des Verstandes überschritten; jene Achtung vor
dem Schwachen, die sich in der Ära der Humanität Ansehen ver-
schaffte, macht längst vor den Geistesschwachen nicht mehr halt.
Und als man zur Ansicht kam, daß Geistesarmut nicht schändet,
hörte sie auch auf, verschämt zu sein. Sie fordert heute bereits
laut und herrisch Unterstützung. Die Reform der Schule macht
sie zu ihrer Sache und ruft nach der Erleichterung im Studium,
die ihr naturgemäß das Erstrebenswerteste ist. Und gegenwärtig
ist der Geist der Zeit gerne bereit, sich nach den Wünschen der
Geistlosigkeit der Zeit zu richten.
Der Schule und ihrem Leben gegenüber ist ein klagender
Ton, voll Wehleidigkeit und Sentimentalität in Mode gekommen.
Das Wort Schüler scheint förmlich nach der Zusammensetzung
mit Selbstmord zu verlangen und die Kandidatur für diesen Selbst-
mord mit jener andern für die Matura aufs Innigste verknüpft
zu sein. Der zartfühlende, liebenswürdige und ungemein sym-
patische Schwachkopf ist zum Repräsentanten unseres Schülertums
ausersehen worden. Seine geduldige, erfolglose Arbeit wird uns
immer wieder zur Würdigung entgegengehalten, auf Schritt und
Tritt begegnen w'ir in der Literatur seinem blassen, übernächtigen
Antlitz mit dem stets leidenden und anklagenden Zug. Wird es
nicht endlich gelingen, eine Mittelschul type zu finden, die seine
Gefühle nicht verletzt? Die Zahl der Noten mußte um seinet-
willen verringert werden; ein Teil jener Leistungsunterschiede, die
stets zu seinen Ungunsten bestanden, wird in Hinkunft nicht
mehr zum Ausdruck kommen. Wird man ihm zuliebe nicht bald
ganz auf die Kritik »Klassifikation« verzichten? Solange sie
besteht, sind > Elternliebe und Kunstinteresse« bei ihm vor Störungen
nicht sicher, denn hier ist stets die Quelle der viel unzarteren
Empfindungen des Ärgers und des Neides für ihn. Die Abstufung
der Noten ist ein Behelf für den Lehrer und als solcher vielleicht
entbehrlich, was bedeutet sie aber nicht alles für den Schüler! An
diesen unbedeutenden Verschiedenheiten fand der Ehrgeiz seinen
Halt, hier war Gelegenheit zum Wen«%eii, es durften Siege und
Niederlagen gefeiert werden.WasfacyJÄ|ht alles Raum zwischen diesen
wenigen Ziffern! Wieviel vom ernsten ölück und Schmerz des Lebens
umspannten sie ! Hier barg sich etwas von jenem schweren Ernst
des Daseins, der ein heißes Glück empfindet, wenn er ein Knopf-
loch mit einem roten Bändchen schmückea darf, von dem
13
Schicksalsernst des Beamtenlebens, in welchem das Avancement
über Existenzen entscheidet. Darf und kann die Schule auf diese
Macht verzichten? Kann sie sich den Ehrgeiz weiterhin dienstbar
machen, wenn sie ihm seine Ziele, sein rotes Bändchen entzieht?
Das Opfer, es wird den Unfähigen gebracht und auf Kosten des
Eifers des Fähigen. Vollständig hat man vergessen, daß die Haupt-
sorge der Schule die Ausbildung eben jenes Schülers zu sein hat,
der ihr keine Sorgen macht. Ein Treibhaus für kümmerliche
Qeistespflänzchen, eine Wohltätigkeitsanstalt für die Bedürftigen
an Verstand darf sie nicht werden. Es gibt nämlich auch
Schüler, die das Lehrziel mühelos erreichen.
Mancherlei an der Schule bedarf der Änderung. Es ist
gewiß nicht vorteilhaft, daß das Recht zu strafen neben der Pflicht
zu unterrichten in der Hand des Lehrers liegt. Schon deshalb nicht,
weil die Fähigkeiten der einzelnen Lehrer in der Ausübung dieses
Rechtes allzu verschieden sind. Der eine stolpert unaufhörlich üb'er
seine Versuche, Disziplin zu halten, der andere ist ein Virtuose, ein
Zauberkünstler des Strafwesens. Die Möglichkeiten von Klassen-
buch, Karzer, Strafarbeit, er läßt sie nur so durcheinanderwirbeln,
vereinigt sie zu den schönsten und seltensten Effekten, gewinnt
ihnen nie geahnte Reize ab und wird dadurch in seiner Art, Schule
zu halten, einseitig, wie jeder Künstler. Wenn das Disziplinarwesen
an jeder Schule einem dazu eigens bestellten Pädagogen unter-
stünde, der es allein oder im Verein mit dem Direktor zu
überwachen hätte, wäre vieles besser. Es würde vermieden, daß der
Lehrer langwierige Strafuntersuchungen zu führen hat, und daß er
in eigener Sache Richter ist; dem Unterricht wäre viel Zeit ge-
wonnen und seine Würde besser gewahrt als jetzt.
Eine höchst überflüssige Sache ist die Sittennote. Ist sie
ungünstig, so bedeutet das eine Unannehmlichkeit, wie jede deut-
liche Mißbilligung, die man erfährt, ist sie hingegen gut, so ist
das geradezu beschämend. Ein taktvoller Lehrer wird es gewiß
gerne vermeiden, einen begabten Schüler mit der besten Sitten-
note bloßzustellen. Der einzige Wert dieser Kritik des sittlichen
Betragens liegt darin, daß ein Ventil für etwa vorhandene Gehäs-
sigkeiten des Lehrers geschaffen wird, die sich hier weit harm-
loser manifestieren, als wenn sie bei der Note im Qegenstand
mitsprächen. Bloß der Name der Rubrik führt irre; die
Schule maßt sich auch nur scheinbar eine Klassifikation über
14
einen Gegenstand an, den einer Prüfung auszusetzen, ihr nicht
gestattet ist.
Gerade der Punkt aber, in welchem nichts erlassen werden
kann, das ist die Arbeit des Schülers, sind die Ansprüche an seine
Leistung. Hier stellt die Zeit ihre Forderungen, und sie treibt sie
auch später im praktischen Leben ein, ohne nach der Zahl der
Unterrichtsstunden von einst zu fragen. Das ist ein gehirnloses
Mitleid, das gegen die Beschwerden der Vorübung eifert, die Auf-
gabe selbst aber nicht erleichtern kann. Es ist unnötig, die Schar
der Geistesproletarier von heute noch um solche zu vermehren, die
im Reich des Geistes den Rang von Proletariern haben. An
welchem Lehrfach die Arbeitsfähigkeit des Schülers entwickelt wird,
ob an alten oder neuen Sprachen, das ist von geringer Wichtigkeit;
notwendig ist nur, daß sie geübt wird, und heute: daß sie mehr
geübt wird, als je. Die Entwicklung will aber vor allem eine
ernstere Lehrzeit, eine an Gefahren und Erlebnissen reichere.
Diese wird deshalb weit eher auch eine angenehme sein. Die
Forderungen, die für das tränenfeuchte Schülerideal der Gegenwart
erhoben werden, widersprechen dieser Notwendigkeit. Der Lehrer
kann nicht »der Freund des Schülers< sein ; schon deshalb nicht,
weil der begabtere Schüler sich eine Freundschaft nicht auf-
zwingen läßt. Der Lehrer kann nicht Individualitäten berück-
sichtigen ; denn dem erwähnten Schüler gegenüber geht das möglicher-
weise über seine Kräfte, und man könnte es diesem auch nicht
verdenken, wenn er sich energisch dagegen wehren sollte, zum
Überfluß seine Individualität von ungeschickten Händen
betasten zu lassen. Der Lehrer möge der Vertreter der Arbeit
sein und das allein. Sein Gebiet bleibe Wissen und Verstand. Man
braucht sich nicht darum zu sorgen, daß bei größerem Ernst und
strengerer Sachlichkeit die Poesie der Jugend zu kurz komme.
Die läßt sich künstlich nicht erzeugen, aber auch nicht verbannen.
Die wohnt zwischen den Ereignissen und nur die Langeweile tötet
sie. Man verschone den guten Schüler mit der Langeweile der Er-
leichterungen.
Daß man von den Reformen, deren Notwendigkeit fühlbar
wird, gerade die Entbürdung zur Verwirklichung ausersehen hat,
mutet seltsam an. Die anderen Erfordernisse, die Separierung des
Disziplinarwesens, das Aufgeben der Sittenkontrolle, die größere
Sachlichkeit, das sind Rechte, die die Zeit geltend macht; und an
— 15 —
ihrer Stelle wird nun ein Oeschenk gegeben. Fast erscheint es wie
eine Bestechung. Als hätte man für den kleinen Mann des Geistes,
den stets Bedürftigen, etwas getan und sich dafür die Anhänger-
schaft und das Zuwarten seiner Freunde erkauft.
Otto Soyka.
* •
Literatur.
In einer Zeitungsspalte fällt mein Blick auf die typische
Bemerkung, daß die >zwei ersten« Akte gefallen haben, so daß
ich glauben muß, der Rezensent sei gleichzeitig in zwei Theatern
gewesen und er stelle nun fest, daß hier und dort der erste Akt
gefallen hat. Das ist journalistischer Sprachgebrauch, aber da eine
Zeitung auch das Richtige treffen kann, so fand ich schon in der
benachbarten Spalte eine Nachricht über die > nächsten zwei« Ver-
anstaltungen eines Vereines. Und hier eben zeigt sich, wie nichtig
alle Form ist, wenn der Inhalt von übel. Denn mein split-
terrichterisches Wohlgefallen wurde sogleich erledigt durch die
Enthüllung, daß die erste der nächsten zwei Veranstaltungen ein
>Servaes-Abend« sei. Um Himmelswillen, was ist das ? fragte ich.
Was haben die Leute mit uns vor ? Servaes-Abend — es kann nicht
sein ! Qibts denn so etwas ? Kann es so etwas geben ?
Aber es stand schwarz auf weiß, ein Verein, der den
guten Geschmack hat, sich einen Verein für Kultur zu
nennen, versprach uns einen Servaes-Abend. Wenn man mir die
Frage vorlegte, was denn überhaupt ein Verein sei, so würc' ich
antworten, ein Verein sei ein Verein gegen die Kultur. Dieser hier
aber möchte mich durch die Angabe irreführen, er sei ein Verein
für die Kultur. Das gelingt ihm nicht, denn die Rechnung geht
schließlich doch glatt auf, indem ein Verein gegen die Kultur für
die Kultur sich folgerichtig als ein Verein herausstellt. Da ich
nun dem Vereinsleben durchaus fern stehe, da die bloße Vor-
stellung, daß es einen Männergesangverein gibt, mir den Schlaf
raubt und noch kein Turnverein zur Erhöhung meines Lebens-
mutes beigetragen hat, so kann ich darüber nicht urteilen, ob
der Verein, um den es sich hier handelt, seinen statutenmäßigen
Verpflichtungen betreffs der Kultur gerecht wird. Aber ein bos-
haftes Luder, wie ich bin, habe ich natürlich keine Anerkennung
dafür, daß sich in dieser Wüste allgemeiner Kulturlosigkeit eine
Oase des Snobtums gebildet hat, daß sich endlich wenigstens ein
16 —
paar opfermutige Männer zusammenfinden, um die Kultur für
eröffnet zu erklären, — vielmehr nähre ich meine teuflische Lust an
dem Gedanken, daß alles verruinieret sein müsse. Es ist in der
Tat schon nicht mehr mit mir auszuhalten. Jetzt hasse ich die
Oasen in der Wüste, weil sie mir meine fata morgana zerstören.
Publikum in jeder Form macht mir Verdruß, ich meide
die Konzertsäle, und wenn sich in einem solchen wirklich
einmal Leute drängen, denen man an der schwergebeugten Nase
ansieht, daß sie den Hingang der Kultur betrauern, Männer, deren
Bart noch die Linse von vorgestern trägt, deren Gilet aber aus
Sammet und Sehnsuchten komponiert ist, Weiber, denen man das
Haupt des Jochanaan unter der Bedingung geben möchte, daß
sie nicht tanzen, — dann bin ichs auch nicht zufrieden! Ja, ich hasse
die Häßlichkeit einer genießenden Menge, die nach dem Sonnenbrand
des Arbeitstages die verschossenen Jalousien des Gemütes öffnet, um
Kunstluft hereinzulassen. Aber der ästhetische Mißwachs, der sich
an den Pforten der Kultur drängt, treibt mich in die Flucht.
Wird mir schon totenübel, wenn ich um elf Uhr abends durch
die Augustinerstraße gehe und die Nachklänge einer Wagneroper
aus dem Wigelaweia des Ganges und der Hände einer zum Fraß
strömenden Begeisterung heraushöre, was steht mir erst bevor,
wenn dereinst Herr Richard Strauß seine Versteher findet? Man
glaubt ga- nicht, wie viel Häßlichkeit die angestrengte Beschäftigung
mit der Schönheit erzeugt! Und ihre Art ist in allen Städten
dieselbe. Überall, wo nur ein findiger Impresario einen Tempel der
Schönheit errichtet, tauchen jetzt diese undefinierbaren Gestalten
auf, die man in früheren Zeiten dann und wann im Fieber sah,
aber nunmehr im Gehege des Herrn Reinhardt, in irgendeinem Caf£
des Westens, in den Münchener Künstlerkneipen und in Wiener
Kabarets rudelweise antreffen kann. Plötzlich steht ein Kerl neben
dir, dem Kravatte und Barttracht zu einem seltsamen Ornament
verwoben sind, das Motive aus Altwien und Ninive ver-
einigt. Er sieht Klänge, weil er sie nicht hören kann, er hört
Farben, weil er sie nicht sehen kann, er spricht durch die Nase
und riecht aus dem Mund, seine Seele ist ein Kammerspiel und
man hat nur den Wunsch, daß ihn so bald als möglich ein Bier-
brauer totschlage. Denn vor diesem kann sich die Kunst retten, vor
jenem nicht! Das Aufgebot verquollener Scheußlichkeit, das seit
Jahren hinter den programmatischen Mißverständnissen her ist, macht
17 —
ein Entrinnen unmöglich. Was sich da im Berliner Westen unter
allen möglichen Marken als neue Gemeinschaft von Assyriern,
Griechen, Europäern, Kulturmenschen oder Schmarotzern schlecht-
weg zusammengetan hat, dieses Gewimmel von einsamen Ge-
meinsamen, die nur Theaterreporter von Beruf und Baalspriester aus
Neigung sind, bildet ein so unflätiges Hindernis im Kampf
gegen den Philister, daß man das Ende aller Kunst und ein
Verbot aller Freiheit ersehnt, um ein reines Terrain zu schaffen.
Lieber allgemeine Blindheit als die Herrschaft eines Gesindels,
das mit den Ohren blinzeln kann! Ein Wiener Greisler für
zehn Berliner Satanisten! Das Udelquartett gegen einen Verein
für Kultur! Selbst wenn er uns einen Servaes- Abend bringt.
Denn wir wissen ja nicht einmal, was das für ein
Abend ist. Wir in Wien schätzen die Institution der Hopfner-
tage und der Riedlnächte, aber wir glauben nicht, daß sich
die Servaes-Abende einbürgern werden. Was bedeutet das un-
gebräuchliche Wort Servaes? Ich erinnere mich dunkel, daß es
einst ein Merkwort war, wenn man an ein drolliges Quiproquo
eines Kunstkritikers der ,Neuen Freien Presse' erinnern wollte. Da
hatte einer in der Beschreibung des Guttenberg-Denkmals eine
Buchdruckerpresse mit einem Fauteuil verwechselt oder umgekehrt,
— das weiß ich nicht genau, da ich das Denkmal aus Antipathie
gegen den dargestellten Mann und weil es eine Prostitutierten-
gasse verschandelt, nie angesehen habe. Aber ich weiß
genau, daß der Kunstkritiker, der zu aufmerksamer Betrachtung
verpflichtet war, irgend etwas verwechselt hat. Ein anderesmal hat
er in der Beschreibung eines ausgestellten Bildes Wüstensand mit
Schnee verwechselt, was doch so bald keinem Kamel passieren
dürfte. Infolgedessen wurde der Mann nur mehr dazu verwendet,
Berichte über Wohnungseinrichtungen zu stilisieren, die die Firmen
der Administration bezahlten und in denen die Fauteuils genau
bezeichnet waren. Da aber, wie erzählt wird, eine Verwechslung
zwischen den Herren Portois und Fix vorkam, so sei nichts übrig
geblieben, als dem Mann die Literaturkritik zu überantworten.
Hier kann einer machen, was er will, niemand wird daran
Anstoß nehmen. In der Literatur ist jede Verwechslung von
Wüstensand und Schnee, von Fauteuil und Presse, von Port' is
und Fix erlaubt. Hier kann ein Mensch, der keine blasse
Ahnuiig von Stil hat, über Werke der Sprache in einem
— 18 —
impertinenten Ton aburteilen, für den man ihm in jeder besseren
Gesellschaft auf den Mund schlüge. Hier dünkt sich ein
Reporter, dem man keinen Gerichtssaalbericht anvertraute, einen
Gott. Es soll vorkommen, daß solche Leute an auswärtige
Revuen Beiträge schicken und wenn sie ihnen abgelehnt werden,
mit den Waffen ihrer kritischen Hausmacht zu spielen beginnen.
Daß sie dann in ihrem eigenen Gehege sich für alle Zurück-
setzungen , die ihrer Talentlosigkeit widerfahren , für alle Ent-
täuschungen ihres Ehrgeizes, für alle Verbitterung schadlos halten,
ist nur zu begreiflich. »Servaes«, das ist die Chiffre, die man
überall dort findet, wo sich Mangel an Temperament austoben
und Ledernheit sprudeln möchte. Da erscheint zum Beispiel ein
Roman, zu dessen Empfehlung ich nicht mehr sagen kann, als daß
ich ihn ausgelesen habe: >Sonjas letzter Name«, eine Schelmen-
geschichte von Otto Stoessl. Aber die besten kritischen Köpfe Deutsch-
lands (S. Lublinski, Paul Ernst und andere) haben ihn nicht nur
gelesen, sondern auch erhoben. Stünde ich der epischen Kunstform
nicht wie einem mir Unfaßbaren gegenüber, ich fühlte mich wohl
versucht, über die vielerlei seltenen Schönheiten in Sprache und
Gestaltung, die ich mir dort angemerkt habe, zu sprechen; über einen
idqpnvollen Humor, der sich meinem Gefühl nur in den reflektierenden
Pausen entrückt, in denen er sich nach sich selbst umsieht; und
über jene herzhafte Entdeckung romantischer Gegenden in
einer konventionellen Welt, von der dem kritischen Flegel das
Problem der »Unwahrscheinlichkeit« in Händen bleibt. Darüber
würde ich etwas sagen und nicht verschweigen, daß es ein Mitarbeiter
der , Fackel' ist, dem ich solche Freude verdanke. So aber ob-
liegt mir bloß die traurige Pflicht, zu sagen, daß die Mitarbeit
an der , Fackel' einem Künstler bei der Beschränktheit geschadet hat.
Es wäre ein beruhigender Gedanke, daß kritischer Unverstand
keine Ranküne braucht, um sich lästig zu machen. Einem Autor,
der heute in Deutschland geachtet wird, kann es ohnedies leicht
zustoßen, daß ihm in Wien ein Ziegelstein auf den Kopf fällt; denn
in Wien ärgern sich die Ziegelsteine darüber, daß die Passanten
ihren Weg gehen. Ich bin der einzige, dem es nicht geschehen
kann, weil bekanntlich der Dachdecker den Auftrag gegeben
hat, mich mit stiller Verachtung zu strafen. Aber es könnte immerhin
möglich sein, daß es die Dummheit auf jene abgesehen hat, die
mit mir gehen. Damit nun wenigstens der nächste nicht stolpert,
— 19 —
muß man solch einen Ziegelstein mit einem Fußtritt aus dem
Wege räumen.
Und wieder habe ich an ihm das Zeichen >Servaes<
gefunden. Was soll das bedeuten? Ich komme schließlich
dahinter, daß es die Signatur einer Oeistlosigkeit ist, die stets
verneint. Dafür kann sie im allgemeinen nichts. Daß sie aber im be-
sondern Falle die Schöpfung eines Autors als > Anregung« für die Sudler
ieilbietet, daß sie einem Schriftsteller, der jenseits derfeuilletonistischen
Gangbarkeit produziert, seine Werte entwinden möchte und die
deichte Hand« der Literaturdiebe herbeiwinkt, auf daß eine vorrätige
Icee nach dem Geschmack des Gesindels zubereitet werde, ist beinahe
dolos. Als ob man heutzutage die Diebe rufen müßte! Freilich,
um diesem Verleiter zu folgen, dazu werden sie sich zu vornehm
dünken. Kein Nachahmer hat es nötig, sich von solchem Geist
beraten zu lassen, und ich wette hundert Schelmenromane gegen
einen, daß zum Beispiel Rudolf Lothar es verschmähen wird, eine
Quelle zu benützen, die ihm im Voraus nachgewiesen wurde.
Immerhin ist diese Art öffentlicher Hehlerei ein Novum in der
Literaturkritik, diese Manier, am lichten Sonntag, wo sich die
jungen Literaten auf dem Marktplatz drängen, den Ruf auszu-
stoßen: Haltet den Bestohlenen! Solche Gesinnung ist schlimmer
als Unverstand, der nur die äußere Stofflichkeit benagt.
Diesem kann "man das Recht, lästig zu sein, so wenig
absprechen wie jedem andern Zufall. Mein Gott, es gibt
eben Literaturkritiker, die den Wert eines Kunstwerkes des-
halb mit Vorliebe vom stofflichen Gesichtspunkt beurteilen, weil
sie nach den harten Zeiten der Tapezierer-Reklame endlich
freie Hand haben, die Echtheit von Stoffen anzuzweifeln.
Ihre kunstkritische Herkunft verleugnen sie auch in der
Literaturkritik nicht: sie prüfen die Leinwand, wenn sie über ein
Gemälde urteilen sollen. Aber sie sind nicht einmal in diesem
Punkte sachverständig.
Glaubt man nach all dem, daß unsere Kritik im Argen liegt?
Dafür gedeiht unsere Produktion. Denn unter dem Namen
Servaes wird nicht nur gerichtet, sondern auch bewiesen, daß man
es selber besser machen könne. Nur so ist die Gründung von
Vereinen für Kultur und die Institution der Servaes- Abende
zu erklären, an denen ja nicht Inserate, sondern Dichtungen vor-
gelesen werden sollen. Wir haben einen Peter Altenberg, der
— 20 —
fünfzig Jahre alt wird, die deutsche Literaturkritik leistet allerorten
den Salut, und unser • Intelligenzblatt bringt Feuilletons und
Romane eines schlechtgefärbten Blaustrumpfs und unser Kultur-
verein veranstaltet einen Servaes-Abend. Nein, es will mir nicht
sttmmen, daß dieses wundervolle Wort > Abend«, das Zeitenende
und Sonnenuntergang, Feste und Weihen einläutet und in dem
ein Hauch aller deutschen Dichtung atmet, jene sonderbare Ver-
bindung eingehen konnte. Ein schlechtes Beispiel mag einmal die
guten Sitten des Wortes verdorben haben. Nun ja -
Eines Abends noch sehr spöte
Oingen Wassermaus und Kröte
Einen steilen Berg hinan.
Karl Kraus.
* *
Erotische Krisen.
Es handelt sich um »Ssanin«. Und ich sehe nicht ein, warum
ich es nicht sagen soll: es ist ein schlechtes Buch, einfach ein
schlechtes Buch.
Freilich, es wurde konfisziert, hüben und drüben. Nun, auf
die Gefahr hin, daß ich in den Verdacht komme, den Staats-
anwälten gefallen zu wollen: ich lese prinzipiell keine kon-
fiszierten Bücher. Es ist stets eine Enttäuschung. Die guten Bücher
bleiben im großen Oanzen unkonfisziert. Diese billigste und
wirksamste Reklame, die dennoch nicht die geringsten Oarantien
bietet, wird hoffentlich die Bedeutung jenes Buches nicht noch
mehr aufbauschen, als es schon durch die unzähligen Kritiken ge-
schehen ist.
Die moderne russische Literatur macht so gute Anläufe,
und da kommt solch ein ordinäres Buch und diskreditiert jene,
die eben daran sind, uns vor Europa ein bißchen zu rehabilitieren
und etwas von unserem Sündenregister streichen zu helfen. Es
ist ein ärgerlicher Zwischenfall.
Von bleibendem Kulturwert soll dieses Buch sein; alle
Kritiker in Deutschland sind sich darüber einig. Tatsächlich stand
es im Prospekt, und die Einleitung, die dieselben Qualitäten be-
sitzt wie der Prospekt, bestätigt dieses Urteil. Aber ein schlechtes
Buch kann kein Dokument einer schlechten Zeit sein; ein ver-
fehltes Kunstwerk nicht ein Denkmal einer fehlerhaften Kultur-
epoche; ein im ethischen Sinne (nicht im > moralischen«) stumpf-
— 21
sinniges Literaturprodukt - kein Zeugnis ablegen. Zur Not
könnte dies noch beim Mangel an literarischen Qualitäten der
Fall sein, wäre das Buch naiv - oder überlegen.
Die Kritik hat ferner einen noch größeren Unsinn fest-
gestellt, der freilich auch im Prospekt stand: jener so versöhnend
und doch so sinnlos proklamierte erotische Hexensabbath, den die
russische kampfesüberdrüssige, ideenenttäuschte Jugend auf dem
frischen Grabe der unter Bombengeknatter und > Hände hoch!«-
Rufen eingescharrten Revolution aufführte, jener erotische Hexen-
sabbath sei durch Artzybaschews »Ssanin« hervorgerufen. Und das
wird ganz ernsthaft wiederholt. Genau mit demselben Rechte
könnte ich fragen: Welches literarische Werk hat es bewirkt, daß
beispielsweise die Berliner Schuljugend, die Knaben mit
den sporttendenziösen Gesichtern und die Mädels mit den
unschuldig-kurzen Röckchen und den reifen Waden hinter das
große Geheimnis gekommen sind? Als »Ssanin« erschien, war schon
das Fest der russischen Jugend im vollen Gange, man war mitten
drin, und man empfing jenen als willkommenen Gast. Sorgte er
doch für die geistige Unterhaltung und machte er doch als über-
legener Erwachsener verstohlen gern mit, was höchst spaßhaft
und pikant war. Seine Gedanken und seine Sprache waren grob
genug, um bei dem lärmenden Durcheinander der erotischen
tabula rasa für wahr und originell zu gelten. Als man aber am
folgenden Tage mit einem schwachen, doch freudigen Katzen-
jammer und mit dem Vorgefühl vom Ernst der nun bevor-
stehenden Arbeit und der Zukunft des Vaterlandes erwachte, da
sagte man sich — nicht einmal ärgerlich, soweit war man schon
wieder weg — : der Ssanin von gestern, das war doch ein ekelhafter
Kerl; ein Protz, ein Parvenü. Eigentlich ein Spießer und dann:
Leute, die bei solchen Gelegenheiten sich hervortun und sich
Gehör verschaffen, denen soll man aus dem Wege gehen. Und
wenn man ihm dann nun begegnete, tat man kühl und wollte
sich kaum erinnern.
Dies der wahre Sachverhalt.
Es ist klar, daß der Held Ssanin nicht als russischer Typus
gelten darf, weil er absolut unrussisch ist. Dieser im bösesten
Sinne romanhafte Held, der immer obenauf ist, stets überlegen,
stets recht behält, keine Zweifelsqualen, keine Sehnsuchtslähmung
kennt, mag vielleicht anderswo als Repräsentant starker Mann-
— 22 —
lichkeit Geltung haben; als Ausdruck russischer Seele und russi-
schen Geistes (auch zu Zeiten politisch-sozialer und erotischer
Revolutionen) darf er nie und nimmer sich einschleichen. Die
russischen »Helden <, die sind nicht fertige Männer, die propa-
gandieren; sie ringen, geben sich Blößen, machen sich lächerlich
und ringen. Sie haben einen Knacks; nicht den Individualitäts-
knacks Ibsenscher Menschen, sondern den allgemein - russischen
Knacks derer von Dostojewski bis auf Tschechow.
So kommt es auch, daß Ssanin gerade das repräsentiert, was
den nissischen Hamletnaturen fernliegt: Protzentum und Spieß-
bürgertum. Merkmal des Geldes- oder des Geistesparvenu ist ewige
Furcht: vielleicht werden die andern an seinen Reichtum nicht
glauben - wie er selber im Grunde seines Herzens noch nicht
recht daran glauben will — ; und er reibt es einem immer unter
die Nase. Also Ssanin mit seinen erotisch-anarchistischen Über-
zeugungen und freiheitlichen Forderungen.
Merkmal des Spießers: die Feigheit, das zu tun, was ihm
im Innern imponiert, verlockend erscheint; seine Gespenster:
der Ruf, die Verantwortung, die Folgen. Ssanin hat eine Schwester.
Im Umkreise ist sie die Schönste, die Klügste, die Stolzeste -
die Begehrenswerteste. Und das ist sie auch dem »freien«
Bruder. Er zerrt an den als unantastbar geltenden erotischen
Fäden, die sich so wundersam zwischen Bruder und Schwester
spinnen und sich zu einem verhängnisvollen Strick verweben, schon
wenn sie bloßgelegt werden und man ihrer gewahr wird . . . Die
Voraussetzung des inneren Blutzusammenhanges und die unheim-
liche Heimlichkeit der sündhaften Liebe verleihen dem erotischen
Verhältnis zwischen Bruder und Schwester jene Stärke und Tragik,
denen alle die verfallen, welche diesem Problem in der Kunst oder
im Leben nähergetreten sind. Ssanin hat nun die - ich glaube,
wohltuende Idee, all diese fatalen »Irrungen« der Instinkte als etwas
einfaches, natürliches hinzustellen und alle fatalen Bedenken bei-
seite zu schieben. Ähnlich wie Fjodor Sollogub in einer kleinen
mißglückten Komödie einen lebenslustigen, kraftbewußten Vater
seine Tochter verführen läßt, nachdem er den Bräutigam schwank-
artig an die Luft gesetzt hat ; da ist die Charakteristik, der Auf-
bau, die Intrige auf das Primitivste reduziert. Das Problem : »Ach
was, es ist ja nichts dabei.« So denkt auch Ssanin und hat doch
nicht die Courage, die Konsequenzen zu ziehen. Voller Neugierde
23
und Geilheit umschleicht er seine Schwester, er geht um sie herum
wie die Katze um den Brei. In einer Sommernacht belauscht er
sie, während sie sich bei offenem Fenster entkleidet (er ist über-
haupt für das Lauschen mit den Augen und den Ohren). Und
als sie im Hemde dasteht und er das Schauspiel beendet sieht,
ruft er sie an und tritt ans Fenster; sie beugt sich zu ihm hin-
über und er wird berauscht beim Anblick ihrer Reize, und stottert
Worte mit heiserer Stimme. Die Schwester wird durch des Bruders
Brunst aufmerksam, dann fühlt sie sich abgestoßen und zuletzt wird
sie nachdenklich. Sie wird zum Weibe, sobald sie sich als Weib
angesehen fühlt. In einer schwachen Stunde läßt sie sich vom
Bruder an sich reißen, endlos küssen, drücken bis zur Besinnungs-
losigkeit. Es bedurfte vielleicht nur einer Arie, wie sie dieser
räsonierende Mann der Tat für alle Lebenslagen bereit hält, und die
Schwester hätte sich ihm hingegeben. Aber der Maulheld, der
die Liebesfreuden propagandiert, ohne die Liebe zu kennen, zieht
nicht die Konsequenz aus seinen Lehren und aus seiner Begierde,
sondern sorgt für eine Partie. Die Schwester heiratet, nachdem sie
mit einem schneidigen Leutnant böse Erfahrungen gemacht, einen
zwar ungeliebten, aber anständigen Menschen. Was ist eigentlich
die Moral davon ? Mich dünkt, daß dieses ganze Getändel gerade
dadurch, daß sich der Bruder zu guterletzt an die Schwester
nicht heranwagt, zu einer Frivolität herabsinkt. - — —
Es handelt sich natürlich nicht um Ssanin. Ein Reisender
in der Ideen-Branche ist mit rechter Krämer-Intimtuerei und Un-
geniertheit in unser Haus gedrungen, da die Tür gerade angelehnt
war, hat seine Musterkarten gelassen und uns einige Artikel auf-
geschwatzt. Da wir uns endlich gesammelt, ihn an die Luft gesetzt
und die Fenster geöffnet haben, werden wir nachdenklich : Leute
von diesem Schlag wissen, was sie tun; sie haben einen feinen
> Riecher«. Wenn er sich hier mit solcher Ungebundenheit breit
machte, so muß er herausgeschnüffelt haben, daß er hinter der
angelehnten Tür ein psychologisches Interregnum vorfinden würde.
Es gibt erotische Krisen. Ein jeder hat sie zu absolvieren. Die
erste Krise, wenn die erste Vorreife die Ahnungen durchbricht ;
die andere, wenn die Vollreife den ersten Knacks verspürt; eine
fernere dann, wenn die Überreife einen verknackst hat. Eine jede
Krise hat ihre Merkmale. Je stärker die Krise, je erschreckender
die Merkmale, desto reicher die Mittel. Nicht jeder ist ver-
_ 24 —
pflichtet sie durchzumachen, geschweige denn, sie bewußt durch-
zumachen. Aber die erotisch und, im Zusammenhange damit,
sonstwie Begnadeten kennen sie.
Just solche Krisen hat auch die Menschheit, hat auch eine
Rasse durchzumachen. Und Rußland macht jetzt eine solche durch.
»Ssanin« und der Wohlgefallen daran tragen alle Merkmale jener
der ersten Vorreife. Aber Rußland wird sich schon heraushelfen.
Dieses Land, das manchmal solche beängstigende Sprünge zu
machen beliebt und hie und da die besten Nationen zu überholen
droht, wird vielleicht sehr bald eine weitere Krise erreichen ; und
man wird staunen, wie verzwickt sie sein wird. Westen, laß dich
begraben, zu solchen Verzwicktheiten hast du viel zu viel Vernunft !
St. Petersburg. Paul Barchan.
* *
♦
Glossen.
Eine Tatsache, deren Erfindung mehr für ihre Möglichkeit
beweist als ihre zufällige Wahrheit bewiese, wurde jüngst in einer
Zeitung gemeldet. Es seien 48 Passagiere des am 1. März von Wien
abgelassenen Luxuszuges Wien- Nizza bis zum 6. in Pontafel
eingeschneit gewesen, ohne daß sie Nachricht von ihrem Verblei-
ben geben konnten, da auch die Telegraphenlinien nach Norden
und Süden zerstört waren. »Erst Samstag kam eine militärische
Skipatrouille mit Zeitungen an, in denen zur größten Verwun-
derung der Passagiere vom Schicksal ihres Zuges noch keine
Meldung enthalten war. Auch wollte man nicht begreifen, daß die
25 Kilometer lange Strecke binnen einer Woche nicht ausgeschau-
felt werden konnte.« Zu solchen Meldungen pflegen die Redak-
tionen, die sie übernehmen, zu bemerken: »Die Nachricht klingt
ganz unglaublich, ihre Bestätigung bleibt wohl abzuwarten«. Am
nächsten Tag erfolgt das Dementi der Bahndirektion. Ob die
Meldung trotzdem unwahr ist, ist gleichgültig. Das Seelenleben
der Achtundvierzig ist in einem Satze so gut erfaßt, daß man
unbedingt an die Beobachtung eines realen Vorfalles glauben muß.
So und nicht anders würden sie sich geberden, wenn sie die
Teufelei der Natur auf einem Schienenstrang aus dem Verkehrs-
leben ausgeschaltet hätte. Sechs Tage schon von der Welt abge-
schnitten, die Vorräte des Speisewagens sind zu Ende, weit und breit
keine Rettung. Da, endlich, naht eine militärische Skipatrouille. Was
bringt sie? Zeitungen! Mit gierigen Händen langen dieAchtund-
— 26 —
vierzig danach. Aber als ob die Rettungsgesellschaft den hungern-
den Opfern eines Erdbebens Maccaroni aus Papiermache" böte,
— die Zeitungen enthalten nichts über die Katastrophe! Man
sucht seinen Namen und findet ihn nicht. Und dafür liegt man
sechs Tage auf der Strecke! Wozu die ganze Schneeverwehung?
Wenn man schon von der Außenwelt abgeschnitten ist, so soll
sie es doch wenigstens erfahren ! Die Achtundvierzig werden an
der journalistischen Vorsehung irre ; sie sterben ohne Trost. Haben
diese Helden in keinem Augenblick an ihre leibliche Rettung
gedacht? Nur mit jener Wehmut, die nach tieferer Enttäuschung
kaum ein Achselzucken für die Dinge des Lebens hat. Die ,Neue
Freie Presse' bringt nichts. Was kann da noch Schlimmeres kommen ?
Nun ja, >auch wollte man nicht begreifen«, daß die Strecke
nach einer Woche noch nicht ausgeschaufelt war.
*
Ein Leser der Wiener Tagespresse wollte eine Vorstellung
des »Tasso« besuchen. Um sich aber schon vorher ein Urteil zu
bilden, hat er sämtliche Kritiken gelesen. Nun flüchtet er zu mir,
will durchaus Antwort auf die Frage des Pilatus und unterbreitet
mir die folgende Zusammenstellung:
.Fremdenblatt'.
»Herr Gerasch ist kein Tasso für
Wien«.
,Neues Wiener Journal'.
»Uninteressant in der äußeren
Erscheinung«.
.Fremdenblatt'.
»Herr Gerasch ist nicht warm«.
.Neues Wiener Journal'.
»Er überlud sie (die Rolle) mit
allem Gepränge komödiantischer
Äußerlichkeiten«.
.Fremdenblatt'.
»Sein kaltes gellendes Organ«.
.Extrablatt*.
»Die Steigerung im vierten Akte
gelang überraschend«.
.Neues Wiener Tagblatt'.
»Nicht so hinreißend und phos-
phoreszierend wie Herr Kainz'.
.Arbeiterzeitung'.
»Die ewige Ariensucht
Hohenfels«.
der
.Neues Wiener Tagblatt'.
»Herr Gerasch hat gestern sehr
gefallen«.
.Zeit'.
>Er sieht sehr gut aus«.
.Neues Wiener Tagblatt'.
»Er gibt ihn warm im Ton«.
.Neues Wiener Tagblatt'.
»Er gibt ihn (Tasso) mit edler
Verzichtleistung auf alles schau-
spielerische Zuviel«.
.Deutsches Volksblatt'.
»Sein wunderbares Organ«.
.Österr. Volkszeitung'.
»Der vierte Akt gelingt Herrn
Gerasch nicht«.
.Deutsches Volksblatt'.
»Die Rolle, die Herr Kainz mit
seinen Mätzchen und seiner Un-
natur verdarb«.
, Österr. Volkszeitung'.
»Frau Hohenfels und Herr Hart-
niann waren Olympier, die sich
bei Sterblichen zu Gaste luden«.
— 26 —
Eine schöne Bescherung ! Ich habe dazu nur zu bemerken,
daß ich Meinungsverschiedenheit bei gleichem Mangel an Indivi-
dualität in der Tat empörend finde.
K.
*2"
Sprüche und Widersprüche.*)
Der Mann hat den Wildstrom weiblicher Sinn-
lichkeit kanalisiert. Nun überschwemmt er nicht mehr
das Land. Aber er befruchtet es auch nicht mehr.
•
Wenn die Natur vor Verfolgung sicher sein
will, rettet sie sich in die Schweinerei.
Im Orient haben die Frauen größere Freiheit.
Sie dürfen geliebt werden.
Es gibt einen dunklen Weltteil, der Entdecker
aussendet. *
Es ist ganz ausgeschlossen, daß, wie die Dinge
heute liegen, ein wiederkehrender Goethe nicht wegen
unerlaubter Reversion ausgewiesen würde.
•
Auf einem Kostümfest hofft jeder der Auffal-
lendste zu sein ; aber es fällt nur der auf, der nicht
kostümiert ist. Sollte das nicht einen Vergleich geben ?
•
Die Persönlichkeit hat ein Recht zu irren. Der
Philister kann irrtümlich recht haben.
•
Bei gleicher Geistlosigkeit kommt es auf den
Unterschied der Körperfülle an. Ein Dummkopf sollte
nicht zu viel Raum einnehmen.
* ■
An dem deutschen Kaffee habe ich eine über-
triebene Nachgiebigkeit gegenüber der Milch beob-
*) Diese Aphorismen, zuerst im ,Simplicissimus' erschienen, sind
in verschiedenen Abteilungen des Buches »Sprüche und Wider-
sprüche« (Verlag Albert Langen, München) enthalten.
27
achtet. Er erbleicht, wenn sie nur in seine Nähe
kommt. Das könnte auch ein Bild von der Beziehung
der Geschlechter in diesem Lande sein.
•
Der Friseur erzählt Neuigkeiten, wenn er bloß
frisieren soll. Der Journalist ist geistreich, wenn er
bloß Neuigkeiten erzählen soll. Das sind zwei, die
höher hinaus wollen.
•
Nicht auf alle Grüße muß man antworten. Vor
allem nicht auf solche, die bloß eine Bitte um Gunst
ausdrücken. Der Gruß an einen Kritiker ist der Gruß
der Furcht, er ist nicht höher zu werten als der
Fiakergruß, der ein Gruß der Hoffnung ist : die
Grüßenden wünschen sich selbst einen guten Tag.
Man soll die Gesinnung, die eine Freundlichkeit zu
gewinnsüchtigen Zwecken mißbraucht, nicht auch nooh
mit einer körperlichen Unbequemlichkeit belohnen.
•
Gesellschaft: Es war alles da, was da sein muß
und was sonst nicht wüßte, wozu das Dasein ist,
wenn es nicht eben dazu wäre, daß man da ist.
»
Es ist ein Unglück, daß in der Welt mehr
Dummheit ist, als die Schlechtigkeit braucht, und
mehr Schlechtigkeit, als die Dummheit erzeugt.
•
Das ist der Triumph der Sittlichkeit: Ein Dieb,
der in ein Schlafzimmer gedrungen ist, behauptet,
sein Schamgefühl sei verletzt worden, und erpreßt
die Unterlassung der Anzeige.
*
Jedes Gespräch über das Geschlecht ist eine ge-
schlechtliche Handlung. Den Vater, der seinen Sohn
aufklärt, dieses Ideal der Aufklärung, umgibt eine
Aura von Blutschande.
•
Daß eine Kokotte nach sozialen Ehren strebt,
ist eine traurige Erniedrigung ; aber sie entschädigt
sich wenigstens durch heimliche Freuden. Viel ver-
werflicher ist die Praxis jener Frauen, die durch den
- 28 —
Schein eines Freudenlebens über ihre heimliche Ehr-
barkeit zu täuschen wissen. Sie schmarotzen an einer
sozialen Verachtung, die sie sich nicht verdient
haben; und das ist die schlimmste Art von Streberei.
■
Wie wenig Verlaß ist auf eine Frau, die sich
auf einer Treue ertappen läßt ! Sie ist heute dir,
morgen einem andern treu.
*
Mancher rächt an einer Frau durch Gemeinheit,
was er durch Torheit an ihr gesündigt hat.
*
Man kann eine Frau wohl in flagranti ertappen,
aber sie wird noch immer Zeit genug haben, es in
Abrede zu stellen.
«
Perversität ist entweder eine Schuld der Zeu-
gung oder ein Rocht der Überzeugung.
Wohltätige Weiber: solche, denen es nicht
mehr gegeben ist, wohlzutun.
*
Man tut ein gutes Werk, wenn man dem Luxus
des Nebenmenschen zu Hilfe kommt. Es ist eine
üble Anwendung der Wohltätigkeit, die Bestrebungen
der Pauvrete* zu unterstützen.
•
Es gibt Menschen, welchen es gelingt, die
Vorteile der Welt mit den Benefizien des Verfolgt-
leins zu vereinigen.
•
Die stärkste Kraft reicht nicht an die Energie
heran, mit der manch einer seine Schwäche ver-
teidigt.
*
Die wahre Treue gibt eher einen Freund preis
als einen Feind.
*
Ich kann mich so bald nicht von dem Eindruck
befreien, den ich auf eine Frau gemacht habe.
— 29 —
Das ist noch immer nicht die richtige Einsam-
keit, in der man mit sich beschäftigt ist.
«
An einem Ideal sollte nichts erreichbar sein als
ein Martyrium.
Wer offene Türen einrennt, braucht nicht zu
fürchten, daß ihm die Fenster eingeschlagen werden.
#
Das Geheimnis des Agitators ist, sich so dumm
zu machen, wie seine Zuhörer sind, damit sie glau-
ben, sie seien so gescheit wie er.
•
Ein guter Autor wird immer fürchten, daß das
Publikum am Ende merke, welche Gedanken ihm zu
spät eingefallen sind. Aber das Publikum ist darin
viel nachsichtiger als man glaubt, und merkt auch
die Gedanken nicht, die da sind.
•
Einen Aphorismus zu schreiben, wenn man es
kann, ist oft schwer. Viel leichter ist es, einen
Aphorismus zu schreiben, wenn man es nicht kann.
Es gibt Schriftsteller, die schon in zwanzig
Seiten ausdrücken können, wozu ich manchmal sogar
zwei Zeilen brauche.
*
Man darf auf dem Theater die Natur einer Per-
sönlichkeit nicht mit der Natürlichkeit einer Person
verwechseln.
Nicht alles, was totgeschwiegen wird, lebt.
•
Die Kritik beweist nicht immer ihren gewohn-
ten Scharfblick; sie ignoriert oft die wertlosesten
Erscheinungen.
*
In der Literatur gibt es zwei verschiedene Ähn-
lichkeiten. Wenn man findet, daß ein Autor einen
— 30 —
andern zum Verwandten, und wenn man entdeckt,
daß er ihn bloß zum Bekannten hat.
*
Ein schöpferischer Kopf sagt auch das aus
eigenem, was ein anderer vor ihm gesagt hat. Dafür
kann ein anderer Gedanken nachahmen, die einem
schöpferischen Kopf erst später einfallen werden.
•
Eigene Gedanken müssen nicht immer neu sein.
Aber wer einen neuen Gedanken hat, kann ihn leicht
von einem andern haben.
•
Die Wissenschaft tiberbrückt nicht die Abgründe
des Denkens, sie steht bloß als Warnungstafel davor.
Die Dawiderhandelnden haben es sich selbst zuzu-
schreiben.
•
Wahn verpflichtet durchs Leben wanken — das
könnte immer noch ein aufrechterer Gang sein als
der eines Wissenden, der sich an den Abgründen
entlang tastet.
•
Die Unsterblichkeit ist das einzige, was keinen
Aufschub verträgt.
*
Hüte dich vor den Frauen I Du kannst dir eine
Weltanschauung holen, die dir das Mark zerfressen
wird.
•
Qual das Lebens — Lust des Denkens.
•
Wenns nur endlich finster wäre in der Natur !
Dies elende Zwielicht wird uns noch allen die Augen
verderben.
I , Karl Kraus.
*
Pascin.
Ich würde es dem Zeichner Pascin von Her-
zen gönnen, daß das, was ich hier über ihn
schreibe, für nicht gar so wenig Menschen In-
teresse hätte. Indessen würde es mich selbst am
— 31 —
Geschmack des Publikums irre machen, wenn dieses für
einen so erstaunlich tiefen, kühnen und durchaus
singulären Künstler auch nur eine leise Sympathie
bezeugte ... In der Tat ist es recht unanständig, zu
sagen, daß man in der Kunst Pascins Genuß findet;
denn hier wie immer wird man unserm künstleri-
schen Entzücken ein stoffliches unterschieben.
Nun hat freilich bei Pascin auch das Stoffliche
an und für sich schon psychologische Bedeutung ;
und seine Kunst wird vollkommen unzugänglich blei-
ben für alle, die entweder nicht reich oder nicht
ehrlich genug sind, um — wenigstens in sogenann-
ten dunklen Augenblicken — auf dem untersten
Grunde ihrer Seele schlummernde Möglichkeiten des
Tierischen, oder auch nur die leisen Schatten solcher
Möglichkeiten herumkriechen zu sehen.
*
Ein besonderer Grund, warum es Pascin gar
nicht gelingt, das sonst den erotischen Darstellungen
heimlich nicht abgeneigte Publikum für sich zu ent-
zünden, scheint mir darin zu liegen, daß ihm das
keuchende Pathos im Erotischen gänzlich fremd ist.
Ach, »er geht nirgends aufs Ganze« 1 In der Gebärde,
überhaupt in der ganzen Erfindung seiner Figuren
und Situationen liegt nirgends etwas Entschlossenes
und Definitives — überall nur jener, andeutende, letzte
feine Rest psychologischer Regung; nirgends heftige
Bewegung, sondern höchstens ein leiser Wille dazu.
»
Pascin ist der Darsteller psychologisch-erotischer
Grenzgebiete. Von den meisten erotischen Künstlern
unterscheidet er sich dadurch, daß er nie illustriert.
Er ist ein viel zu guter Psychologe, um Vorgänge
illustrieren zu müssen. In einer matt herabhängenden
langen mageren Hand vermag er das Erschauern
aller Perversitäten auf einmal auszudrücken. Er
zeichnet nur irgend ein schiefgezogenes Auge, und
läßt uns so schon einen tieferen Blick in Abgründe tun
als ein anderer, der diese Abgründe selbst darstellt.
— 32 —
Ich protestiere daher nachdrücklich gegen eine
Meinung, die, soviel ich weiß, sehr verbreitet ist —
nämlich dagegen, daß Pascin einem »schauerlichen
Realismus« huldige. Diese Meinung des Publikums
hängt natürlich wieder mit seiner öden Verwechslung
des Dargestellten und der Darstellung zusammen.
Ich empfinde im Gegenteil die Kunst Pascins als
durchaus mystisch.
An jeder Figur oder Situation führt Pascin nur
soviel aus, als unbedingt nötig ist, die Idee der
Figur oder Situation wiederzugeben. Vieles liegt bei
ihm überhaupt schon auf der Grenze zwischen
Mensch und reinem Symbol eines Triebes, zwischen
animal und dem reinen Ausdruck, der Idee des ani-
mal. Ich erinnere mich an jenes zwischengeschlecht-
liche nackte Riesen-Monstrum im Kinderwagen, das nur
glotzt . . . glotzt wie tausend eklige Tiere aus einem
tausend Jahre lang versumpften Brunnen. Die Häß-
lichkeit dieses Monstrums übertrifft weitaus alle
Wirklichkeit; sie ist realistisch unmöglich, auch bei
den Hallstättern, und muß als das abstrahierte Symbol
irgend eines grausigen Sexualtriebes aufgefaßt werden.
•
Ebenso fremd wie Pascin das stoffliche Pathos
in der Erotik bleibt, ist ihm das Pathos auch in der
künstlerischen Ausführung. Alles ist leicht, zart und
nachlässig hingeworfen, oft nur spärlich skizziert.
Pascin hat unendlich viel Sinn für Nuancen. Das
bedingt an und für sich eine zarte Technik.
•
Reine Komik, befreiendes Lachen finden wir
nie bei Pascin. Auch hier wehrt er sich gegen das
Pathos — ich meine gegen das Pathos der Heiter-
keit. Komische Linien haben bei ihm stets eine
Richtung ins Grausige oder in eine degenerierte
Müdigkeit. Die reine Komik würde eine derbere
Technik verlangen, als er anwenden will. Wenn
er eine rumänische Kupplerin zeichnet, wie sie
ihrer Tochter das Haar bindet, läßt er aus dem
vergrößerten Weiß ihrer Augen, aus der Spannung
— 33
ihrer knöcherigen Hand die sexuelle Wollust der
Kupplerin fiebern. Seine Kunst erlaubt ihm, realisti-
scheren Vorgängen aus dem Wege zu gehen.
*
Pascin ist Meister in der Erregung des Grauens.
Mein tiefstes Grauen hat er mit einigen Zeichnungen
geweckt, auf denen die dargestellten Menschen in
unendlicher Müdigkeit und Apathie nur dasitzen und
warten, immer nur warten ... Er hat Typen ge-
zeichnet, die auch zum Sterben zu müd sind. Ein
kleiner, knochiger, verrunzelter Hund, der auf diesen
Zeichnungen nie fehlt, verstärkt noch, durch die
tierische Perversität seines Blickes, den ungeheuren
Eindruck vollkommenster Verlassenheit.
Auch zu solchen Darstellungen würde eine
kräftige Technik nicht passen; nur die feinsten
Striche und die abgetöntesten Farben vermögen die
Idee zu retten.
*
Manchmal hat Pascin mitten unter viehisch
wüste und verwüstete Balkanweiber irgend ein Mäd-
chen mit ausnehmend hübschem Gesicht gezeichnet,
das in naiver und unschuldiger Miene eine kindlich
fromme Perversität zum Ausdruck bringt. Diese
künstlerische Laune Pascins hat mir von jeher ge-
fallen. Ich glaube nämlich, daß er sich damit über
das Publikum moquierte, indem er ihm lächelnd
sagte: >Seht, ich könnte sogar etwas Süßes zeichnenlc
Zur Ehre des Publikums sei festgestellt, daß es
sich von diesen sporadischen Launen Pascins nicht
hinreißen ließ. Diese Launen waren zu selten, als daß
eine dauernde Neigung darauf hätte basieren können.
München. Karl Borromaeus Heinrich.
* *
Der Fortschritt.*)
Ich habe mir eine Zeitungsphrase einfallen
lassen, die eine lebendige Vorstellung gibt. Sie
*) Aus dem .Simplicissimus'.
84 —
lautet: Wir stehen im Zeichen des Fortschritts. Jetzt
erst erkenne ich den Portschritt als das, was er ist, —
als eine Wandeldekoration. Wir bleiben vorwärts und
schreiten auf demselben Fleck. Der Fortschritt ist
ein Standpunkt und sieht wie eine Bewegung aus. Nur
manchmal krümmt sich wirklich etwas vor meinen
Augen : das ist ein Drache, der einen goldenen Hort
bewacht. Öderes bewegt sich nachts durch die Straßen:
das ist die Kehrichtwalze, die den Staub des Tages auf-
wirbelt, damit er sich an anderer Stelle wieder senke.
Wo immer ich ging:, ich mußte ihr begegnen. Ging
ich zurück, so kam sie mir von der anderen Seite
entgegen, und ich erkannte, daß eine Politik gegen
den Fortschritt nutzlos sei, denn er ist die unent-
rinnbare Entwicklung des Staubes. Das Schicksal
schwebt in einer Wolke, und der Fortschritt, der
dich einholt, wenn du ihm auszuweichen hoffst,
kommt als Gott aus der Maschine daher. Er schleicht
und erreicht den flüchtigen Fuß und nimmt dabei
so viel Staub von deinem Weg, als zu seiner Ver-
breitung notwendig ist, auf daß alle Lungen seiner
teilhaft werden, denn die Maschine dient der großen
fortschrittlichen Idee der Verbreitung des Staubes.
Vollends aber ging mir der Sinn des Fortschritts auf,
als es regnete. Es regnete unaufhörlich und die
Menschheit dürstete nach Staub. Es gab keinen und
die Walze konnte ihn nicht aufwirbeln. Aber hinter
ihr ging ein radikaler Spritzwagen einher, der sich
durch den Regen nicht abhalten ließ, den Staub zu
verhindern, der sich nicht entwickeln konnte. Das
war der Fortschritt.
Wie enthüllt er sich dem Tageslicht? In welcher
Gestalt zeigt er sich, wenn wir ihn uns als einen
flinkeren Diener der Zeit denken? Denn wir haben
uns zu solcher Vorstellung verpflichtet, wir möchten
des Fortschritts inne werden, und es fehlt uns bloß die
Wahrnehmung von etwas, wovon wir überzeugt sind.
Wir sehen von allem, was da geht und läuft und
fährt, nur Füße, Hufe, Räder. Die Spuren verwischen
35
sich. Hier lief ein Börsengalopin, dort jagte ein
apokalyptischer Reiter. Vergebens . . . Wir können von
Schmockwitz nach Schweifwedel telephonisch sprechen,
und wissen noch nicht, wie der Foitschritt aussieht!
Wir wissen bloß, daß er auf die Qualität der Fern-
gespräche keinen Einfluß genommen hat, und wenn
wir einmal so weit halten werden, daß man zwischen
Wien und Berlin Gedanken übertragen wird, so wird
es nur an den Gedanken liegen, wenn wir diese Ein-
richtung nicht in ihrer Vollkommenheit bewundern
können. Die Menschheit wirtschaftet drauf los;
sie braucht ihr geistiges Kapital für ihre Erfindungen
auf und behält nichts für deren Betrieb. Der Fort-
schritt aber ist schon deshalb eine der sinnreichsten
Erfindungen, die ihr gelungen sind, weil zu seinem
Betrieb nur der Glaube notwendig ist, und so haben
jene Vertreter des Fortschritts gewonnenes Spiel, die
einen unbeschränkten Kredit in Anspruch nehmen.
Besehen wir das Weltbild im Spiegel der Zeitung,
so erweist sich der Fortschritt als die Methode, uns
auf raschestem Wege alle Rückständigkeiten erfahren
zu lassen, die in der weiten Welt vor sich gehen.
Was mir aber den größten Respekt abnötigt, ist die
Möglichkeit, bedeutende zeitgeschichtliche Tatsachen
auf photographischem Wege dem Gedächtnis jener
Nachwelt zu überliefern, die am Morgen des folgenden
Tages beginnt und am Abend zu Ende ist. Der Fort-
schritt ist ein Momentphotograph. Ohne ihn wäre
jener Augenblick unwiederbringlich verloren, in dem
der König von Sachsen vom Besuche einer Sodawasser-
fabrik sich zu seinem Wagen begab. Wie sieht das
aus? fragte man sich. Wie macht er das? Wie geht
der König? Er setzt einen Fuß vor den andern, und
der Momentphotograph hat es festgehalten. Aber dieser
vermag vom Schreiten nur einen Schritt zu erhaschen,
darum wird das Gehen zum Gehversuch, und der
Adjutant, der auf die Füße des Königs sieht, scheint
die Schritte zu zählen, damit keiner ausgelassen wird:
Eins, zwei; eins, zwei ... So weiß man immerhin, wie
— 36 —
die Sohle des Königs von Sachsen beschaffen ist; aber
auch das mag dem deutschen Volke genügen. Mehr
bietet die Momentphotographie, wenn sie sich »in
den Dienst des Sports stellte, und ohne sie wäre der
Sport am Ende gar kein Vergnügen. Eine Schlitten-
fahrt — hei, das- macht Spaß ! » Prinz Eitel Friedrich
bremst«. Und was tut Prinz August Wilhelm? >Prinz
August Wilhelm hilft als galanter Gatte seiner Ge-
mahlin vom Schlitten.« Ist das Bild das offizielle
Dementi eines Gerüchtes, daß Prinz August Wilhelm
ungalant sei und bei Schlittenfahrten seine Gemahlin
allein aussteigen lasse? Hat sich solcher Argwohn im
Gefühlslebendes deutschen Volkes eingenistet? Nein,
das deutsche Volk liebt es zu hören, daß Prinz
August Wilhelm als galanter Gatte seiner Gemahlin
vom Schlitten helfe, auch wenn es nie daran ge-
zweifelt hat und das Gegenteil nicht behauptet
wurde. Wäre das Gegenteil behauptet worden, so
könnte man sagen, es sei kleinlich, solche Gerüchte
zu widerlegen. Das deutsche Volk glaubt sie ohne-
dies nicht. Es glaubt nur, was es sieht. Darum
glaubt es an die Galanterie des Prinzen August
Wilhelm, wenn es eineProbe zu sehen bekommt. Es will
sehen, wie sich dieser Prinz benimmt, wenn er mit seiner
Gemahlin aus dem Schlitten steigt. Da es nun unmöglich
ist, das deutsche Volk in seiner Gesamtheit zur Be-
sichtigung des Vorgangs zuzulassen und die Ver-
sicherung der Berichterstatter nicht genügt, so stellt
sich die Momentphotographie in den Dienst des Sports.
Quälend wäre aber auch die Ungewißheit, ob der
Badische Finanzminister anders geht, wenn er das
Reichsschatzamt verläßt, als der Hessische Minister
der Finanzen, oder ob Taft, die Grüße der Volks-
menge erwidernd, den Mund weiter öffnet, als Roose-
velt in diesem Falle gewohnt war. Das eben
ist der Fortschritt, daß solches Interesse heute
schnellere Befriedigung findet als ehedem, ja daß
sogar die schnellere Befriedigung solches Interesse
heute erzeugen kann. Einst war der Geist auf Bücher
- 87 —
angewiesen und der Atem auf Wälder. Wo sollen
wir heute in Ruhe unsere Zeitung lesen? Die Papier-
industrie blüht, aber sie gibt keinen Schatten. Und
die Rotationsmaschine schleicht nachts durch die
Straßen, wirbelt den Staub des Tages auf und setzt
ihn für den kommenden Tag wieder ab.
Als ich ein Knabe war, sah ich den Fortschritt
in der Gestalt eines deutsch-fortschrittlichen Abge-
ordneten. Er vertrat die Freiheit, er vertrat die
böhmischen Landgemeinden, er vertrat die Stiefel-
absätze. Was wollte ich mehr? Ich hörte zum ersten-
mal, die Deutschen in Österreich seien von den
Tschechen »vergewaltigte worden. Ich verstand kein
Wort davon, aber ich weinte vor Erregung. Es war
eine Phrase, die mir einen Lebensinhalt offenbarte.
Später, als die Vergewaltigung in eine Keilerei aus-
artete, sah ich selbst in dieser keine Äußerung natürlicher
Kräfte, sondern die Folge einer Phrase. Da die
Politik nicht mehr mein Gefühl ansprach, erkannte
ich, daß sie nicht zu meinem Verstände spreche.
Politik ist Teilnahme, ohne zu wissen wofür. Wenn
sie aber nicht einmal mehr das ist, so kann es leicht
geschehen, daß sich uns der Fortschritt als die Welt-
anschauung des Obmannes der freiwilligen Feuer-
wehr von Pardubitz enthüllt. Aus solcher Ent-
täuschung gewöhnte ich mich, das Prinzip der kultu-
rellen Entwicklung nur mehr in jenen Regionen
des Lebens zu suchen, die dem Sprachenstreit ent-
rückt sind. Ich fand den Fortschritt in allen, ohne
in einer einzigen seine Physiognomie zu finden. Ich
glaubte, ich sei in eine Maskenleihanstalt geraten.
Jetzt war er ein Ausgleicher im sozialen Bankrott,
jetzt ein Schaffner an jenem Zug des Herzens, der
Hoheiten talwärts führt; hier Wahlagitator, dort
Kuppler; bald Nervenarzt, bald Kolporteur. Rechts von
mir sagte einer, der keine gerade Nase hatte: Ich sitze
mit vier Reichsrittern, drei Markgrafen, zwei Fürsten
und einem Herzog im Verwaltungsrat der Konserven-
fabrik . . . Das war der Fortschritt. Links von mir sagte
— 38
eine Dame, die Boutons trug: Man kann die Neunte
Symphonie am billigsten im Arbeiterkonzert hören,
aber mau muß sich dazu schäbig anziehen . . . Das war
der Portschritt.
Dann sah ich ihn als Ingenieur am Werke. Wir
verdanken ihm, daß wir schnell vorwärts kommen.
Aber wohin kommen wir? Ich selbst begnügte mich,
es als das dringendste Bedürfnis zu empfinden,
zu mir zu kommen. Darum lobte ich den Fortschritt und
wollte in einer Stadt nicht fürder leben, in der mir
Hindernisse und Sehenswürdigkeiten den Weg zum
Innenleben verstellen. Eines Tages begann ich aber
neuen Mut zu schöpfen, weil das Gerücht zu mir drang,
in Wien sei eine Automobildroschke zu sehen gewesen.
Die wird wohl schwer zu haben sein, dachte ich, aber
wenn ich sie doch einmal erwische, so wird es ein anderes
Leben werden 1 Im Sausewind an den Individualitäten
vorbei, die mich an jeder Straßenecke belästigen,
— das allein ist schon ein anregendes Erlebnis. Ich
machte mich auf, den Portschritt zu suchen, und fand
ihn auf seinem Standplatz. Die Aulomobildroschke
stand da als eine Verlockung zu einem Leben ohne
Hindernisse, der jeder Wiener aus dem Wege ging.
Aber wenn er geahnt hätte, daß auch sie ihm all
den Reiz des Umständlichen bieten konnte, den zu
entbehren ihm so schwer fällt, er hätte eine Fahrt
riskiert, umso mehr als der Chauffeur durch die Frage
»Pahr'n m'r Euer Onadenc das sympathische Bestreben
verriet, an <lie Tradition anzuknüpfen und über den
Mangel an Pferden taktvoll hinwegzutäuschen. Ich,
ein Freund des Fortschritts, ließ mich nicht lange
bitten, und ich kann heute sagen, daß jeder Wiener es
bedauern kann, meinem Beispiel nicht gefolgt zu
sein. Alle Befürchtungen, es könnte am Ende glatt
gehen, sind überflüssig und getrost darf man sich dem
neuen Fahrzeug anvertrauen. Vor allem gab es vieles
zu sehen. Denn zehn unbeschäftigte Kutscher halfen
dem Chauffeur, den Wagen flott zu machen, und
hier zeigte es sich, daß unser Portschritt nicht durch
— 39
die Feindschaft des Alten gehemmt wird, sondern im
Gegenteil durch dessen Unterstützung. Ein Wasserer
eilt herbei, um nach dem Rechten zu sehen. Er will
nach alter Gewohnheit den Wagen waschen, ehe
man fährt. Aber als er dann auch den Pferden den
Futtersack reichen wollte, stellte es sich heraus, daß
keine da waren. Man konnte sie also nicht einmal
abdecken und, schlimmer als das, man hatte nichts
bei der Hand, um den Taxameter zuzudecken. Nach-
dem sich der Wasserer, der die Welt nicht mehr
verstand, kopfschüttelnd entfernt hatte, setzte sich
trotzalledem wie durch ein Wunder das Automobil
in Bewegung, nicht ohne daß es mir aufgefallen wäre,
wie der Chauffeur mit einem fremden Mann ge-
heimnisvoll einige Worte wechselte. Als ich am Ziel
ausstieg, sah ich denselben Mann wieder mit dem
Chauffeur sprechen. Er war vorausgegangen und hatte
das Automobil erwartet. Ich beruhigte mich bei dem
Gedanken, daß es ein Vertreter der Firma sein könnte,
die es erzeugt hatte, und fand sogar Gefallen an der
Vorstellung, daß ich — als Vertreter des Fortschritts
— ausersehen war, die Probefahrt zu bestehen. Den
Ovationen der Menge, die sich inzwischen angesammelt
hatte, entzog ich mich, indem ich zu dem benach-
barten Standplatz ging, um die Rückfahrt in einem
Einspänner anzutreten. Der Standplatz war aber leer,
weil sämtliche Kutscher zu dem Automobil geeilt
waren. Nur einer war auf seinem Bock, der aber
schlief und als ihm ein Polizist, den ich schon auf-
geweckt hatte, dieses Benehmen verwies, murmelte er
aus dem Schlaf die Worte: »Jetzt könnts mi alle mit-
ananda — c Er meinte hauptsächlich den Fortschritt.
Nun erst war ich begierig ihn kennen zu lernen.
Ich reiste, und wirklich, ich habe ihn oft genug in
jener Tätigkeit gesehen, zu der er sich hierzulande
nun einmal nicht schicken wollte, als Förderer des
Fremdenverkehrs. Ich kam schnell vorwärts, aber
zumeist auf falschem Weere, und so wurde ich
in der Vermutung bestärkt, der Fortschritt sei
— 40
ein Hotelportier. Und überall schien um seines
Ehrgeizes willen jedes bessere Streben der Mensch-
heit zu stocken. Es war, als ob nicht ein Ziel die Eile
der Welt geboten, sondern die Eile das Ziel bedeutet
hätte. Die Füße waren weit voran, doch der Kopf
blieb zurück und das Herz ermattete. Weil aber so
der Fortschritt vor sich selbst anlangte und schließ-
lich auf Erden nicht mehr ein und aus wußte, legte er
sich eine neue Dimension bei. Er begann Luftschiffe
zu bauen, aber an Garantien der Festigkeit konnte
er es mit jenen, die bloß Luftschlösser bauen, nicht
aufnehmen. Denn diese haben die Phantasie, mit der
sie selbst dann noch wirtschaften können, wenn alles
schiefgeht. Was immer aber der Fortschritt weiter be-
ginnen mag, ich glaube, er wird sich bei den Kata-
strophen des Menschengeistes nicht anstelliger zeigen,
als ein Seismolog bei einem Erdbeben. Er wird uns,
wie hoch er sich auch versteige, keine Himmelsleiter
errichten. Wenn er jedoch als Roter Radler Briefe be-
fördert, könnte er immerhin von den Dienstmännern
als Satan verschrien werden. Auch mag er dazu helfen,
daß die Eifersucht der Weltstädte wachse und sie zu
Kraftleistungen sporne. Etwa so: Berlin hat heute
schon fünfhundert Messerstecher, Wien ist ein Kräh-
winkel dagegen; wenn man dort wirklich einen ein-
mal braucht, ist keiner da!... Schließlich überlebt
sich auch diese Mode. Nur der Tod stirbt nicht aus.
Denn der Fortschritt ist erfinderisch und dank ihm
bedeutet das Leben nicht mehr eine Kerkerhaft,
sondern Hinrichtung mit Elektrizität. Wer es nicht erst
darauf ankommen lassen will, den ganzen Komfort der
Neuzeit zu erproben, der hat rechtzeitig Gelegenheit,
von jener primitiven Erfindung Gebrauch zu machen,
die ihm die erbarmungsvolle Natur an die Hand
gegeben hat: von der Schnur, mit der der Mensch
auf die Welt kommt 1
Karl Kraus.
Herausgebet and verantwortlicher Redakteur : Karl Kraut.
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3.
ma fr ü rl icher
ilkalissher
JAUERBRUNN
@K^ *'
Karlsbad, Budapest
Unternehmen für Zeitungsausschnitte
>BS ERVER, Wien, I. Concordlaplati Nr. 4 (Telephon Nr. 12801)
sendet Zeitungsausschnitte über jedes gewünschte Thema.Man verlange Prospekte.
I> X E> I^^kOK:E>I^
Herausgeber: KARL KRAUS.
erscheint in zwangloser Folge im Umfange von 16—32 Seiten.
BEZUGSBEDINGUNGEN :
für Österreich-Ungarn, 36 Nummern, portofrei .... • . K 9.50
„ die Länder d, Weltpostv., 36 Nummern, portofrei . . . . „ 12.—
»»in n 18 n n ....„ 6.—
Das Abonnement erstreckt sich nicht auf einen Zeitraum,
sondern auf eine bestimmte Anzahl von Nummern.
Verlag: Wien, III., Hintere Zollamtsstraße Nr. 3.
Verlag für Deutschland :
VERLAGSGESELLSCHAFT MÜNCHEN G. m. b. H.
München, Franz Josef Straße 9.
Inhalt der vorigen Nummer 274, 27. Februar: Peter
Altenbsrg. Von Karl Kraus. — Eine Zuschrift von Detlev von
Liliencron. - Leben. Von Otto Stoessl. - Spiel. Von Otto
Soyka. — Glossen, Notizen, Aphorismen. Von Karl Kraus.
SUBSKRIPTIONS-EINLADUNG.
lEnde März erscheint bei der unterzeichneten Verlagsgesellschaft ein aus
Ulf Kunstblättern erotischen Charakters bestehendes Mappen werk
IdER PHÖNIX". Die zwölf Einzelkunstblätter stammen von den
folgenden Künstlern:
Iffh. Heine (München) Pascin (Paris)
itistantin Somoff (St. Petersburg) Albert Weisgerber (München)
f $uda Minori (Tokio) Willi Geiger (München)
1 Arnold (München) G. Jagerspacher (München)
nrich Kley (Karlsruhe) Luis Vesco (Salzburg)
) Kopp (München) Hubert Wilm (München)
Werk erscheint in 6 Lieferungen, die einander in monatlichen Abständen
Igen. Alles Nähere über Bezugsbedingungen etc. enthält ein aus-
hrlicher Prospekt, der auf.Verlangen umsonstu. portofrei zugesandt wird.
München. Verlaasaesellschaft München
Mit dem nächsten Hefte - am 1. April 1909
schließt der 10. Jahrgang der ,Fackelk al
Aus diesem Anlasse gibt der Verlaß
sämtliche Nummern der
Zehn Jahre Fackel
zu einem besonders ermäßigten Preise ab, und
zwar : 278 Nummern statt 66 Kronen 20 Hellei
20 Kronen portofrei.
Da von vielen Heften nur mehr eine geringe
Anzahl vorhanden ist, müßten Vormerkungen
ehestens erfolgen. Die vorläufig fehlenden
Nummern werden nachgeliefert.
Der Verlag gibt zugleich bekannt, daß er dr
Nummern 2, 152undl62 fürje 1 Kr 0!ie zurück-
kauft und die Nummern 30, 32, 38 und 48
fürje 50 Heller.
d, Verlitt der .FACKEL4
WIEN, III. Hintere ZollamtsstraDe S
Telephon Nr. 187. Ij
Die Fackel
NR. 277-78 31. MÄRZ 1909 X. JAHR
KARL KRAUS.
Zum zehnten Jahrestag des Erscheinens der
,Fackel< (1899—1909).
Von Robert Scheu.
Die Persönlichkeit eines Menschen ist ein fester
Bezirk, eine eherne Schranke, über deren Peripherie
kein noch so heißes Bemühen, kein Flug der Be-
geisterung, keine Investition von Bildung und Er-
fahrung hinausführt. Eine Persönlichkeit »entpuppte
sich, aber sie entsteht nicht. An dieser meiner axio-
matischen Überzeugung könnte ich irre werden, wenn
ich mir die Entwicklung Karl Kraus vergegen-
wärtige. Wer hätte damals, vor etwa fünfzehn Jahren,
in dem vergnügt dreinblickenden blonden Knaben-
kopf diese vulkanische Persönlichkeit mit ihren
Leidensmöglichkeiten, die verzehrende Flamme, den
unersättlichen Vernichtungstrieb, die leidenschaftliche
Geistigkeit ahnen dürfen? Ist das wirklich derselbe
Mensch? Hat er schon damals gelitten, als er noch
im vertrautesten Umgang mit jenen Menschen stand,
welche ihn später zu solchen Visionen des Hasses
inspirierten? Er schien sich zu jener Zeit recht be-
haglich zu fühlen, während er sich — wahrscheinlich
instinktiv — an seinen künftigen Opfern nährte. Und
doch hat er später Proben eines überraschenden Ge-
dächtnisses gegeben, welche die Annahme einer
naiven Hingabe an seinen damaligen Verkehr nicht
gut zulassen. Hat er etwa die Musik zu dem Text
erst später gemacht oder Unbewußtes nachträglich
analysiert? Es gibt Naturen, welche naiv erleben
und hinterher von analytischen Dramen geschüttelt
— 2
werden. Problem der »Rache«. Er schrieb schon
damals witzige Wochenübersichten und Plaudereien
und auffallend treffende literarische Kritiken, die
ein bemerkenswertes Arsenal von Geschossen, aber
keinen Hauptgedanken erraten ließen und übrigens
alle Welt amüsierten. . . .
Er rüstete, das war klar, aber gegen wen?
Plötzlich — die Kralle — »Demolierte Literatur«.
Man sah auf. Ein Glutregen von Bosheiten und
zum erstenmal — Profil. Zwar noch immer der
Witz Jahresregent, aber er fängt an, etwas zu sagen.
Große Spannung. Dieser Mensch wird vielleicht noch
ein Schicksal . . .
Und es kam Eines Tages, soweit das
Auge reicht, alles — rot. Einen solchen Tag hat
Wien nicht wieder erlebt. War das ein Geraune, ein
Geflüster, ein Hautrieseln 1 Auf den Straßen, auf der
Tramway, im Stadtpark, alle Menschen lesend aus
einem roten Heft ... Es war narrenhaft. Das Bro-
schürchen, ursprünglich bestimmt, in einigen hundert
Exemplaren in die Provinz zu flattern, mußte in
wenigen Tagen in Zehntausenden von Exemplaren
nachgedruckt werden. Und dieses ganze Heft, mit
Pointen so dicht besät, daß man es, wie die Arbeiter-
Zeitung* sagte, behutsam lesen mußte, um keine
der blitzenden Perlen zu verlieren, war von einem
Menschen geschrieben.
In dieser ersten Nummer war der ganze Akkord
schon angeschlagen: Bekämpfung der Cliquen, der
Nonvaleurs, der nahen, lebendigen Tyrannen an Stelle
der so beliebten Zeitungspolemik gegen abstrakte
oder wehrlose Gegner. »Greifen Sie den Ackerbau-
minister an!« hatte der Herausgeber der ,Wage',
seinem kriegslustigen Mitarbeiter ins Ohr geraunt.
Von dem war keine Revanche zu befürchten und
es machte sich doch riesig tapfer. Karl Kraus
wählte sich einen gefährlicheren Gegner: die ,Neue
Freie Presse', der er mit einer beispiellosen
— 3
Vehemenz an den Leib fuhr. Es war wie im Russisch-
Japanischen Krieg: schon die Kriegserklärung sprengte
die großen Schlachtschiffe in die Luft.
Eine einzige Frage schwirrte damals durch
Wien : wird er noch einmal in seinem Leben fünfzig
Zeilen schreiben können oder wird er jetzt erschöpft
zusammenbrechen? Waren es die Zinsen oder das
Kapital? Es waren die Zinseszinsen. Wirklich
erschien dreimal im Monat, nunmehr ein volles
Jahrzehnt, das rote Ungetüm, allemal ein Gegen-
stand fieberhafter Neugierde. Die ,Fackel' bestritt
eine Zeitlang das ganze Geistesleben. Sie ver-
dunkelte Theater, Politik und Literatur, sie war
selbst Alles in Allem. Wen wird es morgen treßVn?
war die ständige Frage in der Zeit dieser gedruck-
ten Schreckensherrschaft. Die ,Fackel' gehörte zum
Straßenbild. Drollig war es, die jeweils gewürdigten
Personen auf der Tramway oder verstohlen unter
einem Haustor in das Biatt vertieft zu treffen, wo
sie, ziemlich »angegriffen« aussehend, sich dem un-
gestörten Genuß ihrer Charakterisierung hingaben.
Der Hofratj, der mit der , Fackel' in der Tasche ko-
kettierte, wurde eine Figur. Man grüßte damals :
»wie stehen Sie mit Kraus?« Ein ziemlich wenig
beachteter, ganz unbedeutender Literat vertraute mir
gelegentlich an, er gewärtige Tag für Tag in der
,Fackel' seine »Vernichtung«. Der Ärmste wußte
nicht, daß er nie etwas anderes als »vernichtet« war.
Aber in der Tat, es gibt eine Reihe von Leuten,
welche erst durch einen Angriff in der ,Fackel' der
Öffentlichkeit bekannt und im Verhältnis zu ihrem
bisherigen Schattendasein berühmt wurden. Bei vie-
len wurde der Schmerz, in der , Fackel' havariert
worden zu sein, durch das Vergnügen gemildert,
daß es einem guten Freund nicht besser erging. Es
lohnte sich fast, einmal hingerichtet zu werden, wenn
man um diesen Preis der Zuschauer vieler anderer
Exekutionen wurde. Manche Existenz, manche Repu-
_ 4 -
tation wurde durch einen einzigen Federstrich von
Kraus, manchmal durch einen Relativsatz, abgesetzt.
Leute, die bis dahin prinzipiell Gedrucktes nicht
kauften, holten sich aus der , Fackel' ihre Bildung.
Andererseits wuchs eine Generation auf, eine
ganz eigene Rasse, welche die ,Fackel( statt als
Medizin als Nahrung zu sich nahm. Junge Leute
hatten ihre »Fackelzeit« so gut wie ihre »Burg-
theaterzeit«. Sie kombinierten womöglich. Auf der
Galerie des Burgtheaters sah man die lockigen
Jungen, vor dem Aufgehen des Vorhangs in diese
Lektüre vertieft. Im Gymnasium verschaffte es An-
sehen bei den Mitschülern und Mißtrauen bei den
Professoren, wenn man in diesem Verdacht stand.
Kein Zweifel, einen großen Anteil an dem wun-
derbaren Erfolg der , Fackel4 hatte — außerdem, daß
sie dem Leser einen Rausch der geistigen Überlegen-
heit verschaffte und fabelhaft lustig zu lesen war —
die Befriedigung, welche sie der Grausamkeit
gewährte. Kraus hatte damals noch eine fröhliche,
gesunde Grausamkeit, die er später verlor, oder rich-
tiger, gegen sich selber kehrte, vergeistigte. Selt-
sames Schicksal I In jener Periode, da er vorwiegend
Gesellschaftskritik betrieb, war es das den Lesern
bereitete formelle Vergnügen, welches von dem
hohen sachlichen Wert seines Kampfes ablenkte;
damals erdrückte die Form den Stoff. In seiner spä-
teren Periode, wo er immer mehr den künstlerischen
und geistigen Gehalt aus den Erscheinungen abzieht
und die Form ihm wirklich heilig wird, vergißt man
umgekehrt über dem Stoff den Schriftsteller. So wird
er beide Male nicht so verstanden, wie er es bean-
spruchen darf. Für das zweite Mißverständnis ist
allerdings das Publikum weniger verantwortlich, da
es einmal gewohnt war, in der , Fackel' einen be-
stimmten Inhalt zu suchen.
Die Gemütsunterlage des Fackelerfolges bei
ihrem Erscheinen war die aufgespeicherte Oppo-
- 5
sition gegen die ,Neue Freie Presse', welche
Kraus erst ins volle Bewußtsein rückte. Tiefe
Psychologen haben gemeint, Kraus habe seine
ganze Ranküne gegen dieses Blatt daraus ge-
schöpft, daß er nicht als Redakteur engagiert
worden sei. Es ist das jene Gattung Menschen,
welche als Historiker den Ausbruch eines Krieges auf
ein unterlassenes Trinkgeld zurückführen. Nach An-
sicht dieser Köpfe kann man Todfeinde durch ein
rechtzeitiges Buckerl beschwichtigen und zu lebens-
länglichen Freunden umwandeln. Ziemlich allgemein
glaubt man einem Menschen etwas Herabsetzendes
nachzusagen, wenn man erzählt, er sei da und dort
abgelehnt worden, wo er sich um Aufnahme in einen
Kreis beworben hat. Als ob es nicht tausendmal
lebendiger für den Charakter und die Persönlich-
keit eines Menschen zeugte, wenn die Anderen ihn
als nicht zugehörig erkennen, als ob das, was uns
geschieht, nicht erst recht unsere tiefste Wirkung
und eigentliche Tat wäre. In der Einschätzung, die
wir uns selbst geben, zeigt sich bestenfalls die Per-
spektive, in der wir uns erscheinen; diese kann auch
eine Unterschätzung enthalten. In der Stellung,
welche die Andern zu uns einnehmen, liegt aber zu-
mindest Instinkt und sie erweisen uns manchmal
die Ehre, uns für ihre Gemeinschaft zu gut zu fin-
den. Abgesehen davon hat sich die Sache gar nie
zugetragen.
Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet,
Karl Kraus habe die ,Neue Freie Presse* erst entdeckt.
Lange nach Kraus haben andere, welche mit Ignorie-
rung des Preßproblems politische, kulturelle und
künstlerische Aufgaben verfolgten, erkannt, daß es
ohne Preßreform überhaupt keine Reform gibt, weil
die Presse immer die Macht besitzt, die Aufmerksam-
keit nach Gefallen zu dirigieren, die führenden Per-
sonen kalt zu stellen, und dort, wo sie schon nicht
die Kinder vertauschen kann, wenigstens falsche Er-
zeuger unterzuschieben. Der Effekt ist der nämliche :
Vater und Kind sind getrennt, und erkennen sich
vielleicht niemals wieder. Andererseits kann sich trotz
des furchtbarsten Mißbrauchs, zu dem die Preßmacht
gelegentlich verführt, doch niemand entschließen, ihre
Notwendigkeit und Unersetzlichkeit schlankweg zu
bestreiten. Es ist ein matter Trost in diesem Dilemma,
daß die größten Persönlichkeiten den Haß der zeit-
genössischen Presse ausgehalten und siegreich über-
standen haben; denn er wird aufgehoben durch die
Betrachtung, daß sie dieser Gegnerschaft auch immer
sicher zu sein hatten und daß hier ein Reibungs-
koeffizient in die Welt gekommen ist, von dem gerade
die höheren Menschen betroffen werden. Will man
selbst resignierend zugestehen, daß die Presse, wie
sie ist, nur der Exponent der bestehenden Macht- und
Tatsachenverhältnisse ist, so kann man sich doch der
Erkenntnis nicht verschließen, daß deren Schwere und
Druck zugenommen hat, seit sich die Gesellschaft
eine eigene Punktion daraus gemacht hat, die Dinge
durch die Berichterstattung zu annullieren. Ist dies
das Wesen oder nur eine Entartung der Presse? Das
ist die Schicksalsfrage. Vielleicht haben wir es nur
mit der typischen Erscheinung zu tun, daß in dem
ungeheueren Organismus des modernen sozialen Lebens
die Macht der jeweils ausführenden Funktionäre weit
über jenes Maß hinauswächst, welches ihnen von
der Organisation selbst zugedacht ist; in Osterreich
zumal ist das Übel, jedes Übel verschärft durch den
monopolistischen Charakter, den hierzulande alle Art
Macht und Besitz gewinnt. Einen Kampf der Ge-
sellschaft gegen ihre Organe hat es immer ge-
geben, aber niemals hat er eine solche schicksals-
volle Bedeutung erlangt wie in der Gegenwart, wo
die Gliederung aller sozialen Funktionen den jeweils
an der Klinke befindlichen Funktionär zum Herrn
der Welt macht. Heute hat es ein Delcasse" in der
Hand, den Weltkrieg zu entflammen, morgen viel-
7 —
leicht ein zufälliger Telegraphist. An allen Gelenken
und Schrauben der Maschinerie sitzen die Zufalis-
Machthaber und die Maschine heißt Staat, Gesell-
schaft. Karl Kraus hat die zufälligen Besitzer der
Druckerschwärze entdeckt und auf die kolossale
Macht hingewiesen, die sie besitzen.
Es ist dies nur ein Teil jenes allgemeinen
Kampfes gegen die Maschinerie, den als immanente
Aktualität der modernen Welt erraten zu haben,
keine schlechte Witterung verrät. »Organisiert die
Welt« ist ein herrliches Wort, aber auch dieses hat
seine Selbstaufhebung in sich. Indem sich die
Welt organisiert, liefert sie sich aus. Die
Fäden der sozialen Organisationen vierteilen — Per-
sönlichkeiten. Karl Kraus ist gegen alle Organisation
und Technik von einer ganz grandiosen Ranküne
erfüllt und bekommt dadurch einen Stich ins
Reaktionäre. Er nimmt das in Kauf. Die Lösung des
Problems liegt gewiß nicht in der Verhöhnung der
Organisationen, wie sie Karl Kraus so vorzüglich
gelingt, sondern in etwas Neuem, Zukünftigem,
welches eben den Inhalt künftiger Geschichte bilden
wird. Bis dahin aber ist es wertvoll, wenn die
Position der Persönlichkeit verteidigt wird, und ich
wüßte keine klügere Taktik als die kühne Aus-
spielung einer starken Subjektivität. Ein gewisses
Korrektiv der geschilderten Gefahr liegt darin, daß
sich die Organe der Gesamtheit gegenseitig in Schach
halten: dies ist auch, um wieder von der Presse zu
reden, in den übrigen Kulturländern der Fall, wo
sich allenthalben einige einflußreiche Blätter unge-
fähr das Gleichgewicht halten und eine immerhin
erträgliche Oligarchie bilden; in Österreich aber ist
das intellektuelle Leben, und um dieses handelt es sich,
von einer Zeitung monarchisch beherrscht, welche
noch dazu die Suggestion ausübt, daß sie die Intel-
lektuellen vertritt, und das ist in seinen Konse-
quenzen unerträglich. Karl Kraus hatte niemals die
— 8
Absicht, die Presse zu bessern. Er stellte sichs nur
zur Aufgabe, ihre Suggestion zu durchbrechen. Das
ist natürlich nur eine Interimsarbeit. Die Zeit wird
kommen, wo die Gesellschaft die Macht der Presse
ebenso konstitutionell regulieren wird, wie die Macht
des Staatsoberhauptes. Derzeit läßt sie jene ä dis-
cretion schalten. Wie, wenn eines Tages die Gesell-
schaft auf den Gedanken verfiele, die Vertretungs-
befugnis der Presse zu prüfen? Man hat noch lange
nicht alle Konsequenzen aus der Konstitution ge-
zogen 1 Das allgemeine Wahlrecht führt, genau be-
sehen, zu der Forderung, daß, nachdem nun alle
im Lande vertreten sind, niemand mehr das Recht
hat, sich für einen befugten Vertreter einer Mehr-
heit auszugeben, der nicht in der Lage ist, sein
Mandat nachzuweisen. Die gegenwärtige Macht
der Presse beruht zum Teil auf diesem Zwitterzustand.
Sie genießt alle Vorteile der Subjektivität, ins-
besondere die Unverantwortlichkeit, derzufolge es
das Recht jedes Blattes wäre, zu verschweigen, was
ihm beliebt, — gleichzeitig wird aber die Fiktion
festgehalten, daß man im Namen irgend einer Ge-
samtheit das Wort führt. Diese aber, das »Volk«,
die »Intelligenz«, oder wie das vorgeschobene Ding
heißt, haben weder das Recht noch ein Mittel, dieses
fingierte Mandat zu bestreiten! Wie, wenn die Ge-
sellschaft, in deren Namen die Presse richtet, ein-
mal darauf dränge, daß ihr Einfluß geregelt und
systemisiert wird? Wenn sie, gerade in Anerkennung
des hohen »Amtes«, auch einen Mißbrauch der Amts-
gewalt konstituierte?
Die Gesellschaft gibt die Berichterstattung, auf
welche sie gewiß &m heiliges Recht hat, derzeit noch
frei, sei es, daß sieiihre Wichtigkeit nicht erkennt,
sei es, daß sie zu ihr volles Vertrauen hat. Die
Presse weiß es aber lange schon, daß die Bericht-
erstattung wichtiger ist als die Ereignisse, und
macht sich diese Entdeckung ohneweiters zunutze.
— 9
Die ,Neue Freie Presse* insbesondere hat davon
einen so beherzten oder richtiger so exzessiven Gebrauch
gemacht, daß man von der Wiederaufrichtung der
Preßzensur sprechen kann, worunter man aber
nicht etwa die an der Presse geübte, sondern die
heute schon unendlich gefährlichere und aktuellere:
von der Presse geübte Zensur zu verstehen hat. Sie
macht sich schlankweg zum Herrn der Ereignisse
cund hat es soweit gebracht, geradezu Verwaltungs-
befugnisse zu arrogieren. Sie zensuriert längst nicht
mehr bloß den Wert literarischer und künstlerischer
Erscheinungen, sondern sie zensuriert die Zahl der
irgendwo versammelten Personen. Sie tötet und erweckt
zum Leben, sie verhängt Boykotte, die bis in den privaten
Verkehr und in das intimste Geschäftsleben reichen,
und bald wird es sein, wie im Jesuitenstaat, wo das
Erklingen von Glocken den Ehepaaren die Stunden
der erlaubten Begattung verkündigte. Die ,Neue
Freie Presse' leistet sich den Hohn, die von ihr
Totgeschwiegenen wörtlich zu zitieren und andere
Autoren unterzuschieben. Oder sie begrüßtes mit einem
»Endlich hat sich Einer gefunden, der . . .«, wenn
der Plagiator das Wort ergreift, während sie den
Autor des Originals niemals kennen mochte. Die
Magna Charta der ,Neuen Freien Presse' ist der
Absolutismus der Bosheit, gemildert durch einen
administrativen Tarif. Ein früherer Herausgeber hat
es einmal rund herausgesagt: »Hier haben Sie den
Kopf des Blattes : ,Neue Freie Presse'. Das muß stehen
bleiben; alles andere ist gegen bar zu haben.« Unter
dem neuen Regime wurde das Hausgesetz: »Alles,
was bezahlt ist, bringen wir«, dahin verschärft, daß
von nun an nur, was bezahlt 'istjfcgebracht wird. Das
ist die sogenannte »Benedikt^sche Formel«.
Das Betrübendste ist, *daß selbst solche
Blätter, welche ursprünglich als Opposition zu ihr
gegründet wurden, mit der Zeit von ihr redigiert
werden. Heute ist beispielsweise auch die , Arbeiter-
10 —
Zeitung', welche nach ihrem einstigen Programm
die ganze Journalistik durch ihr bloßes Dasein zur
Wahrheit zwingen sollte und wirklich eine Zeit hatte,
wo sie machtvoll schrieb, nur mehr eine Filiale
der , Neuen Freien Presse*. Das muß nun frei-
lich tiefere Gründe haben, deren Erforschung
Aufgabe eines österreichischen Historikers sein
wird. Am Ende ist die ,Neue Freie Presse* der
wirkliche, berufene Exponent dieser Kultur? Als wir
jünger waren, meinten wir in unserer Naivetät
ernstlich, man müsse der »Neuen Freien Presse* oder
etwa der , Arbeiter-Zeitung' nur ein ideales Programm
zeigen und sie würden mit Enthusiasmus echte Werte
vertreten. Heute wissen wir, daß sie es weder können
noch wollen können. Karl Kraus, der niemals im
Namen irgendeiner Korporation oder gar einer
Majorität auftrat, leistete nun gerade als Person das,
was die Gesellschaft sich später einmal als Kon-
stitution des geistigen Lebens erringen wird müssen.
Er nahm sich der unmündigen Gesellschaft an und
setzte der suggestiven Macht der Presse seine
Kritik und seine Suggestion entgegen. Es ging
nicht anders, er mußte sie jahrelang Tag um Tag
unter Kontrolle stellen, bis das Publikum einiger-
maßen geschult war. Dieser Kampf ist eine geschicht-
liche Tat, ein Kulturwerk hohen Ranges, eine, was
aufgewendeten Mut und Geist betrifft, schier über-
menschliche Leistung, für welche es keinen hin-
reichenden Dank geben kann. In diesem Kampf, der
mit intimster Kenntnis des Gegners geführt wurde,
mit einer Wachsamkeit und Unermüdlichkeit, die
immer neue spannende Wendungen erfand, in diesem
eigentlichen und wahren »Kulturkampf« erwuchs
ihm ein ungeahntes~Pathos, und es zeigte sich, daß
Kraus nicht nur Geist, viel Geist, sondern auch ein
Herz besaß.
Aber die Presse war natürlich nur eine jener Insti-
tutionen, die er kritisierte, und wenn er sie am härte-
— li-
sten anfaßte, so tat er es, weil er sie für den konzen-
triertesten Ausdruck der öffentlichen Zustände hielt.
Er verfolgte aber daneben die kleinen Dummheiten
des Tages und spendete den tiefsten Trost, den es
nach nuysmans' Ausspruch gibt: den Pessimismus.
Dieser Pessimismus war von der befreienden Art.
Das deprimierendste Ereignis, der Druck wider-
wärtiger aber mächtiger Personen, die Schwächen der
Bureaukratie, die Widersinnigkeit von Einrichtungen
— wenn er sie darstellte, fühlte man eine künstlerisch
erlösende Wirkung. Man hatte die Empfindung, er
sei mächtig genug, uns von diesen Leiden zu be-
freien. So entstand später der lächerliche Vorwurf,
•r habe die Welt doch nicht gebessert, alles sei beim
Alten geblieben. In der Tat, es ist wirklich unver-
zeihlich: Kraus war so pflichtvergessen, die Korrup-
tion weiter bestehen zu lassen.
Und doch, er tat weit mehr, als man von
ihm erwartete oder verlangte. Der Witz, um dessent-
willen er gesucht wurde, erhob sich immer mehr zur
organischen Waffe, hinter der Kralle war eine Tatze.
Er hatte ein Herz für Schönheit und Genie und
für den bleichen Angeklagten vor den Schranken
des Gerichts. Er brüllte wie ein Löwe, als ein Richter
einen armen Burschen wegen eines gewalttätigen
Diebstahls einer Börse zu lebenslänglichem Kerker
verurteilte. So furchtbar, wie im Fall Kraft-Feigl hat
man Kraus nie wieder gesehen. Das war Konvent I
Dann wieder prägte er Worte, in welchen sich sein
Witz zu lapidarer Größe steigerte: > Lynch- Justiz
für die Justiz-Lyncher c — >Irrenhaus österreichc.
Was immer er vertrat, und wenn es auch unhaltbare
Dinge waren, stets wußte er sich den Anschein des
letzten, definitiven Standpunktes zu geben, welcher
jede weitere Debatte ausschloß. Hatte er aber die
Überzeugung, sich vergriffen zu haben, dann war es
ihm geradezu eine Lust, sich selbst zu desavouieren.
Durfte er doch, gleich seinem Geistesverwandten
12
Lichtenberg von sich sagen, er sei oft wegen
begangener Fehler getadelt worden, die seine
Tadler nicht Kraft und Witz genug hatten, zu
begehen!
Nun ja, er war auch Journalist. Er war es von
Geblüt wie Marat, der kochend und schäumend
herumging und schreiben mußte. Die Dinge, die
Ereignisse, die Menschen wirken auf ihn wie Peitschen-
hiebe. Er ist nicht wie Heinrich Heine, der vergnügt
ausruft: Wieder ein Narr, — der muß mir viele Gold-
stücke von Hoffmann und Campe einbringen, er sei
mir willkommen 1 Seine Narren machen ihm keinen
vergnügten Tag, sondern er wird aschfahl über eine
Zeitungsnotiz, er zittert vor Erregung und Ekel und
kann über eine Menschen fratze so bestürzt sein, wie
ein Patriot alten Schlags über eine Niederlage des
Vaterlandes. Er schreibt aus keinem System heraus,
tritt an alle Dinge rein kasuistisch heran und ent-
deckt sein System viel später. Als Chefredakteur
nimmt er einfach Alles, was gut ist, — und es paßt,
wirkt aktuell. Er erzeugt die Aktualität. Seine Mit-
arbeiter staunen, wie er durch das Wegstreichen
eines Wortes glänzende Wirkungen erzielt. Mit
welcher Gestaltungskraft er aus ganz kleinen Vor-
fällen des Tages, einer eingesendeten Notiz, eine
Geschichte macht 1 Ein ganzes Dutzend von Courte-
lines gehen nur so mit drein. Schließlich hat das Papier
der , Fackel* sich so mit Geist durchtränkt, daß die
wörtliche Reproduktion einer Zeitungsnotiz mit ge-
sperrten Lettern als zwerchfellerschütternde Satire
wirkt, bloß weil sie die Perspektive der , Fackel'
erhalten hat.
Dem großen Publikum hat Kraus am besten
behagt, solange er mit den Waffen und dem
Ressentiment einer intensiven Geistigkeit den
Kampf gegen Presse, Bureaukratie, Universitätsmisere,
Wucher und veraltete Gesetze führte, Schma-
rotzer und Nullen entlarvte und Tageslächer-
— 13 —
lichkeiten ziselierte. Kein Zweifel, es wäre eine
Lebensaufgabe gewesen und er hätte sie ein Leben
lang durchführen können, ohne das Publikum zu
ermüden ; kein Zweifel, wir alle haben es so erwartet
und wären umso lieber darauf eingegangen, als im
Rahmen der gesellschaftskritischen , Fackel' gelegent-
lich höchst bedeutungsvolle Ausführungen über
Literatur, Theater und die anderen Künste Raum
fanden. Wäre Kraus nicht Gesellschaftskritiker, so
müßte sein tiefes Kunsturteil noch mehr auffallen.
Seine Autorität ist darin — ohne daß es der Öffent-
lichkeit voll zum Bewußtsein kommt, gewissermaßen
kryptogam — ganz außerordentlich. Ein Lob aus
seiner Feder, zwei, drei Zeilen, machen literarischen
Ruhm. Da hat er Witterung, die »Eingeweide riecht«.
Hier zeigt es sich auch, daß er gar nicht Rationalist
ist, als was er vielen wegen seiner zersetzenden
Kritik gesellschaftlicher Zustände erscheinen mag.
Hier ist er, was man immer von ihm verlangt, daß
er sein soll: positiv. Hier ist er, was man gleich-
falls von ihm verlangt: liebevoll und zärtlich. Hier
ist er sogar treu. Seine Lieblinge sind in guter Hut.
An ihnen wird er zum Verschwender, da ist er weich
und feurig und was man will. Wie er seinen Alten-
berg, seinen Girardi, seinen Matkowsky, seinen
Baumeister mit Blumen überschüttet, ist einfach
rührend. Die großen Verachtenden sind auch die
großen Verehrenden.
Aber die , Fackel' veränderte ihren Inhalt, ihre
Gestalt. In Wien beeilt man sich, die Leute tot zu
sagen. Der Tod der ,Fackel' wurde sogar ausdrück-
lich plakatiert. Der Österreicher rächt sich an allem,
was ihm irgend einmal imponiert hat; auch, was ihn
angeregt, was ihn mitgerissen hat. Nirgends wird
man so schnell für abgetan und ausgelebt erklärt.
Was war in Wirklichkeit mit Kraus geschehen? Er
war von der Gesellschaftskritik zur Kulturkritik
weitergeschritten. Der Marsch vollzog sich sehr eigen-
— 14
artig. Er ging über die Nerven. Kraus hatte einen
neuen großen Gegenstand entdeckt, der nie zuvor
die Feder eines Publizisten in Bewegung gesetzt hat:
Die Rechte der Nerven. Er fand, daß sie ein
ebenso würdiger Gegenstand einer begeisterten Ver-
teidigung seien wie Eigentum, Haus und Hof, Partei und
Staatsgrundgesetz. Er wurde der Anwalt der Nerven
und nahm den Kampf gegen die kleinen Belästiger
des Alltags auf, aber der Gegenstand wuchs ihm
unter den Händen, er wurde zum Problem des Privat-
lebens. Es zu verteidigen gegen Polizei, Presse,
Moral und Begriffe, schließlich überhaupt gegen den
Nebenmenschen, immer neue Feinde zu entdecken,
wurde sein Beruf. Darin blieb er sich treu bis auf
den heutigen Tag. Er verfocht eine neue Gruppierung
der Begriffe, indem er nachwies, wie vieles unter dem
irreführenden Gesichtspunkt der Moral geht, was viel
ökonomischer als Individualrecht verteidigt werden
kann, und leistete eine langwierige, mühsame, ver-
wickelte Aufklärungsarbeit. So kam er in das Laby-
rinth der feineren geistigen Konflikte, welche man
bisher nicht gewohnt war, in einer programmatischen
Zeitschrift ausgeführt zu sehen. Ja, wenn es auf Grund
irgend einer Partei oder eines Systems gewesen wäre!
Aber es geschah nur auf Grund der Persönlichkeit.
Dieselbe Eigentümlichkeit seines Geistes, sein tiefstes
Wesen, welches ihn zum Journalisten machte, führte
ihn schließlich davon wieder ab: es besteht darin,
die Dinge unmittelbar, ohne irgendeine Zwischen-
instanz auf seine Persönlichkeit wirken zu lassen.
Ist der Gegenstand ein populärer, so ist man Jour-
nalist im großen Sinn. Wird der Gegenstand differen-
zierter, geistiger, so wird man — Aphorist. Die Kon-
flikte, die ihn von da an reizen, liegen auf jenem
großen Gebiet, wo die gesellschaftliche Ordnung
sich mit dem Innenleben berührt, also einem Gebiet,
welches vorwiegend der künstlerischen Bearbeitung
unterliegt. Infolgedessen ist es nicht so leicht, in einer
15
Formel zu sagen, was Kraus eigentlich vertritt. Er selber
könnte seine Weltanschauung nicht so zusammen-
fassen, daß sie auf einem Meldezettel Platz hätte. Für
die gegenwärtige Ordnung der Dinge ist er absolut
nicht eingenommen. Er ist auch nicht bloß kritisch.
Utopien sind aber gleichfalls nicht seine Sache. Er
entwirft keine Gesellschaftsordnung und keine Gesetze.
Er ist kein Sozialdemokrat, kein Anarchist, aber am
allerwenigsten Bourgeois. Und doch ist eine mächtige
treibende Kraft da, hinter der unbedingt etwas Posi-
tives steht. Die Sache läßt sich vielleicht ganz ein-
fach sagen: er ergreift die Partei der Naturmacht
gegen das Getriebe des Alltags. Hat die Natur einen
solchen Streiter nötig? Merkwürdigerweise: ja. Die
zwei größten Naturmächte: Genie und Geschlecht
müssen tatsächlich >vertretenc werden. Die Kunst
tut nichts anderes. Neu ist nur, daß es ein Journalist
tut. Und doch ist es logisch. Die Natur hat immer
den Tag, die »Jetztzeit« zum Gegner. Sie kann daher
neben Dramendichtern auch sehr gut einen solchen
Streiter brauchen, der sie mit Tagesmitteln gegen
den Tag bewaffnet. Die konventionelle Ordnung
ist von zwei ständigen Revolutionen bedroht: vom
Geschlecht und vom Genie. Will man ein einziges
Wort — von der Schönheit. Die Schönheit ist die
gewaltigste aller revolutionären Mächte. Die Gesell-
schaft kann nicht furchtbarer kritisiert werden als
vom Standpunkt der Schönheit. Alle die unendlichen
Verzweigungen der Korruption sind nichts anderes
als Verbrechen an der Schönheit, lassen sich irgend-
wie darauf zurückführen. Es liegt etwas Erd-
erschütterndes in der Schönheit und etwas rasend Auf-
reizendes in dem, der sich unter ihre Fittiche stellt.
Hier verknotet sich Sozialpolitik und Sexualpolitik
bei Kraus, von jener ausgehend landet er bei dieser.
Dies das Leitmotiv, welches sich immer gebieterischer
ins Bewußtsein drängt. So wuchs er seinem neuen
großen Problem entgegen: Sittlichkeit und Krimi-
— in —
nalität. Die Aufsätze, seither in einem Bande ge-
sammelt, haben uns erst die Augen geöffnet. Eine
Zeitlang schien es, als habe er sich aus Liebhaberei
auf ein Nebengeleise begeben. Die Übersicht belehrt
uns, daß er auch hier einen Marsch vollzogen hat,
dessen taktischer Sinn sich erst dem rückschauenden
Blick enthüllt. An hundert kleinen Tagesbegeben-
heiten, zumeist Gerichtsfällen, wird ein unheilvolles
Mißverständnis in der Behandlung der sexuellen
Frage enthüllt. Der Gedanke, daß der Staat, die Ge-
setze und ihre Organe sich notwendig und regelmäßig
vergreifen, wenn sie an die Naturgewalt der Sexuali-
tät herantreten, wird mit einer Vielseitigkeit der
Darstellung und mit einem Reichtum der Exempli-
fikation belegt, der einer wissenschaftlichen Quellen-
arbeit Ehre machen würde. Gleichzeitig wird Kraus
zum Künstler von einer unerschöpflichen Produkti-
vität in der Darstellung der komischen Konsequenzen
dieses Mißverständnisses und Mißgriffes. Die Polizei
kommt dabei schlecht weg. Sie hat überhaupt in
Kraus einen schrecklichen Antipoden, einen wahren
Racheengel gefunden.
Im Kampf zwischen staatlicher Flickarbeit und
der Naturgewalt der Sexualität erscheint ihm da*
Weib als Vertreter der inkommensurablen Macht,
bei deren Bezähmung die Satzung teils lächerlich,
teils widerwärtig, manchmal beides zugleich wird. Für
das Weib hat Karl Kraus eine innige Zärtlichkeit. Es
ist seine große Liebe und wenn er für bedrängte
Frauen eintritt, kann sein Pathos eine pracht-
volle Höhe erreichen. Darin lehnt er jede soziale
Betonung grundsätzlich ab. Er tritt für das
Weib ein, weil es ein Weib ist. Er hat den
Gedanken, daß die Moral mit der Erotik nichts
zu schaffen hat, am kühnsten, nachdrücklichsten und
konsequentesten verfolgt. Er ist unermüdlich in der
Darstellung des pyramidalen Nonsens, brav, anständig
charaktervoll ohneweiters gleichzusetzen mit keusch
— 17
oder gar enthaltsam. Diese Gleichung hat sich in die
feinsten Fugen der Sprache eingenistet und muß
geradezu ausgeschwefelt werden. Nun ist gewiß die
Erotik ein wesentlicher Faktor einer Persönlichkeit.
Nach Nietzsche reichen Art und Charakter der Sexuali-
tät bis in die höchsten Gipfel der Persönlichkeit. Es
fragt sich nur, welche Seiten der Sexualität wir zu
bejahen und welche zu verneinen haben. Kraus geht
in der strengen Scheidung zwischen Erotik und der
übrigen Persönlichkeit bis an die äußerste Grenze des
Möglichen. Wie weit er darin Recht hat, ist eine
Frage für sich. Daß er aber die Verfechter der Ver-
quickung bis aufs Blut zu verfolgen versteht, muß
man ihm lassen. Es erregte Verblüffung, als Kraus
mit souveräner Verachtung der öffentlichen Meinung
daran ging, das Hurentum vom Schimpf zu erlösen,
ja die Prostitution selbst als natürliche — nicht
soziale — Kategorie proklamierte.
Er wurde dabei zum Romantiker und geriet
in einen eigentümlichen Zwiespalt. Während er über die
Feministen die Lauge seines Spottes ausgoß, wurde
er selbst zugunsten des weiblichen Geschlechts un-
gerecht gegen den Mann. Das macht, er ist den
Frauen gegenüber zu viel Liebhaber, es fehlt ihm
zur Übersicht über das weibliche Geschlecht selbst
ein Ingrediens, welches seine Weibanschauung erst
rund machen würde. In ihm steckt kein Hausvater
und nicht eine Faser von einem Patriarchen, darum
ist ihm auch die Mutter uninteressant. Er ist immer
Page. Aber die Halbwelt ist doch nur die halbe Welt.
Seine Art, das Weib zu sehen, hängt vielleicht
damit zusammen, daß ihm der staatenbildende
Instinkt fehlt, der auf der Kontinuität der Geschlechter
beruht und im Familiensinn seinen Ausdruck findet.
Seine Abneigung gegen die Politik kommuniziert mit
seiner Gleichgiltigkeit gegen die Mutter durch ver-
borgene Kanäle der Persönlichkeit.
Sieht man von diesem notwendigen Einwand
— 18 —
ab, so muß man zugestehen, daß Kraus den Frauen
reiohe Entschädigung zu bieten hat. Kraus rettet die
Frauen umgekehrt als es üblich is>t. Nicht, indem er sie
von dem Vorwurf der 'Sinnlichkeit reinwäscht oder auf
mildernde Umstände plaidiert, sondern indem er die
Sinnlichkeit selbst preist und besingt. Eine viel
wirksamere und geistreichere Rettung jedenfalls,
welche sich die Frauen gefallen lassen können. Er
akzeptiert alle Argumente der Weiberfeinde und
Weibverächter, nur sind alle diese Argumente für
ihn solche der Liebe. Auch er meint, daß die Frauen
unlogisch, eigensinnig, oberflächlich .und ungebildet
sind. Aber er findet das bezaubernd. Übrigens gelingt
es ihm, von dieser Seite in die Poesie des Weibes
einzudringen und wie sich allmählich seine Erotik
vergeistigt und raffiniert, so landet er schließlich bei
einem geistigen Frauenwesen, nur freilich ist dieser
Geist von ganz anderer Quelle und Artung als etwa
der des Mannes oder einer Hysterikerin oder eines
Blaustrumpfs.
Daß seine Zärtlichkeit für das Weib in tiefere
Schichten seiner Persönlichkeit hinabreicht, das zeigt
sich an dem Haß, zu dem sie ihn gelegentlich be-
fähigt. Die erste Abwendung von Maximilian
Ha r den kündigt Kraus an, als Harden in diesem
Punkt, im Weiberpunkt sein Mißtrauen reizt. Von da an
geht es aber dann reißend weiter. So weh hat Kraus
niemandem noch getan ! Die Schläge, die er seinem Ber-
liner »Rivalen« versetzte, waren so furchtbar, unwider-
stehlich und rasch, daß der Angegriffene trotz seiner
großen publizistischen Mittel geradezu den Eindruck der
Wehrlosigkeit machte. Er verfolgte den Mann bis zu
den Schatten und gab ihn auch dort nicht frei. Wo
hat es je eine solche Polemik, eine ähnliche Attacke
gegeben? Hier darf man selbst die größten Beispiele
heranziehen, ohne daß Kraus durch den Vergleich
verdunkelt wird. Die Verfolgung Platens durch Heine
macht eher einen dürftigen und willkürlichen Ein-
— 19
druck, wenn sie mit dieser elementaren, furiosen,
niederschmetternden Abrechnung, diesem schnau-
benden >Bsse delendum« parallel gestellt wird.
Lassalles Julian Schmidt mag auf die Zeitgenossen
entfernt so gewirkt haben. iWien« siegte glänzend
über >Berlin«. Es war grausig schön. Harden er-
wachte eines Morgens und war unberühmt. Wo ist
er? fragte man sich, die Augen reibend. Der aber
war, wie bei einem Dynamitattentat, restlos dahin. . . .
Was kann Kraus noch werden und wo ist der
Königsgedanke seines Schaffens ? Ich sagte es schon :
die Schönheit. Man könnte aber auch sagen: sein
?anzes Leben, so mannigfach verschlungen, gilt einem
deal : der Persönlichkeit. Er betrauert sie, wenn
sie geknechtet ist und richtet sie auf, wo er sie be-
drängt findet.
Kein moderner Geist hat den Sturz der Per-
sönlichkeit in der modernen Welt tiefer und bren-
nender empfunden als Karl Kraus. Er hat diese Krise
erraten und mit den allarmierendsten Worten verkün-
digt. Er hat dafür ein geradezu erleuchtetes Bewußt-
sein. Ihm sind die Möglichkeiten der Persönlichkeit
bekannt und darum ihre Gefahren. Den wenigsten
Zeitgenossen dürfte auch nur eine Ahnung davon
dämmern, was da vorgeht. Eine entsetzliche Verarmung
des Menschengeschlechts. Wir werden arm. Das ist's,
wovor ihm graut. Hier rechtzeitig zu warnen, die
Verarmung nachzuweisen, das ist seine Lebens-
aufgabe. Alles was er dazu tut, ist nur Waffe, Rüst-
zeug, Konsequenz. Diese grausige Furcht peitscht
ihn zur vehementen Kritik der Kultur, während
sich andererseits die Kultur selbst in ihm mit unheim-
licher Rapidität entwickelt. Eis reißt ihn vom Heute
zum Morgen, läßt ihn das, was er heute noch
goutiert, morgen schon verstoßen. Er konsumiert
alles, was in seinen Bereich kommt, mit
unheimlicher Schnelligkeit und dabei ist es seine
Formel, daß er nichts übergehen kann und darf. Er
20
lüiiß alles an sich nehmen, dann aber erlöst er sich
davon ganz und vollkommen. Daher wunderliche Wider-
sprüche in seiner Lebensführung, welche seinen
Freunden nicht immer paßt. Was ihm bestimmt ist,
zu bekämpfen, muß er vorher suchen; es ist aber
umgekehrt, wie die Leute glauben. Man sagt, er
verrate seine Freunde. Umgekehrt, er muß durch
seine Feinde hindurchgehen. Das ist tragisch, aber
es ist seine Formel. In seiner gallopierenden Kon-
sumtion liegt aber unstreitig auch das Bedeutende,
das Dämonische an ihm. Es macht ihn sensitiv gegen
alles Verbrauchte und Triviale. Die Trivialität, die
feste Schablone tut ihm weh wie glühendes Eisen.
Wie er es versteht, auf ein Durchschnittspublikum
diese seine Stimmung zu übertragen, ist ein Rätsel.
Aber ihm gelingt's. Er vermag es, irgend eine
Tagesmeinung mit einer solchen Gebärde der Ver-
achtung abzutun, daß sie wie ein ausgespuckter
Standpunkt erledigt ist. Es gelingt ihm, das Volks-
tümliche zu verhöhnen und damit populär zu werden.
Er ist nämlich wirklich populär, er ist den Wienern
unentbehrlich.
In dem Kampf um und für die Persönlichkeit
stößt er auf die Demokratie. Von der hat er nie
etwas gehalten. Er hat es unglaublich beherzt heraus-
gesagt. In seinem Kampf gegen die gesellschaftlichen
Mißstände gerät er mit ihr beinahe wider Willen in
ein Freundschaftsverhältnis, aber er hat die Seelen-
stärke, alle Bundesgenossen zurückzustoßen. Er hätte
sichs leichter machen können. Es gab eine Zeit, wo
man ihm von gewisser Seite stark den Hof machte.
Er winkte ab. Er will wirklich keine Bundesgenossen.
Jeder, scheint es ihm, kompromittiert. Jedes
»Komitee« ist ihm ein Gräuel, eine Verwässerung,
eine Verkehrung ins Gegenteil. Er hat den Willen
zur Einsamkeit. Es führt ihn dazu, die Politik über-
haupt zu negieren. Jedes wie immer geartete Kol-
lektiv-Wirken erscheint ihm als Degradierung. Die
— 2t
Politik ist ihm absolut problematisch, geradezu un-
verständlich. Ich gebe ihm darin nicht recht, aber
ich erinnere mich, daß Karl Kraus noch jedesmal,
wenn ich glaubte, er sei um eine Strecke zurück,
um eben diese Strecke voraus war. Pest steht, daß
für einen Geist, der unmittelbar wirken kann, die
Politik ein Umweg ist. Wenn aber Kraus in Bismarck
beispielsweise einen Kopf sieht, dessen künst-
lerische Materie gleichsam nur zufällig die Politik
war, so beweist er damit nur, daß ihm das Leben
von Massen, Völkern, Organismen und deren Ex-
ponenten unendlich ferne liegt. Die Politik als gleich-
berechtigte Welt mit ihren wunderbaren zwingenden
Gesetzen, dieses große Patum ist für ihn nichts als
ein Monstrum. Dieser Welt nahe zu treten, scheint
ihm versagt zu sein. Aber liegt die Schuld an ihm?
Unser Staat ist so atomisiert, daß sich tatsächlich
Individuen in der Luft bilden. Schwebende Geister,
kolossal anziehende Erscheinungen, wie sie vielleicht
nirgends sonst auf der Welt vorkommen; hohe Kul-
turen ohne reale Unterlage. Aber die Frage ist, ob
es das geben darf; ob es außer denjenigen, welche
aus ihrer Isoliertheit ein Programm machen, irgend-
eine Fruchtbarkeit geben kann, losgelöst von Boden,
Nation, Territorium, Staat. Hier beginnt das Proble-
matische an Karl Kraus, freilich auch das Einzig-
artige einer Erscheinung, die in England, Frankreich,
selbst Deutschland nicht möglich wäre. Fragt sich nur,
wie es endet, ob der tragische Unterton solcher Per-
sönlichkeiten nicht eben doch politische Ursachen
hat. Daß sichs Kraus zur besonderen Ehre anrechnet,
und daraus neue exotische Farben für seine Palette
gewinnt, ändert nichts an der Tatsache, daß ein
solches Empfinden uferlos ist.
Jedenfalls begünstigt diese Geistesstimmung
seine schon berührte Eigenart: allen Dingen un-
mittelbar gegenübertreten zu können. Zwischen sich
und den Dingen keinen wie immer gearteten Ver-
— 22
mittler zu haben, kein System, keine Partei, keine
Abstraktion, keinen Standpunkt, kein Vorurteil, keine
Nation, kein Vaterland, keine > Bildung«, und dabei
doch eine leidenschaftlich bebende Vollblutpersön-
lichkeit sein — das muß eine ganz neue Musik und
eine Form der höchsten Unmittelbarkeit geben. Karl
Kraus hat sie in seinen Aphorismen gefunden
und erobert. Es ist in diesen »Sprüchen und
Widersprüchen« etwas von der Stimmung, wie sie
Otto Stoessl für den Skeptiker definiert: »dessen
Pathos darin liegt, nichts pathetisch zu sehen, son-
dern allen Dingen ihre Schwere zu nehmen, indem
er ihnen seinen Geist einhaucht, dessen zartes er-
greifendes Lächeln aus der groben Welt widerstrahlt,
die er ansieht, der nicht gestaltet, sondern nur eben
anschaut und mit leisem Liebhabergeist das bittere
Leben doppelt liebt, weil er es in all seiner Prag-
würdigkeit und Blöße erkennt.« Diese Aphorismen
wölben sich wie ein goldig-blauer Septemberhimmel
nach langen bangen Stürmen. Die Sprachkunst wird
stoffrei, materienfrei, leichtbeschwingt, hellklingend.
Der Stil ist konzentriert und bietet sich dem Studium
in Reinkultur dar. Diesen Stil meinte manch einer
aus dem Handgelenk nachmachen zu können. Da
zeigte sichs ungefähr, wie schwer das ist, so eine
kleine Glosse von dreißig Zeilen zu schreiben, ohne
daß der Leser früher durchgeht. Die Kunst, mit der
Sprache so zu fesseln, daß der Leser mit steigender
Lust und Spannung ins Labyrinth läuft und alle auch
schweren Anforderungen gerne auf sich nimmt — das hat
ihm noch keiner abgeguckt. Das Geheimnis liegt
vielleicht darin, daß Kraus selber einem Sprach-
labyrinth träumerisch - trunken nach wandelt; die
Sprache ist für ihn ein Garten voll unverhoffter
Rosen, die aus allen Lauben hervorbrechen. Er hat
Aufsätze geschrieben, Essays, gipfelnd in einem
klirrenden Witz, deren Bau und Konstruktion nicht
zu ergründen und doch artistisch -gedanklich voll-
— 23
«ndet ist. Ihn leitet, scheints, dieselbe geheimnis-
voll« Macht wie den Lyriker. Darum gibt es bei
ihm reine toten Stellen, keine Lacunen, sondern ein
unwiderstehliches Weitergleiten, wie es etwa bei
der Wieland'scheii Prosa zu verspüren ist, wo sich
das Umblättern so ganz und gar im Husch und von
selber mtcht. In seinen Aphorismen tritt uns diese
Sprach -Produktivität ganz leibhaftig entgegen.
Karl Kraus darf nun endlich erwarten, daß er seinem
zuständigen Richter nicht mehr entzogen wird; er
ist nunmehr in der Gesellschaft angelangt, auf die
er ein Recht hat: in der Gesellschaft der Denker
und großen Herren vom Geist. Er kann somit auf
seinen wirklichen Geschmack ohne die Würze der
Tagesaktualität genossen werden. Bei allem selbst-
ständigen Leben der einzelnen Aphorismen liegt in
der Komposition dieses merkwürdigen Buches eine
Wechselwirkung und innere Verkettung der Gredanken
und eine jubelnde Steigerung, welche sie wieder zu
einer höheren Einheit verknüpft. Man darf neugierig
sein, ob gegenüber diesem Buch, dessen geisti-
ger Schatz sicherlich heimlich aufgegriffen werden
wird, die österreichischen »Intellektuellen« die
Frechheit haben werden, zu — schweigenl In
den Aphorismen erkenne ich einen vollendeten Frei-
geist, der alle Schlacken von sich abgetan, einen
unverhofften, edlen Abschluß eines stürmischen Jahr-
zehnts.
Kolossaler Marsch einer Persönlichkeit: beginnt
damit, seine Mitbürger durch gelungene Scherze über
die Tagesereignisse zu amüsieren, gibt seinen Waffen
allmälig Objekt und Richtung, stellt sich in den
Dienst der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, erhebt
sich zum großen hinreißenden Journalisten, wird
zum Kulturkritiker und Sachwalter des Individuums,
dann der Persönlichkeit und des Genies, wirft von
einem bestimmten Zeitpunkt an alle Eroberungen,
Freunde, errungenen Positionen wie einen Pappenstiel
— 24
von sich und zieht sich auf den Geist zurück *nd
wird zum Künstler feinster Weltbetrachtung. Ihr be-
gleiten auf diesem Wege Haß gegen Trivialität, <jegen
Schmarotzertum, Demokratie und Popularität — Liebe
zum Weib, zur Persönlichkeit und Einsamkeit, wäh-
rend er immer mehr und mehr davon abkojomt, für
Menschen und Dinge einzutreten und leidenschaftlich
sein Eigenstes sucht, um es endlich n*ch vielen
Schmerzen und seltenen Triumphen zu finden und
als klingendes Gedankengold herauszuzeftlen, endend
wie er begonnen, mit neuen Verheißungen und viel-
sagenden Versprechen
Die Memoiren der Odilon.
Anadyomene, mit einer Krücke dem Meer ent-
stiegen — so erschien sie mir auch in gesunden
Tagen. Erst ihre Krankheit, deren aphrodisischen Ur-
sprung sie selbst bekennt, beglaubigt sie als Weib.
Ihre Stimme war nicht wie Sirenensang, den zu hören
man stirbt; doch es klang auch kein tragischer Orgel-
ton darin und keine Glocke zur christlichen Nacht.
Das Weib im Zustand der Zivilisation, aber ohne das
Heimweh der Hysterie und ohne Widerspruch gegen
die Gefängnisvorschriften. Kaum daß ein Dämmer
jener Nervennot, aus der das Gefühl der heutigen
Schauspielerin schöpft, die Ahnung eines elemen-
taren Lebens weckte. Hier war nicht das, was dem
Weib Persönlichkeit gibt, das tiefe Nichts, die zau-
berische Hülle aller Werte, die der Mann ver-
leiht und die ihn bereichern : Hingabe, die Rückgabe
ist. Diese Faszinationen haben nichts, was den
- 25 —
Bürger aus dem Weg der Korrektheit reißen
könnte, aber einen Künstler möchten sie zerstören;
diese Betrügereien vollziehen sich innerhalb der
Gesellschaftsordnung, aber einen Mann von Gnaden
der Natur könnten sie um den Verstand bringen. Das
ist die Mission solcher Frauen, von denen man nicht
wüßte, wozu sie geboren werden, wenn sie nicht zu-
guterletzt eine Erkenntnis stärkten: daß die Kultur
das Chaos wiederhergestellt hat, aus dem die Welt
erschaffen wurde . . . Die »interessante Frau« und
die erotische Posse bezeichnen die geistigen Grenzen
der christlichen Geschlechtsfreiheit; nichts ist un-
interessanter als jene .und nichts trauriger als diese.
Tn ihnen huldigt die Übertretung dem Verbot; das
Maß dessen, was gewagt wird, ist das Maß dessen,
was nicht gewährt ist, und so wahr Freiheit die
Feindin des Zwanges ist, so ist Frechheit die Ver-
bündete des Respekts. Innerhalb der geistigen Ord-
nung aber, die die Persönlichkeiten bricht, da sie sie
nicht biegen kann, hat der Gaukler Talent den weitesten
Spielraum. Talent ist geschlechtslos und daher welt-
läufig. Es täuscht über allen Zwiespalt eines Lebens, das
die Geschlechter gegeneinander stellt, esist eine Verstän-
digung von Mann zu Weib. Sinnengenuß und Rausch
des künstlerischen Schaffens tun uns nichts mehr zu
leide; es sind die Sonn wendfeuer des Talents, die den
Schein eines Waldbrandes geben. Talent ist der Selbst-
betrug, mit dem sich das Leben über seine Verar-
mung tröstet. Und durch nichts verarmt es mehr
als durch die Entschädigung. Kraft ist schöpferisch,
aber Routine, die Kraft ersetzt, kann nicht einmal
Routine erschaffen .. .Sonst kann sie alles. Denn das
Wesen des Talentes ist, zu können, was es nicht
muß. Ein Talent der Liebe, ein Talent der Bühne,
am zweifachen Spiel gehindert, wird unschwer zum
Talent der Feder. Versagt die rechte Hand, so schreibt die
linke. Sie schreibt Memoiren eines Talents, die ebenso
jedes andere Talent schreiben könnte, ohne erlebt zu
26
haben, was sich schreiben läßt. Erinnerungen an die
Tage, da eine Stadt vor Frau Helene Odilon auf dem
Kopf stand und es ohne Rücksicht darauf tun konnte,
daß ein wertvoller Inhalt in Verwirrung gerate.
Mir klafft kein Riß zwischen der peinlichen
Sensation dieses Buches und dem Küustlerruhm dieses
Lebens. Und schwer wird es mir, die Autorin nicht
gegen die enttäuschten Verehrer der Schauspielerin
in Schutz zu nehmen. Denn die Frage »Ist das
wirklich notwendig gewesen?«, die sich schmerzlich
bewegten Feuilletonisten entringt, darf frank bejaht
werden. Man müsse nicht die Odilon gewesen sein,
sagen sie, »die große Mondäne, die Verführerin einer
Stadt«, um ein solches Buch zu schreiben, das nichts
enthalte als Klatsch aus Garderobe und Schlafzimmer ; um
es in einem saloppen Komödiantenjargon zu schreiben
und in einem gleichgiltigen Ton, der nichts inter-
essant zu machen wisse. Ich sage, man muß dazu
die Odilon gewesen sein! Liegt die Enttäuschung
der Verehrer in der Erkenntnis, daß die Dame keine
hinreichend geschickte Feuilletonistin ist? Sie scheint
tiefer zu wurzeln; denn der Tadel resolviert zu der Er-
klärung, an dem banalen Buche sei »nichts sonderbar, als
das Wesen einer Frau, die uns daraus entgegentritt:
kalt, indezent, rücksichtslos und ohne Tiefe«. Dieses
Buch sei danach angetan, »das Bild der einst strahlen-
den Odilon zu zerstören«. Man sieht, wie verzwickt
der psychische Sachverhalt ist. Denn die Autorschaft
der Frau Odilon zugegeben, bleibt nichts übrig als
die Vermutung, daß ihre Persönlichkeit in dem
Augenblick kläglich zusammengeschrumpft ist, als
ihr ein Verleger den Antrag stellte, ihre Memoiren
zu schreiben, — oder die Annahme, daß es einst der
faule Zauber einer strahlenden Routine war, der eine
kalte, indezente und seichte Natur zur Verführerin
einer ganzen Stadt machte. Ich entscheide mich für
die Annahme und verwerfe die Vermutung. Jene
Geschicklichkeit konnte die Literaten täuschen, so-
27
lange sie auf der Szene zu Hause war. In die
Literatur übersiedelt, erregt sie das Bedenken der
Fachleute. Eine rechte Frau mag in einem un-
gefügen Satz eines Briefes die Gestaltungskraft von
zehn Schriftstellern beschämen, aber sie wäre nie
imstande, ihre Memoiren herauszugeben. Es ist ein
unnatürlicher Tod der Weiblichkeit, die im Bett
stirbt, wenn eine sich entschließt, zur Feder
zu greifen. Dieser Selbstmord soll als Versuch der
Rettung aus einem unbefriedigten Dasein nicht
unterschätzt werden. Aber ein Weib schreibt immer
sein Obduktionsprotokoll. Und glaubt man, daß das
Leben einer Frau, die eines Tages der Literatur ver-
fällt, je etwas anderes war, als ein Leben aus zweiter
Hand? Nur die Blindheit nimmt eine Wesensänderung
wahr, und nur die Taubheit hört aus den Memoiren
der Frau Odilon eine andere Sprache als aus ihren
Bühnengestaltungen. Wer bei dem »gefühllosen,
gleichgültigen, einförmigen Ton« ihres Buches sich
nicht an die Glanzzeit der Frau Odilon erinnert, um
eine Konsequenz festzustellen, sondern um über die
seltsame Verwandlung eines Charakters nachzudenken,
der macht mit Unrecht die Autorin für seine
Enttäuschung verantwortlich. Madame Sans-
G§ne in Wort oder Schrift, ich höre nur eine
Stimme, und sie klingt mir immer noch wie der Ton
einer stattlichen Sparbüchse, einer, die klappert und
schüttert, ohne sich je zu vergeuden, und die unter
Kuratel zu stellen, bloß dem Scharfsinn einer öster-
reichischen Behörde einfallen konnte. Aber es ist
schließlich kein Wunder, daß in einem Staat, dessen
Finanzminister frei herumlaufen und dessen Abge-
ordnete davon leben, daß sie mit fremdem Geld ver-
schwenderisch umgehen, die Kapitalisten zu Märtyrern
der behördlichen Aufsicht werden. Daß sich diese
eine Frau als Opfer ausersehen hat, die in ihrer ganzen
Lebensführung den holden Schwachsinn ihres Ge-
schlechts verleugnet, beweist die glückliche Hand, die
28
dieser Staat wie in allen höheren Kulturproblemen auch
bei der Kuratelverhängung bewährt. Die Art, wie Frau
Odilon noch heute mit ihren Liebhabern abzurechnen
versteht, stärkt den Verdacht, daß hier ein mündiger
Verstand unter der Kuratel des Blödsinns gehalten
wird. Daß Frau Odilon als Schriftstellerin noch
nicht die blendende Routine hat, mit der sie als
Lebenskünstlerin und Star der Bühne über den
Mangel an Persönlichkeit zu täuschen wußte, ist ein
Vorwurf, den nur die kollegiale Unduldsamkeit
erheben kann. Aber daß ein Weib den Ehrgeiz
hat, mit der Feder seinen Mann zu stellen, ist keine
Kritik am Buch, sondern am Weib. Das ist keine
Schwachsinnige, das ist kein Weib, die solche Proben
einer Erinnerungsfähigkeit ablegt.
Solange eine nicht schreibt, bewahrt sie den
Schein der Geschlechtswirkung, und der Zusatz jener
widerwärtigen Geistigkeit, der sie später zur Schrift-
stellerin befähigt, mag gar die verdächtige Mixtur
herstellen, welche die Toren betört. Aber eben diese
Intelligenz ist es, die im rechten Augenblick alle die
schlechten Eigenschaften mobilisiert, die im Friedens-
stand zum Reiz des Weibes versammelt sind. Die
Anmut ist eine Maske, die das Weib vor dem wahren
Antlitz trägt. Fällt die Maske — nichts außer ihr ver-
mag zu »fallen« — , so steht eine fragwürdige Mensch-
lichkeit vor deinen Augen. Bist du nicht im Zauber-
bann, so kann die Erhitzung deines Nachbarn dich
nicht von der Vision abbringen, daß die Luxusdame,
die da oben ihr Spiel treibt, ein flotter Weinreisender
im Unterrock ist oder ein Börsenagent mit Jupons.
Und läßt sie selbst die Maske fallen, gibt sie den
Schein schöpferischen Frauentums auf,um eineMeinung
zu vertreten, um zu agitieren, zu reden, zu schreiben,
so erwächst der Eindruck zu schreckerregendor Voll-
ständigkeit. Sie braucht sich dann von keinem
Feuilletonisten entmutigen zu lassen, der Ehrgeiz
allein beglaubigt ihre Zugehörigkeit, und das anere-
29
borne Talent zur Routine führt sie bald über die
Schwierigkeiten des Anfangs. Und sie hat ein Recht
darauf, daß man ihr die Abscheulichkeiten eines
Klatschromans genau so verüble, wie jedem Reporter,
der die wahre oder fingierte Kenntnis des Privat-
lebens stadtbekannter Personen zu einer publizisti-
schen Sensation ausschrotet. Denn das ist der ehr-
liche Erfolg der Frauenemanzipation, daß man einem
Weib, welches sich einem schmierigen Handwerk
des Mannes gewachsen zeigt, heutzutage nicht
mehr die verdiente Geringschätzung vorenthalten
darf. Freilich muß hier das Recht der Frau noch
immer in einem Punkte zu kurz kommen. Man
darf einer, die ehrenrührige Eingriffe in ein Privat-
leben begeht, wohl von der Gesinnung zumessen, die
man einem Redakteur in solchem Falle widerfahren
läßt; aber das unsäglich ekle Erlebnis, eine Frau,
die Memoiren geschrieben hat, vor den Geschwornen zu
sehen, wird der erpichteste Frauenrechtler nicht her-
beisehnen, und kein Feminist wird wünschen, daß
man an einem Weibe jene Selbsthilfe betätige, die
man gegen den Verbreiter der sexuellen Intimitäten
in der richtigen Erkenntnis anwendet, daß die
judizielle Genugtuung nicht zureiche. Es ist gewiß
wieder ein Unrecht, daß man hier durch die Bevor-
zugung der männlichen Sudler begeht. Aber der
äußere Schein, der dafür spricht, daß es Männer sind,
während die Journalistinnen noch immer keine Hosen
tragen, muß die Wahl entscheiden. Wenn auch in
Wahrheit durchwegs nur die Weibernaturen in der
Journalistik auf den trostlosen Gedanken verfallen,
durch Preisgabe wahrer oder erdichteter Tatsachen
des Privatlebens eine Rache zu üben, so ist doch
die Hose für den Entschluß maßgebend, sie zu
spannen. Kein Mensch, und wäre er in seinem
Innersten beleidigt worden, wird einen Weiberrock
aufheben, um eine unzärtliche Gesinnung zu betätigen.
Diese Zurücksetzung müssen sich nun einmal die
30
schreibenden Weiber gegenüber den weibischen
Schreibern gefallen lassen. Aber weil sie ihrer ganz und
gar sicher sein können, sollte umso nachdrücklicher
der Versuch unternommen werden, sie durch Worte
einzuschüchtern. Denn das Handwerk der Kolportage
von Bettgeheimnissen mag einen goldenen Boden
haben: wenn es ein Weib betreibt, so ist es eine
Beleidung des eigenen Geschlechtes, wie sie schimpf-
licher nicht gedacht werden kann. Pur diese, nicht
für die Beleidigung der Männer, deren Leben das
Unglück hatte, von einer künftigen Memoiren-
schreiberin gekreuzt zu werden, gilt es eine Sühne
zu schaffen. Es wäre lächerlich, einen Menschen wie
Alexander Girardi, der mit einem Wort einen Reich-
tum der Liebe spendet und gewinnt, gegen die Herzens-
leere dieser Enthüllungen in Schutz zu nehmen, die
nebst ihrer garstigen Absicht nichts enthüllen,
als gerade die wertvollsten menschlichen und künst-
lerischen Eigenschaften des Betroffenen. Aber man
würdesich versucht fühlen, sich selbst des unsympathi-
schesten Opfers dieser Ranküne anzunehmen und
einen Geldbaron gegen den Verdacht einer reinen
Liebe zu schützen, aus deren » Glückstraum c
Frau Odilon durch drei Tausender herausgerissen
wurde, wie anderseits gegen die öffentliche
Rechnungslegung, zu der sie sich gegenüber dem
» Unwürdigen c schließlich doch bereit findet. Sie
alle aber gegen die Zumutung zu schützen, ihre
Bettgenossenschaft kulturhistorisch gewürdigt zu
sehen.
Es ist ein Buch, das wirklich notwendig war,
um der Öffentlichkeit und deren Wortführern über
die Armut ihrer Illusionen die Augen zu öffnen, die
fast so billig herzustellen sind, wie die Bühnen -
toiletten der Frau Odilon. Durch die rücksichtslose
Preisangabe für diese und durch das Preisgeben der
uninteressantesten Geheimnisse hat sich die Verfasserin
in einem Teil der Presse das Lob »Rousseau'schen
3L —
Wahrheitsmutes« zugezogen. Gefährlicher ist eine
Kritik, die Frau Odilon jahrelang als dämonisches
Weib anerkannt hat und jetzt die Hände über dem
Kopf zusammenschlägt, weil sich der Zauber als
eine sublimierte Mischung aus den Interessen eines
Reporters und den Berechnungen eines Theateragenten
herausstellt. Daß Charlotte von Stein nach der
Schätzung beeideter literarhistorischer Sachver-
ständiger keine Wertsache war, wird an ihrem
Liebhaberwert für die Subjektivität eines Goethe
nichts ändern; man wird höchstens in der Über-
zeugung bestärkt werden, daß die Literaturforschung
keine Wertsache ist. Aber die Objektivierung der
Frau Odilon ist durch ihren Willensakt herbeigeführt
worden, sie hat sich selbst enthüllt, sie hat ge-
schrieben. Die schmerzliche Enttäuschung der Wiener
Kulturforscher ist so töricht wie die Überlegenheit
der deutschen Literaturhistoriker.
Freilich muß es ihrer Vorstellung von
einem Mondänentum arg zusetzen, wenn sie Frau
Odilon erzählen hören, wie sie in ihrer Jugend
»ein paar Dachteln« bekommen habe, wie ihr dann
»das Herz pumperte«, als sie zum erstenmal auf den
Presseball ging; wenn sie hören, wie sie sich ein
»armes Waserl« nennt, »gut is' gangen« ruft,
ein Erlebnis »bis zum 1-Tüpferl durchmacht«,
»puraperlgesund« nachhausekommt, von ihrem »Hirn-
kastei« spricht, von einem Autor, »dem es das
Beischel umdreht«, von dem »krauperten Haar«
Lenbachs, von dem »Gerstl«, das ihrem Mann aus-
geht, von den »Spompanadeln«, die sie, und von
den »Mafökchen«, die er auf Reisen macht, von dem
»Riesenschinakel«, auf dem sie nach Amerika fährt,
von den »Fressalien« an Bord, einigemal vom »Speiben«,
und nur zur Abwechslung davon, daß sie einmal »ganz
betropetzt« war und daß ein Kollege, als er von der
»Benehmität« einer Kollegin hörte, die Bemerkung
machte: »Ae solchene wären Sie?« Sonst aber durchaus
— 32 -
eine sprachliche Melange aus Grinzing und Hoppe-
garten, ein Jargon, der zugleich harb und »muschlig
kuschlig« ist und neben dem Ruf »Kruzifix noch
einmal!« nur die Beteuerung vermissen läßt: »Ich denk,
mich laust der Affe!* . . . Mir könnten solche Äuße-
rungen das Bild einer Göttin nicht alterieren. Das Vor-
bild der Iphigenie bevorzugte — Dank sei einem Pro-
fessor für die Enthüllung — das Wort »Dreck«, und jene
andere Charlotte, die das vollendetste Nachbild der
Iphigenie geschaffen hat, die große Wolter, befliß sich
in Umgang und Briefen des rüdesten Jargons. Sie
wären freilich nicht imstande gewesen, Bücher daraus
zu machen. Die Ausdrucksweise der Salondame mag
ein lesendes Parterre enttäuschen; in die Linie ihres
Wesens fügt sich mir der geistige Stil. Daß ihre
Erinnerung an einen berühmten Kollegen sich darauf
beschränkt, daß er einmal plötzlich von der Szene
verschwunden sei, und in dem Satze gipfelt: »Des
Rätsels einfachste Lösung' hätte die verschwiegene
Toilettefrau geben können«, wäre schließlich noch
ein naturalistischer Zug, der zwar dem mondänen
Ruf einer Bühnenkünstlerin abträglich ist, aber sonst
von einem erfreulichen Humor zeugt; — wozu schriebe
man denn Memoiren, wenn sie nicht auch diese
letzten Geheimnisse der Zeitgenossenergründen dürften?
Und daß sie selbst auf dem Amerikadampfer »gleich
nach der Suppe unter den Klängen eines Strauß'schen
Walzers aus dem Saal tänzeln mußte und unter noch
ganz anderen Klängen dann in die Kabine walzte«,
wäre auch noch harmlos, wenn solche Erinnerung
nicht den penetranten Verdacht weckte, sie stehe
in den Memoiren eines reisenden Männergesang-
vereins. Aber die geistigen Übelkeiten, die uns —
wenigstens in der ersten Hälfte des Buches — auf-
getischt werden, sind in Wahrheit das, was eine
beliebte Schauspielerin zu einer der unsympathischesten
Erscheinungen der deutschen Literatur gemacht hat. Die
Grundgesinnung, die alle Andern mit Druckerschwärze
33
beschmieren möchte, weil man selbst der Schminke
entsagen muß, in Ehren! Daß Frau Odilon Kolleginnen
auch dort kompromittiert, wo sie nichts davon hat,daßsie
Jugendfreunde verhöhnt, weil sie ihr aus Eifersucht eine
ruhmlose Laufbahn prophezeiten, Schneider durch üble
Nachrede schädigt, Gatten des Diebstahls ver-
dächtigt — Verbitterung mag die Arroganz solchen
Schaugerichts über eine private Welt erklären. Aber
daß sie sich dazu versteigt, uns die Hämorrhoiden
eines Gemahls vorzusetzen und ähnliche Miseren
der Ehe, die sie schließlich der goldenen Ader eines
Millionärs geneigt machten, das ist mehr, als das
Mitleid selbst gestatten kann. Widerlich auch die
Art, wie sich die Lebensroutine einer Liebhaberin
als die Ahnungslosigkeit einer Naiv-Sentimentalen
vermummt. Frau Odilon ist in ein neues Fach über-
gegangen. Zerknirscht nennt sie es einen »Fehltritt«,
als sie einen Rennstallbesitzer mit einem Trainer be-
trügend bezeichnet sich hiebei als ein Opfer des bösen
»Galeotto«, der's nun einmal wahr haben wollte.
Von der ersten Zusammenkunft mit dem Finanz-
baron »träumt sie mit geschlossenen Augen«. Nach-
träglich 1 »Wie ich unter einem Vorwand in sein
Palais gekommen war. Wie wir von gleichgiltigen
Dingen gesprochen, wie aber die Augen die Herzen
nicht Lügen strafen gekonnt . . . Und wie es schließ-
lich geschah . . . Damals hätte ich es in alle Welt
hinausjubeln wollen . . .« So romantisch ist das
Leben, und es gehört Rousseau'scher Wahrheits-
mut dazu, es auch so darzustellen. Und ein unerbitt-
liches Ethos ist notwendig, damit eine Frau in
glaubhafter Weise »Unpünktlichkeit« als jene männ-
liche Untugend schildere, die ihr die Ehe vergällt
habe, und damit eine Schauspielerin, die sich fort-
während über eine Rejane, eine Sandrock, eine Sorraa
zu stellen vermißt, der größten Persönlichkeit des
österreichischen Theaters »Eitelkeit« vorwerfen könne.
Wenn es aber die Dekorierung ihrer Erlebnisse gilt,
277—278
84
ist solch eine interessante Frau einer Sinnigkeit
und Kitschigkeit fähig, die man ihr gar nicht zu-
trauen sollte. Zur Erinnerung an ihre erste Kollegen-
liebe zitiert sie schlicht das tiefe Wort aus dem
Zigeunerbaron: »Wer uns getraut? Sag an — sag
du!« Als sie einmal in Ems dem alten Kaiser Wil-
helm begegnete, sprach er zu ihr: »Sie werden mich
doch nicht für so unhöflich halten, daß ich einer
Dame vorangehe? Also, darf ich bitten?« Sie aber
ging, »gerührt von dieser auf der Welt einzig da-
stehenden Liebenswürdigkeit, stumm ihres Weges«.
Und um nicht immer wieder die Folgen einer stür-
mischen Amerikafahrt beschreiben zu müssen, deutet
sie einmal mit diskretem Humor an: »Er zählt die
Häupter seiner Lieben — Statt hundert waren's sieben«.
Interessante Frauen haben vor den Frauen voraus,
daß sie denken können, was die uninteressanten
Männer schon gedacht haben. Sie können also
Zeitungsklischees denken. Sie freuen sich nicht etwa
über die Blumen, die ihnen bei einem Wiederauftreten
gereicht wurden, sondern sie konstatieren, daß ihre
Garderobe »in einen Blumenhain verwandelt« war. So
eine feiert nicht Weihnachten, sondern sie sagt:
»Wieder steuerten wir auf das schöne Weihnachtsfest
los, an dem sich Alt und Jung, Groß und Klein so
recht vom Herzen freuen sollen«. Freilich rutscht ihr
gleich darauf der Satz heraus: »Das dachte sicher
auch der Herr v. Gomperz, als er mir seine Geschenke
überbrachte«. (Gomperz ist der Name eines Licht-
gottes, der Frau Odilon durch alle Fährnisse dieser
Welt von Schwarzalben geleitet.) Sie geht nach Paris,
also »nach diesem reizenden, schändlichen Seinebabel«.
Sie geht nach Venedig, also »nach dieser allerliebsten
Bijoustadt«. Aber wenn es auch viele herrliche Städte
gibt, »'s gibt nur a Kaiserstadt, 's gibt nur a Wien!«. Da
sich immerhin auch anderswo leben läßt, so bieten uns die
Memoiren der Odilon eine Fülle ethnographischer Auf-
schlüsse. Zum Beispiel: »Geht man durch die Straßen
Roms spazieren, sieht man alte Bilder, alte Gobelins, alte
— 35 —
Spitzen, altes Gold, altes Silber, alte Bauten. Alles
ist alt, und je älter das ist, desto mehr wird dafür
bezahlt. Eine einzige Ausnahme macht der Mensch —
da ist es gerade umgekehrt.« Anders New- York.
Frau Odilon beschloß, »das Land der Yankees« zu
besuchen. »Ein Gastspiel in einem mir ganz unbe-
kannten Weltteil!« Da ist natürlich das Lampenfieber
noch viel größer. Aber es steht dafür. Die amerikani-
schen Eisenbahnen zum Beispiel: »Bei allem Komfort
wird deshalb der Bequemlichkeit nicht vergessen«.
Sehr anschaulich tritt uns das Bild der Metropole
entgegen: »Was Beleuchtung anbelangt, so steht
New- York einzig da und Paris und London können
sich mit ihm nicht messen. Amerika ist das Land
der Reklame . . . Die Beleuchtung in den Dienst der
Reklame gestellt, das war's, was mir sofort in die
Augen fiel. An jeder Straßenecke usw.« Die Ver-
pflegung: »So gefressen — pardon — gegessen hatte
ich noch nie zuvor«. Im Theater gibts das »Weiße
Rößl« und »der Giesecke« hält eine Ansprache an
Frau Odilon, die aus der Loge antwortet. New-York
hat ferner die Wolkenkratzer, man besucht das größte
Warenhaus zum Wannemaker, ein Kleid um 600
Dollars ist eine »Mezije«, und seit der Entdeckung
Amerikas durch Conried ist kein Gast so gefeiert
worden, wie Frau Odilon . . . Aber hat nicht auch
Mitter wurzer in New-York gastiert? Gewiß, aber er
war — unpünktlich. Er kam vor dem Termin, und die
Folgen : leere Häuser und kein Erfolg. Wie sie
doch die Männer kennt 1 Dieser Mitterwurzer war
»ein Idealmensch, aber fürs Geschäft ganz und
gar nicht« ... Im New-Yorker Chinesenviertel
jedoch bemerkt Frau Odilon »Damen«, die sie in
Anführungszeichen setzen muß; denn es sind solche,
die mit den Chinesenonkeln Champagner trinken und
ihnen »noch dazu das nötige Kleingeld ablotsen«. Tout
comme chez nous, ruftsie, die Chinesen sterben nicht aus I
Aber diese Mädchen leben für die Freude und
wenn die Freude auch nur kurz währt, so schreiben
- 36
«ie wenigstens hinterdrein keine Memoiren. Und
keine würde behaglich schildern, wie sie die Psychiater
herbeigewinkt hat, um Einen, der sie liebte, ins Irren-
haus zu liefern. Die Stelle des Buches »In schmerz-
licher Erwartung saßen wir nun bei Svetlin, doch
Stunde um Stunde verrann, ohne daß Girardi käme,
diese Stelle ist der dunkelste Fleck in einem Privat-
leben, bei dessen Enthüllung Frau Odilon noch
schonungsloser vorging als beim Verrat fremder Ge-
heimnisse. Sie, die kein Hehl daraus macht, daß
sie selbst einmal den Schwachsinn der Irrenärzte für
ihre Zwecke mißbrauchen wollte, macht es einem
schwer, auf ihre Hilferufe herbeizueilen, da heute an
iht er geistigen Freiheit die psychiatrischen Fanghunde
zerren. Und ich möchte es so gern! Der Glanz der
Frau Odilon muß mich nicht geblendet haben, damit
ich ihrem Elend beistünde, und so gern möchte ich
die häßliche Hälfte des Buches vergessen, um der
andern Teilnahme zu schenken. Denn diese Ab-
rechnung mit der österreichischen Gerechtigkeit,
deren erhabenes Justaraent auf alles menschliche
Fühlen tritt, ist gut! Was die Frau hier sagt, ist gut
gesagt; also muß sie mit jedem Wort recht haben.
Hier ist die Reporterin erledigt, hier schreibt ein Weib,
was selbst ein Weib schreiben darf. Hier wird nicht
geklatscht, sondern geklagt, und auch ein Weib darf
schreien, wenn ihr ein Büttel an die Gurgel fährt.
Hätte sie nicht die unerträgliche Sensation ihrer
Vorlebensstudie auf dem Gewissen, achtungsvollstes
Erbarmen wäre diesem durch alle Instanzen des
Heilbetruges und Rechts verschubs gehetzten Jammer
sicher. Aber dieses Kapitel ist für sich so stark, daß
man der Armen die Hilfe gegen die Zudringlichkeit
nicht versagen darf, mit der die österreichische Amts-
welt ihre Fürsorge an ihr erprobt. Wenn der
zehnte Teil dessen wahr ist, was Frau Odilon hier
erzählt — die Wahrheit dessen, was sie aus dem
Privatleben ihrer Nächsten holt »vermehrt ihre Schuld — ,
dann ist diese kompakte Sozietät von Amtshintern
St
wirklich wert, daß sie bei wiederkehrender Gelegen-
heit die serbischen Wanzen fressen. Eine Justiz,
die den Wauwau spielt, und »Bitte sehr, bitte
gleich!« sagt, wenn eine einflußreiche Person sich
für das Opfer verwendet, eine Kommission von Rich-
tern, Psychiatern und sonstigen Punktionären von
malerischem Ansehen, die sich im Vorzimmer der
Prau Schratt versammelt und sofort in die alte Ton-
art zurückfällt, wenn die Gönnerin aus irgendeinem
Grund die Hand von dem Schützling zieht — wie
weit halten wir? Wie weit wird sich dieses Komplott
von altgedienter Roheit und unverwüstlicher Streberei
noch gegen die feineren Lebensformen vorwagen?
Wenn es wahr ist, daß ein Gerichtspsychiater der
Prau, der er die Zärtlichkeit ihres Verlobten als eine
Absicht auf ihr Geld plausibel machen wollte —
denn um die Behütung des Geldes handelt es sich
in dieser Staatsaktion — , daß er ihr ins Ge-
sicht die Worte gesprochen hat: »Ich weiß nicht,
gnädige Prau, ob Sie sich besinnen können, daß wir
Männer einen gewissen körperlichen Widerwillen
gegen Gelähmte haben!«, wenn wirklich ein Arzt das
gesagt hat, so verdient er, daß ein gefühlvoller Polizei-
hund ihn zerbeiße. Wenn es aber wahr ist, daß man
Prau Odilon dieHerausgabe des Schmuckes verweigern
wollte, den sie in ihrer erfolgreichsten Rolle trug und mit
dem sie sich jetzt für das Foyer ihres Theaters porträ-
tieren lassen sollte, dann staunt man wirklich, daß
im mechanischen Betrieb der Borniertheit noch so
viel Spielraum für eine erfinderische Tücke bleibt.
Warum so viel Aktenpapier beschmiert wird, um
einen Skandal zu verlängern, der ohnedies schon zum
jüngsten Kuratelgericht aufstinkt, versteht kein Mensch.
Wie sich diese kranke Frau durch Buropa schleppt,
um von den Enttäuschungen der Medizin in die
Verzweiflungen einer Wunderkur zu fallen, ist gräß-
lich. Müssen zu der spekulativen Anwendung
der Unwissenschaft und des Glaubens noch jene
Segnungen der Jurisprudenz treten, die auch ein ge-
38
sunder Körper nicht verträgt? In der Judengasse
der europäischen Zivilisation stehen, zwischen Pur-
kersdorf und Lourdes, vor Sanatorien und Grotten,
die Händler der hygienischen Hoffnung und fangen
den Kunden in ihren Laden, aus dem sie ihn ge-
lähmt entlassen. Muß dieses Straßenbild durch
Richter, Kuratoren und Gutachter ergänzt wer-
den ? Ein Gerichtspsychiater fragt mehr, als
hundert Weise beantworten können, und wenn eine
Schwachsinnige nicht über die ungarische Ehegesetz-
gebung Bescheid weiß, so bleibt sie dem Kuratel-
verhängnis ausgeliefert. »Als Schauspielerin lebte
ich mein Leben<, ruft sie, »und kümmerte mich nie
um Gesetze, Beamte, Psychiater und Kuratoren.
Aber auf einmal falle ich in diese Sauce. Wie ich
gesund war, ließ man mich nach meiner Fasson
selig werden, und jetzt, in meinen kranken Tagen,
soll ich eine Gelehrte und gescheiter sein als die Richter,
Advokaten und Ärzte!« Eine Frau, die das sagt,
kann es schließlich noch mit einem Dutzend von
dieser Sorte aufnehmen. Das Drängen, sich endlich
zum Schwachsinn zu bekennen, entstammt der
echt österreichischen Überzeugung, daß man sich
hierzulande alles »richten« kann und daß bei
einigem guten Willen eines Mündels die Ge-
richte vor »Scherereien« bewahrt bleiben. Wir aber
wünschen den Skandal nicht mehrl Da Frau
Odilon nicht will, verschone man sie. Wem
sie ihr Geld schenken mag, ist schließlich ihre
Sache. Wer immer es bekommt, dem hat sie's lieber
gegeben als dem unbekannten Erben, dem es der
österreichische Staat reserviert. Der Vorwurf der
Gewinnsucht, den sie gegen ihren Kurator erhebt,
mag ungerecht sein. Aber es ist mindestens Zeit,
daß er abtrete, sobald ein anderer Anwalt erklärt,
daß er die Sache gratis macht. Wenn ein Kurator
seine Schutzbefohlene nicht wegen Ehrenbeleidigung
klagen kann, so muß er abtreten, wenn sie ihn be-
leidigt. Er darf als Kurator das Wort nicht hinnehmen :
39 -
»Meine eigenen Möbelstücke läßt man verstauben,
und außer meinem Kurator sind's nur noch die Motten
und Schaben, die aus meiner Kuratel Vorteil ziehen. c
Und ein Kuratelgericht hat eine Schwachsinnige
laufen zu lassen, der das treffende Wort gelang:
»Wenn eine Künstlerin nicht mehr spielen kann,
kommt sie mir wie ein Fisch vor, der aus dem Meer
in ein Lavoir Wasser geworfen wird. Mein Leben
war die Bühne, und von den Brettern sagt man, daß
sie die Welt bedeuten; aber schmeißen Sie einmal
den Pochmann aus seinem Lavoir ins Meer, passen
Sie auf, wie er ertrinkt !< Jedenfalls aus dem Lavoir
mit ihm ! Es ist genug I Schon spüre ich, daß sich hinter
dieser zärtlichen Sorge für ein Kapital etwas von der
alten Ranküne gegen eine Lebensführung verbirgt,
die dieses Kapital erwerben half, und das könnte
der Ranküne übel bekommen!
Nur dieses Land, das seine Skandale auch kalt
genießen kann und wenn sie zur Rubrik erstarren,
erträgt durch Jahre den lächerlichen Anblick, wie
Diafoirus, Harpagon und Tartüffe sich zum Wohltun
vereinigen. Frau Oülon empfindet es als Plage ; aber
sie kann auf den Schutz einer Öffentlichkeit nicht
rechnen, die ihren Lieblingen kein Privatleben gönnt
und sie wenigstens dauernd in der Gerichtssaalrubrik
sehen will, wenn sie sie schon in der Theaterrubrik
nicht mehr findet. Diese Teilnahme begleitet Frau
Odilon durch die unwürdige Sensation ihrer Ent-
hüllungen und verläßt sie in ihrem ehrlichen Kampf.
Die Verfasserin der Memoiren hat nichts von der
Gerechtigkeit und alles von der Heuchelei zu er-
warten, und die sittliche Rolle, die sie sich gegen-
über ihrer Vergangenheit zurecht legt, mag selbst
ihren Wächtern wohlgefällig sein. Die Bewußtheit,
die dem Leben und der Kunst dieser Frau wie ein
Talisman eignet, hat sie aus der Wildnis sinnlicher
Gewalten in die Region zivilisierter Lustbarkeit ge-
leitet; aber sie bewahrt sie auch vor dem Verdacht
des Schwachsinns. Möge sie sie jetzt der Pflicht
40
inne werden lassen, ihre geistige Freiheit ohne Haß
gegen jene zu erkämpfen, die an ihrer Entmündigung
unschuldig sind, und ohne eine sittliche Verteidigung
ihrer Vergangenheit. Das schafft eine klare Situation,
man stellt sich zwischen eine Frau und ein Dutzend
Büttel, und es wäre zu schön, wenn dann von den
Erlebnissen, die sie selbst verraten hat, ein einziges
auch nur ein einziger ihr vorzuwerfen wagte!
Karl Kraus.
Beim Tode Matkowskys*).
Nun wird es dunkler sein.
Welch eine Flamme fiel!
War unser Tag nur Schein?
Das Wesen war sein Spiel.
Entband sein Lächeln nicht
mit glücklicher Gebärde
verhaltnes Sonnenlicht
aus dieser harten Erde?
Entschüttelte sein Zorn
die alte Riesenglut,
die treibend unterm Korn
der Menschenäcker ruht?
Trug er in unser Spiel
nicht jede Welt hinein ?
Welch eine Flamme fiel I
Nun wird es dunkler sein.
*) Verse von Julius Bab, die in der .Schaubühne' stehen.
— 41 -
Die Verteilung der Macht.
Die Quelle aller Menschenmacht ist nicht, wie
die Speichellecker der Masse behaupten, das Volk,
sondern der Glaube des geistigen Menschen an sich
selbst. Die sogenannte Macht der Menge ist, wenn
sie nicht vom Geist gelenkt wird, lediglich eine zer-
störende Elementargewalt. Sie hat immer einen ge-
meinen Notstand zur Voraussetzung, durch den sie
erst geschaffen und in Bewegung gesetzt wird. Die
Macht der Menge ist imstande, das Joch unver-
nünftiger Tyrannei abzuschütteln oder, von Mangel
getrieben, schlecht behüteten Besitz an sich zu reißen.
Sie ist immer nur Auflehnung oder Beraubung und
weiß die erlangte Freiheit und den erlangten Besitz
weder zu nützen noch zu halten. Die Menge kann
nicht aus und für sich bestehen, sie sinkt unweigerlich
stets wieder in die Knechtschaft zurück und für ihre
Macht zeugen immer bloß Spuren der Verwüstung.
Die materiellen Kräfte können nur unter der Führung
des Geistes schöpferisch wirken, und jener Augen-
blick, als die Erkenntnis der Möglichkeit geistiger
Macht wie ein Blitz die Seele des Menschen durch-
strahlte und entzündete, war der höchstgemute und
folgenreichste aller irdischen Augenblicke und die
wahre Geburtsstunde der Menschheit. Der Menschheit
und Gottes. Denn so leuchtend und erhaben erschien
dem Menschen das Attribut geistiger Machtwirksam-
keit, daß er lange nicht wagte, dies Ungeheure sich
selbst beizulegen. Er stellte es außer sich, hob es in
Sternenferne empor und wurde selbst ein Beispiel
der Unterwerfung unter den Geist. Im Namen Gottes
regierte zuerst der Geist des Menschen auf Erden.
Die ursprünglichste Form geistiger Herrscher-
gewalt war das Priesterkönigtum. Und die Gottesidee
war zugleich der feste Anker hohepriesterlicher
Autorität und die befreiende Schwinge des geistigen
Machtwillens. Je sicherer der Priester seines An-
sehens und seiner Heiligkeit beim Volke wurde, desto
— 42
gewisser wurde er auch des eigenen Glaubens an
seinen Beruf, Hirt zu sein über die Menschenherde.
Dies nämlich ist der tiefste Glaube, der erst zum
wahren Priester macht. Das innerste Geheimnis des
Hohenpriestertums ist dies eine: daß der Glaube an
Gott für den befreiten Geist nur der königliche
Mantel ist, in den der Glaube an seinen Herrscher-
beruf sich hüllt. Der moderne demokratische Stumpf-
sinn freilich vermag in dieser kühnsten Konzeption
geistigen Herrscherwillens, im Priester des eso-
terischen Wissens, nur den »betrügerischen Pfaffen«
zu sehen.
Um aber solche Macht dauernd und unge-
schmälert zu erhalten, ist rastlose Wachsamkeit und
stete Willenserneuerung der geistigen Gewalthaber
vonnöten. Jedwede Erschlaffung ihrer innern Energie
bedeutet unerbittlich auch den Verfall ihrer Macht durch
das Schwergewicht der dann sogleich und automatisch
wirksam werdenden materiellen Kräfte. Sobald diese
Kräfte nicht mehr planvoll bewegt werden, wenden
sie sich planlos gegen ihre Beweger. Der geistige
Herrscher wird also von seinem besonderen Selbst-
erhaltungstrieb auf ein hartes und asketisches Leben
hingewiesen, asketisch im amoralischen, spartanischen
Sinne, auf ein Leben gesunder Abhärtung, stolzer
Selbstzucht und geistiger Freiheit. Niemals darf der
Herrschende der Knecht von Leidenschaften und Be-
dürfnissen sein.
Neben dem herrschenden Priestertum entstand,
als Vollstrecker seines Willens und Beschützer des
Volkes vor äußeren Gefahren, eine Kaste, die durch
den nahen Anblick der Macht und mehr vielleicht
noch durch ,'ie impetuosen Instinkte, die ihr erblich
innewohnten und durch ihren Beruf noch ver-
schärft wurden, allmählich selbst nach der Macht
lüstern wurde: die Kriegerkaste oder das kriegeri-
sche Königtum. Die Zunahme kriegerischer Unter-
nehmungen — durch Bedrohung von außen; Auf-
— 43 —
lehnung im Innern, Expansionsbedürfnis, Bedürfnis
nach Sklaven usw. hervorgerufen — stärkte diese
sekundäre, ursprünglich nur als Exekutive gedachte
Machtquelle auf Kosten der priesterlichen Macht.
Und obgleich das militärische Königtum noch lange
Zeit hindurch dem Hohenpriestertum untergeordnet
blieb, war in kriegerischen Perioden dennoch die
allmähliche Verwandlung des theokratischen Staates
in einen militärisch-aristokratischen unvermeidlich.
Der Kampf um die Macht zwischen Priestertum und
Rittertum bildet den Hauptinhalt der sogenannten
Weltgeschichte bis in die neuere Zeit. Im Mittelalter
erscheinen diese beiden Machtfaktoren in zwei große,
alles absorbierende Verbände zusammengefaßt: in den
weltlichen Staat und in die Kirche. In Kaiser und Papst
bekriegten sich der homo bellicosus und der homo
contemplativus. Daß es auch kontemplative Kaiser
und kriegerische Päpste gab, ändert nichts an ihrer
repräsentativen Idee. Die rechte Waffe des Papstes
war der Glaube an die Macht des Geistes, die rechte
Waffe des Kaisers war das Schwert. Und gelegent-
liche Verbündungen der beiden Parteien oder ein-
zelner ihrer Teile und gelegentliche längere Waffen-
stillstände beeinträchtigen kaum das grandiose Bild
eines jahrhundertelangen, mit beispielloser Zähigkeit
geführten Kampfes um die Weltherrschaft. Aber
keiner der Gegner vermochte den anderen endgiltig
niederzuringen. Der weltliche Staat konnte die wie
eine fressende Flechte in ihm eingenistete Kirche
nicht aus seinem Leibe reißen, und die Kirche konnte
es nicht verhindern, daß weltliches Gehaben und
weltliche Üppigkeit ihr Wesen verfälschten und ihr
Ansehen untergruben. Und während diese beiden
Gewalten sich bekämpften und schwächten, wuchs
eine dritte Gewalt und wurde stark und stärker.
Das weltliche Königtum hat leibhaftere und
kostspieligere Bedürfnisse als das spartanisch-asketi-
sche Priestertum. Was von Rittersart ist, liebt stän-
44
digen Prunk und unbedenkliche Verschwendung. Der
siegreiche Krieger dürstet nach Festen, der Kampf
stachelt die Lebenslust und der Krieg verschlingt
Güter um Güter. Der Wert des Besitzes steigt in
dem Maße, als Werte verwüstet und vergeudet werden.
Und je grimmer Staat und Kirche sich befehden, desto
mächtiger macht das Kapital sich geltend. Ein dritter
Stand, der homo possidens, wächst heran und pocht
als werteschaffendes und wertehäufendes Bürgertum
auf seinen Anteil an der Macht. Die langsame, aber
stetige Entwicklung der kapitalistischen Macht, der
Machtzuwachs des Bürgertums auf Kosten der Aristo-
kratie bildet die Geschichte der Neuzeit. Die Macht
der Aristokratie wurde durch die Revolution ge-
brochen. Von ihr ab war der Militärdienst nicht mehr
Beruf und Privileg des Adels, sondern allgemeine
Volkspflicht. Die Macht des Priestertums wurde durch
die Preisgabe der Wissenschaft gebrochen. Die Wissen-
schaft wurde aus einer Magd der Kirche ein Spreng-
stoff in den Händen Geistloser. Ein Hilfslehrer der
Physik ist heute, wie Karl Kraus mit furchtbarer
Ironie sagt, jedem Verkünder Gottes über. Aber
Wissenschaft und Wissen sind zweierlei, und der Geist
ist wahrhaftig nicht bei den Hilfslehrern der Physik.
Es ist für ihn überhaupt kein Raum mehr auf Erden,
und was heute Geist heißt, sind nur zerschliffene und
zerriebene Reste jenes Geistes, der einmal auf Erden
herrschte. Heute herrscht nicht der Geist sondern der
Leib. Oder vielmehr: heute herrscht nichts und
niemand, sondern alles und jedes ist beherrscht vom
Verlangen nach Besitz und leiblicher Befriedigung.
Der Plutokratie kann nur eine Gewalt sich entgegen-
stellen: die geeinte Masse. Und dieser wird es ge-
lingen, die letzten Unterschiede von Mensch und
Mensch auszuwischen und jenen Brei darzustellen,
der infolge seiner Homogeneität und Dünnflüssig-
keit so gleichmäßig über die ganze Erdkugel zer-
rinnen wird, daß ein ideales physikalisches Gleich-
- 45
gewicht jede psychische Intervention überflüssig
macht . . .
Theokratie, Aristokratie, Plutokratie, Demokratie.
Herrschaft des Geistes, Gewalt der Kraft, Einfluß des
Besitzes, Gewicht der Masse: das ist der sogenannte
Gang der Weltgeschichte oder der allmähliche Sieg
der Menschenrechte oder der Fortschritt der Ent-
wicklung. Man könnte es aber auch den allmählichen
Zerfall der Geistesherrschaft oder das Ersticken des
Geistes unter der Last der Pöbelgesinnung nennen.
Karl Hauer.
Österreich-Serbien.
Die .Vossische Zeitung' hat in ihrer Abendausgabe vom
20. März unter dem Titel >Frühere und jetzige Ansichten des
Ministers Milowanowitsch« einen Artikel veröffentlicht, der in viele,
deutsche und österreichische Blätter überging und auf telegraphi-
schem Weg sogar in ein Wiener Blatt gelangte. Er lautet:
Es kommt häufig vor, daß Staatsmänner ihre Ansichten wechseln,
aber es ist keine alltägliche Tatsache, daß ein aktiver Politiker nach
wenigen Jahren genau das Gegenteil von dem sagt, was er früher als
seine innerste Herzensmeinung zum besten gab. In dieser Lage befindet
sich der gegenwärtige Minister des Äußeren Milowanowitsch. Man kennt
ihn als Verfechter schneidiger, gegen Österreich-Ungarn gerichteter Noten,
als Politiker, der sich in seiner Rede vom 3. Jänner 1900 auf den An-
kläger der stets ländergierigen Donaumonarchie hinausspielte. Wie anders
schrieb der Mann, als er noch in Opposition gegen König Milan stand,
an dessen Sturz arbeitete und sich bemühte, Österreich-Ungarn von der
Unterstützung des vorletzten Obrenowitsch abzubringen! Im April 1900
veröffentlichte er in der in Wien erscheinenden, von Karl Kraus ge-
leiteten .Fackel' einen Artikel, in dem er sich zu der Ansicht bekannte,
die erst jüngst wieder von dem ehemaligen serbischen Ministerpräsidenten
Wladan Georgiewitsch ausgesprochen wurde, daß es für das serbische
Volk am besten wäre, wenn es unter den Fittichen Österreich-Ungarns
völlig geeinigt würde. Die Kernsätze des Aufsatzes des Herrn Dr.
Milowanowitsch lauten: (Folgt das Zitat.)
Wie sich doch die Zeiten ändern ! Ob Milowanowitsch sich als
Minister König Peters noch daran erinnert, was ihm im Kampfe gegen
Milan Obrenowitsch als Heil seines Vaterlandes vorschwebte? Darin
müßte er eine ganz andere Politik befolgen als die des Kampfes gegen
die österreichisch-ungarische Monarchie.
46 —
Da nun die ,Vossische Zeitung' den Namen des
Autors jenes Artikels erfahren hat, der in Nr. 38 der , Fackel'
(Mitte April 1900) unter dem Titel »Goluchowski und Milan« ver-
öffentlicht und damals bloß »von einem Freunde Österreichs am
serbischen Hofe« gezeichnet war, so liegt kein Grund vor, hier
den Namen nicht auszusprechen. Wären die Gründe für die Ver-
schweigung nicht längst obsolet, so geschähe es auch heute nicht.
Minister Milowanowitsch war damals unter den Verurteilten des
Attentatsprozesses und konnte sich bei Lebzeiten eines Obreno-
witsch zur Autorschaft des vortrefflichen und außerordentlich
heftigen Aufsatzes nicht bekennen. Sie war aber in politischen
Kreisen bekannt. Der Aufsatz sei hier bis zu der Stelle wieder-
gegeben, da die Charakteristik des Königs Milan beginnt. Die Er-
eignisse, die seit der Zitierung durch die ,Vossische Zeitung' ein-
getreten sind, lassen den »Widerspruch«, den schließlich neun
Jahre erklären würden, vielleicht doch nicht zu auffälligerscheinen.
Werter Herr, Ihre Sendung ist glücklich angelangt, trotz den
Argusaugen unserer Zensur, und die Lektüre Ihrer schönen und mutigen
Artikel über die serbischen Angelegenheiten war sowohl für mich als auch
für all die Freunde, denen ich die wertvolle ,Fackel'-Kollektion anver-
trauen konnte, eine Genugtuung, ein wahrhafter Genuß. - Ich persön-
lich war von jeher Austrophile und einer der überzeugtesten Mitarbeiter
des verstorbenen Pirotschanatz, des Gründers der serbischen Fortschritts-
partei. Nach der Ernüchterung und den Enttäuschungen des Berliner
Vertrages, nach der Inauguration der neuen Orientpolitik der öster-
reichisch-ungarischen Monarchie, die jetzt mit offenem Visier als Ruß-
lands Rivale in den Balkanstaalen auftrat, hatte sich jene neue politi-
sche Partei, die in ihren Reihen die besten Geister Serbiens vereinigte,
entschlossen, mit allen Traditionen der Nationalpolitik zu brechen und
das intime Einvernehmen, die vollkommene Solidarität der Ansichten
und der Interessen Serbiens mit der Habsburger-Monarchie in ihr Pro-
gramm aufzunehmen. Die Idee Pirotschanatz', für die er seine politi-
schen Freunde zu gewinnen wußte, war, daß es nach den Bestimmungen
des Berliner Vertrages, hinter denen immer das Gespenst von San
Stefano auftauchte, ein Anachronismus sein würde, an eine Herstellung
der nationalen Einheit gegen den Willen Österreich-Ungarns oder auch
nur trotz ihm zu denken, und daß wir in Zukunft vielmehr unsere
ganze Hoffnung auf die Habsburger- Monarchie setzen und begreifen
müßten, daß unsere nationalen Träume in dieser oder jener Form nur
unter ihrer Ägide ihre mehr oder minder vollkommene Verwirklichung
finden könnten. Es dürfte Sie vielleicht überraschen, wenn ich Ihnen
, daß ich trotz alldem, was sich im Laufe der letzten zwanzig
Jahre abgespielt hat und selbst trotz dem letzten Fehler, der, ungeheuer-
47
licher und unsinniger als alle anderen der österreichischen Orientpolitik,
uns zu dem jüngsten Bubenstück des Königs Milan mit all seinen un-
seligen und verderblichen Konsequenzen verholten hat — nicht ganz
daran verzweifle, daß die Zukunft Pirotschanatz Recht geben wird. Und
was diese Hoffnung in mir wieder aufleben läßt, das sind die Gerüchte,
die bis ins Wartezimmer des Hofes zu Belgrad dringen : daß die Stellung
des Grafen Goluchowski erschüttert sei, und daß dieser Minister, dessen
Unfähigkeit, die Geschicke der Monarchie in so bewegten Zeiten zu
leiten, notorisch ist, binnen kurzem von der ungeheueren Last seiner
Vergehen erdrückt werden wird. Gebe es Gott, sowohl im Interesse
Österreichs als zum Heile unseres unglücklichen Landes, daß diese Ge-
rüchte sich so bald als möglich bestätigen . . .
Der farblose Krieg.
Der Apparat des modernen Krieges ist das Werk
der seltensten Vollkommenheit. Die Technik des Zer-
störens ist der des Schaffens weit vorausgeeilt, die
Summe von Geist und Arbeit, die in Organisation
und Ausrüstung der Wehrmacht zum Ausdruck
kommt, hat kaum ihresgleichen im Bereiche der Kultur.
Besäße die Institution keinen praktischen Wert, als
vollendetes Produkt menschlichen Verstandes allein
müßte man ihr Daseinsberechtigung zusprechen. Ge-
rade diese kunstvollste und befriedigendste Schöpfung
des Geistes findet niemanden bereit, sie objektiv zu
würdigen, und jedes Urteil, das laut wird, ist von
irgend einem Zweckstandpunkt aus gesprochen. Nur
hier, wo Furcht und Argwohn dem Geiste keine Ruhe-
pausen gönnten und wo der Haß sein Ansporn war,
konnte ein so wundervolles Kompositum von Mensen
und Technik entstehen, das alle natürlichen Unzu-
länglichkeiten der Rasse zielbewußt zu korrigieren
scheint, Die Entwicklung der Kriegstechnik gestattet
unter anderem einen interessanten Schluß auf die dem
Menschen eigene Fähigkeit, zu hassen. Jene Geschöpfe,
die dem Haß am fernsten stehen, sind zweifellos die-
48
selben, bei denen sich jeder Keim von Wut und
Feindschaft sofort in Klauenhiebe und Bisse um-
setzen darf. Tiger und Schlangen sind gewiß die
gutartigsten Wesen, deren Inneres nichts von Feind-
seligkeit weiß. Den Haß kennt vermutlich die Taube
am besten. Kruppsche Kanonen und Stahlmantel-
geschosse konnten nur von einer hochentwickelten
Taubenart erfunden werden.
Bei der Verbesserung aller zum Kampfe dienenden
Mittel ist heute nur eine Stelle, die der Fortschritt
nicht berührte. Alles, Waffen, Kleidung, Vorschriften,
es wurde geändert, ist verstandesmäßiger, zweck-
dienlicher geworden. Nur eines blieb. Das sind die
altehrwürdigen Kriegs- und Schlachtgefühle, die
seelischen Monturstücke, die nun einmal zur Aus-
rüstung des Mannes zu gehören scheinen. Da
muß stets eine gewaltige Ration von Begeisterung
vorhanden sein, eine ansehnliche Menge von rühren-
den Gefühlen und schönen Überzeugungen, die alle
als unantastbar gelten wollen. Der moderne Krieger
schleppt noch immer den Glauben im Tornister
mit, für die bessere Sache zu kämpfen, Haus und
Herd, Weib und Kind zu verteidigen, für Symbole
aller Art zu streiten. Ja, er trägt so viele Fahnen,
daß fast die Gefahr vorhanden ist, er könne das Tragen
der Waffen vernachlässigen. Und allgemein herrscht
der Aberglaube, daß dieser eiserne Vorrat von Ge-
fühlen eben mitgeführt werden muß, um die Kampfes-
tüchtigkeit zu nähren. Das ist ein Irrtum. Dringend
würde sich schon heute eine zeitgemäßere, praktischere
Kriegsausrüstung für die Gemüter empfehlen; die
noch geltende ist für Säbel und Lanze, für Bailiste
und Sturmbock komponiert, sie paßt nicht mehr zum
Infanteriegewehr und zur Feldkanone M. 6. Was hat
die Begeisterung im modernen Kriege zu suchen ?
Als das Kriegführen noch im Dreinschlagen bestand,
da hatte sie ihren Zweck. Begeisterte Hiebe waren
stärkere Hiebe, die Begeisterung setzte sich in Arbeit
49 —
um, war nach Kilogrammetern zu messen. Sie be-
deutete ein Mehr an Kraft für die Armee und zwar
einer Kraft, deren Herstellung im Vergleich zu der
aus Fleisch und Konserven erheblich billiger war.
Aber heute? Soll der Mann mit Begeisterung zielen,
mit Begeisterung den Hahn drücken, begeistert
jede Deckung benützen? Das wäre durchaus
verfehlt und würde die Treffresultate bedeutend
vermindern. Und das eben ist die Lehre der Zeit für
den bürgerlichen Beruf und für jede erfolgreiche
Tätigkeit gewesen: Ruhe, Sachlichkeit, Pflichtgefühl.
Kein Rausch, kein Zuviel an Wollen und Versuchen
verspricht Erfolg. Die Zeiten des Affektes sind vor-
über, und wo immer ernste Arbeit geleistet wird,
wird sie nüchtern geleistet. Es ist ein schwerer
Fehler, der Kriegsarbeit eine Ausnahmsstellung zu-
zuweisen, auf die Errungenschaften von Nüchternheit
und Pflichtbewußtsein bei der Erziehung des Soldaten
zeitweise zu verzichten und den traditionellen Rauschzu-
stand anzustreben. Auch der Beruf des Krieges erfordert
heute jenen ganzen Mann, der seine Gedanken auf
ihn und nur auf ihn, nicht aber auf ideale Dinge
richtet, mögen diese nun an sich vorhanden und sehr
wertvoll sein oder nicht. Das bürgerliche Leben lehrt
die Erfüllung von Pflichten. Die großen Leistungen
unserer Zeit haben ihren Ursprung fernab von allen
Symbolen und aller Begeisterung in der Pflicht. Es
ist unsinnig, für den Krieg ein Gedankenreich zu
schaffen, wo die Pflichten an zweiter Stelle und
aller mögliche, ehrwürdige Hausrat an erster steht.
In jener ist der heute lebende Mensch zuhause,
hier hat er gelernt, seinen Mann zu stellen, und er
wird ihn im Kriege stellen, wenn er merkt, daß er
nicht plötzlich in fremden Regionen lebt, sondern es
mit nichts anderem zu tun hat, als mit der alten,
wohlbekannten, nüchternen Pflicht. Soll gerade die
Armee für das Zuviel an Nüchternheit in allen
andern Lebenskreisen schadlos halten? Überall sonst:
- 50 —
Zahlen, hier allein Gefühl. Mit einem Schlage steht
der Mann in einer andern Zeit. Die poetische Ein-
kleidung und der ganze Rausch, sie bergen die
große Gefahr eines Mißverständnisses in sich, das
folgenschwer werden kann. Sie könnten leicht zu der
Annahme verleiten, es genüge, Paradegefühle mit sich
zu führen, jene andere geistige Montur aber, die sonst
im Lebenskampf getragen wird, eben die der Pflicht,
sei nicht erforderlich für den Krieg. Nichts ist be-
denklicher, als dem Soldaten die Situation als fremd-
artig und ungewöhnlich darzustellen, den Krieg als
einen Ausnahmszustand, der neue und unerhörte An-
forderungen an ihn stellt. Krieg und Frieden dürften
ihm nicht als Gegensätze erscheinen, denn sie haben
das Gemeinsame der Arbeit für ihn. Es ist höchst
unnötig, ihn außer mit Musik auch noch mit Hoch-
gefühl marschieren zu lassen, weit wichtiger wäre
es, ihm zu Bewußtsein zu bringen, daß der Kampf
und die Selbstverteidigung keine Steuer sind, die
ihm eine Regierung auferlegte, daß diese Steuer
von alters her auf jedem lebenden Wesen lastet
und die Form, in der sie heute entrichtet werden
kann (Einschränkung auf die körperlich geeigneten
Personen und bei diesen auf eine bestimmte Anzahl
von Jahren) bereits eine der wertvollsten Errungen-
schaften des Staates, eine der wichtigsten Entlastungen
für seine Angehörigen bedeutet.
Man bemüht sich in der Regel einer Armee
Gutes nachzusagen, indem man ihre Gefühle lobt;
man vergißt dabei häufig genug ihren eigentlichen
Wert: die Arbeitsleistung, die von ihr repräsentiert
wird. Jahrzehntelang hat diese Organisation die
Arbeitsleistung von Hunderttausenden in sich auf-
genommen ; und ein Teil von diesen, der an Intelligenz
und Arbeitswilligkeit keiner anderen Gesellschaftsklasse
nachsteht, hat die Arbeitskraft des ganzen Lebens
in ihr niedergelegt. Diese ganze Summe einer ernsten
Arbeit der Jahrzehnte ist in der Armee auf
— 51 —
gespeichert. Wie kann es dazu kommen, daß man das
übersieht und plötzlich anfängt, Rauschzustände gegen
einander abzuwägen und nicht Arbeitswerte? Daß
man zum Beispiel die Möglichkeit erörtert, dieser stillen
Arbeit könnte durch eine andere, die sich geräusch-
voll und fieberhaft in wenigen Monaten vollzieht,
an der eine weit geringere Zahl von Menschen be-
teiligt ist, auch nur annähernd die Wage gehalten
werden ?
Eine solche kindliche Verkennung von Arbeits-
wert und Arbeitskraft wird sich diese Zeit nirgends
sonst zu Schulden kommen lassen, wo ihr die Arbeit
in einem minder bunten Gewände entgegentritt. Denn
diese Verkennung schließt ein heute beispielloses
Unverständnis für Arbeit und ihren Wert in sich.
Das eben ist die Folge des Fehlers, daß man den
Krieg und alles mit ihm Zusammenhängende gar
nicht im Lichte der Gegenwart sieht, sondern in
einem mystischen Dunkel vergangener Zeit, und daß
man, zögernd auch auf ihn die Lehren und das
Wissen unserer Zeit zu erstrecken, mit veralteten
Maßstäben an seine Beurteilung herangeht. Man mag
die Vergangenheit ungern schwinden sehen, mag die
bisherige Auffassung des Kriegswesens als letzten
Rest schönerer Zeiten bewundern, in denen die Er-
eignisse mehr Glanz und Farbe hatten. Wer heut
den Erfolg will, wird auch die Gesetze dieses Heute
studieren müssen. Die Bilderbogen des Krieges haben
sich stark verändert, seitdem in Europa die letzten
Schlachten geschlagen worden sind, es wäre an
der Zeit, auch an den psychologischen Bilderbogen,
die noch die alte Malerei tragen, die notwendigen
Korrekturen vorzunehmen.
Otto Soyka.
r,2
Anakr eontisch es Liedel.
Immer bleibst du, Wer du bist,
Nimm das Leben, wie es ist.
Wo du Rosen siehst im Garten,
Brich sie, und laß sie nicht warten.
Und im Sommervollmondschein
Laß dein Mädchen nicht allein.
Trinke in der Freundeskette,
Trink mit ihnen um die Wette,
Trinke bis ans Morgenrot,
Trinke bis an deinen Tod.
Diese Regeln sind nicht zierlich,
Aber auch nicht unmanierlich.
Jedenfalls, und das bleibt wahr,
Wer nicht bechert, bleibt ein Narr,
Wer nicht küßt Marie, Susann«,
Heute Bertha, morgen Anne,
Wer die Rosen läßt verwehn,
Eh er ihren Duft genossen,
Mag getrost zur Hölle gehn —
Denn der Himmel bleibt verschlossen
Allen denen, die auf Erden
Unbefriedigt müssen sterben.
Immer bleibst du, wer du bist,
Nimm das Leben, wie es ist.
Detlev von Liliencron.
58 —
Jugendromane.
Daß dem Esel Disteln besser schmecken, als
Himmelsschlüssel und Märzenbecher ist von seinem
Standpunkt durchaus begreiflich. Und wer sich von
eines Grautieres Geschmack die eigene Nahrung
ordinieren läßt, . . .
Der Yah-Ruf ist eine Kritik, aber er wird
immer auch zur Parole. Denn selbst die einsil-
bigste Dummheit muß noch nachgeahmt werden.
In dem Rezensentengeschrei ist letzthin ein ernst-
liches Widerstreben gegen Primeln und Märzenbecher
zum Ausdruck gekommen. Das graue Elend hat sich
gegen die Jugend gewehrt, die Kritik hat sich gegen
die Jugendromane ausgesprochen. Immer wieder müsse
man — Rezensenten sind auch »man« — diese
Dichter von der Jugend erzählen hören. In der ganzen
Literatur halle es von Kinderstubengeschrei, Knaben-
torheit und Entwicklungsschmerzen und ein besonders
Tiefer meinte, die Schuld daran liege wohl in der
mächtigen Bewegung unserer Tage »für das Kind«.
Wie viel wichtiger seien doch die Schicksale und
Kämpfe des Mannes und was dergleichen Stoßseufzer
nach den Disteln mehr waren.
Nichtsdestoweniger erdreistet sich die Kunst, nur
die Nahrung zu nehmen, die ihr zusagt. Das ist das
naive Problem des »Stoffes« in der Dichtung. Das
»Was« ist eine höchst persönliche, geheimnisvolle und
selbstverständliche Sache jedes Einzelnen, nur das
»Wie« entscheidet über sein Recht und Unrecht. Die
siegende Notwendigkeit macht die einzige Moral des
künstlerischen Zwanges aus. Es gibt keinen guten
oder schlechten Stoff der Poesie an sich. Und viel-
leicht war es die großartige Instinktgebundenheit der
Kunst, die uns zur Einsicht verhalf, daß es auch
keine an sich gute oder schlechte Handlung gibt,
54
sondern daß jede erst durch die Persönlichkeit ihr
Wertzeichen erhält. Die einzige Unsittlichkeit der
Kunst ist das vergebliche Wollen und erst beim frag-
würdigen Werke gibt es eine gerechte Frage nach
dem Stoffe.
Freilich enthält das Leben selbst, die Quelle und
Nahrung und Bedingung jedes Gestaltens, gewisse
«ich unmittelbar bietende Motive, deren Ergiebigkeit
unbedingt nach der schöpfenden Hand verlangt. Ver-
möge ihrer Sinnfälligkeit und Gegebenheit üben sie
den stärksten Reiz, aus ihrer typischen Masse
das Besondere, aus ihrer Allgemein Bedeutung das
Individuelle zu lösen.
Zu diesen ökumenischen Motiven gehören vor-
züglich die Probleme der Lebensalter selbst, die ganz
geheimnisvoll mit der Natur der dichterischen Formen
verwachsen sind. Schon in der äußerlichen Unter-
scheidung: Epos und Drama, erkennt man Unter-
schiede von Lebensstufen selbst. Der jedem Alter
innewohnende Rythmus, das jeweils veränderte Maß
von Instinkt und Bewußtheit bedingt diese Ausdrucks-
forraen. Die dialektische Gegensätzlichkeit des Lebens,
die dramatische Nötigung zum Austrag entspricht
dem Mannesalter. Das unendlich wechselnde Vorüber-
ziehen von Ereignissen und Figuren an den wahllos
aufnehmenden, lustvoll geduldigen Sinnen ist der
epischen Natur der Jugend gemäß.
Wie selbstverständlich, daß der epische Dichter
vor allem die epische Zeit erfaßt. Die Erlebnisse der
Jugend, das ungeheuere Anwachsen der Tag um
Tag sich steigernden Erscheinungswelt, die Macht
und Willkür ihrer Deutung, das Zusammendrängen
einer unermeßlichen Erfahrungsreihe in einen knapp-
sten Zeitraum, die allmähliche innere Erleuchtung
und Ordnung der Bilder zu Wesenheiten, Gliede-
rungen, Notwendigkeiten, dies alles ist eine so groß-
artige Gegebenheit des Schicksals, daß der Dichter
an der Betrachtung der Jugend des Weltgeschehens
55 -
selber und an der bewußten Nachschöpfung des Jugend-
erlebens des Maßes der Realitäten selbst inne wird.
Es ist der eigentliche Zauber des Epischen:
Alles menschliche Treiben und Getriebenwerden, Tun
und Leiden in seinem Neben- und Ineinander wird
freudig umfaßt und alles Dunkle, Grauen, Tod und
Chaos erscheint als lustvolle Buntheit. Die Konflikte,
und führten sie bis zur Vernichtung, erneuen sich in
unerschöpflicher Wiedergeburt, die Pein der Erfah-
rungen hat nur die freudige Folge immer wieder
erweckter Anschaulichkeit. Im Epos triumphiert alle
Vielstimmigkeit und Unverwüstlichkeit der Existenz.
Und dies alles ist Wesen und Vorrecht der Jugend.
Ihr allein ist die wunderbare Widerruflichkeit und
Wandelbarkeit der Anschauung und Wertung gegönnt,
nur von ihrer Schultafel wird jedes bittere Erkennen
hurtig ausgelöscht, während der nächste Eindruck
eine neue geduldige, reine Fläche findet, sich
darauf einzuzeichnen. Das treueste Gedächtnis ge-
hört dem flüchtigsten Gemüte an, welches aus
jeder Nahrung Gewinn zieht, aus Träumen Wahr-
heiten, Hoffnungen aus Enttäuschungen, Erfüllung
aus Verzichten, heiliges Ungenügen aus allem
Erreichten schöpft. Wenn es Sache des Dichters ist,
aus einer kleinen Wirklichkeit eine große, aus einem
Tropfen von Erlebnis ein Weltmeer von Inhalt, aus
einem gelegentlichen Eindruck eine Ewigkeit von
Stimmung, aus einem vereinzelten Samenkorn von
Geschehen einen Baumriesen von Schicksal er-
wachsen zulassen, so gehört all diese geniale Willkür
der Jugend zu, als der einzigen Epoche, wo jeder
Mensch, Freiheit, Unbewachtheit und Gesundheit
vorausgesetzt, sich schöpferisch, also genial bewährt.
So scheint die Jugend allein und unbedingt dem
Dichter inmitten der rationalen Dürre, auf die er-
wachende Frage nach seinem Wert und Sinn die
heitere Bejahung zurückzugeben, deren er bedarf.
In ihr findet er die geheimnisvolle Rechtfertigung
56
seiner Punktion, seine menschheitliche Billigung.
Ist dieses Alter der willkürlichen und selbstherrlichen
Wertungen um, so beginnt der törichteste Ernst des
Lebens, der das gewaltige Spiel des Schaffens um
seiner selbst willen zu nehmen unfähig, fordert statt
su empfangen und mit Nutzbarkeiten und Zwecken
durch das Inkommensurable pflügt.
Kein Lebensalter hat einen so weiten Horizont
wie die Jugend und keines hat wie sie die Flügel,
ihn ganz zu durchmessen. Dichtung und Dichter
werden in ihr eins und mit der Sehnsucht nach der
Jugend strebt die Seele des Schaffenden gleichsam
nach ihrem natürlichen Leibe, nach ihrer wesenhaften
Erfüllung zurück.
Nun ist das mit dem Namen »Jahrhundert des
Kindesc stigmatisierte Zeitalter freilich auf dem
besten Wege, der Jugend ihre Seele, der Dichtung
ihr Paradies zu verleiden. Das kindische Treiben der
Erwachsenen droht nachgerade mit einer Sentimen-
talität, die Rohheit und Dummheit selbst ist, das
Kindliche auszurotten, es beleuchtet elektrisch die
Märchendämmerung der Kinderstube und nötigt der
Phantasie innerer Gesichte seine eigenen Brillen auf,
durch welche die Jugend künstlerische Bilderbücher
zu würdigen bekommt. Dem geheimnisvollen Ringen
der Seele mit den drohenden Gewalten der Sprache
und der Wirklichkeit antwortet das idiotische Lallen
und Nachäffen der herablassenden Erwachsenheit,
welche den Schritt des Frühlings hygienisch gängelt
und die herrlichen Schluchten des Erlebens ebnet.
Human sollen die notwendigen Schrecknisse des
Heranwachsens vermieden, aus dem Urwald ein ärm-
licher Garten zugerodet und eine chinesische Mauer
vor die Unendlichkeit der Welt gebaut werden, s«
daß all die wahrhaften Ungeheuer, denen das Kind
allein mit dem gerechten Entsetzen der Intuition
gegenübersteht, zu kümmerlichen Popanzen ein-
dorren. Mit- und wehleidig verdirbt die reife Torheit
— 5.
das erhabene Grauen des Erlebens zum Ammen-
märchen und ist drauf und dran, aus der Geschichte
des menschlichen Daseins den ersten und letzten
Traum zu vertreiben. Die geistige Unzucht des
Rationalismus demokratisiert jene letzte sagenhafte
Welt der adeligen Kämpfe, Vorrechte und Freiheiten
und unterwirft sie der eklen Humanitätsfolter der
Bewußtheit, Zweckmäßigkeit und Spitalssterilität.
Welch ein Trost, daß es noch Bazillen gibt! Die
Bürgschaften der Hygiene breiten das graue Leichen-
tuch der Sekurität über ein kindisches Jahrhundert.
Sicherlich ist es ein Zeichen dieser Zeit, daß
die Jugend als epischer Urstoff noch einmal mit
solcher Vielstimmigkeit von allen Seiten her auf-
klingt, wie ein letzter Ruf, eine Frage des Schicksals.
Noch einmal wenden die Dichter ihren Blick nach
dem Morgenrot. Indessen weiden die Esel im Spitals-
garten und treten die letzten Primeln und Märzen-
becher als unnütze Gewächse mit Füßen.
Otto Stoessl.
Tagebuch.
Mir träumte neulich, die Völker Europas
wahrten ihre heiligsten Güter gegen die schwarz-
gelbe Gefahr.
Sollte man, bangend in der Schlachtordnung des
bürgerlichen Lebens, nicht die Gelegenheit ergreifen
und in den Krieg desertieren?
Es liegt nahe, für ein Vaterland zu sterben, in
welchem man nicht leben kann. Aber da würde ich
als Patriot den Selbstmord einer Niederlage vorziehen.
— F>8 —
Bildung ist das, was die meisten empfangen,
viele weitergeben und wenige haben.
*
Es kommt nur darauf an, sich zu konzentrieren,
dann findet man das Beste. Man kann aus dem
Kaffeesatz weissagen, ja man kann sogar im Anblick
einer Frau auf Gedanken kommen.
*
Über Zeit und Raum wird so geschrieben, als
ob es Dinge wären, die im praktischen Leben noch
nie eine Anwendung gefunden haben.
*
Philosophie ist oft nicht mehr als der Mut, in
einen Irrgarten einzutreten. Wer aber dann auch
die Eingangspforte vergißt, kann leicht in den Ruf
eines selbständigen Denkers kommen.
•
Wer von Berufswegen über die Gründe des
Seins nachdenkt, muß nicht einmal so viel zustande-
bringen, um seine Füße daran zu wärmen. Aber
beim Schuhflicken ist schon manch einer den Gründen
des Seins nahegekommen.
•
Moral ist die Tendenz, das Bad mit dem Kinde
auszuschütten.
*
Daß Hunger und Liebe die Wirtschaft der Welt
besorgen, will sie noch immer nicht rückhaltlos zu-
geben. Denn sie läßt wohl die Köchin das große Wort
führen, aber das Freudenmädchen nimmt sie bloß
als Aushilfsperson ins Haus.
*
Die Kinder würden es nicht verstehen, warum
die Erwachsenen sich gegen die Lust wehren; und
die Greise verstehen es wieder nicht.
— 59 —
Wenn sich die Sünde vorwagt, wird sie von
der Polizei verboten. Wenn sie sich verkriecht, wird
ihr ein Erlaubnisschein erteilt.
*
Ich kannte einen Don Juan der Enthaltsamkeit,
dessen Leporello nicht einmal imstande war, eine
Liste der unnahbaren Weiber zusammenzustellen.
*
Moderne Musik : Im weiten Reich der Melodien-
losigkeit ist es schwer, als Plagiator erkannt zu werden.
*'3
Wenn ein Denker mit der Aufstellung eines
Ideals beginnt, dann fühlt sich jeder gern getroffen.
Ich habe den Untermenschen beschrieben — wer
sollte da mitgehen?
•
Ein Gedankenstrich ist zumeist ein Strich durch
den Gedanken.
Als ich las, wie ein Nachahmer das Original
pries, war es mir, als ob eine Qualle an Land ge-
kommen wäre, um sich über den Aufenthalt im Ozean
günstig zu äußern.
Er hatte so eine Art, sich in den Hintergrund
zu drängen, daß es allgemein Ärgernis erregte.
•
Ich stelle mir vor, daß ein unvorsichtiger Kon-
si3torialrat bei der Liebe Pech hat und sich die
Masern zuzieht.
Als die Wohnungsmieter erfahren hatten, daß
die Hausbesitzerin eine Kupplerin sei, wollten sie
alle kündigen. Sie blieben aber im Hause, als jene
ihnen versicherte, daß sie ihr Geschäft verändert
habe und nur mehr Wucher treibe.
60
Der Skeptizismus hat sich vom »Que sais-je?<
bis zum »Weiß ich?« entwickelt.
Ein modernes Kind lacht den Vater aus, der
ihm von Drachen erzählt. Es ist notwendig, daß das
Gruseln ein obligater Gegenstand wird; sonst lernen
sie es nie.
Mit Leuten, die das Wort »effektiv« gebrauchen,
verkehre ich grundsätzlich nicht.
Es tut mir im Herzen weh, wenn ich sehe, daß
der Nutzen des Verrats an mir geringer ist als der
Schaden meiner Verbindung.
Wenn einer keine Jungfrau bekommen hat, ist
er ein gefallener Mann, er ist fürs ganze Leben
ruiniert und hat mindestens Anspruch auf Alimente.
Schein hat mehr Buchstaben als Sein.
Frage deinen Nächsten nur über Dinge, die du
selbst besser weißt. Dann könnte sein Rat wertvoll sein.
Ein Plagiator sollte den Autor hundertmal ab-
schreiben müssen.
•
Allerorten entflieht man dem Druck des
Philisteriums. Ich kannte eine, die heimlich vorn
Theater durchgegangen ist, um nachhause zu kommen.
Die Zerstörung Sodoms war ein Exempel. Man
wird durch alle Zeiten vor einem Erdbeben Sünden
begehen.
Der Teufel ist ein Optimist, wenn er glaubt,
daß er die Menschen schlechter machen kann.
61
Es muß einmal in der Welt eine unbefleckte
Empfängnis der Wollust gegeben haben!
Wer weiß, was bei uns zuhause vorgeht, wenn
niemand im Zimmer ist? Man kann freilich nicht
wissen, ob es Geister gibt. Denn sie sind eben in
dem Augenblick, wo das Wissen beginnt, auch schon
vertrieben.
Die Sprache sei die Wünschelrute, die gedankliche
Quellen findet.
*
Einer, der immer Aphorismen schreiben könnte
und sich in Aufsätzen zersplittern muß !
#
Der Ekel findet mich unerträglich. Aber wir
werden erst auseinandergehen, wenn auch ich von
ihm genug bekomme.
Karl Kraus.
Offener Brief an den Herausgeber der »Fackel*.
Ich habe schon immer das Bedürfnis gefühlt,
die tiefe Dankbarkeit, die mich gegen die , Fackel'
beseelt, auch einmal in der Öffentlichkeit auszusprechen.
Und ich hätte es schon längst getan, wenn nicht
Krankheit und widrige Umstände denen zu Hilfe
gekommen wären, die sich heute dazu beglück-
wünschen, Sie und Ihr Werk nunmehr zehn Jahre
lang treu und unverbrüchlich totgeschwiegen zu haben.
Freilich mag mancher der Gratulanten seufzen :
»Zehn Jahre totgeschwiegen und noch nicht tot!«...
62
Und es ertönt ein gellendes Schweigen an der voll-
besetzten Tafel der Reporter.
Ich aber, Herr Kraus, bitte Sie um Entschuldi-
gung, daß ich, wo jene schon zehn Jahre schweigen,
heute zum erstenmal über Ihre Sache rede.
Hier in der ,Packel' sind wir ja gottlob unter
uns. Und manchen, der im Wolfspelz hier hereinkam,
haben Sie, da er sich als Schaf entpuppte, wieder
hinausgetrieben. Die Luft ist also rein. Wir sind zu
Hause, und ich kann meine Gefühle äußern, ohne
fürchten zu müssen, daß ungebetene Gäste mich
hören. Und eine Fackel erleuchtet wie immer das
Transparent über unserer Türe — in deutlichen
Lettern erglänzt die liebe Inschrift: Odi profanum
vulgus et arceo . . .
Wie ich dieses Haus liebe! Wie von Herzen ich
es liebe! Erinnern Sie sich noch, wertgeschätzter
Freund, wie ich hier zum erstenmale Zuflucht fand? —
Es ist eine schwere Erinnerung . . .
Damals war es, als das deutsche Volk vor
Freude grunzte, weil es mit seinem Rüssel an gräf-
lichen Ehebetten schnuppern durfte. Und diese, schon
seit ihrer Gründung pensionsberechtigte Nation von
Militäranwärtern, Assistenten und anderen Dienstboten
erschauerte in Triumphgefühlen, als endlich ein
wirklicher Fürst ins Gefängnis geschleift wurde.
Wenn er auch schon halbtot war — es war ein Fürst,
ein Fürst. Und der demokratische Pöbel forderte, daß
das Gesetz alle gleich gemein behandle . . . Dank-
bar schlugen alle Herzen dem Harden entgegen.
Nie habe ich deutlicher empfunden, daß mir
Gott wohl will und daß ich von ihm besonders
begnadet bin. Denn gerade zu dieser Zeit, als ich
aufschluchzte vor Empörung über einen solchen An-
schlag gegen die Freiheit des Privatlebens und er-
glühte vor Scham, einer Nation anzugehören, die ihn
guthieß — gerade damals fand ich die ,Fackel*.
Das bedeutete wahrlich ein tiefes Erlebnis. Und
— 63 —
seitdem weiß ich Harden und dem deutschen Volk
Dank für die Schande.
Denn ein ungeheurer Ekel und Zorn waren die
stoffliche Vorbedingung zu einer so machtvollen
Polemik wie die es ist, die Sie, Karl Kraus, gegen
Harden geführt haben. In dieser Polemik wurde
die Vornehmheit Ihrer Gesinnung nur von der edlen
Kunst Ihrer Sprache übertroffen. In der Tat ist meine
Meinung, daß die deutsche Literatur keine polemische
Leistung aufzuweisen hat, die an künstlerischem
Werte der Ihrigen auch nur gleichkäme. Selbst
Schopenhauer hat, um von den welthistorischen
Sprachkünstlern zu reden, nicht besser polemisiert.
Das Entzücken, mit dem ich damals die ,Fackel' las,
war noch größer als meine Wut über die Kultur-
schmach der Deutschen.
Jemand, den Sie auch kennen und der Ihnen
während Ihrer Harden-Polemik auf eine noble Weise
Reverenz erwiesen hat, sagte mit Recht: wenn Sie der-
gleichen in Frankreich geschrieben hätten, wäre dieses
Land der geborenen Sprachkenner in Ekstase geraten.
In dieser Polemik offenbarte sich mir auch
deutlich Ihre einzigartige Stellung in der Literatur.
Die Literatur hat keinen Platz für das, was für den
Tag geschrieben wird. Sie haben über den Tag, gegen den
Tag geschrieben , niemals für den Tag. Die Aktualität war
Ihnen nie Selbstzweck ; Sie haben über die Aktualität
geschrieben, weil sie Ihren moralischen und künstleri-
schen Ewigkeitswerten auf eine Sie empörende Weise
widersprach. Was man für den Tag schreibt, vergeht;
auch wenn man dabei — was sehr selten ist — den Stoff
in eine gute Form meistert. Was man gegen den Tag
schreibt, besteht. Ihre Harden-Polemik, Ihre Schrift
über den Veith-Prozeß und soviel anderes gehören
zur Literatur und haben mit dem Journalismus nichts
gemeinsam. Dies für alle, die Sie etwa verwechseln
und Ihren Feldzug gegen den Journalismus entwerten
möchten.
64 —
Und nachdem ich Ihrem Kampf für die Sexual-
freiheit während der Prozesse des Harden mit so
inniger Freude beigewohnt hatte, habe ich allen Ihren
früheren Kämpfen nachgespürt.
Ich habe alle Jahrgänge der , Fackel' in einem
Zuge und mit steigender Dankbarkeit durchgelesen.
Man kann nicht sagen, daß mich der aktuelle Anlaß
zu Ihren Polemiken dabei gefesselt hätte; denn der
lag weit zurück und oft kannte ich ihn gar nicht.
Aber was Sie sagten, interessierte mich; denn ich
bewunderte, wie Sie es sagten.
Freilich, lieber Freund, müssen Sie mir erlauben,
Ihnen nicht nur meine ästhetische Freude auszu-
sprechen, sondern auch meine Sympathie im Sach-
lichen. Wenigstens in einer Beziehung müssen Sie
mir dies erlauben! Ich liebe die Frauen. Und von
gestern auf heut hat mir geträumt, daß mich alle
die Frauen, denen während der letzten zehn Jahre
die Schändlichkeit einer Sexualjustiz in Gericht und
Gesellschaft die Ehre abgesprochen hat, mich bitten,
Sie in ihrem Namen heute besonders herzlich zu
grüßen. Denn Sie allein haben die Ehre dieser armen
Opfer verteidigt. Es sind Frauen aus Gefängnissen
darunter. Seien Sie, Herr Kraus, ihnen gegenüber
nicht ein unerbittlicher Artist, dem die traurigen
Erlebnisse dieser Frauen nur Stoff zur künstleri-
schen Gestaltung waren 1 Seien Sie menschlich und
empfangen Sie ihre Grüße huldvoll! Und nehmen
Sie auch meine und die Glückwünsche einer Freundin,
die ihnen sagen läßt, daß Sie der ritterlichste Schrift-
steller sind, den sie jemals gelesen hat.
Ihr dankbarster Leser
Karl Borromaeus Heinrich.
München, Ende März 1909.
Herausgeber und verantwortlicher Redaktetir : Karl Kraus.
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3.
Doppel-Nlämmer (Preis 60 Heller)
Nr. 279 — 280. 13. Mai 1909 XI. Jahr
ie
Herausgeber:
KARL KRAUS
INHALT:
Tagebuch (Zehn Jahre. — Geselligkeit. —«Bildung. —
Stil. — Variete. — Eitelkeit). Von Karl Kraus. -
Nachts. Von Anton Tschechow. — Sprüche und
Widersprüche. — Reformen. Von Karl Kraus. —
Glossen. Von Karl Kraus. — Zur Dekade der
,Fackel'.
Erscheint in zwangloser Folge.
ichdruck und ,. 'näßiges Verleihen verboten ; gerichtliche
Verfolgung vorbehalten.
WIEN.
riap ,DIE FACKEL' III. Hintere ZoMstmtsstraSo 3.
KARL KRAVS
SPRVECHE
VND WIDER-
SPRVECHE
Verlag ALBERT LÄNGEN München
DURCH ALLE BÜCHHANDLUNGEN ODER DIREKT VOM VERLAG ZU BEZI- N
nnncrmroT M •) Kn IM IFINFW T.FR M d ^0 IN HAI.RFRANZ GEB. M 7.50
Die Fackel
Nr. 279-80 13. MAI 1909 XI. JAHR
Tagebuch.
Von Karl Kraus.
Als man dieser schnarchenden Gegenwart zurief,
daß einer zehn Jahre nicht geschlafen habe, legte
sie sich auf's andere Ohr.
Ich strebe inbrünstig nach jener seelischen
Kondition, in der ich, frei von aller Verantwortung,
die Dummheit der Welt als Schicksal empfinden werde.
Ich hoffe, daß der geistige Nährstoff der Ver-
zweiflung noch für ein elftes Jahr reicht.
Ich glaube nicht, daß irgendwann in der Welt
eine Fülle schändlicher Taten so viel sittliche Ent-
rüstung ausgelöst hat wie in der Stadt, in der icri
lebe, die Unverkäuflichkeit meines Denkens. Ich sah,
wie Menschen, denen ich nie etwas zuleide getan
hatte, bei meinem Anblick zerplatzten und sich in
die Atome der Weltbanalität auflösten. Das Weib
eines Redakteurs bestieg auf einem Bahnhof ein
Separatcoupe* erster Klasse, sah mich und starb mit
einem Fluch auf der Lippe. Und dies, weil ich keine
Freikarten auf Bahnen nehme, was doch wahrscheinlich
mein geringstes Verdienst ist. Leute, denen das Blut
träger fließt, spucken aus, wenn sie meiner ansichtig
werden, und gehen ihrer Wege. Sie alle sind Märtyrer;
sie stehen für die allgemeine Sache, sie wissen, daß
mein Angriff nicht ihrer Person gilt, sondern ihrer
aller Gesamtheit. Es ist der erste Fall, daß diese lahme
— 2 —
Gesellschaft, die ihre Knochensplitter in der Binde
trägt, sich zu einer Geste aufrafft. Seit Jahrhunderten
wurde nicht gespien, wenn ein Schriftsteller vorbei-
ging. Die Humanität läuft in Messina zusammen, die
Dummheit fühlt sich vor der , Fackel' solidarisch. Es
gibt keine Klassengegensätze, der nationale Hader
schweigt, und der Verein zur Abwehr des Anti-
semitismus kann beim Sprechen die Hände in den
Schoß legen. Ich sitze im Wirtshaus: rechts ein
Stammtisch von schlecht angezogenen Leuten, die in
der Nase bohren, also offenbar deutschvolkliche Ab-
geordnete sind; links wilde Männer mit schwarzen
Umhängebärten, die so aussehen, als ob der Glaube
an den Ritualmord doch eine Spur von Berechtigung
hätte, die aber bestimmt bloß Sozialpolitiker sind
und nur nach Schächterart das Messer durch den
Mund ziehen. Zwei Welten, zwischen denen es scheinbar
keine Verständigung gibt. Wotan undJehovah werfen
einander feindliche Blicke zu, — aber die Strahlen ihres
Hasses treffen sich in meiner Wenigkeit. Daß eine
österreichische Regierung noch nicht auf die Idee
verfallen ist, mich als ihr Programm zu reklamieren,
läßt sich nur aus der prinzipiellen Ratlosigkeit der
österreichischen Regierungen erklären.
Geselligkeit. Was mich zum Fluch der Gesell-
schaft macht, an deren Rain ich lebe, ist die Plötzlichkeit,
mit der sich Renommeen, Charaktere, Gehirne vor mir
enthüllen, ohnedaß ich sie entlarven muß. Jahrelang trägt
einer an seiner Bedeutung, bis ich ihn in einem un-
vorhergesehenen Augenblick entlaste. Ich lasse mich
täuschen, solange ich will. Menschen zu »durch-
schauenc ist nicht meine Sache, und ich stelle mich
gar nicht darauf ein. Aber eines Tages greift sich ein
Schwachkopf an die Stirn, weiß, wer er ist, und haßt
mich. Die Schwäche flieht vor mir und sagt, ich sei
unbeständig. Ich lasse die Gemütlichkeit gewähren,
— 3 —
weil sie mir nicht schaden kann; einmal, wenns um
ein ja oder nein geht, wird sie von selbst kaput.
Ich brauche nur irgendwann Recht zu haben, etwas
zu tun, was nach Charakter riecht, oder mich sonst-
wie verdächtig zu machen, und automatisch offen-
bart sich die Gesinnung. Wenn es wahr ist,
daß schlechte Beispiele gute Sitten verderben,
so gilt das in noch viel höherem Maße von den
guten Beispielen. Jeder, der die Kraft hat, Beispiel
zu sein, bringt seine Umgebung aus der Form,
und die guten Sitten, die den Lebensinhalt der
schlechten Gesellschaft bilden, sind immer in Gefahr,
verdorben zu werden. Die Ledernheit läßt sich mein
Temperament gefallen, solange es in akademischen
Grenzen bleibt; bewähre ich es aber an einer Tat,
so wird sie scheu und geht mir durch. Ich halte es
viel länger mit der Langweile aus, als sie mit mir.
Man sagt, ich sei unduldsam. Das Gegenteil ist der
Fall. Ich kann mit den ödesten Leuten verkehren,
ohne daß ich es spüre. Ich bin so sehr in jedem
Augenblick mit mir selbst beschäftigt, daß mir kein
Gespräch etwas anhaben kann. Die Geselligkeit ist
für die meisten ein Vollbad, in dem sie mit dem Kopf
untertauchen ; mir benetzt sie kaum den Fuß. Keine
Anekdote, keine Reiseerinnerung, keine Gabe aus dem
Schatzkästlein des Wissens, kurz, was die Leute so
als den Inbegriff der Unterhaltung verstehen, ver-
möchte mich in meiner inneren Tätigkeit aufzuhalten.
Schöpferische Kraft hat der Impotenz noch allezeit
mehr Unbehagen bereitet, als diese ihr. Daraus
erklärt sich, daß meine Gesellschaft so vielen Leuten
unerträglich wird, und daß sie nur aus einer übel
angebrachten Höflichkeit an meiner Seite ausharren.
Es wäre mir ein leichtes, solchen, die immerfort an-
geregt werden müssen, um sich' zu unterhalten, ent-
gegenzukommen. So ungebildet ich bin und so wahr
ich von Astronomie, Kontrapunkt und Buddhismus
weniger verstehe als ein neugeborenes Kind,
— 4
so wäre ich doch wohl imstande, durch geschickt
eingeworfene Fragen ein Interesse zu heucheln und
eine oberflächliche Kennerschaft zu bewähren, die
den Polyhistor mehr freut als ein Fachwissen, das
ihn beschämen könnte. Aber ich, der in seinem
ganzen Leben Bedürfnissen, die er nicht als geist-
fördernd erkennt, noch keinen Schritt entgegengetan
hat, erweise mich in solchen Situationen als voll-
endeten Flegel. Und nicht etwa als Flegel, der gähnt
— das wäre menschlich — , nein, als Flegel, der
denkt! Dabei verschmähe ich es, von meinen eigenen
Gaben dem Darbenden mitzuteilen, der vor seinen
Lesefrüchten Tantalusqualen leidet und in den
egyptischen Kornkammern des Wissens verhungern
muß. Hartherzig bis zur Versteinerung, mache ich
sogar schlechtere Witze als mir einfallen, und ver-
rate nichts von dem, was ich mir so zwischen zwei
Kaffeeschlucken in mein Notizbuch schreibe. Ein-
mal, in einem unbewachten Moment, wenn mir gerade
nichts einfallen wird und Gefahr besteht, daß die
Geselligkeit in mein Gehirn dringt, werde ich mich
erschießen.
*
Die geistige Anregung des Kindes besorgt die
Amme mit ihrem >guck,guck — da, da«. Erwachsenen
zeigt man etwas aus Kunst und Wissenschaft, damit
sie nicht schreien. Kinder singt man mit »Weißt du,
wieviel Sterne stehen« in den Schlaf. Erwachsene
beruhigen sich erst, wenn sie auch die Namen wissen
und die Entfernung der Kassiopeia von der Erde,
sowie daß diese nach der Gemahlin des äthiopischen
Königs Kepheus und der Mutter der Andromeda be-
nannt ist.
*
Es gehört zum guten Ton, über eine schlechte
Tat nicht zu sprechen. Wenn ein Lump dir die Ab-
sicht anvertraut, deinen Freund zu verraten, so ist
Diskretion Ehrensache.
— 5 —
Ein Zündhölzchen, das ich angezündet hatte,
gab einen großen Schein. Aber dann trat ichs aus,
>und wir saßen im Dunkeln«.
Es gibt Menschen, die es zeitlebens einem Bettler
nachtragen, daß sie ihm nichts gegeben haben.
Man sollte die Wohltätigkeit aus Weltanschauung
bekämpfen, nicht aus Geiz.
•
Die Schwäche, die den ohnmächtigen Drang
zur Schlechtigkeit hat, traut mir diese ohne weiteres
zu. Sie würde es nicht begreifen, wie man mit sol-
chen Mitteln so wenig Ehrgeiz verbinden kann. Ich
kannte einen betriebsamen Jungen, der durch Ver-
rat an mir vorwärts kommen wollte. Er verriet mich
aber schlecht und kompromittierte sich dabei so
sehr, daß ich ihm beim besten Willen nicht mehr
helfen konnte. Ich hätte ihn vielleicht in die ,Neue
Freie Presse' gebracht.
Von einer Fackel fällt hin und wieder etwas
ab. Ein Klümpchen Pech.
*
Ich betrachte es als mein unveräußerliches
Recht, das kleinste Schmutzstäubchen, das mich
berührt, in die Kunstform zu fassen, die mir beliebt.
Dieses Recht ist ein dürftiges Äquivalent gegenüber
dem Recht des Lesers, nicht zu lesen, was ihn
nicht interessiert.
•
Ich habe noch nie eine Person um ihretwillen
angegriffen, selbst dann nicht, wenn sie mit Namen
genannt war. Wäre ich ein Journalist, so würde ich
meinen Stolz darein setzen, einen König zu tadeln.
Da ich aber dem Gewimmel der Kärrner zu Leib
gehe, so ist es Größenwahn, wenn sich ein Einzelner
— 6
getroffen fühlt. Nenne ich einen, so geschieht es
nur, weil der Name die plastische Wirkung der
Satire erhöht. Meine Opfer sollten nach zehn Jahren
künstlerischer Arbeit so weit geschult sein, daß sie
das einsehen und das Lamentieren endlich aufgeben.
•
Das Verlangen, daß ein Satz zweimal gelesen
werde, weil erst dann Sinn und Schönheit aufgehen,
gilt für anmaßend oder hirnverbrannt. So weit hat
der Journalismus das Publikum gebracht. Es kann
sich unter der Kunst des Wortes nichts anderes vor-
stellen, als die Fähigkeit, eine Meinung deutlich zu
machen. Man schreibt »über« etwas. Die Anstreicher
haben den Geschmack an der Malerei noch nicht so
gründlich korrumpiert wie die Journalisten den Ge-
schmack am Schrifttum. Oder der Snobismus hilft
dort und bewahrt das Publikum davor, zuzugeben,
daß es auch am Gemälde nur den Vorgang erfasse.
Jeder Börsengalopin weiß heute, daß er anstands-
halber zwei Minuten vor einem Bilde stehen bleiben
muß. In Wahrheit ist er auch damit zufrieden, daß
über etwas gemalt, wird. Die Heuchelei, mit der
die Blinden von der Farbe reden, ist schlimm. Aber
schlimmer ist die Keckheit, mit der die Tauben die
Sprache als Instrument des Lärms reklamieren.
•
Wie komme ich dazu, der Kollege von Leuten
zu sein, die ohne inneren Beruf über Probleme des
Sexuallebens schreiben? Viel lieber nenne ich den
meinen Kollegen, der das schöpferische Geheimnis
der Cacaofabrikation erlebt!
•
Vielwisser dürften in dem Glauben leben, daß
es bei der Tischlerarbeit auf die Gewinnung von
Hobelspänen ankommt.
*
Stil. Man kann nicht leugnen , daß dem Schriftsteller
Bildung zustatten kommt. Wie schöne Gleichnisse lassen
— 7 —
sich nicht gestalten, wenn man die Termini der ver-
schiedenen Wissensgebiete bei der Hand hat ! Es kommt
also darauf an, sich dieses Material zu beschaffen.
Wahrlich, man braucht es fast so notwendig wie
Papier und Tinte. Aber haben Papier und Tinte einen
schöpferischen Anteil am Werk? Bin ich kein Schrift-
steller, wenn ich nicht die Vergleichswelten selbst
bereist habe? Bin ich nicht imstande, den Gedanken
durch Beziehung auf einen chemischen Vorgang
zu erhellen, weil ich diese Beziehung bloß ahne und
mir der Fachausdruck fehlt? Ich frage einen Ge-
lehrten oder ich frage ein Buch. Aber in solchem
Falle leistet auch das Fremdwörterbuch alle Dienste.
Eine Kennerschaft, die ich mir aus einem Fachwerk
holte, würde die künstlerische Fügung sprengen
und dem Schein der Erudition den Vorrang lassen.
Es wäre die hochstaplerische Erschleichung eines
Makels. Die Nahrung des Witzes ist eine landläufige
Ration von Kenntnissen. Es darf ihm nicht mehr vor-
gesetzt werden, als er verdauen kann, und unmäßiges
Wissen bringt die Kunst von Kräften. Sie setzt Fett
an. Nun gibt es Literaten, denen es eben darauf
ankommt. Ihnen ist die Bildung nicht Material,
sondern Selbstzweck. Sie wollen beweisen, daß sie
auch Chemiker sind, wenngleich sie es nicht sind;
denn Schriftsteller sind sie bestimmt nicht. Das
Material kann man sich beschaffen wie man will,
ohne der geistigen Ehrlichkeit etwas zu vergeben;
die schöpferische Arbeit besteht in seiner Ver-
wendung, in der Verknüpfung der Sphären, in der
Ahnung des Zusammenhanges. Wer schreibt, um
Bildung zu zeigen, muß Gedächtnis haben ; dann ist
er bloß ein Esel. Wenn er die Fachwissenschaft oder
den Zettelkasten benützt, ist er auch ein Schwindler.
Ich kenne einen Publizisten, der sich lieber die fünf
Schreibefinger abhacken ließe, ehe er in einem politi-
schen Leitartikel, der jene dürrste Tatsächlichkeit
der Welt behandelt, die der Welt leider unentbehrlich
— 8 —
ist, das Wort » Balkan wirren« gebrauchte. Er muß
>Hämuskomödie« sagen. Und solche Geistesschweinerei
findet im heutigen Deutschland Anklang! Eine typische
Figur der Lokalchronik ist jener »Unhold«, der vor
Schulen den herausstömenden Mädchen Dinge zeigt,
die sie in diesem Alter noch nicht sehen sollen. Was
bedeutet aber seine Schädlichkeit gegenüber einem
Treiben, mit dem die Schulweisheit vor dem Leben
exhibitioniert? Die unerhörte Zumutung, uns bei Be-
sprechung der verworrensten Balkanfragen auch noch
in die klassische Geographie verwickeln zu lassen,
empfinden heute die wenigsten als Plage. Wäre es selbst
kein Defekt, mit dem hier geprotzt wird, wäre der An-
blick der Elephantiasis eines Gedächtnisses nicht ab-
scheuerregend, so bliebe der Zustand noch immer als
jene ästhetisierende Sucht beklagenswert, die der Fluch
unserer Tage ist. Denn die Erörterung von Balkan-
wirren ist eine Angelegenheit des täglichen Haus-
brauches und hat mit der Kunst, also auch mit der
Literatur als der Kunst des Wortes, nicht das geringste
zu schaffen. Der Verschweinung des praktischen
Lebens durch das Ornament, wie sie Adolf Loos
nachgewiesen hat, entspricht jene Durchsetzung des
Journalismus mit Geistelementen, die zu einer kata-
strophalen Verwirrung führt. Die Phrase ist das
Ornament des Geistes. Anstatt nun die Presse geistig
trocken zu legen und die Säfte wieder der Literatur
zuzuführen, aus. der sie »gepresst«, der sie erpreßt
wurden, steuert die demokratische Welt auf eine Reno-
vierung des geistigen Zierrats hin. Die Phrase wird
nicht abgeschafft, sondern in den Wiener Werkstätten
des Geistes modernisiert. Feuilleton, Stimmungs-
bericht, Schinucknotiz — dem Pöbel bringt die Devise
»Schmücke dein Heim!« auch die geistigen Schnörkel
ins Haus. Ein halbes Jahrhundert lebten sie von
Heine, aber dieser Zauberer, der der Talentlosigkeit
zum Talent verhalf, steht nicht zu hoch über der
Entwicklung, die er verschuldet hat. Jetzt münzen
— 9
sie Peter Altenberg in Zeilenhonorar um, ohne daß er
etwas davon hat. Ein Ornamentiker auf eigene Faust
lebt in Berlin; wenn er seinen Namen nennen soll,
sagt er schlicht: »Der im Grunewald«. Geboren ist
er nicht im Mai, sondern »unterm Weidemond«. Sein
Kampf gilt nicht dem Kaiser, sondern einem »Zollern-
sproß«. Der nicht in Korfu manchmal weilt, sondern
in Korypho. Als Politiker ist unser Mann kein
Chamäleon, sondern er gleicht dem »Tier mit den zwei
Pigmentschichten unter der Chagrinhaut«. Er ent-
hüllt nicht das homosexuelle Vorleben seiner Gegner,
sondern er »spreitet die Spinatgartenschande aus«;
aber seine Gegner haben es sich selbst zuzuschreiben,
denn sie haben zwar nicht den Verdacht päderasti-
schen Umgangs erregt, aber der »Ruch der Männer-
minne haftet an ihnen«. Sein Rechtsanwalt, der einfach
Bernstein heißt, kehrt nach dem Prozeß nicht nach
München zurück, sondern »der Antaios ringt wieder
auf heimischem Boden«. Sonst ist aus dem Leben
unseres Künstlers noch zu erzählen, daß er Karls-
ruhe nicht kennt, wohl aber die »Fächerstraßen-
stadt«; das Schauspiel »Frühlingserwachen« noch nicht
gelesen hat, aber den »Lenzmimus«, dessen Inhalt
»das Männern der Knaben, das Böckeln der Mädchen«
ist; Sherlock Holmes nicht auf der Bühne gesehen
hat, aber den »Rampendoyle« kennt; Hurenwohnungen
meidet, aber ein »Tarifeden« empfiehlt; von der Existenz
Shakespeares nichts weiß, aber den »braven Bill« zitiert;
die Sitte des Interviews mißbilligt, aber »der Interview«
das Wort spricht ; und zuguterletzt die Balkanwirren
ignoriert und dafür die »Härauskomödie« beachtet.
Soeben hören wir seinen Ausruf: »Freut euch und
strählt die Miauzer!« Welche Sprache ist das?
Er will sagen, Matkowsky, der letzte Löwe sei tot,
die anderen seien bloß Katzen. »Streichelt eure
Katzen!« dem Publikum zuzurufen, dazu langt das
Temperament nicht; darum muß das Ornament helfen.
»Strählt die Miauzer!« Es könnte als Schlagwort
- 10 —
bleiben. Ein stilistischer Miauzer preist die Löwen-
kraft, ein Artist literarischer Mätzchen beschreibt die
Urgewalt des größten Tragöden, ein publizistischer
Kainz beklagt den Tod Matkowskys. Nun, sein
eigentlicher Beruf ist ein sozialer: er will die
Reichsfassade reinfegen. Aber sein Arbeitskittel
ist ein wallendes Gewand, das ein Van de Velde
entworfen hat, der Besen ist von Olbrich und
die Hände tragen Schmuck von Lalique. Da geht
denn die Arbeit nur schwer vonstatten, und sie
gleicht eigentlich auch mehr jenem langwierigen
Gastmahl des Trimalchio, in dessen Beschreibung es
heißt: »Nun folgte ein Gang, welcher unserer Er-
wartung nicht entsprach; doch zogerdurch seineNeuheit
aller Augen auf sich«. Da gab es »einen runden Aufsatz,
in welchem die zwölf himmlischen Zeichen in einem
Kreis geordnet waren, auf deren jedes der Künstler
eine Speise gelegt hatte, die ihm zukam«. Da
gab es »einen Mischmasch von einem Spanferkel und
anderem Fleische, und einen Hasen mit Flügeln,
damit er dem Pegasus gleiche«. Und »in den Ecken des
Aufsatzes vier Faune, aus deren Schläuchen Brühe,
welche aus den Eingeweiden verschiedener Fische
wohl zubereitet war, auf die Fische herunterfloß, die
in einem Meeresstrudel schwammen«. Dazu erscholl
eine Symphonie, und in der Mitte der Tafel stand ein
gebackener Priap, der mit allerlei Arten von Obst und
Trauben verziert war. Die Kuchen gössen einen
balsamischen Duft aus und die Gäste »glaubten, daß
etwas Heiliges darunter verborgen sei«, erhoben sich
»und wünschten Glück dem erhabenen Vater des
Vaterlandes«. Stimmt alles. Von dem Koch aber hieß
es, er sei der kostbarste Kerl von der Welt. »Wenn ihr
es verlangt, so macht er aus einem Saumagen einen
Fisch, aus Speck einen Baum, aus dem Schinken
eine Turteltaube, aus den Eingeweiden eine Henne«.
Heiliger Petronius — so arbeiten die Ornamentiker aller
Zeiten und aller Gebiete! Und wir haben heute in
— 11
Deutschland eine geistige Küche, von deren Erzeug-
nissen das Auge satt wird. Ein Bildungskünstler
preßt die Leckerbissen von zehn Welten in eine
Wurst . . . Nun muß gesagt sein, daß diese Art, das
Leben zu umschreiben oder um das Leben herumzu-
schreiben, immerhin einer Anschauung dienen könnte.
Diese Umständlichkeit wäre Verkürzung oder die
Verkürzung wäre sinnvoll, wenn die für die Dinge
gesetzten Chiffren zugleich den Inhalt brächten, der
von den Dingen ausgesagt werden soll, oder die Be-
ziehung, in welche die Dinge gestellt werden sollen.
Es ist also erträglich zu lesen, daß einem Schau-
spieler die Darstellung des >Junkers von Corioli«
oder von »Kleopatras müdem Freund* gelungen sei.
Das Ornament ist hier ein Mittel, nicht ein Zweck.
Aber dann ist es eben eine Krücke, die vorwärts
bringt, und die Plastik, die der Autor erreicht,
bleibt doch immer die Plastik einer Geschwulst.
Die gehobene Sprache hebt den Sinn, den das
Temperament zu heben nicht imstande war. Die
Schönheit geht freilich flöten, wenn das Pathos sich
zu einer Telegrammadresse wie »Rampendoyle« oder
»Tarifeden« zusammenballt oder in einer ausführ-
licheren Geheimschrift verästelt, deren DechirTrierung
den Leser zwar reizt, aber nicht befriedigt. Niemand
wird dem Autor die Lückenlosigkeit seiner Technik
bestreiten und die Pleckenlosigkeit seines Materials.
Aber den durchaus artifiziellen Charakter dieser Ge-
staltung enthüllt er selbst, wenn er die Feder hinlegt,
um den Mund aufzumachen. Kostüm und Schmuck
sind abgetan, die Hieratik ist zum Teufel, und fern
aller Weitwendigkeit spricht ein Agitator, der alle
Pfiffe des Metiers kennt, wie dem zuhörerden Pack
der Schnabel gewachsen ist. Der eben noch an
der sprachlichen Beulenpest darniederla^, steht
gesund vor uns, freut sich und — streichelt die
Katzen. Der kostbarste Kerl von der Welt;
am andern Tag macht er wieder aus einem Sau-
— 12 —
magen einen Fisch und preßt die Leckerbissen
von zehn Welten in eine Wurst , . . Ach, meinem
Stil wird zum Vorwurf gemacht, daß sich hart im
Räume die Gedanken stoßen, während die Sachen
doch so leicht bei einander wohnen. Und wer von mir
Aufschluß über die Sachen erwartet, hat sicherlich
recht, aus dem Gedankenpferch zu fliehen. Verweilt er
aber, um ihn zu besehen, so wird er eine Architektonik
gewahren, in der um keine Linie zu viel, um keinen
Stein zu wenig ist. Man muß nachdenken; das ist
eine harte Forderung, meist unerfüllbar. Aber die For-
derung, die der Berliner Bildungsornamentiker stellt, ist
bloß lächerlich : man muß Spezialist in allen Fächern
sein oder zum Verständnis eines Satzes zehn Bände
eines Konversationslexikons wälzen. Der eine schlägt
auf den Fels der nüchternsten Prosa, und Gedanken
brechen hervor. Der andere schwelgt im Z er-
garten seiner Lesefrüchte und in der üppigen
Vegetation seiner Tropen. Hätte ich mein Leben
damit verbracht, mir die Bildung anzueignen, die
jener zu haben vorgibt, ich wüßte vor lauter Hilfs-
quellen nicht, wie ich mir helfen soll. Ein Kopf, ein
Schreibzeug und ein Fremdwörterbuch — wer mehr
braucht, hat den Kopf nicht nötig 1
• ■
Variete. Der Humor der Knockabouts ist heute
der einzige Humor von Weltanschauung. Weil er
tieferen Grund hat, scheint er grundlos zu sein wie
die Aktion, die er bietet. Grundlos ist das Lachen, das
er in unserer Region auslöst. Wenn ein Mensch plötz-
lich auf allen Vieren liegt, so ist es eine primitive
Kontrastwirkung, der sich schlichte Gemüter nicht
entziehen können. Bin feineres Verständnis setzt
schon die Darstellung eines Zeremonienmeisters voraus,
der auf dem Parkett hinplumpst. Es wäre die ad
absurdum-Führung der Würde, der Umständlichkeit,
des dekorativen Lebens. Diesen Humor zu verstehen,
bietet die mitteleuropäische Kultur alle Voraus-
13
setzung. Der Humor der Clowns hat hier keine
Wurzel. Wenn sie einander auf den Bauch springen,
so kann bloß die Komik der veränderten Lage,
des unvorhergesehenen Malheurs verfangen. Aber
der amerikanische Humor ist die ad absurdum-Führung
eines Lebens, in dem der Mensch Maschine geworden
ist. Der Verkehr spielt sich ohne Hindernisse ab;
darum ist es plausibel, daß einer zum Fenster herein-
geflogen kommt und zur Tür wieder hinausgeworfen
wird, die er gleich mitnimmt. Das Leben ist eben un-
gemein vereinfacht. Da der Komfort das oberste Prinzip
ist, so versteht es sich von selbst, daß man Bier
haben kann, wenn man einen Menschen anzapft
und ein Gefäß unter die Öffnung hält. Die Leute
schlagen einander mit der Hacke auf den Schädel
und fragen zartfühlend: Haben Sie das bemerkt? Es
ist ein unaufhörliches Gemetzel der Maschinen, bei
dem kein Blut fließt. Das Leben hat einen Humor,
der über Leichen geht, ohne wehzutun. Warum diese
Gewalttätigkeit? Sie ist bloß eine Kraftprobe auf
die Bequemlichkeit. Man drückt auf einen Knopf,
und ein Hausknecht stirbt. Was lästig ist, wird
aus dem Weg geräumt. Balken biegen sich
auf Wunsch, alles geht flott von statten, müßig
ist keiner. Nur ein Papierschnitzel will auf einmal
nicht parieren. E3 bleibt nicht liegen, wenn man es
der Bequemlichkeit halber hingeworfen hat, es geht
immer wieder in die Höhe. Das ist ärgerlich, und
man sieht sich gezwungen, es mit dem Hammer
zu bearbeiten. Noch immer zuckt es. Man will es
erschießen. Man sprengt es mit Dynamit. Ein uner-
hörter Apparat wird aufgeboten, um es zu beruhigen.
Das Leben ist furchtbar kompliziert geworden.
Schließlich geht alles drunter und drüber, weil irgend
ein Ding in der Natur sich dem System nicht fügen
wollte . . . Vielleicht ein Fetzen Sentimentalität, den
ein Defraudant aus Europa herübergebracht hatte.
— 14
Mit Unlust sieht man zwischen den Produktionen
der Knockabouts den Humor einer neuwienerischen
Operette sich breitmachen. Da wird wieder einmal
die Langweiligkeit der englischen Nation entlarvt.
Den reisenden Engländer läßt die kulturelle Über-
legenheit unseres schieberischen Temperaments noch
immer nicht ungeschoren. Mit einem »au jes« ist
der Fall erledigt. Auch diese Auffassung hat
ihren tieferen Grund. >Geh'ns, seins net fad!« sagt
nämlich der Wiener zu jedem, der sich in seiner
Gesellschaft langweilt. Der reisende Engländer sieht
so aus: er langweilt sich und verleugnet auch in
Wien seine guten Manieren nicht.
Eitelkeit, Eine der verblüffendsten Entdeckun-
gen, die uns das neue Jahrhundert gebracht hat, istzwei-
fellos die, daß ich in der , Fackel' öfter von mir selbst
spreche, und sie wird mir mit einer der tiefsten Erkennt-
nisse unter die Nase gehalten, die die Weisheit kon-
templativer Seelen je geschöpft hat, daß nämlich der
Mensch bescheiden sein müsse. Manche wollen sogar
herausgefunden habeu, daß ich den Essay von Robert
Seh. über zehn Jahre , Fackel* »in meinem eigenen
Blatte« verölfentlicht habe. Das habe ich allerdings
bis zum Augenblick des Erscheinens nicht bedacht
und ich muß nun, überdies von der Korrektheit
darauf aufmerksam gemacht, zugeben, daß es wahr
ist. Die Entdeckung der Eitelkeit hat zwar noch nie
ein Schriftsteller seinem Leser leichter gemacht als
ich. Denn wenn dieser es selbst nicht merkte, daß
ich eitel bin, so ertuhr er es doch aus meinen wieder-
holten Geständnissen der Eitelkeit und aus der
rückhaltlosen Glorifizierung, die ich diesem Laster
zuteil werden ließ. Die lächelnde Informiertheit, die
eine Achillesferse entdeckt, wird also an einer Be-
wußtheit zuschanden, die sie schon vorher freiwillig
entblößt hat. Aber ich kapituliere. Wenn der banalste
Einwand gegen mich auch zum zehnten Jahr meiner
15 —
Unbelehrbarkeit erhoben wird, dann hilft keine Replik.
Ich kann pergamentenen Herzen nicht das Gefühl
für die Notwehr, in der ich lebe, einflößen, für das
Sonderrecht einer neuen publizistischen Form und
für die Übereinstimmung dieses scheinbaren Eigen-
interesses mit den allgemeinen Zielen meines Wirkens.
Sie können es nicht verstehen, daß, wer mit einer
Sache verschmolzen ist, immer zur Sache spricht
und am meisten, wenn er von sich spricht. Sie
können es nicht verstehen, daß, was sie Eitelkeit
nennen, jene nie beruhigte Bescheidenheit ist,
die sich am eigenen Maße prüft und das Maß
an sich, jener demütige Wille zur Steigerung, der
sich dem unerbittlichsten Urteil unterwirft, das stets
sein eigenes ist. Eitel im üblen Sinn wäre eine Frau,
die nie in den Spiegel schaut. Bespiegolung ist
der Schönheit so unerläßlich wie dem Geist. Die
Welt hat aber nur eine psychologische Norm für
zwei Geschlechter und verwechselt die Eitelkeit eines
Kopfes, die sich im künstlerischen Schaffen erregt
und befriedigt, mit der geckischen Sorgfalt, die an
einer Frisur arbeitet. Aber ist jene im gesellschaft-
lichen Verkehr nicht stumm? Sie kann dem Neben-
menschen unmöglich so auf die Nerven fallen wie die
Bescheidenheit der reproduzierenden Geister, solcher,
deren Gedächtnis die Aussprüche berühmter Zeit-
genossen aufbewahrt und auch jener Altvordern seit
Plinius dem Älteren, die ein gutes Gedächtnis immer-
dar zu persönlichen Bekannten macht.
•
Meine Feinde sind seit zehn Jahren auf der
Motivensuche. Entweder handle ich so, weil ich das
Butterbrot nicht bekam, oder wiewohl ich es bekom-
men habe. Daß ein Butterbrot mitspielt, darüber
herrscht kein Zweifel; nur bleibt zwischen Rach-
sucht und Undankbarkeit die Wahl. Daß eine Tat
nicht aus beiden Motiven zugleich entspringen kann,
bereitet meinen Feinden eine große Unbequemlich-
16 —
keit. Aber wie gern gebe ich beide auf einmal zu,
wenn ich damit nur der niederschmetternden Frage
entrinne, die das Wohlwollen an mich richtet:
> Sagen Sie mir, ich bitt' Sie, was haben Sie gegen
den Benedikt ?«
*
Ich kann mir denken, daß eine häßliche Frau,
die in den Spiegel schaut, der Überzeugung ist, das
Spiegelbild sei häßlich, nicht sie selbst. So sieht die
Gesellschaft ihre Gemeinheit in einem Spiegel und
glaubt aus Dummheit, daß ich der gemeine Kerl bin.
(Nachdruck verboten.)
Nachts.
Von Anton Tschechow.
Erste Übersetzung von Paul Barchan.
Nur noch die trüben Lichter des eben verlassenen Hafens,
nur der pechschwarze Himmel waren noch sichtbar. Es blies ein
kalter, feuchter Wind. Er schlug uns ins Qesicht und drang durch
die Kleider. Wir erwarteten einen Regen und mußten uns wun-
dern, wo er nur bleiben mochte. Wir fühlten über uns die
schwarzen Wolken, fühlten deren Bestreben, ihr ganzes Wasser
auf uns zu entladen, und uns war schwül trotz des Windes und
der Kälte. Unser Dampfschiff schaukelte.
Wir Matrosen waren in unserer Kajüte versammelt und
losten. Unter dem Heulen des Windes und dem Klappern der
Maschine erscholl das laute, trunkene Lachen unserer Brüderschaft.
Ein leises Beben durchrieselte mich vom Scheitel bis zur
Sohle, gleichsam als wäre in meinem Hinterhaupte ein Loch, aus
dem sich feiner kalter Schrot den nackten Körper hinunter ergoß.
Ich zitterte vor Kälte, aber auch aus anderen Gründen, von denen
ich hier erzählen will.
Der Mensch ist überhaupt gemein, und der Matrose ist,
offen gestanden, noch gemeiner als der Mensch, gemeiner als das
— 17
gemeinste Tier, das doch schließlich die Rechtfertigung hat, daß
es nur seinem Instinkte gehorcht.
Vielleicht übertreibe ich. Doch scheint es mir, der Matro e
hat mehr Qrund, sich zu hassen, auf sich zu schimpfen, als dr.s
Tier. Der Mensch, der jeden Augenblick vom Mast stürzen, der
auf immer und ewig hinter einer hohen Welle verschwinden
kann, der nur dann Gott kennt, wenn er ertrinkt oder wenn er
kopfüber hinunterstürzt, solch einer vermißt nichts, noch bedauert
er etwas, was er auf dem Festlande zurückgelassen. Wir trinken
Branntwein, da wir nicht wissen, warum wir nüchtern sein sollen,
führen ein liederliches Leben, da wir nicht wissen, was uns auf
dem Meere die Tugend nützen sollte.
Nun, ich will fortfahren.
Wir losten untereinander. Unser aller, die wir gerade keinen
Dienst hatten, waren sechzehn. Von diesen aber konnte nur
zweien das Glück zuteil werden, solch ein seltenes Schauspiel zu
genießen.
Die Kajüte »für Neuvermählte* nämlich, die unser Schiff
besaß, hatte für diese Nacht Passagiere . . . Und die Wände
dieser Kajüte hatten nur zwei Spalten, über die wir verfügen
konnten. Die eine hatte ich selbst mit einer dünnen Feile ausge-
feilt, nachdem ich die Wand mit einem Pfropfenzieher durch-
bohrt, die andere hatte einer meiner Kameraden mit einem Messer
geschnitten, und wir beide hatten daran eine Woche zu arbeiten.
>Die eine bekommst du!«
»Wer?«
Man wies auf mich.
»Und die andere?«
»Dein Vater!«
Mein Vater, ein alter buckliger Matrose, mit einem Gesicht,
das aussah wie ein gebackener Apfel, trat an mich heran und
k'opfte mich auf die Schulter.
»Was, Bengel, heute sind wir beide die Glückspilze,«
sprach -»r zu mjr > Hörst du, Bengel? Du und ich gleichzeitig!
Das laß im, mir gefallen!«
Er frag« mjcn ungeduldig nach der Uhr. Es war erst elf.
Es begann ,<ark zu regnen icn ging aufs Deck und begann
aufs Meer hinauszub..,^ Es war dunkel. Aber in meinen Augen
— 18 —
mag sich all das widergespiegelt haben, was auf dem Grunde
meiner Seele vorging: auf dem schwarzen Hintergrunde der
Nacht nahm ich Bilder wahr und erblickte das, was ich in
meinem Leben so sehr entbehrt, in meinem jungen, verfehlten Leben.
Gegen zwölf Uhr ging ich vor der gemeinsamen Kajüte
auf und ab und blickte durch die Türe. Der Neuvermählte, ein
junger Pastor mit einem schönen blonden Kopfe, saß am Tische
und hielt das Evangelium in der Hand. Er erklärte etwas einer
hageren Engländerin. Die Neuvermählte aber, jung, schlank,
bildschön, saß neben ihrem Manne und wandte kein Auge von
dem blonden Kopfe ihres Mannes. Wie soll ich ihr Gesicht be-
schreiben ! Es erschien mir überirdisch. In der Kajüte ging der Bankier
auf und ab, ein hoher, starker, alter Engländer mit einem roten,
widerlichen Gesicht. Dies war der Mann der alten Dame, mit der
der Neuvermählte sich unterhielt.
>Die Pastoren haben die Gewohnheit, sich stundenlang zu
unterhalten«, dachte ich. >Das wird so bis zum Morgen kein
Ende nehmen.«
Gegen eins kam mein Vater zu mir, zupfte mich am
Ärmel und sagte:
»Na, endlich. Da sind sie herausgegangen.«
Ich wurde im Augenblick munter und trat an die bekannte
Wand . . .
Zwischen dieser Wand und der Schiffswand war ein
Zwischenraum, voll mit Ruß, Wasser und Ratten. Bald hörte ich
die schweren Schritte meines Vaters. Er stolperte über die Säcke
und Kisten und schimpfte.
Ich tastete nach meiner Öffnung und zog daraus ein vier-
eckiges Stück Holz, woran ich so lange gesägt hatte. Ich erblickte
dünnen, durchscheinenden Mousselin, durch den ein weiches
Licht schimmerte. Und zusammen mit dem Lichte drang zu mir ein
schwüler, sehr angenehmer Geruch. Das war wahrscheinlich de'
Duft aristokratischer Schlafgemächer. Um aber das Schlafzimmer
zu überblicken, mußte man mit beiden Händen den M^sseh'n
zur Seite schieben, was ich auch sofort tat.
Ich erblickte Bronze, Sammet, Spitzen uud üH' alles ergoß
sich das zarte Licht. Anderthalb Faden von -einem Gesichte
stand das Bett.
19
»Laß mir deinen Platz !« sagte mein Vater, mich ungeduldig
in die Seite puffend. »Bei dir sieht man besser. Du hast bessere
Augen als ich. Und für dich ist es ganz egal, ob du aus der Höhe
oder aus der Ferne zusiehst.«
»Still !< sagte ich, »mach keinen Lärm, man kann uns hören !<
Die junge Frau saß am Rande des Bettes und ließ ihre
kleinen Fiißchen auf das Tigerfell herabhängen. Sie blickte zur
Erde. Vor ihr stand ihr Mann, der junge Pastor. Er sprach zu ihr.
Was er aber gesprochen, das weiß ich nicht. Denn bei diesem
Heulen des Windes und Lärm des Dampfers konnte man nichts
hören. Er sprach mit Feuer, gestikulierend, mit blitzenden Augen.
Sie hörte zu und schüttelte verneinend den Kopf.
»Die werden so bis zum Morgen reden. Hol sie die Pest!«
brummte mein Vater.
Ich drückte die Brust fester an die Wand, als fürchtete ich,
das Herz könnte mir herausspringen. Mein Kopf brannte . . .
Das junge Ehepaar sprach lange. Der Pastor kniete schließ-
lich nieder und begann, sie mit ausgestreckten Armen anzuflehen.
Sie schüttelte verneinend den Kopf. Da sprang er auf und begann
im Zimmer auf und ab zu gehen. An dem Ausdruck seines Ge-
sichtes, an der Bewegung der Hände erriet ich, daß er drohte.
Die junge Fiau stand auf, ging langsam an die Wand, wo
ich stand, und blieb gerade meiner Öffnung gegenüber stehen. Sie
rang verzweifelt die Hände, und ich verschlang ihr Gesicht mit
den Blicken. Ich las auf ihrem Gesichte — wenn nur solch ein
grober, steinerner Mensch imstande ist, auf Gesichtern zu lesen,
auf solch schönen Gesichtern. Mir schien, daß sie leidet, mit sich
kämpft, schwankt, aber gleichzeitig lag in ihren Augen Zorn. Ich
begriff nichts.
Gegen fünf Minuten standen wir so. Angesicht gegen An-
gesicht. Darauf ging sie weg, blieb in der Mitte der Kajüte stehen
und nickte dem Pastor mit dem Kopfe zum Zeichen ihrer Ein-
willigung. Dieser lächelte freudig, küßte ihr die Hand und eilte
aus der Schlafkajüte.
Ich hörte neben mir ein Geräusch. Mein alter Vater hielt
seinen Husten zurück. Die junge Frau begann sich hastig zu ent-
kleiden.
Nach drei Minuten öffnete sich die Tür, und in die Kajüte
20 -
trat der Pastor, und hinter ihm der hohe, dicke Engländer, von
dem ich oben erzählt. Der Engländer trat ans Bett und schien
der schönen Frau eine Frage zu stellen. Diese, ganz blaß vor
Scham, nickte bejahend mit dem Kopfe. Der englische Bankier nahm
aus der Brusttasche ein Paket mit Banknoten und reichte es dem
Pastor. Dieser zählte nach und entfernte sich mit einem Gruße.
Der alte Engländer schloß hinter ihm die Tür. . . .
Ich sprang von der Wand zurück, als hätte mich eine
Schlange gebissen. Eine Angst überfiel mich. Mir war, als hätte
der Sturm unser Schiff in Stücke zerrissen, als gingen wir zu
Grunde.
Mein Vater, dieser Trunkenbold, dieser Lüstling, ergriff
meinen Arm und sagte:
> Kommen wir von hier weg! Du darfst das night sehn, bist
noch zu jung . . .«
Er hielt sich kaum auf den Füßen. Ich trug ihn die steile
holprige Treppe hinauf, nach oben, wo sich schon ein wirklicher
Herbststurm erhob. . . .
Sprüche und Widersprüche.
Über dieses Werk schreibt die , Königsberger
Hartung'sche Zeitung':
Ein 260 Seiten starker Band Aphorismen ist keine gewöhnliche
Erscheinung, dieser hier ist eine ganz außergewöhnliche. Es ist ein fanati-
sches und weises, ein pathetisches und graziöses Buch. Eine Denkkraft
tobt sich aus, die vor nichts Halt macht, keine Hemmungen kennt und
nur ein Gesetz : das heiliggehaltene der Sprachkunst. Dieser unbeherrschte
Losgeher wird zum ängstlichsten, zärtlichsten Zaudeier, wenn's um seine
Kunst geht. Ein Titan, der die Blöcke liebevoll meißelt, ehe er sie auf
die Schädel seiner Feinde herabsausen läßt. Von seinem Reichtum gibt
das dem Buche beigegebene Inhaltsverzeichnis nur einen schwachen
Begriff. Eine ungeheure Konzentriertheit herrscht darin. Jeder dieser
kleinen Sprüche könnte zum weitläufigen Essay ausgewalkt werden (was
denn auch gelegentlich geschehen wird), weil eben jeder ein Ganzes,
279-280
21 —
kein fataler Gedankensplitter, sondern ein Gedanke ist. Kraus wird nie
zum Sklaven seiner Witzigkeit; immer dient sein Witz dem Gedanken,
macht diesen sinnfällig und vertieft ihn. Man muß darauf verzichten, in
einer knappen Anzeige Kraus zu charakterisieren. Es soll auch auf Zitate
aus diesen Sprüchen und Widersprüchen verzichtet werden, so lockend
es wäre, mit einigen blendenden Paradoxen, ein paar kühnen Antithesen
den Leser neugierig zu machen. Man täte damit der Persönlichkeit des
Autors Unrecht, brächte ihn leicht in den Ruf, ein Widersprecher um
jeden Preis zu sein. Das ist er nicht. Das >Epater le Bourgeois« hat er
immer verschmäht, nie dem Publikum die Konzession gemacht, es absichtlich
zu ärgern. Er sagt manchmal ganz ungeniert Binsenwahrheiten, er darf's,
es sind doch seiue eigenen. Unter diesen Aphorismen sind welche, die
Klerikale und Fortschrittler, Ästheten und Zweckmenschen, Moralisten
und Libertins verleiten könnten, den Autor für ihren Parteigänger zu
halten. Kraus fürchtet keine Annäherung an eine noch so banale
Meinung, denn zuletzt dient auch sie nur dazu, seiner Persönlichkeit
das besondere Relief zu geben. Man darf auf das Schicksal dieses
Buches neugierig sein. Wird es das seines Schöpfers teilen, der, seit
zehn Jahren in Wien publizistisch tätig, dort heimlich bewundert und
öffentlich totgeschwiegen, kunstvoll bestohlen und äußerst kunstlos be-
schimpft wird ? Es ist gleichgültig, ob dieses kühne, ehrliche und leiden-
schaftliche Buch Lobsprecher oder Tadler finden wird. Man muß wünschen,
daß es Leser finde; nicht dem Autor, sondern den Lesern zuliebe.
Die ,Nationalzeitung' (,Post/) in Berlin
nebst zwei Auszügen aus dem Buch:
Es unterlag keinem Zweifel, daß die Kunst der Sentenz, des
Aphorismus seit den Tagen ihrer großen, ihrer eigentlichen Schöpfer
sozusagen rückständig geworden war und der Auffrischung bedurfte.
Der Witz der Rochefoucauld, Vauvenargues, Chamfort war bereits von
früheren Generationen aufgenommen, verbraucht worden. Die runden
Münzen ihrer Weisheit erschienen nach so langer Zeit des Umlaufes
manchem als ein wenig abgegriffen. Die Ereignisse warteten unleugbar
auf den Regenerator, auf den Mann, der neuen Wein in die alten
Schläuche gösse. . . . Das einzig Unkünstlerische an diesem Buche ist
eine Eigenschaft des Verfassers : die >Fronde ä tout prix«, die manchmal
bis zu intellektueller Krafthuberei geht. Und etwas Beklemmendes wohnt
zugleich dem Buche hier und da inne; die Gedanken zeigen in der
Struktur zuweilen sozusagen etwas von dem hochgespannten Druck, mit
dem die Geistesmaschine dieses Autors arbeitete. Man glaubt zuweilen
das Knarren des heißgelaufenen Räderwerkes zu vernehmen. Das Bueh
selbst? Der Leser wird mit starker Kost bewirtet, wie schon ein Blick
auf das Inhaltsverzeichnis ahnen läßt, aber diese Kost bietet stets nur
ein Autor, dessen differenzierter Geschmack auch gewagte Kombinationen
als möglich erscheinen läßt ... Es tritt hier ein Fall ein, wo man bedauert,
daß epigrammatische und dramatische Begabung nicht einander decken.
Karl Kraus wäre sonst (nach einer letzten Läuterung vielleicht noch)
— 22 —
wohl der Mann, der uns die noch immer fehlende Komödie unserer
Zeit schreiben könnte.
Ähnlich gut meint es die ,Freisinnige Zeitung'
in Berlin, nur mit der beruhigenden Versicherung, daß
sie >die Weltanschauung des Verfassers nicht teilte
Unter dem Titel »Ein Buch der Sprüche« ver-
öffentlicht Karl Bleibtreu einen längeren Aufsatz in
der , Münchener Allgemeinen Zeitung'. Den
größeren Teil dieser Besprechung bilden die zahlreichen
gutgewählten Zitate aus dem Werk, deren Glossierung
indes manchen Hinweis enthält, der über die bloß
lobenden Anmerkungen hinausgeht: »In der Aus-
legung des Weibes als Hetäre steckt eine verkappte
Mystik. c Oder: »Die Verdammung der Oper und
Ehrenrettung der Operette klingt barock, doch liegt
ein tiefer Sinn in diesem nicht kindischen Spiele.«
Die Einleitung des Essays lautet :
Seit Larochefoucauld seine berühmten Maximen auftischte, erfreut
sich dies pikante Dessert im Gastmahl der Literatur einer gewissen Be-
liebtheit bei geistigen Oourmets. Schriftsteller mit epigrammatischer
Neigung wie Renan, Stendhal, Taine streuen Aphorismen in ihre Werke
ein, unser alter Lichtenberg stellte seine Spruchweisheit auch nicht unter
den Scheffel, und neuerdings übte Nietzsche mit Kunst und Kraft diese
Sprachfeinheit, vieles in wenige Zeilen zusammenzupassen. Soeben legt
uns der bekannte Wiener Stilist Karl Kraus eine solche Gabe vor,
deren sehr verschiedenartige Blüten er zu einem Strauß unter dem Titel
»Sprüche und Widersprüche« zusammenbindet. Wie Nietzsche, der als
Pole sich ohnehin zum Französischen hingezogen fühlte, hat Kraus, als
Wiener natürlich deutscher Schwerfälligkeit abgewandt, von den Franzosen
gelernt, wie man den Esprit schleift, bis die Bonmots diamanlenhell
funkeln. Er handhabt sein spitziges Florett mit bewährter Fechtmeister-
Positur und läßt die Klinge in der Sonne blitzen, kokette Blutströpfchen
daran klebend, wo sein Stich etwas tief ins faule Fleisch der Vorurteile
traf und heimliche Wunden öffnete. Ja, er sticht nach französischer
Fechterschule, der ehrliche germanische Hieb verlangt eine andere
Muskulatur, aber reißt heilbarere Schmisse als der zarte, scharfe Florett-
stoß, der immer edlere Teile verletzt. Manchmal sollen solche Klingen
gar Blutvergiftung erzeugen, und wir möchten keinem Unerfahrenen, der
sich nicht selber eine Siegfriedshaut angeärgert hat und mit genügender
Bandage auf die geistige Mensur geht, ein Renkonter mit diesem renom-
mierten Raufer anraten. Kraus fordert sämtliche heiligsten Güter der
Menschheit vor seine ruchlose Ironie; er fordert sein Jahrhundert in die
Schranken, Arm in Arm mit Nietzsche, Weininger und Wedekind, er
— 23
fordert den großen Moloch der Dummheit auf Feder und Tinte — eine
Feder, deren Spitze auch durch festgefügte Rüstungen dringt, eine Tinte,
die garstig fleckt und manchen Götzen besudelt mit dauerhaften, halt-
baren Brandmalen. Manchmal prahlt er ein bißchen: So lag ich und so
führt' ich meine Klinge ! Aber im ganzen ist der Ehre Genüge geschehen,
er hat die Beleidigungen seiner zarthäutigen Psyche durch des Lebens
anrempelnde Roheit mit Blut abgewaschen, dem Herzblut seiner selbst-
erlebten Sprüche ....
In der , Gegen wart* (38. Jahrgang, Nr. 19), die
in Berlin erscheint, ist der folgende Essay von Otto
Stoessl enthalten:
Karl Kraus ist Satiriker. Aus dieser schöpferischen Art, auf die
Dinge zu antworten — denn alle Kunst ist Antwort, während alle
Wissenschaft nur Frage bleibt — , aus dieser eigentümlichen, in der Ver-
neinung fruchtbaren Beschaffenheit des Gemütes und Verstandes gerät
manche besondere Gestaltungsform. Indes der Dichter sonst in konkreter
Darstellung die Erscheinungen versammelt und irgend das Ganze der
Welt umfaßt, ist der satirischen Betrachtung eine Zuspitzung und Ver-
einzelung, eine willkürliche Auswahl und das Auskosten des Augen-
blickseindruckes eigen. Sie pickt gleichsam hurtig die Körnlein auf. Die
Satire ist nicht auf Allseitigkeit, sondern voll Trutz und Genügen gerade
auf Einseitigkeit, nicht auf die Harmonie der Gesamtanschauung, sondern'
auf jede lebhafte Dissonanz und auf das schlechthin Singulare bedacht.
Hierin ist sie einigermaßen mit dem lyrischen Gemütszustande ver-
wandt, der ja auch aus der Besonderheit des ergriffenen Gefühles die
Nötigung seiner Aussage herleitet. Aber der Lyriker sagt mit dem be-
sondersten Ausdrucke gerade das Allgemeinste und Typische aufs in-
tensivste aus, während der Satiriker das Besondere und Vereinzelte auf
eine subjektiv abschließende, scheinbar typische Formel bringt. Er ant-
wortet auf den Reiz nicht lyrisch-gehorsam, sondern antithetisch ab-
wehrend. Es ist der Charakter der Satire, gegen jeden äußeren Eindruck
den Stachelpanzer des Widerspruches zu kehren und dem Anreiz der
Welt sich nicht sowohl hinzugeben, als ihn in der Abwehr zu genießen.
Die Persönlichkeit versteint sich gewissermaßen, um ihre Funken zu
geben, und sie versteint die Dinge, um ihnen Funken zu entschlagen.
Hierbei verschiebt sie allerdings die Wertverhältnisse, was am meisten
zum Mißverständnis und zur falschen Beurteilung der Satire verleitet.
Doch sind ja die Werte niemals absolute, sondern nur geltende, und
weshalb dürfte der Sprachkunst verübelt werden, was an der Griffel-
kunst, an der Karrikatur solches Wohlgefallen erregt: die Verkleinerung
des Übergroßen, die Vergrößerung des Kleinen zum Riesenschrecknis,
macht doch jeder Künstler von dem Vorrecht des Menschen, das Maß
aller Dinge zu sein, den ausgiebigsten Gebrauch.
In der schlechthin gestaltenden Dichtung wird man vorzüglich
bei der Novelle den satirischen Ursprung in dem eigentümlichen Zu-
spitzen, Aus- und Umdeuten, Entwerten oder Überwerten des Proble-
— 24
matischen erkennen. In der rein geistigen, abstrakt kondensierenden
Sprachschöpfung aber stellt sich die Satire so recht in ihrem Elemente
dar. Man hüte sich, ihre Geistigkeit philosophisch und irgendwie absolut
zu nehmen ; denn sie hegt nicht so sehr Liebe zur Weisheit und Er-
kenntnis, als zur Welt, zum Worte, zu sich selbst. Und dies ist der
Sinn aller Kunst, über den weiten Weg der Welt zu sich selbst zu
finden. In der höchsten Krystallisierungsform solcher Anschauung und
Aussage wird durch einen Vorgang außerordentlicher Verdichtung und
Vergeistigung aus der Satire — der Aphorismus. Hier ist etwa au
Lichtenberg zu erinnern. Auch die großen französischen Enthymematiker
sind im Grunde Satiriker. So gibt Montaigne der ursprünglich satiri-
schen Skepsis bei aller Spontaneität durch die beharrliche Breite der
Aussage eine epische Erhöhung ins Monumentale. Und im Erzähler-
humor steckt allenthalben eine gestaltend aufgerundete Satire.
Kommen wir nun auf diese Eigentümlichkeit auch der Aphoris-
men des Karl Kraus, von denen hier die Rede ist, satirisch-widersetz-
lich auf den äußeren Anreiz zu antworten, so finden wir, daß diesem
Künstler der Sprache, dem > Diener am Wort< gerade die Sprache selbst
den Anlaß zur Antwort gibt. Die Gegenstände der Anschauung: Mann
und Weib, Moral, Christentum, Mensch und Nebenmensch, Dummheit,
Demokratie, Intellektualismus, Bücher, Lesen, Bildung, Länder und Leute
etc. stellen insgesamt nur ein Medium dar, durch welches die Sprache
recht als deren eigentliches Licht zum Betrachter dringt und dessen er
wieder durch die Sprache inne wird und sich entäußert. Um es mit
seinen Worten zu sagen: er schafft nicht mit, sondern aus der Sprache.
Das Ausdemslegreifdenken und -Reden, die poetische Art, den
Einfall zu pflücken und von dem Baum der Sprache zu schütteln, macht
die Äußerungen der Skepsis selbst bei ihrer bittern Widersetzlichkeit so
liebenswürdig. Welch anmutiges Schauspiel, gerade bei Karl Kraus zu
beobachten, wie der satirische Humor die Sprache gleichsam aus sich
selbst hervorlockt, sie anfeuert, aus alten Worten neues Zeugnis abzu-
legen und aus einfach gewohnten Verbindungen unerwartet vielfältigen
Inhalt auszuschütten I So faßt er etwa das Tempus eines Zeitworts aufs
Korn, und eine neue Einsicht tritt aus der willkürlichen Abwandlung hervor ;
»Es ist nicht wahr, daß man ohne eine Frau nicht leben kann. Man kann
bloß ohne eine Frau nicht gelebt haben.« Der Wortwitz wird ein künstleri-
sches Ausdrucksmittel, der Kalauer ein Erlebnis und Abenteuer, wenn er
zum Beispiele die Banalität der sogenannten »Verworfenen« als »Freuden-
hausbackenheit« bezeichnet oder einen Satz ausformt, wie ihn nur
Nestroy vermocht hätte: »Der verfluchte Kerl, rief sie, hat mich in
gesegnete Umstände gebracht« oder »Wie souverän doch ein Dummkopf
die Zeit behandelt! Er vertreibt sie oder schlägt sie tot. Und sie läßt
sich das gefallen. Denn man hat noch nie gehört, daß die Zeit einen
Dummkopf vertrieben oder totgeschlagen hat.«
Was n-in die Wahrheit oder Gültigkeit der Widersprüche betrifft,
so muß man sich ihren durchaus künstlerischen, das heißt willkürlichen,
höchst persönlichen Ursprung vergegenwärtigen, wenn zuweilen der
Widerspruch zum Widerspruch reizt. »Ein Aphorismus braucht nicht
25
wahr zu sein, aber er soll die Wahrheit überflügeln. Er muß gleichsam
mit einem Satz über sie hinauskommen. < Gelegentlich betont Kraus
denn auch den Unterschied zwischen der Vereinzelung und Launen-
haftigkeit des Denkens und der gangbaren Geselligkeit der > Meinung«.
Das Erlebnis, das Lustgefühl des erkennenden Augenblicks, der Genuß
des Ausdrucks selbst bestimmen dessen Wert, wie denn der Name
>Aphorismus« schon die Einschränkung und willkürliche Abgrenzung
kennzeichnet.
Dies ist auch ein Grund, weshalb hier nur von der Form, nicht
vom geistigen Gesamtbilde dieser Aphorismen gesprochen wird. Denn
m ihrer improvisierten Mannigfaltigkeit liegt ihre Bedeutung, die man
durch ein immer unzulängliches Zusammenfassen weder vergegenwärtigen,
noch vorwegnehmen kann oder mag.
Das Sprichwort, welches gleichsam das typische Volkserkennen
ausdrückt, wie das Volkslied das typische Volksempfinden, beruht auf
einer großartigen Verallgemeinerung der Erfahrung, der Aphorismus auf
einer ebenso eigenmächtigen Vereinzelung, wie wenn Kraus zum Beispiel
einmal ein Sprichwort umkehrt : >Wer andern keine Grube gräbt, fällt
selbst hinein.« Der Satiriker und Skeptiker, beide dasselbe Ich, das sich
aus der satirischen Hitze in die skeptische Schattenkühle gerettet, be-
zeugen immer die andere Wahrheit, den Gegensinn, das Gegenwort.
Auf der verhängnisvollen Widersetzlichkeit gegen alle Meinungs- und
Wahrheitskonvention beruht ihr Pathos. Der Skeptiker spürt im Wider-
spruch alle ursprünglichen Elemente, er wittert die Formen aus den
Formeln und lockt wie mit einer Wünschelrute aus dem dichten sozialen
Gefüge Freiheit und Willkür, Haß und Sehnsucht und alle Beweglichkeit
der Laune hervor.
Solcher Laut von Hohn und Leid, Einsamkeit und glühender
Empfindungsweisheit, von Wortwollust und Sinnfülle, eine höchst
musikalische Verstimmung klingt aus den Aphorismen von Karl Kraus.
Unsere Literatur ist gerade an Leistungen dieser Gattung nicht
eben reich. Lichtenberg meistert diese Form, aber er zieht den weit-
wendigeren Aufsatz vor. Nietzsche verwendet sie in häufigem dionysi-
schem Pathos zur Lyrik umgedeutet, doch nur als Glied zum Baue
monumentaler geistiger Einheiten. Um seiner selbst willen haben nur
die Romanen oder vielmehr nur die Franzosen diesen sublimen Aus-
druck eigenwilliger Erfahrung geliebt, dein ihre Sprache selbst zärtlich
entgegenzukommen scheint, die Sinnliches mit solcher Einfachheit zu
vergeistigen weiß.
Die Aphorismen von Karl Kraus vermehren unseren künstleri-
schen Besitz, ein höchst persönliches Vermögen fließt dem angestammten
Reichtum zu. Seine Sätze und blitzenden Gedankenverbindungen, seine
Wortschicksale haben die sehnige Kraft, das starke Auge, den tigerhaften
Ansprung des echten aphoristischen Ausdrucks, die bündige Entschlossen-
heit, alles mit einem Worte abzumachen, die tollkühne Einbildung und
Eitelkeit, dies auch zu können, kurz den weisen Leichtsinn, der dieser
satirischen Gattung eignet.
26 -
Reformen.*)
Auf allen Lebensgebieten macht sich das unabweisliche Be-
dürfnis nach Reformen geltend. Die vollste Zufriedenheit mit dem
Bestehenden läßt dennoch eine Sehnsucht unerfüllt: den Drang
nach einer Reform. Was nützt es, daß man sich auf dem Faulbett
der alten Lebensweise streckt, als könnte kein Weckruf einer neuen
Zeit das Behagen stören — eines Tages gefällt uns das Muster der
Decke nicht und wir verlangen eine Reform. Es gibt keine Tugend
die nicht einer Reform zugänglich wäre; kein Laster, das'
nicht durch seine ausgesprochene Reformfähigkeit auch den
Widersacher versöhnte. Im Anfang war das Nichts, aber am Ende
ist die Reform, und Gott schuf die Welt, damit sie die Menschen
reformierten, Himmel und Erde. Der Reformhimmel ist kahl, aber
praktisch. Er ist ohne den Luxus des Mittelalters, aber mit allem
Komfort der Neuzeit eingerichtet, und wenn nicht die Bäffchen
wären, nichts würde daran erinnern, daß die Bezugsquelle der hier
vorrätigen Dinge die Ewigkeit ist. Aber hier hat der reformwillige
Geist des Menschen sein Werk getan, und der erfinderischesten
Phantasie wird es nicht gelingen, die Nüchternheit des höheren
Lebens auszugestalten. Unermeßlichen Spielraum bietet ihr dafür
die irdische Welt. Und gerade weil der Drang nach geistiger Ein-
kehr so bald reformiert war, darum stellen Wirtshäuser, Kunststätten
und all die Bedürfnisanstalten, die der Mensch braucht, um schon
hienieden glücklich zu sein, dem Geist der Neuerung an jedem
Tage neue Aufgaben. Der Himmel ist parzelliert und an träge
Pächter vergeben, und es berührt beinahe schmerzlich, zu sehen,
wie der liebe Gott im Ausgedinge der Entwicklung sitzt. Aber auf
Erden hat die Reform keine Grenzen ; die Seele ist in einem Welt-
warenhaus feil und der Teufel macht seinen Gelegenheitskauf.
... Im Halbschlaf aber, wenn wunderliche Gesichte uns in
ein Leben entrücken, dessen Willkürlichkeit keine Reformen zuläßt,
erlösen wir uns von dem Fluch des betriebsamen Tages. Weh dem,
den der Alp des wachen Erlebens noch bis dorthin verfolgt! Weh,
wer die Spur irdischer Eindrücke in seinen Traum hinübernimmt!
Ich sehe jene schreckhaften Gestalten, die mit Fingern auf uns
zeigen, wenn wir einschlafen, auf der Straße, und die Menschen,
*) Aus dem ,SImplicissimus'.
- 27
die auf der Straße mit Fingern auf mich zeigen, umstehen mein
Bett. Ich kann diese und jene nicht mehr unterscheiden. Und es
ist allerorten ein Geräusch der Banalität, und die große Fliege
summt in meinem Zimmer . . .
Was fängt die Dummheit mit einer Reform an? Wozu dient
ihr die Vereinfachung des Lebens? Wenn sie sich der malerischen
Hindernisse begibt, wird sie am Ziel vor Langeweile sterben.
Darum denke ich mir die Entwicklung so: Es gibt Rasierapparate,
die es dem Menschen ermöglichen, ein glattes Gesicht zu be-
kommen, ohne daß es von fremder Hand betastet wird. Aber da-
bei geht der Mensch der geistigen Anregung verlustig, die ihm
bis zur Einführung des Apparats der Raseur geboten hat. Die
meisten Menschen fühlen sich seit dem Ankauf jener Maschine
aufs Trockene gesetzt. Sie erzählen keine Anekdoten mehr, sie
äußern keine politische Ansicht, sie wissen nicht, ob schönes
Wetter ist, sie erfahren nicht, daß der Doktor Meier, der dicke
Herr, der sich immer den Kopf waschen läßt, geheiratet hat
kurzum, sie stehen vor dem Spiegel, setzen den Apparat an und
haben das Gefühl einer inneren Leere. Sie gehen ein. Wie anders
war es ehedem, als noch die individuelle Methode des Rasierens
auch für geistige Abwechslung sorgte! Welch ein Anblick wurde
mir, wenn ich einen Friseurladen betrat! Da beugte sich ein
den bessern Ständen angehöriger Herr über die Waschschüssel,
schnob und pustete vor nassem Behagen und hatte doch
noch die Geistesgegenwart, die Worte hervorzubringen: »Einen
Bismarck braucheten wir halt!« Der Friseurgehilfe, an den
diese Worte gerichtet waren, stimmte zu und begann von den
Gewohnheiten eines österreichischen Ministers, den zu bedienen er
die Ehre hatte, zu erzählen. >Was S' nicht sagen! Mit Pomade?«
versetzte der verblüffte Gast, und so gab ein Wort das andere,
die Friseurstube war erfüllt von den Keimen geistiger Befruchtung,
und ein einmütiges Lachen von vier Stühlen zeigte, daß der
Humor es war, der die Brücke schlug zwischen den Klassengegen-
sätzen. Die Maschine hat mit diesem Glück aufgeräumt und
mancher gähnt jetzt vor einem Spiegel, in dem er nichts sieht
als sein eigenes Gesicht. Denn die Reform ist auf halbem Wege
stehen geblieben. Nichts aber ist der Vervollkommnung so zugänglich
wie ein Rasierapparat. Warum sollte man zögern, ihn mit jener
28 —
letzten Bequemlichkeit auszustatten, die er dem Menschen heute
noch vorenthält? Ein Rasierapparat, der nicht zugleich eine Sprech-
maschine ist, taugt nichts. Ein Druck sollte genügen, damit man
alles das wieder höre, was man lange genug entbehrt hat: >Der
Winter nimmt heuer kein Ende!« »Jeder hat sein Kreuz!« »Haben
Herr Doktor schon gehört, was der serbische Kronprinz wieder
gemacht hat?« »Ich kenn' kein Antisemitismus, mir sind alle
Kunden gleich, aber auf'n Lueger lass' i nix kommen!« Und die
unentbehrlichen Bemerkungen fachlicher Art. Man kann sich ja
auch mit einem Rasierapparat in die Wange schneiden. Da sagt
er sofort: »Nur ausg'sprengt, Herr von Kohn!« »Nur a Haarl,
Herr von Swoboda!« Und zu Beginn der Prozedur würde er
sagen: »Herr Doktor kommen gleich dran — !« Und am Ende
müßte er garz laut den Namen des Rasierten rufen, damit dieser
ihn nur ja nicht vergißt, und müßte ihm eine ganze Ladung von
»Mein Kompliment«, »Habe die Ehre«, »Untertänigster Diener«,
»Gut'n Abend«, »Empfehl' mich«, »Beehren uns bald wieder!«
nachsenden . . . Aber er schweigt.
In Berlin werden Reformglücksehen geschlossen, und der
Vegetarismus in Kunst und Liebe hat die Reformbühne und
das Reformkleid durchgesetzt. Die Devise eines vereinfachten
Lebens lautet: Ein Qriff — ein Bett! Aber es wird notwendig
sein, durch entsprechende Reformen dafür zu sorgen, daß der
erneuerten Außenseite der alte Gefühlsinhalt nicht verloren gehe.
Ein Automat kann Tränen vergießen, aber was nützt es, wenn er
keine Schmerzen spürt? Die Menschheit ahnt, daß der Reformeifer
vor einem Hindernis angelangt ist, über das er nicht hinweg kann.
Die Reformen entsprangen Bedürfnissen, aber sie haben auch
Bedürfnisse geweckt, die nicht befriedigt werden können. Darum
kündigt sich da und dort schon eine Reform nach rückwärts an.
Das Überflüssige wird schmerzlieh vermißt, und da es nicht
maschinell erzeugt werden kann, wird es auf natürlichem Wege
gesucht. Die wichtigste Neuerung, die die moderne Zeit im
irdischen Leben angebahnt hat, war eine Reform an Haupt und
Gliedern. Die Männer nahmen sich den Bart und die Weiber den
Busen. Man hatte den aufdringlich malerischen Charakter der
Geschlechtsmerkmale erkannt und sie abgeschafft. Was war die Folge?
Die Weiber vermißten die Barte und die Männer die Busen. Zwei
29
Nachrichten verraten nun, daß ein Rückschlag für die nächste Zeit zu
erwarten ist. Bezeichnenderweise ist es die Politik, die ihn be-
fürwortet. Die Wiedereinführung der Barte ist zur demokratischen
Forderung erhoben worden, und die Wiedereinführung der Busen
zur Parole der Anarchie. Das klingt unglaubhaft, aber die beiden
Nachrichten sind authentisch. Aus Paris wird gemeldet, daß die
gesamte Dienerschaft des Elyseepalastes mit dem Streik drohe, wenn
ihr nicht das Menschenrecht zuerkannt würde, nach Belieben Schnurr-,
Backen- und Vollbärteza tragen. Der Majordomus überreichte dem Prä-
sidenten der Republik eine Petition, die von allen Kammerdienern,
Türstehern, Lakaien, Köchen, Kutschern und Stallpagen unter-
schrieben und in der gesagt war, daß >in einer Demokratie,
welche von den Söhnen der Revolution begründet wurde, niemand
das Recht habe, seinem Mitmenschen ein Merkmal der Knechtschaft
aufzudrücken <. Der Präsident sei, so heißt es, in größter Verlegen-
heit. Im Konflikt zwischen dem Hausgesetz, nach welchem »jeder
Dienende die Oberlippe rasiert zu tragen hat«, und den Menschen-
rechten, die eine Guillotine für Barte nicht kennen, ist die Ent-
scheidung nicht zweifelhaft. Denn die Dienerschaft hat sich an den
Arbeitsminister gewendet, nicht nur im Vertrauen auf seine demo-
kratische Überzeugung, sondern auch im Hinblick auf seinen Voll-
bart . . . Während aber der Präsident noch zögert, ist in der
Schweiz eine verdächtige Frauensperson angehalten worden, die
durch einen vorschriftswidrigen Busen das Bedenken der Behörden
erregt hatte. Und richtig, der Griff eines Polizisten genügte, um
zu entdecken, daß der Busen mit Dynamit gefüllt war! Man sieht,
die Frauenbewegung, die erkannt hat, daß die Allesgleichmacherei
nicht genüge, um dem weiblichen Geschlecht zu politischer Aner-
kennung zu verhelfen, versucht jetzt das andere Extrem. Aber sie
hüte sich vor Übertreibungen! Sonst verfehlt sie ihr Ziel, eine
Gesellschaftsordnung, die den Weibern statt des Stimmrechts
Umarmungen gewähren will, in die Luft zu sprengen.
Karl Kraus.
— 30 —
Glossen.
Die Königin von Holland hat die Korrespondenten der
täglich zweimal erscheinenden Wochenblätter diesmal nicht ent-
täuscht. In anderen Staaten hätte man Vertreter der Presse ohne-
dies nicht so lange antichambrieren lassen und sich ein wenig
gesputet. Aber ein Lieblingswunsch der Journalistik ist erfüllt und es
wäre undankbar, wenn sie der an dem Ereignis immerhin
beteiligten Königin von Holland heute einen Vorwurf daraus
machen wollte, daß es für das Abendblatt geschah. Schließlich
wäre ja die Presse auch bei einer Erwartung auf ihre Kosten ge-
kommen, der überhaupt keine Erfüllung auf dem Fuße folgt. Für die
journalistische Psyche ist es aber bezeichnend, daß sie zuerst An-
sprüche stellt und sich hinterdrein darüber lustig macht. Jene er-
fahrenste Hebamme Europas, die überall ihre Hand im Spiele hat, die
beste Abtreiberin an der geistigen Entwicklung, die ,Neue Freie
Presse', läßt sich von Herrn Paul Lindau vorjammern, wie toll es zu-
gegangen sei. >Qottlob, daß es nun mit den unaufhörlichen
Bulletins aus der Wochenstube im Haag aufhören wird! Es war
wirklich unerträglich geworden, unerträglich bis zum Ekelerregen . . .
Aus aller Herren Ländern sind die Spezialberichterstatter da zu-
sammengelaufen, haben Ohren und Bleistift gespitzt, um jeden
erhofften Klagelaut, der durch eine Türspalte aus dem geheimen
Gemache der jungen Königin etwa dringen mochte, zu erlauschen,
um jeden Schritt, den sie tat, in symptomatischer Deutung zu
beschreiben und sofort durch Telegraph und Telephon und alle
Teufelskünste des modernen Journalismus in die Welt hinaus zu
posaunen. < Und das muß sich die ,Neue Freie Presse', die ihre
Spezialisten mit scharfer Ordre nach den Niederkunftlanden ge-
schickt hatte, in ihrem eigenen Hause sagen lassen! Kein Blatt hat
es ärger getrieben und keines wäre imstande, mit so vollendeter
Schamlosigkeit das System zu verleugnen und so zu tun, als
ob es nicht wüßte, wie die Königskinder auf die Welt kommen.
»Jedes größere Blatt«, sagt Herr Lindau, »schien es als seine Auf-
gabe und seine Pflicht den Lesern gegenüber zu betrachten,
seinen eigenen Wochenstubenkorrespondenten zu halten.« Ist
vielleicht nur jedes Blatt gemeint, das größer ist als die ,Neue
Freie Presse'? »Die öffentlichen Organe, vor denen ich als alter
Zeitungsmann einen durch die Jahre selbstverständlich nur erstarkten
- 31 —
Respekt besitze«, sagt Herr Lindau, »haben es denn auch
richtig dahin gebracht, daß sich das Interesse der eifrigen Leser
gleichermaßen auf die Abdankung des Sultans, das Giraffenbaby
im Zoologischen Garten und die bevorstehende Niederkunft der
jungen Königin verteilte.« Wenn der Respekt des Herrn Lindau vor
der Presse, der er die größten Roheitsverbrechen des Geistes nachsagt,
durch die Jahre gewachsen ist, dann ist es klar, daß ich ihr mit
meiner Respektlosigkeit, die durch die Jahre nicht geringer wurde, un-
recht tue. Ich ziehe sie zurück und übertrage sie auf Herrn Lindau.
*
Die Zeitungen melden:
Eine in den letzten Tagen erflossene gewerberechtlich sehr
wichtige Entscheidung spricht den Grundsatz aus, daß das Privatleben
der weiblichen Handelsangestellten nicht als Entlassungsgrund heran-
gezogen werden kann. Eine als »Geschäftsleiterin« angestellt gewesene
junge Dame klagt ihren Chef auf Zahlung des Gehaltes für die nicht
eingehaltene Kündigungsfrist und auf Rückzahlung der von ihr geleisteten
Kaution von 800 Kronen. Der Beklagte führte als Entlassungsgrund den
»unmoralischen Lebenswandel« seiner Angestellten an. Er habe in Er-
fahrung gebracht, daß nicht ihr Stiefbruder, wie das Fräulein ihm mit-
geteilt hatte, sondern ihr Bräutigam ihr geholfen hatte, die Kaution zu
stellen. Sie wohne mit ihrem Verlobten zusammen und gebe sich als
seine Wirtschafterin aus. Wenn er diese Verhältnisse früher gekannt
hätte, würde er das Fräulein nie angestellt haben. Als er diese Tat-
sachen erfuhr, habe er sich zur sofortigen Entlassung berechtigt geglaubt,
denn er könne als Chef ein solches unmoralisches Leben nicht dulden.
Er weigerte sich, die Kaution herauszugeben, weil sie in einem Wechsel
angelegt sei, der erst am 1. August dieses Jahres fällig werde. Dem
Klagebegehren wurde jedoch Folge gegeben und in der Begründung die
Ansicht ausgesprochen, daß ein Chef nicht in das Privatleben seiner
Angestellten hineinleuchten dürfe, um etwa dort vorhandene Mängel als
Entlassungsgrund auszunutzen. Eine Schädigung des Geschäftsinteresses
durch das angeblich unmoralische Leben der Klägerin hielt das Gericht
nicht für vorliegend. Der Klägerin wurden im Urteil zwei Monate Rest-
gehalt und die Auszahlung der Kaution gegen Austausch des Wechsels
zugesprochen. Der Wechsel sei unter der selbstverständlichen Voraus-
setzung gegeben, daß das Dienstverhältnis nicht vor dem Fälligkeits-
termin gelöst werden würde. Deshalb sei die Kaution nach der Ent-
lassung sofort zurückzuzahlen.
Diese Entscheidung wird das Kraut einer moralvegetarischen
Welt nicht fett machen; sie stärkt bloß den Glauben an die Er-
ziehungsfähigkeit von ein paar Gerichtssekretären. Die Landes-
gerichtsräte sind anders. Und ganz anders sind die Zeitungen,
die zwar als festgestellt hinnehmen, »das Privatleben der weiblichen
— 32
Handelsangestellten« sei »kein Entlassungsgeld«, aber deren Fein-
gefühl auch den Chef schützt. Es mag Überwindung gekostet
haben, den Namen des Mädchens nicht zu nennen. Aber man
hätte dann eben auch den Kerl nennen müssen, der sich vermisst,
Kaution für dh Moral zu übernehmen und der Unmoral die
Kaution vorzuenthalten.
•
Der als Zeuge in Erpresserprozessen bekannte Herr Stukart,
dem es neuestens die Wucherer hoch anrechnen, daß er einem
der ihren keinen Steckbrief nachgesendet hat, ist durch einen
glücklichen Zufall auch lieb Kind bei der Berliner Presse geworden.
Er hatte in Berlin im Mordprozeß Henckel zu tun und nahm so-
fort die Gelegenheit wahr, die dortigen polizeilichen und jour-
nalistischen Verhältnisse zu studieren. Das Resultat dieser Studien
ist die Absicht, »die Einrichtung der Polizeihunde auch in Wien
einzuführen«. Diese Absicht verriet Herr Stukart dem Mitarbeiter
eines Berliner Blattes, dem er versicherte, daß er von den Ein-
richtungen der dortigen Polizei »geradezu überwältigt« sei. Da
die Wiener Wucherer nicht so leicht zu überwältigen sind, wie
die Wiener Polizeiräte, so bleibt abzuwarten, ob uns die Berliner
Erfahrungen des Herrn Stukart etwas nützen werden. Er hat
in Berlin überhaupt nur eines vermißt: die Hausmeister. »Die
Parteien und die Zimmerherren können tun, was sie wollen, ohne
daß es auch nur die geringste Kontrolle gibt.« Das ist nur zu
wahr. Diese Sorten von Individualitäten, die vor jedermanns Tür
kehren, aber die Treppen versauen lassen, kennt man in Berlin
nicht, wo die Leute bei Tag ohne Leumund und bei Nacht ohne
Sperrsechserl leben. In Wien aber sieht man es jedem Menschen
sofo't an, ob er Partei oder Zimmerherr ist, jeder Schritt, den man
tut, wird bewacht und, wenn man nicht zwischen seinen vier Wän-
den wuchern dürfte, es gäbe überhaupt kein Privatvergnügen, das
der behördlichen Kenntnis entzogen bliebe. Daß den Hausmeistern
eine Einschränkung des Oeschlechtsverkehrs zu verdanken ist,
unterliegt keinem Zweifel. Die Statistik der Morde bleibt von
ihrer Wachsamkeit unberührt, und so oft einer in Wien geschieht,
will es noch das Unglück, daß der Mörder in Berlin verhaftet
wird. Wenn Hf.rr Stukart dem Berliner Interviewer versichert, der
Kriminalkommissär Hoppe sei »ein überaus zuvorkommender
33 -
Mann<, so klingt ein bitterer Ton in dieser Anerkennung. Ob die
Polizeihunde helfen werden ? Ihr Bellen wird ja eine gewisse Reklame
für den Chef des Sicherheitsbureaus sein. Aber wenn sie — nach
einem Witz des ,Simplicissimus' — nicht den Mördern zulaufen
werden, so werden sie jedenfalls den Wucherern aus der Hand
fressen und höchstens einmal, wenn einer von ihnen >Such's
Herrl !« sagt, Herrn Stukart an die Wade fahren.
*
Die ,Neue Freie Presse' war jetzt durch einige Wochen der
Ansicht, daß mit Sonnenthal nicht so sehr der kultivierteste
Schauspieler als der Vater eines Börsensensals der deutschen
Kunst verloren sei. Leben und Sterben des Künstlers waren in
eine Stimmung getaucht, in der die Fortsetzung der Weimarer
Tradition als eine der höchsten Aufgaben des Vereines für jüdische
Altertümer erschien und die Dioskuren Stiaßny und Stern als die
Hüter jenes Ideals hervortraten, zu dem Schönheit und Wahrheit
in der Kunst verschmelzen u. s. w. Welche Infamie gegen das
hochwertige Künstlertum des Toten — diese wochenlange Auslas-
sung von humanitärem Schmalz, aus dem man seine Glanzrollen
herausbacken wollte! Weil aber von den drei Ringen des Nathan
der Schottenring schließlich doch der wichtigste ist, so ließ man
den Kaiser bei der Audienz der Söhne Sonnenthals die teilnahms-
volle Frage stellen: >Sie haben jetzt wohl sehr aufgeregte Zeiten
an der Börse gehabt ?<
* *
*
Herr Hofrat Minor, der Mann, der die Literaturgeschichte
macht und dessen Vorlesungen ich eine Abneigung gegen
den »Schüller« und den Goethe verdanke, die diese wahrscheinlich
gar nicht verdienen, mit einem Worte ein Germanist, schreibt in
der »Österreichischen Rundschau' den folgenden Satz:
»Ungewarnt und unvorbereitet, ein Blitz aus heiterem Himmel,
so ist uns heute, im Augenblick, wo diese Blätter in den Druck gehen
sollen, die Nachricht von dem Tode Sonnenthals gekommen, der
während eines Gastspieles in Prag einem Schlaganfall erlegen ist. Jäher,
als man bei seiner zähen, schier unverwüstlichen Lebenskraft hätte ver-
muten dürfen, ist der Tod an ihn herangetreten ...»
Man hätte die Blätter in den Druck gehen lassen sollen;
denn wenn sie auch niemand liest, so ungewarnt und unvorbereitet
darf kein Germanist einen Aufsatz in deutscher Sprache ver-
öffentlichen. Es ist klar, daß er sagen will, die Nachricht vom
34
Tode Sonnenthals sei unvorbereitet und der Blitz ungewarnt
gewesen. Unverständlich ist aber, wie der Tod jäher, als man bei
seiner zähen und schier unverwüstlichen Lebenskraft vermuten
durfte, an einen Menschen herantreten kann. Warum zerstört Herr
Minor den feinen Gedanken, den er offenbar gestalten will: daß
der Tod eine unverwüstliche Lebenskraft hat? Aber so sind die
Qermanisten. Es ist das erstemal, daß einer einen Gedanken hat,
und da läßt er ihn nicht aufkommen.
• *
*
Zwischen Herrn Maximilian Harden, der soeben nach Wien
gekommen ist, um das deutsch-österreichische Bündnis zu festigen,
und dem Berliner Vertreter des ,Neuen Wiener Journals' hatte eine
Entrevue stattgefunden :
»Dann wandte sich unser Gespräch anderen Dingen zu. Wir
unterhielten uns über Berliner und Wiener Zeitungsverhältnisse und über
die Entwicklung unseres Blattes im besondern. Leider verbietet es mir
meine Bescheidenheit, mitzuteilen, wie Harden sich über das ,Neue
Wiener Journal' äußerte, das er sehr genau kennt. Es könnte wie
Reklamesucht aussehen.«
Ja, ja, da mögen Worte gefallen sein, die beiden Teilen
zur Ehre gereichen.
»Ich entsinne mich eines philosophischen Essays, in dem
der Verfasser die großen Geister in ,Sucher' und , Priester' ein-
teilt«, so schreibt Herr Seligmann in der .Neuen Freien Presse'.
Es ist nicht notwendig, daß sich Herr Seligmann eines Essays
entsinnt, der in der ,Fackel' veröffentlicht war. Wenn ihm aber
schon das Malheur passierte, so hätte er wenigstens die Anständig-
keit haben sollen, den Autor des Essays, Otto Weininger, zu
nennen. Daß die Schmarotzer am Erbe Weiningers sich im
Literaturteil der ,Neuen Freien Presse' breitmachen dürfen, ist arg
genug. Da man sich aber dort auch um den Namen eines Toten
herumdrückt, wenn sein Werk ausnahmsweise genannt wird, so ist
eine neue Einteilung der Geister ermöglicht. »Sucher und Priester«
will Herr Seligmann durch »Erneuerer und Bewahrer« ersetzt
wissen. Ich schlage »Diebe und Hehler« vor.
* *
*
Im Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften
sind nun für alle Zeiten die Stimmen unserer bedeutendsten Per-
— 35 —
sönlichkeiten verewigt. Jede hat sich selbst ihr Denkmal gesprochen
und den Motivenbericht dazu. Da ist zum Beispiel der Minister a. D.
Gustav Marchet. Wird es nicht- unsere Urenkel im Tiefsten er-
schüttern, wenn sie wie einen Klang aus der Ewigkeit die Stimme
hören, die da spricht: »Während meiner Tätigkeit im öffentlichen
Leben, insbesondere seit meiner im Jahre 1891 erfolgten Wahl ins
Abgeordnetenhaus des Reichsrates, waren es besonders drei An-
gelegenheiten, denen ich einen großen Teil meiner Arbeitskraft
widmete. Zunächst wurde ich durch die Notlage, in welche das
Auftreten der Reblaus eine bedeutende Gruppe meiner Wähler-
schaft versetzt hat . . .< Hier beginnt der Apparat ein wenig zu
kreischen und man hört nur mehr die Worte: »Sie bilden im Verein
mit dem ebenfalls durch mich bis zur Gesetzeswerdung geführten
Antrage auf Erlassung eines Kunstwein gesetzes die Grundlage . . .
Während letztere . . . wurde erstere, für welche zunächst der nach-
malige Handelsminister Forscht . . .< Forscht . . . Forscht . . . der
Apparat kreischt wieder, und um die weihevolle Stimmung nicht
zu gefährden, wird eine andere Walze eingelegt, nachdem den
Aufhorchenden noch gesagt worden ist, daß der Mann, der jene
Worte gesprochen hat, österreichischer Unterrichtsminister war.
Man hatte ihn nämlich bloß von der Bekämpfung der Reb-
laus und nicht auch von der Reform der Mittelschule sprechen
gehört, die zum Schluß gekommen wäre. Eine andere Stimme
macht sich vernehmlich. Und diese wird eine besondere Über-
raschung für die kommenden Geschlechter sein. Denn nie-
mand geringerer als Herr Max Kalbeck ist es, der in Versen
beteuert, daß er der Poesie und der Musik, »beiden für immer
verbunden« sei. Ob auch beide ihm für immer verbunden sind,
werden die aufhorchenden Enkel schon beiläufig wissen. Es ist nicht
ausgeschlossen, daß die Stimme dieses Künstlers seine Schöpfungen
überdauert. »Himmel und Erde«, rief Herr Kalbeck in den Apparat,
»sie wachsen zusammen im tönenden Wort.« Hier hat er aber
leider übersehen, daß unter dem Ausdruck »zusammenwachsen« in
Wien gerade das Gegenteil von einer Harmonie verstanden wird,
und so wird man nach Jahrhunderten vielleicht mit den Dichtungen
und Kompositionen des Herrn Kalbeck die Vorstellung von einem
Unfrieden in der Natur verbinden. Wie diese es mit den
Schöpfungsakten des Malers Hans Temple gehalten hat, wird man
36
am Ende überhaupt nicht erfahren. Er sagt bloß von sich aus, er
sei »entgegengesetzt dem Phonographen« seit jeher »bemüht, die
bedeutendsten Landsleute seiner Zeit, die in Kunst und Wissen-
schaft Hervorragendes leisten, der Nachwelt im Bilde zu erhalten«.
Die Mühe verdient Anerkennung. Wenn die Stimme die Bilder
überlebt, dann wird die Nachwelt wenigstens etwas von Herrn
Temple wissen. Wenn aber, was Gott verhüten möge, die Schätze
der Akademie der Wissenschaften etwa der Zerstörung durch Feindes-
hand anheimfallen sollten und in Wien bloß die Bilder des Herrn
Temple unversehrt bleiben, dann werden wir nicht wissen, wie die
bedeutendsten Landsleute seiner Zeit ausgesehen haben. Darum
lasset uns alle in den Wunsch einstimmen, daß uns die Akademie
der Wissenschaften erhalten bleibe, die es so gut mit der Nach-
welt meint.
* *
*
»Die verhafteten Erbschaftsschwindler und Urkundenfälscher
Dr. Stuart Washington und James Stafford . . .« schreibt die
Wiener liberale Presse im Verlaufe der Begebenheiten und verschweigt
die Tatsache, daß man in den Vereinigten Staaten inzwischen
beschlossen hat, den ersten Präsidenten zur Vermeidung von
Verwechslungen fortan Schlesinger zu nennen. Da sich aber
auch die Staffords künftig Schlesinger nennen wollen, so
werden Verwechslungen leider doch nicht ganz ausgeschlossen
sein. Freilich kann man hoffen, daß sich die europäischen
Schlesinger gegen die Usurpationen der amerikanischen Empor-
kömmlinge verwahren werden. Im allgemeinen bin ich indes
dafür, daß man einem Manne, der Washington heißt, es ohne-
weiters erlaube, sich Schlesinger zu nennen, während ich das
Gegenteil nur gestatten würde, wenn es sich um eine
Persönlichkeit handelt, bei der jeder Verdacht ausgeschlossen ist,
daß sie es auf die Taschen der Nebenmenschen abgesehen habe.
Denn es ist doch evident, daß man einem Schlesinger manches
zutraut, wessen man einen Washington nicht so leicht
für fähig hielte. Einem Theosophen, der Löwy heißt, soll
man nicht wehren, wenn er diesen Namen von sich abtun
will; dagegen würde ich den Behörden zur Vorsicht raten, ehe
sie Persönlichkeiten, die einen ähnlichen Namen, aber einen
weniger kontemplativen Beruf haben, die Namensänderung
— 37 —
gestatten. Unbegreiflich bleibt jedenfalls, daß man jenem
Schlesinger erlaubt hat, einen Namen anzunehmen, der nicht
einmal durch den Anfangsbuchstaben eine Brücke zur Vergangenheit
offen läßt. Die Folge davon ist, daß dieser Washington heute auch
sämtliche Weinberger kompromittiert. Ob sonst in Wien ehemalige
Präsidenten der Vereinigten Staaten leben, müßte jetzt untersucht
werden. Viele dürften es nicht sein. Wenn man den Namen
Morgenstern ruft, dreht sich kein Monroe um, durch die Jahr-
hundertfeier Lincolns hat sich kein Lippowitz getroffen gefühlt,
Taylor deckt keinen Theumann, Fillmore keinen Feigl und Polk
keinen Pollak. üarfield muß sich keines Geiringer schämen und
Herr Salo Cohn heißt noch immer nicht Cleveland. Hayes und
Roosevelt? Das wäre eher möglich. John Quincy Adams? Ja,
den gibt's! Und wenn uns Amerika unsern Washington verzeiht,
jenen wird es uns nicht verzeihen. Denn man wird zwar nie
erfahren, wie er heißt, aber man weiß bereits, was er ist. Ein
Modemaler !
Karl Kraus.
Zur Dekade der »Fackel'.
Das Schweigen in der liberalen Runde ist gebrochen worden
und so dünn die Stimme war, sie muß kopiert werden, denn sie
spricht in typischer Färbung aus, wie die spießbürgerliche Intelligenz
bei äußerstem Wohlwollen zehn Jahre , Fackel' ertragen hat. In der
,Wage' schrieb ein Demokrat den folgenden Artikel:
Karl Kraus als Jubilar.
Wenn einer in diesem dunklen Lande zehn Jahre unentwegt und
unerschüttert die .Fackel' voranträgt, dann hat er wohl ein Recht, zu
jubilieren, selbst dann, wenn diese Fackel mehr brennt als leuchtet.
Hätte Karl Kraus sich an das Lichtbedürfnis der Menschen gewendet,
dann würde er kaum mit seinen roten Heften ins zweite Jahrzehnt
geschritten sein. Da er aber der Schadenfreude und Lästersucht der
Leute entgegenkam, ließen sie sich von ihm auch manche Wahrheit
sagen, der sie sonst beide Ohren verschlossen hätten. Karl Kraus ist
nicht der Thersites, für den ihn seine Opfer halten, und nicht der Gott,
ais den er sich in seinem eigenen Blatte von seinem Freunde Scheu
anräuchern läßt. Aber er hat Götzen vernichtet, die in einem gewissen
Gesellschaftskreise unbedingte Verehrung genossen, und das muß
88
wenigstens für diese Kreise als eine Kulturtat bezeichnet werden. Wenn
heute die Kaffeehausjünglinge und Jourmädchen nicht mehr so kritiklos
auf die Größe eines Moritz Benedikt, Julius Bauer oder Maxfmilian
Harden schwören, so ist das sein Werk. Wem es nicht paßt, daß man
einen Pamphletisten, allerdings vielleicht den talentvollsten Phamphletisten,
den die Deutschen je hatten, als eine ernste Kulturerscheinung betrachte,
der darf seinen Vorwurf nicht uns, sondern muß ihn unserer Kultur,
insbesondere der Kultur gewisser verschmöckerter und snobistischer
Wiener Kreise machen. In diesem Sumpfterrain sinkt alles rettungslos
unter, was eigene Schwere hat, nur der leichte Spottvogel schwebt über
demselben und schmettert auf die Sumpfbewohner seine Bosheiten herab.
Als die römische Gesellschaft schon in vollster Selbstzersetzung be-
griffen war, gebar sie noch einen Großen, Gewaltigen, Juvenal. Um das
Maß, um welches das dekadente Wienertum kleiner ist, als selbst das
verfallende Römertum, um dasselbe Maß bleibt Kraus hinter Juvenal
» zurück. Aber einen juvenalischen Zug wird ihm niemand absprechen,
der sich durch seine Geißelhiebe nicht selbst getroffen fühlt. Er ist die
literarische Selbstverneinung der Kreise, denen er durch Geburt und
Umgang angehört. Wie ihr Blick, so reicht auch der seine über den
Bezirk vom Cafe Griensteidl zur Fichtegasse und von da zum Franz
Josef-Kai nicht hinaus. In der Kritik dieser großen Welt der Kleinlich-
keiten ist er wirklicher Meister. Wenn er diesen Bezirk überschreitet,
versagt seine Kraft und Kunst. Das wahre und gesunde Volk kennt er
ebensowenig wie die Preß- und Literaturgrößen, die er demoliert hat, es
kennen. Ex ossibus ultor. Er ist der Todfeind, den sich der volks- und
lebensfremde Snobismus der oberen Zehntausend selbst gezüchtet hat,
ein geistreicher und rücksichtsloser Feind, dessen Bosheit fast bis zur
Größe heranreicht. Möge er nur jubilieren und triumphieren. Wo er
zerstört, können andere vielleicht einmal bauen. So arbeitet auch^r mit
am Werke der Wiedergeburt und am Kulturkampf, desserr Geschichte
ihm dereinst gewiß eine dankbare Erwähnung njcht versagen wird.
Das ist schließlich mehr als von einem ehfenwerien Mann
und tüchtigen Versammlungsredner zu verlangen war. Weil sein
Blick über die ersten vier Jahrgänge der .Fackel' nicht hinausreicht,
so ist es natürlich, daß er sich an die Grenze meiner Kraft und
Kunst gestellt fühlt. Die nämlich, wie ich mir fest einbilde, dort
beginnen. Es ist ja durchaus nicht notwendig, daß der ehren-
werteste Mann und tüchtigste Versammlungsredner auch nur
eine Silbe von dem versteht, was in >Sittlichkeit und Kriminalität«
und gar in >Sprüche und Widersprüche« enthalten ist. Aber wenn er
selbst recht hätte, so könnte er doch unmöglich sagen, daß der Blick
eines »wirklichen Meisters« über den Bezirk nicht hinausreicht,
dessen Leben er gestaltet. Wenn ein Meisterwerk zustande kommt
so muß wohl der Blick umso weiter, der Standpunkt umso höher
39
sein, je kleiner der Stoff ist, und eine Ahnung solchen Verhältnisses
liegt ja auch in dem Zugeständnis, das von einer >großen Welt
der Kleinlichkeiten« spricht. Da behält schon der Tadel jenes Brief-
schreibers eher recht, den ich »in der Wahl meiner Stoffe« (wir sind
nämlich in der Schneiderei des Geistes) an eine Stelle aus »Nana«
erinnere: »Die schöne Kokotte wird dort mit einer glänzenden^
schillernden Fliege verglichen, die sich immer nur auf Dreck setzt.«
Er ahnt nicht, wie schmeichelhaft er in ein Leitmotiv meines
Denkens einstimmt. Statt Zola hätte er getrost mich selbst zitieren
können: »Sinnlichkeit des Weibes lebt so wenig vom Stoff wie
männliche Künstlerschaft. Je lumpiger der Anlaß, desto größer
die Entfaltung. Der Geist ist an kein Standesvorurteil gebunden
und die Wollust hat Perspektive.« Was weiß die liberale Kritik,^,
davon! Sie erkennt einen großen Horizont nur dort an, wo
Bezirksgeister mit den Plakatbegriffen der Politik operieren.
Sie lobt Tendenzen und sie hebt sich das, was sie nicht ver-
steht, für ihren Tadel auf, dessen rein mechanische An-
gliederung schließlich den respektablen Eindruck der »Objektivität«
erzeugt. Der Effekt ist, daß der talentvollste Pamphletist, den die
Deutschen je hatten, ein Werk für Jourmädchen verrichtet
hat, daß ein Juvenal leider beachtet wird, während ein
Freimaurer, der >eigene Schwere hat«, versinkt, und daß
ein Autor, dessen Horizont über einen Stadtbezirk nicht hinaus-
reicht, von der Kulturgeschichte dereinst dankbar erwähnt werden
wird. Die aparteste Zusammenstellung aber ist mein Recht, zu
jubilieren und zu triumphieren, und das Unrecht, das ich begehe,
indem ich mich »in meinem eigenen Blatte« von meinem Freunde
Seh. anräuchern lasse. Ich hätte eben abwarten sollen, ob die
.Neue Freie Presse' den Essay veröffentlichen würde, und wenn sie
es wider Erwarten nicht getan hätte, so wäre gewiß nichts dagegen
einzuwenden gewesen, daß ich am Jubeltag der , Fackel' in meinem
Schlafzimmer herumhüpfe. So meinen's die Herren, wenn sie
überhaupt meinen und nicht bloß reden. Dieser Freund Seh., den
ich zwei Jahre lang nicht gesehen hitte, ist einer der wenigen
Menschen, die es anders meinen. Ich habe ihm den Essay nicht
diktiert. Er hat mich mit seiner Tat überrascht; nicht mit seiner
Meinung, nicht mit ihrem Mut und Ausdruck, die auch jenen
gelallen haben müssen,' denen die Meinung nicht gefallen konnte.
40 -
Ich bin ihm zu so tiefem Dank verpflichtet, daß die Abweisung
des Verdachtes einer Kameraderie im üblen Sinne eine Selbstver-
ständlichkeit ist. Aber ich bin auch Herrn E. V. Zenker, der»
Verfasser jener Notiz in der ,Wage', herzlich dankbar. Er will mir
sichtlich wohl und ist für seine Einwände nicht verantworlich zu
machen. Er ist so verständig und so gerecht, wie ein ehemaliger
Redakteur der ,Neuen Freien Presse' nur sein darf.
Auch jenen Gratulanten danke ich, denen ich nicht be-
sonders antworten konnte. Der Brief, der mir die größte Freude
bereitet hat, sei hier veröffentlicht:
Wien, am 13. April 1909.
Gestatten Sie einem einfachen Arbeiter gelegentlich des Ab-
schlusses des ersten Jahrzehnts des Erscheinens der .Fackel' seinen
aufrichtigen Dank zum Ausdruck zu bringen.
Der verstorbene Wilhelm Liebknecht schrieb einmal irgendwo
ungefähr folgende Worte: »Der Mensch, der gut Deutsch kann, darf
sich rühmen, daß er viel gelernt habe.« Wenn ich als simpler Proletarier,
der keine »gründliche Bildung« genossen hat, von mir sagen darf, daß
mich die deutsche Sprache beherrscht, dann verdanke ich
dies, neben der Lektüre Liebknecht'scher Schriften, einer achtjähiigen
Lektüre der .Fackel'.
Ich vermute, sehr geehrter Herr Kraus, daß neunzig von hundert
.Fackel'-Lesern Ursache haben, Ihnen aus dem gleichen Grunde zu danken.
Ergebenst
W. R.
Wenn ich den vollen Namen und die Adresse des Brief-
schreibers bekanntgäbe, der Mann würde als Brecher des geistigen
Streiks von der , Arbeiter-Zeitung' festgenagelt werden. Was aber
sagen ihre Leute zu dem Brief? Sie schwiegen schon in den Tagen,
da der alte Liebknecht selbst seinen Namen in freundliche Verbindung
mit der , Fackel' gebracht hatte. Liebknecht hat, wie ich den Herren
versichern kann, ihr Schweigen gewürdigt. Die ,Arbeiter-Zeitung'
mag auf den bildenden Einfluß stolz sein, den ihrer Schreibweise
die Fabrikanten danken, und kann im übrigen auf die entarteten
Proletarier verzichten. Ihr Schweigen ist berechtigt. Wenn es
ihrer Leitung aber noch einmal entgehen sollte, daß mich ein
Hämling, den sie in ihre Redaktion aufgenommen hat, in An-
spielungen und Anspeichelungen verunglimpft, dann werde ich ihr
beweisen, wie vernünftig ihr Vorsatz war, über mich zu schweigen.
K. K.
Herausgeber nnd verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus.
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraß« 3.
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»rsendet Zeitungsausschnitte über jedes gewünschte Thema.Man verlange Prospekte.
DIE
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KARL KRAU^
»•scheint in zwangloser Folge im Umfange von 16 — 32 Seiten.
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'ür Österreich-Ungarn, 36 Nummern, portofrei K 9.—
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„ die Länder d, Weltpostv., 36 Nummern, portofrei . . . . „ 12.—
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Verlag: Wien, III., Hintere Zoilamtsstraße Nr. 3.
Für Deutschland :
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Im Einzelverkauf 30 Pf. Berlin NW 7, Friedrichstraße 101,
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>»t«»»*»«r »«-»»»»
Inhalt der vorigen Doppelnummer 277-278, 31. März:
Karl Kraus. Zum zehnten Jahrestage des Erscheinens dei
(1899-1909). Von Robert Scheu. - Die Memoiren der Odilon.
Von Karl Kraus. - I itkowskys. - Die Verteilung
der Macht. Von Karl Hauer. - Österreich -Serbien. - Der farb-
lose Krieg. Von Otto Soyka. — Anakreontisches Liede!. Von
Detlev von Liliencron. -Jugendromaue. Von Otto Stocssl. -
Tagebuch. Von Karl Kraus. — Offener Brief an den Herausgeber
der , Fackel'. Von Karl Borromaeus Heinrich.
In Folge der zahlreichen Bestellungen, di
auf Grund der Ankündigung
„Zehn Jahre Fackel"
eingelaufen sind, können wir, da der Vor
rat nahezu vergriffen ist, die 10 Jahrgang«
nur zum ©riginalprei&c
abgeben.
Der Verlag kauft die /Fackel' Nummer 2 füi
I Krone und die Nummern 1, 152 u. 162 flu
50 Heller per Exemplar zurück.
d^ Verlag tf er, FACKEL6
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Robert Soheu.
iii einem Bildnis).
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Wien lli/2.
Druck von Jahod;-
Doppel-Nummer (Preis 60 Heller)
fr. 281—282. 4. Juni 1909 XI. Jahr
Die Fa
Herausgeber:
KARL KRAUS
INHALT:
Die Schuldigkeit. Von Karl Kraus. — Victor
Adler. Von Robert Scheu. — Mann und Weib.
Von August Strindberg. Aphorismen. Von Karl
Kraus. — Meine Bücher. — Literatur und Presse.
— Eine gelungene Satire. Von Otto Soyka
Glossen. Von Karl Kraus.
Erscheint in zwangloser Folge.
achdruck und gewerbsmäßiges Verleihen verboten ; gerichtliche
Verfolgung vorbehalten.
WIEN.
Verlas .DIE FACKEL* III. Hintere Zollamtsstrafte 3.
KARL KRAVS
SPRVECHE I
VND WIDER)
SPRVECHE
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DURCH ALLE BUCHHANDLUNGEN ODER DIREKT VOM VERLAG ZU BEZIEHEl
Die Fackel
NR. 281-82 4. JUNI 1909 XI. JAHR
Die Schuldigkeit.
Eine Lehrerswitwe in der Provinz, die gehört
hat, daß einmal ein Artikel der , Fackel* über die
Pension der Offizierswitwen »viel zur Regulierung
dieser Sache beitrüge, wendet sich im Namen der
Genossinnen ihres Elends an mich. Sie klagt, daß
das Land die Witwen von Männern, die ihm fast ein
halbes Jahrhundert gedient haben, hungern und frie-
ren lasse und belegt diese Klage mit Daten und
Ziffern. Eine Frau V. in Frankenfels etwa muß im
Alter von über 80 Jahren in einer Mühle arbeiten, weil
ihre jährliche Pension nur 300 Kronen beträgt. Ihr
Mann hatte 40 Dienstjahre. »Und wie schwer früher
der Dienst war, das weiß ich von meinem Vater her ;
sein Anfangsgehalt betrug jährlich zwölf Gulden
und die Kost, dabei mußte er als Mesner, Schreiber,
ja sogar als Totenbeschauer fungieren. Ohne Orga-
nistendienst konnte der Lehrer damals kaum leben.
Die Folge dieses schweren Berufes war ein Herz-
leiden. Als Schwerkranker schleppte Vater sich im
November 1893 in die Schule, weil er die nächste
Gehaltserhöhung erreichen wollte. Doch da diese erst
1895 ins Leben trat und Vater 94 starb, beträgt die
Witwenpension trotz der 45 Dienstjahre nur 700 Kro-
nen« . . . Die gute Frau, die sich die Mühe genom-
men hat, mir in langem Brief, mit Worten
und Zahlen diese Misere zu beschreiben , weiß
— 2 —
nicht, daß sie sich an die unrichtige Adresse gewen-
det hat. Soziale Hilfe anzuregen, war nie die
Pflicht der , Fackel', wenngleich sie sie früher gele-
gentlich dort erfüllte, wo es ihr um den Beweis zu
tun war, daß die Verpflichteten aus Feigheit oder Kor-
ruption sie verletzt hatten. Auch hier freilich bin ich
bereit, den Hilferuf zu hören, um durch ihn den
größeren Jammer zu entdecken. Denn das Schreiben
der Frau schließt mit einer Pointe des Grauens,
die alles Elend der Lehrerswitwen überbietet, über
die Not einer sozialen Gruppe hinaus in die schmerz-
lichste Schmach der Zeit trifft. Bin Majestätsgesuch
ist nicht befördert worden; so glauben sie, daß es
noch eine Instanz gibt: die Presse. Und die Wortführerin
fügt ihrer Schilderung das folgende Postskriptum
hinzu: »Im Falle Sie, sehr geehrter Herr, die Güte
hätten, unsere Notlage in der , Fackel' zu beleuchten,
worum wir Sie recht herzlich bitten, so wollen Sie
mir unsere Schuldigkeit hiefür mitteilen«. Die
Bittstellerinnen wissen von der , Fackel' nicht mehr, als
daß sie über jenes gedruckte Wort verfügt, von dem
Hilfe zu erhoffen ist. Das aber wissen sie, daß die
Hilfe, die das gedruckte Wort verspricht, bezahlt wer-
den muß. Es ist jener gesunde Volksglaube, den die
Aufklärung an die Stelle des Aberglaubens gesetzt
hat. Presse ist etwas, wofür man zahlt. Und die Pen-
sion von fünfzehn Lehrerswitwen in und um Krems
ist nicht so klein, als daß sie nicht noch so viel
zusammenbrächten, um einen Publizisten für ihr Elend
zu interessieren. Wird halt die Achtzigjährige
täglich eine Stunde länger in der Mühle arbeiten !
Die Vorstellung solcher Bereitschaft sollte uns alle,
die wir an die soziale Sendung der Presse glauben,
in den Schlaf verfolgen. Und diese Vision ist das
einzige, was mein antisozialer Sinn der Lage der
Lehrerswitwen abgewinnen kann. Ich höre den
Notschrei, aber ich kann ihn nur weitergeben.
Mögen die Vertreter jener Publizistik, deren In-
teresse dem bürgerlichen Wohl gehört, nach der Mühle
in Prankenfels eilen und schauen, wie sie zu ihrem
Geld kommen. Und wenn es dort einen Mühlstein
gibt — er möge aufstehen und sich seiner bibli-
schen Schuldigkeit erinnern !
Karl Kraus.
Victor Adler.
Das Lebenswerk eines konservativen Politikers.
Von Robert Scheu.
I.
Als sich die Belagerung von Ladysmith im
Burenkrieg so hingezogen hatte, daß sich beide krieg-
führenden Parteien zu langweilen anfingen, begab
es sich, daß spekulative Buren mit den Belagerten
in solide Geschäftsverbindung traten und ihnen Vieh
offerirten. Ein rechtschaffener Kuhhandel. Wenn große
Armeen einander träge und kampfunlustig gegen-
überliegen, dann stellt sich die Geneigtheit zu einem
Handel ein, der in der kriegerischen Situation eine
geschäftliche Konjunktur errät und verwertet. Ein
solcher Gottesfrieden herrscht jetzt in Österreich. Die
großen Macherhaben sich gegenseitig ihren Besitzstand
garantiert und wenden ihre Schärfe nur mehr gegen
etwa neu emporstrebende Gruppen, Persönlichkeiten
und Ideen, welche in die solenne Machtverteilung
nicht einbezogen sind, oder gegen jene enfants terribles
ihrer eigenen Parteien, welche die Grundsätze noch
immer so ernst nehmen, daß sie sich ihretwegen
blutige Köpfe holen. Der unausgesprochene, aber
— 4
fühlbare Kompromiß aller mit allen ist die Signa-
tur des Tages. Ein erstarrtes Chaos.
Dabei ein Getriebe wie in einem Ameisen-
haufen, wechselnde Kombinationen, Koalitionen, Ver-
schiebungen der >Lage«. Alles Vordergrunderschei-
nungen eines faulen Friedens zwischen politischen
und gesellschaftlichen Mächten, bei dem sich einige
Bewegung höchstens aus dem Turnus der sich selbst
garantierenden Mittelmäßigkeit ergibt.
Sollen wir die sichtbare Auflösung aller politi-
schen Charaktere beklagen ? Lassen wir der Korrup-
tion lieber ihren Lauf. Vielleicht entsteht in den
führenden Köpfen mit der Zeit eine ähnliche Des-
organisation, wie sie in den Dingen schon eingetreten
ist. Vielleicht löst sich mit dem politischen Charak-
ter auch der politische Geist auf
Es wäre gar nicht so betrübend. Die Geschichte
hat mehr als einmal gezeigt, wie die Verflachung
der Politik einem Aufsteigen der Kultur günstig
werden kann. Gegenwärtig sind sie noch alle gegen
die Kultur verbündet. Vielleicht wird später einmal
das Chaos, das uns heute niederdrückt, wieder locker
und fruchtbar I
Es ist das Schicksal der Völker, daß sie nur
aus Ideen heraus arbeiten können, diese aber, wenn
sie ihren Dienst getan haben, wie überflüssige Hilfs-
linien wieder auslöschen müssen. Die letzten Jahre
haben in aller Stille eine welthistorische Überraschung
gebracht: Die Medusenaugen der Revolution haben
sich geschlossen und träumen unter bleichen Lidern
— von der Vergangenheit
II.
Einer, der ihr die Augen zugedrückt hat; ein
repräsentativer Politiker der letzten fünfundzwanzig
Jahre ist Victor Adler.
Er scheint nicht vom Aoheron umwittert. Kein
Feuerstrudel zieht ihm nach . . . »Sein übermächtig
Angesicht verhieß mir neue Welten« — sagt der
Matrose von Columbus. Menschen, die bestimmt sind,
eine neue Ordnung der Dinge einzuleiten, tragen
eine fertige Welt im Kopf herum, von der sie eine
so zwingende Vorstellung haben, daß sie sich
zur bestehenden Umwelt in einem schmerzhaften
Widerspruch fühlen. Ein solcher, der später die
Landkarte änderte, schrieb in seinem fünfzehnten
Lebensjahr: »Das Gefühl, daß die Welt, die
ich im Busen trage, so ganz unendlich verschieden
ist, von der, die ich um mich sehe, brennt mich so
tief, daß ich den Tod ersehne.« Aber unserm Victor
Adler glaubt man weder den Zukunftsstaat, noch auch
nur den Glauben an den Zukunftstaat. Aus seinen
Zügen spricht durchdringende, sichere Klugheit, aber
kein Abglanz unbekannter Dinge.
Er ist »frugi«, wie die Römer sagen. Nie be-
rauscht, stets auf der gleichen Höhe seines hellen
Verstandes. Wie ein Posten im Feld: rundblickend.
Sieht sich nach allen Seiten um und versäumt es
nie, sich von allen Nachbarn »klar zu scheiden.« Er
beachtet die Nebenwirkungen jedes Schrittes, keine
Gelegenheit reizt ihn so mächtig und plötzlich, daß
er irgendetwas daneben leichtfertig in Kauf nimmt.
Ehe er feuert, überlegt er noch den Gegenstoß. Die
Lassalle'sche Devise: um einen Zweck zu erreichen,
alles andere beiseite setzen, alle Rücksichten dem
momentanen Ziel unterordnen, ist nicht die seinige;
vielmehr: das eine tuen und das andere nicht lassen.
Das Wesen der Besonnenheit.
Er ist — der Irrenarzt. Er redet, er lächelt so.
Man fühlt eine behutsam streichelnde Pfote, die den
Narren oder das Raubtier gleichzeitig beobachtet
und beschwichtigt. Seine Sanftmut lauert. So tut er
mit dem Besucher, der in sein Zimmer tritt, mit
Parteien und Ministern. Alle sind mindestens Halb-
— 6
narren. Ehedem ein Lieblingsschüler Meynerts,
beschrieb er die kranken Gehirne minutiös und
seine klinischen Bilder waren klassisch. Psy-
chiater sind in der Regel nicht Fanatiker. Sie ar-
beiten mit Ideen, aber nicht aus Ideen, pflegen
Abstraktionen nicht zu unterliegen, sondern sich
ihrer zu bedienen. Es ist prima vista unglaubwür-
dig, daß ein solcher Kopf einer Doktrin huldigt,
geschweige denn der abstraktesten, die unter Deut-
schen ersonnen wurde. »Es sind die unbedenklichsten
Praktiker, welche den Theorien am heißesten hul-
digen, weil sie deren Glanz nicht entbehren wollen. c
(Nietzsche). Theorien und Ideen sind Hilfsmittel sol-
cher Männer, aber nicht ihre Götter.
Seine Lieblingsworte: »Vernunft« und »Ernst«.
Das ist nicht Mimikry, sondern er meint es wirklich.
Seine Stärke ist das Resümieren. Man muß ihn bei
schwierigen Debatten gesehen haben, etwa auf Partei-
tagen, wenn offizielle Probleme der Taktik erörtert
werden ; wie er da, scheinbar teilnahmslos im Parterre
sitzt und den Redestrom laufen läßt, bis er dann
das Wort ergreift und in seiner mit dem Stottern
ringenden Art, — welche dadurch zum rednerischen
Effekt wird, daß nach jedesmaligem Stocken eine
Pointe kommt, — den durchschlagenden Gedanken
ausspricht. Er ist keine Advokatennatur, sondern ein
Richter. Eine seltene Qualität. Auf Hundert, die
einen Gesichtspunkt geistreich durchführen können,
kommt Einer, der weiß, auf welchen es ankommt.
Es ist die Grundlage seiner Führerschaft. Dabei
richtet er es so ein, daß er überstimmt wird.
Paradoxe verachtet er so ziemlich. Seine Poin-
ten sind Blitze der Selbstverständlichkeit. Ihn interes-
siert nicht die Ausnahme, sondern die Regel; Haupt-
sachen, Hauptzüge — Massen. Er besitzt das Ge-
heimnis der Macht: sich zu den großen Zahlen hin-
gezogen fühlen. Er hat die Tugend des Politikers,
mit den gegebenen Größen zu wirtschaften; er kennt
alle politischen Gewichte und hat die Bausteine in
der Hand; aber sein Ehrgeiz geht nicht darüber
hinaus, einen Pfeiler zu schaffen. Das ist erreichbar
und für ein Leben genug.
Schnitzt man aus solchem Holz die Umstürzler ?
Doch kaum. Revolutionäres Geblüt ist anders. Es
gibt mathematische Phantasten und exakte Träumer,
sollte es auch skeptische Revolutionäre geben?
Dagegen ist ihm unbedingt zu glauben seine
Liebe zum Proletariat. Die ist echt. Er gehört zur
Rasse der Altruisten. Die Gemütsunterlage ist
eine elementare Schlichtheit, zu einer Rancune
gegen alles Differenzierte gesteigert. Er fing
damit an, sich um die Stelle eines Gewerbeinspek-
tors zu bewerben und wählte als erstes Pseudonym
den Namen »Tischlere. Er gehört nicht zu jenen
Sozialisten, welche aus dem Gefühl eines unerschlos-
senen Reichtums der Welt ihre Schwungkraft
schöpfen, sondern zu jenen, die aus einem Instinkt
der Vereinfachung zu kommunistischen Neigungen
gelangen. Es handelt sich weniger um die Zugäng-
lichmachung aller Kulturschätze, als um deren Ver-
dünnung. Pathos des Unterkonsums. Beweis die
gelegentlich reflektorisch bezeugte Abneigung gegen
reichere und differenzierte Naturen. Ein psycholo-
gisches Grundmotiv, welchem die Nationalökonomie
erst nachträglich hinzu erfunden wurde. Gerade
die Genügsamkeit ist die psychologische Wurzel
jenes Sozialismus, der die großen Kolonnen füllt, und
nicht die »Begehrlichkeit.« Solchen Naturen scheint
jede neue Note dem Grundsatz der Scholasten zu
widersprechen : entia non sunt multiplicanda. Victor
Adler erklärte einmal: wozu immer neue Anregun-
gen ? wir ersticken an der Arbeit.
Seine Undifferenziertheit hat eine besondere Note:
er übertreibt sie durch eine Affektation, die er sich schul -
dig zu sein glaubt. >Mein Gott, ich will ja nichts An-
deres, als einen Ziegelstein herbeischleppen zum gro-
ßen Gebäude.« Zusammenhängend damit seine Ran-
cune gegen die Intellektuellen, welche das über-
flüssigste Ding in die Welt bringen wollen, das es
gibt: den Geist. Es ist wie eine groß angelegte
Rache in seinem Leben: Geist und Intellekt und
Verfeinerung in den Dienst der Undifferenzierten zu
stellen, als wollte er sagen : was bis heute in der
Welt ersonnen wurde, ist gerade noch erlaubt,
um es unserer Sache dienstbar zu machen. Aber
damit genug. — Und was ist diese Sache ?
Es ist die Erlösung der Enterbten. Denen hat er
sein Herz verschrieben, für sie lebt und stirbt er.
Es ist das Einzige, was ihn rührt. Für die Armen
gibt er seine Kraft, sein Vermögen, seinen Witz und
wenn es sein muß, seine List. Aber ist es am Ende
nicht nur Liebe zu den Armen, sondern Liebe zur
Armut ?
III.
Rapide Entwicklung der Großindustrie, Auf-
steigen der Weltpolitik, Anschwellen der industriel-
len Arbeiterschalt, Niedersinken des Liberalismus,
Erstarken des jungen deutschen Reichs, des Bodens
einer großen Arbeiterpartei, eine lange Friedens-
periode; in Österreich Schwächung der Zentralgewalt
durch nationale Wirren — bezeichnen den Zeit-
punkt, in welchem sich Adler der sozialdemokratischen
Partei anschloss. Die letzten zwanzig Jahre vollen-
den die Disgregation der Klassen, die Einstellung
auch der letzten Komponenten im Kampf um die
Machtverteilung, bei der die industrielle Arbeiter-
schaft bis dahin schmählich verkürzt war. Die Sozial-
demokratie erkennt als ihre Aufgabe die plastische
Darstellung dieser Klasse im Gruppenbild des Staats.
Das Gelingen einer Aufgabe geht niemals über
9 —
das Wollen hinaus. Mehr als die industrielle Arbeiter-
schaft zu einer Partei einigen und ihr politische
Macht erobern, hat Victor Adler nicht gewollt und
er hatte den Scharfblick, genau die Basis zu erraten,
auf der ihm Erfolge gewiß waren. Der sozialdemo-
kratische Überbau gab ihm die fertigen Formen und
die Anlehnung an die Internationale. Innerlich war er
seit je entschlossen, opportunistische Politik zu
machen, wie es seiner Natur entsprach. Das revo-
lutionäre Schema schätzte er inzwischen als Stachel-
zaun, um mit seiner Arbeit allein zu sein, was immer
seine große Sorge war; seine volle Wucht wendet
er im Beginn seiner Laufbahn, nach links, ringt die
Anarchisten nieder, rückt die wirklich revolutionären
Köpfe an zweite oder dritte Stelle und beseitigt mit
eiserner Hand die Intellektuellen, die ihm aus Instinkt
und Überlegung verdächtig sind.
Und dann entwickelt er einen heroischen Fleiß,
eine grenzenlose Hingebung, wie sie nur aus starker
Überzeugung entspringt, schafft sich eine Armee von
Unteroffizieren — die ihm immer das Wichtigste
waren, — interveniert bei jedem größeren Streik,
stellt seine gesellschaftlichen Beziehungen zur Ver-
fügung, verhandelt mit Bezirkshauptleuten und Un-
ternehmern, appelliert an Vernunft und Gemüt und
begleitet den täglichen Kampf in seinem Blatt —
damals die »Gleichheit« — mit schwerem Geschütz.
Er schreckt vor Gefängnis und Verfolgung nicht
zurück, geht bei Zusammenstößen den Säbeln der
Polizisten entgegen, fährt in die Kohlenreviere und
gliedert die Gewerkschaften so eng an die poli-
tische Partei, daß sie bald nur ihre andere Er-
scheinungsform sind. Er ist Agitator, Organisator,
Journalist, wo es zweckdienlich ist, auch Charmeur.
Vor großen taktischen Schlägen hat er aber immer
eine instinktive Abneigung. Er fürchtet »zuviel
zu siegen.« Er will keine Momenterfolge, die über
10 —
das Gewicht der realen Stärke hinausragen und zieht
es vor, von der Masse gedrängt zu werden.
Er besaß ein besonderes Talent, mit der Bureau-
kratie zu verkehren. Diese, in Österreich infolge
überaus komplizierter Verhältnisse ein diplomatisches
Zuchtprodukt, ähnelt darin der russischen, daß sie
bedeutenden Persönlichkeiten eine gewisse Aus-
nahmsstellung konzediert und sie nicht die volle
Schwere ihrer Macht fühlen läßt.
Der Regierung konnte es übrigens nur erwünscht
sein, daß die Intellektuellen mit solcher Präzision
aus der Bewegung ausgeschaltet wurden. Denn sie
mußten auf irgend eine Weise dann ihr zufallen»
Damit brach die Sozialdemokratie bewußt mit der
Lassalle'schen Tradition, welche den Bund der In-
tellektuellen mit der Arbeiterschaft verkündet und
in flammenden Farben hingezaubert hatte. Das war
die magische Anziehungskraft des Sozialismus ge-
wesen, der paradoxe und hinreißende Gedanke: die
erlesensten Geister mit den Arbeitern in einem mo-
numentalen Bunde zu verschmelzen, wie er noch in
den Barrikadenkämpfen der Franzosen anschaulich
zum Ausdruck kam. Um diese Lassalle'sche Tradition
zu durchbrechen, wurde in Deutschland und Öster-
reich geflissentlich betont, daß Marx der eigentliche
Geist und Schöpfer der Sozialdemokratie sei, und
das unpersönliche System in den Vordergrund ge-
stellt. Will man den Beweis, so lese man die partei-
offizielle Ausgabe der Werke Lassalles, bei der man
im Zweifel ist, was man mehr bestaunen soll : die
Kühnheit, mit der ein führender Kopf der deutschen
Nation zensuriert und abgekanzelt wird — oder der
Mangel an Pietät, die eine Partei einem Gründer
und Heros entgegenbringt. Bei festlichen Anlässen
durfte sich Lassalle als Gypsfigur sehen lassen. Die
Art wie Victor Adler mit Studenten, aber auch mit
Gelehrten von Rang verkehrte, hatte etwas ganz,
— 11
Eigentümliches. Sie mochten sich immerhin in Arbei-
terschulen, Volksbildungsstätten u. dgl. nützlich
machen. Aber die wunderbare Kühle, mit der man
sie im Übrigen behandelte, bezeichnete symptoma-
tisch eine bedeutungsvolle Phase: man hatte darauf
verzichtet, die Ansprüche des Intellekts mit dem
Sozialismus in Einklang zu bringen.
Geschaffen wurde eine streng disziplinierte
sozialdemokratische Partei mit einer mächtigen par-
lamentarischen Fraktion, ein aufgeklärter Absolutis-
mus Victor Adlers. Das allgemeine Wahlrecht war
spät genug gekommen, so spät es Adler aus poli-
tischen und persönlichen Gründen wünschen mochte.
Als es zum erstenmal zum Greifen nahe war, genügte
ein Leitartikel der , Neuen Freien Presse' um Victor
Adler — entgegen dem einmütigen Aufschrei der
ganzen Partei — zu einer blutleeren Reserve zu
veranlassen, die ihn die Gunst der historischen Stunde
versäumen ließ. Als es zum zweitenmal winkte,
mußte ihm das Jawort zur Entfesselung des Wahl-
rechtskampfes blutig abgerungen werden. War er
wieder der Skeptiker ? Es fehlte nicht viel und er
hätte ein zweitesmal verspielt
IV.
Man hatte Zeit genug gehabt, inzwischen den
Begriff der Revolution in Deutschland und Oster-
reich so abzuwandeln, daß er nunmehr genügend un-
gefährlich war. Zuerst wandte sich die neue Doktrin
gegen den gewaltsamen Umsturz. Man dachte sich
•die Revolution nicht mehr als Straßenkampf, sondern
als Diktatur des Proletariats auf Grund der erlang-
ten überwältigenden politischen Macht. Aber immer-
hin noch als einen Umsturz. Je größer seither die
tpolitische Macht der Partei wurde, desto mehr trat
in den Vordergrund die Lehre des »Hinein Wachsens
in den Staate, die Durchwachsungstheorie. »Wir sind
12 —
nicht so dumm, auf das Gebäude, das ihr aufgerich-
tet habt, zu verzichten! Wir kriechen hinein und
bauen es Mauer für Mauer um.« Ganz unmerklich,
unbewußt und heimlich hatte sich da etwas ereignet.
Das Proletariat war inzwischen, irgendwann, bürger-
lich geworden. Die gegenwärtige Zeitepoche, für
welche der Sturz des Bürgertums verheißen war,
ii>t wunderbarer Weise just der vollkommenste Sieg
des Bürgertums als geistiger Kategorie. Die Aristo-
kratie ist verbürgerlicht, die Kunst ist verbürger-
licht, und nun ist es auch der Arbeiter! Die Tore
der Partei wurden einer seltsamen Gesellschaft ge-
öffnet, zum Teil eingefleischten Spießern, die es
zehn Jahre früher nicht gewagt hätten, davon zu
träumen.
Die bürgerliche Welt konnte beruhigt sein.
Hatte doch — märchenhafter Weise — die Sozial-
demokratie gerade das befestigt, was sie zu be-
kämpfen ausgezogen war. In erster Linie die allge-
meine Lebensstimmung : ein Gefühl der Sicherheit,
wie es das große Kapital noch nie besessen hatte.
Die Revolution hatte sich irgendwie verflüchtigt, die
kupferrote Wolke, die so lange am Horizont gestan-
den, in einen gemütlichen Landregen aufgelöst.
Sie war experimentell widerlegt. Aus der unend-
lichen Zahl, dem wogenden Meer der Enterbten, war
eine genau bekannte Größe geworden, mit einer Schar
von Leuten an der Spitze, die verantwortlich und
haftbar sind.
Befestigt war sogar das Reichsgefüge ; man
kokettierte mit der Doppelrolle. Der Eine oder An-
dere stellt sich zwar noch regelmäßig als »grauslicher
Sozialdemokrat« vor, wenn er in bürgerlichen Krei-
sen spricht; aber wenn sich die Herren Hochverräter
nennen, so ist das einfach — Hochstapelei. Befestigt
war nicht nicht minder die kapitalistische Presse ;
das Organ der Börse wurde zugleich die Protek-
— 13 —
torin der »Freien Schule«, in deren Flachland man
sich trifft. Einer Sozialdemokratie, welche sich in
Form einer kleinen, mit der ,Neuen Freien Presse'
eng liierten Gruppe ein Wahlkomitee geschaffen
hatte, konnte das Finanzkapital gelassen ins Auge
blicken.
V.
Die Revolution ist vertagt. Und die Reform ?
Die Reform auf Grund der bestehenden Ordnung
wird nun geduldet? Nur unter einer Bedingung : daß
sie im Namen der Sozialdemokratie inauguriert wird.
Solche Kulturbestrebungen, zu welchen die Sozial-
demokratie eingestandenermaßen gar kein Verhältnis
findet, werden mit Verlegenheitsphrasen bestammelt
oder einfach verhöhnt. Hier versagt das Schema, das
sonst so lückenlos schließt.
Wie kommt auf einmal solche Unaufrichtigkeit
in die Partei? Die Ursachen dieser merkwürdigen
und krankhaften Verfärbung liegen in der allgemei-
nen Situation der europäischen Kultur, wie sie sich
inzwischen herausgebildet hat. Man ist, ungefähr zur
selben Zeit, da die Sozialdemokratie ihrem Höhepunkt
zueilte, zur Einsicht gekommen, daß die ganze poli-
tische Welle der vergangenen dreißig Jahre nichts
anderes bedeutet, als die Konsequenz der letzten
Ausläufer der kleinbürgerlichen Revolution von 1789.
S. Lublinski in Weimar hat dies gelegentlich seiner groß
angelegten Analyse der modernen Literatur in seinem
Werke »Ausgang der Moderne«*) als Ergebnis einer
bedeutenden Gedankenarbeit überzeugend festgestellt.
Sie gipfelt in dem Apergu, daß die eigentliche Aufgabe
unseres Zeitalters die Auslösung einer neuen Kultur
ist, welche sich synthetisch aus allen eben vorhande-
nen und gegebenen KultureFementen zusammenbauen
*) Dresden, Verlag von Carl Reissner 1909.
— 14 —
wird. Der Aufmarsch des Proletariats ist hiezu zwar
unerläßlich, aber nur eine der Vorbedingungen.
Stets aber haben sich derartige, im Grunde nur
rein technische Kämpfe mit der Ideologie einer Welt-
wende umkleidet. Nun trifft es sich, daß die Ein-
gliederung des vierten Standes just in dem Augen-
blick fertig wird, wo aus national- und weltpolitischen
Gründen die Notwendigkeit einer Kulturpolitik als
die eigentlich schwierige und höchste synthetische
Aufgabe der Staatsmänner zutage tritt. Die inter-
nationale Sozialdemokratie, festgelegt auf den Marxis-
mus, — der doch nur eine besondere Form des
Sozialismus ist — , kommt von da an in ein eigen-
tümlich unaufrichtiges Verhältnis zur modernen Welt
und in die Gefahr, die eigentlich reaktionäre
Macht der Gegenwart zu werden
VI.
Der Grund aber, der die Arbeiterbewegung und
mit ihr den Sozialismus an den Marxismus bindet,
ist kein logischer, im Begriff des Sozialismus gege-
bener — sondern ein historischer. Er hängt zu-
sammen mit der weltgeschichtlichen Rolle des Juden-
tums, welches ich im Sinne Heinrich Heines als ein
Prinzip, ein Ferment ganz eigener Art — als Gegen-
satz zur hellenischen Weltanschauung anspreche.
Die Frage ist der Erörterung wert, warum der Marx-
ismus auf die Juden eine so mächtige Anziehungs-
kraft übt.
Nun, die Juden haben infolge ihrer unterdrück-
ten Stellung seit jeher ihr Heil davon erwartet, die
sie beherrschenden Klassen durch ein logisch-abstrak-
tes System zur Raison zu zwingen. Es liegt auch in
ihrer Psyche, die Macht über die Welt von einer
Zauberformel zu erwarten, welche ein tieferes Ver-
hältnis zu den Dingen erspart; sei diese nun das
Geld oder eine erlernbare Idee, wie sie beispielsweise
— 15 —
der Marxismus bietet, der gewissermaßen geistiges
Geld ist. Indem man sich an einen festen Stand-
punkt bindet, schafft man sich Überiegenheitsgefühle
und eine Quelle scheinbarer Kraft, welche den Man-
gel au Persönlichkeit ersetzt. Der Marxist — man
wird das durch eine Art von Gnadenwal — dünkt
sich vielfach auch als geistige Persönlichkeit den
übrigen Menschen überlegen, weil er in der Lage ist,
sich rasch ein Urteil über jegliche Erscheinung zu
schneidern.
Die Sozialdemokratie in ihrer marxistischen Ge-
staltung kommt dem Judentum gleichzeitig sozial
und geistig am Vollkommensten entgegen, indem sie
die Formel garantiert, der Welt Erbe zu gewinnen.
Sie gewährt ihren Adepten jenen Hochgenuß, um
dessentwillen der Leitartikel auf der Welt ist: sie
gibt fertige Urteile. Welch ein Glück für denjenigen,
der die Welt am liebsten journalistisch betrachtet,
durch ein einziges Gelübde in den Besitz dieser
Fähigkeit zu gelangen ! Nun gar ein System, welches
nicht nur für alle Erscheinungen inklusive der Dre-
hung der Gestirne ein fertiges Urteil, sondern auch
ein moralisches Hochgefühl vermittelt. Die Juden
finden eine geringere Schwierigkeit darin, eine theo-
retische Weltanschauung fertig zu übernehmen.
Das Judentum als weltgeschichtlisches Prinzip
besonderer Kategorie, dessen Eigentümlichkeit es ist,
mit jeder Frage der Menschheit irgendwie in Konnex
zu treten, besteht auf dem marxistischen Dogma,
weil darin ein Mittel liegt, den Sozialismus für sich
international zu monopolisieren. Dadurch wird eine
natürliche urwüchsige Bewegung, wie es die Arbei-
tersache ist, der inneren Beweglichkeit beraubt und
zu einer Kirche, deren Wesen darin besteht, eine
Doktrin als Machtmittel auszuwerten und die Macht-
organisation zum Selbstzweck zu erheben. Seit der
Aufrichtung der sozialdemokratischen Kirche haben
16 —
wir nur mehr die Wahl zwischen der Unfehlbarkeit
des Papstes und derjenigen des Genossen Austerlitz;
wobei jener den Vorzug einer längeren Gewöh-
nung hat.
Ob nicht eine Gewerkschaftsbewegung nach
englischem Muster hingereicht hätte, einen Staats-
mann zu all den Leistungen zu inspirieren, welche
wir jetzt mit der Etablierung einer marxistisch-ter-
roristischen Klerisei erkauft haben ? Ob nicht der
katholische Klerikalismus seinerseits eine Folge der
Sozialdemokratie ist? Dadurch, daß diese alles gute
Gewissen herrisch an sich gerissen hat, werden große
Massen des Volkes vielleicht dazu getrieben, bei der
Kirche Anlehnung zu suchen. In England, wo die
Arbeiterbewegung eine mehr technisch-politische
Angelegenheit ist, gibt es keinen gefährlichen Kle-
rikalismus, in Deutschland aber hat die Sozialdemo-
kratie als polare Erscheinung die Macht des Zentrums
ausgelöst und in Frankreich flüchtet sich alles, was
mit der Sozialdemokratie nicht mittun will, in die
Kirche.
VII.
Die künftigen Staatsmänner, welche aus dem
anarchischen Chaos, das sich über uns breitet, neue
Fäden ziehen und sie zu neuen Geweben wirken
werden, stehen vor der Aufgabe, für konkrete Staa-
ten und Reiche auf Grund der besonderen Geschichte,
der wirtschaftlichen, geographischen und ethnischen
Bedingungen die Kulturpolitik vorzuschreiben und
diese zur Rechtfertigung der Machtpolitik auszuwer-
ten. Umgekehrt wird jenes Volk das mächtigste
werden, welches die eigenen Volksgenossen durch
eine freigebige und hochherzige Sozialpolitik stark
und fruchtbar macht. Parteien mit universalistischen
Tendenzen, welche sich nicht in Reichs- und Staats-
gedanken konkretisiert haben, können von rechts-
— 17 —
wegen gar nicht verlangen, in Fragen der Reichs-
politik gehört zu werden. Dies ist der Grund, warum
die Sozialdemokratie zur auswärtigen Politik kein
naturwüchsiges Verhältnis hat. Ist sie doch program-
matisch verpflichtet, den Gesichtspunkten der Welt-
partei alle Sonderinteressen des Staates unterzuord-
nen. In dem Briefwechsel der Sozialistenführer über
auswärtige Politik, spielt der Gedanke eine bestim-
mende Rolle, ob diese oder jene Stellungnahme dem
Interesse der Gesamtpartei dienlich sei.
Die Kultur marschiert auf getrennten Linien
heran und ihre Zusammenfassung zu politischen Ge-
bilden ist ein Problem, dem gegenüber die bisherigen
ein Kinderspiel waren. Sie stellt hochgespannte An-
forderungen an die synthetische produktive Kraft
der Köpfe und verlangt komplexe Erfindung, ge-
wachsen auf dem Grunde einer schöpferischen Staats-
anschauung oder eines nationalen Willens.
Victor Adlers besonderer Zug ist, daß er zu
der beschriebenen Rolle der Sozialdemokratie eine
starke realpolitische Begabung mitbringt, welche er
aber im Namen einer starren Doktrin auszuleben
sucht. Daraus entwickelt sich eine gewisse Unauf-
richtigkeit, der er auf die Dauer nicht entgehen
kann. Immerhin muß man ihm das Zeugnis geben,
daß er der hingebungsvolle Vertreter einer Idee und
einer Klasse ist. Dazu reicht ein Politiker aus. Fehlt
ihm nur eine Haupteslänge zum eigentlichen Staats-
mann, dem Repräsentanten eines Volks,
— 18 —
Mann und Weib.
Von August Strindberg.
(Aus der schwedischen Handschrift übersetzt von Emil Schering.)*)
Seine eigene Statue.
Neulich kam eine Ansichtskarte in meine Hände.
Sie stellte einen monumentalen Brunnen vor, mit
einer Prauengestalt aus Marmor in natürlicher Größe.
Die Gestalt war mit einem modernen Kleid aus Wolle
schön drapiert und hielt ein Buch in der Hand. Es
war schön, die Linien waren rein, die Palten des
Kleides fielen in Kaskaden auf den kleinen Stiefel
hinab . . .
Diese Dame habe ich schon gesehen, dachte ich.
Ich las die Unterschrift des Bildes. Ja, sie war es,
ich habe sie gekannt, sie griff einmal mit andern in
mein Schicksal ein. Sie war mir sonst gleichgültig,
auch weil sie die Frau eines anderen Mannes war.
•) Diese neueste Arbeit Strindbergs wird hier als erster und
einziger Druck veröffentlicht. Die Buchausgabe, der sie zugehört, wird
erst 1910 erscheinen. Der Übersetzer hatte, wie er mir mitteilt, das Ka-
pitel ursprünglich »einer großen Wiener Tageszeitung« zugedacht, die
ihn um einen Beitrag von Strindberg ersucht hatte. Die Redaktion
hat es ihm mit der folgenden Begründung zurückgegeben : »Es ist
in dieser Arbeit zu deutlich ersichtlich, daß gewisse
geistige Defekte, an denen Strindberg immer gelitten
hat, sich noch in bedenklichem Maße verstärkt haben.
Die Leser würden geradezu stutzig werden, daß man
ihnen die Ergüsse einer kranken Psyche vorsetzt.« »Sie
sind also gewarnt !«, schließt der Übersetzer seinen Brief an mich. Ich
habe ihm mitgeteilt, daß ich an der Spitze der gedankenvollen Betrach-
tungen diesen Erguß einer gesunden Wiener Psyche verewigen werde.
Ich war nicht neugierig zu erfahren, wie sie heiße. Sie trägt den Namen
Wien und das genügt. Gewiß war es verfehlt, die Wortführer einer
Geistigkeit, die eben noch für die Texte des Udelquartetts emp-
fänglich ist, mit Strindberg in Versuchung zu bringen. Aber
— 19 —
Ich fragte nach, warum sie ein Denkmal in
weißem Marmor erhalten habe. Man antwortete, sie
sei eine Dichterin gewesen. Wie eigentümlich, daß
ich das nicht gewußt habe! . . . (Sie schrieb jedoch
nur Feuilletons.)
Aber ich habe sie in Situationen gesehen, die
sie nicht ehrten. Sie hatte nämlich meine Bücher
gelesen, mußte sich eine seltsame Vorstellung von
meiner Persönlichkeit gemacht haben, denn sie zog,
um gesellig zu sein, eine häßliche Seite auf und ent-
blößte in einem Augenblick eine nicht schöne Seele.
Ich erinnere mich, daß ich verstummte und errötete.
Da erschrak sie, daß sie sich demaskiert habe, und
sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich war in ihrem
Hause ; sie war unglücklich, weil sie als Verheiratete
nicht wie eine Unverheiratete leben konnte. Sie zog
es ist ein wahres Glück, daß man den Ausdruck ihres Wider-
strebens in so typischer Fassung der Kulturgeschichte überliefern kann.
Diese Verzichtgebärde des Spießers, der gehofft hatte, Strindberg werde
sich bereits in den Rahmen, sagen wir des ,Neuen Wiener Tagblatts' ge-
fügt haben, erhöhe uns den Qenuß an der bedeutsamen Arbeit ! . . Daß
sie in jedem Wort der Frauenbetrachtung widerspricht, aus der ich
selbst den Mut gegen die Morallügen der Menschheit schöpfe, wider-
spricht nicht ihrer Berechtigung, in der , Fackel' zu erscheinen. Dies
unbeirrbare Staunen über das Weib, dessen Seelenverlorenheit dem
göttlichen Plane trotzt, schwebt scheinbar in überirdischer
Höhe, wurzelt aber in den Tiefen eines erotischen Lebens, aus
denen allein die Kraft solcher Absage gewonnen wird. So mit
Genuß in der Hölle zu braten, ist viel, wenn man aus ihr schon
den Himmel nicht machen kann. Über die Nichtmoral des Weibes
kommt kein Mann weg, aber die Enttäuschungen eines Stirndberg
erwachsen zum hinreißendsten Bekenntnis, das die moderne
Welt vernommen hat. Und wie sich davor ein Wiener Feuilleton-
redakteur an den Kopf greift, ist das sehenswerteste Schauspiel
ihres Wurstelpraters.
K. K.
— 20
sich Verdrießlichkeiten mit ihrem Mann zu, mit
anderen Worten: er schlug sie.
Und jetzt nach dem Tode errichtet er ihr eine
Marmorstatue auf einem öffentlichen Platze. Hat er
die sich selber errichtet? konnte ich fragen. Ja, er
hat sie sich selber errichtet, der Erinnerung an das
Schöne, das er in ihre Seele legte, und das ich nie
gesehen habe.
Sein Ideal.
Alles, Modell und Statue, war das Werk des
Bildhauers. Als er dieses Weib zu lieben anfing, be-
gann sein Schöpfungswerk. Aus ihrer ungeordneten
Seelenmaterie machte er mit seinen schönen Gefühlen
eine Gedankenform, die das Weib zuerst bewunderte
und verehrte, und der es dann gleichen wollte. Aber
sie vermochte nicht mitzukommen ; zuhause strengte
sie sich wohl an, die Pose und die Gebärde für eine
Weile einzunehmen, kam sie aber in Gesellschaft, so
warf sie Maske und Kostüm ab, fiel aus der Rolle.
Aber der Mann arbeitete an seiner Gedanken-
form ; litt, wenn er ihr keine Fasson geben konnte ;
verzweifelte, wenn sich das widerstrebende Material
seinen schönen Absichten nicht unterwerfen wollte.
Litt am meisten, wenn er sah, wie sie von anderen
unfähigen Händen modelliert wurde. Die Gesellschaft,
deren Essen, Kleider, Wagen sie in Feuilletons
schilderte, hatte ihr Bild von diesem Kind
der Welt. Der Bildhauer trug sein besonderes Bild,
das er schließlich in Marmor sah. Ich war nur erstaunt,
daß sein Marmor dem wirklichen Bild so genau glich.
Doch merkte ich, daß er retuschiert hatte. Die Ver-
hältnisse der Brust und des Rumpfes waren geändert,
die Arme ausgefüllt, der Fuß war schön gemacht,
obwohl er es in Wirklichkeit nicht war; das Oval
des Gesichtes war fixiert, obwohl es etwas hexenartig
war. Aber auch die Pose selber war vor allem sein
— 21 —
Eigentum; über ein Buch in Nachsinnen versunken.
Er hatte sie wohl in einem solchen Augenblick ge-
sehen, da sie am meisten Seele und am wenigsten
Erdgeist war und am besten seinem schönen Ge-
danken entsprach.
Die Gattin des Dichters ist ja etwas Apartes,
aber auch von ähnlicher Art. Die Menschen machen
weite Reisen, um die Muse des Dichters zu sehen.
Besitzt sie Selbstbeherrschung, so gibt sie die Rolle,
oft aber wird sie müde und man bekommt etwas
ganz anderes zu sehen.
Im Allgemeinen bewundert sie ihren Dichter
nicht, obwohl sie sich so stellt. Daß er sie verehren
kann, versteht sie nicht, obwohl sie ihren Vorteil
dabei findet. Und sie ist sehr geneigt, ihn für einen
Schwindler zu halten, weil er sie verehrt. Sie möchte
sagen, daß er sich selber in ihr verehrt, aber das tut
er nicht.
— Warum möchtest du nicht so schön werden,
wie ich dich machen will? fragte er sie.
— Wie bist du denn selber?
— Ich ? Du sollst besser als ich sein, damit ich
zu dir hinauf sehen kann. Du sollst vollkommen sein,
denn du bist ja mein Ideal.
Ideal nannten wir in den sechziger Jahren das
geliebte Weib. Wir wußten wohl, daß Dantes Beatrice
sich mit einem andern verheiratete, daß Stagnelius'
Amanda vielleicht nicht so liebenswürdig war, daß
Malmströms Angelika kein Engel gewesen, aber wir
empfanden, daß in des Mannes subjektiver Auffassung
der Liebe eine schaffende Kraft liegt, die zuerst ein
Idealweib erschafft und dann durch sie ein Kind. Das
ist wohl das Göttliche bei dem sonst an die Erde
gebundenen Mann, daß er schaffen kaun, und im
schlimmsten Fall aus dem Nichts I
Dabei kann man wohl stehen bleiben. Sonst ist
die Sache unerklärlich !
22
Selbstbetrug.
Es stand ein junges schönes Mädchen vor dem
Käfig der Bären. Sie war es gewohnt, daß alle ihrer
Schönheit untertänig waren; darum dachte sie,
Menschen und alle geschaffenen Wesen seien lauter
Güte.
Sie wollte nun zeigen, wie unwiderstehlich sie
auch den wilden Tieren gegenüber sei, und vor den
Zuschauern steckte sie ihre kleine Hand durch das
Gitter, wahrscheinlich, damit sie geküßt werde.
— Nehmen Sie sich in Acht, er beißt! warnte
ein Zuschauer.
— Ach nein, er ist so artig, antwortete die Un-
widerstehliche.
Mit einem Ruck hatte der Bär die kleine Hand
in seinem großen Rachen.
Eine Minute hat sechzig Herzschläge, jetzt aber
wurden es einhundertzwanzig.
Der Bär hielt fest, während er ihr ins Auge
sah; vielleicht sagte er etwas mit dem Blick oder
fragte etwas; denn er ließ die Hand wieder los, als
er in dem schönen Angesicht gesehen hatte, was
er wollte.
Der Troubadour.
Wir hatten eben einen Troubadour, der das
Weib und die Liebe besang, jedoch nicht Jungfrau
und Mutter und Kind, sondern die Dame. Er trat
immer als Don Juan auf, obwohl er beständig Fiasko
machte. Seine große Liebe und sein großes Weib
waren eine Strafvorstellung. Er hat sie selbst ge-
schildert, ohne es zu wissen, als eine etwas betagte
und korpulente, altkluge, praktische, wirtschaftliche
Aufwärterin, die lüderlich lebte, die Kunst, Jungfrau,
Märtyrerin, verfolgte Unschuld zu spielen so gut
verstand, daß der Troubadour an sie glaubte.
— Wenn ich einen Mann fände, der an mich
glaubte 1 war ihr gewöhnlicher großer Stoßseufzer.
— 28 —
Der Troubadour kam und glaubte (das heißt,
ließ sich anführen).
Nun begann er Gesichte zu sehen I
In der Nacht abwartend, bis der letzte Lieb-
haber abzog, wurde er aus Barmherzigkeit aufge-
nommen. Bettelte und weinte sich hinein, um in der
Küche auf einer Bank zu schlafen.
Dann wurde sie seine Muse; er bekam den
Wahn, sie gebe ihm seine Gedichte. Sie begriff seine
Dichtungen nicht, fühlte sich aber von diesem
Weihrauch angenehm berührt. Möglich ist, daß die
Berührung mit dieser höheren Welt von Schönheit,
die sie nur ahnte, ihr ein Korkkissen gab, auf dem
sie sich schwimmend erhalten konnte.
Schließlich errang er sie sich; isolierte sie und
verbarg sie. Da aber kam die Not und die Krankheit,
und nach den schrecklichsten Qualen wurde er ge-
zwungen, von ihr zu leben.
Als es sich wieder aufklärte, schrieb er, um
sich emporzurichten und die Schuld zu bezahlen, ein
herrliches dramatisches Gedicht über sie.
Sie saß in einer fremden Stadt und erwartete
den Triumph, der wirklich nicht ausblieb. Als das
Publikum ihm huldigte, stand er auf, wie inspiriert,
lehnte die Huldigung für seine Person ab und brachte
ein Hoch auf das große Weib aus, das ihm dieses
Gedicht geschenkt habe.
Am nächsten Morgen empfing der Triumphator
von einem Freund ein Telegramm des Inhalts, das
große Weib sei geflüchtet, um sich mit einem reichen
Fleischer zu verheiraten, »der sie ernähren könne«.
Perikles' Aspasia heiratete nach seinem Tod
den Viehhändler Lysikles. Warum nicht! Daß aber
Sokrates auch zu ihren Bewunderern gehört hat, setzt
mich in Erstaunen; und daß noch in der Geschichte
zu lesen ist, Perikles habe seine großen politischen
Reden von ihr bekommen, ist sicher nicht wahr.
24 —
Zuerst fiel der Troubadour zusammen. Aber er
schalt weder noch klagte, sondern fuhr fort, das Lob
der Frau zu singen. Bekam eine neue Aspasia, zwei,
drei. Sie betrogen ihn, er ahnte es oder er wußte es,
aber er fuhr fort, das Lob der Frau zu singen, wie
eine gut aufgezogene Spieldose, die erst stehen bleibt,
wenn sie abgelaufen ist.
Eines Tages war das Spielwerk abgelaufen: er
starb. Der Tod war nicht schön, aber das Begräbnis
war glänzend, und er selber hatte es im Voraus
arrangiert.
Er war kein boshafter Mann, kein schlechter,
sondern recht gefühlvoll und nicht selbstsüchtig;
aber wie kam er in dieses Elend?
Ich will antworten in meinem Namen und in
seinem: Wir waren gottlos, und darum sanken wir
in die Erbärmlichkeit unseres eigenen Wesens hinein.
Wir liebten Schönheit und Reinheit, alles aber ver-
wandelte sich in Dreck, als wir uns von den ewigen
Urbildern zu den vergänglichen Abbildern wandten
und Baal (und Astarte) verehrten, statt Gott im
Himmel.
Die Frucht der Täuschung.
Als wir entdeckten, die große Liebe sei eine
Täuschung, schlössen wir daraus, alles Andere, das
weniger wert ist, sei eine noch größere Täuschung.
So gaben wir die Hoffnung auf, daß wir das finden
würden, was wir suchten. Wurden für einige Zeit
untätig und gleichgültig ; was hat es für einen
Zweck, sich anzustrengen, wenn man wieder ge-
täuscht wird?
Aber die Sache hat auch eine andere Seite.
Wie fühlt sich das Weib, das der Gegenstand für
die gewaltige Liebe eines Mannes wird, der sie, wie
sie weiß, nicht entspricht? Lächelt sie über seine
Halluzinationen, hält sie ihn für dumm, untergeord-
net, weil er sich so leicht anführen ließ?
25 -
Das böse Weib lacht heimlich, davon bin ich
überzeugt. Sie verachtet ihn in Wirklichkeit, über-
nimmt jedoch die Rolle und spielt sie bis zum Schluß,
das heißt bis zur Trauung. Dann läßt sie die Maske
fallen, und er sieht, daß er in die Hölle gekommen
ist, statt ins Paradies.
Das gute Weib, glaube ich, schämt sich vor
sich selber, wenn es so verehrt wird, legt vielleicht
Fehler ab; empfängt durch Influenz gute Impulse
und kann in ihren besseren Augenblicken ausrufen :
»Ich bin nicht die, für die du mich hältst ; du über-
schätzest mich!«
Das glaube ich bloß; denn es von einem Weib
wissen, ist unmöglich, weil sie nichts von sich sel-
ber weiß: das Selbstbewußtsein fehlt ihr.
Vielleicht soll das Schöne und Gute, das das
Weib beim Manne weckt, in ihren Schoß nieder-
gelegt werden, um in einem Kind wieder geboren
zu werden, dessen Seele dann ein Ebenbild des Gött-
lichen wird, das im Mann vorhanden war!
Das ist ja der Weg zur Veredlung des Men-
schengeschlechts, die der Zweck der Liebe ist! Dann
wird ja die Täuschung Nebensache, da der Zweck
erreicht wird!
Hexen.
Swedenborg glaubt an Hexen, da er sie gese-
hen habe, und das tue ich auch, denn ich habe
einige gekannt.
Unter Hexe ist ein Weib zu verstehen, das
durch einen starken Willensakt ihre körperliche Seele
aussenden kann. Sie kann diese nachts zu schlafen-
den Jünglingen senden und ihnen die Illusion einer
Umarmung geben. Das war der Succubus oder In-
cubus des Mittelalters, der in Goethes »Paust« vor-
kommt, und den der Autor der »Magie des Mittel-
alters« (Rydberg) nicht begreifen konnte, weil er im
Fleisch lebte.
— 26 —
Ich habe vor vielen Jahren im Ausland eine
Hexe gekannt, ohne zu verstehen, wen ich vor mir
hatte. Sie konnte mein Gesicht so verdrehen, daß
ich sah, was nicht vorhanden war; sie konnte mich
besuchen, wann sie wollte; wenn sie böse auf mich
war, konnte sie mir Selbstmordmanie einflößen; sie
besaß die Kraft, mir alle möglichen Gefühle beizu-
bringen; sie wünschte sich so stark Geschenke und
Geld, daß ich von innen die Eingebung bekam, ihre
unausgesprochenen Wünsche zu erfüllen.
Ich ging also mit der »Hexe« die Straße hin-
unter, und aus der Entfernung sahen wir, wie eine
Frauensperson vergebens auf ein Zweirad zu kommen
suchte.
— Nein, du kommst nicht eher hinauf, als ich
es will, murmelte meine Hexe.
Die Dame mühte sich eine ganze Weile ab,
aufs Rad zu kommen.
— Hinauf mit dir! sagte die Hexe und wandte
den Kopf ab. Im selben Augenblick war die Dame
im Sattel.
Sie hatte also das böse Auge, war »jettatrice«,
brachte einem Unglück, war natürlioh grausam und
sinnlich; denn das gehört dazul
Sie war sehr häßlich, konnte einen aber so
blenden, daß sie schön aussah, jedoch nicht für alle
und nicht immer. Obwohl sie 43 Jahre alt ward, konnte
sie gelegentlich die Illusion erwecken, daß sie 17 sei.
Nun will ich gestehen, daß die meisten Frauen
diese letzte Fähigkeit besitzen. Man nennt es ihren
»Charme« oder Reiz, und der kann einem Mann buch-
stäblich den Verstand rauben.
Viele Mädchen, welche diese gefährliche Gabe
entdeckt haben, mißbrauchen sie aus Unverstand.
Aber viele handeln wie auf Befehl, unter Zwang und
sind geschützt in ihrem schrecklichen Beruf: gott-
lose Männer zu strafen.
— 27
Darum ist der Gottlose wehrlos gegen die Furie;
und das hat einfältige Männer veranlaßt, von »Frauen-
macht« zu sprechen und zu schreiben. Sie hat nur
Macht über die Gottlosen.
Während der Hexenprozesse kamen oft Fälle
vor, daß Frauen sich selber angaben und verlangten,
verbrannt zu werden. Diese hatten wahrscheinlich
aus Neugier oder Unverstand gehandelt. Als sie das
böse Wesen hervorgerufen hatten und es im Körper
spürten, fühlten sie, der Scheiterhaufen sei die einzige
Befreiung.
Noch vor sieben Jahren las ich in einer Zeitung
von Hexen in Lima, die verlangten, verbrannt zu
werden.
Also, junge Frauen, pflegt eure Macht, die Gott
euch gegeben hat, aber für das Gute! Mißbraucht
ihr sie aus Herrschsucht, Bosheit oder Wollust, so
habt ihr den Wahnsinn oder den Tod zu erwarten I
Gleichstellung.
Die Gleichstellung, die gesetzliche, zwischen
Mann und Weib, kann niemals durchgeführt werden.
Und wenn man sie durchführte, würde das Weib
nur verlieren, denn der Mann müßte dann sich so
roh zu machen suchen, wie die Sache es verlangte.
Dieses Gefühl für sein Weib, das die Natur
beim Mann niedergelegt hat, ist in allen Gesellschafts-
klassen so ausgeprägt zu finden, daß ein Paria, der
sich verheiratet, seine Frau mehr respektiert, als sich
selber.
Man sagt: In den unteren Klassen schlägt der
Mann seine Frau immer, in den oberen Klassen zu-
weilen. Darauf habe ich so oft geantwortet: Ehe ein
Mann Hand an das Weib legt, das er liebt, muß sie
sich selber mehrere Male so tief erniedrigt haben,
daß die letzte Erniedrigung nur eine bloße Form
war, die von selber kam.
281-282
28
Aber der Mann, der durch nicht überlegten hei-
ligen Zorn zum Schlagen gezwungen wurde, wird
nachher von einem solchen Entsetzen ergriffen, von
einem solchen Lebensüberdruß, daß er sich töten will.
Es ist also eine Gewähr vorhanden, daß die
Frau besser behandelt wird, als sie verdient. Und in
der Häuslichkeit nach einer Szene, wenn der Mann
harte Worte gesagt hat, die aber wohl verdient
waren, ist er es, der am meisten leidet. So leidet,
daß er um Verzeihung bittet, »weil er Unrecht ge-
habt habe«.
Verkehrt.
Sie verlobte sich mit einem unbedeutenden
Mann, um einen andern zu ärgern. Aber sofort nach
der Verlobung bereut sie ihren Schritt und schreibt
an den ersten und beklagt sich:
Der Bräutigam ist eine kleine, boshafte Seele
und hat sie schon geschlagen ; er ist eben von einer
unheilbaren Krankheit aufgestanden ; er ist schwer-
mütig und wird ihr keine Lebensfreude gewähren ;
er hat kein Einkommen, weil sein Gehalt für Schulden
daraufgeht; er ist ihr bereits als Bräutigam untreu;
sie liebt ihn nicht, nimmt ihn aber, weil sie nicht
allein leben kann.
Als der verlassene Mann darauf antwortet, ihr
beistimmt und das unsympathische Bild vervoll-
ständigt, da, eins, zwei, drei, wendet sich das Papier
und gegen das Licht wird alles umgekehrt gelesen.
Der Bräutigam ist jetzt eine große Seele und
er ist gut gegen sie ; er hat diese Krankheit niemals
gehabt; er wird jetzt ihrer Jugend Freude schenken;
er ist ihr nicht untreu gewesen; sie liebt ihn, ohne
zu wissen warum.
Die Theosophen sagen : wenn man die Dinge
von der Astralebene anschaut, so zeigen sie sich
verkehrt. Darum sind Träume oft umgekehrt zu
deuten, durch Antiphrase; und in Swedenborg ist
— 29 -
eine Andeutung zu finden über diese pervertierte
Art, die Dinge zu sehen. Nur in einem gewissen
Gemütszustand, wenn die Bosheit einem das Gesicht
verkehrt, tritt sie auf.
Man spricht von Widerspruchsgeist, weiß aber
nicht, was es ist. Ein dämonischer Zustand, welcher
der physischen Influenz gleicht, bei der Gegenpol
den Pol anzieht, Norden Süden hervorruft, plus
minus verlangt. Um aber Influenz empfangen zu
können, muß man ein unselbständiges Wesen sein, in-
different, und es ist möglich, daß dieses Geschöpf ohne
Selbst bloß Influenz empfängt und schwarz zu weiß,
gut zu böse, Wahrheit zu Lüge umpolarisiert. Der
gute Mann wird böse, der Kranke gesund, Trauer
wird Freude, klein wird groß . . .
*
Aphorismen.*)
Von Karl Kraus.
Leute, die über den Wissensdurst getrunken
haben, sind eine gesellschaftliche Plage.
Der Nationalismus ist ein Sprudel, in dem jeder
andere Gedanke versintert.
*
Wenn einer sich wie ein Vieh benommen hat,
sagt er: Man ist doch auch nur ein Mensch! Wenn
er aber wie ein Vieh behandelt wird, sagt er: Man
ist doch auch ein Mensch!
»
Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken
können — das macht den Journalisten.
•
Wenn die ersten Enttäuschungen kommen, ge-
nießt man den Lebensüberdruß in vollen Zügen, man
ist ein Springinsfeld des Todes und leicht bereit, dem
*) Aus dem .Simplicissimus'.
— 30 —
Augenblick alle Erwartung zu opfern. Später erst
reift man zu einer Gourmandise des Selbstmords und
erkennt, daß es immer noch besser ist, den Tod vor
sich als das Leben hinter sich zu haben.
Meine Bücher.
Der erste Band von »Kultur und Presse«
wird im Herbst erscheinen. Als Motto werde ich
wahrscheinlich die folgenden Worte wählen:
> Freilich gibt es Tagesschriftsteller und Tagesschriftsteller: der
Moment kann ihm einen Wert verleihen, aber auch er dem Momente,
und ist das Letztere der Fall, so mag er seine Blätter zu einem Buche
zusammenlegen, wie ja das Jahr auch nur aus aneinandergereihten
Tagen besteht. Geist und Charakter des Schreibers, eine durchwaltende
Kunst- oder Lebensanschauung, die eigentümlich ausgeprägte Form der
Darstellung binden dann das Einzelne zu einem Ganzen zusammen.«
(.Neue Freie Presse', 30. Mai 1909,
Wiederabdruck eines Artikels vom 18. Mai
1886: Ludwig Börne von Ludwig Speidel.)
*
Über »Sprüche und Widersprüche« haben
sich in den letzten Wochen geäußert: Die
,Pariser Zeitung' (das einzige deutsche Blatt
in Prankreich) in ihrer Nummer vom 8. Mai des
VIII. Jahrgangs durch vollständigen Nachdruck
des Karl Bleibtreuschen Essays aus der ,Münchner
Allgemeinen Zeitung', die Berliner Revue ,Das
Blau buch' (13. Mai) in einem Artikel »Der
Aphorismus«, der viel Anerkennung bringt, ohne dem
Wesen des Buches nahezukommen, und — zum ersten-
- 31
male eine österreichische Zeitschrift — die , Wiener
Mitteilungen literarischen Inhalts', die im
Verlag R. Lechner. (Wilh. Müller) erscheinen. Ein
mir persönlich unbekannter Autor hat dort in
der Nummer vom 1. Juni des XXI. Jahrgangs den
folgenden Aufsatz veröffentlicht:
»Sprüche und Widersprüche«.
Welche Erlösung fühlt der Geist, der willig war, vom Leben zu
empfangen, jedoch angekränkelt von der Moral der Gesellschaft, zu
schwach ist zu gebären, wenn er, plötzlich seiner reifen Erkenntnisse
entbunden, die Kinder seines traumhaften Fühlens als Geschöpfe voll
Leben und Schönheit vor sich sieht. Die Fähigkeit, dem beladenen, nach
Befreiung ringenden Geist diese Lust der Erlösung zu bieten, verrät mir
den Künstler. Eine jede Erkenntnis, die mir der Künstler zuträgt, muß,
soll sie mich im Innersten packen, schon von Anbeginn mein Eigen ge-
wesen sein. Er hat nur das Ziel, sie in mir zu wecken und sie mir in
einer Form zu zeigen, die mir, habe ich sie erkannt und empfunden, als
die einzig mögliche, als die vollendete erscheinen muß. Das fühlt der
Künstler, darum strebt er auch nicht so sehr, der Menschheit Neues zu
sagen, wie danach, jenen, die zu empfinden und zu erkennen vermögen,
den Genuß der Form, die Schönheit des Ausdrucks zu bieten. Die Er-
kenntnis bleibt ihm immer nur Mittel und gilt ihm nur als wertvoll, so sie
sich seiner Begierde nach künstlerischem Gestalten fügt. Dieses aber ge-
währt ihm jene Lust, die er als Zeugender den willigen und würdigen
Empfangenden mitfühlen läßt.
Zu diesen Betrachtungen hat mich das neueste Buch von Karl
Kraus angeregt, das vor kurzem im Verlag von Albert Langen in
München erschienen ist. Eine stattliche Anzahl von Aphorismen, die Karl
Kraus im Laufe der letzten Jahre seinen Lesern beschert hat, sind hier in
einen Band vereinigt. Man weiß von dem Autor im allgemeinen leider
nur, daß er ein gewandter Fechter und sarkastischer Glossenschreiber ist,
läßt ihn wohl auch als eigenartigen Stilvirtuosen gelten, seine Künstler-
schaft jedoch würdigt man noch immer nicht gehörig. Daß ihm der Kampf
Lebenselement, die Sprache eine Gottheit ist, der er alles opfert, um
von ihr die gnädige Gewährung des Genusses ihrer Schönheit zu erlangen,
das glaubt man ihm nicht, weil man ihn — zu wenig kennt. Das große
Publikum kennt den Karl Kraus der letzten Jahre nicht, es hat nicht
Schritt gehalten mit seiner Entwicklung, es konnte dem rasend Vorwärts-
drängenden nicht folgen, verspürte wohl auch wenig Lust dazu, als er
»heimlich in eine Betrachtungsweise abgeglitten ist, die als das einzige
Ereignis gelten läßt: wie er's erzählt«.
Sein vor wenigen Monaten erschienenes Werk »Sittlichkeit und
Kriminalität« wurde vom Publikum nicht gelesen, von der Kritik hier-
— 32
zulande nicht genannt. Das mag hingehen. Ließ sich doch seitens der
zünftigen Kritik manches dem Publikum plausible Argument ins Treffen
führen, das es entschuldbar erscheinen lasse, dieses Buch zu übergehen.
Aber das neue Buch, das an keinen >Fall« anknüpft, das Stoffliche dem
Künstlerischen gänzlich unterordnet, soll und darf nicht totgeschwiegen
werden.
Karl Kraus, eine echte Künstlernatur, schätzt seine Kunst und sich
als deren Träger hoch. Sein kritischer Geist leistet ihm nur Zuträger-
dienste. Er will kein System dozieren, schwankt er doch selbst tändelnd
zwischen Meinung und Gegenmeinung und stellt entschlossen der These
eine Antithese gegenüber. Was tut's, wenn er es nur anmutig zu machen
weiß. Man dringe auf den Kern, so erweist sich dieses blendende Spiel
mit witzigen Worten, Sarkasmen und Paradoxen als eigenartige Kunst.
Banale Lokalismen, derbe Ausdrücke zieht er mitunter zu einer ver-
blüffenden Wirkung heran. In allem verrät Karl Kraus feinsten Geschmack.
Man beachte nur beispielsweise die Gruppierung der Aphorismen in dem
vorliegendem Buche: »Weib, Phantasie«, > Moral, Christentum«, »Mensch
und Nebenmensch«, »Dummheit, Demokratie, Intellektualismus«, Der
Künstler«, »Über Schreiben und Lesen«, »Länder und Leute«, »Stim-
mungen, Worte«, »Sprüche und Widersprüche«. Jedes Kapitel für sich
dem Leitgedanken angepaßt und das Ganze zu einer höheren Einheit
gefügt. »Qual des Lebens — Lust des Denkens« : diese Erkenntnis hat
Kraus dem Buche als Motto gegeben. Man spürts fast aus jeder Zeile,
wie er aus der Qual Lust zu schöpfen weiß, wie er unter unsäglichen
Schmerzen empfängt, um sich schadlos zu halten an der Wonne, die
ihm das Schaffen bietet. »Ein guter Stilist soll bei der Arbeit die Lust
eines Narzissus empfinden«, sagt er irgendwo. Er schafft bewußt seinet-
wegen und wirkt so unbewußt und daher mit elementarer Gewalt auf
den Empfangenden. Seine Stellung zu den Dingen schwankt und muß
schwanken, da er sich ihnen unmittelbar gegenüberstellt, keinen von
irgend einer Rücksicht diktierten Standpunkt einnimmt. Dennoch gelangt
er zu einer Philosophie, die gleich seiner Kunst sein Ureigenstes darstellt
und in seinem Wesen begründet ist.
Zu dieser Philosophie bekehren zu wollen, wäre ein eitles Beginnen.
Es ist nicht jedermanns Sache, dem Vorurteil eines Geistreichen gegen-
über dem traditionellen Urteil der Gesellschaft den Vorzug zu geben,
dem bald auf einsamen verschlungenen Pfaden wandelnden Sucher, dem
bald auf steinigen Ufern dahinrasenden haßerfüllten Kämpfer unbedingt
Gefolgschaft zu leisten.
Nicht das Ziel seines Kampfes, die Form seiner Kunst will ich
hervorheben. Wer die deutsche Sprache liebt und sich laben will an der
Kunst ihrer Meisterung, der versäume nicht, die »Sprüche und Wider-
sprüche« immer wieder durchzublättern.
Emil Robert.
- 33 -
Von mehreren Lesern wird mir ein Zeitungs-
ausschnitt zugesendet, auf dem die folgenden Worte
zu lesen sind :
»Geistige Bedeutung, wo immer sie sich zeige, ist eine Macht,
die unfehlbar die Menschen bezwingt, und sie öffentlich nicht anerken-
nen wollen, wenn man sie in seinem Innern auch noch so deutlich
empfindet, ist eine Heuchelei, die den Charakter zerstört und den Ver-
kehr der Geister unter einander zur Lüge macht. Es ist die wahre
Sünde wider den heiligen Geist. <
(,Neue Freie Presse', 30. Mai 1909,
Wiederabdruck eines Artikels vom 18. Mai
1886: Ludwig Börne von Ludwig Speidel.)
Literatur und Presse.
Eine Geschichte in Briefen.
Wien, 29. April 1909.
Sehr geehrter Herr Baron !
Ihr uns freundlichst für die Jubiläumsnummer zur Verfügung
gestelltes Gedicht »Anakxeontisches Liedel« wurde von sehr vielen
deutschen Zeitungen nachgedruckt. Von den Nachdrucken, die zu
unserer Kenntnis gelangt sind, war einer in der .Frankfurter Zeitung'
am 11. April enthalten, und aus dieser ging das Gedicht wahrscheinlich
in die .Nordwestdeutsche Morgenzeitung' (Oldenburg) vom 15. April, in die
.Hamburger Nachrichten' vom 18. April, in den .Hannoverschen Courier'
vom 13. April, in das .Altonaer Tageblatt' vom 14. April etc. über.
Wir glauben uns erinnern zu können, daß Sie, geehrter Herr
Baron, einem »Lyrischen Kartell« angehören, in welchem Falle Ihnen
Ersatzansprüche zustehen.
Wir zeichnen mit vorzüglicher Hochachtung
der Verlag der .Fackel'.
Berlin, 3. Mai 1909.
Hochgeehrter Herr Baron !
Unter Wiederbeifügung der Anlage teilen wir Ihnen ergebenst
mit, daß leider ein Einschreiten gegen den stattgehabten Nachdruck un-
möglich ist, da belletristische Arbeiten aus österreichischen Blättern, sofern
das Nachdrucksverbot fehlt, nachdrucksfrei sind.
Mit vorzüglicher Hochachtung
die Geschäflsstelle des Allgemeinen Schriftstellervereines.
Alt-Rahlstedt bei Hamburg, 5. Mai 1909.
Besten Dank, lieber Herr Kraus, für Ihre freundliche Aufmerk-
samkeit. Aber leider, siehe gütigst oben, ist dies das Ergebnis.
Ihr Liliencron.
— 34 —
Wien, 7. Mai 1909.
Hochgeehrter Herr Baron !
Mit dem besten Dank für Ihr freundliches Schreiben teilen wir
Ihnen mit, daß auf dem Umschlag der .Fackel' das Nachdrucksverbot
ausdrücklich bekanntgegeben ist. Auch erscheint unsere Zeitschrift seit
Nummer 263 in einer eigens für Deutschland gedruckten Ausgabe.
Vielleicht wollen Sie das dem Verein mitteilen.
In vorzüglicher Hochachtung
der Verlag der , Fackel'.
P. S. Wir erlauben uns gleichzeitig, eine Nummer der deutschen
Ausgabe unter Kreuzband zu übersenden.
Alt-Rahlstedt bei Hamburg, 15. Mai 1909.
Lieber Herr Karl Kraus !
Eben schickt mir Herr Krüger-Westend den mitfolgenden Brief,.
aus dem ich nicht recht klug werde. Vielleicht schicken Sie mir Ihre
Antwort so, daß ich sie ihm übermitteln kann.
Mit alter Verehrung
Ihr Lihencron.
Altona-Ottensen, 14. Mai 1909.
Hochgeehrter Herr Baron !
Von der Wiener Wochenschrift ,Die Fackel' ist seinerzeit Ihr
»Anakreontisches Liedel< an die Presse verschickt worden. Wie so
viele Zeitungen, haben auch wir Ihr Gedicht nachgedruckt, das von dem
Wiener Verlag zu Propagandazwecken verwendet worden ist. Jetzt
meldet sich bei uns das Kartell lyrischer Autoren des Allgemeinen
Schriftstellervereines mit einer Honorarforderung für Nachdruck. Wir
haben ihm geschrieben, daß wir die Angelegenheit mit Ihnen, sehr
geehrter Herr Baron, wie schon früher einmal bei einem Nachdruck in
Kurt Küchlers .Schleswig-Holsteinischer Rundschau', selbst erledigen
werden. Wir bitten Sie nun, uns freundlichst mitzuteilen, ob der Wiener
Verlag berechtigt war, Ihr Gedicht der Presse mit einem Hinweis auf
seine Zeitschrift zur Verfügung zu stellen, und ob Sie unter diesen Um-
stünden eine Honorarforderung aufrecht erhalten. Wie sträuben uns
natürlich nicht, Ihnen auf Ihr Verlangen 25 Pf. für die Druckzeile (=M 6.—)
zu übersenden, würden uns aber vorbehalten, in diesem Falle aus prin-
zipiellen Gründen den Wiener Verlag, den eigentlichen Urheber der
ganzen Affaire, dafür zivilrechtlich verantwortlich zu machen.
In vorzüglicher Hochachtung grüßt Sie Ihr ganz ergebenster
Herman Krüger-Westend,
Feuilleton-Redaktion des Altonaer Tageblattes.
"Vien, 20. Mai 1909.
Hochgeehrter Herr Baron !
Die Feuilleton-Redaktion des .Altonaer Tageblatts' irrt nicht, son-
dern lügt. Von der .Fackel' ist Ihr Gedicht an die Presse nicht ver-
schickt und nicht zu Propagandazwecken verwendet worden. Nie hat
35
der »Wiener Verlag« Ihr Gedicht der Presse mit einem Hinweis auf
seine Zeitschrift oder in irgend einer andern Form zur Verfügung ge-
stellt. Er war ebensowenig »der Urheber der ganzen Affäre« und ist
ebensowenig zivilrechtlich dafür verantwortlich zu machen, wie ein
Bestohlener zum Diebstahl verleitet hat und zum Schadenersatz an den
Dieb verhalten werden kann. Wenn er schon freilich nicht selbst zu
Schaden gelangt ist und ihm doch eine Rolle in dieser Affäre zukom-
men soll, so ist es die des Anzeigers. Eine gewisse Gelegenheit war
ja dem Unternehmen günstig. Daß aber der Verlag der .Fackel' diesem
Vorschub geleistet oder gar die .Altonaer Zeitung' verleitet habe, davon
kann keine Rede sein. Die Sache verhält sich anders. Es ist wahr, daß
die , Fackel' seit zehn Jahren an einige größere deutsche Tagesblätter
gesendet wird, die den »Inhalt« abdrucken oder von dem Erscheinen des
Heftes im »Zeitschrifteneinlauf« Notiz nehmen. Zu diesen größeren
Tagesblättern, deren manche überdies auf die .Fackel' abonniert sind,
gehört die .Frankfurter Zeitung'. Die nun hat Ihr Gedicht aus der
.Fackel' übernommen und den Nachdruck mit den Worten eingeleitet :
»Die von Karl Kraus herausgegebene Wiener Wochenschrift , Die Fackel',
die mit ihrer neuesten (Doppel-)Nummer ihr zehnjähriges Bestehen feiert,
bringt folgendes ,Anakreontisches Liedel' von Detlev von Liliencron.«
Mit dieser Einleitung ging hierauf das Gedicht in die gesamte deutsche
Presse Deutschlands und des Auslands über. Ein paar Dutzend Aus-
schnitte, die uns von verschiedenen Bureaus zugesendet wurden, be-
rechtigen zu der Schätzung, daß Ihr Gedicht von mehreren hundert
Blättern — zwischen Berlin, Hamburg, Köln, München, Magdeburg,
Chemnitz, Dortmund, Linz, Graz, Riga und Bukarest — nachgedruckt
worden ist. Darauf wollten wir Sie, hochverehrter Herr Baron, aufmerk-
sam machen, aus »prinzipiellen Gründen«, und weil wir Ihnen die Ein-
nahme, die Ihnen aus einer energischen Kontrolle erflossen wäre, gern
gegönnt hätten. Wir selbst sind ja leider nicht in der Lage, die Zahl
der Gänserufe festzustellen, die sich in Deutschland erheben, wenn eine
große Zeitung den Ton angegeben hat. Diese6 automatische Verfahren,
dem literarische Werke heute den Ruhm verdanken, und das von dem
Signal eines einzigen Blattes abhängt, wäre erträglich, wenn es die
Provinzpresse nicht größenwahnsinnig machte und wenn man es nicht
erleben müßte, daß Feuilletonredakteure, die selbst den Nachdruck aus
zweiter Hand und das Original nie zu Gesicht bekommen haben, sich
nachträglich als Entdecker und Förderer aufspielen. Daß aber bei diesem
geistigen Schneeballsystem, welches nicht immer der Verbreitung einer
guten Sache dient, auch die Einkünfte des Autors proportional an-
wachsen, dafür sollte der Verein sorgen, der die Rechte der Schrift-
steller zu wahren hat, und er sollte, auf die Gefahr hin, künftige Nach-
drucke zu erschweren, bei einer so ergiebigen Gelegenheit wie dieser
aus den verstecktesten Provinzen des Geistes die Honorare eintreiben.
Wenn der Allgemeine Schriftstellerverein einfach an sämtliche reichs-
deutschen Tagesblätter — die deutsche Presse Rumäniens und Öster-
- 36 —
Teichs wird schwerer zu fassen sein — eine Aufforderung sendet, das
Nachdruckshonorar zu bezahlen, so kann er sicher sein, daß nicht ein
einziges den Tatbestand leugnen und die Zahlung verweigern wird, und
es wäre ein schönes Beispiel, wie Deutschland in einer lyrisch gelaun-
ten Stunde einen Dichter für die stumpfe Teilnahmslosigkeit eines gan-
zen Jahres entschädigen kann. Selbst Herr Krüger in Altona ist so
nobel, den Nachdruck zu bezahlen. Freilich hofft er, daß Sie, hoch-
verehrter Herr Baron, wegen der Lappalie die Verständigung mit dem
Wiener Verlag unterlassen werden, der ja >der eigentliche Urheber der
ganzen Affäre« ist. Da Sie diese Verständigung aus Gründen, die min-
destens ebenso prinzipiell sind, wie die des Herrn Krüger in Altona,
nicht gescheut haben, so gelangen Sie zur überraschenden Kenntnis der
Tatsache, daß der Wiener Verlag nie ein Exemplar der .Fackel' an die
,Altonaer Zeitung' geschickt hat und daß diese die .Fackel' ausschließ-
lich aus dem Nachdruck in der .Frankfurter Zeitung' oder einem näher-
liegenden Hamburger Blatte kennt. Herr Krüger nennt auch in seinem
Brief die .Fackel' eine > Wiener Wochenschrift«, aber er wüßte gewiß
noch richtiger anzugeben, daß sie mit jener Nummer >ihr zehnjähriges
Bestehen gefeiert« hat. All dies weiß er nur vom Hörensagen und die
.Fackel' selbst hat ihm weder zur Feier, noch irgend einmal in den
zehn Jahren ihren Inhalt dargeboten. Sonst könnte er sie zwar zivil-
rechtlich verantwortlich machen, aber er würde auch wissen, daß sie
sich hauptsächlich mit den miserablen Verhältnissen beschäftigt, in denen
die literarische Kunst lebt, seitdem sie in die Fänge des journalistischen
Betriebs geraten ist.
Mit dem Ausdruck der vollkommensten Hechachtung
der Verlag ,Die Fackel'.
*
Eine gelungene Satire.
Das Geschöpf einer tollen Laune war er und ein richtiges
Kind des Zufalls.
Drei junge Menschen saßen beim Weine, einer von ihnen
sprach den Namen aus, und es war, als ob jemand sich unter sie
gedrängt hätte. Einer mit anmaßender Art, den man nicht mehr
wegschaffen konnte, der das Gespräch in seinem Banne hielt. Zu-
greifend und rücksichtslos war Peter Pitarski vom ersten Moment an.
Erich Evra, der Dichter, hat ihn erfunden. Er ist ganz
stolz auf seinen Einfall, die helle Lust sprüht aus den jungen
Augen. Nur seine Kleidung spricht von Armseligkeit, aber der
wohlwollende Betrachter wird nicht unterlassen, darin etwas Ge-
suchtes zu erkennen. Und er verkündete mit dem Pathos des
schweren Weines:
- 37
> Peter Pitarski, ich rufe ihn aus dem Nichts, mein Werk
sei er! — Ich denke mir ihn als eine Art Kriegsmaschine im
Konkurrenzkampf moderner Literatur; ein Mauerbrecher mit
stählerner Brust und Panzergliedern, in dessen Innern, geschützt
und unsichtbar, der Lenker steht. Peter Pitarski sei der Name,
unter welchem ich einen literarischen Beutezug antreten werde.
Ist die Talentlosigkeit ein Gnadengeschenk? Muß Unfähigkeit
angeboren sein? Lassen sich diese wunderbaren erfolgversprechenden
Mängel des Geistes nicht imitieren? Ich glaube es zu können! Und
so werde Peter Pitarski. Frei ist er von allem, was mich fesselt;,
ihn kränkt kein Spott, kein künstlerischer Anstand hält ihn ge-
bunden, keinen Namen hat er zu verlieren. Ich schaffe ihn, ich
nenne ihn, ich mache ihn zum Literaten und gebe der Maschine
die Richtung auf den Erfolg.
Peter Pitarski möge an Geld und Ruhm erwerben, was der
lesende Mob dem Erich Evra schuldig blieb! Er sei so plump wie
ich fein, so laut wie ich diskret bin; er spreche aus, was ich
erraten ließ, schreie, was ich ausgesprochen. Er habe Meinungen
statt der Ideen, Überzeugungen statt der Urteile, Pinselstriche
statt Linien, Darstellungsgabe statt Stils; er sei das miserabelste,
erfolgreichste Individuum das eine Feder führen kann. Eine ins
Leben geschriebene Satire, eine gelebte Satire soll er sein.«
Trank Heinz Hanner, der Maler, den Rest im Glase, ver-
wandelte sich in eine Fee, trat an Pitarskis Wiege und brachte-
ihm sein Geschenk.
>Ich gebe ihm die Gabe der Symbolik. Was immer er
schreibt, es sei so leer, daß man es siebenfach deuten kann.«
Nahm Leon Bender, der Sänger, bereitwillig die Rolle der
zweiten Fee.
>Ich gebe ihm die Unempfindlichkeit gegen die eigenen
falschen Töne.<
Zufrieden sah Erich Evra ins Leere auf sein Geschöpf.
Und sie tranken bis zum Morgen auf das Wohl des kommenden
Mannes.
Er kam wie eine Überschwemmung.
Erst fielen einzelne große Tropfen als Feuilletons in
— 38 —
.Zeitungen, dann prasselte ein Hagel von Essays nieder in den
Revuen, und dann brach die Flut von Romanen und Erzähluugen
herein. Da war es erreicht. Keine Feinheit unterlief mehr der Feder,
die diese Werke schrieb. Die Kunst war mühsam genug überwunden.
Erich Evra, der drei Tage für die kleinste eigene Arbeit
gebraucht hatte, diktierte von nun an Peter Pitarskis Werke zwei
Stenographen, die einander ablösten. Und er diktierte mit einer
stundenplanmäßigen Geschwindigkeit von fünfzig Seiten im Tage.
Das hielt er ordnungshalber ein.
Nach einem halben Jahre stand man einem Naturereignis
gegenüber.
Da war keine psychologische Tiefe, in die Peter Pitarski
nicht gekrochen wäre, keine Höhe reiner Kunst, in die er mit dem
Eispickel seiner Dialektik nicht Stufen für jedermann geschlagen
hätte. Erschreckend war sein Verbrauch an Problemen.
Aus Erich Evras Feder erschien auch eine Biographie des
neuen Mannes ; geradlinig und klobig, wie dessen Schriften. Jeder-
mann mundgerecht, kam sie auch in jedermanns Mund, die Lebens-
geschichte Peter Pitarskis.
Die Kritik beschimpfte ihn anfangs mit soviel Ernst, daß
später ihr ebenso ernstes Lob nicht weiter überraschte. Er hatte
den längsten Atem und die nicht zu übertreffende Schamlosigkeit
für sich. Das war seine besondere Rolle in der Literatur.
»Er wächst«, schrieb Evra damals an die Freunde. Und sie
gratulierten pflichteifrig.
Täglich und stündlich wuchs er.
Man sprach von ihm, stritt um ihn, man fühlte sich ver-
pflichtet, Stellung zu nehmen.
Einer war im Gedränge um Peter Pitarski unsichtbar ge-
worden. Erich Evra, der Autor der Komödie, war für die Öffent-
lichkeit verstummt. Fast hätten selbst die Mitwisser den Menschen
vergessen neben dem papierenen Ungetüm, das er ins Leben ge-
rufen hatte. Schweigsam war er jetzt geworden und er mied jeden
Umgang, wie Pitarski immer lauter brüllte und an jeden herankam.
Evra paßte nicht mehr in den Kreis der Freunde, das fühlte man
auf beiden Seiten.
— 39 -
Als er wieder den Weg zu ihnen fand, war der andere
groß geworden und aus Erich Evras Wesen war das Knaben-
hafte geschwunden. Die Kleidung war von schreiender Eleganz und
nur mit Mühe hätte der wohlwollende Betrachter etwas Gesuchtes
dann gefunden.
Die Freunde waren unverändert. Er hörte Glückwünsche zu
Peter Pitarskis Siegeslauf.
Er lachte dazu. Dann fragte er plötzlich sehr ernst: >Glaubt
ihr, daß ihn jemand noch aufhalten könnte? Glaubt ihr, daß ich
es heute noch könnte ?<
Sie verstanden nicht einmal recht. Aufhalten ? ! Sein eigenes
Werk, seinen Triumph?! Die Kriegsmaschine, die ihm Beute machte?
Da verzerrten sich seine Züge und er sprach zum ersten-
male wieder ohne Rückhalt wie einst, sprach gedämpft und leiden-
schaftlich und wie einer, der eine Schuld auf sich lädt. »Mein
Triumph ? Er ist hundertmal stärker als ich ! Er triumphierte über
mich, seitdem ich ihn geschaffen habe ! Er hat den Namen, den
Erfolg, den Glanz für sich, ich bin sein Sklave, gerade gut genug,
ihm die Feder zu führen ! Von seinem Gelde lebe ich, für seine
armseligen Gedanken arbeite ich, seine Pläne führe ich aus ! Ich
habe es noch niemals ausgesprochen, wie ich ihn hasse, aber
hier mag es geschehen, denn ich glaube (und er lächelte unsicher),
daß er diesen Raum fürchtet, der ihn . vor seiner Herrlichkeit
gesehen hat.«
Er fand in ihren Gesichtern Staunen und Mitleid und
wehrte lachend ab. »Das nicht! Wahnsinnig bin ich nicht. Ich
kenne das Einmaleins, ich weiß, daß ,Er' nicht ist, in Wirklichkeit
nicht existiert. Ich erzähle. mir es oft genug. Ich weiß alles gegen
ihn, was nur der nüchternste Kopf davon wissen kann. Aber was
für ihn ist, weiß ich besser als ihr! Ist er denn nicht so wirklich,
als ich es selber bin; ist er nicht die Wirklichkeit von allem, was
gemein und schamlos, was geldgierig und ohne Skrupel in mir
ist? Ich habe es gewagt, dieses mein zweites Selbst, das ich kaum
kannte, das mit einem Firnis von Kultur bedeckt war, hervorzu-
zerren, ins Leben hinaus zu stellen. Ich habe ihm dann gedient
und es mit allem genährt, was ich an Kraft und Können besaß.
Wer heute der stärkere ist von uns beiden, das weiß ich nicht!*
40
Sie rieten ihm, wohlmeinend und unsicher. Er möge den
Zwiespalt beenden, die Verwandlung vollkommen machen, Peter
Pitarski sein und niemand sonst.
»Mich opfern? Kennt ihr ihn denn! Er würde mich ver-
schlingen, wie er alles verschlungen hat, was ich in seiner Nähe
ließ. Meine Gedanken, meine Erlebnisse, was immer ich hochhielt,
hat er an sich gerissen, in seinem Schmutz ertränkt. Täglich,
stündlich hat er an mir gezehrt. Begreift ihr denn nicht, daß er
mein Feind ist, der Schlimmste, den ich mir erwerben konnte!
Tag und Nacht an ihn gefesselt bin ich, in jeder Furche meines
Gehirnes nistet er. Es ist das Ungeheuer Erfolg selbst, mit seinen
Riesenkräften, das mich in seinen Klauen hält! Das ist er!<
Sie nannten ihn exaltiert. Sie scherzten über seine Furcht.
Er fügte leise noch hinzu: »Oft zweifle ich, wer von uns beiden
der Künstler ist, er oder ich.«
Sie scherzten daraufhin nicht mehr. Denn damit war ihr
Geschäftsinteresse berührt worden.
Beim Literarhistoriker:
»Sie, Herr Professor, sind der Verfasser des Werkes , Peter
Pitarski oder die Wiederherstellung der deutschen Kunst'?«
»?«
»Mein Name ist Erich Evra.«
»??«
»Da Sie meinen Namen nicht kennen, möchte ich Sie er-
innern, daß ich eine Biographie Peter Pitarskis geschrieben habe.«
»Ich entsinne mich — es sind seitdem soviel ausführlichere
Arbeiten erschienen.«
»Ich komme, Ihnen die echte Geschichte Peter Pitarskis zu
erzählen. ... So entstand er.«
»Ihre Mitteilungen sind recht interessant. Mein Urteil über
die Leistungen einer literarischen Persönlichkeit kann aber durch
Details aus ihrem Privatleben nicht beeinflußt werden. Wie merk-
würdig auch die Umstände waren, die Ihrer eminenten Begabung
zum Durchbruch verhalfen, die Sache wird dadurch nicht tangiert.
Sie sind in der Tat ein glänzendes Beispiel dafür, daß ein Genie
sich auf den seltsamsten Wegen Bahn zu brechen vermag.«
— 4i —
>— Es ist mir eine Beruhigung, daß Ihr Urteil so fest steht. -
Ich bitte Sie noch, meine Mitteilungen geheim zu halten.>
>Ich. wollte Ihnen eben dasselbe raten.«
Notiz der Presse: Von dem rühmlichst bekannten Schrift-
steller Peter Pitarski geht uns folgende Erklärung zu: >Es sind in
letzter Zeit Gerüchte aufgetaucht, daß einige vor längerer Zeit er-
schienenen, mit ,Erich Evra' gezeichnete Arbeiten aus meiner —
ich wage zu vermuten: nicht unbeliebten — Feder stammen. Ich
lehne jede Beziehung zu diesen literarisch minderwertigen An-
fängerarbeiten ab. Ich wähle den Weg einer Öffentlichkeit, die mir
oft Beweise ihres Wohlwollens gegeben hat, um diese Versuche,
meinen Namen zu mißbrauchen, energisch zurückzuweisen. Wenn
es mir auch nicht gelingen sollte, die mit offenkundig gewinn-
süchtiger Absicht ausgestreuten Gerüchte in gewissen Kreisen
zum Schweigen zu bringen, so hoffe ich doch, das große
Publikum, das mir stets allein maßgebend war und ist, vor der
Irreführung zu bewahren.« (Ein junger, wenigbedeutender Literat
namens Erich Evra hat tatsächlich existiert, ist aber seit Jahren-
verschollen. Anm. d. Red.)
Otto Soyka.
Glossen.
Ein schweres Herz hat sich erleichtert. Herr Benedikt, von
dem uns ein Biograph zu seinem sechzigsten Geburtstag verraten
hat, daß er in Quatschitz geboren ist — wenns den Ort nicht
gäbe, so müßte er erfunden werden — , der also etwa von Homer
oder Harden der zinsfüßige Quatschitzer genannt worden wäre, er,
der Monomachos der ,Neuen Freien Presse' gegen die Bekenner
einer fremden Ethik, hat sich über den Staat beschwert. Unter
dem Vorwand, die künftige Junggesellensteuer zu tadeln, übte er
Kritik an der Art, wie >schon jetzt« die Einkommensteuer be-
messen werde. Er schlug auf den fiskalischen Esel, meinte aber
offenbar den eigenen Sack. Irgendetwas muß sich begeben haben,.
- 42
was dem Respekt des Staates vor der ,Neuen Freien Presse' zu-
widerläuft. Die Juuggesellensteuer, hören wir, werde »der peinlichste
Eingriff sein, den der Fiskus noch jemals in die Privatverhältnisse
der Steuerträger gewagt hat« — ein peinlicher muß in einem Herrn
Benedikt nah angehenden Falle gewagt worden sein. Ja, hören wir:
»Schon jetzt ist die Einkommensteuer vielfach eine Marter, weil
sie den Verpflichteten zwingt, die letzten Geheimnisse seines
wirtschaftlichen Lebens den Beamten und den in der
Kommission sitzenden Nachbarn mitzuteilen .... Er muß dort
Rechenschaft ablegen, wo er lieber schweigen möchte; nicht
wegen einiger Kronen der Steuer, sondern vielleicht wegen
seiner Ehre und vielleicht wegen seiner Schande«.
Was mag denn da nur vorgefallen sein? Sollte sich die Steuer-
behörde zum erstenmal auf den Standpunkt gestellt haben, daß
die wahrheitsgetreueste Angabe des Einkommens aus dem Verkauf
eines Tagesblattes oder aus dem Aktienbesitz einer Journalgesellschaft
noch immer nicht völlige Klarheit über das Einkommen des
Herausgebers schaffen muß, — zumal wenn er den volkswirtschaft-
lichen Teil redigiert ? Hat sie endlich die Einsicht gewonnen,
daß die »Verbreitung« eines Blattes keinen Maßstab für die
Bemessung irgendeiner Steuer bilden könne? Hat sie heraus-
gebracht, daß die kleinen Ritter vom Geiste, die kaum hundert
Exemplare als Belege für die Finanzinstitute drucken, in Wien
J. Gräflich, J. Fürstlich, J. Herzoglich leben? Und daß die großen
bei jedem Exemplar, das sie verkaufen, draufzahlen? Sollte die
Steuerbehörde endlich wissen, daß der Makulaturwert einer Sonn-
tagsnummer größer ist als der Verkaufspreis und daß außer den
Inserenten nicht die Käufer des Blattes es sind, sondern die Käu-
fer seines Inhalts, die das Unternehmen reich machen?
Sollte die Steuerbehörde, die ein Strafgeld auf die Herausgabe
einer unabhängigen Zeitschrift setzt, endlich den Mut gehabt
haben, die Erwerbsquellen der großen Tagespresse springen zu
lassen und statt der Ballerinen einmal die Chefredakteure zu fragen,
ob sie ihren glänzenden Haushalt von der Gage bestreiten? . . .
Irgendein Steuertölpel, der den Kampf der ,Fackel' mißverstanden
hatte, kam einst auf die sublime Idee, mich als Auskunftsperson
•über das Einkommen eines Angestellten der , Neuen Freien Presse1
43
befragen zu wollen. Ich verwies ihm die Keckheit und wies der
Behörde die Dummheit nach, die sie begeht, wenn sie glaubt, daß
die Sklaven den Gewinst aus den großen Plantagen nachhause-
tragen. Sollte endlich der rechte Weg betreten worden sein, den
ich in öffentlicher Aussage empfohlen habe? Der kleine Steuer-
beamte, der einen großen Herausgeber zu persönlichen Aufklä-
rungen eingeladen haben mag, wirds ja nicht weit bringen; er wird
als Märtyrer der neunten Rangsklasse seine Laufbahn beenden. Und
es ist einleuchtend, daß selbst einem Finanzminister, der diese
Richtung gutheißt, kein langes Leben beschieden sein könnte.
Immerhin wäre es ein Beispiel, und der Versuch, dem Heraus-
geber der ,Neuen Freien Presse' »die letzten Geheimnisse seines
wirtschaftlichen Lebens« zu entlocken, aller Anerkennung wert.
Daß der Staat in die privateste Sphäre seiner Bürger eingreift, ist
eine Plage, wenn er sie nach den unehelichen Kindern, aber eine
Pflicht, wenn er sie nach den Pauschalien fragt. Man hüte sich,
dies zu verwechseln ! Es ist ja gewiß peinlich, daß auch ein
Zeitungsmann »dort Rechenschaft ablegen muß, wo er lieber
schweigen möchte«, umsomehr, als das Schweigen jene Fälle deckt,
in denen er schon einmal geschwiegen hat. Aber es ist ein Unter-
schied zwischen der Diskretion des erotischen Lebens und der
Diskretion des volkswirtschaftlichen Teils. Diese und jene haben
gemeinsam, daß man sie nicht »wegen einiger Kronen der Steuer«
übt, sondern aus anderen Gründen. Aber die Gründe sind eben
verschieden. Dort schweigt man »wegen seiner Ehre«, hier »wegen
seiner Schande«.
* •
*
In den Kreisen der Musiker wird, soweit sie überhaupt die
Fähigkeit der Auffassung einer humoristischenTatsache haben — denn
keine Lebensweise erzieht so sehr zum »tierischen Ernst« wie das
Musikhandwerk — , wird also ein Malheur besprochen, das einem
bekannten musikhistorischen Forscher widerfahren ist. Der bekannte
musikhistorische Forscher füllt nämlich diesen Beruf erst seit kurzer
Zeit aus. Zuerst war er Musikreporter und schrieb den Satz,
Herr X. sei »ein den Blütenstaub bereits abgestreifter Tenor«, dann
hörte er es gern, wenn man ihn Musikschriftsteller nannte, und
hierauf packte ihn der Ehrgeiz, Forschungen über > Richard Wagners
— 44 —
Wohnhäuser in Wien« anzustellen. Er habe »manches wissens wette
Neue zum Kapitel des wiederholten Aufenthaltes Wagners in Wien
beigebracht« : so hieß es alsbald in der befreundeten Presse, und
der Ruf des Forschers schien gesichert. Er verdankte ihn dem
liebenswürdigen Entgegenkommen eines Polizeirates, der die
Gelegenheit, in alten Meldzetteln herumzustöbern, um so lieber
■ergriff, als sie ihm die Möglichkeit eröffnete, seinen eigenen
Namen in die Musikgeschichte eingetragen zu sehen. Wochenlang
arbeiten beide, der Forscher und der Beamte im Polizeiarchiv, aber
schließlich müssen sie die Unvollkommeuheit alles Menschen-
werkes erkennen, denn es stellt sich heraus, daß es »nahezu un-
möglich ist, die im Keller der Polizei übereinander geworfenen
Aktenbestände wieder ans Tageslicht zu befördern«. Die bloße
Öffnung eines einzigen Aktenbündels ist mit den »größten Mühen«
verbunden. Über und über bestaubt, erfiitzt, gebrochen verläßt
der Forscher das Amt und muß zugeben, daß er eines für das
Verständnis Wagners unentbehrlichen Meldzettels nicht habhaft
werden konnte: man wird nie erfahren, wo Wagner im Jahre 1848
in Wien gewohnt hat. Kein Zweifel... daß er mehrere Wochen
da war. Hanslick erzählt, er habe einen Abend mit ihm »in
einem bescheidenen Oasthausgärtchen an der Donau verbracht«.
Das ist ein Anhaltspunkt, aber nicht mehr. »Ebenso bescheiden
wie dieses Oasthausgärtchen dürfte wahrscheinlich auch Wagners
Wohnung gewesen sein.« Jedenfalls hat er ein Privatlogis bezogen.
»Obwohl schon königlich sächsischer Hofkapellmeister, obwohl
schon als Komponist des ,Rienzi', des , Holländer' und des ,Tann-
häusei' bekannt, mag er auch im Jahre 1848 in keinem Hotel,
sondern vielmehr wieder privat gewohnt haben.«: Das ist ein-
leuchtend. Aber wo hat er gewohnt? Das ist leider »nicht festzu-
stellen«. Nun, ein bekannter musikhistorischer Forscher braucht keinen
andern Befähigungsnachweis beizubringen, als staubige Finger. Aber
als ein »den Aktenstaub bereits abgestreifter« Gelehrter erfährt er zu
seiner Überraschung, daß man Wagners Wohnhaus aus dem Jahre
1848 inzwischen bereits entdeckt hat. Ein unerbittlicher Wagnerianer
gü.g nämlich in eine Buchhandlung, die auf dem Wege von der
Gelehrtenstube zum Archiv der Polizeidirektion liegt, ließ sich
las Buch »Richard Wagner an Minna Wagner« (Zweite Auflage,
— 45 -
Berlin 1908, Schuster & Löffler) geben und fand auf Seite 50
einen >Brief vom 15. July 1848«, in dem es heißt:
> will ich sogleich meine hiesige Wohnung noch
aufschreiben: Qoldschmiedgasse Nr. 594, 1. Stock.<
Da die Adresse gesperrt gedruckt ist, konnte der Leser sie
nicht übersehen. Er hat sie mir sofort mitgeteilt. Aber er ist be-
scheiden und legt nicht Wert darauf, in die Musikgeschichte zu
kommen, wiewohl er manches wissenswerte Neue zum Kapitel
des wiederholten Aufenthaltes Wagners in Wien beigebracht hat.
•
»Mit Gustav Schönaich ist eine Reihe wundervoller Er-
innerungen an den Meister ins Grab gesunken. Er war leider nie
dazu zu haben, seine Erlebnisse mit Wagner aufzuschreiben.« So
meint unser Gelehrter. Er wird mir dafür Dank wissen, daß ich
auch in diesem Punkt die Ergebnisse seiner Forschung ergänze.
Ein einziges Mal war Schönaich dazu zu haben. Für die Nr. 6 der
, Fackel' (Ende Mai 1899) stellte er mir eine Erinnerung zur
Verfügung, an eine Begebenheit, welche die Wiener Musikforscher
nie aufgegriffen haben und di« Wagner selbst in seinen Schriften
beiläufig erwähnt. Es handelt sich zwar nur um ein Diktum,
aber als »einer, der es mit eigenen Ohren gehört« hatte, gab
Gustav Schönaich in der .Fackel' den folgenden Situationsbericht:
Im November 1875 war Richard Wagner über Aufforderung des
damaligen Direktors der Hofoper Franz Jauner nach Wien gekommen,
um eine seinen dichterisch- musikalischen Absichten möglichst treue
Aufführung des >Tannhäuser« zu veranstalten. Es war eine glückliche
Idee Jauners, der dem Schöpfer des musikalischen Dramas Gelegenheit
geben wollte, zu zeigen, welch ein gewaltiger Unterschied zwischen
der von ihm ins Leben gerufenen und einer mit den Mitteln der geaichten
Bühnenroutine herausgebrachten Aufführung sich ergebe. Dies gelang
denn auch so vollständig, daß selbst Eduard Hanslick, trotz setner
durch persönliche Motive gesteigerten bourgeoisen Wagnerfremdheit,
sich bemüßigt sah, die Vorstellung unbedingt zu loben. Am Schlüsse
der Aufführung unter beispiellosem Jubel vor die Rampe gerufen, sprach
Wagner einige Worte an das Publikum, in denen er jener berühmten
Lohengrin-Vorstellung im Mai 1861 gedachte, welche dem Wiener
Publikum Anlaß geboten, dem anwesenden Komponisten in so warmer
Art seine vorbehaltlosen Sympathien kundzugeben. >Es scheint«, fuhr er
fort, >sich heute etwas Ähnliches wiederholen zu wollen, da ich den Ver-
such mache, soweit die vorhandenen Kräfte reichen, meine Werke Ihnen
noch deutlicher zu machen. Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Ermunter-
ung!« Das seither zum geflügelten Wort gewordene »Soweit die vor-
- 46 -
handenen Kräfte reichen« fiel zunächst nicht auf und wurde von den
Wellen der Begeisterung verschlungen. Einige Stunden später von Re- .
portern bemängelt und gedeutet, den mitwirkenden Künstlern in ver-
hetzendem Sinne in Erinnerung gebracht, erzeugte es Mißstimmung im
Personale, welches beschloß, durch Hans Richter von Wagner Aufklä-
rung über die Bedeutung des Wortes zu verlangen. Um die Sache
wieder zu ebnen, wandte sich Direktor Jauner sogleich an Wagner,
der ihn bat, das Personal in die Oper einzuladen, wo er als
Künstler zu Künstlern bald eine Verständigung herbeiführen werde.
Direktor Jauner lud nun die Mitwirkenden ein, sich am Vor-
mittag des andern Tages im Regiezimmer der Hofoper einzufinden. Hier
hielt Richard Wagner eine Ansprache, die in dem für uns interessanten
Teile folgende Worte enthielt: >Niemals konnte es mir in den Sinn
kommen, die vorzüglichen Künstler, die zum Gelingen meines Werkes
beitrugen, herabzusetzen. Ich habe diese Gesinnung heute in einein
Schreiben niedergelegt, welches ich an die Adresse des Herrn Direktors
Jauner gerichtet habe. Sie mögen es immerhin den Zeitungen übergeben.
Aber — wenn Sie auf der Veröffentlichung bestehen, so stelle ich meine
Tätigkeit ein, da ein solcher Wunsch von Ihrer Seite nur eine Fort-
dauer des Mißtrauens gegen meine Person bedeuten könnte. Ich selbst
kann mit den Zeitungen nicht in Verbindung treten, denn — ich ver-
achte die Presse*... Herrn Direktor Jauner trat bei diesen
Worten der Schweiß auf die Stirne. . Er stellte sich an die Tür und
nahm jedem Abgehenden das Wort ab, daß er über die Äußerung
Wagners unverbrüchliches Stillschweigen bewahren werde. Die Folge
davon war, daß Wagners Rede ziemlich wortgetreu in sämtlichen Abend-
blättern zu lesen war. Nur der Schluß erschien, wie auf ein gegebenes
Notsignal, in allen Blättern dahin geändert, daß Wagner statt der Worte:
>Ich verachte die Presse« die unblutigeren: >Ich hasse die
Presse« in den Mund gelegt wurden . . . Man wollte von einem
Manne, dessen mit jedem Tag wachsende Autorität unliebsam deutlich
erkennen ließ, daß er der Presse gegenüber das letzte Wort behalten
werde, doch lieber gehaßt, als verachtet sein.
Ich denke, daß die Wagner-Forscher der Presse mir
für diesen Beitrag dankbar sein werden. Der unsere, der heute mit
so gutem Erfolg auf der Wohnungssuche für Wagner ist, läßt
nicht unerwähnt, daß dieser sich bei deinem letzten Aufenthalt
in Wien nicht allzu wohl fühlte, und zitiert sogar ein Schreiben aus
dem Jahre 1879, das Wagner an Jauner richtete und worin er
eine Einladung, wieder nach Wien zu kommen, mit der Bemer-
kung ablehnte: »Glauben Sie, daß die sechs Wochen im Winter
1875 als angenehme Erinnerungen in meinem Gedächtnisse leben?«
Er fürchtet, er würde, wenn er »nur über die Straße gehen oder
etwa einem Betteljungen ein Wort sagen würde, im Kot herum-
„ 47 —
gezogen werden<. Damals habe er gewußt, daß er >nie wieder
Wien betreten würde«. Unser Musikhistoriker meint, Wagner hätte
sich umstimmen lassen, wenn ihn der Tod nicht frühzeitig ab-
berufen hätte. Es ist immerhin tröstlich, sich vorzustellen, daß
nicht Wagner, sondern sein Tod die Wiener Musikforschung um
einen weiteren Meldzettel betrogen hat, aber die Entscheidung ist
eben ungewiß. Die Gründe für die Abneigung, in Wien noch
einmal Wohnung zu nehmen, werden in jener Publikation nicht be-
rührt. Darum war es notwendig, sie nachzutragen, und das Bedauern,
daß Gustav Schönaich zur Mitteilung seiner Erinnerungen nicht
zu haben war, wenigstens in einem markanten Fall als unbe-
gründet zu erweisen. Wagner selbst hat in einem Aufsatz >Wolien
wir hoffen?« (Gesammelte Schriften und Dichtungen, Band X,
S. 132 ff.) jenen Vorfall berührt, den Schönaich vor zehn Jahren
in der , Fackel' genau aufgezeichnet hat. »So etwas wie Haß«,
schließt Wagner, »vertragen sie sehr gern, denn ,natürlich
kann nur der die Presse hassen, welcher die Wahrheit fürchtet!' —
Aber auch solche geschickte Fälschungen sollten uns nicht
davon abhalten, ohne Haß bei unserer Verachtung
zu bleiben: mir wenigstens bekommt dies ganz
erträglich.« Was sagt die Wagner-Forschung dazu? Er
bezeichnet in jenem Aufsatz die Erfindung der Buchdrucker-
kunst als ein deutsches Unglück, er glaubt in der Zeitungs-
lektüre >das ärgste Gift für unsere geistigen sozialen Zustände
erkennen zu müssen«, »diese Herren Zeitungsschreiber«, sagt er,
»leben von unserer Furcht vor ihnen«, und er nennt sie »die
Einzigen, welche in Deutschland, ohne ein Examen bestanden zu
haben, angestellt werden«. Und er denkt dabei nicht einmal an
eine Prüfung aus der Harmonielehre, zu welcher kürzlich ein be-
kannter musikhistorischer Forscher vergebens herausgefordert wurde.
* *
An Alexander Girardi in Graz, wo er die Feier seiner
vierzigjährigen Schauspielertätigkeit beging:
Die Erinnerung an Ihre Gestaltungen ist der stärkste Ein-
druck, den das Wiener Theaterleben gegenwärtig bietet. Dieser
Erinnerung könnte man mit Recht zum Vorwurf machen, daß sie
nichts neben sich aufkommen läßt. Ich fürchte, daß sich darüber
noch spätere Generationen von Komikern zu beklagen haben werden.
48 —
Ansichtssachen.
>Fräulein Else Wohlgemuth . . .
ist in ihrem ganzen, ein wenig sprö-
den Wesen, dem noch die tiefere
Beseeltheit fehlt, mehr die krie-
gerische als die liebende Johanna.
Sie hat, wenn sie ihre Fahne
schwingt und zum Streite ruft,
einen warmen, hellen Ton . . .«
> Gestern konnte man Fräulein
Wohlgemuth auch noch als Jung-
frau von Orleans sehen . . . Jetzt
klingen alle offenen Laute dumpf,
sie sind wie erloschen, statt
hell . . . Doch wird sie wahrschein-
lich immer sentimentale Mädchen
besser spielen als heroische.«
Der Feuilletonist alten Stils arbeitete mit den Klischees der
Rhetorik, der neue arbeitet mit den Klischees der Plastik. Seit
einigen Jahren ist eine »Beobachtung« in Gebrauch, die immer wieder
ihre Dienste tut, so oft das Berliner Lessingtheater bei uns Ibsen-
stücke spielt. Von den Ibsenfiguren heißt es, daß »diese Menschen
in ihr Schicksal eingeschlossen sind, wie in einem Kerker«. Ich
setze diese Wendung hieher, damit ich sie beim nächstjährigen
Gastspiel des Berliner Lessingtheaters nicht mehr finde oder da-
mit man sich bei Gelegenheit erinnere, daß ich alles rechtzeitig
vorausgesagt habe. Meine Schuld wird es nicht sein . . .
Herr Harden war also in Wien und die Absicht, die
er dem Berliner Korrespondenten der ,Neuen Freien Presse*
anvertraut hatte, nämlich »das Selbstgefühl in Österreich und
Deutschland zu stärken«, ist ihm vollauf geglückt. Ein »überaus
zahlreiches Publikum« hatte sich nach der Versicherung der
liberalen Presse zu seinem Vortrag eingefunden. Sie hatte offenbar
befürchtet, daß der große Musikvereinssaal, der dreitausend
Menschen faßt, an diesem Abend nur dreihundert sehen werde,,
und war überrascht, sechshundert zu zählen. Dreihundert hatten
nämlich Enlree gezahlt — genug, um die Wiener journalistischen
Freunde des Herrn Harden zu verblüffen, und doch wieder nicht
genug, um den Konzertagenten, der Herrn Harden für Kaiser & Reich
zu den günstigsten Bedingungen reisen läßt, zufrieden zu stellen.
Herr Harden, der ein gewandter Redner ist, verstand es, den
anwesenden Lesern und Redakteuren der ,Neuen Freien Presse'
einen Leitartikel über das deutsch-österreichische Bündnis so
vorzutragen, daß er wie eine Novität wirkte, und das Selbstgefühl.
49 —
jener Leute zu stärken, die sonst nur an den Veranstaltungen
des Konkordiaklubs Interesse haben. Allgemein wurde es als
unkollegial empfunden, daß die Wiener Schauspieler der Veranstaltung
fernblieben, und man bedauerte, daß die Konkordia es diesmal
aus einer schlecht angebrachten Noblesse unterlassen hatte, von
ihren Machtmitteln Gebrauch zu machen. Der Vortrag brachte die
wichtigsten Aufklärungen über den Unterschied zwischen öster-
reichischem und norddeutschem Wesen. »Bei Ihnen im Süden ist
alles weich«, sagte Redner, »graziös, liebenswürdig, fast möchte
man sagen, musikalisch. Bei uns im Norden — alles was sich an
gewisser Härte, Schroffheit, Zucht, Disziplin und doch auch
ungemeiner Tüchtigkeit zeigt, das hat sich in den Staatengebilden
unsres Nordens verkörpert«. An der Klarheit und Unwiderleg-
lichkeit der rednerischen Argumente wurden auch die wenigen
Zwischenrufe zuschanden, durch welche die böse Absicht einiger
Störenfriede den Vortragenden zu verwirren suchte. Man be-
merkte u. a. einen Konzeptspraktikanten des Auswärtigen Amtes.
Die innere Politik war durch Herrn Hofrat Kuranda vertreten.
•
Das , Deutsche Volksblatt' bringt in seinem Bericht über
den Harden-Vortrag einige Wendungen, die mir bekannt vorkommen,
wiewohl sie der Berichterstatter nicht eigens in Anführungszeichen
setzt. Gewiß darf man angesichts der Verbindung des Herrn
Harden mit der Wiener Presse davon sprechen, daß »Hardens
Isoliertheit vor der österreichischen Grenze Halt gemacht« hat.
Richtig ist auch, daß die Intimität, die den Mann mit Bismarck
verbindet, »mit der Entfernung von dessen Sterbetag immer
größer wird«. Und keinem Zweifel unterliegt es, daß man
vor der publizistischen Erscheinung des Herrn Harden von einem
»Mißverhältnis zwischen einem Schmockgehirn und einer Königs-
gebärde« sprechen kann. Wenn ein Druckfehler aus dem Mißver-
hältnis ein Machtverhältnis macht, so ist das nur erfreulich, weil
sich das »Deutsche Volksblatt' damit auf seine Originalität berufen
kann. Die Druckfehler sind sein geistiges Eigentum, und ich bin
anständig genug, sie mit Quellenangabe zu zitieren.
— 50 —
». . . Bei der Revision fand man in einem Vorräume zum Stalle, in
dem sich auch eine offene Mistgrube befand, zehn leere Krautfässer.
In der Vorratskammer fanden sich drei paar Würstel, ein Knödel und
ein Brotlaib von Ratten angenagt. Im Eishause entdeckte man noch
zwölf offene Schachteln mit Sardinen, deren oberste Schichte von starkem
Schimmel verunreinigt war. Ein Kranz Zervelatwürste zeigte ebenfalls
Schimmelbildung und fühlte sich schlüpfrig an. Das Gutachten der
Lebensmittetuntersuchungsanstalt besagt, daß sämtliche Proben ekel-
erregend sind, zum Teile stark beschmutzt, zum Teile von Nagetieren
angefressen . . . Der Magistratssekretär L. hatte ausgesagt, daß sich der
Geschäftsführer (des Restaurants >Schweizerhaus«) bei der Revi-
sion gewissermaßen damit entschuldigt hatte, daß die verunrei-
nigten Waren ,bloß für das Personal' bestimmt seien ... Die
Köchin Frau S. gab an, daß in der Vorratskammer riesig viel Ratten
und Mäuse vorkamen. Einmal sei ihr eine Ratte sogar auf die Brust
gesprungen. Daß öfter Speisen angenagt waren, war allen bekannt, auch,
daß solche Speisen öfter verkocht wurden. Von dem durch das Getier
angefressenen Brote wurde lediglich der oberste Rand weggeputzt und
daraus Brotsuppe gemacht. Verdorbenes Fleisch wurde längere Zeit in
hypermangansaurem Kali gebeizt. Der Bezirksarzt Dr. S. sagte aus,
daß die vorgefundenen Würste schlitzig und angefressen waren. Auf den
Sardinen lag ein ganzer Rasen von Pilzen . . . Der Appellgerichtshof fand
nach durchgeführtem Beweisverfahren sämtliche Angeklagte schuldig und
verurteilte Johann G. zu dreißig Kronen, Wenzel B. zu fünfzig Kronen
und Marie Seh. zu zehn Kronen Geldstrafe.«
Das Ganze heißt: >Zustände in einem Praterwirtshaus«.
Wenn das am grünen Holze geschieht . . ., könnte man sagen.
Aber es geht doch nichts über das weltberühmte Wiener Papperl.
Wenn eine Köchin nicht hin und wieder die Anzeige erstattete,
würden wir ewig daran glauben. Und selbst dann stellt noch das
Bezirksgericht durch einen Freispruch des Wirtes, des Geschäfts-
führers und der Wirtschafterin das Renommee wieder her. Aber
das Landesgericht hat ein Einsehen und taxiert den Ruf der
Wiener Küche auf 90 Kronen. Wenn ein Gast den Wirt einen
Schweinkerl genannt hätte, hätte er Arrest bekommen. Desgleichen
der Pikkolo, wenn er der Wirtschafterin eine schimmelige Zervelat-
wurst an den Kopf geworfen hätte. Und wenn gar der Köchin
statt einer Ratte der Geschäftsführer an den Busen gesprungen
wäre, so hätte die Moral der Gerechtigkeit sich gar nicht genug
tun können. In Wiener Wirtshäusern gibt es eine Entschädigung
für Lebensmittelverfälschung: das zuverlässige Gesicht des
Gastwirtes, das sich in einem unvorhergesehenen Momente
51
über unsern Tisch beugt, o.ler der echte Gemütston des Speisen-
trägers. Stünde die Wahrheit auf der Menukarte geschrieben, un-
verdrossen würde trotzdem die Frage an uns gerichtet werden:
»Schon bestellt, bitte?« »Bedaure, kann nicht mehr dienen!«
heißt es, wenn die Ratten nichfs übrig gelassen haben, und wenn
man sich schließlich für Sardinen entscheiden muß, bringt der
Kellner Pilze. Zur Rede gestellt, erklärt der Chef, es sei ein Ver-
sehen, das verdorbene Essen sei für das Personal reserviert. Zur
Nervenfolter tritt also die Gefahr für den Magen, von dem es
bisher für ausgemacht galt, daß ihm nix geschehen könne. Ein
Einzelfall! sagt der Größenwahn des Wiener Wanstes, der immer
stolz darauf ist, zu wissen, wovon er fett wird, und jedes Ratzen-
stadl als den Hort individueller Echtheit verehrt. Aber es ist
interessant, daß der Einzelfall ein beliebtes Praterwirtshaus betrifft,
und daß unter den Surrogaten der Berliner Küche, auf die jeder
Rindfleischpatriot mit Verachtung herunterblickt, der Mäusedreck un-
bekannt ist. Man muß nicht Gourmand sein, um Goethes >Laßt den
Wienern ihren Prater!« fortan zu seinem Wahlspruch zu machen.
Schon zu trinken befohlen? Nein, nicht hier! Geh'n ma,
freunder!, auf a Weinderl, vor die Stadt hinaus:
>In Mistelbach waren zahlreiche Personen unter den Symptomen
schwerer Bleivergiftung erkrankt. Die Erhebungen ergaben, daß alle Er-
krankten, von denen elf schwere und dreizehn leichte Vergiftungs-
erscheinungen zeigten, im Gasthause des M. verkehrt und dort Wein
getrunken hatten. Der , Heurige' des Gasthauses wies große Bleimengen
auf . . . Der Tod des F. ist zwar nicht mit völliger Gewißheit, aber
mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auf diese Bleivergiftung zurückzuführen . . .
Der angeklagte Wirt wurde freigesprochen, weil die Gerichtsärzte er-
klärten, daß er geistig nicht zurechnungsfähig sei . . .«
Wie sagt doch der Dichter? >Es wird ein Wein sein und
mir wer'n nimmer sein!« Eben wegen des Weines!
• *
•
Aus dem Schmalztopf der Beredsamkeit oder : Wie es kam,
daß ein Advokat trotz erwiesener Defraudationen und Wechsel-
fälschungen von den Geschwornen freigesprochen wurde.
>Verteidiger Regierungsrat Dr. Heinrich Steger führt aus : Dem
Wanderer gleich, der im Frühnebel die Bergesspitzen zu erklimmen
trachtet, Wiesen und Wälder durchschreitet, schroffe Felsenhöhen über-
52 —
windet und endlich auf den Gipfel hinaufkommt, wo die Strahlen der
Sonne das Gewölk zerstreuen, diesem Wanderer gleich sind auch Sie,
meine Herren Mitbürger, durch alle Wirrnis, alles Gestrüpp des Beweis-
verfahrens endlich auf den Punkt gelangt, der einen Überblick über
den ganzen Straffall gestattet. Es kann ohne Übertreibung gesagt
werden, daß jeder Punkt in diesem Falle geklärt wurde. Wie auf der
Bergesspitze die leuchtenden Strahlen der Sonne das Gewölk zerstreuen,
so haben die Strahlen der Wahrheit in diesem Falle alles aufgeklärt,
was aufgeklärt werden mußte, bevor die Richter ihr Urteil fällen. Auf
diesem Punkte angelangt, in diesem ernsten Augenblicke gibt es nur
einen Ausruf, und der lautet : Ein solcher Fall war noch nicht da!
. . . Von Situation zu Situation jagend, sah er die rettende
Küste vor sich, und als sie verschwand, brach er zusammen. Ich berufe
mich, um auf das rein subjektive Moment überzugehen, hauptsächlich
auf das psychiatrische Gutachten. Ich bitte Sie, sehen Sie es an, wenn
Sie sich zurückziehen, lesen Sie es, lassen Sie es auf Ihre Einsicht wirken,
und Sie werden den Schluß ziehen: Der Mann ist nicht normal !
. . . Der Redner bekämpft auch noch den Tatbestand der ver-
schuldeten Krida. Nach zwei Tagen werde Pfingsten, das herrliche Fest,
gekommen sein, wo die Hecken grünen und blühen. ,Wohl dem', sagt
Redner, ,der nach des Tages Arbeit den Mühen des Alltags entflohen
ist und in den schönen Feiertagen, die da kommen, hinauseilen kann
über Wiesen und Wälder, in die freie Natur, um neue Kräfte zu neuem
Ringen und neuer Tat zu gewinnen, den Berggipfeln zu, wo die Strahlen
der Sonne das Gewölk zerstreuen, wohl dem!' Er zitiert die Verse aus
Schillers .Spaziergang' : ,Sei mir gegrüßt, mein Berg mit dem rötlich
strahlenden Gipfel! Sei mir, Sonne, gegrüßt, die ihn so lieblich bescheint!'
mit einigen folgenden Strophen.«
Wahrscheinlich bis zu der Stelle: ». . . Aber der reizende
Streit löset in Anmut sich auf. « Oder vielleicht bis zu dem Vers : > Blicke
mit Schwindeln hinauf, blicke mit Schaudern hinab«. Oder bis zu
»jenen Linien, die des Landmanns Eigentum scheiden«, zu der
»freundlichen Schrift des Gesetzes«, die den freien Advokaten
warnen wird, wenn er in die Natur hinauskommt, um neue Kräfte
zu neuer Tat nach § 157 zu gewinnen. Ja, man versteht endlich, wozu
Schiller gelebt hat! Wie sagt er doch in eben jenem »Spaziergang«?
Deiner heiligen Zeichen, o Wahrheit, hat der Betrug sich
Angemaßt, der Natur köstlichste Stimmen entweiht,
Die das bedürftige Herz in der Freude Drang sich erfindet ;
Kaum gibt wahres Gefühl noch durch Verstummen sich kund.
Karl Kraus.
Hejanegeber nnd verantwortlicher Redalrtenr : Karl Kraus.
Druck von Jahoda fle Siegel, Wien, III. Hintere Zollamt9*traße 3
natürlicher
alkalischer
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DIE FACKEL
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WIEN, III. Hintere Zollamtsstrafle 3
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nmächst erscheint als Broschüre :
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Von Robert Soheu.
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so Heiier (so Pf.). Verlag Jahoda & Siegel
Wien Hl/2.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Karl Kraus.
" t-i 1. o- c: 1 vir: tu «;„>„,» 7/,l1„«l..i..n. •
Die Fackel,
Nr. 283-84 26. JUNI 1909 XI. JAHR
Der Journalismus*)
Von Honorä de Balzac
»Die Zeitung, werter Herr, wird auf der Straße
gemacht, in der Wohnung der Mitarbeiter, in der
Druckerei zwischen elf und zwölf Uhr nachts. Als
wir noch den Kaiser hatten, gab es diese Anstalten
für Druckerschwärze noch nicht. Ah ! er hätte Euch
das mit vier Mann und einem Korporal ausgetrieben,
und hätte sich nicht, wie die jetzt, mit Phrasen
dumm machen lassen .... Es scheint, die Halunken
schmausen lieber mit Schauspielerinnen, als daß sie
Papier verschmieren. Oh, das sind kuriose Käuze !c
»Im Th^ätre Frangais genügt die Protektion
eines Prinzen oder eines königlichen Kammerherrn
nicht, um eine günstige Besetzung zu erlangen : die
Schauspieler geben nur denen nach, die ihrer Eigen-
liebe drohen. Wenn Sie die Macht haben, es durch-
zusetzen, daß von dem ersten Liebhaber geschrieben
wird, er leide an Asthma, von der ersten Liebhaberin,
sie habe irgendwo ein Geschwür, von der Soubrette,
sie rieche aus dem Mund, dann werden Sie auf-
geführt ....
Wo, wie und wodurch mein Brot verdienen ?
Diese Frage mußte ich mir vorlegen, als der Hunger
näher und näher an mich herankam. Nach vielen
Versuchen, nachdem ich für Doguereau einen ano-
nymen Roman geschrieben hatte, für den er zwei-
hundert Franken bezahlte — er hat nicht viel daran
*) Eine Komposition von Zitaten aus den Seiten 294 bis 392 des
IV. Bandes der »Menschlichen Komödie« (Leipzig, Insel-Verlag).
— 2 —
verdient — , stand es mir fest, daß der Journalismus
einzig und allein mir Brot geben könnte. Aber wie
war es möglich, in die Redaktionen einzudringen?
Ich will Ihnen nicht von meinen vergeblichen
Schritten und Bittgängen erzählen, auch nicht von
dem halben Jahr, das ich als Volontär arbeiten, wo
ich mir sagen lassen mußte, ich verscheuchte die
Abonnenten, während ich sie im Gegenteil an-
lockte ....
Finot ist Chefredakteur. Wissen Sie, wovon ich
lebe? Ich verkaufe die Billets, die mir die Theater-
direktoren geben, damit ich ihnen in der Zeitung
nicht unangenehm werde, die Bücher, die mir die
Verleger schicken und die ich besprechen soll. End-
lich treibe ich, wenn sich erst Pinot befriedigt hat,
mit den Naturalien Handel, die die Industriellen uns
liefern, für oder gegen die Pinot mir erlaubt, Artikel
zu schreiben. Eine Arznei gegen Blähungen, die
, Sultaninpasta', ein Haaröl, die brasilianische Mixtur*
zahlen für ein scherzhaftes Artikelchen zwanzig oder
dreißig Pranken. Ich bin gezwungen, den Verleger
anzukläffen, der dem Blatt wenig Exemplare gibt :
die Zeitung nimmt zwei davon, die Pinot verkauft,
und ich bekomme zwei, die ich ebenfalls verkaufe ;
und wenn ein Verleger ein Meisterwerk herausbrächte,
wenn er mit Exemplaren geizte, würde er totge-
schlagen. Das ist gemein, aber ich lebe von diesem
Handwerk und hundert andere wie ich ! Glauben Sie
aber nicht, die politische Welt wäre besser als die
literarische: alles in diesen beiden Welten ist Kor-
ruption ; jeder Mensch, der damit zu tun hat, kor-
rumpiert oder wird korrumpiert. Wenn es sich um
ein Verlagsunternehmen handelt, das einigermaßen
bedeutend ist, dann zahlt mich der Verleger, aus
Furcht, angegriffen zu werden ....
Die Schauspielerinnen zahlen auch für das'Lob,
aber die geschicktesten zahlen für die Kritik ; was
sie am meisten fürchten, ist das Totschweigen. Da-
— 3 —
her ist eine Kritik, die geeignet ist, an anderer Stelle
bekämpft zu werden, mehr wert und wird höher
bezahlt als ein trockenes Lob, das am nächsten Tag
vergessen ist. Die Polemik, mein Lieber, ist die
Grundlage der Berühmtheit. Mit diesem Handwerk
des Bravos auf dem Gebiet der Ideen und des An-
sehens der Gewerbetreibenden, der Literaten und
Schauspieler verdiene ich monatlich fünfzig Taler,
kann ich einen Roman für fünfhundert Pranken ver-
kaufen, und fange an, ein gefürchteter Mann zu
werden. Wenn ich nicht mehr auf Kosten eines
Drogisten, der sich als Mylord aufspielt, bei Florine
lebe, sondern mich selber einrichten kann ; wenn ich
zu einem großen Blatt komme und dort das Feuilleton
redigiere, dann, mein Lieber, wird von Stund an
Florine eine große Schauspielerin ; und was ich alles
werden kann, weiß ich nicht : Minister oder ein ehr-
licher Mann, es ist noch alles möglich .... Und von
mir ist eine schöne Tragödie angenommen ! Und
unter meinen Papieren ist eine Dichtung, die umkom-
men wird 1 Und ich war gut I Mein Herz war rein ! . . . .
Und wenn ein Verleger meinem Blatt ein Exemplar
verweigert, dann mache ich ein Buch schlecht,
das ich schön finde ....
Außerhalb der literarischen Welt gibt es keinen
Menschen, der die schreckliche Odyssee kennt, auf
der man zu dem gelangt, was man je nach den Ta-
lenten Beliebtheit, Mode, Ansehen, Renommee, Be-
rühmtheit, Popularität nennen muß .... Alle fallen
sie in den Graben des Elends, in den Schmutz
der Zeitung, in die Sümpfe der Bücherfabrikation.
Wie ährenlesende Bettler nähren sie sich kümmer-
lich von biographischen Artikeln, von Klatsch-
notizen, von Pariser Neuigkeiten in den Zeitungen,
oder von Büchern, die durchaus logische Lieferanten
von Papier und Druckerschwärze bei ihnen bestellen,
die einen Schmarren, der in vierzehn Tagen abge-
setzt wird, lieber haben als ein Meisterwerk, das
— 4 —
sich langsam verkauft. Diese Raupen, die zugrunde
gehen, ehe sie Schmetterlinge werden, leben von
der Verleumdung und der Infamie, und sind bereit,
auf den Befehl eines Paschas vom ,Constitutionnel',
der jQuotidienne* oder den ,D£bats', auf einen Wink
der Verleger, auf das Ansuchen eines neidischen
Kollegen, oft bloß für ein Diner, ein werdendes
Talent zu zerreißen oder zu rühmen. Wer die Hinder-
nisse alle überstiegen hat, vergißt den Jammer seines
Anfangs. Ich, der ich mit Ihnen spreche, habe ein
halbes Jahr lang Artikel geschrieben und habe all
meinen Geist hineingelegt, und für wen? für einen
Elenden, der sie für seine ausgab, der auf diese
Proben hin Feuilleton redakteur geworden ist ; er hat
mich nicht als Mitarbeiter angenommen, er hat mir
noch keine hundert Sous gegeben, und wenn ich ihn
sehe, bin ich gezwungen, ihm die Hand zu geben ....
Arbeiten ist nicht das Geheimnis des Glücks in
der Literatur, es handelt sich darum, die Arbeit der
andern auszubeuten. Die Zeitungsbesitzer sind Unter-
nehmer, wir sind Handlanger. Je mittelmäßiger ein
Mensch ist, um so schneller gelangt er ans Ziel; er
kann lebendige Kröten verschlucken, sich mit allem
zufrieden geben, den niedrigen kleinen Gelüsten der
literarischen Despoten schmeicheln, wie einer, der
als Anfänger aus Limoges kam, Hector Merlin, der
bereits in einer Zeitung des rechten Zentrums
politische Artikel schreibt und an unserm Kleinen
Journal mitarbeitet ; ich habe gesehen, wie er einem
Chefredakteur den Hut aufhob, der ihm herunter-
gefallen war. Dieser Bursche wird sich, während sich
die andern Ehrgeizigen voller Neid gegenseitig be-
kämpfen, zwischen ihnen durchschlängeln und wird
ans Ziel gelangen ....
Niemand wagt zu sagen, was ich Ihnen mit
dem Schmerz eines Menschen, der im Herzen ge-
troffen ist, und wie ein zweiter Hiob auf dem Mist-
haufen zurufe: »Sieh meine Geschwüre!« . . .
Armer Jüngling ! Sie wollen schöne Werke
schreiben und schöpfen aus Ihrem Herzen die Zärt-
lichkeit, das Mark, die Energie, lassen das alles
durch Ihre Feder gehen und breiten es als Leiden-
schaft, als Empfindung, als schöne Sätze aus I Ja,
Sie schreiben, statt zu handeln, Sie siegen, statt zu
kämpfen, Sie lieben, Sie hassen, Sie leben in Ihren
Büchern; aber wenn Sie Ihren ganzen Reichtum
Ihrem Stil gegeben haben, wenn Sie Ihr Gold und
Ihren Purpur für Ihre Gestalten verschwendet haben,
wenn Sie in Lumpen durch die Straßen von Paris
gehen und beglückt darüber sind, daß Sie mit den
Standesaratsregistern gewetteifert haben und Geschöpfe
namens Adolf, Corinna, Clarissa, Renee oder Manon
in die Welt gesetzt haben, wenn Sie mit dieser
Schöpfung Ihr Leben und Ihren Magen verdorben
haben, dann müssen Sie erleben, wie sie von den
Journalisten in den Lagunen des Totschweigens ver-
leumdet, verraten, verkauft und verstoßen, wie sie
von Ihren besten Freunden begraben wird. Können
Sie den Tag erwarten, wo Ihre Schöpfung, wer weiß
von wem ? wann ? wie ? wiedererweckt wird ?« . . .
>Zunächst sind Sie mir fünfzig Franken schul-
dige sagte Lousteau ; >dann sind da zwei Exemplare
«iner ,Reise nach Ägypten', die man sehr rühmt, es
sind eine Menge Stiche darin, sie werden sich leicht
verkaufen: Finot ist damit für zwei Artikel bezahlt
worden, die ich schreiben muß ....
Sie haben keine Ahnung, wie so etwas hinge-
pfuscht wird. In der , Reise nach Ägypten' habe ich
geblättert und hier und da Stellen gelesen, ohne sie
aufzuschneiden, ich habe elf Sprachfehler darin ent-
deckt. Ich werde eine Spalte schreiben des Inhalts,
daß der Verfasser vielleicht die Sprache der Enten
versteht, die auf den ägyptischen Steinblöcken, die
man Obelisken nennt, ausgehauen sind, aber daß er
ganz gewiß seine eigene Sprache nicht versteht, und
ich werde es ihm beweisen. Ich werde sagen, er
— 6 —
hätte sich, anstatt uns von Naturgeschichte und
Altertümern zu reden, nur mit der Zukunft Ägyptens
beschäftigen sollen, mit dem Fortschritt der Zivili-
sation, mit den Mitteln, Ägypten für Prankreich zu
gewinnen, das es einmal erobert und wieder verloren
hat und es jetzt noch durch moralische Einflüsse an
sich bringen kann. Dazu eine patriotische Rodomon-
tade, das ganze gespickt mit Tiraden über Marseille,
die Levante, unsern Handel.« > Aber wenn er das getan
hätte, was sagten Sie dann?« »Dann sagte ich, er hätte,
anstatt uns mit Politik zu langweilen, sich mit der
Kunst beschäftigen und uns das Land nach seiner
malerischen und landschaftlichen Seite schildern
müssen. Der Kritiker wird dann sentimental. Wir
sind überschwemmt mit Politik, sagt er, sie langweilt
uns, man findet sie überall. Ich werde meine Sehn-
sucht nach jenen reizenden Reisebeschreibungen aus-
sprechen, in denen man uns die Schwierigkeiten der
Seefahrt, den Reiz der Fahrt durch eine Meerenge,
die Freuden der Fahrt über den Äquator schilderte,
kurz alles, was die wissen wollen, die nie eine Reise
machen. Man macht sich, ohne sie zu tadeln, über
die Reisenden lustig, die einen Vogel, der vorbei-
kommt, einen fliegenden Fisch, einen Fischzug, die
festgestellten geographischen örter, die bezeichneten
Untiefen als geographische Ereignisse feiern. Man
verlangt wissenschaftliche Tatsachen, von denen
niemand etwas versteht, und die darum wie alles,
was tief, geheimnisvoll und unbegreiflich ist, einen
besondern Zauber ausüben. Der Abonnent lacht, er
ist zufrieden. Was die Romane angeht, so gibt es
in der Welt niemanden, der so viel Romane ver-
schlingt, wie Florine ; sie gibt mir den Inhalt an und
nach dem, was sie mir sagt, schmiere ich meinen
Artikel. Wenn sie von dem, was sie die Schrift-
stellerphrasen nennt, gelangweilt worden ist, kommt
mir das Buch beachtenswert vor, und ich lasse den
Verleger noch um ein Exemplar ersuchen; der freut
sich, daß er einen günstigen Artikel haben soll, und
schickt es gerne ....
Halt, da ist Finot, der Chef meines Blattes; er
plaudert mit einem talentvollen jungen Mann, Felicien
Vernou, einem kleinen Schlingel, der so gefährlich ist
wie eine geheime Krankheit.« »Nun«, sagte Finot,
der mit Vernou auf Lousteau zutrat, »du hast eine
Premiere. Ich habe über die Loge verfügt.« »Du hast
sie Braulard verkauft ?« »Was macht's ? Du bekommst
schon einen Platz. Was willst du von Dauriat ? Ach,
daß ich's nicht vergesse ! Es ist abgemacht, daß wir
Paul de Kock stark loben, Dauriat hat zweihundert
Exemplare genommen, und Victor Ducange lehnt ab,
einen Roman für ihn zu schreiben. Dauriat sagt, er
will einen neuen Autor im selben Genre kreieren.
Du wirst Paul de Kock über Ducange stellen.« »Aber
ich habe mit Ducange zusammen ein Stück an der
Gaiet^«, sagte Lousteau. »Was macht's? Du sagst ihm,
der Artikel sei von mir, und er sei ganz wild gewesen,
du aber hättest ihn gemildert, dann ist er dir Dank
schuldig.« . . .
»Was uns unser Leben kostet, der Gegenstand,
der in langen Nächten der Arbeit unser Hirn müde
gemacht hat, all dieses Wandern im Land der Ge-
danken, das gauze Ergebnis unserer Arbeit, die
Schöpfung, der wir Geist und Blut gegeben haben,
wird für die Verleger ein gutes oder schlechtes Ge-
schäft. Die Buchhändler verkaufen ihr Buch oder
verkaufen es nicht. Das ist für sie das ganze Problem.
Ein Buch stellt ihnen riskiertes Kapital vor. Je
schöner das Buch ist, um so weniger Aussichten hat
es, verkauft zu werden. Jeder hervorragende Mann
erhebt sich über die Massen, sein Erfolg steht also
im geraden Verhältnis zu der Zeit, die nötig ist, um
das Werk zur Geltung zu bringen. Kein Buchhändler
will warten, das Buch von heute muß morgen ver-
kauft werden. Auf Grund dieses Systems lehnen
die Verleger die gewichtigen Bücher ab, die der
— 8 —
hohen Anerkennung bedürfen und sie nur langsam
finden, t . . .
»Am Vormittag habe ich die Meinungen meines
Blattes; aber am Abend denke ich, was ich will:
bei Nacht sind alle Journalisten grau.c . . .
» Herzchen c, sagte Florine und wandte sich den
drei Journalisten zu, »seid morgen recht nett gegen
mich; zunächst habe ich für heute Nacht Wagen
bestellt, denn ihr sollt mir bezecht werden wie zu
Fastnacht, c . . .
»Dauriat hat mir sein Wort gegeben, ich bin
mit einem Drittel Miteigentümer des Wochenblatts.
Der Vertrag lautet, daß ich dreißigtausend Franken
bar einzahle unter der Bedingung, daß ich Chef-
redakteur und Herausgeber werde. Das ist ein groß-
artiges Geschäft. Blondet hat mir gesagt, daß man
gesetzliche Einschränkungen gegen die Presse vorbe-
reitet, nur die schon bestehenden Blätter werden
bleiben. In einem halben Jahre braucht man eine
Million, um ein neues Blatt zu gründen. Ich
habe also abgeschlossen, ohne daß ich mehr als zehn-
tausend Franken besitze. Höre, wenn du es dahin
bringst, daß Matifat die Hälfte meines Anteils, ein
Sechstel also, für dreißigtausend Franken kauft, gebe
ich dir die Chefredaktion meines Kleinen Journals
mit zweihundertfünfzig Franken im Monat. Du wirst
mein Strohmann sein. Ich will immer auch ferner die
Redaktion leiten können und dort alle meine Interes-
sen wahren, es soll nur nicht so aussehen, als wenn
ich etwas damit zu tun hätte. Alle Artikel werden
dir für den Satz von hundert Sous die Spalte bezahlt;
auf diese Weise kannst du einen Überschuß von fünf-
zehn Franken im Tag erzielen, denn du zahlst die
Spalte nur mit drei Franken, und hast überdies noch
den Vorteil von den unbezahlten Mitarbeitern. Das
sind also noch vierhundertfünfzig Franken im Monat.
Aber ich will vollständig unbehindert nach meinem
Belieben in dem Blatt die Menschen und die Vor-
gänge angreifen oder verteidigen, dabei kannst du
doch Haß und Freundschaft pflegen, soweit das meiner
Politik nicht in die Quere kommt. Vielleicht werde
ich Ministerieller oder Ultra, das weiß ich noch nicht;
aber unter der Hand will ich meine liberalen Be-
ziehungen pflegen. Ich sage dir alles, du bist ein guter
Kerl. Vielleicht überlasse ich dir die Kammerberichte
in dem Blatt, für das ich sie mache, ich kann sie
jedenfalls nicht behalten. Sorge also dafür, daß Florine
das Qeschäftchen zustande bringt, aber sie muß ihrem
Drogisten tüchtig zusetzen: ich habe nur vierund-
zwanzig Stunden, in denen ich zurücktreten kann,
wenn ich nicht zahlen kann. Dauriat hat das andere
Drittel für dreißigtausend Franken seinem Drucker
und seinem Papierlieferanten verkauft. Er für sein
Teil hat sein Drittel umsonst und gewinnt noch zehn-
tausend Franken, weil das Ganze ihm nur fünfzig-
tausend kostet, aber in einem Jahr wird die Revue
den Hof zweihunderttausend Franken kosten, wenn
er, wie man munkelt, den guten Einfall hat, die
Zeitungen aufzukaufen und zu amortisieren ....
Ich gehe in die Oper, morgen habe ich vielleicht
ein Duell : ich schreibe einen zerschmetternden Artikel
gegen zwei Tänzerinnen, deren Freunde Generäle sind,
und zeichne ihn mit einem F. Ich greife die Oper
aufs Schärfste an.« >Was Sie sagen 1« machte der
Direktor. >Jawohl, jeder knickert mit mir,« ant-
wortete Finot, »der eine nimmt mir meine Logen
weg, der andere lehnt es ab, mir fünfzig Abonnements
abzunehmen. Ich habe der Großen Oper mein Ulti-
matum gestellt: ich will jetzt hundert Abonnements
und vier Logen imMonat. . . . »Sie ruinieren uns«, sagte
der Direktor. >Ja, Sie haben sehr zu jammern, Sie
mit ihren zehn Abonnements. Ich habe ihnen zwei
gute Artikel im ,Constitutionnel' verschafft.« »0, ich
beklage mich ja nicht über Sie«, rief der Direktor.
»Mein Freund,« sagte Lucien zu Etienne, »wiel
Sie machen sich kein Gewissen daraus, für die Hälfte
10 —
einer Sache, die Pinot eben für dreißigtausend Franken
gekauft hat, Fräulein Florine von diesem Drogisten
die nämliche Summe verlangen zu lassen?« . . .
lAber aus welchem Land stammen Sie denn,
Menschenkind? . . . Der Zufall tut für Sie an
einem Tag das Wunder, auf das ich zwei
Jahre lang gewartet habe, und Sie beschäfti-
gen sich damit, von den Mitteln zu sprechen?
Wie! Sie scheinen Geist zu haben, Sie be-
sitzen die geistige Unabhängigkeit, die den intellek-
tuellen Abenteurern in der Welt, in der wir sind,
notwendig ist, und Sie plappern von Gewissens-
bedenken, wie die Nonne, die sich anklagt, sie habe
ihr Ei mit Gier gegessen? . . Wenn Florine Glück
hat, werde ich Chefredakteur, habe zweihundert-
fünfzig Franken Fixum; ich nehme die großen Thea-
ter, Vernou lasse ich die Vaudevilletheater, und Sie
setzen den Fuß in den Steigbügel und werden mein
Nachfolger in den Boulevardtheatern. Sie bekommen
dann drei Franken für die Spalte und schreiben jeden
Tag eine, das macht im Monat dreißig, die Ihnen
neunzig Franken einbringen; Sie haben dann Bücher
im Wert von sechzig Franken, die Sie Barbet ver-
kaufen; dann können Sie monatlich von Ihren Thea-
tern je zehn Billets verlangen, im ganzen vierzig
Billets, die Sie für vierzig Franken an den Barbet
der Theater verkaufen werden ....
Ich sage nichts von dem Vergnügen, daß Sie
ins Theater gehen können, ohne zu zahlen, denn
dieses Vergnügen wird bald eine Plage; aber Sie
haben in vier Theatern den Zutritt hinter die Kulissen.
Wenn Sie zwei Monate hart und zurückhaltend sind,
dann werden Sie mit Einladungen überschüttet,
können fortwährend mit den Schauspielerinnen sou-
pieren; ihre Liebhaber machen Ihnen den Hof....
Heute um fünf Uhr im Luxembourg waren Sie
noch in Verzweiflung, und nun haben Sie die Aus-
sicht vor sich, eine der hundert privilegierten Per-
— 11 —
sonen zu werden, die für Prankreich die Meinung
nachen. Wenn wir Glück haben, können Sie in drei
Tagen mit dreißig kleinen Witzen, von denen täglich
dre. gedruckt werden, einem Menschen das Leben
zur ^ual machen; Sie können bei allen Schauspiele-
rinnen Ihrer Theater sich Lust und Vergnügen holen ;
Sie kennen ein gutes Stück zu Fall bringen und
ganz Paris dazu bringen, in ein schlechtes zu laufen.
Wenn Dauriat ablehnt, die ,Margueriten' zu drucken
— ohne Ihnen etwas dafür zu geben, können Sie es
zuwege bringen, daß er demütig und unterwürfig zu
Ihnen kommt und sie Ihnen für zweitausend Franken
abkauft. Wenn Sie Talent haben uud gegen ihn in
drei verschiedenen Zeitungen mit drei Artikeln los-
gehen, die irgendeine seiner Spekulationen oder ein
Buch, auf das er rechnet, zu vernichten drohen,
dann werden Sie sehen, wie er wie eine Schling-
pflanze bis zu Ihrer Mansarde emporklettert und
nicht mehr vom Fleck geht. Und Ihr Roman
schließlich! Die Buchhändler, die Sie jetzt alle
mehr oder weniger höflich zur Tür hinausweisen
würden, werden dann vor Ihrer Tür warten, bis sie
Zutritt finden, und das Manuskript, das der alte
Doguereau Ihnen auf vierhundert schätzte, wird bis
zu viertausend Franken in die Höhe getrieben wer-
den ! Das ist der Nutzen, den das Journalisten-
gewerbe trägt. Daher versperren wir allen Neulingen
den Zutritt zu den Zeitungen; um da einzudringen,
bedarf es nicht bloß eines großen Talents, sondern
auch eines großen Glücks. Und Sie wollen sich gegen
Ihr Glück wehren ! Sehen Sie, wenn wir uns nicht
heute bei Flicoteaux getroffen hätten, könnten Sie
noch drei Jahre lang warten oder wie d'Arthez in
einer Dachkammer verhungern. Bis d'Arthez so ge-
lehrt wie Bayle und ein so großer Schriftsteller wie
Rousseau geworden ist, haben wir unser Glück ge-
macht und werden Herren über sein Glück und sei-
nen Ruhm sein. Finot wird Deputierter und Besitzer
- 12
einer großen Zeitung werden; und wir werden, was
wir sein wollen: Pairs von Frankreich oder Schuld-
gefangene in Sainte-Pelagie.« »Und Finot wird seirß
große Zeitung den Ministern verkaufen, die ihm a'as
meiste Geld zahlen, wie er seine Lobartikel an Ma-
dame Bastienne verkauft, und Mademoiselle Viiginie
schlecht macht und beweist, daß die Hüte der ersten
schöner sind als die, die das Blatt zuerst gepriesen
hatte!« rief Lucien . . . »Sie sind ein dummer Kerl,«
antwortete Lousteau trocken. »Finot lief vor
drei Jahren mit zerrissenen Stiefeln herum, aß bei
Tabar für achtzehn Sous zu Mittag, sudelte für zehn
Franken einen Prospekt, und wie sein Rock ihm
auf dem Leib saß, das war ein so unerforschliches
Geheimnis, wie das der unbefleckten Empfängnis :
Finot ist jetzt alleiniger Besitzer seines Blattes, das
hunderttausend Franken wert ist; mit den bezahlten,
aber nicht effektiven Abonnements, mit den wirk-
lichen Abonnements und den indirekten Kontributio-
nen, die sein Onkel erhebt, verdient er jährlich
zwanzigtausend Franken; er hat täglich die üppig-
sten Diners der Welt, er hat seit einem Monat ein
Kabriolett ; und morgen ist er nun endlich an der
Spitze einer Wochenschrift und hat ein Sechstel des
Eigentums umsonst, hat fünfhundert Franken monat-
liches Gehalt, die er um tausend Franken für un-
entgeltliche Mitarbeit, die seine Teilhaber ihm be-
zahlen müssen, erhöhen wird. Sie werden der erste
sein, der überglücklich ist, Finot drei Artikel um-
sonst zu geben, wenn er einwilligt, Ihnen fünfzig
Franken für den Bogen zu zahlen ....
Haben Sie nicht eine großartige Zukunft, wenn
Sie blind sich in Haß und Liebe nach den jeweiligen
Umständen richten; wenn Sie angreifen, weil Finot
Ihnen sagt: greif anl; wenn Sie loben, weil er Ihnen
sagt: lobe! Wenn Sie gegen Jemanden Rache zu
üben haben, dann brauchen Sie mir nur zu sagen :
Lousteau, der Mann muß vernichtet werden !, und
— 13
wir rücken jeden Morgen in unser Blatt ein Sätzchen
ein, mit Hilfe dessen Sie Ihren Freund oder Ihren
Feind aufs Rad flechten können. Und dann bringen
Sie Ihr Opfer mit einem großen Artikel in dem
Wochenblatt noch einmal um. Und schließlich, wenn
es für Sie eine große Sache ist, läßt Finot, dem Sie
sich inzwischen unentbehrlich gemacht haben, Sie
einen letzten Keulenschlag führen.« »Sie glauben
also, Florine wird ihren Drogisten dazu bestimmen
können, das Geschäft zu machen?« fragte Lucien,
der von den Aussichten geblendet war. »Das glaube
ich freilich! Wir sind am Zwischenakt, ich werde ihr
sofort zwei Worte sagen, die Sache wird heute Nacht
in Ordnung gebracht. Wenn Florine verstanden hat,
um was es sich handelt, hat sie meinen ganzen Geist
und Ihren dazu.« »Und da sitzt nun dieser brave
Kaufmann mit offenem Munde und bewundert Flo-
rine, ohne eine Ahnung zu haben, daß man ihm
dreißigtausend Franken aus der Tasche holen wird!«
»Schon wieder eine Dummheit! Stiehlt man sie ihm
denn ? . . Mein Lieber, wenn der Minister das Blatt
kauft, dann bekommt der Drogist binnen einem hal-
ben Jahr vielleicht fünfzigtausend Franken für seine
dreißigtausend. Und ferner wird Matifat nicht an das
Blatt denken, sondern an die Interessen Florines.
Wenn man erfährt, daß Matifat und Camusot — denn
sie sollen sich in das Geschäft teilen — eine Zeit-
schrift besitzen, dann bringen alle Blätter freundliche
Artikel für Florine und Coralie. Florine wird berühmt
werden, sie bekommt vielleicht an einem andern
Theater ein Engagement für zwölftausend Franken.
Und schließlich spart Matifat die tausend Franken,
die ihm jeden Monat die Geschenke und die Diners
für die Journalisten kosten würden. Sie verstehen
nichts von den Menschen und nichts vom Geschäft! . . .
Jetzt ist es zehn Uhr und es ist noch keine
Zeile da. Ich will, damit diese Nummer glänzend
wird, Vernou und Nathan bitten, uns etliche zwan-
— 14 —
zig Bosheiten gegen die Deputierten, den Kanzler
Cruzoe, die Minister und, wenns not tut, gegen un-
sere Freunde zu geben. In solcher Lage wäre man
imstande, seinen Vater zu ermordenc . . .
»Was für Menschen sind denn die Journalisten I
rief Lucien. »Wie! Man soll sich an einen Tisch
setzen und geistreich sein?..c »Genau wie man
eine Lampe anzündet . . solange sie noch öl hat.c
»Liebes Kind«, sagte sie zu Pinot, »man bewil-
ligt dir deine zehn Abonnements, sie kosten die
Direktion nichts, sie sind schon untergebracht, beim
Chor, dem Orchester und dem Balletkorps. Dein Blatt
ist so famos, daß sich niemand beklagt. Du sollst
deine Logen haben. Hier ist der Preis für das erste
Vierteljahr«, sagte sie und überreichte ihm zwei Bank-
noten. »Also mach mich nicht herunter«. »Ich bin
verloren«, rief Pinot, »ich habe keinen Leitartikel
mehr für die Nummer, denn mein infames Geschimpfe
muß nun wegbleiben . .«
»Ich danke Gott, daß es in meinem Lande keine
Zeitungen mehr gibt«, fuhr der deutsche Minister
nach einer Pause fort. . . . Ich muß sagen, ich
habe heute abend den Eindruck, daß ich mit
Löwen und Panthern zu Nacht speise, die mir
die Ehre erweisen, ihre Tatzen mit Samt zu be-
kleiden.« »Ee ist sicher«, sagte Blondet, »daß
wir imstande sind, ganz Europa zu sagen und zu
beweisen, daß Eure Exzellenz heute abend eine
Schlange ausgespien haben, daß Sie beinahe Fräu-
lein Tullia, die hübscheste unserer Tänzerinnen, von
ihr beißen ließen, und wir könnten, daran anschlie-
ßend, Kommentare über Eva, die Bibel, die Erb-
sünde und die Todsünde folgen lassen. Aber beru-
higen Sie sich, Sie sind unser Gast«. »Das wäre drol-
lig«, sagte Pinot. »Wir könnten wissenschaftliche Ab-
handlungen über alle Schlangen drucken lassen, die
man im menschlichen Herzen und im menschlichen
Körper bis auf das diplomatische Korps findet«, sagte
— 15
Lousteau. >Wir könnten irgendeine Schlange in die-
ser Flasche Kirsehwasser findenc, sagte Vernou. »Sie
würden es schließlich selbst glaubenc, sagte Vignon
zu dem Diplomaten. »Meine Herren, erwecken Sie
nicht Ihre schlummernden Klauen !c rief der Herzog
von Rh£tore\ »Der Einfluß, die Macht der Zeitung ist
erst im Beginne, sagte Finot; »der Journalismus ist in
seiner Kindheit, er wird wachsen. Binnen zehn Jah-
ren wird alles der öffentlichen Meinung unterworfen
sein. Der Gedanke wird alles beleuchten, er wird . . .<
»Alles beflecken«, unterbrach Blondet. »Das ist ein
Wort!« sagte Claude Vignon. »Er wird Könige
machen«, sagte Lousteau. »Er wird die Monarchien
auflösen«, sagte der Diplomat. »Zugegeben«, sagte
Blondet, »wenn es keine Presse gäbe, brauchte man
sie nicht zu erfinden; aber sie ist da, und wir leben
davon«. »Sie werden daran sterben«, sagte der
Diplomat ....
»Die Zeitung, die ein Heiligtum hätte sein sol-
len, ist ein Mittel für die Parteien geworden, aus einem
Mittel ist sie ein Geschäft geworden; und wie alle
Geschäftsunternehmungen ist sie ohne Treu und ohne
Ehrlichkeit. Jede Zeitung ist, wie es Blondet sagt,
eine Bude, in der man dem Publikum Worte von
der Farbe verkauft, die sie haben will. Gäbe es eine
Zeitung für Bucklige, dann bewiese sie morgens und
abends die Schönheit, Güte und Notwendigkeit der
Buckligen. Eine Zeitung ist nicht mehr dazu da, die
Meinungen zu klären, sondern ihnen zu schmeicheln.
Daher werden alle Zeitungen nach einiger Zeit er-
bärmlich, heuchlerisch, infam, lügnerisch, mörderisch
sein; sie werden die Ideen, die Systeme, die Men-
schen töten und werden gerade dadurch blühen und
gedeihen. Sie werden die Wohltat genießen, die allen
imaginären Wesen zugute kommt : das Übel wird
geschehen, ohne daß jemand daran schuldig ist. Wir
alle, ich Vignon, du Lousteau, du Blondet, du Finot
werden Aristidesse, Piatone, Catone, Männer von
— 16
Plutarch sein; wir werden alle unschuldig sein, wir
werden uns alle die Hände von jeder Ruchlosigkeit
weißwaschen. Napoleon hat für diese moralische oder,
wenn Sie lieber wollen, unmoralische Erscheinung
den Grund angegeben; er hat darüber ein pracht-
volles Wort gesagt, auf das ihn seine Studien über
den Konvent gebracht haben: ,Pür die Kollektiv-
verbrechen ist niemaud haftbar/ Die Zeitung kann
sich das abscheulichste Benehmen gestatten, nie-
mand glaubt, sich damit persönlich schmutzig zu
machen .... Wenn die Zeitung eine niederträch-
tige Verleumdung erfindet, hat man sie ihr be-
richtet. Kommt jemand und beklagt sich, so ent-
schuldigt sie sich mit der großen Freiheit. Wird
sie vors Gericht gezogen, dann beklagt sie sich,
daß man ihr keine Berichtigung geschickt hat; aber
wenn man ihr eine schickt, dann lehnt sie sie lachend
ab und spricht von ihrem Verbrechen wie von einer
Kleinigkeit, die nicht der Rede wert wäre. Schließ-
lich verhöhnt sie ihr Opfer, wenn es Recht be-
kommt. Wird sie bestraft, hat sie zuviel Geldstrafen
zu zahlen, dann denunziert sie den Klagenden als
einen Feind der Freiheit, des Landes und der Auf-
klärung. Sie wird sagen, Herr Soundso sei ein Dieb,
und wird dafür die Worte wählen, er sei der ehr-
lichste Mann des Königreichs. So sind ihre Verbre-
chen Kleinigkeiten! ihre Angreifer Scheusale I und
nach einiger Zeit glauben die Leute, die sie alle
Tage lesen, alles, was sie will. Von nun an ist nichts,
was ihr mißfällt, mehr patriotisch, und sie wird nie
unrecht haben. Sie bedient sich der Religion gegen
die Religion, der Verfassung gegen, den König; sie
verhöhnt die Behörden, wenn die Behörden sie är-
gern; sie lobt sie, wenn sie den Volksleidenschaften
schmeicheln. Um Abonnenten zu ergattern, erfindet
sie die rührendsten Märchen, führt sie Possenspiele
auf wie Hanswurst. Die Zeitung würde eher dem
Publikum ihren eigenen Vater zum Frühstück ser-
— 17
vieren, als darauf verzichten, es unausgesetzt zu
interessieren und zu amüsieren. Sie ist wie ein
Schauspieler, der die Asche seines Sohnes in die
Urne tut, um wirklich weinen zu können..« »Kurz, sie
ist die Folioausgabe des Volkes,« riet Blondet dazwi-
schen. »Des heuchlerischen, unedelmütigen Volkes«,
erwiderte Vignon. »Es kommt dahin, daß die Zeitung
das Talent aus ihrer Mitte verbannen wird, wie
Athen Aristides verbannt hat. Wir werden es erleben,
wie die Zeitungen, die anfangs von Ehrenmännern
geleitet werden, später unter das Regiment der
Mittelmäßigsten kommen, die die Geduld und die
Nachgiebigkeit des Gummielastikums haben, die den
wahren Talenten fehlt; oder sie kommen an die
Krämer, die das Geld haben, sich die Federn zu
kaufen. Wir sehen davon schon jetzt allerlei. Aber
in zehn Jahren wird der erste beste Bursche, der
vom Gymnasium kommt, sich für einen großen Mann
halten, wird in die Spalten eines Journals steigen,
um seine Vordermänner zu prügeln, wird sie an den
Füßen herunterziehen, um ihren Platz zu bekommen.
Napoleon hatte sehr recht, die Presse zu knebeln.
Ich möchte wetten, daß die Oppositionsblätter, wenn
sie ihre Richtung zur Regierung brächten, diese selbe
Regierung in dem Augenblick, wo sie ihnen irgend
etwas verweigerte, mit den nämlichen Gründen und
den nämlichen Artikeln, die sie jetzt gegen die Re-
gierung des Königs schreiben, wütend bekämpfen
würden. Je mehr man den Journalisten Konzessionen
macht, um so anspruchsvoller werden die Zeitungen.
Heute sind die Journalisten Parvenüs; aber ihnen
werden ausgehungerte und arme Journalisten folgen.
Die Wunde ist unheilbar, sie wird immer bösartiger,
immer fressender; und das Übel wird immer größer,
je mehr es geduldet wird, bis zu dem Tag, wo über
die Zeitungen durch ihre Üppigkeit und Massen-
haftigkeit die Verwirrung kommt, wie in Babylon.
Wir wissen alle, wie wir hier sind, daß die Zeitungen
18
in der Undankbarkeit weitergehen werden als die
Könige, daß sie in Spekulationen und Berechnungen
weitergehen als der schmutzigste Kaufmann, daß sie
unsere Intelligenzen zugrunde richten werden, damit
sie jeden Morgen ihren Hirnfusel verkaufen ; aber
wir schreiben alle für sie, wie die Leute, die eine
Quecksilbermine ausbeuten, obwohl sie wissen, daß
sie daran sterben. Da unten sitzt nun, neben Coralie,
ein junger Mann. . Wie heißt er? Lucien ! Er ist
schön, er ist ein Dichter und, was für ihn mehr Wert
ist, er hat Witz, Einfälle, Geist; was wird nun aus
ihm? Er tritt in eines der Gedankenbordelle ein, die
man Zeitung nennt, dort vergeudet er seine schönsten
Ideen, dort dörrt er sein Hirn aus, dort befleckt er
seine Seele, dort begeht er die anonymen Nieder-
trächtigkeiten, die im Gedankenkrieg an Stelle der
Feldzugspläne, Plünderungen, Brandstiftungen, Hinter-
halte im Krieg der Kondottiere getreten sind. Wenn
er, wie tausend andere, ein schönes Talent zum
Nutzen der Aktionäre vergeudet hat, dann lassen
ihn diese Gifthändler Hungers sterben, wenn er Durst
hat, und vor Durst sterben, wenn er Hunger hat...
Man wird unser Hirn austrinken und uns schlech-
tes Benehmen vorwerfen!«..
>Wißt Ihr, wie Vignon mir vorkommt?« sagte
Lousteau, indem er auf Lucien wies. >Wie eine
der Huren aus der Rue du PeUican, die zu einem
Gymnasiasten sagte : ,Geh, Kleiner, so ein junges
Bürschchen sollte noch nicht hierher kommen/«
— 19 —
Die Welt der Plakate*)
Von Karl Kraus
Schon als Kind war ich weniger darauf erpicht, das Leben
aus den großen Werken der Kunst zu empfangen, als aus den
kleinen Tatsachen des Lebens es zu ergänzen. Unbewußt ging ich
den rechten Weg ins Leben, indem ich es mit jedem Schritt
eroberte, anstatt es als eine Überlieferung an mich zu nehmen,
mit der der junge Sinn nichts zu beginnen weiß. Die Erwachsenen,
die noch immer eine kindische Freude daran haben, den vor der
Tür des Lebens Wartenden den Christbaum mit den Geschenken
einer fertigen Bildung zu behängen, wissen nicht, wie unempfäng-
lich sie die Kinder für alles das machen, was die wahre Über-
raschung des Lebens bedeutet. Meine Neugierde war immer
stärker als solche Befriedigung. Instinktiv wich ich der Verlockung
aus, in mich aufzunehmen, was weisere Leute gedacht hatten, und
während meine Kameraden schlechte Sittennoten bekamen, weil
sie unter der Bank Bücher lasen, war ich ein Musterschüler,
weil ich auf jedes Wort der Lehrer paßte, um ihre Lächerlichkeiten
zu beobachten. Ich war früh darauf aus, vom Menschen Aufschluß
über den Menschen zu verlangen, und ich ließ eigentlich nur eine
Form künstlerischer Mitteilung gelten, die mir das Wissenswerte
unaufdringlich an den Mann zu bringen schien: das Plakat. Ein
sentimentaler Gassenhauer, den am Sommersonntag ein Leierkasten
vor unserem Landhaus spielte, hatte Macht über mein Gemüt; ich
ließ ab, Fliegen zu fangen, und die Mysterien der Liebe gingen
mir auf. Andere, die sich rühmen, daß der Tristan eine ähnliche
Wirkung auf sie geübt habe, fangen noch heute Fliegen. Ich war
stets anspruchslos, wenn es die Wahl der äußeren Eindrücke galt,
um zu inneren Erlebnissen zu gelangen, und ich verschmähte jene
starken Reizmittel, welche die schwachen Seelen brauchen, um eine
trügerische Wirkung mit vermehrtem Schaden zu erkaufen. Kurzum,
die vielen Bibliotheken und Museen, an denen ich im Leben vor-
übergekommen bin, werden sich am Ende über meine Aufdring-
lichkeit nicht zu beklagen haben. Dagegen zog mich von jeher
das Leben der Straße an, und den Geräuschen des Tages zu
lauschen, als wären es die Akkorde der Ewigkeit, das war eine
*) Aus dem ,Simplicissimus'.
20 —
Beschäftigung, bei der Genußsucht und Lernbegier auf ihre Kosten
kamen. Und wahrlich, wem der dreimal gefährliche Idealismus
eingeboren ist, die Schönheit an ihrem Widerspiel bestätigt zu
sehen, den kann ein Plakat zur Andacht stimmen!
Es sind wertvolle Aufschlüsse, die ich den Affichen jener
Zeit zu danken habe, da die ersten Versuche gemacht wurden,
das geistige Leben ausschließlich auf die Bezugsquellen des äußeren
Lebens zu lenken. Denn immer deutlicher wurde das Bestreben,
dem Betrachter, dessen Denken von höheren Interessen abgelenkt
war, einen vollgültigen Ersatz in den Plakaten selbst zu bieten. Die
geistigen Werte, von denen er scheinbar entwöhnt wurde, sollte
er eben dort wiederfinden, wo er sie am wenigsten vermutete,
und umso größer mußte seine Überraschung sein, die Schuh-
wichse, deren Beachtung er eben noch Kunst und Literatur ge-
opfert hatte, just in Verbindung mit diesen unentbehrlichen
Lebensgütern anzutreffen. Als ob man einen lieben Bekannten, von
dem man sich in Europa \ crabschiedet hat, in Amerika wiedersähe:
man kann sich vor Staunen nicht fassen und bleibt umso lieber,
weil die unverhoffte Gesellschaft zur Empfehlung der Gegend
beiträgt. *Bis dahin war also die Erkenntnis von der Zweckdien-
lichkeit und Billigkeit eines Hosenstreckers eine Angelegenheit,
die mit der Malerei, mit der Spruchweisheit, mit dem Gefühls-
leben nichts zu schaffen hatte. Wenn wir aber den Hosenstrecker
in der Verpackung künstlerischer oder geistiger Werte erhalten,
warum sollten wirs nicht zufrieden sein ? Warum sollten wir zwei
Wege machen, wenn die Seligkeit auf. einem zu erreichen ist?
Warum sollten wir für kulturelle Ideale zahlen, die als Emballage
für einen Hosenstrecker nicht einen Pfennig kosten! Aber mag
immerhin bei der Monopolisierung der Lebensgüter durch den
Kaufmann die bildende Kunst noch da und dort die Freiheit be-
haupten, selbst Ware zu sein, anstatt der Ware zu dienen. Daß
das Wort des Schriftstellers seine Berechtigung außerhalb der in-
dustriellen Reklame verlieren wird, scheint gewiß. Nicht als ob
das geistige Leben eine Verdrängung durch die merkantilen Interessen
zu befürchten hätte; aber es wird aus seiner brotlosen Beschau-
lichkeit zu einem sozialen Beruf geführt werden, und manche
artistische Begabung, die im Nebel undankbarer Probleme erstickt
wäre, wird leben, um der Überzeugung zu dienen, daß »für die
21
Ewigkeit« bloß ein Eßbesteck geschaffen sei und noch dazu
staunend billig zu haben.
Als man anfing, das geistige Leben in die Welt der Plakate
zu verbannen, habe ich vor Planken und Annoncentafeln kaum eine
Lernstunde versäumt. Und lange ehe ich das Wesen des Plakats
als die Empfehlung einer Ware erkannte, empfand ich es als eine
Warnung vor dem Leben. Ich wußte bald um den Stand des
üeistes Bescheid. Mit der Offenbarungskraft eines Erlebnisses
wirkte es auf mich, als ich einmal in einem Schaufenster die
Darstellung zweier Männer sah, deren einer sich mit seiner Kravatte
plagte, während der andere triumphierend danebenstehend, auf
ein fertiges Werk zeigte und schadenfroh ausrief: >Aber lieber
Freund, warum ärgern Sie sich so? Kaufen Sie sich Pollitzers
Kragenhalter, der hält Ihnen Kragen und Kravatte fest!« Daß die
Menschheit einen Anschauungsunterricht in diesem Punkte nötig
habe, bedachte ich nicht. Ich nahm vielmehr an, daß es eine
realistische Darstellung sei, daß in der guten Gesellschaft täglich
solche Dialoge geführt werden und daß es viele Menschen geben
müsse, deren Zentrum jenes Problem ist und deren Leben bloß einen
Vorwand bedeutet, um den endlichen Zusammenschluß von Kragen
und Kravatte zu erreichen. Und plötzlich sah ich es auf der Straße
von solchen Leuten wimmeln, überall sah ich diese Gesichter, den
verdrossenen Kämpfer und den fröhlichen Sieger des Lebens, ich lernte
den Choleriker vom Sanguiniker unterscheiden, wiewohl beide
einen aufgewichsten Schnurrbart und Schnabelschuhe hatten. Den
ersten, entscheidenden Eindruck von einer Menschheit also, die in
ihrer überwiegenden Majorität aus Ladenschwengeln besteht, emp-
fing ich von jenem Bilde, und mit einemmale war ich es, vor dem
sie sich alle zu der Frage einigten : Aber lieber Freund, warum
ärgern Sie sich so? . . .
Dies trieb mich wieder zu den Plakaten, die mir den
Schreckensgehalt des Lebens wenigstens im Extrakt darboten.
Gern stellte ich mir vor, daß alle Geistigkeit übernommen sei,
daß alles, was die Literatur an Zitaten, die Sprache an Sprüchen,
das Herz an Empfindungen bietet, nur mehr dort verwen-
det werde und daß das Leben außerhalb der Annoncen
ein leerer Schein sei und höchstens eine wirksame Reklame
für den Tod. Eines Tages brach die Sintflut des Merkan-
22
tilismus über die Menschheit herein, Gevatter Schneider und
Handschuhmacher gebärdeten sich als die Vollstrecker eines
göttlichen Willens, und es entstand die Mode, die Köpfe dieser
Leute an den Straßenecken zu konterfeien. Da verfolgte mich
durch all die Jahre ein Gesicht, in dessen Zügen ich mindestens
den Stolz auf eine gewonnene Schlacht zu lesen vermeinte. Ich
wurde älter, aber das Gesicht bekam keine Runzeln und ich wußte,
daß es mich überleben und dem Jahrhundert das Gepräge geben
wird. Einst war es ja die Physiognomie Napoleons, die auf die
schwangeren Frauen der Zeit so nachhaltig wirkte, daß noch das
Gesicht der Urenkel sie der ehelichen Untreue verdächtigt hat.
Das Antlitz, das heute einen ähnlichen Eindruck in den Seelen
der zeitgenössischen Welt hinterläßt, gehört einem Uhrmacher.
Weil er sich rühmt, daß seine Uhren die besten seien, hat er
auch den Mut der Persönlichkeit; er gibt seinen Kopf zum Pfand
und seinen treuen Blick als Garantieschein . . . Wo tue ich das
Gesicht nur hin? fragte sich manch einer, sann und kam nicht
darauf. Er war einem Mann begegnet, hatte ihn wie einen alten
Bekannten gegrüßt, und wußte doch nicht, wer es gewesen sei\
An der nächsten Straßenecke aber grüßte ihn ein Plakat zurück.
Ein Gastwirt war's oder ein Hutmacher oder der uns allen lieb-
gewordene Schmierölerzeuger, von dem wir nur nicht vermutet
hätten, daß er uns leibhaftig begegnen könnte, weil ja auch
Beethoven nicht von seinem Sockel steigt. Gibt's denn ein Leben
außerhalb der Plakate? Wenn uns die Eisenbahn aus der Stadt
holt, so sehen wir freilich eine grüne Wiese - aber die grüne
Wiese ist nur ein Anschlag, den der Schmierölerzeuger im Bunde
mit der Natur ausgeführt hat, um uns auch dort seine Aufwartung
zu machen.
Kein Entrinnen! So wollen wir die Augen schließen und
in das Paradies der Träume flüchten . . . Aber wir haben selbst
hier die Rechnung ohne den Gastwirt gemacht, der gerade das
Traumleben für eine passende Gelegenheit hält, sein Gesicht in
unsere Nähe zu bringen. Fürchterliches wird offenbar. Der Mer-
kantilismus hat es gewagt, noch die Schwelle unseres Bewußtseins
als Planke zu benutzen! Die Welt des Tages bot nicht Raum
genug, und so ist die grausige Möglichkeit, deren bloße Ahnung
einem die Kehle zuschnürt, betreten worden: man hat als jene hypna-
- 23 —
gogischen Gestalten, die im Halbschlaf unser Lager umstehen,
Reklamegesichter verwendet ! Und da esauch hypnagogische üeräusche
gibt, Gehörshalluzinationen, denen der schlaftrunkene Sinn leicht
geneigt ist, so hat man dazu — ein Schauder erfaßt mich — alle
jene Devisen und Rufe bestimmt, die unser Bewußtsein bei Tage
erfüllen. Welch eine Mahnung! Wir liegen da und büßen für
Makbeths Schuld. Es erscheinen der Reihe nach die Könige des
Lebens: der Knopf könig, der Seifenkönig, der Manufakturkönig, der
Getreidekönig, der Ansichtskartenkönig, der Teppichkönig, der
Kognakkönig, und als letzter der Gummikönig. Seine Augen
mahnen uns an unsere Sünden, aber seine Züge sprechen
für die Unzerreißbarkeit menschlichen Vertrauens. Und doch,
und doch!... Ein buschiges Haupt taucht auf und stöhnt:
»Ich war kahl!< Und wieder: Hier sind noch Gesichtspickeln,
dort sind sie nach dem Gebrauch verschwunden. Ach, ein
andres Antlitz, eh' sie geschehen, ein anderes zeigt die voll;
brachte Tat . . . Ein »heller Kopf« erscheint. Es ist jener,
der nur Dr. Ötkers Backpulver verwendet. »Wo ißt und
trinkt man gut?« summt's in der Luft und schon öffnet sich
ein Maul, um ein Gullasch zu verschlingen, und schon zeigt
eines, wie man Bier trinkt. Vor mir steht der »Wolf aus
Gersthof« und heult mir das Wiegenlied: Drahn ma um
und drahn ma auf, es liegt nix dran . . . Wer kommt denn
dort herein? Wilhelm Teil mit seinem Sohne? »Ich soll vom
Haupte meines Kindes . . .« Da schwankte er, aber zur Schutz-
marke einer Schokoladefirma gibt er sich her! . . . Seht, seht, wer
bricht sich Bahn? Ein Weib, dessen Haar länger ist als sie selbst,
ein Weib also, das Grund hat, seine Persönlichkeit zu betonen;
sie ruft: Ich, Anna . . . Aber ihre Rede verhallt im Gerassel eines
Wagens, dessen Lenker mir zuruft: »Sie fahren gut — wenn Sie
Feigenkaffee ...» »Entfernung ist kein Hindernis!«, unterbricht
ihn ein Weltweiser, der der Welt von Herrschaften abgelegte Kleider
gönnt. Und nun ist das Chaos der Maximen entfesselt: »Verlangen
Sie überall . . . Schönheit ist Reichtum, Schönheit ist Macht . . .
Verblüffend rasch heilt . . . Das Entzücken der Frau ist . . . Fort
mit den Hosenträgern ! . . Geben Sie eine Krone . . . Wer probt,
der lobt . . . Überzeugen Sie sich . . . Haben Sie schon Kinder-
wäsche? . . . Jeder Firmling wünscht . . . Weltberühmte prämiierte
24
Olmützer Quargel . . . Das ist's, was Sie brauchen ... Ihr Magen
verdaut schlecht . . . Wollen Sie stark und gesund werden? . . .
Reizend schön wird jede Dame ... So sehe ich in einem
meiner Korsetts mit rationeller Front aus, ohne dasselbe zu füh-
len .. . Das Geheimnis des Erfolges ... So sicher wie 2X1=2. . .
Ein wahrer Schatz . . . Der weiße Rabe spricht . . . Rasiere dich
im Dunkeln! . . . Wenn eine Mutter nicht in der Lage ist . . .
Gratis 10.000 Kronen . . . Wanzen und Insekten jeder Art . . .
Musik erfreut des Menschen Herz . . .« Ja, sie will mir den
Schlaf bringen und lockt zu erotischem Traum. Es erklingt das
Lied : «Ich liebe die Eine, die Feine, die Kleine . . . Aber ich
bin genarrt, denn es handelt sich bloß um eine Pastille. Was
tanzt dort in der Luft? »Ich bin ein Gummihandschuh! Kennen
Sie mich noch nicht, gnädige Frau?« Romulus und Remus er-
scheinen unter einem Regenschirm. Wie? Ist die Gründung Roms
wegen ungünstiger Witterung abgesagt? >Ein Verbrechen!« brüllt
es — begeht jeder, der nicht ... Ich habe Fieber. Aber schon
stehen ein Hofrat und fünf Ärzte an meinem Lager, die eid-
lich begutachten... »Männerschwäche!« murmelt einer von
ihnen verächtlich. «Ein Griff, ein Bett!« antwortet es verständnis-
innig. »Trinken Sie Sodawasser . . .« rät ein Unberufener. »Das
ist der gute Krondorfer, der fehlt nie auf unserem Tische !« ent-
gegnet es . . . »Trinken SieGeßlers Altvater!« höreich und spüre,
wie ein Bart mich kitzelt. »Kauen Sie schon Ricci?« fragt ein
Kobold. »Wie werde ich energisch ?« wimmert einer, dem in die-
sem Zimmer selbst angst und bang wird. Und ein Alp, der mir
auf der Brust kauert, glotzt mich an und hat nur den einen
Wunsch: »Wenn ich Sie persönlich sprechen könnte!« . . . Hilfe,
Hilfe! Ach, wer ruft dort um Hilfe? Wer rennt mit dem Kopf
durch die Wand ? Rauft sich das Haar? Verzweifelt und froh-
lockt wieder, jubelt und klagt, springt herum und bearbeitet
das Fenster mit den Fäusten ? Oh, es ist einer, der un-
glücklich ist, weil man ihn seine Kleider nicht beim Gerstl ein-
kaufen läßt, und der schließlich doch seinen Willen durchsetzt.
»Ich bring mich um — !« droht er, wenn man ihn hält;
»Wa s? ists möglich ! ! !« ruft er, weil er die Preise zu billig
findet; »Freiheit der Wahl!« brüllt er und bringt damit
auch die Demokratie auf seine Seite, wiewohl es sich sofort
25 -
herausstellt, daß er nur die Wahl der Stoffe meint. Und nun tobt
alles durcheinander, ich unterscheide die Branchen nicht mehr,
hundert Fratzen tauchen auf, hundert Rufe werden laut. Ich
verstehe nur noch Ratschläge wie : Koche mit Gas ! Wasche mit Luft !
Bade zuhause! . . . Und da das Leben in solcher Fülle mein
Schmerzenslager umbrandet und alle Bequemlichkeiten, alle auto-
matischen Wonnen bietet, deren man um diese Stunde nur
habhaft werden kann, so merkt ein Waffenhändler, daß ich mich
nicht mehr auskenne, und übertönt den Lärm mit der Reklame:
Morde dich selbst!
Adolf Loos*)
Von Robert Scheu
»Was kümmert uns Vergangenes!
Unsre Welt ist neuer, größer, wechselvoller
unsre Welt,
Frisch und stark ergreifen wir sie, Welt
der Arbeit und des Marsches,
Pioniere — Pioniere! —
Walt Whitman
In einem Märchen von Dickens begibt es sich,
daß ein Passagier, der in einer fremden Wohnung
übernachtet, im Halbtraum von einem alten Lehnstuhl
angesprochen wird, der ihm eröffnet: in seinem
Polsterzeug sei ein Schatz verborgen. — In Wien
trat eines Tages — es war Ende der Neunzigerjahre —
ein Mann auf, der Stühle, Kasten, Gläser, tönerne
Töpfe, Häuser, Karossen, Türklinken dazu brachte,
ihr Grabesschweigen zu brechen und mit silberner
Zunge zu sagen, was sie sind und was sie sollen.
Das kam dazumal so überraschend, überzeugend und
gleichzeitig so lieblich, daß sich die Leute die Augen
rieben, und ausriefen: »Das hab' ich mir noch nie
*) Nicht von Professor Viktor Loos, dem bekannten technischen
Fachmann, der öfter für die .Fackel' geschrieben hat, handelt dieser
Aufsatz, sondern im Gegenteil von einem Mitarbeiter der , Neuen Freien
Presse'. Anm. d. Herausgeb.
— 26 —
gedacht! Aber warum eigentlich nicht? Es ist doch
nur die nackte Logik, die Natur der Dinge !c —
Wer war dieser dinghafte Mann, der solchen
Zauber aus den gewöhnlichsten Gegenständen heraus-
holte und soviel Glänzend-Selbstverständliches, Kind-
haft-Einfaches, Uralt- Neues in so bestrickender Form
zu sagen wußte? Ein blutjunger Architekt mit
schmalem Windhundkopf englischer Prägung und
unschuldsvollen Augen, die alles zum erstenmal
zu sehen schienen; der ganze Mann vibrierend wie
eine Stahlklinge; ein Österreicher, nein, ein Europäer,
nein, ein Amerikaner, nein, ein ganz neuer Typus,
ein Kosmopolit und just in Wien, der Gesandte
einer neuen klirrenden Zeit: Adolf Loos.
Ihn begrüßte — bei Neutönern ein seltener
Fall — allseitig frohes Willkommen.
Was ist seither aus dem Manne geworden?
Wurde er der Licht wark von Österreich? Entwickelte
er sich zum Lehrer, Zivilisator im großen Stil? Hat
er Städte gebaut? Oder ist er gestorben, verdorben,
ins Dunkel zurückgesunken? Hat er sich an großen
Aufgaben verblutet oder ist er gar verflacht?
Weder das Eine noch das Andere. Er lebt im
Halbdunkel, im Schatten seiner Gedanken, die zu
größeren Ehren gekommen sind als er selbst. Dann
ist er also seinen eigenen Gedanken nicht gewachsen —
müßte man sagen, wenn nicht doch von Zeit zu Zeit,
in langen Zwischenräumen ein Bau-Entwurf, ein
Interieur, drei, vier gedruckte Seiten aus seiner
Feder auftauchten, gerade soviel um zu zeigen, daß
er noch besteht in seiner ungebrochenen und unver-
brüchlichen kompromißlosen Wesensart. Dann sieht
man erstaunt auf und fragt: warum begnügt er sich
mit dieser Rolle? Und die Hotfnung flackert auf, daß
er doch noch hervorkommen wird aus seinem Ver-
steck ....
Dort sitzt er, heiter und gelassen, und causiert.
Ihm zuzuhören ist ein behexendes Vergnügen. Es
— 27 —
fällt niemandem ein, zu reden, wenn er spricht. Sobald
er das Wort ergreift, ist unwillkürlich Alles stumm,
aber man fühlt sich nicht unterdrückt, sondern
behaglich gewiegt, angenehm gesteigert. Was er
redet, sind Explosionen des Lichts; man hat die
Einbildung, eigentlich selbst zu denken und rätselhaft
gescheit zu sein. In seinem unnachahmlichen Ton
graziöser Selbstverständlichkeit — worin es kein Pathos,
keine Ranküne, keine Bitterkeit gibt — findet er
Antwort auf jede Frage, handle es sich nun um
englische Weltpolitik, ein Bauwerk, einen Greislerladen
oder Richard Dehmel. So tut er schon zehn Jahre
lang. Ein öffentlicher Brunnen. Und manche Leute
wissen das nur zu gut; sie gehen hin und werden
vom Lauschen reich.
Um dem Rätsel dieser freigebigen und noblen
Seele auf den Grund zu kommen, griff ich dieser
Tage auf die ersten Äußerungen von Adolf Loos
zurück, auf jene blendende Serie von ungefähr
dreißig Artikeln, welche er anläßlich der Jubiläums-
Ausstellung von 1898 in der , Neuen Freien Presse'
geschrieben hat. Wohl der einzige nachweisbare Fall,
daß dieses Blatt einem jungen Echtbegabten, der
sich noch nicht anderweitig durchgesetzt, seine Spal-
ten bereitwillig öffnete. Ein schier unbegreiflicher
Zufall.
Ich hatte sie als einen nachhaltigen Eindruck in
der Erinnerung und dachte: wie wird das sein, wenn
du sie wieder aufschlägst? Inzwischen ist das alles
Gemeingut geworden und wird die Mumie einer
Großtat sein. Das Papier, auf dem es gedruckt
steht, ist auch wirklich vergilbt. Aber die Gedanken
und ihr Ausdruck sind herrlich wie am ersten Tag.
Und sie sind notwendiger als je, weil ein Gestrüpp
von Mißverständnissen ihr edles Antlitz entstellt hat.
Die simpelsten Themen, die man sich denken
kann: Ledergalanteriewaren, Gebrauchsgeschirr,
Röcke, Überzieher. Oder es ist die Rede vom Fuhr-
28
werk. Kurz von gewerblichen Erzeugnissen, die er
an der Hand der Ausstellungsgruppen, von Pavillon
zu Pavillon bespricht. Und doch, was für eine
spannende Lektüre 1 Aber nicht Beiwerk und Zierrat
machen das. Es wird nicht etwa anläßlich dieser
Dinge gegeistreichelt, sondern diese Gegenstände
bilden den wahren und eigentlichen Inhalt seiner
Betrachtungen. Er spricht wirklich von Hosen und
Stiefeln. Ja, sein ganzer Enthusiasmus will nichts
anderes, als diesen irdischen und irdenen Dingen, den
Krügen, Tischen, Wasserleitungen zu ihrem Rechte
verhelfen, für welches er mit derselben Wucht und
Beredsamkeit eintritt, wie ein anderer für die
Menschenrechte.
Adolf Loos setzt eine Lebensarbeit dafür ein,
daß ein Sessel ein Sessel, eine Gabel eine Gabel, ein
Haus ein Haus sein soll. Ein Ding soll ein Ding sein.
Aus dieser verblüffenden Trivialität, in der nicht
eine Spur von Geist ist, baut er monumentale Ge-
danken. Mit dieser kindhaften Forderung macht er
eine Revolution. Der Satz Napoleons bestätigt sich:
Alles Geniale ist einfach, das Einfache ist aber schwer.
Man heißt gemeiniglich einen Gedanken tief,
wenn er in mystische Regionen, in jenseitige Welten
verweist und mit einem Hauch von Transzendenz
umweht ist. Nach richtiger Auffassung ist ein Ge-
danke in dem Maße tief, als er in seiner Anwendung
weitere Fruchtbarkeit erweist und fortzeugend
neue Reihen von Gedanken und Ergebnissen zutage
fördert. Es wird sich zeigen, daß der Loosische Ge-
danke ein Maximum solcher fortzeugenden Kraft be-
sitzt und ein Kompendium von Ideen ist.
Was Adolf Loos befähigt, im Namen der
Industrie-Erzeugnisse das Wort zu ergreifen, das
ist: er hat die Seele aller Handwerke im Leibe.
Spricht er von Stühlen und Bänken, dann redet
er wie ein leibhaftiger Tischler, nein, wie die
Seele des Holzes selbst. Die alten Römer hatten für
— 29
jedes Gewerbe einen eigenen Gott. Mit all diesen
Göttern hat Loos Zwiesprache gehalten. Er ist mit
Glas, Stein, Kupfer, Leder innerlich so intim, wie
manche kosmische Naturen mit Ebbe und Flut und
dem Lauf der Gestirne. In ihm ist der Gewerbegeist
wie eine Naturgewalt. Von Loos erfahren wir, daß
diese Geräte eben nichts Willkürliches sind, sondern
uralter Weisheit geronnene Substanz, Ihm sind die
Ansprüche der Materie innerlich so evident, wie dem
Dichter seine Gestalten, und ihr Eingehen in die
gewerbliche Verarbeitung erscheint ihm als Natur-
prozeß. Gleichzeitig ist ihm die Geschichte alter Ge-
räte und ihre Rolle in der Kultur so gegenwärtig, daß
er beispielsweise in der Lage ist, ein ganzes Zeitalter
aus der Beschuhung zu deuten und überraschende Auf-
schlüsse über die Menschen vergangener Jahr-
hunderte zu geben. Aber nicht wie ein Gelehrter,
sondern wie ein Hellseher.
Handwerk für Handwerk legt er dar, daß
ihm unnatürliche Gewalt geschehen ist. Von wem?
Von den Fachschulen, von der schönen Linie,
von der > Kunst«. Im Namen der Schönheit und
der Kunst ist er dagegen, daß das Handwerk
von wesensfremden Zwecken verballhornt werde.
Er ist gegen das »Kunsthandwerk«. Fall für Fall
weist er nach, wie das Handwerk aus seinem eigenen
Fachverstand heraus viel Richtigeres und darum
Schöneres schafft als das ganze Kunstgetue. Die
Kunst will er isolieren, in ihrem Tempel. Die Andern,
die »Modernen« wollen: »das ganze Tagesleben mit
Kunst durchdringen«. Nein, sagt Loos, der Hand-
werker trifft das von sich selbst viel besser! Er wird
durch »Kunst« und »Schönheit« nur beirrt. Loos will
Ernüchterung des Handwerks. (Ähnlich wie Karl
Kraus die »Entliterarisierung der Presse«, mit dem
Unterschied allerdings, daß für diesen nur die Litera-
tur, aber nicht die Presse eine Sache ist, während
Loos zwei Werte verteidigt, indem er sie voneinander
783-784
30
löst.) Freilich geschieht ihm dabei ein Wunder : ihm
wächst eine neue Schönheit in der flachen Hand — die
Schönheit des modernen Lebens. Dieser Antipode
der Kunstgewerbler berauscht sich an der Nüchtern-
heit. Klassisch führt er den Nachweis, daß jenes un-
geheure Mißverständnis — und ein solches liegt
vor — jedes einzelne Gewerbe desorientiert und auch
materiell geschädigt hat. Der Tischler, sagt er, verträgt
keinen Vormund und es wäre die höchste Zeit, wenn
man die ungerechtfertigte Kuratel wieder aufhöbe.
In humorvoller Weise hat Loos in einem seiner
Tischgespräche das Unsinnige der sogenannten All-
tagsverschönerung veranschaulicht. Das ist gerade
so, sagte er, wie wenn plötzlich einem Musiker ein-
fiele, die Tramwaykondukteure sollen nicht mehr un-
artikulierte Laute pfeifen, sondern Motive aus Lohen-
grin und Rheingold.
Loos will die Emanzipation des Handwerks, um
es seinen natürlichen Instinkten zu überlassen, welche
sich in Jahrhunderten bewährt haben, indem jeweils
die richtigen urtümlichen Geräte geschaffen wurden,
worin die Erfahrung von Generationen verdichtet ist,
so gut wie in den Sprichwörtern. An Messer, Gabel,
Teller gibt es nichts zu verbessern und zu künsteln.
Soll es Kunst sein, dann seien es Bilder oder Statuen,
aber der Urväter Hausrat bleibe unberührt I
Er ist darum nicht etwa konservativ. Sein Wider-
spruch bezieht sich nur auf die Behelligung der Elemen-
tardinge. Aber nichts erscheint ihm abgeschmackter als
das Kopieren historischer Formen und Kostüme für
solche Bedürfnisse, welchen die Gegenwart ihrerseits die
klassische Form vorgeschrieben hat. Denn — so ruft
er aus — »unsere Zeit ist schön, so schön, daß ich
in keiner anderen leben möchte. Unsere Zeit kleidet
sich schön, so schön, daß, wenn ich die Wahl hätte,
mir das Gewand irgendeiner Zeit auszuwählen, ich
freudig nach meinem eigenen Gewand greifen würde.«
Er preist den Fortschritt, der sich in der Abschaffung
31
der Kleiderordnung ausdrückt und erklärt, als
Gradmesser für die Kultur eines Staates könne es
gelten : »wieviele seiner Einwohner von dieser freiheit-
lichen Errungenschaft Gebrauch machenc.
Die Kunst ehrt er als ein Heiligtum, welches er
nicht in den Alltag zerren läßt, und wenn es sich
wirklich um Kunst handelt, dann gibt es keinen
enthusiastischeren Genießer. Scheidung von Kunst
und Handwerk, endgiltige Differenzierung im Interesse
beider: — das ist seine Lehre.
Urgeschichtlich ist die Kunst aufs Innigste mit
praktischen oder religiösen Zwecken — aber allemal
mit Zwecken verwachsen. Erst durch einen jahr-
hundertlangen Prozeß werden die Künste von der
Zweckveranstaltung gelöst. So die Tragödie von der
religiösen Feier, das Tafelbild von der Architektur.
Die Schmiede sind am längsten Kunsthandwerker.
Wenn sie Schmuck machen, dürfen sie es auch heute
noch sein. Man kann die Frage aufwerfen, ob die
Lösung der Kunst aus ihrer ursprünglichen Hülle
ein gesunder Prozeß ist, ob die Zweiteilung des
Tages in Nüchternheit und Andacht, die Weihung
und Beschützung bestimmter Stätten, welche der
Kunst vorbehalten sind, nicht eine Zerrissenheit in
das Leben bringt und die Gebrochenheit der modernen
Persönlichkeit verschuldet. Aber sie ist eine unab-
wendbare Tendenz der Dinge. Als solche erkennt sie
Adolf Loos an, und er zieht seine Konsequenzen mit
der ihm eigenen Entschlossenheit und Seelenstärke.
Die Erleuchtung kam ihm in Amerika. Er be-
berichtet, wie er noch voll von den Schönheitsmiß-
verständnissen, die er in den Kunstschulen eingesogen
hat, drüben in den gewerblichen Ausstellungen her-
umspaziert und die gewissen Verzierungen sucht.
Das ist aber ein ganz junges Land, welches eine
eiserne Technik resolut und unbekümmert anwendet;
das Land, wo man die Bäume im Urwald fällt und
quer darüber die Eisenbahnschienen legt. Die mensch-
32
liehe Arbeit spannt ihie Stahlreifen über Abgrund und
Wasserfall, zieht Telegraphendrähte durch Prärien.
Und es ist schön. Eine blitzende Schönheit, ein
eigenartiges Zusammenprallen höchster technischer
Ökonomie mit der grünen, wilden Erde, mit einem
Wort — Stil. Den herauszuholen wie ein Gesetz —
das ist die ganze Aufgabe. Vorhanden ist dieser Stil
aber freilich nur in seinen Elementen; deren Ver-
geistigung und Einschmelzung in den Globus eines
menschlichen Kopfs muß erst geleistet werden. Weil
wir ahnen, daß sich in Adolf Loos ein solcher Pro-
zeß vollzogen hat, darum stellen wir ihn so hoch,
wie es seinen sichtbaren Leistungen kaum entspricht.
Er hat drüben einen Stil erraten, den das Land selbst
noch lange nicht besitzt. Amerika ist hinter Amerika
zurück wie unsere Zeit hinter unserer Zeit. In New- York
wars, wo in einem Laden ein Koffer seine Aufmerksam-
keit fasziniert. Ein lederner Kasten, mit kupfernen Rei-
fen beschlagen. Am nächsten Morgen überläuft ihn die
Erinnerung : der Koffer gestern — das ist der moderne
Stil I Von Stund an splitterts von ihm ab, all das
Falsche, Verkehrte, Verlehrte — er hat sich entdeckt.
Sein Wahlspruch wird : Das Praktische ist schön I Dieser
Elementarsatz sprengt ihm die Brautkammer, öffnet
ihm die Augen ins Geheimnisland Britannien und
Hellas. »Die Griechen arbeiteten nur praktisch, ohne
auch nur im Geringsten an die Schönheit zu denken . . .
Gibt es heute noch Leute, die so wie die Griechen
arbeiten ? 0 ja, es sind die Engländer als Volk, die
Ingenieure als Stand, c
Die blankeiserne Schönheit der angelsächsischen
Industrie, die glatte Fläche wird sein Idol und das
Ornament sinkt ihm hinab zur »Tätowierung«. Sein
Lebensgedanke steigt herauf: Überwindung des Or-
naments! Je weiter wir in der Kultur vorwärts
schreiten, desto mehr befreien wir uns vom Ornament.
Goldene Tressen sind heute noch ein Attribut der
Hörigkeit. Das Bedürfnis zu ornamentieren durch-
— 33 —
schaut er als Indianerstandpunkt. Und was er alles
als Ornament entlarvt! Ein fieberhafter Drang kommt
über ihn, die Fläche zu säubern, auf daß in ihrer ur-
tümlichen Reinheit erstrahle die Majestät des Materials.
Es wäre unfaßbar, wie aus dieser einfachen
Negation eine solche Fülle von Schönheit fließen
könnte, wie es bei Loos der Fall ist, wenn nicht
große Positivitäten dahinterstünden. Hört man ihn
selbst, so hat er in seinem Leben nicht mehr be-
hauptet und nicht mehr geleistet, als die Ausschaltung
des Ornaments. Dabei legt er Gewicht auf die national-
ökonomische Bedeutung seines Apercus. Wieviel
überflüssige Arbeit erspart wird. »Je mehr ein Volk
von seinen Arbeitsstunden auf Schnörkel und Ver-
zierungen verwendet, desto länger müssen die Arbeits-
tage sein, desto ärmer ist das Volk als Ganzes.«
Wer widerspricht?
Die positiven Mächte, die Adolf Loos inspirieren,
sind damit gekennzeichnet: Logik — Ökonomie — Zweck-
gedanke— Material.
Was für eine geistige Rente ihm die Logik ab-
wirft! Wenn andere Menschen der Welt mit Logik
beizukommen suchen, so ist das Resultat Kahlheit
und Armut. Bei Loos ist sie der Schlüssel zu einem
Wundergarten. Seine Logik ist schöpferisch und voll
Überraschungen. Und Ökonomie, sonst die Schutz-
herrin der Dürftigkeit, erwählt er sich zur Charitin.
In ihm zittert das Gewissen der Materie, als deren
Hüter und Wächter er sich fühlt. Er gehört zu den
Naturen, die sich für Kohle und Marmor der
ganzen Erde verantwortlich fühlen. Die Weltordnung
will es, daß höchste Ökonomie mitunter auch höchste
Schönheit ist — in der Kunst allemal. Solche Menschen,
welche für ihre Person oft nichts verlangen und wie
die Kinder in den Tag hineinleben, gehen bis zur
Grausamkeit, wenn sie gegenständlich arbeiten und
einem konkreten Zweck sein gebührendes Material
zumessen.
— 34 -
Bleibt freilich noch immer ein irrationaler Rest
in Adolf Loos jenseits von Logik und Ökonomie,
der uns sein Schöpferisches erklären soll. Der Beweis,
daß es vorhanden ist, liegt in seinem zweifachen
Können, welches erst seine Theorien bestätigt. Er
baut und schreibt — beides schön. Sein Stil gehört
zum Erfreulichsten, was ich kenne. Alle Prinzipien, die
Loos vertritt: Materialechtheit, Ökonomie, Verschmä-
hen jedweden Ornaments — ist darin in angenehmster
Vereinigung verwirklicht. Man zeigemir frischere Farbe,
holdere Fröhlichkeit, gediegenere Rasse. Eines Tages
überraschte er uns durch die Herausgabe einer Zeit-
schrift mit dem kecken Untertitel: »Ein Blatt zur
Einführung abendländischer Kultur in Österreich,
geschrieben von Adolf Loos«. Es erschienen nur zwei
Nummern. Aber was gab es da für Einfälle I Wie
war das Alles neu! Er führte das Blatt nicht fort...
Einige charakteristische Aussprüche aus seinen
Artikeln: >Neben Akademien baue man auch Bade-
anstalten und nebst Professoren stelle man auch
Bademeister an«. — »Die Ehrfurcht vor der Quantität
der Arbeit ist der fürchterlichste Feind, den der
Gewerbestand besitzt«. — »Der Künstler, der große
Architekt fühlt zuerst die Wirkung, die er hervor-
zubringen gedenkt, und sieht dann mit seinem geistigen
Auge die Räume, die er schaffen will«. — »Holz darf
mit jeder Farbe angestrichen werden, nur mit einer
nicht: der Holzfarbe«. — »Das Prinzip der Bekleidung
verbietet, durch einen Farbstoff das darunter befind-
liche Material nachzuahmen«. — »Die Nationaltracht
ist die Verkörperung der Resignation«.
Und genau so, was er baut. Sein Cafe* Museum
war eine Tat. Glühlampen: wie bringt er sie an?
Auf den Leitungsdrähten. Fertig. Und die American
Bar, wie glatt und doch voll rätselhafter Pracht.
Seltsam; er predigt Nacktheit, Einfachheit und wenn
er es durchführt, entsteht eine feierliche Sinfonie.
Den Andern geht es umgekehrt. Die predigen Farbe
- 35
und Prunk, und wenn sie etwas machen, ist es
Gschnas. Wie neu seine Interieurs waren, dafür zeugten
die Kunstzeitschriften: sie wiesen die photographischen
Reproduktionen einmütig zurück. »Die wirklich re-
volutionären Sachen t — erklärt der mündliche
Loos — »schauen eben nach nichts aus. Als Goethe
schrieb: Ich ging im Walde so für mich hin, und
nichts zu suchen, das war mein Sinn, — da hat
niemand etwas Auffallendes daran gefunden und doch
war es eine Revolution c. Der Erfolg bekundet sich
in der Nachahmung, gelegentlich im kompromittieren-
den Mißverständnis.
L003 hat nämlich ein Geheimnis, das er in
seinen Theorien nicht ausspricht, weil es sich nicht
aussprechen läßt. Vielleicht ist es — die Kom-
position. Beim Zusammenstoß der Materialien, die
sich einem Zweckgedanken unterordnen müssen, sind
Logik und Ökonomie doch nur dienende Kräfte, aber
die Bewältigung des Problems erfordert eine neue,
höhere Souveränität, mit einem Wort : Künstlerschaft.
Und Loos ist ein produktiver Künstler. Es gibt noch
viele Paläste, die Loos nicht gebaut hat ....
Es versteht sich von selbst, daß ein solcher
Kopf in östei reich noch in der Anerkennung beleidigt
wird, die man ihm zollt. Seine Mißversteher sind
allesamt Professoren und wohlbestallte Bürger. Er aber
gehört zu der Zahl jener, »um die es schade ist.«
Diese Menschenklasse gibt es eigentlich nur in Öster-
reich; hierzulande ist jeder überragende Mensch eine
Verlegenheit. Warum gibt es in Österreich so viele
»steckengebliebene Talente«? Weil die Gesellschaft
selbst noch nicht die primitivsten Funktionen erfüllt.
Es gibt hierzulande eigentlich überhaupt noch keine
Gesellschaft ; nämlich keinen sozialen Organismus,
in welchem jede Art von Begabung und Energie
die ihr entsprechenden, sich selbst anbieten-
den Aufgaben vorfindet. An den schöpferischen
Menschen tritt kein Entdecker, kein Auftraggeber,
36
ja nicht einmal ein Milieu heran. Nie fühlst du die
Gewalt einer lebendigen Welle unter deinem Boot.
Alles ist Ruderarbeit. Das Talent findet keine Vor-
aussetzungen, es ist allemal so, als müßte die
Menschheit erst frisch erfunden werden. Die einzige
Begabung, welche die Gesellschaft noch halbwegs zu
würdigen und zu beschäftigen weiß, ist die der starken
Apperzeptionisten, der quantitativen Wisser. Kon-
zeptive Menschen fallen ins Bodenlose.
Man vergleiche damit etwa England, wo jede
noch so feine Abstufung des Talents ihre korrespon-
dierende Staffel im gesellschaftlichen und ökonomi-
schen Aufbau der Nation vorfindet; wo das Indivi-
duum seiner natürlichen Plazierung automatisch zu-
getrieben wird; wo es wirklich etwas zu tun gibt,
und jeder Einzelne in die adäquate Nachfrage sozu-
sagen hineingeboren wird ....
Was geschieht aber bei uns mit jenen, deren
großzügige Veranlagung sich nicht in kleiner Be-
triebsamkeit zu rühren vermag und nur um be-
deutender Dinge langsam und zögernd sich regt?
Was macht man mit einem, der eine ganze Farbe
im europäischen Spektrum repräsentiert? Der die
Ruskin, Morris, Vandevelde desavouiert, einen Licht-
wark durch elementares Denken überragt; in dessen
Kopf sich die moderne — die noch nicht moderne
Welt rundet; der seine Rechte nicht geltend macht
und sich niemals angetragen hat; der seine Gedanken
wie Gemeingut auf die Straße wirft! Es ist für einen
Europäer eben ein verdammt teurer Sport, in Öster-
reich zu leben
Mir ist Adolf Loos aber noch mehr. Was er
schreibt und redet und baut, erscheint mir nur wie
eine vorläufige Äußerung, wie die Botschaft eines
schlummernden Frühlings. Woher nähme er sonst
diese schmetternde Bejahung des modernen Lebens?
diesen Lerchenklang eines Walt Whitman ?
Als der Herr die Welt erschaffen, da folgten
37
ihm, wie ein anderer Dichter singt, in gedrängtem
Ringe die Geister. Auf das Gebot des Allgewaltigen:
»schwöret, meinen Willen nur zu tuen«, jubelten die
Lichten: »dir zu dienen sind wir da!« Die Dämonen
der Finsternis knirschten: »ja.« — Und wiederum,
wie schon so manchesmal, soll die Welt aus dem
Chaos geschaffen werden, die moderne. Und wiederum
scheiden sich die Geister in solche, die sich freudig
hingeben und in die andern, die nur murrend der
höheren Macht gehorchen. Zur Schar der Willigen
und Sanften gehört Adolf Loos. Über den Karl
Kraus, dem freudig Verneinenden, in einem Gespräch
das Wort von den Lippen sprang, er sei einer, »der
diese Welt bekämpft, um sie zu dieser Welt zu
machen«.
Aphorismen*)
Von Karl Kraus
Eifersucht ist ein Hundegebell, das die Diebe
anlockt.
Es gibt Männer, die man mit jeder Frau be-
trügen könnte.
Meinungen sind kontagiös, der Gedanke ist ein
Miasma.
»
Es war eine Zeit des Liberalismus, der Makart
das äußere Gepräge gab. Damals hatten auch die
Wucherer ein malerisches Aussehen und glichen somit
aufs Haar den Künstlern von heute.
*) Aus dem .Slmplicissimus'.
— 38
Notizen und Glossen
Ein Politiker schreibt mir:
Wie kann der Soldat auch im Frieden Mut beweisen?
fragte einmal ein Oberleutnant einen Infanteristen in der Schule.
Durch Insubordination, war die überraschende Antwort. — Und
wie kann ein Politiker, ein Schriftsteller, ein Geschäftsmann, über-
haupt ein Mensch heute noch zeigen, daß er ein Held ist? Indem
er der ,Neuen Freien Presse' auf Grund des § 19 eine Berichti-
gung einsendet. Ohne gerade gezwungen zu sein, wagt man das
nicht so leicht. Und wenn es die Umstände durchaus erfordern,
so hilft man sich, indem man um Gotteswillen die Zitierung des
§ 19 des Preßgesetzes irgendwie vermeidet und schon gar das ver-
haßte Wort > Berichtigung« umgeht. Statt dessen fand ein von
Unwahrheit Betroffener einstmals das ingeniöse Wort »Klar-
stellung«. Ich schlage als Briefsteller für Berichtigungen etwa das
folgende Schema vor: »Hochgeehrte Redaktion! Durch ein unlieb-
sames, ganz auf meiner Seite liegendes Versehen haben sich die
Ereignisse, welche Gegenstand Ihres hochgesch. Berichtes sind,
etwas anders zugetragen, als sie die Pflicht hätten, und es ergibt
sich daher eine ganz nichtssagende Differenz zwischen Ihrer Dar-
stellung und der Wirklichkeit. Gesetzt den Fall, für den ich er-
gebenst um Entschuldigung bitte, letztere habe sich so und so
gestaltet, ersuche ich untertänigst, in einer unverfänglichen und
für Ihr gesch. Blatt nicht verletzenden Weise hievon Notiz zu
nehmen. Etwa unter dem Titel: Phantasien eines Beteiligten.
Oder: Gratulation zum 60. Geburtstag des Herrn Moriz Benedikt.
In Hinkunft werde ich mich bemühen, zu derartigen Differenzen
keinen Anlaß zu geben, und bei Todesfällen, Katastrophen oder
auch freudigen Ereignissen bei der Redaktion vorher anfragen.
Ich bitte diese Berichtigung meinen Urenkeln zu verzeihen. Für
meine Enkel wage ich diese Nachsicht nicht zu erbitten.« Ange-
sichts der geschilderten Berichtigungsfurcht muß man es nun als
Zeichen eines beginnenden Heroenzeitalters betrachten, daß dieser
Tage meherere lebendige deutsche Abgeordnete sich entschlossen
haben, der .Neuen Freien Presse' eine wirkliche, waschechte Be-
richtigung ins Haus zu schicken und sogar den § 19 ungeniert
beim Namen zu nennen. Das kam so. Die ,Neue Freie Presse'
39
hatte berichtet, daß im deutschen Vollzugsausschuß »die Miß-
stimmung über das Verhalten der Christlichsozialen zum Ausdruck
kam, die, ohne sich vorher mit den deutschfreiheitlichen Parteien
ins Einvernehmen zu setzen, auf eigene Faust zu der gestrigen
gewaltsamen Taktik griffen <. Es war natürlich nur die Mißstimmung
des Herrn Benedikt, der vor Wut darüber verzehrt wird, daß er
seit einiger Zeit in die innere Politik garnichts mehr dreinzureden
hat, und der sich wenigstens durch nachträgliche falsche Bericht-
erstattung rächen möchte. Diese erregte nun bei den Deutsch-
freiheitlichen großes Aufsehen und Ärgernis. Herr Dr. Sylvester
bezeichnete die Meldung der , Neuen Freien Presse' als unwahr,
ebenso Freiherr v. Chiari, Graf Kolowrat, der Abgeordnete Wolf
und andere Mitglieder des Vollzugsausschusses. Dieser faßte den
einstimmigen Beschluß, die ,Neue Freie Presse' zur Auf-
nahme einer scharf gehaltenen Berichtigung zu zwingen. Und so
geschah's. Herr Dr. Sylvester sendete eine Berichtigung mit Be-
rufung auf den § 19 des Preßgesetzes. Die ,Neue Freie Presse'
half sich, indem sie einige 7eilen vorausschickte und das Ganze
als >Zu schrift des Abgeordneten Sylvester« fett betitelte. Aber
auch an den folgenden Tagen regnete es Berichtigungen von allen
möglichen Seiten. Leider noch immer nicht genug. Es müßte
doch möglich sein, die ,Neue Freie Presse' zu zwingen, täglich
regelmäßig mindestens zwei Druckseiten für Berichtigungen frei-
zuhalten. Nicht alle werden freilich so aufschlußreich sein wie die
des deutschen Vollzugsausschusses. Sie zeigt, daß hinter der ,Neuen
Freien Presse' wirklich nichts und niemand steht als die Rotations-
maschine. Was sie freilich nicht hindern wird, nach wie vor im
Namen der Deutschen den Mund aufzureißen . . . Und daß die
,Neue Freie Presse' wirklich das Gehirn der Leser als Spuck-
napf verwendet, hat sie an demselben Tage noch in anderer
Art bewiesen. Im Morgenblatt erscheint ein Leitartikel, in
welchem Dr. Kramarz als der abgetakeltste Politiker beschrieben
wird, der in Fetzen, als ein Bettler vor dem Hause erscheint. An
demselben Tage ist die große Sitzung, in welcher Dr. Kramarz
als Führer der slavischen Union um ein Haar das Ministerium
aus dem Sattel hebt. Nun, darum ist der Leitartikel doch schön
gewesen! Quatschitz locuta, causa finita.
40 —
Die im letzten Hefte veröffentlichte »Geschichte in Briefen«
wird hiemit fortgesetzt.
Alt-Rahlstedt, 28. Mai 1909.
Dank, lieber Herr Kraus, für Ihren ausgezeichneten Brief, den
ich dem Herrn gleich sandte. Er hat mir noch nicht geantwortet. Ich
benachrichtige Sie dann. Ihr Liliencron.
Berlin, 7. Juni 1909.
Sehr geehrter Herr!
Wir bitten um freundliche Nachricht, ob wir den in Ihrer
Nummer vom 4. Juni enthaltenen Briefwechsel zwischen Herrn Baron
von Liliencron, Ihrem werten Verlage und dem ,Altonaer Tageblatt'
abdrucken dürfen und den Bericht über den Erfolg, den wir mit unseren
Einforderungen erzielten, daran knüpfen.
Hochachtungsvoll
Verlag ,Die Feder'
Organ des Allgemeinen Schriftstellervereins.
,Die Feder' vom 15. Juni 1909 schreibt:
>Mit Erlaubnis des Herausgebers der .Fackel' in Wien, Herrn
Karl Kraus, geben wir folgenden Artikel der .Fackel' wieder:
(folgt der wörtliche Abdruck des Artikels).
Soweit die .Fackel'. Wir haben dazu noch zu bemerken:
Nach der Auskunft des Herrn Kraus und im Auftrage des Herrn
Baron von Liliencron forderten wir die fünf am Eingang des Brief-
wechsels bezeichneten Blätter zur Zahlung von je 12 M Nachdrucks-
honorar auf; die .Frankfurter Zeitung', .Hamburger Nachrichten' und
der .Hannoversche Kourier' zahlten den liquidierten Betrag anstandslos,
das .Altonaer Tageblatt' führte zuerst 6 M an den Autor direkt
ab und zahlte erst auf unsere erneute Reklamation hin die weiteren
6 M nach, die .Nordwestdeutsche Morgenzeitung' erbot sich sofort
zu einer Zahlung von 10 Pf. pro Zeile, zahlte aber, als die Höhe
der Forderung unter Hinweis auf die Kartell-Statuten aufrecht erhalten
wurde, garnichts.«
Der Allgemeine Schriftstellerverein wird wissen, was er in
diesem Fall zu tun hat, er wird sich aber hoffentlich auch für
alle jene Fälle interessieren, die der Verlag der , Fackel' nicht selbst
feststellen konnte. Die eingelaufenen Zeitungsausschnitte sind bis
auf jene fünf, deren Beweiskraft der Verlag der , Fackel' dem Autor
zugänglich gemacht hat, leider vernichtet worden. Es mögen an die
vier Dutzend gewesen sein. Dieser Einlauf spricht dafür, daß
das Gedicht in mehreren hundert deutschen Blättern abgedruckt
wurde. Der Allgemeine Schriftstellerverein wird hoffentlich den
Vorschlag der , Fackel' befolgen, einfach sämtliche re ichsdeutschen
41
Tagesblätter zur Bezahlung des Nachdruckshonorars aufzufordern.
Es ist völlig ausgeschlossen, daß es ein deutsches Provinzblatt
gibt, in welchem das Gedicht nicht erschienen ist. Sollte das
Projekt aus irgendwelchen Gründen nicht durchführbar sein, so
bleibt nichts übrig, als die Gefälligkeit der Verehrer des Dichters
anzurufen. Sie mögen in allen Städten die Nummer der Zeitung
feststellen, in der zwischen dem 12. und 20. April das Gedicht er-
schienen ist, und das Ergebnis ihrer Untersuchung dem Allgemeinen
Schriftstellerverein mitteilen. Daß sich auf diesen Wink freiwillig
ein deutscher Zeitungsverlag meldet, steht nicht zu erwarten. Aber
es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn der Ruf nicht
imstande wäre, irgendwie zum deutschen Publikum zu dringen,
einem Autor zu seinem Recht zu verhelfen und jenen parodisti-
schen Effekt herbeizuführen, der die Ökonomie eines deutschen
Dichterlebens erhellt: daß dem Dichter des >Poggfred« ein
Anakreontisches Liedel Lohn ist, der reichlich lohnet.
•
Da sich gerade in der letzten Zeit die Fälle häufen, in
denen mir aus dem inveterierten Glauben, die ,Fackel' sei ein der
Enthüllung, Aufdeckung oder Beleuchtung sogenannter Übelstände
gewidmetes Organ, Mitteilungen, Ratschläge oder Warnungen be-
schert werden, so bleibt mir nichts übrig, als die Bitte um Ruhe
zu wiederholen, die ich im Herbst an meine Leser ergehen ließ,
zur lachenden Verwunderung jener Publizistik, die stolz darauf
ist, die Augendienerin ihres Publikums sein zu düifen. Aber selbst
wenn die , Fackel' wirklich den äußeren Notwendigkeiten ihre
Gestaltung verdankte, so müßte eine Intervention der an irgend-
einer »Affäre< Beteiligten um so nachdrücklicher zurückgewiesen
werden, und ohne Rücksicht auf die gute Absicht, in der sie
versucht wird. Weil dies immer wieder geschieht, so sei hier ein
Brief abgedruckt, den ich durch den Verlag der , Fackel' kürzlich
absenden ließ und der ohne die geringste Ranküne gegen den
Empfänger die prinzipielle Meinung über das Verhältnis zwischen
dem Publizisten und den Parteien ausspricht:
Im Auftrage des Herausgebers der .Fackel' teilen wir dies als
Antwort auf Ihren Brief mit: Er würdigt durchaus die Gründe,
welche Sie zu Ihrem Wunsch bestimmen, muß aber das Aus-
sprechen dieses Wunsches als Eingriff in die Sphäre seiner Ent-
schließungen ablehnen, die dem Einflüsse keiner privaten oder öffent"
42
liehen Instanz erreichbar sind. Solche Mahnung, die ebensowenig am
Platze ist, wie die Anerkennung des bisherigen »diskreten Benehmens«
der .Fackel' in der Sie interessierenden Angelegenheit, muß erst recht
zurückgewiesen werden, wenn die Entwicklung als ein Erfolg der Inter-
vention gedeutet werden könnte. Geht die Entschließung des Schrift-
stellers zufällig parallel mit dem privaten Wunsche, sei es, weil die
Angelegenheit ihn nicht interessiert, oder weil die Schonung privater
Verhältnisse eine Forderung ist, die er selbst nachdrücklich vertritt, so
kann es leicht geschehen, daß der Intervenient das Ergebnis seinem
Einflüsse zuschreibt, während der Schriftsteller trotz diesem Einflüsse
in freier Entschließung dazu gelangt ist. Es könnte dann nur mit Recht
gesagt werden, daß er sich auch von der Gefahr solcher Mißdeutung
nicht beeinflussen ließ, das Gegenteil zu tun, und daß er dem Einfluß
zu trotz, nicht zu liebe getan hat, was er für richtig hielt. Dies zur
Wahrung seines Standpunktes. Ganz überflüssig dünkt es im Speziellen
den Herausgeber der .Fackel', ihn auf die Grenzen zu verweisen, bis
zu denen die Führung einer Angelegenheit ein öffentliches Interesse ist,
und störend, ihn in einer Art, die seine Absichten von dem Sensations-
interesse der Tagespresse nicht genügend unterscheidet, auf die Erfor-
dernisse des Taktes aufmerksam zu machen. Daß sowohl die Zumutung
wie ihr Ausdruck in bestem Glauben ihren Grund haben, will der
Herausgeber der , Fackel' nicht verkennen und er ist vor allem bereit,
das Mißtrauen des Publikums, welches die Erfahrungen mit der Presse
gezeitigt haben, als einen Zustand berechtigter Notwehr gelten zu lassen.
In vorzüglicher Hochachtung etc.
•
Womit vertreiben sich Polizeikommissäre die Zeit? Einer
war bemüht, ein sechzehnjähriges Dienstmädchen, das seiner Herrin
zwölf Zigaretten stibitzt hatte, zur Diebin zu machen. Das Bezirks-
gericht half ihm bei dem Spaß, die zweite Instanz ließ das Mädel
frei. Nicht ohne vorher — denn auch Richter müssen sich
die Zeit vertreiben — einen Sachverständigen über den Wert der
Zigaretten befragt zu haben. Die Untersuchungshaft — etsch ! —
hatte der Polizeispaßvogel also doch erreicht, und jenes Plumpsack-
spiel, das sie >Leumund« nennen und bei dem man unversehens auf
den Rücken geschlagen wird, mag sich mit dem Mädchen oft
noch aufführen lassen. Was macht man mit solchen verspielten
Bengeln? Sie sind erwachsen, sitzen längst in Amt und Würde und
geben noch immer keine Ruh. Ein anderer wieder störte die Vorstellung
einer > Nackttänzerin«. Er drang in ihre Garderobe, um sich zu
überzeugen, ob sie das vorschriftsmäßige Trikot anhabe. Als die
Tänzerin mit Recht erwiderte, daß es vielleicht passender sei, sich
bei geschlossenem Vorhang auf der Bühne diese Überzeugung zu
— 43 —
verschaffen, sagte der Störenfried — nach der unberechtigten Dar-
stellung eines Tagesblattes — : >Machen Sie keine Geschichten !«
und >mit bezeichnender Handbewegung: Heben Sie Ihren Rock
auf !< Die Tänzerin tat es, anstatt einen Notzuchtsakt aufnehmen
zu lassen. Hierauf sagte der Feinschmecker: >Ich werde morgen
wieder kommen. Sie müssen sich das jeden Tag gefallen lassen.
Sie dürfen sonst nicht auftreten.« Diese Darstellung der Szene ist,
wie gesagt, unberichtigt geblieben, man hat aber auch nicht er-
fahren, ob die Tänzerin sich endlich zu einem Hinauswurf auf-
gerafft hat. Und ob es nicht doch vielleicht zu den polizeilichen
Befugnissen gehört, Tänzerinnen unter die Röcke zu greifen, weiß
man auch nicht. Jedenfalls scheinen den Herrschaften die Tage,
da sie noch bei der Riehl sitzen durften, unvergeßlich zu sein.
Ich denke aber, es ist die höchste Zeit, daß ein solides Leben be-
gonnen wird. Die Spielerei muß ein Ende haben. Eine, hinter der
sie auch her waren, hat sich schon das Leben genommen. Am
Ende will es keiner gewesen sein, und greift man einen schon ge-
setzteren Polizeirat heraus, so weint er. Wir wollen nicht, daß es
wieder so weit kommt. Die Mädchenquälerei muß aufhören !
Dem Wiener Sensitiven geht es nahe, daß das Maria Theresia-
Schlößchen in Döbling in eine Heilanstalt verwandelt wird. Den
ganzen Tag, bei der Arbeit, immer wieder fällt es ihm ein : das Maria
Theresia-Schlößchen wird ein Spital. Er wird die Vorstellung
nicht los, daß in dem schönen Speisesaal des Schlößchens Kranken-
betten und Tische mit Flaschen und Instrumenten stehen werden.
Am Abend wird sie zur Zwangsvorstellung und er möchte mit
jedem Menschen »ein Gespräch über Maria Theresia beginnen«.
Aber da würde er für einen Patrioten gehalten werden. Uud das
wäre von übel, denn der Wiener Sensitive, der in einem Berliner
Börsenblatt die ästhetische Kultur des alten Österreich vertritt, ist
daheim Sozialdemokrat und hat allen Grund, sich der Partei, die
ihn ohnehin schon wegen seiner anarchistischen Vergangenheit
beargwöhnt, nicht auch noch wegen konservativer Gesinnung ver-
dächtig zu machen. Er unterdrückt also in Wien jedes Gespräch
über Maria Theresia und begnügt sich damit, den Berliner Börse-
besuchern zu versichern, daß es um das Schlößchen schade sei.
44 —
Denn es sei »eines von jenen galanten Liebesschlößchen, in denen
Kavaliersleute des achtzehnten Jahrhunderts sich versteckten«. Und
noch manche andere liebe Erinnerung blüht einem Sozialdemokraten
daraus hervor, der sonst verurteilt ist, ein nüchternes Leben unter
der Spitzmarke: »Bauet Spitäler!« zu führen. Wie wehmütig wird ihm,
wenn er daran denkt, daß hier, wo einst die Kaiserin und »den Lothrin-
ger« ein übermütiges Glück verband, nunmehr Kranke geheilt werden
sollen. Ach, der Park, der war voll von Verstecken und von undurch-
dringlichen Hecken und nur zwei kannten den Weg. Hier in dem
weißen Speisesaal saß sie »mit dem Lothringer-Franzi« ganz allein. In
späteren Jahren mußte noch — du liebe Zeit! - »der spitzen-
behängte Kinderwagen hereingeschoben werden«. Wäre die .Ar-
beiter-Zeitung' damals erschienen, so wäre zweifellos die Mühe
statistisch berechnet worden, die die Proletarierinnen an die Her-
stellung des Spitzenvorhangs für den Hofkinderwagen hatten
wenden müssen. Heute dürfen ihre Mitarbeiter wenigstens im
Ausland auch ein wenig die ästhetische Kultur in Anschlag bringen,
die solch ein Prunkstück gekostet hat. Bei Wertheim, denken
freilich die Leserinnen, ist derselbe Effekt für 1 M 50 zu haben.
Aber das macht nichts, das bourgeoise Berlin W und der
Wiener Sozialdemokrat finden sich in einer tiefempfundenen
Trauer über den Wandel der Zeiten. So'n richtjen feinen Wiener
Ästheten hat sich da Mosse zujelegt! Ach hör' mal, Wanda, wie
stimmungsvoll: Maria Theresia war lieber im Döblinger Schlössel
als in Schönbrunn. Denn hier, sieh mal, war »immer der Kaunitz«
dabei oder der französische Botschafter »oder die Tante Anna
Immaculata«. Nee, was die Österreicher für Namen haben! Im
Schlössel aber, denk mal, »da setzte sie einfach den Kammer-
diener vom Franzi ans Klavier und nahm ihren Mann und tanzte«.
Da war auch nicht die Fürstin Liechtenstein zu fürchten, »mit
der Franzi immer speanzelte«. Ich lach' mich krank - speanzelte!
Aber sieh mal, die Sache scheint wirklich nicht zum Lachen. Der
große Saal wird nun »mit Linoleum belegt werden«, und es wird
»auf den breiten, heiter gewundenen Stiegen ein bißchen nach
Chloroform riechen« — ach, diese netten empfindsamen Wiener
— und »wo das Himmelbett der Kaiserin stand«, wird der Primarius
schlafen. Ist das nicht traurig? Dieses liebe theresianische Altwien
geht kaput! Du hör mal, das wird Lautenburg oder Sami Fischer,
- 45
die doch auch aus Budapest sind, nahe gehen. Und die stillen
Gassen der Wiener Vorstadt — Wanda, denkste noch, wie sie
Grillparzer und Saiten beschreiben? Was sagst du? Dieser letzte
Wiener Aristokrat, den jetzt Mosse gewonnen hat und der 'in
seiner nachdenklich lieben, ein wenig Ferdinand Saarischen Art
die Verwandlung eines Schlüssels in ein Krankenhaus beklagt, ist
ein Genosse? Ich lach' mich krank! Bauet Spitäler!
•
Der Bartsch kommt fast in allen Flüssen, Seen und Teichen
des geistigen Europa vor. Er laicht im Frühjahr. Seine
Fruchtbarkeit ist außerordentlich groß. Sein Fleisch ist derb
und schmackhaft. Als Heimatkünstler gedeiht er besonders
in dem Wasser, das auf die Steyrermühle getrieben wird. Heimat-
künstler interessieren mich nicht. Aber wenn sie sich unterein-
ander zu entdecken anfangen, so werde ich aufmerksam. Herr
Rudolf Hans Bartsch sendet dem .Neuen Wiener Tagblatt' ein
Gedicht, das ein junger Böhmerwälder Student verfaßt hat. Herr
Pötzl glaubt pünktlich, »daß der Jüngling besonderes Zeug in sich
habe«. Das Gedichtchen verdiene »zweifellos die Veröffentlichung,
da es ein ergreifendes lyrisches Momentbild ist«. Herr Pötzl will aber
»mit dem Namen des Autors noch zurückhalten«. Herr Pötzl hat recht.
»Erste Würfe«, sagt er, »gelingen oft, dann folgt die Enttäuschung«.
Kenner von Lyrik sind sogar imstande, diese Entwicklung zu anti-
zipieren. Die Henen Pötzl und Bartsch können schon heute davon
überzeugt sein, daß der junge Böhmerwälder kein Talent hat. Das
Gedicht ist ein Kitsch letzter Sorte, in dem eine sentimentale
Handlung die Stimmung macht, aber auch nur deshalb, weil ein
»Vöglein« auf eine kleine Gruft sieht. Herr Pötzl sollte seinem alten
Mißtrauen gegen neue Talente nicht untreu werden. Und Herr
Bartsch soll froh sein, daß er selbst entdeckt wurde.
•
Ein Feuilletonist der ,Neuen Freien Presse' schreibt über
den Wandel, den die Meinung des Wiener Theaterpublikums über
Ibsen durchgemacht habe. »Romersholm« wurde im Frühling 1893
ausgelacht — Rennsaison — weiße Pferde: daraus kann ein halb-
wegs hantiger Feuilletonist schon etwas machen. Aber effektvoll
wird das Bild erst, wenn Ibsen selbst dabei ist, in seiner Loge
»groß aufsteht«, den Künstlerhut in der Richtung gegen die Jugend
— 46 —
schwenkt und das Theater verläßt. Leider war Ibsen seit jener Woche,
in der das Burgtheater die > Kronprätendenten« und 'das Volks-
theater die > Wildente« brachte, seit 1891, nicht in Wien gewesen,
>Rosmersholm« machte — mit Nhil und der Sandrock — starken
Eindruck, und so stimmt die ganze Sache nicht. Echter ist die
Schilderung des Eindruckes von heute. Und vor allem geistvoller.
Das Publikum lauscht andachtsvoll wie in einer Kirche. Die
Psychologen hören eine Stecknadel zu Boden fallen.
>Wenn das Stück solcher Art bis zu Ende kommentiert war — so
gegen elf — dann kam erst noch der Kampf um die Garderobe, die
gleichfalls in einem tragischen Tempo verabfolgt wurde. Garderobe-
frauen sind assimilationsfähige Wesen, und wenn sie auch das Stück,
das drinnen hinter den geschlossenen Türen gespielt wird, nicht kennen
und lediglich nach den Hüten und Mänteln beurteilen müssen, die
dabei abgegeben werden, so arbeiten sie doch unwillkürlich im Geiste
der Autoren. Nach einer Operette reichen sie die Regenschirme munter
heraus, bei Ibsen dauert es bedeutend länger. Dennoch warteten die
Leute geduldig, bis an sie die Reihe kam, und trotz des oft be-
ängstigenden Gedränges sah man fast lauter stille, gefaßte und verklärte
Mienen. Die Garderobefrauen hatten so die beste Gelegenheit, die
läuternde Wirkung der großen Dichtung an einem konkreten Beispiel zu
erproben. Im übrigen werden sie sich wohl nicht wenig gewundert
haben über die plötzliche Langmut ihrer ungeduldigen Wiener, die es
sonst mit dem Nachtmahl so eilig haben, und doppelt eilig, wenn sie
von einem ernsten Dichter kommen. Operetten dürfen bis tiefer in die
Nacht hinein dauern — dazu ist die Nacht ja da — aber bei einem
tragischen Dichter sehen es die Leute nicht gerne, wenn er sie über die
Sperrstunde hinaus festhalten will.«
Die Feuilletonisten sind sich treu geblieben.
•
Ich gehe fast nie ins Theater, aber als die Berliner da waren,
habe ich mich doch entschlossen, einer Vorstellung der »Wider-
spänstigen« im Burgtheater mit Hartmann fals Petrucchio beizu-
wohnen. Wenn ihn Herr Bassermann einmal spielen sollte, werde
ich mir sicher das Vergnügen machen. Ein theaterfremdes Literaten-
tum spielt allsommerlich die dienenden Chargierungskünste, über
welche das Burgtheater noch in seinen schlimmsten Zeiten verfügen
wird, gegen die schöpferische Kraft aus, die den Schauspieler
zum Herrn der Bühne -macht. Bezeichnend ist die begeisterte
Ahnungslosigkeit, die immer wieder einen Künstler wie Sauer in
die Reihe jener geschickten Episodisten stellt, denen es keiner
ansieht, daß sie vom Hohepriestertum der nordischen Religion
gern zum Striese hinuntersteigen. Gewiß, das Burgtheater ist heute
- 47 -
schlimm daran, es hat sich einschüchtern lassen und verzweifelt
an seiner Kultur, die noch in ihrer Qeborstenheit wider die neu-
geborne Pracht des Literaturtheaters zeugt. Es ist auf einen Faust
gekommen, der ach ! wirklich Philosophie, Juristerei und Medizin
studiert hat, also auf der Bühne des Herrn Reinhardt vielleicht
glaubhaft wäre. Und es hat sich Herrn Kainz ergeben, dessen Beliebtheit
die traurigste Verirrung des Bühnengeschmacks einer versnobten
Zeit bedeutet. Herr Kainz auf Reisen: das scheint mir nicht ganz
der Unrast des Mitterwurzerschen Dämons nachzugeraten. Ich
denke vielmehr an einen Treumann™des Burgtheaters, der Launen
statt Humors hat£ und springen kann, wo er spielen solltet Das
Burgtheater läßt sich einen Kontrakt diktieren, der dem Herrn Kainz
für vier Monate eine größere Gage zuerkennt, als ein^Baumeister
für das ganze Jahr bezog, und der der Direktion eben noch die
Hoffnung läßt, daß der Tenorist >für eine oder zwei Novitäten sich
gewinnen lassen« werde. Nicht der törichte Vergleich mit den
Berliner Gastspielern, der Fall Kainz schlägt die Burgtheater-
herrlichkeit zu schänden. Im Frühjahr, trösten die Theater-
offiziösen, »wird sein Auftreten ein Gegengewicht gegen die zu
dieser Zeit stattfindenden Gastspiele der Berliner Ensembles bilden«.
Zu solchem Trost prostituiert sich heute das Burgtheater. Dem
Publikum kommt der Theatersinn abhanden und alle Werte
sinken im Wert, wenn sechs Monate im Jahr die Erwartung
des Herrn Kainz auf dem Repertoire steht. Die Freunde der
Schauspielkunst haben an Herrn Schienther nur die eine Bitte :
daß er die lange Zeit nicht etwa an Herrn Gregori wende ! Er
entdecke uns Ernst Hartmann wieder, ein junges Talent, das in
der Stille und ohne daß eine Burgtheaterdirektion es merkte, seit
Jahrzehnten wächst und heute wieder das Entzücken verbreiten
könnte, das sich von seinem Heinrich dem Fünften einer theater-
frohen Zeit einst mitgeteilt hat. Eine sonnige Stelle ist auf den Bret-
tern des Burgtheaters zurückgeblieben, und auf ihr spreizt sich ein
anmutloser Heinz, den der zweiundachtzigjährige Falstaff mit dem
kleinen Finger an die Wand spielt. An des Prinzen steifleinene
Vermummung müssen wir noch weiter glauben. Aber um den könig-
lichsten Heinrich der deutschen Bühne sollte uns ein Burgtheater-
direktor nicht länger betrügen dürfen.
Karl Kraus.
— 48 —
Juli im Walde
(Cervenec v lese)
Von J. S. Macbar
Und selig singen über dir die Föhren
(sie tragen Sommersonne in den Zweigen) —
ein dunkler Duft von Blumen, zart und eigen,
zwingt dich ins Gras, die Wunder anzuhören.
Am Boden tot ein Baum; — die Stürme stören
unheilig nachts sein königliches Schweigen —
aus seinen welken Ästen wuchernd steigen
viel thaubeglänzte, purpurfarbne Beeren.
Und eine Spinne zieht die feinen Fallen
von Stamm zu Stamm — ich stehe still und zähle
die Kuckucksrufe, die von ferne schallen —
und geh' ich fort, so trag' ich einen Strauß
von hell und dunklen Blüten mit nach Haus,
und Ruh', und Duft, und Verse in der Seele.
Übersetzt von Felix Orafe
Die schweigenden Ärzte
Von Karl Kraus
Bin Gerichtsfall hat das ärztliche Berufsgeheim-
nis zur Diskussion gestellt, und die journalistischen
Berufsschwätzer hatten wieder einmal Gelegenheit,
den Kapazitäten die Tür einzurennen. Es war allen
Beteiligten sichtlich eine Freude, sich für das Schwei-
gen aussprechen zu können. Daß nicht immer die
— 49 —
Schwatzsucht, sondern auch ein Gewissenszwang das
Opfer der Standesehre nahelegt, davon wissen jene
nichts, deren Mund jedem Interviewer offen steht
und die die Standesehre so hoch halten, daß sie mit
freiem Auge nicht mehr wahrnehmbar ist. Aber viel
schlimmer als die Warnung vor einer Heirat, zu der
sich Tripper und Mitgift verbinden, ist das Gebaren
solcher verläßlichen Arzte, die sich mit jedem Lauf-
burschen der öffentlichen Meinung einlassen und
andeutend von den Fällen erzählen, in denen sie das
Berufsgeheimnis gewahrt haben.
Da ist vor allem jener vielgenannte Sa-
mariter, der den Ruf der Wiener Mehlspeisen in
Katania begründet hat. Er tritt entschieden dafür
ein, daß die Krankheit ein Geheimnis bleibe, aber
er würde sich gewiß nicht zu einer Moral bekehren,
die gebietet, daß auch über den Arzt nicht gespro-
chen werde. Zu weit geht er nicht; man muß doch
hin und wieder Gelegenheit haben, sich seiner Dis-
kretion zu rühmen. So zum Beispiel wurde einmal
die Rettungsgesellschaft in ein Haus gerufen, wo ein
Mann in Ohnmacht und bei einer Frau lag, deren
Gatte in einer halben Stunde zurückkehren sollte.
»Die Dame bat mich auf den Knien< — ihren eige-
nen — »den Erkrankten nur rasch fortzuschaffen,
da ihr Mann von dessen Anwesenheit nichts erfahren
durfte, c Versteht sich. Nach wenigen Minuten war
der Kranke transportfähig. »Einige Tage nach dieser
Intervention kam der Gatte jener Dame zu mir und
sagte, er habe durch das Gerede der Hausparteien
erfahren, daß wir in seiner Wohnung erschienen
waren. Er verlangte von mir nun Auskunft.« Denn die
Freiwillige Rettungsgesellschaft könnte eher unter Dis-
kretion in Sizilien landen und ohne daß eine Zeitung
etwas davon erfährt, als daß sie die Aufmerksamkeit
der Wiener Nachbarsleute vermeiden könnte. Was
tat Herr Oharas? »Ich verweigerte ihm die Aus-
kunft mit Berufung auf mein Berufsgeheimnis-
— 50 —
und habe damit das Glück einer Ehe erhalten.«
Hoch klingt das Lied vom braven Mann. Und
hätte er nicht nach einigen Jahren einem Reporter
die Auskunft erteilt, wir hätten nie erfahren, wie
diskret ein Arzt von der Freiwilligen Rettungsgesell-
schaft sein kann. Der Gatte ging damals beruhigt
nachhause, machte dem Gerede der Nachbarsleute
durch Berufung auf das Berufsgeheimnis ein Ende,
und die letzten Zuckungen der Eifersucht beschwich-
tigte die Gattin selbst mit dem plausiblen Einwand,
daß das Erscheinen derRettungsgesellschaft ein Tratsch
der Nachbarn sei und die Diskretion der Ärzte ein
Beweis für das Nichterscheinen. So lebten die Ehe-
leute in Frieden dahin, bis eines Tages im ,Neuen
Wiener Journal* die Erinnerung des Herrn Oharas
an jenes Abenteuer zu lesen war, bei dem die Cha-
ritas der Venus aus der Patsche half. Namen waren
— bis auf den des Retters — nicht genannt. Aber
da die Nachbarsleute noch leben und auf das ,Neue
Wiener Journal* abonniert sind, so machten sie den
Ehemann auf den interessanten Artikel aufmerksam
und fragten ihn, ob der Fall nicht eine gewisse Ähn-
lichkeit mit jenem von- damals habe, als das ärzt-
liche Berufsgeheimnis sie beinahe um den Ruf ge-
bracht hätte, wahrheitsliebende Nachbarsleute zusein.
Eine abermalige Anfrage des Ehemannes bei Herrn
Oharas prallte abermals an der Berufung auf das
Berufsgeheimnis ab, und abermals war es gelungen,
das Glück einer Ehe zu erhalten . . .
Man glaubt immer, daß es nur die Pflicht des
Arztes sei, zu heilen. Der wahre Philantrop verteilt
Maccaroni an die Nebenmenschen, und erhält nicht
nur das Glück der Lebenden, sondern auch die Ehre
der Toten, Was bliebe der ärztlichen Kunst noch zu
tun übrig, wenn einer ohnehin schon tot ist? Der
Arzt kann sich damit begnügen, die Rechnung ein-
zuschicken; er kann aber auch noch ein übriges tun,
nämlich die Ehre des Verstorbenen retten. Eines
— 51 —
Falles, in dem es ihm gelang, rühmt sich der Chef-
arzt der Freiwilligen Rettungsgesellschaft. Diese
sei einmal in die Josefstadt gerufen worden. »Wir
fanden da in der Wohnung einer Halbweltdame
eine bekannte Persönlichkeit tot auf. Da mir bekannt
war, daß der Mann verheiratet war, ordnete ich seine
sofortige Abtransportierung durch unseren Wagen an
— obwohl wir zum Leichentransport nicht verpflich-
tet sind — und überführte ihn in die nächste Lei-
chenkammer mit der Motivierung, daß er erst im
Wagen gestorben ist. Ich habe dadurch die Ehre
eines Toten gerettet, der Witwe aber eine häßliche
Erinnerung ersparte Hätte das ,Neue Wiener Jour-
nal* von der Sache früher erfahren, so hätte es viel-
leicht nicht versäumt, die Wohnung der Halbwelt-
dame zu beschreiben und zu melden, daß dort u. a.
die bekannte Persönlichkeit anwesend war. Aus der
Schilderung des Herrn Oharas aber spricht ein tiefes
diskretes Verständnis für die Peinlichkeit der Situation,
in der sich eine bekannte Persönlichkeit befindet, wenn
sie in der Wohnung einer Halbweltdame stirbt. Die
Rettungsgesellschaft ist zwar zur Hilfe in dieser Lage
nicht verpflichtet, aber der Humanität sind keine Gren-
zen gesteckt. Was ein rechter Samariter ist, sagt sich in
solchem Fall, daß es da nichts gibt als fortschaffen
und schweigen, bis einst ein Reporter kommt und
sich die interessantesten Fälle erzählen läßt, in denen
man geschwiegen hat. Die Halbweltdame schweigt
länger. Sie ist nicht einmal an die Witwe der be-
kannten Persönlichkeit herangetreten, um ihr eine
häßliche Erinnerung anzubieten. Und wenn die Witwe
nicht glücklicherweise Abonnentin des ,Neuen Wie-
ner Journals' wäre, hätte sie bis heute von der Sache
nichts erfahren. So aber hat sie wenigstens den Arg-
wohn, der ihr auch durch eine direkte Anfrage bei
der Rettungsgesellschaft nicht genommen werden
kann, wiewohl man dort bekanntlich mit Berufung
auf das Berufsgeheimnis die Auskunft verweigert.
— 52 —
Wie unberufen wichtig diese Schweigepflicht des
Arztes ist, beweist uns ein anderer Samariter, nämlich
uer Direktor jenes Wiener Sanatoriums, in welchem die
Kapazitäten ihre Finanzoperationen ausführen. >Bin
Beispiel. Ich habe in meinem Institut einen an Krebs
erkrankten Kaufmann liegen. Ein Geschäftsfreund
von ihm erkundigt sich bei mir über den Zustand
und die Art der Krankheit. Würde ich in diesem
Falle die Wahrheit sagen, dann wäre die nächste
Folge, daß dieser jenem den Kredit entzieht. Ich
hätte also durch die Preisgabe des Berufsgeheimnisses
die Existenz eines Menschen untergraben, vielleicht
sogar vernichtet. Es kann doch der Fall sein, daß
der Mann noch zehn oder mehr Jahre am Leben
bleibt und nach wie vor kreditfähig ist.« Goldene
Worte eines Samariters! Die Anständigkeit ist immer
etwas, das der Begründung durch ökonomische Rück-
sichten bedarf. Nicht zu schweigen gilt es, nicht die
selbstsüchtige Neugier des Geschäftsfreundes zurück-
zuweisen, sondern die Kreditfähigkeit des Patienten
zu erhalten. Daß die ärztliche Kunst, soweit sie sich
in Sanatorien betätigt, vor allem darauf ihr
Augenmerk richten muß, versteht sich von selbst.
Ihre Sorge um die wirtschaftliche Wohlfahrt der den
besseren Ständen angehörenden Krebskranken ge-
hört zu ihren vornehmsten Aufgaben. Und wie
wichtig überhaupt die Erhaltung der Kreditfähigkeit
ist, wenn es sich darum handelt, die Dauer der
Behandlung festzustellen, weiß man. Es kann der
Fall sein, daß einer zehn und mehr Jahre behandelt
wird und nach wie vor kreditfähig ist. Hier hilft
eben die Natur. Patienten, von deren gesunder
Anlage ein geschickter Diagnostiker wie Herr Pro-
fessor Noorden sich mit einem Blick überzeugt,
werden für die Kürze der ärztlichen Visite durch
deren Häufigkeit entschädigt. So erscheint gegenüber
der Fülle wohlhabender Patienten, die ein Sana-
torium beherbergt — die Klienten des Herrn Pro-
— 53
fessors Noorden waren über die ganze Welt zerstreut,,
ehe sie hier eingesammelt wurden — , doch ein System
durchgeführt, durch das weder der Kranke noch der
Arzt verkürzt wird ; und wenn die zwischen Tür
und Angel hingeworfene Frage: »Wie geht's? Etwas
besser? Na also, nur essen, tüchtig essen!« mit
vierzig Kronen berechnet wird, so mag man die
allgemeine Teuerung beklagen, aber niemand wird
sein Mitleid an jene verschwenden, die mit einem
Luxusartikel nichts anderes einkaufen, als das Be-
wußtsein, ihn erschwingen zu können. Und wen sollte
das Walten einer ökonomischen Nemesis nicht
befriedigen, die das Geld, das im Osten des Reiches
erwuchert wurde, in jenem großen Zug zum Noorden
dahintreibt? Mag die Stadt Prankfurt einen ver-
lorenen Sohn im Namen des Fremdenverkehrs um
Rückkehr flehen — Wiens Sorge sei es nur, daß jene
Fremden, deren es endlich teilhaft wird, nicht durch
eine allzu ausgedehnte ärztliche Behandlung zu Ein-
heimischen werden. Gesund entlassen, kreditfähig em-
pfangen, das sollte eine klinische Regel sein. Kredit-
entziehung schwächt mehr als Blutverlust, und wir
haben es ja aus dem Munde eben jener Autorität
gehört, daß zu den günstigen prognostischen Anhalts-
punkten bei Zuckerkrankheit >gute äußere Lebens-
verhältnisse« gehören, während wiederum zu den
ungünstigen prognostischen Anhaltspunkten »un-
günstige äußere Lebensverhältnisse« zu zählen sind.
Die guten Einwirkungen eines Konkurses auf das
Allgemeinbefinden sind von der Wissenschaft längst
festgestellt, aber immerhin empfiehlt es sich, die Ope-
ration vorzunehmen, solange Patient noch im ersten
Stadium der Kreditfähigkeit ist. Zur Kampferinjektion
ist immernoch Zeit. Nicht immer freilich muß operiert
werden. Noorden selbst ist es, der bei hohem Perzentsatz
Stoffwechselprolongierungen empfiehlt. Die Voraus-
I Satzung ist immer, daß der Patient nicht bei Be-
— 54 —
besorgter Blick des Operateurs den Assistenten, der
schon die Instrumente mustert. »Was werden wir
dem Patienten abnehmen, Herr Kollega?c >Ich
denke doch nicht, daß wir amputieren müssen 1«
>Nein, ich meine — !< »Ach so — ja, das möchte
ich diesmal lieber nicht sagen, da der Kranke
nämlich mein Bruder ist.« Das sind Zwischen-
fälle, auf die ein Operateur gefaßt sein muß.
Und nicht jeder ist so glücklich, daß ihm für die
Schwierigkeiten seines Berufes eine ehrenvolle Ent-
schädigung durch die Malerei zuteil wird, die sich
doch hin und wieder von dem Moment begeistern läßt,
wie der Chirurg das Messer an die Bauchwunde
einer Dame setzt. Noch immer ordinieren die meisten
Kapazitäten nicht bildlich, sondern schriftlich, nicht
in der Kunstausstellung, sondern in der Lokalchronik
der Zeitungen.
Das Berufsgeheimnis wird hier wie dort in
ausgesprochener Weise gewahrt. Und es muß
sich nicht allemal um wirtschaftliche Dinge han-
deln, auch die Ehre hat ihre Existenzberechtigung.
Es muß nicht immer die Kreditfähigkeit eines
alten Juden auf dem Spiel stehen, auch die Hei-
ratsfähigkeit einer jungen Jourbesucherin ist ein
Gut, das dem Schutze der Medizin empfohlen ist.
Der Sanatoriumsdirektor weiß wieder ein Beispiel.
»Vor nicht allzu langer Zeit kam eine junge Dame
aus sehr vornehmem Hause zu mir, die mir gestand,
daß sie guter Hoffnung sei. Ihre Eltern wüßten aber
nichts davon und dürfen auch nichts erfahren. Die
Dame brachte im Sanatorium ein Kind zur Welt,
ihre Eltern lebten und leben im Glauben, daß sie
eines Frauenleidens wegen bei uns operiert wurde.
Die junge Dame ist heute die glückliche Gattin eines
glücklichen Mannes und kein Mensch hat eine
Ahnung von dem, was sich hinter den Mauern die-
ses Hauses abgespielt hat. In diesem Falle hat die
Wahrung des Berufsgeheimnisses das Glück einer
— 55 —
ganzen Familie erhalten und neu aufbauen geholfen.
Hätten wir aber die Pflicht gehabt, die Bitern zu
verständigen, dann wäre allen geschadet, aber nie-
mand genützt gewesen. Darum möge auch in Zukunft
an der Schweigepflicht festgehalten werden, c Der
Mann hat nur zu recht. Aber er hat vergessen, zu
erwähnen, daß das Schweigen in solchen Fällen auch
dem Besitzer des Sanatoriums eine Frucht trägt. Sie
wäre noch ergiebiger, wenn man die andere beseiti-
gen könnte. Das verbietet allerdings ein törichtes Gesetz,
und noch nie hat sich bekanntlich durch dessen Über-
tretung der mutigste Gynäkolog (dem sonst in die Hose
nicht das Herz fällt) in der Karriere behindern las-
sen. Immerhin wird die Diskretion über eine Geburt
noch immer besser bezahlt als der Verrat einer
Fruchtabtreibung. Die jungen Damen aus vor-
nehmem Hause, die in guter Hoffnung und bestem
Glauben in das Sanatorium kommen, würden
sichs künftig überlegen, wenn die Nachfrage
der Eltern die Entbindung vom ärztlichen Berufs-
geheimnis bedingte. Es wird ihnen ohnehin nicht
angenehm sein, daß von offizieller Seite im ,Neuen
Wiener Journal* für alle Zukunft das harmloseste
Frauenleiden als Schwangerschaft verdächtigt wird.
Manche Frau, die es sich versagen möchte, dem
Reporter ein zartes Geheimnis ins Ohr zu flüstern,
das sie ihrem Gatten vorenthalten muß, wird den
Weg ins Sanatorium scheuen, wo man sich allzulaut
des Schweigens rühmt. Und vor allem wird vielleicht
jene junge Dame selbst fortan unter dem Argwohn der
Eltern und des glücklichen Mannes zu leiden haben;
denn sie konnte zwar die Existenz ihres Kindes ver-
heimlichen, aber das ,Neue Wiener Journal* kommt
ins Haus, und eines Tages erkennt sie, daß der
Aufenthalt im Sanatorium nicht ohne Folgen ge-
blieben ist. So hat die ärztliche Diskretion wieder
einmal das Glück einer Ehe, nein, das Glück einer
ganzen Familie erhalten, nein, mehr als das: neu auf-
56 —
bauen geholfen. »Darum möge auch in Zukunft an
der Schweigepflicht festgehalten werden«, nein, mehr
als das: die Ärztekammer schreite endlich gegen jene
ein, die nicht geneigt sind, sie auf den Verkehr mit
Reportern auszudehnen.
Nimmt dieser überhand, so besteht die Gefahr,
daß die ärztliche Diskretion zu einer sozialen Kalamität
erwachse. Durch die Aufhebung der Schweigepflicht
könnte der Gesunde vor dem Kranken geschützt
werden, die Ruhmredigkeit der Diskretion gibt nur
den Kranken preis. Ob die Medizin sich dazu her-
geben soll, das Glück einer bürgerlichen Ehe, die
durch Einheirat des Trippers zustande kommt, zu
erhalten, ist wenigstens eine prinzipielle Frage. Aber
die Vergiftung der Humanität durch die Reklame,
die Verwendung ethischer Ideale in einem unethischen
Betrieb, das Geschwätz über Diskretion sind erledigte
Standpunkte. In Berlin sind die angetrauten Männer
der Wissenschaft jüngst überführt worden, daß sie,
um der vielstrapazierten Dame Kunden zu verschaffen,
Zutreiber in ihrem Dienst hielten. Bei uns gehen sie
selbst auf die Gasse und scheuen sich nicht, zwischen
Lokalreportern und Feuilletonisten ihre Ware anzu-
bieten. Wer besser kurieren kann, das soll sich in freier
Konkurrenz erweisen, und wer besser schweigen
kann, der beweist es durch die lautere Stimme. Eine
Kupplerin, die einmal gefragt wurde, ob sie auch
diskret sei, rief entrüstet: »Ich? Glauben Sie, daß
ich sonst eine so noble Kundschaft hätte? Erst
gestern war der Graf Matsch von Rückenmark
bei mirl Wissen Sie, der die Tochter vom alten
Lustgewinn geheiratet hat! Morgen kommt er selbst.
Nu, die war auch keine Jungfrau mehr. Das ist doch
die, welche die Geschichte im Sanatorium gehabt
hat! Lieber Herr, wenn unsereins nicht schweigen
möchte . . .«
Heransgeber and verantwortlicher Redakteur ; Karl Kr ans
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraßc 3
Die Fackel,
NR. 285-86 27. JULI 1909 XI. JAHR
Die chinesische Mauer
Von Karl Kraus
Bin Mord ist geschehen und die Mensch-
heit möchte um Hilfe rVifen. Sie kann es nicht. Sie,
die Lärmvolle, immer bereit, mit dem stärksten
Schrei den kleinsten Stoß zu rächen, sie, die sich
das Maß der Schöpfung dünkt und nur der Mißton
ist in der Musik der Sphären, schweigt. Aber wir
hören dieses Schweigen, es gellt über Länder und
Meere, und wo immer es losbrach, antwortet ihm ein
Echo, so stumm wie der Ruf, der einen Mord ver-
kündet. Der Mund der Welt steht offen und aus den
Augen starrt die Ahnung, daß sich das Größte be-
geben hat. Ringsum ist alles gelb. Wie der Tag, an
dem der alte Gott sein Gericht hält. Gelb wie eine
Chinesenhand und rot wie das Blut einer Christin.
Die Hand hat sie gewürgt, daß sie nicht schreien
konnte. Die Hand hält uns alle am Hals und läßt
uns nicht mehr los. Ist es das Ende einer Moral, die
die Fessel als Schmuck trug? Nun hat sie ein gelbes
Halsband, das ihr den Atem nimmt. Sie, die nicht
beten konnte, ohne zu huren. Sie, die nicht huren
konnte, ohne zu beten ! Die die Sünde profaniert hat
durch die Reue, die Lust versüßt hat durch die
Qual. Sie, die in jenem unerforschlichen Trugschluß,
der 500 nach Confucius in die Welt gesetzt wurde,
ein ewiges Sterben ertrug und um hellerer Hoffnung
willen die dunkle Erfüllung in Kauf nahm. Sie, deren
2 —
Leben Todesangst war und Furcht vor dem Leben.
Da geschah es ihr, daß sie, nicht wissend, wo ihre
Pflicht und wo ihre Lust sei, gewarnt und ver-
führt, auf dem Wege, wo Herzklopfen die Tür der
Freude öffnet, in den Opiumnebel geriet, der lichtere
Seligkeit als selbst der Weihrauch ihr verhieß. Da
geschah es ihr, daß sie an die gelbe Hand stieß, die
sie karessierte, würgte und in den Koffer packte.
Die Knie durch Stricke unter das Kinn gezogen, das
Gesicht mit ungelöschtem Kalk beworfen — so kam
sie aus dem blauen Himmelbett in den Koffer . . .
Und nun riecht es in der Welt nach Verwesung.
Es ist das größte Ereignis, das die moralische
Menschheit erlebt hat, seitdem ihr das Ereignis der
Moral widerfuhr. Dazwischen lagen Taten oder
Zufälle, Entschlüsse des Geistes und Widerrufe der
Natur. Siege und Verluste einer erdenstolzen Tech-
nik, die durch ein Achselzucken der Erde erst zum
Problem erhoben wird. Hier aber hat die himmel-
sichere Ethik ihr Messina erlebt. Hier ist alles proble-
matisch geworden, was sich seit zwei Jahrtausenden
von selbst versteht. Auf einem Krater, den wir er-
loschen wähnten, haben wir unsere Hütten gebaut,
mit der Natur in einer menschlichen Sprache
geredet, und weil wir die ihre nicht verstanden,
geglaubt, sie rühre sich nicht mehr. Sie aber hat
durch all die Zeit ihre heißen Feste gefeiert und an
unserer gottseligen Sicherheit ihren Erdenbrand ge-
nährt. Wir haben die Sexualität für verjährt gehal-
ten; wir haben die Konvention getroffen, von ihr nicht
mehr zu sprechen. Die angetraute Metze Natur, in
sozialer Bindung gezähmt, schien nur so viel Wärme
zu spenden, als unserm Behagen unentbehrlich war,
und was sie sonst an Feuer hatte, reichte hin, unsere
Suppe zu kochen. Da kommen wir ihr darauf, daß
sie all die Zeit ihre Wonne nicht unserm Wahn ge-
opfert, nein, unsern Wahn ihrer Wonne dienstbar
— 3 —
gemacht hat. Da entdecken wir, daß unser Verbot
ihr Vorschub, unser Geheimnis ihre Gelegenheit, unsere
Scham ihr Sporn, unsere Gefahr ihr Genuß, unsere Hut
ihre Hülle, unser Gebet ihre Brunst war. Was es an
Hemmungen der Lust in der Welt gibt, wurde zur
Hilfe, und die gefesselte Liebe liebte die Fessel,
die geschlagene den Schmerz, die beschmutzte den
Schmutz. Die Rache des verbannten Eros war der
Zauber, allen Verlust in Gewinn zu wandeln. Schön
ist häßlich, häßlich schön und was den wachen Sin-
nen ein Abscheu ist, lockt sie in die Betäubung der
Wollust. Die Prinzen des Lebens konnten es nicht
fassen. Aber die Prinzessinnen lagen bei den
Kutschern, weil es Kutscher waren und weil es die
Prinzen nicht fassen konnten. Was immer an Greueln
der Liebe widerstrebt, besiegte sie und suchte sie
auf, um es zu besiegen. Zucht ist ein Pfand der
Unzucht, Hoheit die Bürgschaft des Falls. Warnung
weckt Wunsch; Entfernung nähert. Der ausgehun-
gerte Eros, dessen Geschmack sublimiert werden
sollte, ist nicht wählerischer geworden, aber krie-
gerischer. Er wählt, was man ihm vorenthält.
»Laßt uns ein Lied der Liebe singen ! Die
Liebe wird uns noch alle zugrunde richten. 0
Kupido, Kupido, Kupido !« So ging eine Griechen-
welt unter. Die christliche ließ kein Lied der
Liebe singen, erkannte deren antisozialen Charakter
und machte aus ihm ein Genußmittel. Die christ-
liche Liebe konvertiert alles, selbst den Glauben.
Der getaufte Eros liebt nicht alles, aber er nimmt
mit allem vorlieb. Nichts ist ihm unerreichbar. Er
sagt, daß er die Nächstenliebe sei, und weidet sich
an verwundeten Kriegern. Er rettet gefallene Mäd-
chen und bekehrt ungläubige Männer. Er ist neu-
gierig und klettert über die chinesische Mauer. Er
besucht Opiumhöhlen, um dort zu sagen, wie
schön es in den Kirchen sei. Er frißt alles und
— 4
läßt sich sogar die Kultur des Weibes schmecken,
die täuschende Zubereitung verdorbener Weib-
natur. Denn Bildung, sozialer Stolz und Frauen-
rechte rinden im Bett so gut ihren Anwert wie
ein gepflegter Körper, und Seele ist erst unter
den Fäusten des Kuli ein Hochgenuß . . . Wir haben
uns vermessen, an dem heiligen Feuer, das einst den
männlichen Geist zu Taten erhitzte, unsere Füße zu
wärmen. Nun zündet es uns das Haus an. Das soziale
Gebälk, zu seiner Hut und unserm Schutz er-
richtet, ist willkommener Brennstoff. Wir haben einen
Ofen um eine Flamme gebaut. Nun verbrennt sie
den Ofen.
>Hast du denn kein Urteil? Hast du denn keine
Augen? Verstehst du, was ein Mann ist? Sind denn
nicht Geburt, Schönheit, gute Bildung, Redekunst,
Mannhaftigkeit, Verstand, Menschenfreundlichkeit,
Tapferkeit, Jugend, Freigebigkeit und dergleichen
die Spezerei und das Salz, um einen Mann zu
würzen ?« So fragt ein Shakespearischer Kuppler. Und
die Schöne antwortet: »0 ja; ein Mengelmuß von
einem Mann, und so in der Pastete gehackt und
gebacken gibts ein Muß von lauter Mängeln«. Es
geht um Troilus, dem sie den Achilles vorzuziehen
scheint. Aber sie könnte ihm auch den Thersites
vorziehen. Sie braucht nur vor ihm gewarnt zu sein.
»Habt ihr Augen?« fragt Hamlet, »die Weide dieses
schönen Bergs verlaßt ihr, und mästet euch im
Sumpf? . . . Sehn ohne Fühlen, Fühlen ohne Sehn,
Ohr ohne Hand und Aug', Geruch ohn' alles, ja nur
ein Teilchen eines echten Sinns tappt nimmermehr
so zu !« Der Mann vermißt sich, sein Maß unter-
scheidender Empfindlichkeit an die unteilbare Gewalt
der Weibersinne zu legen. Aber das Weib trägt
die moralischen und ästhetischen Begriffe, die der
Mann ihr spendet, wie jeden andern Schmuck, durch
den sie sich begehrlich macht. Der Tragiker, der
- 6
Narren und Schelmen die Erkenntnisse zuschieben
muß, die eine Lügenwelt sprengen könnten, läßt
seinen irren König die Tugend als Köder der Lust
entlarven :
Sieh dort die ziere Dame,
Ihr Antlitz weissagt Schnee in ihren! Schoß ;
Sie spreizt sich tugendlich und dreht sich weg,
Hört sie die Lust nur nennen:
Und doch sind Iltis nicht und hitz'ge Stute
So geil in ihrer wilden Brunst.
Vom Gürtel nieder sinds Centauren,
Obschon darüber Weib.
Nur bis zum Gürtel eignen sie den Göttern,
Alles darunter ist des Teufels Reich,
Dort ist die Hölle, dort die Finsternis,
Dort ist der Schwefelpfuhl, Gestank, Verwesung . . .
Gib mir 'ne Unze Bisam, Apotheker,
Meine Phantasie zu versüßen I
Aber die Phantasie selbst ist Bisam, der den
männlichen Verstand versüßt und ohne den er es nicht
zu Ende denken kann, daß das Weib aus dem Schwefel-
pfuhl sich die göttergleiche Schönheit holt. Wer
solche Vorstellung nicht dem eigenen erotischen
Leben einzugliedern vermag, zerschellt den Kopf
an diesem Rätsel einer englisch-teuflischen Verbin-
dung, und dem nüchternen Untersucher zerfällt sie
in ihre Teile. Die christliche Ethik ringt verzweifelt
die Hände, daß e3 ihr nicht gelingt, die Schönheit,
soweit sie dem Leben unentbehrlich ist, durch
seelischen Zuspruch zu erhalten. Die große Frage,
die offen blieb seit dem Tage, da man der Entsagung
auf den Geschmack gekommen ist, mahnt uns, wie
uns die Erde mahnt, wenn wir sie durch technische
Spiele beruhigt glauben : Wie wird die Welt
mit den Weibern fertig? Sie sieht, daß jedes
ethische Bemühen flugs das Gegenteil bewirkt,
einen seelischen Widerstand, der ein Kuppler
der Lust ist. Sie sieht, wie nicht Erziehung die
Fehler des Weibes wettmacht, deren rechte Grup-
pierung doch die Anmut schafft, sondern wie die
Fehler des Weibes in jedem Ensemble die Erzie-
hung aufheben. Sie sieht, wie Neugierde allein im-
stande ist, die ganze Arbeit der christlichen Kultur
am Weibe rückgängig zu machen. Sie siehts und
kanns immer wieder nicht glauben. Immer wieder
dies Staunen über eine Natur, die zwei Geschlechtern
nicht mit demselben Maß von Dürftigkeit zuge-
messen hat; die das Weib geschaffen hat, dem die
Lust nur ein Vorschmack der Lust ist, und den
Mann, den sie ermattet. Er fühlts und wills nicht
wissen. Er hat tausendmal mit dem Anderen ge-
rungen, der vielleicht nicht lebt, aber dessen Sieg
über ihn sicher ist. Nicht weil er bessere Eigen-
schaften hat, aber weil er der Andere ist, der Spä-
tere, der dem Weib die Lust der Reihe bringt und
der als Letzter triumphieren wird. Aber sie wischen
es von ihrer Stirn wie einen bösen Traum, und
wollen die Ersten sein.
Sie können es nicht glauben. Bis sie die ziere
Dame, jene, die mit dem Ruf »shocking« auf die Welt
kam, in den Laden des chinesischen Wäschers schleichen
sehen. Von keiner Garde als von der Moral und etwa
dem Vertrauen des liebenden Gatten begleitet. Er
ist der Besitzer; er hat ein Recht, nicht zu
wissen, was den weiblichen Sinnen, die er reich
versorgt hat, der andere Mann bedeutet. Aber
wenn er vollends ahnte, wie sie der andere Mann
der anderen Rasse beherrscht! Eine Vorstellung, die
wie ein Wurm am Gehirn fräße, wenn sie je
über die Schwelle dieses Selbstbewußtseins kriechen
könnte, wird in dem Wäscherladen von China-
town täglich hundertmal zur Wirklichkeit. Der
Stinkteufel, an dem die weiße Seele erst ihrer Gott-
ähnlichkeit inne wird, hat sich mühelos mit der Frau
vergnügt, um die die weiße Seele so oft ver-
schmachtet. Die Schwierigkeit der Verständigung
erleichtert den Verkehr zwischen Krämer und Kun-
din ; der Chinese ist ein Muster der Pflichterfüllung.
Auch als Kellner stellt er seinen Mann. Seine Teu-
felsküche hält alle Leckerbissen feil, ja taktvoll
geht er selbst auf den Wunsch ein, sich zum Christen-
tum bekehren zu lassen, wenn eine Peinschmeckerin
auf das Hors d'Oeuvreder ethischen Absicht schon nicht
verzichten will. Und aus dem großen Lustbad, das
der schmutzigste Winkel der Weltstadt vorstellt,
steigen täglich treue Gattinnen und unschuldige
Töchter in erneuter Schönheit zum Standard ihrer
sozialen Ehre empor. Manchmal bleibt eine und
verträumt ihr Leben im Opium, die andere wird einen
europäischen Grafen heiraten — den meisten iärbt das
Glück die Wangen rot, die honeste Langweile ihres
Tags um eine Stunde zu betrügen. Was wissen Gatten
und Väter davon ? Eine starb. Vielleicht, daß ein
Prostituierter sein Herz an sie verlor und eifersüchtig
wurde; vielleicht hat er sie nicht aus Leid, sondern
aus Lust gemordet; vielleicht hat ihre Weigerung,
sich prostituieren zu lassen, ihrem Leben den kür-
zeren Prozeß gemacht. Der Mordfall ist eine Un-
regelmäßigkeit; er zeigte uns die Einrichtung
und beweist nichts gegen sie. Elsie Siegls Tod
ruft die moralische Welt in Waffen, aber was
er enthüllt, zwingt sie, die Waffen zu strecken.
Sie müßte sie gegen ihre Weiber wenden, um
aller Enttäuschung ein für allemal Herr zu sein.
Wie sollte sie anders dieser fürchterlichen Bun-
desgenossenschaft der weißen Frau und der andern
Rasse, dem Einverständnis verstoßener Naturmächte,
ein Ende setzen? Sie könnens nicht fassen und zie-
hen zur Erklärung vielleicht Magie und Zauberei
heran. Wenn sie das Nest leer finden, mag ihre
Verzweiflung mit den Worten von Desdemonas Va-
ter rufen :
— 8 —
O Gott! Wie kam sie fort? 0 Blutsverrat! —
Väter, hinfort traut euern Töchtern nie
Nach äußerlichem Tun ! —
O schnöder Dieb! Was ward aus meiner Tochter?
Du hast, verdammter Frevler, sie bezaubert;
Denn alles, was Vernunft hegt, will ich fragen,
Wenn nicht ein magisch Band sie hält gefangen,
Ob eine Jungfrau, zart und schön und glücklich,
So abhold der Vermählung, daß sie floh
Den reichen Jünglings-Adel unsrer Stadt —
Ob sie, ein allgemein Gespött zu werden,
Häuslichem Glück entfloh' an solches Unholds
Pechschwarze Brust, die Grau'n, nicht Lust erregt!
— — — — Ein Mädchen, schüchtern,
Von Geist so still und sanft, daß jede Regung
Errötend schwieg — die sollte, trotz Natur
Und Jugend, Vaterland und Stand, und Allem,
Das lieben, was ihr Grauen schuf zu sehn? —
Weil sie den Zaubertrank, den die Sinne selbst
bereiten, nicht in ihrer Hausapotheke führen, ist
Vätern und Gatten die Erscheinung fremd. Man
lügt ihnen die weiße Haut voll und wenn nicht der
Zufall einen Mord ausriefe, würden sie nie erfahren,
welches Kolorit der Geschmack ihrer Liebsten war.
Der Ernst des Lebens, dieser lächerliche Verwalter
ihres geistigen Inventars, hat ihnen das eheliche
Vergnügen nur dort gestattet, wo sie es als eheliche
»Pflichte fatieren können. So bedarf es schon star-
ker Reizungen, um ihr Interesse auf ein Lebens-
gebiet zu lenken, in dem der Wechsel der Ereignisse
sich nur stiller, nicht spärlicher vollzieht als im Kom-
merz. Die Leiche im Koffer ist bloß die notwendige
Sensation, ohne deren Vermittlung für eine geräusch-
volle Zeit Erkenntnisse nicht zu haben sind.
Daß Elsie Siegl starb, ist ein Lokalfall, zu dem
die Reporter noch Worte finden mögen. Aber daß bei
dem Kellner Leon Ling zweitausend Liebesbriefe von
Frauen exquisiter Lebenshaltung gefunden wurden,
das macht die Klatschmäuler verstummen und gibt
dem Ereignis seine kulturbange Größe. Die Presse,
— 9 -
die sich den Kopf der Welt dünkt und nur ihr
Schreihals ist, kann uns nicht einmal mit Ent-
rüstung dienen. Kein »Sumpf der Großstadt« ist
entdeckt worden; nicht die Fäulnis jener, die die
Moral verletzten, ist aufgebrochen, sondern die Fäul-
nis der Moral. Hier hat die Naturnotwendigkeit des
Geschehens über die Lüge der Anschauung das Ur-
teil gesprochen. Amerika macht es nur deutlich;
es gibt Entwicklungen und Katastrophen das
Maß. John ist unbedenklicher als Hans und hat
größere Achtung vor der Genußfähigkeit seiner
Frau als der gefühlvolle Vetter, der ihr eine Seele
gönnt und sie »mit dem Weltganzen verknüpfen«
möchte, wenn ihre Sinne hungrig sind. Blaustrümpfe
mögen sich der Überzeugung freuen, daß die freiere
Fasson der amerikanischen Frau der Grund ihrer Zügel-
losigkeit ist und daß der deutsche Mann sicherer
wäre, vom Chinesen nicht betrogen zu wer-
den. Aber in allen Städten, in denen dunkle
Truppen ihre Zelte aufschlugen, haben sich brave
Bürger eines Familienzuwachses erfreut, den sie ihr
Leben lang mit mischfarbigem Gefühl besahen.
Der Eindruck, den die andere Rasse im plastischen
Ton des andern Geschlechts, in der immer form-
willigen Sexualität des Weibes erzeugt, ist so mäch-
tig, daß es leiblicher Vermischung nicht bedarf,
um auf einen lichten Stamm ein dunkles Reis
zu pfropfen. Die rohe Riesenstatue eines Chinesen,
um die sich ein Ringelspiel dreht, könnte zur Erklä-
rung ausreichen, warum mancher Wiener Schusterbub
mit Schlitzaugen auf die Welt kam. Und wenn es nur
ein Symbol ist, daß sich die Lust um den Chinesen
dreht, so schreckt es am heiligen Sonntag die weißen
Männer aus dem Weltprater. Der gigantische Hohn,
dessen nur die rachsüchtige Natur fähig ist, hat die-
sen Anschluß des Weibes an das verachtete Blut
befehligt. In dem Wäscherladen von Chinatown wer-
- 10 -
den in einer stummen Stunde alle Menschheitsfragen
laut: Geschlecht und Rasse paaren sich zu welt-
problematischem Grauen.
Aber der weiße Mann, der seine Frau sucht,
entdeckt noch, daß sie ihm die Religion mitgenom-
men hat, als sie zum Chinesen ging. Die Findig-
keit des Eros, mit den gegebenen Mitteln auszu-
kommen, ist unerschöpflich. Wenn die Natur ihr
Mütchen an der sozialen Welt kühlt, schont sie
keines der im Staate anerkannten Vorurteile, ihr
Witz macht fromme Mädchen zu Bettschwestern,
und die Mission endet im Bordell. Die Autorität
des Gottes Buddha hat nie als Vorwand solcher
Spiele gedient. Der Chinese begeht keine Sünde,
wenn er sie begeht. Er bedarf der Gewissensskrupel
nicht, um in der Lust die Lust zu finden. Er ist
rückständig, weil er mit den gedanklichen Schätzen,
die ihm Jahrtausende gehäuft haben, noch nicht
fertig wurde. Er ist zukunftsfähig und überdauert
die Schäden, die in anderen Welten Medizin und
Technik zusammenflicken. Er hat keine Nerven,
er hat keine Furcht vor Bazillen und ihm kann
auch nichts geschehen, wenn er tot ist. Er ist ein
Jongleur, der Leben und Liebe spielend mit dem
Finger bewältigt, wo der Athlet keuchend seine
ganze Person einsetzen muß. Er arbeitet für ein
Dutzend Weiße und genießt für hundert. Er hält
Genuß und Ethik auseinander und bewahrt dadurch
beide vor der Krätze. Von dem, was wir Aus-
schweifung nennen, kehrt er an Leib und Seele
unverändert zu den Normen des Tagwerks zu-
rück, in dem er sich höchstens unterbricht, um eine
weiße Lady zu bedienen. Er ist unsentimental und hat
nicht jenen Mangel an seelischer Ökonomie, den wir
Moral nennen. Er kennt die Pflicht der Nächsten-
liebe nicht, die da verlangt, daß an einem Strick
Zwei sich aufhängen. Er lebt fern einer bresthaften
— 11 —
Ethik, die den Starken schwächt, indem sie
ihm den Schutz des Schwachen vorschreibt. Er
ist grausam; er begeht Fruchtabtreibung und
Kindesmord, wiewohl er sicher ist, daß auch der
unerwünschte Sohn des Himmels dem Gotte ähn-
licher würde als jener Bankert aus Hysterie und Jour-
nalismus, der sich im Okzident unter der Protektion
des Gesetzes auswächst. Aber er lebt in der Fülle
und hat die Humanität nicht notwendig. Sein Reich
umfaßt mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung
derganzenErde, seitdem esim letzten Jahrhundert allein
einen Zuwachs von neunundneunzig Millionen be-
kommen hat. Und sie alle haben bloß den Ehrgeiz,
Chinesen zu sein und nicht die Affen fremder Eigenart.
Während die Japaner an deutschen Universitäten
Strafgesetze studieren, sind die Chinesen vollauf
damit beschäftigt, sie zu übertreten. Und dieses Volk
wahrt und mehrt seine dämonische Lebenskraft
durch Verschwendung. Es kennt den Raubbau der
Askese nicht und seine Männer haben Lust am Manne
wie am Weibe. Den Chinesen, sagt ein Forscher, habe
ihre Päderastie so wenig Abbruch getan, daß die Hol-
länder, als sie zum erstenmal nach China kamen,
vor Erstaunen über die Volksmengen, die sie überall
antrafen, immer nur die Frage laut werden ließen,
ob denn die chinesische Mutter zwanzig Kinder auf
einmal zur Welt bringe. Die Sündenmoral dezimiert
ein Volk mehr als das Zweikindersystem. Sie bringt
die Pathologie zur Welt und mit ihr jene geborne
Homosexualität, die das erbärmliche Widerspiel der ero-
tischen Vielgestaltigkeit bedeutet. Der Chinese liebt
das Weib, er liebt es im Knaben und er würde sich
nicht das Recht nehmen lassen, die Züge des ge-
suchten Frauentypus in einem Katzenkopf zu lieben.
Aber er sucht nicht den Mann, zudem die abendlän-
dische Perversität tendiert, die keine erotische Be-
reicherung ist, sondern eine pathologische Folge der
— 12 —
Verkrüppelung des Geschlechtslebens durch die
Moral. Von den Erforschern des männlichen Buhl-
wesens in China wird die bezeichnende Tatsache
angeführt, daß ein junger Schauspieler, der eine an-
mutige Mandarinin darzustellen hat, >der zierlichste
Frauenkopf t genannt wird, »den man in China über-
haupt zu Gesicht bekommen könne«. Die chinesische
Päderastie sei der öffentlichen Meinung in China
»eine Sache, die durchaus nichts Absonderliches vor-
stellt und der sich jeder unbedenklich hingibt. Man
verhält sich zu dieser Art Wollust völlig indifferent
und die öffentliche Moral regt sich über sie nicht im
Geringsten auf. Weil die Handlung dem, der sie
treibt, gefällt und weil der, mit dem sie getrieben
wird, damit zufrieden ist, so findet die chinesische
Moral hier alles in Ordnung. Das chinesische Gesetz
liebt es nicht sehr, sich mit allzu intimen Angelegen-
heiten zu befassen. Die Päderastie wird sogar als
eine Sache des guten Tons, als ein kostspieliger
Luxus und ein vornehmer Sport angesehen.« Das
Weib ist in China als Ehefrau wie als Hure so un-
wissend und ungebildet, wie es der wissende und
gebildete Mann braucht, der nicht in dem Wahn
lebt, die Frau zur ebenbürtigen Partnerin seiner ur-
eigenen Domäne machen zu können, und nicht ihre
Notwendigkeiten schmälert, indem er ihr Rechte ver-
leiht. »Da er Verse, Musik und Aussprüche der
Philosophen liebt, so verkehrt er, wenn seine Mittel
es ihm irgend erlauben, gern in gebildeter männ-
licher Gesellschaft, wo er gewiß ist, mit literarischen
Kenntnissen ausgerüstete und auch zum Beischlaf er-
bötige junge Männer anzutreffen.« »Priester, Militär-
personen, die Sittenpolizei, Mandarinen, einige Dich-
ter und etliche Kaiser« werden in den wissenschaft-
lichen Untersuchungen ausdrücklich unter den Prak-
tikern der gleichgeschlechtlichen Liebe angeführt. Die
Residenzstadt Peking weise eine Sondereinrichtung,
13 —
»eine Truppe von Buhljungen für die möglichen
Bedürfnisse des Herrschers« auf; »diese Einrichtung
amtlicher Beischläfer des Kaisers soll seit langer
Zeit als möglichenfalls erforderlich durch den Minister
der Kirchengebräuche getroffen worden sein und
demnach eine direkte staatliche Anerkennung
und Sanktionierung der Päderastie in sich schließen«.
Ganz besonders ausgebreitet ist diese unter den
Beamten der chinesischen Sittenpolizei, und bei der
Militärbehörde soll sie sich direkten Schutzes erfreuen,
weil sich noch kein Vaterlandsretter gefunden hat,
der das »erweislich Wahre« in diesen Verhältnissen
ausspionierte. Auch würden sie ihre Folter nie dazu
mißbrauchen, einem herzkranken Greis die Beichte
seiner Jugendsünden zu erpressen. Dem Chinesen geht
eben in jedem Belang Lebansweisheit über Kenntnisse.
Er ist ein Raumkünstler in der Nußschale des Daseins ;
er nützt es aus und verstellt sich den Weg nicht
durch Überflüssiges. Und stellt sich selbst nicht in
den Weg. Von seiner Ersetzlichkeit überzeugt, be-
währt er im Transzendenten einen sozialen Sinn, der
in der abendländischen Ethik verkleideter Egoismus
ist. Er weiß Platz zu machen; seine Nächstenliebe
wirkt nicht in räumlicher, sondern in zeitlicher
Dimension. Er lebt nicht im Wahn der Individualiät,
die sich an der Tatsachenwelt beweist. Er taucht
unter im Gewimmel und ist sich selbst so wenig
unterscheidbar wie dem fremden Auge. Weil alle
gleich sind, können sie der demokratischen Wohl-
tat entbehren. Ihr Gesetz hat schwerere Strafen,
weil der Täter schwerer zu finden ist. Ein Zopf
entkam : Eine Ratte . . . Das »Verhör des drit-
ten Grades«, das die New- Yorker Polizei an-
wendet, lockt keinem Volksgenossen ein Geständnis
heraus. Die Untersuchung, wer ein Christenmädchen
ermordet hat, kann nur das Ergebnis haben: Niemand.
Aber die Untersuchung, wer ein Christenmädchen
verführt hat, das Ergebnis: Allel
14
Und allen wird es ferner gelingen. Die amerika-
nische Behörde wird in den gelben Bezirken Ordnung
machen, und vermehrte Sehnsucht wird die vermehrte
Wachsamkeit übertölpeln. Das Geheimnis wird den
Reiz verlust, den es durch die Publizität erlitten haben
könnte, durch den Gewinn an Gefahr reichlich
hereinbringen. Und der Schrecken selbst — un-
seliges Erbe der konvertierten Lust I — zieht an,
der blutige Schein verführt, und auf die ferne
Welt hat die Entdeckung gewirkt, als ob der
Taifun über den Ozean eine erotische Glutwelle
geworfen hätte. Und bei dem Gedanken an China,
vor dieser zauberhaften Individualität der mongo-
lischen Masse wird jeder weiße Mann zum Hahn-
rei. Die gelbe Gefahr ist dem Lebensnerv der
christlichen Kultur von einer Richtung nahege-
kommen, in die die Völker Europas nicht ausgelugt
haben. Wenn sie ihre heiligsten Güter: die Reinheit
der Gattin und die Virginität der Tochter, wahren
wollen, mögen sie dazu schauen. Der Chinese
legt auf beide nicht den geringsten Wert, aber
er wird sie ohne Schwertstreich erobern. Gegen
eine Rasse, die ihre Naturnotwendigkeiten nicht
mit der Bagage des Gewissens bepackt hat, ist
aller Widerstand hoffnungslos. Ein Volk, das sich
daheim nicht im Bürgerkrieg der Sitte gegen die
Natur zerreiben muß, zieht ungeschwächt ins
Feld. Wenn sie kommen, die Weiber werden
sich ergeben ; und die Männer, die längst
Weiber sind, werden sich auch nicht lange
sträuben. Eine Nation, die die Virginität verabscheut
und ihre neugebornen Töchter durch eine Operation
dem künftigen Berufe weiht, ist die legitime An-
wärterin des Bereichs einer erledigten Zivilisation.
Einer, die beim Portschritt sich selbst auf die Füße
trat, weil sie ohne Moral nicht ausgehen konnte, die
Dreadnougths gebaut, aber den Tanz um den Fetisch
15 —
einer Jungfernhaut aufgeführt hat. Wilde Völker-
schaften, elektrisch beleuchtete Barbaren wird Asien
entdecken. Aber es wird großmütig auf jeden Be-
kehrungsversuch verzichten. Jene, die dem Weib die
einzige Mission zuerkennen, vorwandlos der Freude
zu dienen, werden den Ungläubigen keine
Missionärinnen ins Bett schicken.
Sie werden auf eine Rasse stoßen, deren Völker
einander mit Krieg und Nächstenliebe überziehen
und nur einig sind in der Verachtung aller, die
nicht ihre Gesichtsfarbe haben und eine andere
Ausdünstung. Osten und Westen stellen einander
den Teufel vor und halten sich die Nase zu. Aber
die Chinesen vertragen mehr. Sie finden, daß die
anderen — ihre Männer — >einen faden Leichen-
geruchc ausströmen, und solche Wahrnehmung könnte
mehr bedeuten als eine Empfindung der Unlust. Hier
lebt etwas in Verwesung, des Erlösers gewärtig,
der es vom Leben errettet. Hier siecht eine Lust,
deren Arzt die Furcht war und das Leiden. Hier ist
etwas bei lebendigem Leib begraben und etwas
Totes hält die Grabwacht. Sie werden durch unsere
Finsternisse schreiten und den Weg zum Leben
nicht verfehlen. Ihre unterirdischen Gänge sind
ein Paradies neben den Katakomben, die unsere
Liebe sich gemauert hat, seitdem man ihr das
Licht nahm. Als die christliche Nacht herein-?
brach und die Menschheit auf Zehen zu der Liebe
schleichen mußte, da begann sie sich dessen zu
schämen, was sie tat. So trat man ihr die Augen
aus; da lernte sie die erotische Blindenschrift. So
legte man sie in Ketten. Da liebte sie die Musik
klirrender Ketten, also die Perversität. Aber sie
schämte sich der Gefangenschaft nicht, sondern der
Gedanken, auf die sie darin verfiel; nicht der Ketten,
aber des Geräusches. Sie hatte sich der Freiheit ihrer
sexuellen Natur geschämt und sie schämte sich der
— 16 —
Perversion, welche die Kultur der sexuellen Un-
freiheit ist. Sie brannte, und verstellte sich den Not-
ausgang. Und trug Stein um Stein herbei, bis
eine Mauer ihr Reich der Mitte umgab, ihr himm-
lisches Reich. Dieses geschah um 500 nach Confucius.
Die große chinesische Mauer der abendländischen
Moral schützte 'das Geschlecht vor jenen, die eindrin-
gen wollen, und jene, die eindringen wollen, vor
dem Geschlecht. So war der Verkehr zwischen
Unschuld und Gier eröffnet, und je mehr Pforten
der Lust verschlossen wurden, umso ereignisvoller
wurde die Erwartung. Da schlägt die Mensch-
heit an das große Tor und ein Weltgehämmer hebt
an, daß die chinesische Mauer ins Wanken gerät.
Und das Chaos sei willkommen; denn die Ordnung
hat versagt. Eine gelbe Hoffnung färbt den Horizont
im Osten, und alle Glocken läuten Sturm. Und
überall ein Gewimmel. »Aus dem Rauche des Schlundes
kamen Heuschrecken über die Erde und ihnen ward
Macht gegeben, wie die Skorpionen auf Erden Macht
haben . . . Und hatten Haare wie Weiberhaare, und
ihre Zähne waren wie die der Löwen . . . Und ihre
Schwänze waren den Schlangen gleich und hatten
Häupter und mit diesen schadeten sie . . . Und die
Zahl des Heerzuges der Reiterei war zweihundert
Millionen. Ich hörte ihre Zahl . . .< Ein Fortinbras
naht, auf dem Trümmerfeld der Sünde die Herr-
schaft anzutreten. »Wo ist dies Schauspiel?< Aber
damit lebe, was begraben ist, muß er dem Toten
erst den Todesstoß geben. Seine Hand greift nach der
Kultur, die ihn durch ihr letztes Augendrehn versöh-
nen möchte, und würgt sie mit Lust. Kein Entrin-
nen, die Arbeit geht im Hui — die Knie durch Stricke
unter das Kinn gezogen, das Gesicht mit ungelösch-
tem Kalk beworfen, so verschwand eine Leiche
im großen Koffer des Chinesen.
— 17 —
Der Stundenzeiger
Von Alfred von Winterstein (Wien)
Ich bin erwacht und seh' den Zeiger wandern
Aut weiß und schwarzem, stillem Zifferblatte.
Der diese lange Nacht durchmessen hatte,
Rückt nun gehorsam weiter mit den andern.
Um Mitternacht ist er zuhöchst gestanden
Und wies zum Himmel mit der feinen Spitze.
Wir sahn aus Allem wie durch eine Ritze
In Klüfte, die des Tags wir niemals fanden.
Der Speer der Stunden schlägt uns tiefe Wunden.
Ach, immer ticketackt dieselbe Frage:
Was hast du denn getan in diesen Stunden? —
Nach dumpfem Schlafe am verträumten Tage
Ward stets ein andrer vager Wunsch erfunden.
Doch ohne Mut zur Bessrung klingt die Klage.
Vormittagsarbeit will uns freudig fließen.
Wir eilen mit dem Zeiger um die Wette.
Wann war es nur? Wir lagen einst im Bette.
Wie könnt uns Nichtstun jemals nicht verdrießen?
Und Buch und Werkzeug ließ uns leicht vergessen
Der schlimmen Träume sehr entferntes Raunen.
Uns machen unsere Greisenlaunen staunen.
Wir sind zu viel gelegen und gesessen.
Nun dünkt uns Laufen nur und Armeschwingen
Die höchste Lust; uns holt die Zeit nicht ein.
Begeisternd ist im Wind des Atems Klingen 1
Der Zeiger scheint zu stehn im Sonnenschein.
Doch aufwärts kriecht in höhnischem Gelingen,
Der unermüdlich an Geduld wird sein.
18 —
Der Turmuhr Aug', vom Licht geblendet, leidet;
Schwarzdünner Zeiger blinzelt. Und im Hafen
Mit schattenlosen Segeln Schiffe schlafen,
Da Mensch und Hund die weißen Straßen meidet.
Die tote Sängerin durchs offne Fenster
Hört beim Klaviere leidenschaftlich schreien
Der Dichter in des Halbschlafs Träumereien. —
Im Mittagslicht nur spuken die Gespenster.
Der schattenleere Stadtplatz wogt von Licht.
Hoch rückt der Kirchuhrzeiger durch das Schimmern,
Bald mahnt er wieder alle ernst zur Pflicht.
Durch grüne Laden goldne Kringel flimmern
Auf Schläfern, Speis und Trank vergaß man nicht
In Gartenlauben und in kühlen Zimmern.
Das Uhrblatt deckt der Spätnachmittagsschatten.
Und abwärts weisend wandert unverdrossen,
Der mitleidsvoll den Arbeitstag geschlossen.
Arm und Gedanke hängen in Ermatten.
Wie ungeduldig blickten auf vom Tische,
Die nun im Hausflur mit den Mädchen plaudern,
Indes die Stiegenschatten bläulich zaudern,
Bei stillern Gartens abendlicher Frische.
Spazierengeht und Briefe schreibt der Eine;
Der spielt mit seinen Kindern. Beide danken,
Besänftigte im weißen Lampenscheine,
Verständ'gem Stundenfortschritt. Fieberkranken
Nur rennt die Zeit mit langem, kurzen Beine.
Endlose Nacht schreckt sie schon in Gedanken.
— 19 —
Der Schläfer fühlte, eh er einschlief, leise:
Die Uhren schlagen wie in Kindheitstagen.
Wer wacht, wird bang der Stunden Gang befragen.
Stets am Vorabend einer großen Reise.
Die Reue Hände ringt in Finsternissen.
Der horcht, die Pinger raüd verliebten Scherzens,
Aufs rasche Klopfen eines Mädchenherzens.
Und wer vergißt nicht ganz die Zeit in Küssen?
Das Zifferblatt glänzt groß und kindlich weiß
Verliebten und die Zeit steht still im Spiegel.
Auch dem, der einsam Bücher liest mit Fleiß.
Ihm löst sich Tiefsinns siebenfaches Siegel.
Jetzt schließt die Uhr den Lauf in schönem Kreis.
Zum nächsten Tag hinüber tragen Flügel!
Josef Schöffel
Von Robert Scheu
Motto: Was ist Vernunft? Der
Wahnsinn aller. Und
was ist Wahnsinn? Die
Vernunft des Einen.
Boerne
Die Journalisten großen Stils, welche den Begriff
der Zeitung eigentlich rechtfertigen und ins Bedeu-
tende rücken würden, haben meistens Besseres zu
tun, als Zeitungen zu schreiben; es ist derselbe Fall
20
wie mit den hervorragenden Schauspielern, in bezug
auf welche Lichtenberg sagt: Leute, die wirklich
spielen könnten, haben Besseres zu tun als zu spielen.
Der große Journalist — der des Journalisten spottet
— ist eigentlich der Mensch, dessen Leben vom
Schicksal dazu angelegt ist, sich in Affären zu-
sammenzuballen; der seine Persönlichkeit in eine
Reihe von Improvisationen umsetzt, auf welche er
ebenso sicher rechnen kann wie der Dramendichter
auf seine Stoffe, der Ritter auf seine Abenteuer. Der
ideale Journalismus beruht auf der Erscheinung, daß
es Naturen gibt, welche mit der politischen, gesell-
schaftlichen, geistigen Ordnung als Träger höherer
Zukunftswerte periodisch in Konflikte geraten, bei
deren scheinbar individueller Durchfechtung sie Ge-
saratinteressen vertreten. Der journalistische Charakter
mag außerdem Politiker, Künstler, Religionsstifter
sein — wesentlich bleibt, daß er der Formel folgt,
sich bei einzelnen Gelegenheiten explosiv zu entladen
und sich selbst von Fall zu Fall zu entdecken, ohne
vorbestirarate Mission, aber mit der Fähigkeit und
dem Willen, überhaupt Missionen anzunehmen, unter
der Devise: ein Mann steigt niemals so hoch, als
wenn er nicht weiß, wohin er geht. Dazu bedarf es
keinen weiteren Programms als der Humanität. Das
Wort ist leider verwässert durch den Mißbrauch, den
ein blutleerer Liberalismus damit getrieben hat, nicht
minder durch den häufig geübten Versuch, Gesinnung
an Stelle von Talent zu setzen; wo doch wahre Ge-
sinnung ohne Talent nicht existiert. Aber die virile
Humanität hochherziger Kampfnaturen ist und bleibt
eine gewaltige Macht auf Erden, unter der, wenn
sie im Kriegswagen daherfährt, der Boden zittert.
Man erkennt diese Männer daran, daß sie, ohne
bewußtes Programm, einfach kraft ihres Gemütes
unversehens mit der Welt zusammenprallen und ohne
Zaudern, ohne Schwanken ihre Person in die Sache,
— 21
die Sache in ihre Person verwandeln und die Ange-
legenheit, welche sie vertreten, gleichsam absichtslos
im Handumdrehen zu einer grande affaire mit bedeu-
tenden Perspektiven steigern. Ihr typisches Schicksal
ist, vereinzelt zu bleiben, gleichsam um der Welt zu
zeigen, was ein Einzelner vermag, wenn er nur Mut
und Lust hat, seine Persönlichkeit auszuspielen.
Seltsam, daß es so wenige Menschen lockt,
dieses Experiment auf sich zu machen I Den Meisten,
die eine Regung dazu empfinden, raunt allsogleich
eine Stimme zu: warum gerade du? was für eine
Wildnis betrittst du? — Wer aber nur ein einzigesmal
unerschrocken usque ad finem geht, um den türmen
sich alsbald die Schicksale.
Auf diese Betrachtungen hat mich ein Mann
geleitet, der nach dem gewöhnlichen Begriff und
gewiß auch nach seiner eigenen Überzeugung das
gerade Gegenteil eines Journalisten ist, den ich aber
als den Multatuli von Österreich anspreche:
Josef Schöffel.
Er lebt, und von seinen Denkmälern —
Standbild und Obelisk, sonst das Vorrecht der Toten,
sind ihm lange schon errichtet — gefällt mir keines
so gut, wie sein eigenes lebendiges Haupt, dieses
schneereine, kreuzbrave Offiziersgesicht! Er betrachtet
sich als verschollen. Wir sind nämlich in dem Lande
der unbekümmerten Brache und des forcierten Men-
schenkonsums, wo man entweder überflüssig oder
verbraucht ist ... . Pur uns aber, die wir Österreichs
Köpfe suchen, ist er aktuell.
Sein Leben, von dem Augenblick an, wo es
geschichtlich wird, gipfelt in Campagnen. Seine Taten
sind Improvisationen, aber notwendige, weil sie kein
anderer getan hätte. Ihr Wert besteht fast mehr
noch als in der tätlichen Leistung in der Bezeugung
der Macht, die einem Einzelnen ohne Partei, Auftrag
und Befugnis zu üben möglich ist. Seine Gegenstände
— 22 —
sind nicht gesucht und erklügelt, sondern in schick-
salsvoller Verwicklung ihm zugewachsen ; sein Leben
ist kein Kunstwerk, aber ein prachtvolles Natur-
produkt. Auf den Rat seines geistlichen Lehrers widmet
er sich, ein Siebzehnjähriger, dem Soldatenstand.
Wir schreiben 1849. Man lese in Schöffeis Memoiren,*)
was die Armee damals gewesen ist. Es gab nur eine
Maxime, eine Weisheit, eine einzige Lösung aller
Probleme: Prügel. Die Kasernen troffen buchstäblich
vom Blut der armen Bursche, die in jahrzehntelangem
Dienst gefangen gehalten wurden. Stumpfsinniger
Drill, Spießruten, endlose Paraden, die Cholera in
Permanenz, Versklavung der Menschen bis zur Be-
wußtlosigkeit — das ist der Unterbau des lachlustigen
guten alten Österreich. Der junge Schöffel ist nicht
sobald als »Expropriis- Gemeiner« eingerückt, als er
schon zur italienischen Grenze geschoben wird, nicht
ohne auf der Strecke in mannigfachen verfaulten
Baracken dem Ansturm von Wanzen, Läusen und
Skorpionen standzuhalten. In Venetien wird er Zeuge
unsagbarer Greuel. Dann von Regiment zu Regiment,
in auswärtigen Kriegen, Revolutionen, Räuberverfol-
gungen, unter tobsüchtigen Hauptleuten und Majoren
— einer heißt nicht umsonst Fleischhacker — dient er
sich zum Wachtmeister auf. Erste Verwicklung: ein
brutaler Vorgesetzter schlägt ihn ohne Grund ins Gesicht.
Schöffel entreißt ihm den De^an und zerbricht ihn
vor der Front. Das ist der Tod. Nur sehr hohe Pro-
tektion vermag es durchzusetzen, daß er für wahn-
sinnig erklärt wird. Wie so oft, der letzte Ausweg
zur Vernunft. Er kommt buchstäblich ins Tollhaus.
Eines Tages plötzlich wieder alles vergeben und ver-
gessen. Wir atmen auf, als er, nach Jahren unaus-
sprechlicher Leiden endlich dem Militär entrinnt und
ins bürgerliche Leben übertritt.
•) Josef Schöffel, Erinnerungen aus meinem Leben.
Jahod.a & Siegel, 1905.
- 23 —
Noch einmal erfaßt ihn das Kriegstreiben im
Jahre 1866. Als Etappenkommandant auf dem Nord-
bahnhof erlebt er die Tragödie von Königgrätz, ist
er Zeuge, wie der Abgesandte des Kaisers auf einem
Separatzug in die ungewisse Nacht hineinfährt, um
die verirrte Armee zu suchen. Ganz allein, im Halb-
schlaf, empfängt er die Verwundeten, die auf den
Lowries hereinkommen — die eleganten Damen, die
sich als freiwillige Pflegerinnen im Gefolge der
Herrschaften herandrängten, hatten sich beizeiten
wieder aus dem Staube gemacht. Ein seltsamer
Zwischenfall: das zu Proviantzwecken auf dem
Frachtenbahnhofe eingelagerte Getreide begann über
Nacht zu sprießen und die aufgeschichteten Säcke
verwandelten sich in eine grüne Hügellandschaft,
gekrönt vom Schnee des ausgetretenen Zuckers 1 —
Schöffel leert den Becher Alt- Österreichs zur Neige . . .
So — mit schmerzvoll geöffneten Augen tritt er in
die Zeit nach 66.
Kaum hat die geistlose Unterdrückung ein
wenig nachgelassen, erscheinen auch schon die Har-
pyen der Freiheit I Es beginnt das liberale Regime,
von dessen Glanz uns Schöffel weniger erzählt, als
von dem aufblühenden legitimen Raub, der Ära der
Bereicherung und der , Neuen Freien Presse'. Es gilt,
den verschuldeten Staat zu rangieren. Man schritt
unter anderem zur Veräußerung alles unbeweglichen
Staatsgutes, insbesondere der Domänen und Forste.
Schon im Beginn der scheinkonstitutionellen Ära
war hiezu ein eigenes »Staatsgüterverschleißbureau«
eingerichtet worden. Die sinnlos verschleuderten
Güter wurden von frechen Spekulanten mit Millionen-
gewinnen weiter verkauft. Von diesem Bureau ging
die Idee aus, den ganzen Wiener wald zu veräußern.
Der Finanzminister Becke hatte mit dem Wiener
Holzhändler Moriz Hirschl einen Vertrag geschlossen,
worin diesem das Monopol des Holzbezuges zu Spott-
24 -
preisen übertragen wurde. Die Abholzung war als
ein rücksichtsloser Raubbau geplant und teilweise
auch schon in Szene gesetzt, als Schöffel, der zur
Sache nicht näher stand als tausend andere, sein
Quod non erschallen ließ. Die Entwaldung der Erde,
welche heute die Presse durch ihren Papierverbrauch
im größten Maßstabe besorgt — wie uns die , Fackel*
zum Bewußtsein brachte — hat seit jeher die
Korruption gelockt. Schöffel war kein Porstmann und
mußte sich die erforderlichen Kenntnisse für den zu
gewärtigenden heißen Kampf erst erarbeiten. Es
war gefährlich, hier auch nur in einem Detail Unrecht
zu haben. Aber er bewältigte spielend die Materie,
für welche ihm der Paohverstand zuwuchs, als ihn
das Herz einmal gerufen hatte. Er eröffnete die Cam-
pagne im Neuen Wiener Tagblatt — Szeps stellte ihm
bereitwillig, solange bis es Geld bekam, das Blatt
zur Verfügung — , setzte sie in der , Deutschen
Zeitung' fort und schrieb zweimal wöchentlich ein
ganzes Jahr durch die berühmt gewordenen Artikel
in jenem körnigen prägnanten Stil, dem die mili-
tärische Herkunft auf der Stirne steht. Die ganze
Öffentlichkeit, alle Vertretungskörper sind mächtig
aufgewühlt. Schöffel hatte sich einen Gegenstand
gewählt, um dessen plastische Symbolik ihn alle
Bekärapfer der Korruption in Ewigkeit beneiden
müssen: der ganze grünwipflige Wienerwald ist
Schöffeis nie sterbendes Denkmal. Es war wirklich
ein Kampf der Natur gegen die hereinbrechende
Verheerung einer geldwirtschaftenden Zeit, der
Buchen und Eichen aufrauschende Empörung gegen
das schimpfliche Bündnis von Wucher und Bureau-
kratie. In diesem Kampf, bei dem es sich um nichts
Geringeres als um das Klima von Wien handelte,
die vielbesungene Erholungsstätte einer ganzen Stadt,
stand Schöffel als Publizist allein. Die ,Neue Freie
Presse' erklärte ihn für größenwahnsinnig. Dreißig
- 25 —
Jahre später, als niemand den Bäumen etwas zuleide
tat, verlangte sie plötzlich — die Leser der ,Packel'
erinnern sich daran — ein Schutzgesetz für den
Wiener Wald! Nach einem zweijährigen Kampf, in
dessen Verlauf Schöffel fünfmal wegen Ehren-
beleidigung, einmal auf Grund des § 300 St.-G. wegen
Aufreizung zu Haß und Verachtung angeklagt,
schließlich wegen einer Kritik des Gerichtes vor das
Schwurgericht gestellt wurde, erfocht Schöffel einen
vollen glänzenden Sieg. Der Vertrag mit Moriz Hirschl
wurde rückgängig gemacht, die Beamten, welche
sich kompromittiert hatten, nach und nach kalt-
gestellt, freilich nicht ohne neuerliche kräftige An-
stöße Schöffeis, die fast eine besondere Campagne
ausmachten. Schöffel wurde reicher Lohn: Ferdinand
Kürnbergers Freundschaft, die ihm bis zu dessen
Tode treu blieb.
Schöffel, überdies bedankt durch das Ehren-
bürgerrecht von mehr als hundert Gemeinden,
wird in den Reichsrat gewählt und lernt die
Politik aus der Nähe kennen. Damals wurde vom
Ministerium Lasser ein Kredit von 80 Millionen
zur Sanierung des durch den Börsenkrach ent-
standenen Schadens gefordert. Ein Raubzug auf
das Volksvermögen, gegen den Schöffel vergebens
seine Stimme erhob. Als nach der Okkupation
Bosniens und der Herzegowina Ersparungen im
Staatshaushalt dringend wurden, schließt er sich jenen
an, welche die Einführung des einfachen Land-
wehrsystems an Stelle des komplizierten Wehrsystems
fordern und regt, als dies keinen Anklang findet, die
Bildung von Jugendwehren an. Ausgehend von
der Tatsache, daß im Kriege die Zahl der Nicht-
kombattanten nahezu ein Viertel der Armee aus-
macht, beantragt er, die Präsenzzeit nach Bildungs-
grad und Verwendungszweck bis zum Halbjahr ab-
zustufen, insbesondere die Militärhandwerker, Train-
— 26 —
Soldaten u. s. w. von der überflüssigen Dienstzeit zu
befreien. Die ergiebigste Verwertung der Volkskraft
mit den geringstmöglichen Opfern. Diese Gedanken
finden eisige Ablehnung. Heute, nach einem Menschen-
alter werden diese Dinge als neue Ideen und große
Entdeckungen auf die Tagesordnung gestellt, aller-
dings ohne daß Schöffeis dabei gedacht würde. So
langsam arbeitet das Gehirn der Völker und so
schnell vergißt es.
Glücklicher ist Schöffel doit, wo er unmittelbar
verwaltet, wo er sein Können in die Wagschale
werfen kann. So als Bürgermeister von Mödling, wo
er eine Tätigkeit entfaltet, welche an das Wort des
Themistokles erinnert: Gebt mir eine Stadt und ich
werde sie schön und blühend machen. Er besitzt die
eigentümliche Begabung des Verwaltungsmenschen,
bei jedem auftretenden Gegenstand den Anteil,
welchen Sache und Mensch, Ding uud Gesetz daran
haben, mit einem einzigen durchdringenden Blick zu
zerlegen. Eine Straße ist kein lebloses Ding, sondern
ein Komplex von menschlichen Verhältnissen, von
Technik, Politik, Geschäft, in dem sich niederste
und höchste Interessen manchmal labyrinthisch ver-
knäueln. Dasselbe gilt von Häusern, Fluren, Weiden.
Diese Fäden durchblicken, auseinanderlösen und
neu verknüpfen — heißt verwalten. Das Ver-
waltungstalent beruht in letzter Linie auf einer
leidenschaftlichen Liebe zu den konkreten Dingen,
einem Verstand, der nichts Vages duldet, sondern
rastlos und restlos den letzten Gegenstand sucht, der
den blassen Begriff erst belegt. Hierin liegt vielleicht
der Grund, warum der Liberalismus, der eine ge-
wisse Vorliebe für ungedeckte Begriffe, weiterhin
für unbedeckte Werte hegt, in der Verwaltung oft-
mals so schlecht abschneidet. Echte Verwaltungs-
talente sind geborene Feinde jeglicher Korruption,
auch der begrifflichen. Die Verwalter sind übrigens
27
unter den politischen Menschen ein besonderer Schlag.
Sie widmen sich gerne begrenzten Bezirken, am
liebsten einer Stadt. Politik hängt mit der Erde zu-
sammen. Es ist aber ein tiefgreifender Unterschied,
Wie groß die Kalotte ist, die einer umspannt; ob er
in Reichen denkt, wie Bismarck, in der Nation wie
Gambetta, oder sich mit einer Stadt identifiziert wie
etwi Lueger. Die Stadt-Denker sind Liebhaber der
Verwaltung und frondieren gelegentlich gegen den
Staat. Die Verteidigung des Wiener Waldes war ein
Landstadtgedanke.
Schöffel, seit 1882 Landesausschuß, bringt mit
sicherem Griff Ordnung in die Straßenwirtschaft des
Landes, vas keine leichte Sache ist, da auf der einen
Seite der Kampf mit dem Staat, auf der andern mit
den Schotterlieferanten und deren Gevatterschaften
zu führen i&t. Hier nistet in den engsten Maschen
Mißwirtschaft und Korruption. Wieder eine bedeutende
Aufgabe bietet sich Schöffel, als es sich darum
handelt, die alte Landplage Vagabundage auszu-
rotten. Wie er da ein verwickeltes, durch Jahr-
hunderte fortgeschlepptes Übel, dem keine grausame
Gewalt, kein- Schub und keine Gendarmerie bei-
kommen kann, verwaltungstechnisch löst, indem er
die trübe unbestimmte Flut des fahrenden Volkes in
ihre Bestandteile zerlegt und nach gewonnener Über-
sicht geschickt disponiert — darin zeigt sich die
Macht eines ordnenden Geistes. Da sind Arbeitscheue,
Verbrecher, unglückliche Kinder, arbeitsuchende
Handwerksburschen, brave. Arbeiter — für das
stumpfe Auge ein undifferenzierter Haufe. Er löst
sie mit sicherem Griff auseinander und schafft durch
ein System von Naturalverpflegsstationen wohltätige
Zufluchten und Stützpunkte der Wiederaufrichtung.
Er hat nicht die Gesellschaftsordnung gerettet, aber
unendlichen Jammer eingedämmt und das Land von
arger Plage erleichtert. Die Dankadressen von hundert
— 28
Gemeinden bezeugen den durchgreifenden Effekt, die
geleistete Wohltat. Wie der Aphorist der Wahrheit oft
näher kommt als der systematische Denker, so ist
dem Verwaltungsmann öfter vergönnt, Abgerundete*
zu schaffen als dem programmatischen Politiker.
Wiederum rein durch persönliches Erleben
kommt er zu seiner liebsten Lebensaufgabe : er wird
Vater der Waisen. Es ist die Freundschaft mit Josef
Hyrtl, die ihn zu diesem Wege geleitet. Die Be-
kanntschaft vermittelt — ein TotenschädeJ, den
Schöffel in einem verfallenen Gewölbe findet und ob
seiner Abnormität dem berühmten Anatomen zum
Geschenk macht. Das Unikum inspirierte Hyrtl zur
Abfassung einer kleinen Schrift. So kann ein un-
gewöhnlicher Schädel auch nach dem Tode noch
ungewöhnliche Menschen zusammenbringen. In die-
sem scheinbaren Zufall ist nichts zufällig. Der Mann
sieht. Grund genug, mit Sehern zusammenzutreffen.
Kürnberger war inzwischen gestorben. Schöffel und
Hyrtl werden Freunde und sie, die jeder einzeln für
unverträglich gelten, verbinden sich brüderlich und
vertragen sich unvergleichlich. Schöffel wird nach
dem Tode des Freundes Kurator der Hyrtl- Stiftung
und lebt von da ab für die Verwaisten.
Auch in diesem Wirkungskreise erlebt er seine
typische Inspiration, wie überall, wohin er tritt. Als
die Regierung im Jahre 1894 eine Gesetzesvorlage
einbringt, um Teile der Gebarungsüberschüsse der
Waisenkassen für Amtsgebäude in Galizien zu ver-
wenden, da hat Schöffel wieder sein Stichwort. Er
beweist, daß die vierzehn Millionen Gulden — so
gewaltig war die Summe, die sich im Laufe der Zeit
aufgestapelt hatte — ausschließlich und allein aus
zurückbehaltenen Zinsen von hinterlegten Waisen-
geldern erwachsen sind und folglich die einzigen
rechtmäßigen Anwärter auf dieses Geld die Kinder
des Elends selber sind. So rettet er das Vermögen
- 29 -
vor dem Zugriff zahlreicher Unberufener. Im Jahre
1901 beschließt der Reichsrat das Gesetz, womit die
Verwendung der Gebarungsüberschüsse der gemein-
schaftlichen Waisenkassen für die Pflege und Erzie-
hung armer Waisen bestimmt wird.
Das ist so Einiges aus Schöffeis reichem, be-
wegten, fruchtbaren und trotz harter Stürme eigent-
lich glücklichem Leben. Ihn begleitet das Geheimnis
allen Heldentums : eine prachtvolle Naivität, der-
zufolge er an alle Dinge herantritt, als wäre er allein
auf der Welt: voraussetzungslos. Der Gedanke:
wenn das richtig und möglich wäre, hätten es schon
andere gedacht und getan, ist der Tod jeder herz-
haften Tat. Menschen wie Schöffel sagen : mich
triffts, also muß ich es tun. Soldaten des Lebens.
Rührend ists, wie der Mann, mitten im dicksten
Getriebe der Tagespolitik, das er doch durchschaut,
seine helle Unschuld bewahrt und des Staunens kein
Ende findet, daß so viel Lüge in der Welt ist. Er
staunt über die gebrechlichen Ehrenworte der Minister,
über den Schmutz der Parteien, die Verräterei der
Presse. Zum Schluß ergreift ihn eine Weltunter-
gangsstimmung, wie sie etwa Karl Kraus in seiner
»Apokalypse« erlebte. Die Enttäuschung über die
Entwicklung der Christlichsozialen, auf die Schöffel
große Hoffnungen gesetzt zu haben scheint, gibt ihm
schließlich den Stoß in das Herz, nach welchem die
andere Partei so lange vergeblich gezielt. Politiker
von Geblüt finden sich mit den Macchiavellismus
besser ab. Schöffel aber bleibt immer ein Mensch
und der Mensch ist unter den Menschen ein Outsider.
Schöffel ist das Exemplar eines subjektiven
Politikers. Große Staatsgebilde liegen seinem Sin-
nen fern, wenn er auch durch die Berührung mit
Staatsproblemen in interessanter Weise befruchtet
wird. Ihm fehlt der Wille zum Kompromiß, die
eigentümliche Freude an jener geistigen Arbeit,
285-28
30
welche in der Verschmelzung der Gegensätze und
Ausgleichung der Ideen liegt und sich beim Politi-
ker von Beruf als Vergnügen an der Taktik kund-
gibt. Geborene Politiker schwimmen mit Lust durch
die Kompromisse hindurch und listen ihren Lebens-
gedanken durch eine labyrintische Welt. Sie sind
eben >poli tisch«, wie der Sprachgebrauch sinnvoll
sagt, die schmutzige Materie zieht noch die Reinen
unter ihnen an, denn sie ist ihr Element. Darum ist
Schöffel zwar eine Persönlichkeit, aber keine eigent-
lich politische, sondern eine, welche die Politik
zwingt, sich mit ihr auseinanderzusetzen, ärgerlich
oder lächelnd, knirschend oder respektvoll, je nach-
dem. Immerhin fehlt seinem Leben der durchgreifende
konstruktive Zusammenschluß, wie auch seinen
Memoiren, welche kein Kunstwerk sind, was sie
leicht hätten sein können, aber doch schön sind.
Und was tuts? Er steht in der Geschichte als Einer,
der stark und beherzt war und sich in den Strudel
gestürzt hat, wo er am wildesten brauste, dessen
Werke heute noch grünen, und der zurückgekommen
ist als ein Unbefleckter. Wohl dem, der ihn nennen
darf, ohne zu erröten !
Aphorismen*)
Von Karl Kraus
Was Berlin von Wien auf den ersten Blick
unterscheidet, ist die Beobachtung, daß man dort
eine täuschende Wirkung mit dem wertlosesten
Material erzielt, während hier zum Kitsch nur echtes
verwendet wird.
•
Im Liebesleben der Menschen ist eine vollstän-
dige Verwirrung eingetreten. Man begegnet Misch-
formen, von deren Möglichkeit man bisher keine
*) Aus dem .Simplicissimus'.
31 -
Ahnung hatte. Einer Berliner Sadistin soll kürzlich
das Wort entfahren sein: Elender Sklave, ich be-
fehle dir, mir sofort eine herunterzuhauen 1 . .
Worauf der betreffende Assessor erschrocken die
Flucht ergriffen habe.
*
Schon mancher hat durch seine Nachahmer be-
wiesen, daß er kein Original ist.
*
Entwicklung ist Zeitvertreib für die Ewigkeit.
Ernst ist's ihr nicht damit.
*
Ich habe manchen Gedanken, den ich nicht
habe und nicht in Worten fassen könnte, aus der
Sprache geschöpft.
»
Der Unsterbliche erlebt die Plage aller Zeiten.
Eine Rede
Der Abgeordnete Adalbert Graf Sternberg hat
in der Debatte über das Finanzgesetz die folgende
Rede gehalten :
Es kann nicht gleichgültig sein, welche Bedeutung das Ministerium
dem Hause einräumt. Der Finanzminister hat das Finanzgesetz nicht
etwa auf den Tisch des hohen Hauses gelegt, sondern auf den Tisch
der .Neuen Freien Presse'. Er hat es dieser Zeitung allein ausgeliefert,
so daß sie das Gesetz veröffentlichen konnte, während die anderen
Zeitungen es nicht konnten und das Haus das Gesetz erst aus der
, Neuen Freien Presse' entnehmen konnte. Ein solcher Fall wäre in
keinem Lande der Welt möglich und wird sich auch hier hoffentlich
nicht wiederholen. Seit Jahrzehnten führen die ganze hohe Bureaukratie
und alle einflußreichen Leute in Österreich einen Tanz um die .Neue
Freie Presse' auf. In der ganzen Welt wird sie als offiziöses öster-
reichisches Organ angesehen, als Organ des Ministeriums des Äußern,
— 32 —
des Ministeriums des Innern, der ganzen Monarchie. Bei allen Bot-
schaften und Konsulaten findet man als einzige österreichische Zeitung
die .Neue Freie Presse'. Die Botschaften und Gesandtschaften erhalten
Pauschalien, um Zeltungen zu halten. Diese Pauschalien werden aber
ausschließlich für die ,Neue Freie Presse' verwendet. Warum? Weil die
Regierungen wieder der .Neuen Freien Presse' allein ihre Nachrichten
ausliefern. Das ist ein für die Auffassung der Politik Österreichs im
Auslande ungeheuer schädlicher Circulus vitiosus. Dabei hat die .Neue
Freie Presse' ihre Hände in allen Dispositionsfonds des In-
und Auslandes. Wenn die .Neue Freie Presse' die Politik irgend
jemandes schützt, tut sie es nicht umsonst. Ein liberaler Stadtvertreter
habe dem Redner gesagt: Die .Neue Freie Presse' hat unsere Partei
umgebracht, denn sie nimmt nicht einmal die Berichte über die liberalen
Versammlungen auf, wenn sie nicht dafür gezahlt wird. Ich bin jetzt in
der Türkei gewesen. Da hat mir ein türkischer Würdenträger gesagt : W i r
Türken sind ein unglücklichesVolk; wir müssen der
.Neuen Freien Presse' sogar doppelt so viel bezahlen
als jedes andere Land. Man wird sagen, das sei nicht wahr.
Aber man möge nur die Artikel der .Neuen Freien Presse' über den
gewesenen Sultan lesen. Es gab keinen großartigeren Monarchen, so-
lange er Geld hatte, und es gibt jetzt keinen größeren Schweinehund,
weil er kein Geld hat. Solange Graf Goluchowski im Amte war, war
er der fleißigste, begabteste Minister der Welt. Kaum war er gestürzt,
konnte die .Neue Freie Presse' nicht genug über den unheilvollen
Mann sprechen. Die .Neue Freie Presse' nimmt nicht nur, sie. gibt auch
Geld. Gibt man einer Korrespondenz eine Nachricht, so kommt ein Ver-
treter der .Neuen Freien Presse' und zahlt den Betreffenden dafür, daß
er die Nachricht keiner anderen Zeitung gibt. Die .Neue Freie Presse'
kämpft durch Fälschung der Nachrichten, durch Verschweigung. Der
Präsident Dr. Pattai wird am besten wissen, daß sein Name nie in der
.Neuen Freien Presse' gestanden ist, bis zum Augenblick, wo er zum
Präsidenten gewählt worden ist. Ihren wirtschaftlichen Teil hat die
,Neue Freie Presse' so durchgeführt, daß Herr Benedikt an der Börse
der steinreichste Mann von Wien geworden ist. Sie hat Tränen
darüber vergossen , daß der flüchtige Wucherer Reicher zugrunde
gegangen ist, und die Leute beschuldigt, daß sie zu hohe Zinsen von
ihm genommen haben, von ihm, der uns alle, als wir jung waren,
mit 20 Prozent durch Jahre ausgewuchert und den ganzen Jockei-
klub um sein Geld gebracht hat. Als dieses Parlament die erste
Sitzung hielt, las man am nächsten Tage in der .Neuen Freien Presse':
die ganzen Galerien wurden unruhig und alles rief: Wo ist Hock?
Wo ist Hock ? Kein Mensch hat gewußt, daß ein Hock existiert. Un-
längst erschien ein Feuilleton, worin Krumau als der langweiligste
Ort erklärt wurde. Da die deutsch-böhmischen Städte aufgebracht
waren und das Blatt zurückschickten, erschien ein zweites Feuilleton,
worin es hieß, Krumau sei die unterhaltendste Stadt. Seine eigenen
33
Diener lasse aber das Blatt verhungern. Als der Abg. Dr Soukup hier
dem Herausgeber der .Neuen Freien Presse' vorwarf, er wuchere mit
Menschengeist und Menschenkraft, hat kein einziges Blatt diesen Passus
gebracht, nicht einmal die , Arbeiter-Zeitung'. Von dem Journalisten Katz in
Prag schreibt die .Neue Freie Presse' in einem Leitartikel, die Böhmen
hätten ihn ums Leben gebracht. Tatsächlich ist er in eine Kloake gesprungen,
weil ihn die .Neue Freie Presse' hat verhungern lassen. Als Redner nach
dem Burenkriege in London war, habe ihn der englische Korrespondent
der , Neuen Freien Presse' angepumpt, indem er sagte, er habe nichts zu
essen, weil das Blatt ihn nicht zahle. Die Presse habe die Pflicht, ob-
jektiv zu berichten, und Redner wundere sich, daß das Ehrengericht
der Journalisten Herrn Benedikt nicht schon seiner Ehre
enthoben habe .... Die ,Neue Freie Presse' ist auch die Mutter
des Antisemitismus in Österreich. Sie hat durch ihre Christenver-
folgung, durch ihren Haß gegen das Christentum, durch ihr nieder-
trächtiges, verleumderisches Vorgehen gegen Dr. Lueger und solche
anständigen Leute, die die .Neue Freie Presse'-Korruption aus der Stadt
hinausgejagt haben, die Leute zur Abwehr des AntiChristentums genötigt.
Die .Neue Freie Presse' hat sogar die Verurteilung des Hilsner auf
dem Gewissen, denn sie hat die Geschwornen zu beeinflussen gesucht
und die ganze Sache zu einem Politikum gestempelt. Hilsner wäre nie
verurteilt worden, wenn die .Neue Freie Presse' das Volk nicht gereizt
hätte. Man sagt immer, der Kaiser lese die ,Neue Freie Presse'. Jeder
wisse nun, daß der Kaiser, wenn er von einer Unkorrektheit erfahre,
erbarmungslos gegen den Schuldigen vorgehe. Statt aber keine Unkor-
rektheiten zu begehen, haben die Minister bisher immer versucht, die
.Neue Freie Presse' zum Schweigen zu bewegen, damit der Kaiser keine
Unkorrektheiten erfahre. Das hat dahin geführt, daß das Ministerium
eine Art Sklaveneinrichtung, ein Gynäzeum des Herrn
Benedikt geworden ist. Sogar das Sinken des dynastischen Gefühls in
Österreich hat hauptsächlich die .Neue Freie Presse' verschuldet, denn wenn
jemand für Geld einen Artikel schreibt, den er nicht fühlt, schreibt er ihn
so, wie die .Neue Freie Presse' über den Kaiser oder die Erzherzoge
schreibt. Das übt auf das lesende Publikum die schlechteste Whkung
aus, und heute genügt in Österreich, daß die .Neue Freie Presse' je-
manden lobt, damit ihn die ganze Bevölkerung haßt. Deshalb möchte
Redner dem Verwalter des Dispositionsfonds des allerhöchsten Kaiser-
hauses raten, die .Neue Freie Presse' dafür zu zahlen, daß sie Angriffe
erhebe. Denn diese Lobeshymnen der .Neuen Freien Presse' haben
das Vertrauen und die Liebe zu Thron und Dynastie erschüttert.
Die .Neue Freie Presse' ist auch die Quelle des Unfriedens.
Wenn sich einmal die Slawen mit den Deutschen vertragen wollen,
kommt ein Brandartikel der .Neuen Freien Presse'. Ein altes Wort
wendet sich gegen das Fischen im Trüben und ein griechischer Dichter
hat geschrieben, daß, wenn in einem Staatswesen Anarchie ausbricht,
der Herrscher immer der schlechteste Falott ist, und dieser Falott ist
- 34 —
in diesem Falle die ,Neue Freie Presse' .... Jeder Mensch
weiß, daß die ,Neue Freie Presse' käuflich ist, und Redner sei über-
zeugt, daß auch eine Reihe von Abgeordneten schon in die Tasche
habe greifen müssen, damit etwas in der .Presse' stehe. Da darf es
nicht wundernehmen, daß alle hohen Herren, das Ministerium des
Äußern, die Regierung einzig und allein unter dem Banne dieses ge-
fährlichen, rachsüchtigen Revolverjournalisten stehen, von dem man
wisse, daß er käuflich ist. Wenn heute ein Krieg ausbricht und die
Regierung, wie bisher, im vorhinein der .Neuen Freien Presse' alles
mitteilen wird und die .Neue Freie Presse' dann vom Feinde gekauft
wird — denn Skrupel und Nationalitäts^efühl hat so ein Benedikt
nicht — , so könne man ermessen, welchen Gefahren man entgegen-
gehe, wenn ein solches Gaunerblatt durch ein ganzes System erhalten
wird. Wer weiß, wie viel ausländisches Geld schon durch die Fichte-
gasse gekommen ist, und welches Unheil schon durch solch ausländi-
sches Geld angerichtet wurde, weil sich dieser käufliche Mensch zu
jedem Dienst hergibt.
Für solche Majestätsbeleidigung — die gefahr-
vollste, die es gibt — sind die wahren Patrioten
dankbar. Diese Rede hat Hand und Fuß. Die , Arbeiter-
Zeitung' aber nannte sie »ein schier endloses Ge-
schimpfe über die ,Neue Freie Presse', das der Prä-
sident offenbar als zum Finanzgesetz gehörig erachtete
und das die Zuhörer mit großer Heiterkeit quittierten«.
Die sozialdemokratische Hilfe, die dem Börsenblatt
geleistet wird, ist freilich weniger heiter. Nicht
einmal so heiter wie die Hilfe, welche die ,Zeit' dein
Grafen Sternberg leistet. Diese würdige Gegnerin der
, Neuen Freien £*resse' hat bekanntlich allen Grund,
namentlich den Vorwurf der Ausbeutung zu unter-
streichen. Sie hat ja schon lange keinen Mitarbeiter
verhungern lassen und zahlt ihre Feuilletonhonorare
pünktlich, wenn sie geklagt wird. Und weil die ,Neue
Freie Presse' das Monopol der politischen Nachrichten
an sich gerissen hat, ist die gewissenhafte ,Zeit' ge-
zwungen, sie aus Berliner Blättern zu stehlen. Wenn
den Grafen Sternberg der Haß der , Arbeiter-Zeitung'
lehren sollte, daß er eine gute Sache vertritt, so rnö^e
er sich durch die Liebe der ,Zeit' nicht von solcher
Überzeugung abbringen lassen. Der Abscheu vor der
- 35
, Neuen Freien Presse' ist ein Thema, das in jede
parlamentarische Debatte paßt. Und Graf Sternberg
verdient sich den Dank aller, denen Humanität und
Scham den Anblick ersparen möchte, wie der ehr-
würdige Kadaver dieses Reichs von einer Hyäne
beraubt wird.
Glossen
Wilhelm II. regiert bei bengalischer Beleuchtung. Unermüd-
lich in dem Bestreben, der , Woche' neue Gruppenbilder zu liefern,
hat er jüngst auch den Kanzle: Wechsel öffentlich vorgenommen.
Leider mußten die Besucher des politischen Freilufttheaters mit einer
Pantomime vorlieb nehmen. Denn wenn man am jenseitigen Ufer der
Spree stehen soll, um den Kaiser im Schloßgarten regieren zu
sehen, so haperts mit der Akustik. Immerhin kam man auf seine
Kosten. Das Programm — von der ,Neuen Freien Presse' gleich zwei-
mal reproduziert — gibt die folgende Anleitung zum Verständnis
der Handlung:
Eine Viertelstunde lang schreitet der Kaiser allein mit langen
Schritten durch die Gartenwege. Es erscheint ein Lakai*. Bald darauf
betritt Fürst Bülow den Garten ; ernst, im schwarzen Rock, den Zylinder
in der Hand. Der Kaiser geht ihm entgegen und schüttelt ihm herzlich
die Hand. Nebeneinander gehen nun Kaiser und Kanzler in lebhaftem
Gespräch. Bisweilen ergreift der Kaiser den Arm des scheidenden Kanz-
lers. Die Unterredung währt etwa zwanzig Minuten. . . Der Kaiser ist
wieder allein. Wenige Minuten später erscheint der neue Mann, Herr
v. Bethmann-Hollweg. . . Eine herzliche Begrüßung, dann eine Promenade
von mehr als drei Viertelstunden. Lebhaft gestikulierend, spricht der
Kaiser zunächst geraume Zeit. Herr v. Bethrnann schreitet neben dem
Kaiser her und nickt fortwährend zu seinen Äußerungen. Dann ver-
tauschen sich die Rollen : Herr von Bethmann-Hollweg spricht mit
temperamentvollen Bewegungen, der Kaiser geht neben ihm her und
erwidert gleichfalls in lebhafter Weise. Zum Schlüsse schüttelt der Kaiser
— 36
dem Staatssekretär lange die Hand und winkt ihm noch freundlich
zu, bis seine hohe Gestalt aus dem Garten schwindet. Pause. Dann
nahen drei Herren, die Gesandten und Bundesratsbevollmächtiglen der
anderen drei deutschen Königreiche. Der Kaiser führt die Unterhaltung.
Das Gespräch währt fast eine Stunde. Nach ihnen erscheinen Staats-
sekretär Sydow, Minister Delbrück, Unterstaatssekretär Wermuth und
Oberpräsident v. Trott zu Solz. Die Unterredung, die eine knappe halbe
Stunde in Anspruch nimmt, wird auf Seiten des Kaisers mit noch
größerem Temperament geführt als die vorhergegangenen. Der Kaiser
führt ununterbrochen das Wort. Er scheint erhitzt, lüftet wiederholt die
Mütze, gestikuliert lebhaft und macht mehrfach eine Bewegung mit der
Hand, als ob er die Luft durchschneiden wolle. Die vier Herren stehen
an der Laube, die Hände auf den Rücken gelegt, und hören zu . . .
Um 1 Uhr mittags verläßt der Kaiser den Garten. . . Fürst Bülow
verläßt mit tiefernstem Ausdruck die Szene. .
Das Publikum applaudiert. Es hat sich überzeugt, daß in
dem Stück kein Intrigant vorkommt. Namentlich das charak-
teristische Mienenspiel des Hauptdarstellers hat allgemein Anklang
gefunden. Die Befürchtung, daß faule Reichsäpfel auf die Bühne
geworfen werden könnten, hat sich als grundlos erwiesen. Man
glaubt, daß nun endlich die schmerzlichste Lücke im Berliner
Theaterleben ausgefüllt ist. Dieser Wilhelm ist der Ferdinand Bonn
unter der Monarchen. Er wird bei der nächsten Regierungshandlung
ein Violinsolo einlegen. Bei ungünstiger Witterung findet der
Kanzlerwechsel auf der Terrasse statt.
DerJacht>Hohenzollern«, Kronzeugin homosexueller Launen,
ist es diesmal erspart geblieben, im Fjord von Moabit zu landen.
Aber der charaktervolle Freund des Fürsten Eulenburg beehrt
auch in diesem Sommer wieder Norwegens Küste. Ein Paket
alter Zeitungsausschnitte kommt mir zufällig in die Hand,
die ich selbst einmal — im Sommer 1901 — von einer
norwegischen Reise mitgebracht habe. Im ,Dagblad' von
Christiania, einem Regierungsblatte, war am 11. Juli jenes
Jahres ein Artikel — > Brutus« gezeichnet - erschienen, der der
Redaktion noch wochenlang auf den Fingern brannte. Seine
Meinung wurde in Berlin bekannt, weckte Unruhe in der
deutschen Presse, Schadenfreude bei dem gegnerischen ,Öreblad'
37 -
und Reue beim .Dagblad' selbst, das mit jedem Tag entschiedener
die Gemeinschaft mit jenem Brutus ablehnte und ein redaktionelles
Versehen beklagte. Trotzdem hätte sich nicht leugnen lassen, daß
die Zuschrift der Ausdruck einer vorhandenen Volksstimmung
war. Denn man konnte ja nicht annehmen, daß im weiten Norwegen
bloß ein einziger grundsätzlich übelwollender Mann dem deutschen
Kaiser aufsässig sei. Die Zuschrift lautet in deutscher Übersetzung:
Ein unvermeidlich er Herr
Kaiser Wilhelm regiert das >große Vaterland« nun schon dreizehn
Jahre lang und in jedem dieser dreizehn Jahre ist er dazugekommen, uns
einen Besuch abzustatten. Abgesehen von dem schwülen Empfang im
Jahre 1890, als Christiania in der Sommerhitze dastand und wir vor
lauter Begeisterung auf Brücken und Straßen hinter ihm her jubelten,
haben wir diesen jährlichen Besuch durchgehends mit Ruhe hingenom-
men. Unsere Behörden haben sich zuvorkommend erwiesen, das Tele-
graphenwesen hat seine Pflicht erfüllt und der Kabel zwischen Odde
und dem Kaiserschiff hat klaglos funktioniert. Der Kaiser hat die Höf-
lichkeit erwidert, indem er 1000 Kronen für die Restaurierung des
Domes von Drontheim widmete, des Domes, welcher 1888 zur Abhal-
tung eines Trauergottesdienstes anläßlich des Hinscheidens des alten
Kaisers hergeliehen worden war. Die jährlichen 1000 Kronen haben
sich als nicht außer Beziehung stehend erwiesen mit jener uns Nor-
wegern wenig zusagenden Verleihung unseres größten nationalen Heilig-
tums. Könnten wir nicht die Bilanz über Soll und Haben zwischen
uns und dem Reisekaiser ziehen? Ich glaube, ja — und überlasse es
ehrerbietigst dem ,Dagblad', den Anfang zu machen. Man lasse alle
diese nichtssagenden Telegramme weg, was der Kaiser Tag und Nacht
unternommen habe, und verzeichne einfach die drei Ereignisse : die
Ankunft, die 1000 Kronen für den Dom, und die Abreise. Wenn wir
davon unterrichtet worden sind, dann sind wir befriedigt und werden
uns mit größerer Seelenruhe in das Unvermeidliche schicken.
Brutus
Daß etwa Herr Harden der Urheber war, ist nicht anzu-
nehmen. Denn erstens ist Brutus ein ehrenwerter Mann, und
zweitens schreibt er einen prägnanten Stil.
»Wie schon erwähnt, werden diese von einer dem Hause
Rothschild näher bekannten Persönlichkeit mitgeteilten Einzel-
heiten wohl nicht bestätigt, wenn auch — was ja in diesem Falle
selbstverständlich ist — von seiten der Familie über die Todes-
— 38 —
Ursache ein gewisses Stillschweigen beobachtet wird.« Und an den
Verstorbenen selbst kann sich Herr Lippowitz nicht wenden. Der
junge Rothschild würde gewiß noch jetzt, da er eine lokale Sen-
sation verursacht hat, einem Reporter jede Auskunft verweigern.
Bei Lebzeiten war er nämlich so. Er ist von einer Weltreise zu-
rückgekehrt, um zu sterben. Aber schon auf der Weltreise wollte
er von den Reportern nichts wissen. Vielleicht schneidet Herr
Lippowitz den Artikel von ,The San Francisco Call' (22. Mai) aus.
Der Vertreter des Blattes hatte den jungen Baron glücklich pho-
tographiert, aber er konnte ihn nicht interviewen. Er hatte den
Dampfer in der Quarantäne aufgesucht und erfuhr nichts weiter,
als daß der Baron in Begleitung eines österreichischen Offiziers
reise. »Daß aber der junge Baron auch imstande wäre, auf sich
selbst acht zu geben, bewies er bei seinem ersten Zusammentreffen
mit der Presse. ,Sprechen Sie englisch, Baron?' ,Qewiß, mit mei-
nen Bekannten. Wer sind Sie?' ,Ich repräsentiere die Presse.'
,Mit der Presse spreche ich in keiner Sprache.' Sprachs
und wandte sich einer Dame zu«... Ehre seinem Andenken!
Die liberale Presse hat sich über den Fall des Tiroler
Bauern entrüstet, der in die Irrenanstalt gebracht wurde, weil er
einen Wiener Wachmann gefragt hatte, wie er hier zu seiner Erbschaft
kommen könne. Ein Leser erinnert daran, daß gerade vor einem
Jahre ganze Legionen malerischer Intelligenzen über die Ringstraße
zogen und die Wiener ihnen zujubelten. Zeitläufte, Zeitläufte! Ob
der heurige Tiroler zu Recht oder zu Unrecht den Psychiatern
geschmeckt hat, wird nie entschieden werden können. Man müßte
die Entwicklung der Psychiatrie abwarten, einer Geheimwissenschaft,
die heute nur sichere Schlüsse darauf zuläßt, daß jene, die sich aktiv
an ihr beteiligen, geistesgestört sind. Für künftige Fälle empfiehlt
sich Abschiebung in die Heimatsgemeinde ohne medizinische Weit-
läufigkeiten. Ein Tiroler Bauer, der in Wien unzurechnungsfähig
erscheint, kann in seiner Heimat ganz normal sein ; er paßt zu
seiner Landschaft und stört das Bild der Ringstraße. Daß auch
in unserem Fall diese Diagnose zutrifft, scheint eine Nachricht zu
39
beweisen, die soeben aus Tirol gedrungen ist. Der glücklich Heim-
gekehrte wurde sogleich wegen Wilddiebstahls verhaftet. Nun
dürfte seine Verteidigung die Untersuchung seines Geisteszustan-
des beantragen und sich darauf berufen, daß der Mann acht Tage
in Wien in der Irrenanstalt zugebracht hat. Aber die Tiroler
Gerichtspsychiater dürften sich dahin aussprechen, daß er zwar
in der Irrenanstalt geistesgestört, aber im Momente der Tat
zurechnungsfähig war.
Oder sollte ein Tiroler doch zur Ringstraße passen?
In Wien sind ja noch Genreszenen, wie diese möglich : Ein
Blinder und ein Lahmer betteln an der Straßenecke. Ein Passant
wirft dem Blinden einen Heller in den Hut. Da reißt der Blinde
die Augen auf: »Was, nur an Heller?«, und beschimpft den Wohl-
täter. Dieser holt einen Wachmann, was die Bettler veranlaßt, die
Flucht zu ergreifen, bei der der Lahme, um besser vorwärts zu
kommen, die Krücke unter den Arm nimmt. Bei uns geschehen
also noch die Witze aus den , Fliegenden Blättern'. Ebenso ver-
altet wie der Humor der Begebenheit ist aber auch ihr sittlicher
Ernst. Das Paar wurde verhaftet und abgestraft. Dem Herrn, der
die Verhaftung herbeiführte, ist nichts passiert. Um eines Hellers
wert zu sein, muß einer den Wahrheitsbeweis der Blindheit oder
Lahmheit erbringen. Der Menschenfreund ist entsetzt, wenn sich
herausstellt, daß die Gebrechen gar nicht vorhanden sind, die sein
Mitleid erregt haben. Er ist um einen Heller betrogen, aber sein
sittliches Empfinden begnügt sich nicht mit der Schadensgut-
machung, sondern ist erst beruhigt, wenn der Unwürdige auf
der Stelle zum Krüppel wird. Da dies nicht zu erreichen ist, ruft
man wenigstens den Wachmann. Der Berliner — ausgenommen etwa
Herr Harden, der das erweislich Wahre propagiert — würde an einem
Surrogatkrüppel nicht Anstoß nehmen und entweder die Findig-
keit belohnen oder sein Mitleid jener Not zuwenden, die zu sol-
chen Mitteln der Verstellung greifen muß. Das goldene Wiener
Herz, das selbst die Punze der Echtheit trägt, läßt sich nicht
täuschen. Darum erlebt es Abenteuer, die in Scherz und Ernst
der Fibelanekdotik entstammen.
— 40 -
»Anwesend waren : Fürst Georg Schwarzen berg, Fürst Monte-
nuovo, Fürst Franz Auerspeig,' Prinz Radziwill, Gräfin Seefried,
eine Enkelin Seiner Majestät des Kaisers, Graf Wilczek, Graf
Apponyi, Graf Kuefstein, Graf Van der Straaten, Graf Auersperg,
Graf Kinsky, Graf Goluchowski, Graf Wurmbrand u. s. w. Glück-
wunschtelegramme sandten : Prinz Liechtenstein, Prinz Monte-
nuovo, Markgraf Pallavicini u. s. w.« Was ist denn los? Ein Wiener
Gastwirt hat sein zwanzigjähriges Jubiläum gefeiert. Und ich
hatte schon geglaubt, sein fünfundzwanzigjähriges !
»
>Der prächtige Wiener mit seinem liebenswürdigen und
fröhlichen Charakter hatte es den Berlinern am meisten angetan. . .
Ein liebenswürdiger Zufall wollte es, daß er bei seiner Rückkehr
eine freudige und ehrenvolle Überraschung vorfand : nicht weniger
als drei Ordensauszeichnungen, die ihm in Anbetracht seines
ausgezeichneten humanitären und gemeinnützigen Wirkens verlie-
hen wurden. Vom König von Italien wurde er mit dem italieni-
schen Kronenorden ausgezeichnet, vom Papste empfing er das
Ritterkreuz vom heiligen Grabe, der Präsident der französischen
Republik übersandte ihm die Palme eines Offiziers der Academie
francaise«.Wer ist denn der Gefeierte? Ein Nachtcafetier. Und ich
hatte schon geglaubt, ein Gastwirt!
Der Wiener Männergesangverein, dessen Mitglieder seiner-
zeit auf einem Ozeandampfer durch den Ruf > Wo ist denn mei' Reib-
sackl ?« die Delphine enttäuscht und beim Niagara durch die Frage
»Bitf schön, wie komm'i denn auf den Franziskanerplatz?« die Indianer
verwirrt haben, läßt es sich nicht nehmen, das Ausland allsommer-
lich über den Stand der Wiener Kultur zu unterrichten. Diesmal
mußte Thüringen daran glauben, und siehe da, alsbald war das
Andenken an die heilige Elisabeth in einen Duft von Grieszweckerln
gehüllt. Diese Fahrten, versichert der sie begleitende Schmock,
>sind kraftvolle Lebensäußerungen. Sie zeigen die ,Stadt der Phä-
aken' in etwas ernsterem Lichte und verknüpfen uns selbst reger
mit dem großen Weltverkehr. . . . Bald nach der Abreise vom
— 41
Nordwestbahnhof hatten sich in allen Ecken Tarockpartien etabliert.«
Nun ja, bis Iglau pflegen in solchen Fällen >Scherz und Schabernack
die Zeit zu verkürzen«. Aber dann tritt der Ernst des Lebens an die
Herren heran, und sie beginnen zu singen. Zwischendurch wird
Deutschland, Deutschland über alles gestellt, an Luther angeknüpft,
der heiligen Elisabeth, die noch immer eine ganz riegelsame Dulderin
ist, ein Kompliment gemacht und der tiefgefühlten Hoffnung
Ausdruck gegeben, daß sich »von nun an neue und starke Fäden
von Eisenach nach Wien hinüberspinnen werden«. Die Analogie
zwischen dem Sängerkrieg auf der Wartburg und dem Udel-
quartett ist ja verblüffend. Bei dieser Gelegenheit erfahren
wir, daß Goethe in Weimar gelebt hat. Denn es war aus-
geschlossen, daß die ,Neue Freie Presse' die Reise des Män-
nergesangvereins vorübergehen lassen konnte, ohne etwas für
Goethe zu tun. Der Chormeister Kremser kommt nach Weimar
und so gebietet es die primitivste Pflicht der Courtoisie auch an
Goethes Aufenthalt in Österreich zu erinnern. Ein Advokat, der
mitsingt, kann sich nicht länger halten und ruft: »Stolz hebt sich
hier die Brust, hier, an den jedem Deutschen heiligen Stätten, in
dem Vollgefühl : Ich bin ein Deutscher, auch für mich haben diese
Geistesheroen gelebt und geschaffen!« Das klingt ein wenig anders
als der Ruf, der vor zwei Jahren über den Ozean gellte : »Wo
haben's denn wieder mein1 Hosenträger hinmanipuliert?« Und nun —
außi möcht' i oder auf zur Fürstengruft ! Nur hereinspaziert, meine
Herrschaften ! Hier ruhen jene Persönlichkeiten, die jedem Wiener
aus dem Liede »Das hat ka Goethe g'schrieben und auch ka
Schiller 'dicht« bekannt sind. Hier ist eine passende Gelegenheit,
das Banner des Wiener Männergesangvereines aufzupflanzen !
»Heiliges Bangen«, versichert der begleitende Schmock, »ergriff
die Männer«. Nun ja, Herr Reimers deklamiert ein Gedicht. Aber im
Goethe-Haus ist alles noch wie einst, jeden Moment glaubt man,
Goethe werde eintreten und erstaunt ausrufen : »Klienenberger, Sie
hier? Wie mich das freut!« Ja, da habn ma an G'spaß g'habt!
Aber die ,Neue Freie Presse' ist über Goethe hinreichend in-
formiert. 13 mal war er in Karlsbad, 114 Tage seines Lebens
verbrachte er in Eger, nach Wien ist er nie gekommen. Dagegen
hat er »in Tirol Mignon gefunden«. Ah, da schau i ja! »Seiner
— 42
Begegnung mit dem Hafner und dem Mädchen verdanken wir
Gedichte, die zu den schönsten Blüten der deutschen Lyrik ge-
hörenc. Harfner, Sie Esel ! korrigiert der eben eintretende Goethe.
Das macht nichts, schön war's doch, und wenigstens hat man
diesmal die Seekrankheit nicht gekriegt. Gottseidank ! Und die Presse
hat es sozusagen nicht nötig gehabt, uns über das Befinden der
fahrenden Sänger auf dem Laufenden zu erhalten. Bloß die
deutsche Brust hat sich gehoben. Die Freunderln vom »Schuberl-
bund« dagegen haben eine Nordlandsreise gemacht. Ujegerl !
Jemand sagte mir einmal, er sehe es jedem Menschen an,
ob er dem Verein »Flamme« angehöre. Mir erscheint die Ein-
teilung der Menschen nach diesem Gesichtspunkte durchaus
zweckdienlich. Man kommt wirklich mit der Zeit dahinter, daß es
nichts anderes gibt als Leute, die dem Verein »Flamme« an-
gehören, und solche, die dies nicht tun. Es wäre jedoch verfehlt,
sich bei dieser Einteilung zu beruhigen, und die Gerechtigkeit
erfordert es, der Individualität der Leute näherzutreten, die bei
Lebzeiten von der Sorge um das Schicksal ihrer Gebeine nieder-
gebeugt sind und vor der vollen Lebensschüssel sich schon mit der
Frage quälen, was mit den irdischen Resten zu geschehen habe.
Wenn aber der Psychologe diese Sorge, die sich durch den Beitritt
zum Verein »Flamme« kundgibt, als das Bestreben, die Vereinsmeierei
bis übers Grab fortzusetzen, entlarvt hat, so wird er entdecken,
daß die Mitglieder in ihren sorgenfreien Stunden sich entweder
der Freimaurerei hingeben oder gar Schlaraffen sind, daß sie also
entweder Handelsgeschäfte treiben oder den Ernst des Lebens durch
öden Mummenschanz unddenZuruf »Lulu!« zu unterbrechen suchen.
In jedem Falle, ob er nun verbrannt werden will oder sonstigen
Unfug treibt, stelle ich mir das geistige Leben eines aufgeklärten
Philisters als den Inbegriff des Greuels vor. Auf der Suche nach
neuen Kategorien habe ich nun eine entdeckt, die wohl die
schlimmste ist. Der Philister hat den unbeirrbaren Drang zur
Verewigung. Gehört er einer niedrigen sozialen Schichte an, so
schreibt er seinen Namen an die Wände eines Aborts. Anscheinend
43
den besseren Ständen angehörig, legt er Wert darauf, u. a. in der
,Neuen Freien Presse' genannt zu werden. Er meldet sich, wenn dort
über die Staub- und Rauchplage, über das Recht auf Stille, über den
Meldzettel gesprochen wird, wenn ein Erdbeben war oder wenn
gar ein Herausgeber der ,Neuen Freien Presse' gestorben ist. Es
sind dieselben Leute, die den Ehrgeizhaben, auf ein Podium zu steigen,
sobald der Zauberer gefragt hat, ob zufällig jemand unter den
Herrschaften ein reines Taschentuch bei sich habe, die opfermutig
selbst ihre Uhr herleihen oder sich die Augen verbinden lassen, wenn
sie dadurch der neidvollen Bewunderung einer weniger beherzten
Zuschauermenge teilhaft werden. Und da habe ich entdeckt, daß
das höchstentwickelte Exemplar dieses Typus der Mann ist, welcher
ein Buch schreibt, das in die Fideikommißbibliothek aufgenommen
wird. Die praktische Einteilung der Menschen in solche, deren Werke
in die Fideikommißbibliothek aufgenommen werden, und in solche,
die es nicht erleben, empfiehlt sich von selbst. Wenn wir uns
nun aber fragen, warum und zu welchem Ende der Mensch es
erstrebt, daß seine Werke in die Fideikommißbibliothek aufge-
nommen werden, so kommen wir erst hinter das Geheimnis dieses
mystischen Dranges, der der Menschennatur nun einmal inne-
wohnt. Denn wir erfahren, daß die Ehre, die hier scheinbar
erstrebt wird, nicht der Zweck des Strebens ist, sondern bloß
das Mittel zu einem höheren Zwecke. Man schreibt ein Buch,
um in die Fideikommißbibliothek zu kommen, um in die ,Neue
Freie Presse' zu kommen. Denn die ,Neue Freie Presse'
tut nichts gegen Bezahlung, wenn nicht auch ein Grund vorliegt,
etwas zu tun. Kürzlich ist aber ein Unglück geschehen, das in
jenen Kreisen, die von der Hoffnung auf die Fideikommiß-
bibliothek leben, panische Verwirrung hervorrgerufen hat. Bis
dahin war die Sache ihren ordnungsmäßigen Weg gegangen,
das Werk kam in die Fideikommißbibliothek, und man trug Geld
in die ,Neue Freie Presse', um am andern Tag in die Kleine Chronik
zu kommen. Eine Kunstmalerin hatte nun neulich gar das Glück,
daß »eine ,Vision' samt Gedicht in die Fideikommißbibliothek
aufgenommen« und dazu mit einer allerhöchsten Spende
belohnt wurde; sie benützte sofort die Spende, um noch zur
.Neuen Freien Presse' emporzusteigen — da geschah das
__ 44 —
Unglück: die Administration steckte die Nachricht in den Inseraten-
teil. Die »Annahme Sr. k. u. k. Apostol. Majestät < steht nun zwischen
Hotelannoncen. Während die Einkäufe der Königin von Griechen-
land unter Hof- und Personalnachrichten stehen. So ist das Leben.
Wer seinen Ehrgeiz an irdische Dinge hängt, wird oft enttäuscht.
Ich trete dem Verein »Flamme« bei!
Die Geschwornen, die über den Fürsten Eulenburg richten
sollten, führten immerhin Namen wie: Lißmer, Vohsen, Wickers-
heimer,Conradi,Tennigkeit, Behtge, Feising, Stahl, Hartmann, Lützow,
Mühlbrecht, Seidemann und Drake. Ich habe mir zu diesem Fall eine
Wiener Geschwornenliste konstruiert, die auf Vollständigkeit
keinen Anspruch erhebt: Leopold Anderle, Lohnf uhrwerker;
Alois Übelhör, Pfaidler; Franz Xaver Kaindl, Gemischtwaren-
verschleißer; Atnbros Mogele, Privatier; Philipp ßösbauer, Reali-
tätenbesitzer; Sebastian Wagner, Kurschmied; Josef Chramosta,
Paramentenerzeuger; Justus Pfanderlik, Hausbesitzer; Peter Maloja,
Rauchfangkehrer; Franz Wögerer, Fleischhauer; M. Deiches,
Produktenhändler; Anton Köckeis, Lehrer; Leopold Neswedba,
Posamentier. (Obmann Deiches). Ergänzungsgeschworne : Mathias
Ühlein, Kunstschlosser; Leopold Speisam, Gastwirt;
Rudolf Fallenböck, Zeichenlehrer; Vinzenz Hadrawa, Tischler;
Eduard Reichle, Kaffeesieder; Franz Edlawy, Viktualienhändler ;
Wendelin Pschierer, Riemer; Adam Sekira, Hausbesitzer; Stefan
Masanetz, Tanzinstitutsinhaber; Aurelius Loquay, Tapezierer;
S. Kantorowitsch, Handelsagent; Leopold Buhwein, Gastwirt;
Engelbert Nicoletti, Bildhauer; Ruppert Schloißnigg, Wagenbauer;
Karl Maria Scheibenhofer, Sei den Warenerzeuger; Sylvester Ruberl,
Zimmermaler; Josef Sigmeth, Glaser; Wenzel Hrnzirz, Bürger.
Das deutscheste Blatt Österreichs, die »Ostdeutsche Rund-
schau', verspricht neu eintretenden Abonnenten »ein schönes
45
lesenswertes Buch« als Prämie. Es handelt sich gewiß nicht um
Rezensionsexemplare, vielleicht aber um Besprechungsstücke, die
die Schriftleitung erhalten hat. Dabei entfährt nun der .Ost-
deutschen Rundschau' der folgende Satz: >4mal 74jährige Abon-
nenten werden als ein ganzjähriges Abonnement angerechnet, wie
auch 2mal V2j'ährige Abonnenten; sohin dergestalt auch die vor-
geschriebenen Prämien erhalten«. Man sieht, daß die Lage der
Deutschen in Österreich in sprachlicher Beziehung noch immer
etwas unbequem ist. Aber die Schriftleitung der »Ostdeutschen
Rundschau' ist besserer Einsicht gewiß nicht unzugänglich. Wenn
sie ihren Satz hier liest, wird sie sagen: Er hat recht; wir hätten
schreiben sollen: >4mal 'Ajährige Bezieher werden als ein ganz-
jähriger Bezug angerechnet, wie auch 2mal V2 jährige Bezieher;
sohin dergestalt auch die vorgeschriebenen Geschenke erhalten«.
So ist es.
Zwei Dinge sind, die ich mit Gleichmut ertrage: tot-
geschwiegen werden und bestohlen werden. Es sind die beiden
Formen, in denen die schlechte Presse ihre Beachtung des Guten
dartut. Das ist nun einmal so und es wäre sinnlos, ein Aus-
nahmsschicksal für sich zu verlangen. Wenn ich das Schicksal
trotzdem immer wieder bespreche, so geschieht es nicht, um mich
über die Art der Presse zu beklagen, sondern um an mir — als
einem reifen Beispiel — die Art der Presse nachzuweisen.
Das Verhältnis ist einfach dieses : ich würde eine Notiz gegen ein
großes deutsches Tagesblatt, die zu schreiben mir eine sachliche
oder künstlerische Notwendigkeit ist, nicht unterdrücken, wenn
ich sicher wüßte, daß das Erscheinen der Notiz einen
Essay des Blattes über mein Buch verhindert. Im Gegenteil würde
mir schon durch eine solche Erwägung das Erscheinen der
Notiz zur inneren Notwendigkeit. Dem großen deutschen
Tagesblatt aber bestimmen andere Motive sein Tun. Es nimmt
Rücksicht auf meine Notiz und unterdrückt den Essay. Meine
Angelegenheiten sind einmal ein Beweis dafür, daß das
Tun und Lassen der Presse nicht Ausdruck ihrer Meinung,
46
sondern ein Mittel ihrer Meinungspolitik sind. Den Offenbarungs-
glauben des Lesers zu zerstören, darin und nur darin besteht
meine Arbeit. Denn die Autorität der Presse kann den unaufhalt-
samen Prozeß der Anerkennung echter Geisteswerte nicht hindern,
aber ungebührlich verzögern. Mein Fall ist bloß das beste Beispiel,
an dem sichdieGeistfeindlichkeitdesJournalismus darstellen läßt. Und
die Beweiskraft dieses Falles wächst mit der Energie meiner Dar-
stellung, denn es ist sicher, daß sich die Wesenslumperei der
Zeitung um so deutlicher zeigt, je deutlicher ich auf sie zeige.
Das geht nun freilich oft über ein erträglich Maß. Daß die große
Tagespresse — auch die reichsdeutsche, die ja ihre Direktive
von Wien bekommt — mein Aphorismenbuch totschweigt, ist ganz
in Ordnung und nicht minder, daß sie das Geschmeiß von
Essayisten, Feuilletonisten und selbst Aphoristen, die von einer Seite
dieses Buches sich mästen werden, tüchtig auflobt. Die Infamie
besteht nur darin, daß sie das Erscheinen meines Buches benützt,
um alles das, was sie über mich sagen könnte, wenn sie wollte,
oder sagen möchte, wenn sie dürfte, über einen beliebigen Ge-
dankensplittererzeuger zu sagen, wie sie deren schockweise in
Deutschland herumlaufen ; daß sie also mir das Maß nimmt, um
einen Haubenstock zu bekleiden. Daß meine Aphorismen, wenn
sie unter anderm Namen erscheinen — was hin und wieder vor-
kommt — ihre Feinschmecker in der Presse finden, ist wirklich
noch das erfreulichere Erlebnis. Wo gestohlen wird, ist eine Be-
rufung auf den Bestohlenen nicht zu verlangen. Aber es gibt eine
Verknüpfung von Stehlen und Schweigen, die unerlaubt ist. Sie
tritt dort ein, wo ein Blatt gewissenhaft genug ist, meine Sätze
in Anführungszeichen zu zitieren, und zugleich geschickt genug,
jeder Verlockung, mich zu nennen, auszuweichen. Da wird
etwa im Wiener , Fremdenblatt' ein Artikel über das Ende des
alten Cafe Griensteidl geschrieben. Dieses alle Cafe ist längst
gesiorben, aber wenn es genannt wird, so erinnert sich der
Wiener Zeitungsleser an meine Satire >Die demolierte
Literatur«. Ich lege jetzt keinen Wert mehr auf diese Schrift,
aber sie hat vor zwölf Jahren das stärkste Aufsehen gemacht, hat
es zu fünf Auflagen gebracht und ist von der gesamten Zeitungs-
kritik fast so laut besprochen worden, wie jetzt über die , Fackel'
47 —
geschwiegen wird, wiewohl ihr letztes Wörtchen jene ganze Schrift
künstlerisch aufwiegt. Nun soll auch das Kaffeehaus gesperrt werden,
das an der Stelle des alten Literaturcafes gestanden ist, und diese
gleichgiltige Tatsache setzt die feuilletonistischen Federn in Bewe-
gung. Ich halte die Betrachtung der Literatur aus der Kaffeehaus-
perspektive heute für wertlos, über alle Maßen lästig und nur
entschuldbar, wenn sie dem Oeist und Witz des Betrachters Ge-
legenheit macht. Das alte Cafe Griensteidl mag es verdient haben,
daß man ihm die Lyriker nachsagte, die aus ihm > hervorgegangen«
sind; heule ist die Figur des Literaturkenners ein peinlicher Feuil-
letonbehelf. Was tut der geistige Pikkolo, der sich im ,Fremden-
blatt' über das Ereignis hermacht? Er krapst nicht nur die sati-
rische Auffassung der Kaffeehausliteratur, wie sie durch die
»Demolierte Literatur« geht, er nimmt ganze Sätze aus jener
Schrift, setzt sie in Anführungszeichen, um nur ja zu bezeugen,
daß er sie vor sich liegen hatte, nimmt Worte, die ich in Umlauf
gebracht, beruft sich noch darauf, daß »die Literatur« schon früher
»demoliert« worden sei, zählt alle möglichen Leute auf, deren Namen
mit der Erinnerung an Griensteidl verknüpft sei, und bringt
es fertig, mich, der Autor und Inhalt seines Feuilletons ist, nicht
zu nennen. M. P. ist der Artikel gezeichnet, der schon zwei Tage
später in reichsdeutschen Blättern mit Lob bedacht wird. »Manu
propria« kann die Chiffre nicht bedeuten. Aber wen oder was sie
bedeutet, ist schließlich gleichgültig, denn solche Jungen sind
jetzt in jeder Redaktion tätig. Das Autorgesetz schützt vielleicht
einen Lokalbericht; Auffassungen, Gedanken, Worte dürfen ge-
stohlen werden. Ich würde nun mein Eigentum gewiß nicht rekla-
mieren, wenn die Diebe bloß an die Schweigepflicht des Diebes
und nicht auch an die des Journalisten gebunden wären; wenn sie
nicht so dumm wären, immer gerade dort zu plündern, wo die Wert-
sache selbst für den Besitzer zeugt, wo jeder Leser in jeder Zeile die Nen-
nung meines Namens erwartet. Mein Protektor beim , Fremdenblatt,
meint,daßnuninden Räumen, indenen einst Dichtersaßen, »zungen-
geläufige Kommis Schnittmuster vorlegen« werden, und wo einst
»blasse Jünglinge Rainer Maria Rilke kopierten, werde man viel-
leicht Kalodont und Zahnbürsten bekommen«. Das wäre so übel
nicht; und schade, daß diese Einrichtung nicht schon bei Leb-
48
zeiten der Literatur getroffen wurde. Und was die zungengeläufigen
Kommis betrifft, so waren sie ja schon längst da, nur unerkannt und
unentdeckt, und hielten sich für Literaten, weil sie Schnittmuster
aus meinen Schriften vorlegten.
»Die Vorstellungen dauern vier und fünf Stunden und die Men-
schen sitzen da dichtgedrängt, atemlos ruhig, wie gebannt vor einem
besonderen Schicksal merkwürdiger Menschen, das da unten spielt und
lebt ... So sitzt man und schaut auf dieses wirbelnde, huschende,
nachdenklich-beschwerte, sorglos-leichte, aber immer kraftvoll bewegte
Leben.«
Solch einen Satz hebe ich mir gern auf, weil man an ihm
den neujournalistischen Stil studieren kann. Eine ganze Horde
von Beobachtern ist in alle Lebensgebiete eingebrochen und jeder
weiß in jedem Bescheid. Die alten Phrasen sind abgetan. Aber
ihr Inhalt war länger lebendig und mußte ehrlicher erworben sein
als der der neuen. Dagegen sind die neuen viel handlicher und
ermöglichen es jedem ohne Unterschied der Begabung und der Kon-
fession, Literatur zu treiben. Vor einer Sache, über die man nichls
sagen konnte, war man ehedem verloren. Jetzt gehts; was man nicht
deklinieren kann, das sieht man als »merkwürdig« an. Welcher
Art sind die Menschen bei Shakespeare? Merkwürdig sind sie!
Das gibt dem Leser zwar nicht einen Begriff von den Menschen
bei Shakespeare, aber dem Kritiker einen Nimbus beim Leser.
Spricht er nun gar von einem besonderen Schicksal merkwürdiger
Menschen, so ist seine Autorität als die eines feinnervigen Erfas-
sers künstlerischer Mysterien gesichert. Nennt er dazu das Treiben
jener Menschen ein »Leben« und zwar sowohl ein nachdenklich-
beschwertes wie ein sorglos-leichtes Leben, so hat er nicht nur
allen Standpunkten, sondern den Besten seiner Zeit genug
getan. Und sicher ist schon, daß jeder Leser den Kritiker, der das
Wort »nachdenklich« gebraucht, für einen Denker halten
wird. Vollends aber bin ich überzeugt davon, daß heut-
zutage jeder Anfänger, der im richtigen Augenblick das Wort
Möglichkeiten« oder »Zusammenhänge« anzuwenden weiß, vom
Chefredakteur das Burgtheaterreferat bekommt, wenn er aber gar
— 49 —
den Plural »Sehnsuchten« kennt, in die Oper geschickt wird, um
über den Tristan zu referieren. Wer die Sache erfunden
hat, weiß ich nicht. Der Urquell des Übels bleibt jener
Heine, der der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert
hat, daß heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können.
Aber der richtige Zug kam doch erst durch die neueren Fran-
zosen ins Geschäft, deren psychologische Technik dank der Ver-
mittlung des Herrn Bahr zu einer unsäglichen Behelligung des
deutschen Geisteslebens erwachsen ist. In den Redaktionen sitzen
jetzt die alten soliden Schmöcke ganz verschüchtert da und
müssen eine Spalte nach der andern den impressionistischen Lauf-
burschen abtreten, die selbst einen Beinbruch jn Stimmung tauchen
und eine Feuersbrunst nicht ohne die allen gemeinsame persön-
liche Note melden. Das Gräßliche an dem Schauspiel ist die
Identität dieser Talente, die einander wie ein faules Ei dem andern
gleichen, die Identität ihrer Leistungen bei verschiedenem Thema.
Wenn der eine den deutschen Kaiser beschreibt, beschreibt er ihn
genau so wie der andere den Bürgermeister Lueger und über die
Ringkämpfer weiß dieser nichts anderes zu sagen als jener über
das »Gänsehäufel«. Immer paßt jedes zu jedem, und die Unfähigkeit,
ganze Worte zu finden, ist ein subtiler Behelf, wenn die halben zu allem
passen sollen. Wenn man will, hat ja sowohl der deutsche Kaiser wie
der Bürgermeister etwas »Brausendes«, und gewiß ist, daß sie »merk-
würdige Menschen« sind. Die Treffsicherheit solcher Behauptungen
wird durch die Präpotenz beglaubigt, alles in einem Entdeckerton zu
sagen, der eine eben erst erschaffene Welt voraussetzt. Oder min-
destens eine Welt, die erschaffen wurde, als der Herr Kohn oder
der Herr Zifferer das Sonntagsfeuilleton bekam. Diese jungen Leute
sehen ein Bad zum erstenmal, wenn sie als Berichterstatter hinein-
geschickt werden. Freilich kommt diese Methode, einen Livingston in
der dunkelsten Leopoldstadt zu zeigen, der Wiener Phantasielosigkeit
zuhilfe, die sich einen Beinbruch nicht vorstellen kann, wenn man ihr
nicht auch das Bein beschreibt. Wenn in Berlin ein Straßenbahn-
unglück geschehen ist, so beschreiben die Berliner Reporter das
Unglück. Sie greifen das Besondere dieses Straßenbahnunfalles
heraus und ersparen dem Leser das allen Straßenbahnunfällen
Gemeinsame. Wenn in Wien ein Straßenbahnunglück geschieht,
— 50 —
so schreiben die Reporter über das Wesen der Straßenbahn, über
das Wesen des Straßenbahnunglücks, und über das Wesen des
Unglücks überhaupt, mit der Perspektive >Was ist der
Mensch?«. Über die Zahl der Toten gehen die Meinungen
auseinander, wenn sich nicht eine Korrespondenz ins Mittel legt.
Aber die Stimmung treffen sie alle; und der Reporter, der als
Kehrichtsammler der Tatsachenwelt sich nützlich machen soll,
kommt immer mit einem Fetzen Poesie gelaufen. Der eine
sieht grün, der andere gelb, Farben sehen sie alle. Man lese einmal
den Stimmungsbericht über eine Parlamentseröffnung in zwei Blättern
nach. Hier ein routinierter Appreteur von Beobachtungen, dort
ein noch ungeübter — aber es ist ein und dasselbe, und wenn
auch der eine den Ministerpräsidenten als Diurnisten, der andere
als Raubritter zubereitet . . . Dem Journalismus handelt es sich nicht
darum, w i e beobachtet wird. Aber dem alten hat es sich immer-
hin darum gehandelt, was, und der neue will nur zeigen, daß
beobachtet wird.
Die in Nr. 279/80 enthaltene Skizze > Nachts« von Tschechow
war der , Fackel' von dem Übersetzer, einem gewissen Paul Barchan
in Berlin, mit dem Vermerk >Nachdruck verboten« und mit der
Versicherung übergeben worden, daß sie >in Deutschland wohl
kaum anderswo zum Abdruck gelangen könnten Die , Fackel'
mußte also an eine eiste Übersetzung glauben; eine zweite hätte
sie nicht veröffentlicht. Nachträglich wurde ihr bekannt, daß die
Skizze bereits in der Zeitschrift ,Das neue Magazin' - im Jahre 1904 -
erschienen war und daß jener Herr, der vor Nachdruck warnte,
zunächst darum gewußt hat. Denn von eben jener Zeitschrift
wurde ihm seine Übersetzung mit dem Hinweis auf den Vordruck
abgelehnt. Die Veröffentlichung einer Skizze von Tschechow muß
die , Fackel' nicht bereuen; aber sie hätte sie nicht erstrebt, wenn
sie über das Vorleben der Übersetzung nur halb so gut informiert
gewesen wäre wie der Übersetzer. Der Verlag der , Fackel' hat ihm
deshalb geraten, sein Honorar den wohltätigen Zwecken des All-
gemeinen Schriftstellervereines zuzuwenden. Nicht ohne daß ich
51
ihm zugleich mein Bedauern aussprechen ließ, daß mit der Er-
schließung der russischen Literatur für ein deutsches Publikum
auch der Zuwachs eines russisch-deutschen Literatentums ver-
bunden zu sein scheine., dessen ethische Eigenart als ein unüber-
setzbarer Rest sich unserem Verständnis entzieht. Die öffentliche
Feststellung erfolgt nun nicht, um die Praktiken des journalisti-
schen Handels an einem Schulbeispiel nachzuweisen, sondern um
dem Vorwurf zu begegnen, daß die , Fackel' in besonderem Fall
mit einem erborgten literarischen Wert geprunkt habe.
Die .Arbeiter-Zeitung' hat sich soeben zu einem Angriff
gegen die ,Neue Freie Presse' aufgerafft, zu einem Angriff auf der
Basis des Zugeständnisses, sie sei »das einzige, das unter den bür-
gerlichen Blättern Haltung und Temperament besitzt«. Freilich,
wie sie totschweigen könne, das mache ihr kein Blatt der Welt nach :
Ihr Totschweigen ist durch keine Erwägung des Taktes, der
Anständigkeit gezügelt. Sie schweigt alle Angriffe tot, die gegen sie ge-
richtet werden, und sie schweigt alle Angreifer tot. Mausetot ; der Mensch,
der sich vermißt, dem Herrn Herausgeber einmal die Wahrheit zu sagen,
ist für sie fertig und die Rachsucht der ,N. Fr. Pr.', der des Gottes Jehovah
gleich, der die Sünde bis ins dritte Glied verfolgt, kennt keine Grenze;
sie beschränkt sich nicht auf den Angriff und Angreifer, sie erfaßt sein
Werk, seine Freunde, seine Partei ; es ist dann wirklich der große Bann,
von dem die rabbinischen Bücher erzählen. Nie wird die ,N. Fr. Pr.'
polemisieren, das hat sie ja nicht nötig und dabei würde ihre Vor-
nehmheit nur Schaden nehmen ; sondern sie schweigt tot . . .
Gibts denn wirklich kein Blatt der Welt, das es der .Neuen
Freien Presse' im Totschweigen nachmacht? Und wie hält es die
.Arbeiter-Zeitung' damit? Und wie stehts mit dem kleinen Bann?
Nein, der Vorwurf, die (Arbeiterzeitung' sei von der , Neuen Freien
Presse' abhängig, war ungerecht. Das sind nicht Bundesgenossen,
das sind Rivalen!
An dem Tage, da Qraf Badeni stirbt, stoße ich in dem brief-
lichen und dokumentarischen Schutt von siebzehn publizistischen
Jahren, den aufzuräumen mich eine Übersiedlung zwingt, auf die
Erinnerungen meiner politischen Zeugenschaft des Jahres 1897.
— 52 —
Wie viel habe ich nicht zu verleugnen ! Aber ich bekenne mich
zu allem, was ich zu gestehen habe. Ich glaube ja nicht, daß ich
damals den Inhalt der Sprachenverordnungen verstand, aber ich
glaube, daß ich in diesem Punkt hinter den deutschen Abgeord-
neten nicht zurückstand. Ich machte die Geste der Empörung mit,
und war vielleicht empörter als die Empörten. Wenn man damals
das Wort »Vergewaltigung« aussprach, glaubte man, sie sei einem
angetan. Die Politik hatte einen reichen Gefühlsinhalt, und wer auch
vom Schachspiel nichts verstand, mußte doch Partei nehmen,
wenn die Spieler einander die Figuren auf den Kopf war-
fen. Ich finde das stenographische Protokoll der letzten drei
Sitzungen der XIII. Session, denen ich beigewohnt hatte. Am 25. No-
vember lex Falkenhayn, am 26. Einmarsch der Polizei, am 27.
Schließung. Erinnere ich mich recht oder ist es eine nach-
trägliche Konstruktion : der Rummel hatte ein Ende, weil der
tschechische Vizepräsident den polnischen Präsidenten mißver-
stand. Der hatte auf die verzweifelte Frage, was geschehen
solle, geantwortet : »Ausschließen!« Und jener verstand : »Haus
schließen !« Das Protokoll ist ziemlich blutarm. Als ob die Revo-
lution zur Geschäftsordnung gehörte, verzeichnet es die Tatsache,
daß ein Abgeordneter »in Begleitung einiger Sicherheitswach-
männer den Saal verläßt«. So glatt verlief die Sache nicht. Die
Wache stieg in die Bänke und zog die Männer wie Strudel-
teig heraus. Der atemlose Augenblick des Einzugs der Wache ist
in dem Satze festgehalten : »Inzwischen ist nach einem anhaltenden
Tumulte, den die auf der Estrade angesammelten sozialdemokra-
tischen Abgeordneten veranstalteten, welche auch die auf den
Tischen des Präsidiums liegenden Mappen und Schriftstücke er-
griffen und in den Saal schleuderten, die Tribüne durch das
über Verfügung des Präsidiums erfolgte Einschreiten der
Sicherheitswache geräumt worden«. Der große Moment hatte
also ein kleines Geschlecht von amtlichen Stenographen ge-
funden. Ich schrieb damals Wiener Briefe für die , Breslauer
Zeitung' :
>. . . Am Mittwoch, den 24. November, wurde im österreichischen
Reichsrat zum erstenmale gerauft. Die polnisch-tschechisch-klerikale
Majorität, welche sich bis dahin mit einer Verletzung der Verfassung,
— 53 —
ja oft sogar blos der Geschäftsordnung begnügt hatte, trat endlich aus
dieser Reserve der Gewalttätigkeit heraus, um nunmehr auch an die
Verletzung der Abgeordneten zu schreiten. Es wurde nachträglich fest-
gestellt, daß die Prügelei nicht der unvermeidliche Ausdruck momen-
taner Erregung, sondern planmäßig vorbereitet war, und daß sich die
Regierung für die Durchsetzung des Ausgleichs-Provisoriums der hand-
festeren Mitglieder des Polen-Klubs versichert hatte . . . Die vom
Präsidenten Abrahamowicz angeordnete Balgerei hatte beinahe eine
volle Stunde gedauert, aber der Regierung doch den erhofften Erfolg
nicht gebracht. Eine Stunde plagten sich etwa fünfzig polnische und
tschechische Lümmel, den Daumen des deutsch-nationalen Abgeordneten
Wolf zu brechen . . Eine kleine Quetschwunde zeugt deutlich von den
Bemühungen des Polen-Klubs, mit einem deutsch-nationalen Abgeordneten
wegen des Ausgleichs-Provisoriums zu verhandeln. Es war also wieder
nichts gewesen. So versuchte man es jetzt, die Gewalttätigkeit in gesetz-
liche Bahnen zu lenken. Der Donnerstag brachte die berühmte lex
Falkenhayn, die es den Abgeordneten der Majorität ermöglichen sollte,
wo ihre eigenen physischen Kräfte nicht ausreichten, die Hilfe der
Polizei in Anspruch zu nehmen . . . Wer Freitag, den 26. November,
auf der Galerie des Abgeordnetenhauses saß, schauerte. Der Atem der
Geschichte ging durch das Haus. Die Pulse stockten und Todes-
schweigen verkündete den Einzug der Polizeiwache in das
Parlament. Aber nur eine kurze Minute währte das Entsetzen,
mit dem uns das Wittern des Historischen umfing. Es löste sich in
ein tosendes, schmerzvolles, erschüttertes und erschütterndes >Pfuü«,
in das die zu Stillschweigen verurteilte Galerie der Zuschauer ausbrach.
Erst ein Schauer, dann die Empfindung und endlich mit dem Sich-
hineinfinden in das Gegenwärtige, mit dem Begreifen der Tatsachen
die Entrüstung, die hellodernde Entrüstung, die sich mit so unheim-
licher Rapidität von den Galerien des Abgeordnetenhauses auf die
Straße verpflanzen sollte. Eine endlose Schlangenlinie von hundert
schwarzen Mänteln und ebensovielen blinkenden Pickelhauben zog sich>(
um die Tribüne. Eine Mauer war um die Minister und um das Prä-
sidium gestellt. Später entfernte sie sich, und eine kleinere Abteilung
von Polizisten ward nur mehr dann in den Sitzungssaal gerufen, wenn
es galt, an einen Volksvertreter Hand anzulegen. Von Fall zu Fall
sah man durch die Türscheiben etwa zwanzig Polizisten den Saal um-
zingeln und sich durch die Couloirs jener Reihe nähern, in welcher
der bezeichnete Abgeordnete stand. Ich glaube, daß an diesem Tage
im ganzen vierzehn Abgeordnete an Kopf und Füßen aus dem Saale
geschleift oder getragen wurden . . . Der Tag, der mit der sieghaften
und blitzartigen Attacke der Sozialdemokraten auf das Präsidium begonnen
hatte, brachte grauenhafte Einzelheiten, die von dem Gehirn des Augen-
zeugen für alle Zeit Besitz ergriffen haben . . . Von Freitag Vormittag
bis Sonntag Abend gährt es in Wien, die teilnahmsloseste Bevölkerung
der Welt ist auf den Beinen und bereit, die Mißhandlung ihrer Reprä-
54
sentanten zu rächen. Nach der Obstruktion der Radikalen beginnen
am Samstag die Staatsmänner der deutsch-fortschrittlichen Partei zu
toben, Gelehrte hämmern mit Briefbeschwerern auf die Tische der Minister,
werfen Papierkugeln, Broschüren und Tintenfässer auf den Präsidenten und
verjagen ihn mit Pfeifen und Trompeten. Wolf, der die gestern über ihn
verhängte Ausschließung ignoriert hat und auf unerklärliche Weise in den
Saal gelangt ist, wird gewaltsam entfernt, wobei es die aufgebotene
Wache, welche diesmal über die Bänke steigt und den Abgeordneten
aus seinem Sitze förmlich heraushebt, besonders auf seinen verbundenen
Daumen abgesehen hat. Der Abgeordnete wird auf den Schultern der
Wachleute hinausgetragen und in das Landesgericht eskortiert.
Stürmische Demonstrationen sind die Folge und der bang erwartete
Sonntag bringt blutige Attacken der berittenen Polizeiwache und der
Husaren gegen Arbeiter und Studenten. Sonntag 6 Uhr abends werden
die Wachleute höflicher und verkünden auf den Straßen und in den
öffentlichen Lokalen: Wir haben den Auftrag, mitzuteilen, daß der
Ministerpräsident Graf Badeni aus seinem Amt und der Abgeordnete
Wolf aus der Haft entlassen ist. Auf allerhöchsten Befehl wird sogar
eine Bestimmung des Preßgesetzes übertreten, es ist Sonntag und Extra-
Ausgaben des Amtsblattes verlautbaren die kaiserliche Entschließung.
Man schwelgt in Befriedigung über die mit einem Mal geänderte
Situation und empfindet die Genugtuung, daß der Weg von den Ereig-
nissen der Straße nach oben und wieder zurück von oben auf die Straße
diesmal in zwei Stunden zurückgelegt war. Eine dumpfe Woche ist
zu Ende, man illuminiert und bevor man sich den Befürchtungen betreffs
der neuen Regierung hingibt, will alles noch einmal aufatmen.«
Diesem Wiener Brief war eine > Nachschrift vom Nord-
bahnhof, 3. Dezember, 3/4l0 Uhr abends« angeschlossen, in
der mitgeteilt war, daß das Manuskript mit demselben Zuge nach
Breslau gehe, der den Grafen Badeni auf sein Out Busk in
Oalizien befördere . . . Das beste Wort hat damals ein Sicher-
heitswachmann gesprochen. Ich hatte mich nach dem Schluß der
letzten Sitzung in den leeren Korridoren des Hauses verirrt und
fand irgendwo eine vergessene Abteilung von Polizisten, die auf
eine Order zu warten schien. Auf die Frage nach dem Ausgang
erwiderte einer der Leute: »Pardon, das wissen wir nicht, wir
sind hier nicht zu Hause !« . . . In späteren Jahren, da mir die öster-
reichische Politik von allen Gefühlen nur mehr das des Ekels ließ,
verfing sich mir die Erinnerung an jene Zeit in der Vorstellung,
daß die Polizei entweiht wurde, weil sie den Boden des Parlaments
betreten hat.
— 55 —
Die Sommerplage jeder Großstadt sind die Bauerntruppen,
und so wie Wien alljährlich von den Schlierseern und von den
Tegernseern heimgesucht wird, so produziert sich in Berlin, sobald
es heiß wird, die Truppe vom Starnbergersee. Der derbkomische
Milchmeier Riedl, der auch hinter den Kulissen die Qerichtsdiener
mit seinen Lazzi erheitert und den Berichterstattern »Guten Tag,
Herr Reporter!« zuruft, und der FischerjackI, der als sentimentaler
Liebhaber einer Durchlaucht immer wieder erzählen muß, was
gewesen ist, und der hauptsächlich die Erkenntnis bestätigen
kann, daß aus Lustknaben nicht Lustgreise werden. Diese abgrün-
dige Scheußlichkeit einer Gerichtsprozedur, die beweisen will,
daß die Vergangenheit der podex der Gegenwart ist, dieser kon-
frontierende Pöbelsinn, diese beispiellose Pein, eine Fürstin
und ihre Söhne in der hirschledernen Zeugenschaar zu sehen,
hundertmal beklemmender noch als der Anblick des Sterbenden,
dem Paragraphen angesetzt werden, — die deutsche Schmach
hätte sich auch in diesem Sommer abspielen sollen. Weil Herr
Harden bewiesen haben will, daß am Fürsten Eulenburg der
»Ruch der Männerminne« hafte. Unter den Zeugen ist wieder der
»Rentier Schwulst« da, der aber Wert darauf legt, für kein Pseudonym
des Herausgebers der ,Zukunft' gehalten zu werden. Herr Harden ist
der »Verletzte« in dieser Rechtssache. Aber der Tod ist Nebeninter-
venient, er hat sein Erscheinen rechtzeitig angemeldet und diesen
ganzen appetitlichen Gerichtshof wieder einmal auseinander ge-
jagt. Nicht ohne daß vorher Richter, Staatsanwalt und Ge-
schworne einem lebendigen, eben noch lebendigen Fürsten den
Puls abgreifen durften. Pfui Teufel, in was für Situationen einen
Botschafter das Unglück bringen kann ! Nach diesem viehischen
Auftritt enunziert der Gerichtshof die Vertagung, mit der Be-
gründung, daß »wir Richter auch Menschen sind«. Man muß die Be-
griffe eben auseinanderhalten, um einer Verwechslung vorzubeugen.
Vorher hatte ein Geschworner sich geweigert, mitzutun. Vorher
war um die Frage gerauft worden, ob der Fürst den Atem will-
kürlich eingehalten habe. Vorher hatten die medizinischen Kapazitäten
zugeben müssen, daß sie durch ein leichtfertiges Wort, das bloß die
Deutung des Vorwurfs der Simulation zuließ, dem Angeklagten Un-
recht getan hatten. Vorher war der ganze Lügenplunder des Herrn
- 56 —
Harden, der dem Fürsten Eulenburg die Arterienverkalkung nicht
gönnen will und die Herzfleischentartung nicht in dem Bereich
des erweislich Wahren duldet, in die Luft gegangen . . . Der
Fürst wurde auf eine Tragbahre gelegt, die Fürstin zog ihren
Mantel aus und bettete ihn ihrem Gemahl unter den Kopf. »Als
die Tragbahre aufgehoben wurde, hielt der Fürst sich seinen Hut
vors Gesicht.« Der Pöbel von Moabit hatte keine Gelegenheit,
ihm den Puls zu fühlen. Wilhelm der Zweite überläßt ihn der Pein.
Er, der die geistige Persönlichkeit Eulenburgs banalisiert und aus
dem Freund Gobineaus den Sänger Ägirs gemacht hat. Der Gast-
freund von Liebenberg hält Siesta. Über dem Gerichtstisch hängt
das Bild Friedrichs des Großen. Im Namen dieses Königs von
Preußen würde Fürst Eulenburg nicht verurteilt werden!
Karl Kraus.
Detlev von Liliencron
»Wer das Leben kennt und trotzdem liebt,
der muß ihn lieben. Keiner vor ihm hat es so
als buntes Spiel begriffene
Richard Dehmel
Herausgeber nnd verantwortlicher Redakteur: Karl Kr ans
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintefe Zollamtsstraße 3
Nr. 287 16. September 1909 XL Jahr
üe Fackel
Herausgeber:
KARL KRAUS
INHALT:
Die Entdeckung das Nordpols. Von Karl Kraus.
— An den -unbekannten Freund. Von Karl Borro-
raaeus Heinrich. — Aphorismen. Von Karl Kraus.
— Heilig ist die Leidenschaft! Von Karl Hauer.
— Meine Schriften. — Begräbnis. Von Detlev von
Liliencron.
Erscheint in zwangloser Folge
Preis der einzelnen Nummer 30 Heller
Nachdruck und gewerbsmäßiges Verleihen verboten; gericht-
liche Verfolgung vorbehalten
WIEN- BERLIN
Verlag ,DIE FACKEL', III. Hintere Zollamtsstraße 3
Berliner Bureau : Haiensee, Katharlnenstraße 5
Im Verlag Jahoda & Siegel, Wien,
11/ 2, Hintere Zollamtsstraße 3 erschien
oeben:
KARL KRAUS
von ROBERT SCHEU
MrjiT. EINEM BILDNiS)
40 SEITEN 80, broschiert
Preis 80 Heller (80 Pf.)
Durch alle Buchhandlungen, durch das Berliner Bureau
der .Fackel*, oder direkt durch den Verlag gegen
Voreinsendung des Betrages zu beziehen
In demselben Verlag erschien:
Erinnerungen aus meinem Leben
Von JOSEF SCHÖFFEL
INHALT: Meine Jugend - Beim Militär — Vom Wiener Wald
— Im Reichsrat — Meine Tätigkeit als Bürgermeister
— Im niederösterreichischen Landesausschuß
Preis: gebunden K 5.—, geheftet K 4.—
Durch alle Buchhandlungen oder direkt durch den
Verlag zu beziehen
Dm Fackel
Nr 287 16. SEPTEMBER 1909 XI. JAHR
Die Entdeckung des Nordpols
Von Karl Kraus
Die Entdeckung, oder wie sie auch genannt
wurde, Eroberung des Nordpols fiel in das Jahr 1909.
Sie war das Werk eines kühnen Amerikaners und
wurde mit umso größerer Genugtuung begrüßt, als
in demselben Jahre durch die Abtretung so vieler
Amerikanerinnen an die chinesischen Kellner das
nationale Ansehen eine empfindliche Einbuße erlitten
hatte. Aber nicht nur in Amerika, nein, in der ganzen
Welt fühlte sich das kulturelle Selbstbewußtsein
gehoben, man begann wieder Mut zu fassen
und einer Vorsehung zu vertrauen, die durch die
Entdeckung des Nordpols die zivilisierte Mensch-
heit offensichtlich für die unerfreulichen Ent-
deckungen derselben Saison entschädigen wollte. Ein
einziger Missionär der Wissenschaft, der gesund von
den Eskimos wiederkehrt, ist reichlicher Ersatz
für ein Dutzend Porscherinnen des Glaubens, die im
Chinesenviertel zurückbleiben, und man nahm es
dabei nicht als Zufall, sondern als eine besondere
Aufmerksamkeit des Schicksals, daß gerade der
deutsche Stolz wieder an der Eroberung des Nord-
pols durch einen Mann, der früher Koch geheißen
haben soll, beteiligt war, wie im andern Sinne an
der Ermordung der Elsie Siegl. Man schwankte keinen
Augenblick, welches von den beiden das größere
Ereignis sei, hatte doch dieses vor jenem allein schon
die Annehmlichkeit voraus, daß man endlich wieder
das Maul aufreißen konnte. In diesem Punkte mußte
man es geradezu als Erholung empfinden. Denn als
die Kunde in die Welt ging, daß die gelbe Gefahr
der Geschmack der weißen Frau sei, da wurde —
— 2
unseliges Farbenspiel! — der weiße Mann noch
weißer, da hatte er eben noch die Geistesgegenwart,
die Moral hervorzuziehen, nicht ahnend, daß gerade
sie es war, die ihn so weit gebracht hatte, und nun
stritten Scham und Furcht um den Vorrang, der
Welt den Mund zu schließen. Es entstand jenes eisige
Schweigen, in das endlich der erlösende Ruf drang:
Der Nordpol ist entdeckt!
Da war es, als ob das Weiß dieser Region der
gefundene Hintergrund gewesen wäre, auf dem das
Antlitz der weißen Kreatur wieder Farbe bekam,
und die erstarrte Welt belebte sich, erwärmte, taute
auf an der Erkenntnis, daß die Eskimos doch bessere
Menschen sind. Man muß nur, so hieß es, ihre Sprache
verstehen, ihnen etwas mitbringen oder in die Hand
drücken, so zeigen sie dem Fremden bereitwillig den
Weg zum Nordpol. Von ihnen war noch etwas zu
hoffen, von den Chinesen alles zu fürchten. Die geben
keine Auskunft, wenn man sie nach der Entwicklung
fragt, und grinsen nur, wenn ein höflicher Ausländer
sich erkundigt, wer von ihnen seine Frau ermordet habe.
Im Jahre 1909 war es, daß die christliche Kul-
tur vor dem Osten zu retirieren und sich nach dem
Norden zu konzentrieren begann. Ja, man baute auf die
Eskimos. Denn nicht nur als einen Ausweg aus der
Verlegenheit, sondern auch als die Erfüllung eines
alten Herzenswunsches empfand man die Entdeckung
des Nordpols. Seit Jahrhunderten hatte der Mensch-
heit, die immer vorwärts schritt und sich trotz den
Hühneraugen des Fortschritts nicht Ruhe gönnte,
ein letztes Etwas zu ihrem Glücke gefehlt. Was war
es nur? Wovon fieberten Tage und Träume? Was
hielt eine Welt in Atem, deren Puls nach Rekorden
gezählt ward ? Was war das Paradigma aller Begehr-
lichkeit? Der Trumpf der Streberei? Die Ultima
Thule der Neugierde? Der Ersatz für das verlorene
Paradies? Die große Wurst, nach der auf dem irdi-
schen Jahrmarkt die Wissenschaft alle Schlittenhunde
hetzte ? Ach, es litt die Menschheit nicht beim Tag-
— 3 —
werk: der Gedanke, daß da oben noch ein paar
Q uadratmeilen waren, die ein menschlicher Fuß nicht
betreten hatte, war unerträglich. Freudlos wie der
Fleck, den es endlich zu finden gelang, war das
Leben, solange er nicht gefunden war. Es war eine
Blamage, daß wir, denen die Welt gehört, uns ihr
letztes Badchen vorenthalten lassen sollten. Wir
schämten uns seit der Entdeckung Amerikas und
hofften all die Zeit, daß Amerika sich erkenntlich
zeigen werde. Es war keine Lust, in einer Welt zu
leben, über die man nicht vollständig orientiert war, und
mancher Selbstmord aus unbekanntem Motive geschah
vielleicht, weil es auch auf Erden noch ein unentdecktes
Land gab, von dess Bezirk kein Wanderer wiederkehrte.
Und in der Kinderstube der Menschheit scholl der Frage :
was möchtest du werden? immer wieder die Antwort
entgegen: Entdecker des Nordpols I Aber das Kind
lernt die Ideale ablegen, während der Mensch die
kurzen Hosen nicht austrägt. Er muß wirklich den
Nordpol haben! Wenn es schon seine Lieblings-
vorstellung ist, daß der Nordpol entdeckt wird, so
genügt sie ihm nicht: er drängt auf Erfüllung. Und
undankbar wie der befriedigte Idealist nur sein kann,
zögert er nicht, der jungfräulichen Natur die Achtung
zu versagen, sobald sie seiner Werbung sich ergab.
Ich war enttäuscht! rief Herr Cook, und nannte das
Idol der Menschheit einen freudlosen Fleck. Denn
an dem Nordpol war nichts weiter wertvoll, als daß
er nicht erreicht wurde. Einmal erreicht, ist er eine
Stange, an der eine Fahne flattert, also ein Etwas,
das ärmer ist als das Nichts, eine Krücke der
Erfüllung und eine Schranke der Vorstellung. Die
Bescheidenheit des menschlichen Geistes v ist uner-
sättlich.
Die Entdeckung des Nordpols gehört zu den
Tatsachen, die sich nicht vermeiden ließen. Sie ist
der Lohn, den sich die menschliche Ausdauer selbst
erteilt, wenns ihr schon zu lange dauert. Die Welt
brauchte einen Nordpolentdecker, und wie auf allen
Gebieten sozialer Betätigung entschied auch hier
weniger das Verdienst als die Konjunktur. Nie^-war
der Zeitpunkt günstiger gewählt als in i jenen Tagen,
da der Geist zur Erde strebte und die Maschine sich
zu den Sternen erhob, da der entseelte Fortschritt
in der Begleitung einer lustigen Witwe zu Grabe
ging. Als auf Erden nur mehr jene Witze verstanden
wurden, die aus dem gemeinsten Stoff geschnitzt
waren, da geschah die Entdeckung des Nordpols. Sic
ist ein wirksames Extempore einer abgespielten Ent-
wicklung. Sie geschah und schlug ein. Man brauchte
einen Nordpolentdecker, und er war da. Um keinen
Preis der Welt hätte sich die Welt ihn ausreden
lassen, sie, die die vollzogenen Tatsachen liebt und
über den Zweifeln der Wissenschaft mit der Be-
ruhigung schlafen geht: Seien wir froh, daß wir
einen Nordpolentdecker haben! Eine rationalistische
Kindsfrau ist es, die dem Lieblnig den Zinnsoldaten,
den er umklammert hält, mit der Motivierung zu
entreißen sucht, er könne nicht marschieren. Muß man
den Nordpol entdecken können, um den Nordpol zu
entdecken? Aber die Zweifel der Wissenschaft gehören
zum Kinderspiel, das sie zu stören suchen. Als
Herr Cook erzählte, woher er komme, vollzog sich
die Teilung der Welt in Idealisten und Skeptiker.
Nie zuvor hatte es so viele Vertreter beider
geistigen Richtungen gegeben! . Und sie waren
einander wert. Die Idealisten, das waren vor allem
die Männer, die die Leitartikel zu schreiben und
dafür zu sorgen hatten, daß -der letzte langohrige
Abonnent und treue Esel unseres Blattes die Würde
des Zeitgenossen zu trägen bekam. Die Skeptiker,
das waren die Männer der Wissenschaft, also die
Herren von .der Nordpolkonkurrenz. Denn wie auf
allen Gebieteji sozialer Betätigung entscheidet auch
hier — mit einem Wort, die Idealisten waren die
sympathischere Partei. Es war erhebend, als ihr Führer,
der Redakteur vom Börsenteil, begeistert ausrief, die
Entdeckung des Nordpols sei eine Angelegenheit,
die jeden einzelnen angehe; als er sie einen mora-
lischen Gewinn der Menschheit nannte und den Idealis- '
inus pries, der in dieser von materiellen Interessen
beherrschten [ Welt doch noch stecke. Leider besann er
sich wieder uad fing an, sich um das. allerletzte noch
ungelöste Probjem eines arrivierten Zeitalters zu
bemühen, das da lautet: Wem gehört der .Nordpol?
Der Generalstaatsanwalt von Washington ' nämlich
hatte in dieser Situation sofort getan, was Staats-
anwälte immer und mit einer Reflexbewegung zu
tun pflegen: er hatte den Nordpol beschlagnahmt. Der
Idealist vom Börsenteil aber meinte, das gelte nicht,
sondern die Okkupation müsse »effektiv« sein, und be-
gann von der Zeit zu träumen, wo der Zinsfuß die
Region des ewigen Eises betreten wird. Die Skeptiker
waren aber auch nicht faul und verlegten sich
darauf, das Vorleben des Herrn Cook zu erforschen,
da sie einsahen, daß*' zu den größten menschlichen
Schwierigkeiten neben der Erreichung. des Nordpols der
Beweis des Gegenteils gehört. Jenes Geschäft, das.
den meinten Kredit beansprucht und ihn am leich-
testen erhält, ist daä des Nordpolfahrers, und auf
keinem Gebiet hat die Wissenschaft so jnNfcföit,
populären Strömungen und günstigen Wijideif l!u
rechnen wie auf diesem. Es gibt '• Zeiten , wo
die Angabe, den Nordpol erreicht zu haben, jpiire
GeViietat ist, neben "der die Erreichung des ' Nölmpols .
nur mehr als Pleißaufgabe in Betracht kommt,' und
<vp die Behauptung, man sei aus Christiania einge-
troffen, Skeptiker findet, und die Versicherung, man
kpumie vorn Nordpol, Idealisten. Da ist**s denn
'auch vergebene Mühe, im arktischen Vorleben' eines
menschen eine dubiose Besteigung des Mourit -Mac/
Kinley zu entdecken, und nichts wäre imstande,
der Welt den Nordpolfahrer zu entreißen, den sie
einmal hat.
Erst wenn ihrer zwei sind, wird .die Dummheit
mißtrauisch. Und das Mpt der Anfang der Politik.
Die Grenze, welche • die/1* Idealisten von 'den S^ep-
6 —
tikern trennt, verwischt sich, und es bilden sich
zwei zielbewußte Parteien, von denen die eine auf
Cook, die andere auf Peary schwört, nein, wettet,
und vom erledigten Problem des Nordpols erhebt sich
der menschliche Geist in die Höhe des welthistorischen
Turfskandals. Die Duplizität der Katastrophen ist
eine wohltätige Einrichtung, die dem Fassungsvermö-
gen der Gehirne entgegenkommt, indem sie ihnen
Zeit läßt, selbst noch das Ahl des Erstaunens zu
buchstabieren. Doppelt hält besser, meinte das gut-
gelaunte Schicksal, als es mit dem Helden bei der
Pesttafel anstieß und ihm zu verstehen gab, daß er da
oben ein Rendezvous versäumt habe. Entgeistert stand
Herr Cook. Entgeistert stand die Zeitgenossenschaft
vor einer Kühnheit, die dem Gedanken des unlauteren
Wettbewerbs bis in die Region des ewigen Eises
Bahn gebrochen hat, dorthin, wo der Mensch auf die
Vorräte eines andern angewiesen ist und die Benützung
fremder Eskimos und Hunde anfängt. Aber allmählig
gewann Überlegung die Oberhand und das Volk ent-
schloß sich, die Lorbeern so zu verteilen, daß es einem
der beiden Männern unbedingt die Priorität des Nord-
polerfinders zuerkannte.
Hätte Pearys Leistung noch auf den Jubel
rechnen können, den Cooks Behauptung eingeheimst
hat? Die Ehren, die man für ihn noch übrig hatte,
waren Lampions neben den Flammen der Begeisterung,
die ein aktuelles Wort entzündet hat. So setzt die Welt
das Verdienst, den Nordpol erreicht zu haben,
auf das verdiente Maß herab. Man hatte sich
ja für die Sache begeistert, nicht für die
Person. Ob Herr Cook den Sieg davontrug, den Herr
Peary errang, ob sich einer zu Unrecht einer Gunst
rühmte, die ein Anderer genossen hatte — der gute
Ruf des Nordpols war dahin. Das Ideal war erledigt,
und alles Interesse gehörte jetzt dem wissenschaft-
lichen Raufhandel. Herr Cook war unehrlich genug,
seinem Nachtreter Prosit! und Herr Peary ehrlich
genug, seinem Vorläufer Pfui Teufel! zuzurufen. Herr
— 7
Cook war so loyal, jede Nordpolentdeckung nach der
eigenen zu glauben. Er hatte längst das seine getan,
den unerläßlichen wissenschaftlichen Beweis zu er-
bringen, denn er hatte sich nicht damit begnügt, zu
versichern, daß er kein Schwindler sei und die Bitte
hinzuzufügen, daß man ihm dies glauben möge, weil
man ihm dann auch die Entdeckung des Nordpols
glauben würde. Er hatte sich nicht damit begnügt,
Proben einer feuilletonistischen Begabung zu erbrin-
gen, die auch den nüchternsten Zeitungsleser davon
überzeugen mußte, daß er wirklich den »Gipfelpunkt
der Erde« erklommen habe. Nein, er hatte ein übriges
getan und die Skeptiker geradezu aufgefordert, selbst
nach dem Nordpoi zu gehen ! Auf eine solche Antwort
waren sie nicht gefaßt und horchten auf. Am
Nordpol, hatte er gesagt, werde man eine Plagge — eine
amerikanische Plagge aus chinesischer Seide — finden
und unter ihr vergraben eine Metallröhre, in der
er eine Urkunde über seine Expedition deponiert
habe. Da wagte sich nur mehr die schüchterne Präge
hervor, ob denn das Eis auf dem Nordpol nicht treibe.
Dies sei natürlich der Fall, sagte der Forscher,
aber er habe sich ja über alles bereits zur Genüge
ausgesprochen. Was das Eis auf dem Nordpol treibe,
das, wollte er sagen, gehe ihn nichts an, und er hatte
wahrlich recht. Denn auf diese Erklärung hin rief das
Volk Hurra 1, selbst Frau Cook zweifelte nicht mehr,
sondern ließ telegraphieren: »Ich wußte, daß es
ihm gelingen würde; er war so fest davon über-
zeugt, als er abfuhr, ich wußte, es konnte ihm
nicht mißlingen«, und ein Varietödirektor bot dem
Forscher für zehn Wochen 16.000 Mark. Da aber ein
amerikanischer Verleger für eine Depesche das
Doppelte bot, so meinte Herr Georg Brandes,
Cook wäre ein Narr, wenn er zum Variete* ginge.
Von dieser Seite hatten die Idealisten den Nord-
pol noch nicht betrachtet und schon begann das
liberale Weltblatt, das mein Freund von der
Börse leitet, sich für die Familienverhältnisse des
Entdeckers zu y^tey^ssieren. Frau Cook, hieß es
zuerst, habe mit ihm seinen Ehrgeiz und ihren Reich-
tum geteilt. Eine andere Meldung entrollte ein düsteres
Farailienbild. Die Frau hatte während der Abwesen-
heit des Gatten mit materiellen Schwierigkeiten zu
kämpfen undmußte Wertgegenstände und Kunstobjekte
verkaufen, um sich und ihre Kinder zu ernähren,
während der Hallodri den Nordpol entdecken ging.
Nun erreichte ihn sein Schicksal. Frau Peary, so
wurde gemeldet, hat ihm die Fähigkeit wissenschaft-
licher Messungen abgesprochen, und wenn nicht im
letzten Moment Frau Rasmussen für ihn Partei er-
griffen hätte, die Nachbarinnen der arktischen Zone
hätten ihm die Nordpolentdeckung nicht geglaubt. Über-
haupt kamen da nette Dinge zur Sprache. Von Herrn
Peary hieß es, er habe die Geschmacklosigkeit begangen,
zu viele Begleiter zuzulassen, und er sei nur deshalb
nicht als erster hinaufgelangt, weil er seine Frau und
eine Hebamme zum Nordpol mitnahm. Als dann das
Kind kam, fehlte es freilich an der Amme. Herr Cook
war auch hierin gewitzter. Er brauchte keine Amme,
er wußte, daß man ihm die Erzählungen vom Nordpol
auch so glauben werde, und fand sogar einen Ver-
leger, der ihm anderthalb Millionen Mark dafür bot.
In der Fülle gewinnender Züge, die uns an
dem Familienleben zweier Polarforscher teilnehmen
ließen, darf aber die Ansprache nicht vergessen
werden, die die Frau Peary vom Balkon ihrer Villa
an die Kurgäste eines Seebades hielt und in der sie
ihre Absicht kundgab, ihren Mann fortan für sich
allein zu behalten. Damit schien wenigstens die Frage,
wem der Nordpolentdecker gehört, für alle Zeiten
entschieden. Doch wie hart klingt auf so rührendes
Bekenntnis aus einem Frauenmund die Rede, die ein
Kontre- Admiral plötzlich vernehmen ließ : Herr Peary sei
der größte Schwindler, den Amerika je hervorgebracht
habe. Also auch hier wieder zwei, die um die Palme
ringen? Wer hat zuerst den Nordpol nicht entdeckt?
Man fängt ernstlich an, sich nicht mehr auszukennen,
9 —
und hofft täglich von der Wissenschaft das ent-
scheidende Wort zu hören. Denn die Wissenschaft liest
genau, was in den Zeitungen steht und achtet auf alle
Widersprüche, um sie sich anzueignen. Sie gibt Gut-
achten ab, sobald ihr ein erfundenes oder entstelltes
Telegramm unter die Nase gehalten wird, sie fühlt
sich vor dem Reporter verantwortlich, und sie weiß, daß
sie wirklich nicht den Nordpol erreicht haben muß,
um zu Ehren zu kommen, sondern bloß die unwirt-
liche Gegend einer Nachtredaktion. Und nur einem
glücklichen Zufall hat es die Welt zu verdanken,
daß von der Wissenschaft die Meldung nicht ap-
probiert wurde, Herrn Cook sei es gelungen, »eine
von Wilden reich bevölkerte Gegend zu ent-
decken <. Diese Meldung stand in einem von der
Wissenschaft weniger gelesenen Blatte, während in
dem führenden Organ der Wissenschaft die richtige
Fassung zu lesen war, daß die Expedition »ein wild-
reiches Gebiet entdeckte habe. Und das muß wahr
sein, denn das hat schon Jules Verne behauptet.
Trotzdem kann sich auch die Wissenschaft bei einer
so schwierigen Materie, wie es der Nordpol ist, und
angesichts des Umstandes, daß er vor den Herren
Peary und Cook bestimmt noch nicht entdeckt war, nur
darauf einlassen, Kredit abwechselnd zu geben oder zu
entziehen. Unbeirrt steht sie auf dem Standpunkt, sie sei
nicht geneigt, sich mit zwei Eskimos und einer Fahne
aufs Treibeis führen zu lassen. Denn noch unverläß-
licher als die Fahne seien die Eskimo3. Herr Cook
hatte sich auf die Herren Itukisut und Avila als
Tatzeugen für die Entdeckung des Nordpols berufen,
und sie sollten wie die leibhaftigen Schacher sein
Martyrium umrahmen, als die Frage laut wurde : Was
ist Wahrheit? Dem Einwand des Herrn Peary, daß
die Eskimos bekanntlich lügen, hatte er heftig gewehrt.
Als nun Herr Peary depeschierte, die beiden Be-
gleiter Cooks hätten ihm gesagt, daß er keine
nennenswerte Entfernung in nördlicher Richtung
zurückgelegt habe, da blieb Herrn Cook nichts übrig,
- 10 —
als sich auf das Axiom zu berufen, daß die Eskimos
lügen, nachdem es Herr Peary bereits für ein Vorur-
teil erklärt hatte, und wieder standen wir vor der
Frage: Was ist Wahrheit? Denn das ist das spezi-
fische Geheimnis dieses Geheimnisses, daß die Mitter-
nachtssonne nicht jeneist, die es an den Tag bringt.
Sie scheint beiweitem nicht so sehr der Wahrheit
förderlich wie der Grobheit. Während nämlich Herr Cook
noch vorgab, er sei stolz auf Peary, riet diesem schon
ein anderer Arktiker, er möge das Maul halten. Ob aber
Herr Cook ein Proviantdieb oder Herr Peary ein
Koffereinbrecher sei, darüber ließ man die ge-
lernten Geographen sich die Köpfe zerbrechen, und
das Bezirksgericht sollte entscheiden, wer den Nord-
pol entdeckt habe. Mochten diese Instanzen zusehen, wie
sie zwischen Ehrendoktorat und Ehrenbeleidigung die
Wahrheit fänden. Die Idealisten verhielten sich zu
dieser Seite des Nordpols ablehnend. Die ganze Affäre,
deren tägliche Wendungen die Satire des Vortags be-
stätigten, versprach keine Überraschungen mehr. Man
hatte den Nordpol satt bekommen. Und nie zuvor war
ein Sturz aus allen Himmeln so jäh und schmerzhaft
erfolgt. Man war zu einem Fest der Menschheit ge-
laden und es verlief zum Familienkrakeel, bei dem
die Heroen einander die Ideale an den Kopf warfen.
Eine Kirchweih hatte mit einer Prügelei der
Heiligen geendet. Das Volk stob auseinander, der
Nordpol war eine so kompromittierte Sache,
daß niemand mit ihm zu tun haben wollte, nicht
einmal der Präsident der Vereinigten Staaten, und
vielfach begann sich bereits die Aufmerksamkeit dem
Südpol zuzuwenden . . . Die Wissenschaft wird einen
letzten Versuch machen und ihre Schiedsrichter ent-
senden. Sie werden hoffentlich feststellen, daß es
einen Nordpol wirklich gibt, weil sie ihn vom Hören-
sagen kennen, und er wird froh sein, wenn er mit
heiler Haut aus dieser Affäre herauskommt, dieser
selbstzufriedene Punkt, von dem aus überall Süden
ist und überall Gemeinheit, ein freudloser Fleck, seit-
dem er mit menschlichen Dingen in Berührung kam.
— 11 —
Denn es steht geschrieben, daß die Welt größer
wird mit jedem Tag. Ist sie im Innern so befrie-
digt, daß sie auf Eroberungen ausgehen kann? Oder
führt sie nicht eben der innere Feind, die Dumm-
heit, auf diesen Pfad? Die Presse, der Kropf der Welt,
schwillt von Broberungslust, platzt vor den Errun-
genschaften, die jeder Tag bringt. Eine Woche hat
Raum für die kühnste Klimax menschlichen Ex-
pansionsdranges: von der Eroberung Niederöster-
reichs durch die Tschechen über die Eroberung der
Luft zur Eroberung des Nordpols. Kombinationen sind
nicht ausgeschlossen und wenn nicht Herr Cook das
Wort gehabt hätte, so wäre der Nordpol sicher vom
Zeppelin durch die kaum eroberte Luft erobert worden.
Die allgemeine Bereitschaft zum Maulaufreißen findet
sozusagen ein noch nicht dagewesenes Entgegenkom-
men bei den Ereignissen, und mit der Dimension der
Bewunderung wächst die Dimension der Tatsachen,
bis im Wettlauf den Gaffern wie dem Schicksal der
Atem ausgeht. Und ein Hinauflizitieren aller Werte
und Bedeutungen hebt an, von dem sich jene
keine Vorstellung machen könnten, die einst wert
und bedeutend waren. Der größte Mann des Jahr-
hunderts ist der Titel einer Stunde, die nächste
schon verleiht ihn einem andern. Es ist erreicht !,
kaum noch die Devise einer ad astra weisenden Schnurr-
bartfasson, ist gleich wieder der Gruß, der kühne-
ren, wenn auch nicht weniger bestrittenen Erfindun-
gen gegönnt wird. Der Fortschritt, der den Kopf unten
und die Beine oben hat, strampelt im Äther und
versichert allen kriechenden Geistern, daß er die
Natur beherrsche. Er belästigt sie und sagt, er habe
sie erobert. Er hat Moral und Maschine erfunden,
um der Natur und dem Menschen die Natur auszu-
treiben, und fühlt sich geborgen in einem Bau der
Welt, den Hysterie und Komfort zusammenhalten.
Er feiert Pyrrhussiege über die Natur. Was nützt
ihm das Tempo, wenn ihm unterwegs das Gehirn
ausgeronnen ist ? Der Fortschritt macht Portemonnaies
aus Menschenhaut. Und als der Mensch mit der
— 12 —
Postkutsche reiste, kam die Welt besser fort als
wenn der Kommis durch die Luft fliegt. Wie wird
man den Erben dieser Zeit die primitivsten Hand-
griffe beibringen, die notwendig sind, um die kompli-
ziertesten Maschinen in Gang zu setzen? Die
Natur kann sich auf den Fortschritt verlassen: er
rächt sie schon für die Schmach, die er ihr an-
getan hat. Sie aber will nicht warten und zeigt, daß
sie Vulkane hat, um sich von lästigen Eroberern zu
befreien. Ihre Weiber verkuppelt sie mit den Tod-
feinden der Zivilisation, zündet mit der Moral die
Wollust an und schürt sie mit der Rassenfurcht zum
Weltbrand. Man tröstet sich und erobert den Nord-
pol. Aber die Natur klopft ihnen an die Tore der
Erde und rüttelt an ihrer angemaßten Hausherr-
lichkeit. Man tröstet sich und erobert die Luft. Gegen
Glatteis hat man keine andere Hilfe als das
»Aufstreuen« und wenns regnet, bleibt nichts übrig
als den Regenschirm aufzuspannen, aber sonst hat
man es gelernt, der Natur auf die kunstvollste Art zu
imponieren. Die Natur liest keinen Leitartikel und weiß
darum noch nicht, daß man gerade jetzt damit
beschäftigt ist, »die Welt der elementaren Gewal-
ten in ein Yernunftreich zu verwandeln«. Würde sie
hören, daß die Meldung vom erreichten Nordpol bei
allen Laufburschen der Erde »das Gefühl der Überlegen-
heit über die Natur gesteigert« hat, sie hielte sich
den Bauch vor Lachen, und Städte und Staaten und
Warenhäuser würden dann ein wenig in Unordnung
geraten. Sie zuckt ohnedies schon öfter als es der
Überlegenheit ihrer Bewohner zuträglich ist. Binnen
ein paar Wochen haben die elementaren Gewalten
in einer so deutlichen Weise ihre Bereitwilligkeit
bekundet, in ein Vernunftreich einzulenken, daß es
auch das große Publikum verstehen muß, indem sie
durch Erdbeben, Springfluten, Stürme, sintflutartige
Regen Hunderttausende von Menschen und Millionen-
hunderte von Vermögen in Amerika, Asien und
Australien vernichteten, und nur in Europa den
— 13 —
Redakteuren die Hoffnung ließen, daß »der Wille des
Menschen« schon demnächst »alle Hebel der Natur
bewegen« werde. Jedem Parasiten der Zeit ist
der Stolz geblieben, ein Zeitgenosse zu sein. Man
führt die Rubrik »Eroberung der Luft« und muß
die Nachbarschaft des Ressorts »Erdbeben« nicht be-
achten, und in dem Jahre von Messina und des täg-
lichen Nachgrollens der Erde bewies der Mensch seine
Überlegenheit über die Natur und flog nach Berlin.
1909 opferten die Idealisten den ungnädigen Elementen
Makkaroni und schafften für die verlorenen Ideale Ersatz
am Nordpol. Denn es ist Sache des Idealismus, sich
für den Verlust des Alten damit zu trösten, daß
man etwas Neues angaffen kann, und wenn die
Welt untergeht, so triumphiert das Überlegenheits-
gefühl des Menschen in der Erwartung eines Schau-
spiels, zu dem nur die Zeitgenossen Zutritt haben.
Die Entdeckung des Nordpols war unabwend-
bar. Sie ist ein Schein, den alle Augen sehen, und
vor allen anderen jene, dieblind sind. Sie ist ein Ton,
den alle Ohren hören, und vor allen anderen jene, die
taub sind. Sie ist eine Idee, die alle Gehirne fassen, und
vor allen anderen jene, die nichts mehr fassen können.
Der Nordpol mußte einmal entdeckt werden. Denn Jahr-
hunderte lang war durch Nacht und Nebel der
menschliche Geist gedrungen, in hoffnungslosem
Ringen mit den mörderischen Naturgewalten der
Dummheit. Den Weg bezeichnen die Blutspuren jener
Ungezählten, die für die künstlerische Tat den Kampf
gegen eine erstarrte Menschennatur immer wieder
gewagt hatten. Wie viele Pioniere des Ge-
dankens waren verhungert und wurden ein Praß
jener wahren Bestien des Eismeers, deren bloßes
Dasein die Sperre der geistigen Zone bedeutet!
Nicht einen Fußbreit hat Phantasie dem Reich jenes
weißen Todes abgewonnen, dort, wo selbst die Hoff-
nung versank, die Welt der menschlichen Gewalten
in ein Vernunftreich zu verwandeln. Man hat so
lange den Walrossen Gedichte vorgelesen, bis sie
14 ~
schließlich die Entdeckung des Nordpols mit ver-
ständnisvollem Kopfnicken begleiteten. Denn die
Dummheit war es, die den Nordpol erreicht hatte,
und sieghaft flatterte ihr Banner als Zeichen, daß
ihr die Welt gehörte. Die Eisfelder des Geistes aber
begannen zu wachsen und rückten immer weiter
hinunter und dehnten sich, bis sie die ganze Erde
bedeckten. Wir starben, die wir dachten.
An den unbekannten Freund.
Von Karl Borromaeus Heinrich.
( . . . Auf seiner zweiten Bekehrungs-
reise kam der Apostel auch nach
Athen. Dort fand er einen Altar
mit der Inschrift : »Dem unbekann-
ten Gotte!«... Neues Testament)
Mein unbekannter Freund, weißt du noch, wie ich meine
Heimat verließ, um mein Vaterland wiederzusehen? es war genau
vor drei Jahren.
— Die Torheit geschah genau vor drei Jahren, meinst du.
Wie kann man eines Vaterlandes wegen, seine Heimat verlassen!
— Du hast Recht, Oeist des unbekannten Freundes. Aber
vergiß nicht, daß ich damals einundzwanzig Jahre alt war . . .,
majorenn, aber unmündig. Vergiß nicht, daß mir meine Schwester,
um mich von Paris wegzulocken, fünfzig Mark in Fünf-Mark-
Scheinen schickte, mit der Bitte: »Wechsele dieses um in fran-
zösisches Geld und fahre zurück in dein Vaterland; dort kannst
du alles recht vollenden, und ein sicheres Einkommen begründen.«
Fünfzig Maik, noch dazu in zehn einzelnen Scheinen. Ich konnte
mich des Eindruckes der Banknoten nicht erwehren, fuhr aus der
Heimat ins Vaterland, und es blieben mir, dritter Klasse, sogar
noch zehn Mark übrig.
•
Ich gestehe selbst zu, daß ich nicht sehr gut gekleidet war,
als ich damals, vor drei Jahren, die ürenze passierte. Aber einen
solchen Empfang in Deutschland hatte ich dessentwegen noch lange
- 15
nicht verdient. Unbekannter Freund, du allein weißt, wie mir das weh
tat: Als mich in Deutsch-Avricourt die zudringlichen Schutzmanns-
augen, weil ich sozusagen mittelmäßig gekleidet war, vom Kopf
bis zum Fuße musterten, und sich mit einer heuchlerisch-plumpen
Freundlichkeit an mich heranglotzten : — »Na, junger Freund, wo
geht die Reise hin?« fragte mich einer dieser Burschen — obwohl
ich vorher einem anderen meinen Paß gezeigt hatte, der doch
durchaus in Ordnung war und vollkommen erwies, daß ich nicht
als Deserteur in mein Vaterland zurückkehrte . . . >Na, junger
Freund, junger Freund«, sprach mich dieser Dienstbote an. Ein
deutscher Kriminal-Unterdienstbote nannte mich >junger Freund« !
Damit fing es an in diesem komischen Vaterland.
•
In meiner Vaterstadt hatte ich einen jungen Freund, den
ich damals, nach dreijähriger Trennung, immer noch so liebte,
wie keinen Menschen auf der Welt. Ihm schrieb ich gleich bei
meiner Ankunft, er möge am folgenden Tage mit mir zusammen-
kommen; und ich schlug ihm, um die Schönheit des Wieder-
sehens zu erhöhen, einen stillen, waldumsäumten Ort in der Um-
gebung vor (denn das Rauschen des deutschen Tannenwaldes hat
oft die Melodie meiner Seele begleitet). Ich fuhr zwei Stunden
früher hinaus, als ich ihn bestellt hatte. Und zwei Stunden lang
schlug ihm mein Herz entgegen. — Er kam. > Entschuldige«, sagte
er, »ich verstehe zwar sehr gut, warum du dieses entlegene Nest
für unser Wiedersehen gewählt hast — es ist jedenfalls wegen der
Romantik. Aber ich muß in zehn Tagen ein kleines Examen
machen, da hab' ich heut' höchstens zwei Stunden frei.« Zehn
Tage für ein Examen — zwei Stunden für eine Freundschaft. Er
erklärte dies vorwegnehmend, indem er sagte: »Ich bin älter
geworden.«
«
Unbekannter Freund, ich war damals so jung und gut und
dumm. Du allein weißt es.
Ich bat meine Freunde: >Wir müssen eine Brüderschaft
gründen. Eine Brüderschaft, di« uns alle erzieht. Indem wir gegen-
seitig das Höchste von uns verlangen. Damit sprengen wir eine
Welt, die . . .«
» — Ja, das ist eine ausgezeichnete Idee. Wir können uns
auch in unserer Karriere dabei helfen. Gegenseitig, mit den Kon-
16 —
nexionen, die jeder hat. Überhaupt fest zusammenhalten, damit
jeder was Ordentliches wird.« So antwortete einer.
». . . indem wir gegenseitig das Höchste von uns verlangen.
Damit sprengen wir eine Welt, die . . .<
•
Die Einen waren zum Korps gegangen und hatten für
nichts mehr Interesse. Die Anderen hatten nicht einmal für das
Korps Interesse.
Im Übrigen waren sie alle »aufgeklärt«. Nichts mehr, wo-
von sich diese jungen Leute noch etwas hätten träumen lassen.
Nichts. Selbstzufriedene Seelen ; Weltanschauung: Die sieben ge-
lösten Rätsel, Volksausgabe, zu einer Mark.
Wenn diese Leute durch den Wald gingen, hörten die
deutschen Tannen auf zu rauschen. Und die Quelle plätscherte
geringschätzig: Wer mir keine Geheimnisse mitbringt, für den
habe ich auch keine übrig.
•
»Liebst du eigentlich deinen Beruf?« fragte ich einen mir
befreundeten Studiengenossen und künftigen Erzieher.
»Na ja, es ist ja auch in unserm Fach schon recht über-
füllt«, lautete die Antwort. »Ich meine zwar nicht gerade wegen
der Chancen und Aussichten . . .« »Ach so, du meinst im Allge-
meinen! ... Ja, im Allgemeinen sind wo anders die Chancen
auch nicht besser.«
Wenn ich in späteren Jahren nicht so reich sein werde, um
mir Hauslehrer auszusuchen, fällt vielleicht einmal ein Sohn von
mir diesem Fachmann in die Hände.
Unbekannter Freund, welche Opfer erheischt ein Vaterland !
•
Ich streichle Bäume, Blüten und Qräser. Denn die Menschen
hier wollen keine Zärtlichkeiten verstehen; sie nennen es un-
männlich.
Ich habe ein Oänseblümchen geküßt.
Man lachte mich aus dafür.
Die Freunde in meinem Alter wollen alle männlich sein.
Es muß sehr schwer sein, dieses Männliche zu definieren; noch
mehr, es zu erlernen.
Ich bin in der Kirche zum Kruzifix hingegangen, das unter
der Kanzel hängt, »und küßte ihm leise die Füße. Da klopfte mir
17
der Mesner auf die Schulter und redete mir zu : »Gehn S', san S'
doch net so auffällig! Tun S' Ihnen doch beruhigen. Fromm sein
— aber net glei verruckt sein, gelten S'!< Man ist hier für eine
herbe, zurückhaltende Männlichkeit eingenommen.
>Wir Götter<, sprach ein Gott, >fürchten die Deutschen,
aber sonst nichts in der Welt!«
*
Zeitungsbericht :
Beim Empfang der Pilger küßte der Papst zweimal die
Schleifen der französischen Fahne.
*
Da war ein Mensch, gut zwei Jahrzehnte älter als ich, den
ich viel mehr liebte als mich selbst, und lurchaus höher achtete.
In allem suchte ich ihm nachzueifern; denn er war in sich voll-
kommen. Und wie eine in sich selber ruhende Sonne leuchtete
seine Liebe lächelnd und manchmal spöttisch über meine Unrast.
Wir liebten uns und trugen einander alles zu, was wir er-
lebten. Wenn mich Zweifel befielen, in was auch immer, fragte
ich meinen älteren Freund.
Einmal aber geriet mein Freund selbst in die schwersten
Zweifel. Die Frauen machten ihm zu schaffen.
Ich wartete voller Sehnsucht, daß er mich frage, denn so
gut wie ich, fühlte niemand, welcher Frau mein Freund bedurfte.
Er aber fragte mich überhaupt nicht. >Für all dies ist er
zehn Jahre zu jung«, sagte er sich und besprach lieber mit ein-
geschrumpften Altersgenossen sein Leid. Mit Entsetzen sah ich,
daß sie ihm, in ihrer Schwerfälligkeit und Müdigkeit, das Ver-
kehrte geraten hatten.
»Sie sind zu jung«, sagte er, »was verstehen Sie davon!«
Meine Seele errötete tief und kroch in sich selbst zurück. Kein
stolzer Mensch läßt sich lieben, wenn er zu jung befunden wird.
•
Unbekannter Freund, du weißt wohl, Goethe ist kein Argu-
ment für dieses Vaterland. Die »Iphigenie« hat er in Italien
geschrieben.
*
Einen liebte ich, der wirklich zart von Gemüt war, reich
an Geist, vornehm und diskret. Die deutsche Schamhaftigkeit ver-
bot ihm aber, diese Eigenschaften auch nur ahnen zu lassen. Um
sie möglichst gut zu verbergen, pflegte er die Zote und bediente
287
— 18 —
sich niedriger Ausdrücke. Darin vervollkommnete er sich so weit,
daß er überhaupt nicht mehr über seine anständigen Gefühle
reden konnte.
•
Ein anderer war heiter von Charakter.
Er verdarb sich, indem er aus seiner Heiterkeit Pointen
schlug und auf Effekte ausging.
Um ihn habe ich geweint, unbekannter Freund.
•
Warum muß alles verzerrt erscheinen in diesem Lande?
Drei Jahre, drei lange Jahre bin ich jetzt unter den Menschen
meiner Vaterstadt herumgewandert. Diese Menschen finde ich nun
alle >bös und fremd«.
Zuletzt hat es meine Freundschaft mit einem ganz alten
Mann versucht. Den liebte ich gleichsam aus der Ferne, und ich
saß still und andächtig am Tisch, wenn er mit Anderen sprach.
Als er mich einmal um etwas fragte, antwortete ich bescheiden
und nur von mir und meinem Standpunkt aus. Ich hielt dafür,
daß es einem jungen Menschen so gezieme. Der alte Mann er-
widerte ranh und streng: »Sie sind immer nur mit sich selbst
beschäftigt! Sie sind ein eingebildeter Mensch. Alles betrachten
Sie von sich aus.«
Meine Art von Freundschaft versteht hier niemand. Alle
Menschen hier finde ich >bös und fremd.«
Das macht, der Himmel ist hier niedrig, die Luft grau und
undurchsichtig, der Winter dauert sieben Monate und die Herzen
sind mit ewigen Schnee bedeckt.
Unbekannter Freund, ich will dich wieder in meiner Hei-
mat, in Paris suchen!
Paris. Ich suche dich auch hier vergebens. Hier, wo sich alles
so geändert hat. Hier gehört jetzt jeder Mensch zu einem Syndikat.
Man trifft sie nur mehr rudelweise an. Wenn man einen lieben
will, muß man gleich eine ganze Organisation lieben!
•
Bis jetzt habe ich hier in Paris zwei Menschen kennen
gelernt, die noch zu keinem Syndikat gehören. Der eine war ein
Hochstapler. Aber wie sollte ich mich mit ihm befreunden? Ich
bin zu arm, als daß er mich bestehlen konnte. Ich verstehe daher,
daß er mich nicht liebte, obwohl er mehr Zärtlichkeit mit sich
herumträgt als tausend andere zusammen.
19
Der andere ist ein Theologe.
Wärst du das am Ende, unbekannter Freund?
Er war es nicht. Er liebte mich innig. Aher anstatt Gott
in mir zu lieben, liebte er mich in Gott. "
»
Ich will weiter suchen. Einstweilen baue ich einen Altar,
auf den ich dieses Tagebuch lege und der die Inschrift trägt :
»Dem unbekannten Freunde.«
* *
*
Aphorismen*)
Von Karl Kraus
Ein Kellner ist ein Mensch, der einen Frack
anhat, ohne daß man es merkt. Hinwieder gibt es
Menschen, die man für Kellner hält, sobald sie einen
Frack anhaben. Der Frack hat also in keinem Fall
einen Wert.
*
Vor dem Friseur sind alle gleich. Wer zuerst
kommt, hat den Vortritt. Du glaubst, ein Herzog
sitze vor dir, und wenn der Mantel fällt, erhebt sich
ein Schankbursche.
•
Wenn Prostitution des Weibes ein Makel ist,
so wird er durch das Zuhältertum getilgt. Man sollte
bedenken, daß sich manch eine für die Gewinste, die
sie erleidet, durch reichlichen Verlust entschädigen
kann.
Die Sprache entscheidet alles, sogar die Frauen-
frage. Daß der Name eines Weibes nicht ohne den
Artikel bestehen kann, ist ein Argument, das der
Gleichberechtigung widerstreitet. Wenn es in einem
Bericht heißt, >Müller« sei für das Wahlrecht der
Frauen eingetreten, so kann es sich höchstens um
einen Feministen handeln, nicht um eine Frau. Denn
selbst die emanzipierteste braucht das Geschlechtswort.
*) Aus dem .Simplicissimus'.
— 20 —
Der Ausdruck sitze dem Gedanken nicht wie
angemessen, sondern wie angegossen.
*
Lieben, betrogen werden, eifersüchtig sein —
das trifft bald einer. Unbequemer ist der andere
Weg : Eifersüchtig sein, betrogen werden und lieben!
Heilig ist die Leidenschaft!
Von Karl Hauer
Die Selbsterschaffung des Menschen ist noch
nicht vollendet. »Du wirst sein wie Gottc, ruft sein
Stolz, in Wahrheit aber ist seine Sehnsucht eine
Trauer um das verlorene Paradies, um das Glück des
Tieres. Denn im Tiere ist kein Zwiespalt und Zweifel,
keine Torheit und kein Wahnsinn. Das Sein des
Tieres ist Harmonie, seine Triebe sind Vernunft, nicht
eine kleine, schwächliche Vernunft, wie es die des
menschlichen Denkens ist, sondern eine leibhaftige,
leibgewordene, allem Irrtum entrückte Vernunft. Der
tierische Organismus mit seinen unverkümmerten
Instinkten stellt ein so hohes Maß von Vernünftigkeit
dar, daß die junge, unfertige, kurzsichtige Vernunft
des menschlichen Geistes dagegen recht kläglich
erscheint. Und in der Tat stützt diese »kleine Ver-
nunft«, wie Nietzsche sie einmal nennt, bei ihren
Gehversuchen sich, wissentlich oder unwissentlich,
auf die »große«, überlegene Vernunft der unge-
brochenen Instinkte. Die im tierischen Leibe fleisch-
gewordene Weisheit, in der alle Erfahrung unendlicher
Vergangenheit einverleibt ist, diese Weisheit des
Tieres ist das Licht, das aller menschlichen Weisheit
voranleuchten muß, da sie sonst im Finstern stünde
und nicht wüßte, wohin. Deshalb zollte der Mensch
— 21 —
dem Tiere und seiner Instinktweisheit von jeher die
höchste Verehrung. Nicht nur der kindliche Mensch
der Urzeit, sondern auch der Mensch der Hochkultur.
In den religiösen Zeremonien des Steinzeitmenschen
spielten Wildpferd und Wildkatze eine hervorragende
Rolle, bei den Indianern genoß schon in Urzeiten
der Bär religiöse Verehrung. Die Totems, die heiligen
Staramesabzeichen der Indianer, sind durchwegs Tiere,
vorzugsweise Bär, Schlange, Adler und Fisch, und
indianische Häuptlinge führen mit Vorliebe Tiernamen.
Die genaue Analogie hiezu. finden wir in den Wap-
pentieren unserer Adelsgeschlechter, in vielen Adels-
prädikaten und in Herrscherbeinamen wie »Löwen-
herzc. Gestirne und gewaltige Naturerscheinungen
erschienen primitiven Völkern als mächtige Tiere:
die Sonne als ein Löwe, der Blitz als eine gefiederte
Schlange. Die alten Ägypter hielten Stier, Krokodil,
Nilpferd, Sperber und Katze heilig, und ihre Götter
haben fast durchwegs Tierhäupter und andere tierische
Zutaten. Gott und Tier schienen den Ägyptern eins.
Die ältesten Symbole des Christentums sind Lamm,
Taube und Fisch. Den Indern erscheint jedes Tier
beseelt und unverletzlich; der Araber schätzt das
Pferd höher als das Weib, die arabische Sprache
kennt mehr als zweihundert verschiedene zarte
Schraeichelnamen für das Pferd. Kinder und Frauen
fühlen sich zu den Tieren aufs ' lebhafteste hin-
gezogen. Das Kind sieht im Tier nichts Niedriges
und Verächtliches, sondern etwas durchaus Gleich-
gestelltes, ja vielfach etwas Überlegenes und Ver-
ehrungswürdiges. Gottfried Keller konnte sich als
Knabe keine Vorstellung vom lieben Gotte machen,
von welchem man ihm erzählt hatte; als er aber in
einem Bilderbuche einen grimmigen Tiger sah, war
ihm allsogleich klar, daß dies der liebe Gott sei.
Das Volk schuf in den verschiedensten Ländern und
zu den verschiedensten Zeiten Tierfabel und Tier-
märchen, und wer die Kosenamen belauscht, die Liebende
einander geben, wird entdecken, daß es in allen Spra-
— 22
chen vorzüglich Tiernamen sind. Ein breiter und tiefer
Strom von Sympathie, von Zusammenhangsgefühl und
Verehrung führte und führt vom Menschen zum Tiere.
Die Wurzel solcher Tierverehrung ist des Men-
schen ahnendes Begreifen, daß die Gottähnlichkeit,
die er für sich erträumt, nicht in körperloser Geistig-
keit bestehen kann, daß vielmehr der Weg zu seiner
Vervollkommnung ein Weg zur Einheitlichkeit und
körperlichen Vollkommenheit des Tieres ist. Das
Tier nämlich ist ein Ganzes, Ungeteiltes, ein Indi-
viduum. Der Mensch aber ist etwas Zwiespältiges,
verschieden Bedingtes: ein Dividuum. Das Tier ist
zu Ende organisiert, seine Triebe sind untereinander
ausgeglichen, es hat ein konstantes Gleichgewicht
und lebt in steter Gegenwart. Der Mensch macht
noch den Krampf des Sich-Gebärens durch, er ist ein
Kampfplatz zwischen Intellekt und Instinkt, zwischen
Geist und Trieb, zwischen einem zentralen und peri-
pherischen System, er ist zugleich ein Täter und ein
Wisser, und die Gegenwart ist für ihn nur die Scheide
von Vergangenheit und Zukunft. Das Tier lebt un-
bewußt, unberechnend und doch höchst weise; der
Mensch aber ist mit einem Wissen belastet, das zu
unvollkommen ist, ihm ein sicherer Führer zu sein,
und trotzdem schwerwiegend genug, seinem Empfinden
und Wollen die Naivität zu rauben.
Der Mensch kann jedoch nicht mehr zurück;
er kann sich des Geistes nicht mehr begeben, wie
er auch dem Triebe niemals entrinnen kann. Die
»reine Vernunftc ist reiner Unsinn. Vernunft und
Trieb, Geist und Leib müssen wieder eins werden.
Und um eins zu werden, muß die Vernunft zu einem
wirksamen Triebe werden; sie muß die andern Triebe
durchdringen und verstärken, sie muß gewissermaßen
Leib werden. Der Leib ist das, was bewahrt und
bewehrt werden soll. Alle menschliche Wirklichkeit
ist Leib. Eine herrschsüchtige Vernunft, eine Ver-
nunft um der Vernunft willen, eine selbständige
Vernunft ist eine Gefahr für den Menschen. Der
— 23 —
Geist, der sich vom Leibe lossagt, der asketische
Geist schwächt und verdirbt die Triebe, den Leib,
den Menschen. Die bare Vernunft ist nicht besser
als die bare Unvernunft. Und der nur vernünftige
Mensch wäre der unvernünftigste aller Menschen.
Ja, ein Mensch, der den Verstand verloren hat, ißt
noch weit mehr ein Mensch als einer, der nur seinen
Verstand behalten hätte.
Trotzdem zielt alles, was man heute Portschritt,
Kultur oder mit andern Schwindelnamen nennt, darauf
ab, den Menschen zu einem unglückseligen Verstandes-
automaten zu machen. Das städtische Leben, das heute
auch schon die Landbewohner in seine Wirbel zieht,
besteht in einem fortwährenden Sich-Reiben aller an
allen, es läßt keinerlei Einsamkeit zu und zwingt
jeden zu unaufhörlichen Rücksichtnahmen. Da aber
der Mensch trotz der Behauptung des Aristoteles von
Natur aus kein zoon politikon, keine Biene oder
Ameise ist, sondern eher ein Fischer, Jäger
oder unbekümmerter Waldläufer, ein nur in
lockern Rudeln lebendes Tier mit dem ausgeprägten
Bedürfnis häufiger Einsamkeit, so müssen seine
natürlichen Triebe in einem extremen Stock-
und Haufenleben entarten und verkümmern. Sie
können ihm nicht nur keine Führer sein, er muß sie
sogar als ständige Gefahr empfinden, denn sie ver-
leiten ihn fort und fort zu Verbotenem. Andere als
Ameiseninstiiikte sind im Ameisenhaufen polizeiwidrig.
Der zur Ameise entartete Mensch, der Mensch der
sinnlosen Emsigkeit, muß sich auf seinen Verstand
— was für einen Verstand! — verlassen. Der
Verstand aber ist verschliffener Geist. Wie der
Geist ein Produkt der Einsamkeit ist, ein lang-
sames, tiefes Besinnen der leiblichen Wirklichkeit auf
sich selbst, so ist der Verstand buchstäblich ein Pro-
dukt des Verkehrs, die schnelle und oberflächliche
Festlegung des Konventionellen. Geist ist Edelmetall,
Verstand ist Konventionsmünze.
Der Verstand erweist sich umso nützlicher, je
— 24
mehr er mit dem Verstand anderer übereinstimmt.
Der ganze moderne Zwangsbildungsbetrieb hat nur
den einen Zweck, eine möglichst ausgeprägte Uni-
formität des Verstandes herbeizuführen. Jene Men-
schen, die ihren Verstand genau aufeinander abge-
stimmt haben, heißen die »Gebildeten«. Die Bildung
ist eine Art drahtloser Telegraphie, wobei Urteile von
bestimmter Wellenlänge von allen richtig abgestimm-
ten Empfangsap paraten gleichzeitig aufgefangen wer-
den können. Und diese »allgemeine« Bildung, die ge-
wissermaßen nur in einer mechanischen Weiterleitung
fertig empfangener Urteile besteht, wird von ihren Be-
sitzern als köstlichster Besitz aufgefaßt, als das, was ihr
Menschentum erst begründe, was sie erst zu ganzen
Menschen mache. »Bildung macht frei«, sagen sie. Man
kann aber leicht sehen, daß Bildung erstaunlich un-
frei macht. Während ein Mann von Geist und ein
Weib von natürlichem Empfinden in jedem Augen-
blicke Welten von Geist und Empfindung zu durch-
messen vermögen, bleiben die Gebildeten stets in der
engen Sphäre ihrer Konvention, sie sind stets »unter
sich« und in die Bildung eingenäht wie in eine
Rindshaut. Der Glaube an den auszeichnenden Wert
der Bddung ist eigentlich nur der uralte Aberglaube
von der magischen Macht des Wissens. Ein Aber-
glaube, der durchaus nicht abgestorben ist, denn wie
man ehemals glaubte, durch eine Zauberformel
den Teufel vertreiben zu können, so glaubt bei-
spielsweise der Pädagoge heute noch, Milien wilden
Rangen durch gehöriges Zureden in einen artigen
Knaben zu verwandeln. Glücklicherweise aber wider-
steht der Range dieser Magie. Das Wissen ist an
und für sich völlig ohnmächtig, und wie man einen
Irrsinnigen nicht durch logische Beweise heilen kann,
so bleibt das Wissen, das mit einem Hohlkopf zu-
sammentrifft, ein hohles Wissen. Dem Geiste fliegt
das Wissen, das ihm nötig ist, aus allen Welten von
selber zu; das hohle Wissen aber erzeugt nur einen
hohlen Skeptizismus, der der Ignoranz so verwandt
— 25
ist, wie der moderne Freigeist dem Dogmatiker. Der
Gedanke, der nicht persönlich erlebt ist, ist nicht
nur wertlos, er ist ein Bleigewicht, das niederzieht,
er ist ein Grab des Lebens. Diese Wahrheit sollte
in einer Zeit, in der die Menschen ihre Muße mit
Lektüre und gebildeten Gesprächen verbringen, all-
stündlich unter Trommelschall verkündet werden.
Warum aber ist bei den heutigen Menschen ein
so besonders starkes Bedürfnis vorhanden, sich selbst
ein volles, lebendiges Menschentum vorzutäuschen,
sich mit Hilfe der Bildung als »ganze« Menschen zu
fühlen? Woher all dieser Bildungstrieb? Doch wohl
daher, daß keiner von all diesen Menschen ein
Ganzer ist, daß jeder im Grunde nur ein Stück, ein
spezielles Instrument, ein Berufsmensch ist. Die bei
maßloser Arbeit natürlich auch ins Maßlose gehende
Arbeitsteilung macht aus jedem Menschen ein
bloßes Instrument. Das, was man heute Beruf nennt,
erweist sich stärker als der moderne Mensch. Der
Beruf ist ein körperloser Vampyr, der seinem Opfer
alles Menschliche aussaugt, um daraus eine seelenlose
Maschine, allenfalls mit allgemeiner Bildung, zu machen.
Die Arbeitsteilung ist recht eigentlich ein Ameisen-
prinzip, ein Prinzip, das bei wirklichen Kulturvölkern
nur auf Sklaven Anwendung fand. Allerdings sind
durch folgerichtige Anwendung der allgemeinen und
gleichen Menschenrechte alle Menschen bereits mehr
oder weniger Sklaven geworden. Und die lebendigen
Rechenmaschinenetwa,die heute im Gefühl ihrer beson-
deren Wichtigkeit herumstolzieren, scheinen mir weni-
ger nützlich als eine Leibeigene von ehemals, die nur das
eine zu tun hatte, ihrer Gebieterin das Bett zu wärmen.
Das einzige, was die Vernunft mit Inhalt er-
füllen und ihr fruchtbare Wirkung verleihen kann,
ist der lebendige Trieb. Und diese Erfüllung und
Wirksammachung der Vernunft ist die Leidenschaft.
Es scheint aber, daß man heute allgemein die Leiden-
schaft, die gesunde Harmonie von Vernunft und
Trieb, für etwas Krankhaftes, ja für etwas höchst
— 26
Gefährliches hält. Das Wort Leidenschaft bedeutet
unter Zeitgenossen manchmal fast dasselbe wie das
Wort Laster. Man verwechselt die Leidenschaft wohl
mit der Ausschweifung oder mit dem Fanatismus.
Aber sie ist von beiden gleich weit entfernt. Aus-
schweifung ist eine Verranntheit verirrter Triebe,
Fanatismus ist eine Verranntheit verirrter Vernunft,
Leidenschaft aber ist die befruchtende Durchdringung
von Vernunft und Trieb: vorwärts getriebene Ver-
nunft und klar vernommener Trieb! Ausschweifung
und Fanatismus sind Formen des Absterbens, Leiden-
schaft ist die Form des Lebens. Ausschweifung führt
zum Nihilismus. Hänge Dein Herz an nichts, sagen
die, die nicht mehr die Kraft haben, ihr Herz an
etwas zu hängen. Hänge Dein Herz an eine Sache
und verschließe Dich allem andern, predigt der Fana-
tismus. Wer aber sein Herz an nichts mehr hängt,
ist schon tot, und wer es nur mehr an eines hängt,
wird alsbald ersterben. Die Leidenschaft ruft :
hänge Dein Herz an alles! Und wenn Dir
eine Welt erstirbt, erblühen Dir dann hundert neue
Welten. Bestand hat nur, was Leben in sich hat,
und Leben hat nur der in sich, der Leidenschaft in
sich hat. Keines der Worte Christi dünkt mich tiefer
als dieses: »Das Reich Gottes wird gestürmt, und
die Stürmer reißen es an sich«. Der Sohn des Men-
schen wußte es, daß man ins Himmelreich nicht bei
Windesstille gelangen kann, sondern nur im Sturme.
Und er sagte auch: »Gott ist nicht ein Gott der
Toten, sondern der Lebendigen«. Die Lebendigen
aber sind nicht die Müden, die nur mehr liegen
wollen, nicht die in Krämpfen sich Windenden, die
bald liegen werden, und auch nicht die Verzauber-
ten, die starren Auges einer Vision nachrennen,
sondern die Stürmer mit sehenden Augen, die den
Ruf der Natur vernommen haben, die Menschen der
Leidenschaft, die Menschen des lustvollen Erleidens,
die tieffröhlichen Menschen, denen wie den alten
Ägyptern Gott und Tier keine Gegensätze sind.
27 —
Meine Schriften
Ein Essay über »Sittlichkeit und Kriminalität«
war im ,Mährisch-Schlesischen Korrespondenten'
(Brunn, 3. August 1909) enthalten:
Man fängt damit an, einer Sache zu vergessen, indem man ihr
einen Namen gibt, und man vernachlässigt ein Buch, indem man. ein
Programm daraus hervorholt. Und gerade an Programmen ist Überfluß
in der Sammlung von Aufsätzen, die Karl Kraus unter dem Titel
»Sittlichkeit und Kriminalität« (Bei L. Rosner, Leipzig und Wien 1908)
erscheinen ließ.
>Das , Rechtsgut der Sittlichkeit' ist ein Phantom, mit der
.Moral' hat die kriminelle Gerichtsbarkeit nichts, hat nur die des
Bezirksklatsches zu schaffen. Was die Justiz hier erreichen kann, ist
der Schutz der Wehrlosigkeit, der Unmündigkeit und der Gesundheit.
Auf diese noch arg vernachlässigten Rechtsgüter werfe sich die Sorge,
die heute das Privatleben von Staats wegen belästigt.« Oder: Es ist
ein »Naturrecht der Frau, die Summe ihrer ästhetischen Voizüge an
wen sie will zu verschwenden oder von wem sie will in eine geltende
Währung umsetzen zu lassen«.
Zu dem allen ist so vieles zu bemerken. Schutz der Wehr-
losigkeit, der Unmündigkeit, Natur- oder anderes Recht der Frauen,
das sind Fragen, die zum eisernen Vorrat der öffentlichen Diskussion
gehören. Wir leben im Zeitalter der aktuellen Frage ; die aktuelle Frage
nimmt das allgemeine Interesse in Anspruch, nichts Neues, Unzeit-
gemäßes wird neben ihr gehört. Wie viele Antworten sind schon un-
beachtet geblieben, weil man sich mit der Frage beschäftigte.
Die Schriften des vielgenannten Wiener Publizisten sind von
wirklichem Werte, trotzdem sie Programme enthalten und zu Tagesfragen
Stellung nehmen. Nicht ob und wie zur Frauenfrage, zum sexuellen Prob-
lem, zur' Prostitution gesprochen wird, ist das Wesentliche in ihnen,
nicht ob der Autor für oder gegen ein Schlagwort Partei ergreift. Dort,
wo er selbst Partei ist, jene, so wenig aktuelle Partei eines vornehmen
Menschentums, eines unantastbaren Begriffes der Persönlichkeit, dort
liegt Wert und Kern des Gebotenen. Nicht Debatte, sondern Idee ist
der wirkliche Gehalt dieser Aufsätze; es ist eine Idee von Menschen-
würde, die sich gegen den kulturellen Tiefstand der Sittlichkeitsauf-
fassung unserer Gesetze wehrt. Sie ist es, die dieses Aufgebot von
Geist und polemischer Kraft zu Felde schickt. Für sie kämpft Kraus
mit beispielloser Schärfe und Rücksichtslosigkeit gegen alles, das ihr
entgegensteht. Das sind Personen und Einrichtungen, ein veraltetes
Strafrecht, eine unwürdige Interpretation der Gesetze und ein ebenso un-
würdiges Interesse am Privatleben des andern, das im Gerichtssaale
seinen Ausdruck findet. »Die Justiz bedrängt das Privatleben, und die
Publizistik müßte dazu ihr prinzipielles Wort sagen. Aber sie ziehen
sich gemeinsam ins Gemütliche zurück und schlagen augenzwinkernd
das Strafgesetzbuch auf, dort, wo die .pikanten Blätter' beginnen.«
Karl Kraus hat manche Fehde geführt, und der Parteien Gunst
28
und Haß verwirren das Bild seiner literarischen Persönlichkeit. In
diesen Aufsätzen aber scheinen mir Leistung und Sache über dem Be-
reiche persönlicher Gegnerschaft und Anhängerschaft zu stehen und
andere Erörterungen auszuschließen. Hier gilt nur eines : Diese Schriften
sind Kulturarbeit im besten Sinne des Wortes, und es brauchte eines
Publizisten von soviel Kampfesfreude und Kampfesschulung, um diese
Arbeit zu tun.
Die Frage nach der Entstehung des Sittengesetzes drängt sich
jedem denkenden Beurteiler der Zeit auf. Wie konnte es zu jener Be-
ziehung zwischen Sittlichkeit und Kriminalität kommen, wie sie tat-
sächlich vorhanden ist? »Es reifte ein hundertjähriges Gesetz zur
Menschenqual: — Der Eifer, der da schützt, was des Menschenschutzes
nicht bedarf, hatte es mit der Langmut gezeugt, die gewähren läßt,
was dem gesunden Sinne strafwürdig scheint. Aus der Beschränktheit
einer Generation erschaffen, hat es dennoch für alle Zeiten, die es
währte, gelebt, weil es den Schlechtesten seiner Zeit genug getan. <
Diese Satzung, die im Reiche des menschlichen Fühlens das Strafrecht
walten läßt, wird einst, vor den Augen einer Nachwelt schlimmes
Zeugnis gegen den Geist unserer Zeit ablegen. Man fragte die mensch-
liche Sinnlichkeit nach ihren Pässen, man wollte es ganz genau wissen,
welche Zwecke die Natur verfolgte, als sie dem Menschen sinnliche
Triebe verlieh. Neugier und Selbstüberschätzung kamen zu einem Urteil.
Es wurde festgestellt, daß es sich dabei nur um die Sicherstellung der
Fortpflanzung und der Bezüge einiger Gerichtsfunktionäre handeln konnte.
Vielleicht lag es noch in der Absicht der Natur, auch etwas für not-
leidende Erpresser zu tun ; das wai aber alles. Daß sinnliche Triebe
ihren Teil haben an jedem Geschehen des Lebens, daß in den Schöpfungen
der Kunst sie die gewaltige Triebkraft darstellen, die von Urbeginn an
wirkte, wie heute noch, das bleibt vergessen. Und vergessen bleibt
auch, wie innig diese unsere Kultur, deren wir uns so gerne rühmen,
mit dem Begriffe der Persönlichkeit verknüpft ist, eben jener Persön-
lichkeit, an deren notwendigsten Daseinsfreiheiten, die Kontrolle unbe-
rufener Sittenrichter zehrt. Indem man alle Folgen der Sinnlichkeit mit
Ausnahme der Fortpflanzung übersah, hat man einen unglückseligen
Wertmaßstab des Empfindens geschaffen. Man richtet über Gut und
Böse nur nach dem einen, der Natur für alle Fälle unterschobenen Zweck,
man richtet einseitig und — viel zu viel.
Gegen dieses Mißverstehen der Natürlichkeit wird heute ein
Kulturkampf geführt, indem Publizist und Forscher Seite an Seite stehen.
Auch die Gegenseite hat wissenschaftliche Hilfstruppen. Die
Medizin erhebt den Anspruch auf das Richteramt über die menschliche
Sittlichkeit. Sittlichkeit und Medizin. Es ist eine Variation desselben
Themas, das immer von Herabsetzung der Menschenwürde handelt. Auch
hier trifft ein Wort dieses Buches zu: »Im ewigen Reich der sinnlichen
Triebe, die selbst älter sind als der Drang nach Heuchelei, wird der
Gesetzgeber immer vergeblich stümpern.« Das gilt ebenso, wenn statt
mit »Gut und Böse« mit »Gesund und Krank« zu Gericht gesessen
wird. Aufgabe einer höheren Kultur kann es nur sein, zu schützen,
und zwar ebenso die Persönlichkeit vor der Zudringlichkeit unnötiger
29
Eingriffe, als die Gesellschaft, gegen die kaum so häufigen Übergriffe
des Einzelnen. Heute kommt noch ein Schutz dazu ; der von Dogmen
über Moral und Sittlichkeit gegen beide : Persönlichkeit und Gesellschaft.
(Man erinnert sich der Mahnung: »Schutz der Wehrlosigkeit, Un-
mündigkeit und Gesundheit.«)
Keinen literarischen Streit, kein Wortgefecht führt Karl Kraus in
diesen Blättern. Und wenn der Angriff schärfer wird, als man bei
ruhigster Überlegung ihm zubilligen kann, wenn ab und zu ein Wort
zu viel gesagt scheint — was bedeutet das dagegen, daß diese Dinge
wirklich geschehen sind und geistig hochstehende Menschen dazu
schweigen konnten ! Es sind keine Fabeln in dem Buche, die erfunden
wurden, um Witz und Scharfsinn an ihnen zu üben, keine von der
Künstlerlaune geformten Bildchen. Vor uns entrollt sich die Glossierung
des öffentlichen Lebens, zu dessen Ereignissen der Autor keinen Strich
dazu gab. Diese Raubzüge in menschliches Gefühlsleben sind Wirklich-
keit gewesen; dem Moloch eines Sittengesetzes wirklich dargebracht
wurden sie, diese »Menschenopfer unerhört«. Und das erst vervoll-
ständigt das Bild, gibt den notwendigen Hintergrund zu diesem Buche
voll Gift, Haß und Überzeugung.
Und nicht vergessen sei dem Autor, daß die Hüter der gesell-
schaftlichen Ordnung nirgends so eifervoll sind, daß diese Ordnung
selbst nirgends von so krankhafter Empfindlichkeit ist, wie auf dem
Gebiete des Kampfes um moralische Werte. Gilt im allgemeinen, was
Kraus dahin präzisiert, daß dem, der für eine Sache eintritt, nur das
Interesse für eine Person geglaubt wird, so läßt sich hier ein Zusatz
machen. Als diese Person wird der Übelwollende immer die eigene
des Autors bezeichnen ; man spricht für ihn immer pro domo. — —
In diesen Arbeiten fühlt man die Nervenerregung. Aus Theorien
sind sie nicht entstanden, Sie enthalten die impulsive Reaktion eines
feinfühlenden Menschen auf eine kulturwidrige Wirklichkeit. Es sind
elementare Ausbrüche, die ihren Ursprung In der Überzeugung haben,
daß Unrecht geschehen ist, Kraus überträgt die Empfindlichkeit des
modernen Nervenmenschen auf Ethik und Kulturgefühl. Er ist so sen-
sibel für Unkultur, wie der Musikfreund für falsche Töne. Und die
publizistischen Angriffe in diesen Schriften, so logisch und konsequent
sie sind, bleiben immer Ausbrüche der Nervosität voll rachsüchtiger
Schärfe. Ich möchte nicht sagen, daß das Rechtsgefühl seine Anklagen
diktiert, das richtige Wort ist hier Unrechtsgefühl. Seine unausbleibliche,
innere Reaktion gegen Unrecht treibt ihn zur Tat, oft noch ehe das
Recht sich ihm klärte. So sind seine Ansichten für die Öffentlichkeit
ein untrügliches Maßinstrument geschehenen Unrechtes. Er kann ein-
seitig werden, wirklichen Wert übersehen, Milderungsgründe und Recht-
fertigungsmöglichkeiten vergessen — aber sein Angriff trifft immer
wunde Stellen. Überfluß an Kraft ist der Eindruck, den seine literarische
Persönlichkeit beim ersten Überblick macht. Die Sympathie kann man
ihm je nach der Parteizugehörigkeit verweigern, die Achtung vor der
Leistung nicht. Und die Einseitigkeit des Angriffes ist vielleicht ein
notwendiges Attribut dieser Kraft und muß als solches in den Kauf
— 30 —
genommen werden, wie Strindbergs Frauenhaß oder Maupassants Chau-
vinismus.
Als Wafte im Meinungsstreite hat er sich seinen eigenen Stil
geschmiedet, eine Klinge, so fein und geschmeidig, daß sie in den
engsten Spalt des Sinnes dringt und doch so widerstandskräftig und
hart, daß kein Problem vor ihrem Angriff gefeit ist. Aber bei aller
Kunst der Form, bei allem Werte, den dieser Apparat von Geist und
Witz repräsentiert, bleibt das Buch in erster Linie doch ein Inhaltsbuch
und ist für solche geschrieben, die einen Gedanken aufnehmen und
unter einem Gedanken leiden können.
Für alle anderen rechtfertigt Karl Kraus den publizistischen Kampf
dieser Blätter mit gelindem Spotte ; >Nur mir sonderbarem Schwärmer
macht es noch Vergnügen, die ehrbaren Genießer dieser Stadt beim
Essen zu stören. Aber wenn ich ihnen durch das Aussprechen von
Bitterkeiten den Appetit verderbe, so räche ich mich bloß dafür, daß
sie mir durch ihren Appetit die für das Leben unentbehrlichsten Wahr-
heiten verderben.« Damit ist das Motiv seiner Angriffe klar und treffend
ausgesprochen. Otto Soyka
*
Die neue illustrierte Halbmonatschrift ,Das
Theater' (Herausgeber Herwarth Waiden, Berlin)
bringt in ihrem ersten Heft Zitate aus »Sprüche und
Widersprüche« und dazu die Anmerkung:
Auswahl aus der bei Albert Langen verlegten Aphorismen-
sammlung >Sprüche und Widersprüche« von Karl Kraus. Sie bietet eine
Fülle tiefer und scharfer Beobachtungen aus weiter Perspektive, gestaltet
mit einem künstlerischen Vermögen. Karl Kraus, der in Wien lebt, wird
in Deutschland nicht genügend beachtet. Einen Essay über ihn ver-
öffentlichte vor kurzem Robert Scheu (Verlag Jahoda & Siegel, Wien).
Zitate und ein Hinweis waren auch in der Zeit-
schrift ,Die neue Welt* (Nr. 26, Berlin) enthalten.
Die ,Xenien' (Nr. 8, Leipzig) brachten die folgende
Besprechung:
Der österreichische Kulturpolitiker Karl Kraus ist bei uns wohl
hauptsächlich durch seine Angriffe auf Harden bekannt geworden. Über
die Berechtigung dieser Angriffe mag man denken, wie man will: daß
Kraus nicht zu denen gehört, die (wie Kerr) sich der Hetze einer nei-
dischen Meute namenloser Zeitungsschreiber anschlössen, das beweist
dies Buch zur Genüge. Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich
die Gegnerschaft zwischen Wilamowitz und Nietzsche, ja selbst die
zwischen Nietzsche und Wagner als Analogie zu jener Polemik anführe:
ich persönlich, der ich Harden von jeher stets mit begeisterter Bewun-
derung gegenüberstand, ich danke Kraus dafür, daß seine Kritik mich
davor bewahrt, in Harden schließlich einen Halbgott zu sehen, der leicht
zum Götzen werden kann.
— 31 —
Aber selbst wer Kraus jene Polemik nicht verzeihen mag, muß
dieses Buch als eine Leistung von einer für die heutigen literarischen
Verhältnisse ganz überraschenden Größe anerkennen. Ja wirklich, diese
Sprüche und Widersprüche sind Aphorismen; Aphorismen, keine Cafö-
geistreichigkeiten, keine > Brillantene im Sinne Schmocks, keine billigen
Kunststückchen, die dadurch verblüffen wollen, daß sie irgend eine
gangbare Meinung auf den Kopf stellen. Man überlege sich einmal,
was das heißt, dieser so beängstigend diskreditierten und mißbrauchten
Form des Aphorismus neues Leben zu verleihen, einerseits die Nach-
folge La Rochefoucaulds und Nietzsches, anderseits die Nachbarschaft
der > Gedankensplitter« in den .Fliegenden Blättern' nicht zu fürchten !
Dies Ziel hat vor Kraus wohl nur die Ebner-Eschenbach erreicht ; die
Aphorismenbücher von P. N. Coßmann, selbst von Peter Hille und gar
von Otto Weiß sind banal gegen diese Sprüche, welche, wie Maria von
Ebner fordert, in Wahrheit die letzten Ringe einer langen Gedanken-
kette sind, an der jedes Glied aus tausend Erfahrungen und Erlebnissen,
Wonnen und Qualen geschmiedet wurde. Hier bietet uns ein Geist von
seltener Tiefe und Kraft in der präzisesten, künstlerisch verwendeten Form
die Resultate seines Forschens und Ringens, ein Geist, der die geheim-
sten Strömungen unserer Zeit, unseres Lebens mit feinem Ohr belauscht,,
der ihre Quelle erforscht, ihren Gehalt geprüft, ihre Richtung erspürt
hat. Sprüche und Wi d e r sprüche sind es — oft möchte man auffahren,
das Buch an die Wand werfen: aber gerade darin liegt sein Wert.
Kraus macht uns denken, macht uns kritisch nicht sowohl gegen das
Dogma, das Althergebrachte, Überlebte, als vielmehr gegen die Dog-
matil in allem, was sich als kulturfördernd, als Fortschritt ausgibt und
doch so oft Phrase, gedankenlos weitergegebene Flachheit ist und, weil
das liberale Gepräge die Kritik nicht leicht aufkommen läßt, eben viel
kulturhemmender wirkt als alle bewußte und erkennbare Reaktion und
Philisterei. Und dies ist das unbestreitbare Verdienst, das sich Kraus
durch diese Sprüche und Widersprüche erworben hat, ein Verdienst,
das man anerkennen muß, gerade wenn man im einzelnen ganz anders
als Kraus denkt. — Ein Massenerfolg kann einem so feinen und tiefen
Buch nicht beschieden sein; aber alle, die im Leben und in der Kunst
das Echte, das Starke, das Große suchen und die Phrase, die Halb-
wahrheit, die eklige Allerweltsplattheit, welche uns erst von der höheren
Schule und dann von der Zeitung (nach Lagardes Ausdruck) gekaut in
den Mund gespukt wird, hassen — sie alle werden dies Buch mit
Entzücken und Bewunderung lesen. Adolf Grote
Im ,Tag' (Berlin, 17. Augast) war von der
»Chinesischen Mauere die Rede:
. . . Karl Kraus in Wien, mit seiner grausamen Lust an der
erbarmungslosen Kompromittierung mitteleuropäischer Hochkultur, hat
in einem von köstlich frechen und feinen Übertreibungen strotzenden
Artikel den Ruin dieser bleichgesichtigen Zivilisation durch das weiße
Weib prophezeit . . .
Wo stand dieser Artikel? Das Dasein der
, Fackel' bleibe ein Geheimnis.
32 —
Richard Dehmel hat mir die Ehre erwiesen, der ,Fackel'
freiwillig das S-hlußgedicht aus Liliencrons Nachlaßband >Gute
Nacht«, der bald erscheinen wird, als Manuskript zu senden :
Begräbnis
>Laudat alauda Deum, tinli tirilique canendo«
Wenn letzter Donner fern verrollt
Nach dunkler Sommerstunde :
Schon winkt ein erstes Wolkengold
Dem regensatten Grunde :
Die Sonne küßt die Gräser wach,
Die lieben Lerchen singen,
Es trägt der Wind den blauen Tag
Empor auf kühlen Schwingen :
In solcher Stunde senkt mich ein,
Viel Müh ist nicht vonnöten,
Es wird die Erde hinterdrein
Mir rasch den Sarg verlöten.
Streut Rosen, Rosen in das Grab,
Und spielt Trompetenstückc ;
Dann brecht mir meinen Wanderstab
Mit fester Hand in Stücke !
Es fiel ein Blatt vom Baum, «s fiel
, Durch fruchtbeschwerte Äste.
Nun geht zu euerm eignen Ziel,
Ihr meine letzten Gäste!
Zum eignen Ziel geht spielbereit,
Schwenkt hoch die Trauerfahnen,
Froh, daß ihr noch auf Erden seid
Und nicht bei euern Ahnen!
Detlev v. Liliencron
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sehen. Nun veröffent-
licht die Kolonialver-
waltung unter der Über-
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an deutsche Eltern und
Erzieher' folgende amt-
liche Kundgebung: Vor
kurzem sind durch die
Presse Fälle bekannt ge-
worden, in denen Neger
unserer Kolonien versucht
haben, einen Briefwechsel
mit deutschen Mädchen
anzubahnen. Die amt-
licherseits veranlaßten
Für Bankier, 30 Jahre, mos.,
vorn. Ersch., mit üb. 100 Mille
Verm. suche passende Partie. Off.
nur mit Photographie.
Zahnarzt, Ende Dreißig, Isr.,
6000 Mk. Eink., w. s. m. ver-
mög. j. Dame z. verh. Vermittler
erbeten.
Disponent, 27, mos., w. Be-
kanntschaft j. Dame (unt. 23 J.)
zw. Heirat. Eink. 7—8000, welches
durch Eintr. in d. Firma auf
10.000 erhöht werden kann.
Suche f. m. Neffen, appr.
Apotheker, ev., liberal denkend,
Mitte 30, ca. 5000 Eink., pass.
Lebensgefährtin mit Verm. Eltern
auch Vormünder werd. u. genaue
Mitteil. d. Verh. geb. Discr.
selbstverst.
2 -
Ermittlungen haben er-
geben, daß die Anregung
zu solchen Korresponden-
zen nicht immer von Seiten
der Neger ausgegangen ist.
Vielmehr ist in der Mehr-
zahl der Fälle festgestellt
worden, daß sich außer
Schülern, jüngeren An-
gestellten und Studenten
auch Mädchen verschie-
denen Alters an Einge-
borene der Schutzgebiete
gewandt und sie zum
Briefwechsel aufgefordert
haben. Während die männ-
lichen Briefschreiber fast
durchwegs den Zweck
verfolgen, auf diesem
Wege afrikanische Brief-
marken, Kuriositäten usw.
zu erhalten, scheint bei
den jungen Mädchen viel-
fach die Freude an der
Romantik eines Brief-
wechsels mit einem Neger,
möglichst mit einem
,8chwarzen Prinzen', der
Beweggrund zu sein. Be-
dauerlicherweise ist aus
dem Inhalt der von den
Schwarzen — meist Jun-
gen von 17 bis 20 Jahren
— harmlos vorgelegten
Briefe zu ersehen, daß
einige der Briefschreibe-
rinnen bei Abfassung der
Briefe in bedenklicher
Weise das Bewußtsein
Fabriksbesitzer, Ende 40er, ge
sund, von großer Figur, sucht auf
diesem Wege das Glück der Zu-
kunft. Damen mit mindestens
100 Mille, welche Sinn für Häus-
lichkeit haben, wollen gefälligst . . .
Einheirat wünscht langjähr.
Reisender, mos., vermögend, in
lukratives Unternehmen. Bedin-
gung hübsche ansehnl. Dame.
Anonym, ausgeschl.
Rechtsanwalt, Doktortit., stattl.
Ersch., w. zw. Heirat jüd. Dame,
100.000 M. «Photographie.
Für nah. Verw., Prokurist, gr.
eleg. Ersch., suche passende Frau
bis 28, v. Herz u. Gemüt u. gleich
guter Ersch. Erw. Mitg. ca 50
75 Mille. Nur ernstgem. Zuschr.
m. Photographie erwünscht. Ein-
heirat nicht ausgeschlossen.
Mit einer hübschen u. klugen
Frau möchte ich meinen besten
Freund, 39 Jahre alt, freidenk.
Jude, kleiner Figur, weltgereist,
verheiratet sehen.
Kaufmann, 28 Jahre, groß, ge-
genwärtiger Jahresgehalt über 2000
Mk., wünscht Heirat mit vermög.,
— 3
der eigenen Stellung ver-
loren haben. Die Übersen-
dungder Photographien
der Briefschreiberinnen
ist nichts außergewöhn-
liches. Jedenfalls haben
die Spenderinnen dabei
nicht bedacht, daß ihre
Photographien von den
Negern in ihren Wohn-
ungen neben allerlei an-
deren Bildern aufgehängt
werden, und daß es auf
den weißen Beschauer
einen befremdenden Ein-
druck macht, wenn er die
Photographie eines offen-
bar den besseren Ständen
angehörenden deutschen
Mädchens im traulichen
Verein mit dem Bild einer
, schwarzen Schönheit* un-
bekannter Herkunftfindet.
Es darf daher nicht wun-
dernehmen, wenn es bei
der farbigen männlichen
Jugend einiger Schutzge-
biete nachgerade zum
guten Ton gehört, eine
, Freundin* in Deutsch-
land zu haben. Die
Schuld an dieser bedauer-
lichen Tatsache dürfte in
erster Linie das heimische
deutsche Publikum treffen,
die Eltern und Erzieher
der Mädchen, die aus Un-
kenntnis der Verhältnisse
der Unsitte des Korre-
wirtsch., liebenswürd. Dame aus
christl. Fam. Angebote möglichst
mit Phot.
Geb. Kfm., 26 J., r. Lbserf.,
Verm. 15 Mille, w. Bek. frdsprl.
geb. wirtschl. tcht. Dame m.
entspr. Mitgift.
Ernstgemeint. Jg. Mann, 30 J.,
mos, wünscht in ein Möbel- oder
Teppichgesch. einzuh. oder eta-
blieren.
Rittergutspächt., jg., stattl.
Ersch., w. Neigungsehe m. einf.
erz. h. jg. Dame, d. Gem. u.
Herzbld. bes., Relig. gl., Verm. erw.
Sonniges Heim durch Ehe sucht
Kaufm., Isr. Angern. Mtgft. Be-
dingung.
Einheirat, i. f. Herren-Moden-
Maßgeschäft wünscht erstklassiger
Zuschneider und Verkäufer f. Her-
ren-Garderobe, mos., 167 groß
und kerngesund.
Suche als Lebensgefährtin Frl.
aus bess. Farn., makellos, gesund,
35 bis 50 Mille. Bin Oroßkaiif-
mann, 41 J.. jugendfrisch, freid.
Israel., nicht unvermögend. Nur
spondierens mit Negern in
der geschilderten Weise
nicht steuern, oder die
ihrer Erziehung anver-
trauten Mädchen in dieser
Hinsicht nicht genügend
überwachen. Im Interesse
aller Beteiligten erscheint
es dringend geboten, auf
Abstellung des nicht immer
harmlosen Unfugs hinzu-
wirken. 'Ein Nachlassen
des gedachten Briefwech-
sels wird indes nur dann
zu erwarten sein, wenn
alle dazu Berufenen den
jungen Mädchen in der
Heimat immer wieder zum
Bewußtsein bringen, wie-
viel sie sich durch einen
solchen Briefwechsel mit
den Eingeborenen der
Kolonien vergeben und
wie sehr sie durch ihn
der Kolonialverwaltung
die Aufgabe der Erziehung
der Eingeborenen er-
schweren, c
streng reelle Offerten mit Photo-
graphie.
Neigungsheirat wünscht Diplom-
ingenieur, 1 SO groß, mit evan-
gelischer, vermögender (nicht unter
25.000 Mk.) jungen Dame.
Mittlerer Beamter In östl. Pro-
vinzialhauptstadt, 45 Jahre alt,
T6S m, wünscht mit geb. Dame
In Verbindung zu treten. Offerlen
möglichst mit Phot.
Kaufm., 29 Jahre alt, Isr., v.
kl. Figur, sucht Einheirat in ein
Konfektions- oder Schuhgeschäft.
Betreffendes Mädchen nicht über
20, mit Herzensbildung bevorzugt.
In feinst, isr. Familien best,
eingef. hochachtbarer Vermittler
empfiehlt seine Dienste unter
strengster Diskretion.
Briefe Ferdinand Kürnbergers
Am 14. Oktober jährt sich zum dreißigsten Male
der Tag, an dem einer der seltenen Männer in diesem
jetzt von Schwätzern zu einem »neuen österreichc
hinaufgeschwätzten Trösterreich gestorben ist. Die
Briefe, die hier nebst einer Quittung zum erstenmal ver-
öffentlicht werden, sind zum Teil in Kürnbergers letz-
tem Lebensjahre entstanden und an die Frau seines
Freundes, des Reichsratsabgeordneten Dr. J. Kopp,
gerichtet. Kürnberger, den Krankheit von einer Reise
abhielt, sollte bald darnach auf einer Reise sterben.
Er erkrankte in München, wurde im Hause Kaulbachs
gepflegt und später ins Spital überführt. Sein Grab
ist in Mödling. Die Zeitungsmacher hatten, wie man
auch aus diesen Dokumenten ersieht, nicht viel dazu
beigetragen, seine letzten Jahre behaglicher zu ge-
stalten. Er hat mit seinem Lebenswerk nicht an-
nähernd so viel verdient, wie Herr Victor Leon mit
seiner Idee, einen Operettentenor die'Worte »Njegus,
Geliebter, komm herU sprechen zu lassen.
Verehrte Frau!
Verschmähen Sie es nicht, beifolgendes Büchlein auf Ihren
Weihnachtstisch zu legen. Ich bitte aber wohl nachzuzählen, ob
es tausend Gedanken sind; vielleicht könnte der Dienstniann
unterwegs einige verloren haben.*)
Jedenfalls hat das Kindlein, dessen Geburt wir jetzt feiern,
zu mehr als tausend guten Gedanken Veranlassung gegeben. Einen
der hübschesten hörte ich neulich erzählen:
An einem Wirtstische schimpfte man über die Jesuiten. Am
Nachbartische wurde man stutzig und Einer rief herüber: >Wir
müssen bitten, Ihren Reden Einhalt zu tun. Sie beleidigen uns!«
— »Wieso?« — >Wir sind selbst von der Gesellschaft Jesu.« —
»Von welcher Gesellschaft? — Von der Gesellschaft seiner Geburt?
Das waren Esel und Ochs. Von der Gesellschaft seines Todes?
Das waren zwei Verbrecher.«
Gar nicht zu verachten, wie?! Soll auch dem Herrn Reichs-
ratsabgeordneten Dr. Kopp zur Gelegenheit einer der nächsten
Jesuitenreden bestens empfohlen sein!
Bis dahin empfehle ich mich selbst und wünsche Ihnen und
Ihrem ganzen hochpt eislichen Hause fröhliche Weihnachten. Die
*) Bezieht sich wahrscheinlich auf Berthold Auerbachs >Tausend
Gedanken eines Kollaborators«, ein Werk, das man >eine langweilige
Krümchensammlerei« nannte.
meinigen pflege ich immer auswärts zuzubringen. Vor meiner
Abreise meinen besten Gruß auf baldiges Wiedersehen!
Hochachtungsvoll
Ferdinand Kürnberger.
Wien, Donnerstag morgens,
23. Dezember 1875.
•
Gratz.
Quittung.
Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, bei Iwan dem
Schrecklichen, beim dreibeinigen Holz und gedrehten Hanf, bei
Allem, was mir heilig ist; ich schwöre beim Dualismus, beim
Militärbudget, beim Defizit, bei Bosnien und Herzegowina, bei
Novibazar und Salonichi; bei allem, was uns theuer ist,
daß ich von Doktor Joseph Kopp, katholisch, verheiratet, geimpft,
unbescholten,
an einem unvergeßlich schönen Tage, da man schrieb Sancta
Scholastica den zehnten Februar und der liebe Mond in der ersten
Hälfte des abnehmenden Viertels stand (eppes ain Achtel!) und
nach der Geburt unseres Herrn und Erlösers zählete: 1879 —
daß ich an diesem Tage und in diesem Jahr von vorbemeldeter
Respektsperson und im Auftrage des sehr fähigen und zahlungs-
fähigen Herrn Heinrich Reschauer's *)
einen unverpesteten Brief aus dem Norden mit der Provenienz
von hundert Gulden österreichischer am längsten = Währung
empfangen und vollkommen sanitätsmäßig befunden habe.
Zur Urkund dessen meine eigenhändige Tinte.
Am Fastnachts-Mittwoch, eine Woche vor Aschermittwoch, d. i.
19. Febr. 1879.
Ferdinand Kürnberger.
«
Gratz, 22. Mai 1879.
Gnädige Frau !
Meinen umgehenden Dank für die Übersendung der Frei-
karten. Wer bedauert mehr als ich, daß ich sie nicht abwarten
konnte?! Ich meldete sie am Donnerstag an und glaubte, Reschauer
*) Herausgeber der .Deutschen Zeitung'
würde sie am Sonntag Abend, wo wir uns gemeinsam bei Ihnen
treffen, mitbringen. Durch irgend ein Mißverständnis war es
aber noch nicht geschehen. Das Mißverständnis wurde besprochen
und aufgeklärt und nun würde ich sie morgen abends haben,
sagte Reschauer, nämlich Montag abends. Ich hatte sie aber weder
am Montag abends, noch am Dienstag abends, noch am Mittwoch
mittags. Was Wunder, daß ich am Mittwoch mittags abreiste? . . .
Das mündliche Adieu bei Ihnen versäumte ich wegen meiner
heftigen Heiserkeit.
Frau Dr. J. kann mir's bezeugen, bei der ich die letzte
Stunde zubrachte. Die Kosten der Unterhaltung trug sie; ich warf
manchmal ein heiseres Wort dazwischen, denn ich war keines
Lautes mächtig. Bei Ihnen wär's umgekehrt gewesen. Sie hätten
meinen Entschluß mit Lebhaftigkeit bestritten ; ich hätte ihn stand-
haft festgehalten, lebhaft vertheidigt, kurz ich hätte sprechen
müssen. Und von wem sprechen? Von R. ! Von dem ich so-
eben gesprochen und wahrlich stark genug. Sollte ich nach 48
Stunden das Alles wiederholen ? Ist es meine Rolle, den Kopps
mit meinem Verdruß über R. beständig in den Ohren zu liegen ?
Er ist nun einmal Hausfreund. Er ist sogar mehr als ich, er ist
auf Du und Du. Und sage ich denn etwas Neues ? Weiß das der
Doktor nicht Alles selbst, nur daß er's leider nicht ändern kann?
Und ist es freundlich, immer von Neuem an Übel zu erinnern,
die man zu seiner Ruhe vergessen, die man des lieben Frieden
wegen am liebsten todtschweigen möchte? Es hat mich schon
peinlich genug berührt, wie ich am Montag sprechen mußte, und
wie man zu einem Freunde von einem Freunde nicht spricht.
Mein Feingefühl hätte sich's am liebsten erspart und ich that's
nur, weil ich ja nicht als Ankläger, sondern blos zu meiner Selbst-
vertheidigung sprach; ich hatte gefühlt, das ich den Sonntag-
abend in einer Verstimmung bei Ihnen zugebracht, die ich nach-
träglich erklären mußte. Zwei Tage später dieselbe Variation dieses
Themas mit kreischender und distonierender Heiserkeit durch-
zuspielen, wäre mir moralisch unmöglich gewesen.
Meine Abreise, mein Verzicht auf die Freikarten, das Alles
war jetzt meine Sache allein und es gab keine Pflicht, kein Recht
mehr, die Kopps mit meinen Diatriben gegen Reschauer zu be-
helligen. Es würde mich aufrichtig schmerzen, wenn sich der Doktor
>gekränkt« fühlte, denn das Gegenteil ist mein Gefühl: ich
glaube ihn nicht gekränkt, sondern geschont und verschont zu
zu haben. Was sollte ein widerwärtiges hin und her Reden um
mein Reisen oder Nichtreisen? .... Wie hätte ich Ihnen von
Neuem mit diesem Thema ins Haus fallen mögen? Nimmermehr!
Es ging mich allein an, ein Federzug genügte, und ohne den
Mund zu öffnen, schied ich still und verzichtend aus meiner
Vaterstadt oder Stiefvaterstadt!
Leben Sie recht wohl.
Mit treuem Gruße
Ferd. Kürnberger.
*
Gratz, Sonntag den 25. Mai 1879.
Verehrteste Frau!
Ich habe das Reschauer-Du nicht etwa im Sinne einer eifer-
süchtigen Nebenbuhlerschaft betont, sondern — was ich nicht oft
genug wiederholen kann — blos zum Gebrauch meiner Recht-
fertigung. Ich wollte nicht zweimal nacheinander einem Freunde
recriminirend von einem Freunde sprechen, mit dem er Du und
Du ist: das war der Sinn meiner Worte. Doktor Kopp's Freund-
schaft — mit oder ohne Du — weiß ich am Maße meiner eigenen
zu beurtheilen; es ehrt mich, zu wissen und zu fühlen, was ihre
Bedeutung und was ihr Charakter ist, und ich bin zufrieden damit.
Das Du könnte kein höherer Ausdruck dafür sein, denn in den
seltensten Fällen drückt das Du die reine Freundschaft allein aus;
meistentheils kommt es angeflogen aus Ursache irgend einer
äußeren Beziehung, einer collegialen Ähnlichkeit oder Gemeinsam-
keit, "welche mit einer Art von Tropus das gleichartig Äußere für
das Innere setzt und demgemäß ausdrückt. Wenn alle Offiziere
oder Reichsräthe, welche auf Du sind, Freunde wären! Das Aus-
drucksmittel ist daher für die wirkliche Freundschaft technisch
unvollkommen und psychisch überflüßig.
Ein Schritt, wie meine Mittwochs-Abreise, setzt sich aus
gar manchen Feinheiten zusammen, aus denen das Lebensgewebe
überhaupt besteht, während nach außen hin gewöhnlich nur ein
Faden gesehen wird — grob von Gespinnst und grell in der
Farbe. So sah es nach außen hin aus: ich ging von Kopp's ohne
Adieu fort. Aber wer sagte, daß es überhaupt eines Adieus be-
durfte? Daß ich nicht in wenigen Tagen vielleicht wieder kam?
Diese wenigen Tage aber machten in meiner Hotelrechnung schon
9 —
mehr, als es ausmacht, von Gratz nach Wien auf meine Kosten
wieder zurückzufahren.
Zwar das wußte ich, daß ich auf die Freikarten nicht mehr
tagelang, sondern höchstens stundenlang würde warten müssen,
mit dieser Ritardation traf aber gleichzeitig die längere des Katarrhs
zusammen. Er trat so heftig auf, die Wärmewallungen des katarrhali-
schen Fiebers, das sich in ähnlichen Fällen nur abends einstellte,
griffen mich so ernstlich auch am Tage an, daß beides zusammen
ausschlaggebend wurde. Fort! Wohlfeiler ist meine Rückfahrt nach
Wien, als das Abwarten in Wien. Das war das erste, nächste,
einzige Motiv und drüber hinaus blieb jede Frage noch offen. Als
ich abfuhr, brauchte ich Berlin noch nicht definitiv aufgegeben
zu haben; ich hatte daher auch kein förmliches Adieu versäumt,
wenn ich ja doch innerhalb einer Woche zurückkam. In meiner
Fantasie bleibt Gratz immer eine Vorstadt von Wien und in-
zwischen sah ich zuhause doch nach, was angekommen sei, ob
dringende Einlaufe zu erledigen, — kurz, es war ein Sprung!
Ein kleiner Seitensprung vom vorgezeichneten Weg, aber
noch nicht ein beschloßenes Aufgeben des Weges. So machte ich
mit der Rothenthurmstraße diesmal nicht mehr Umstände, indem
ich nach Gratz ging, als sonst, wenn ich in meine alte Wollzeile
ging. Es war kein Gegenstand, wie man sagt! Ich konnte aus
meiner, nur 6 Stunden entfernten Vorstadt, demnächst wieder bei
Ihnen sein. Berlin war nicht aufgegeben, aber ein Abschied bei
Ihnen hätte mich alle Worte gekostet, womit man für Provisorien
so gut sprechen muß, wie für Definitiva — die Ausgleichs-Politiker
wissen es ! — und ach, ich konnte überhaupt nicht sprechen
Ich wartete meinen Katarrh in Gratz ab und ich demonstrierte
gegen R.; damit er doch einmal einen Ernst sieht und inne wird,
daß man eine Geduld zu verlieren hat. Das war Alles. Im
Übrigen konnte ich aus meiner Beethovenstraße so bald wieder
zurück sein, wie aus meiner Wollzeile. Daraufhin braucht man
nicht eben Abschied zu nehmen und sich Adieu zu sagen.
Erst im Lauf dieser Tage führt mich eine reife Überlegung
der Umstände nun doch zu dem Facit, daß ich auf meinen
Berliner Besuch für diesmal verzichten soll.
Ich wollte bekanntlich eine Vorlesung in Berlin halten und
dafür ist die Saison jetzt vorbei. Auch die politische Stimmung
scheint mir ungünstig. Deutschland vollzieht soeben einen der
— 10 —
größten Systemwechsel, den Übergang vom Freihandel zum Schutz-
zoll und alle Geister sind jetzt in volkswirtschaftliche Ideenkreise
gebannt. Meine Ideen Ȇber das antik und modern Tragi-
sch e< kämen dahergesaust — wie Meteorsteine von einem andern
Planeten. Und doch möchte das hingehen. Sie können sagen,
Berlin versinkt mir ja nicht; es bleibt mir für die Vorlesung und
für einen zweiten Besuch noch immer stehen, mein diesmaliger
erster widme sich den Lipperheide's allein. Sie haben Recht, wenn
Sie es sagen, ich sagte mirs selbst im hin und her-, auf und
ab-Überlegen. Nun kommt aber mein Katarrh in Betracht. Zwar
alle Hauptsymptome sind rasch verschwunden, aber noch immer
habe ich eine rauhe Stimme und die rekonvalesciert erfahrungs-
mäßig schon hngsamer. Man reist jetzt bei offenen Wagenfenstern.
Ich werde also diese Stimme und diese Kehle von Qratz bis
Berlin dem Rauch der Eisenbahn auszusetzen haben. Ist das räthlich?
Ferner: Sie wissen, daß die Norddeutschen einer Gesellig-
keit nur ganz froh werden können, bei vielem Trinken. Darin
sind sie Berserker und Riesen. Mit meinem Trinken müßte ich
Berlinern schon in gesunden Tagen den Eindruck eines Tod-
kranken machen; wie ich aber auf mindestens 14 Tage Wein,
Bier und Tabaksrauch noch heiklicher fliehen müßte, so würden
sie gar glauben, ich sterbe ihnen unter den Händen. Und ich
hätte mich außer den Lipperheide's doch noch vielen Berliner
Freunden und ihren Tischgesellschaften zu widmen. Mein ganzer
Berliner Aufenthalt wäre fast nichts als ein ewiges zimperliches
Protestieren gegen die Berliner Gewohnheiten und die Derbheit
ihrer Genüsse. Damit erfreut man die Menschen nun doch auch
wieder nicht. Warte ich aber noch weitere 14, ja nur 8 Tage ab,
so packen die Lipperheide's ihren Koffer und gehen selbst wieder
fort, denn die Saison steht just auf ihrer äußersten Schneide.
Wenige Tage entscheiden und entschieden den Verlust des Ganzen.
Ich hoffe, das Alles approbieren Sie bei ruhigem Blut
Zum Schlüsse noch Eins. Die kleine Pfingstreise nach Wildon
und Steinhof wird Ihnen hoffentlich nicht auch so vereitelt, wie
mir die große Berliner Reise. Gratz ist eine Station von 25 Minuten
Aufenthalt und dabei möchte ich Sie persönlich begrüßen. Ich
bitte um genaueste Nachricht, mit welchem Zuge Sie anzukommen
gedenken. Ich höre, Heilsberg räth Ihnen übrigens, statt in Wildon
in Gratz zu übernachten und da schwingen Sie rieh wohl gar
— 11
zu einem Besuch bei mir auf, denn die Pferdebahn geht vom
Bahnhof an meine Straßenecke (Station Beethoven straße) und fast
ganz vor mein Haus. Aber ob 25 Minuten, ob eine ganze Nacht,
ich erlaube mir in beiden Fällen zu bitten, 'mir einige Ex.
der Deutschen Zeitung mitzubringen. Meine vier Jänner-Feuilletons
habe ich mir im Gratzer Zeitungsverschleiß bei Kienreich ge-
kauft, teilweise sogar noch zehn Tage nach ihrem Erscheinen.
Als ich mir aber den > häuslichen Narrenabend« blos am vierten
Tage kaufen wollte, fand ich die Nummern schon vergriffen und
mein Pichler-Feuilleton vom Feiertag fand ich gar schon am
zweiten Tag nicht mehr. Entweder schickt der Verschleiß die
unverkauften Exemplare nach einer neueren Praxis zu früh zurück,
oder der Detailverkauf nimmt reißend zu, ohne daß die Leute
gescheidt genug wären, dem entsprechend sich auch eine stärkere
Exemplarenanzahl kommen zu lassen .... Die Wiener Zeitungs-
auflage kommt mit dem Schnellzug mittags um halb eins an
und geht in den Verkauf über. Die Sonntagsnummer kostet um
2 kr. mehr, weil sie Sonntagsnummer ist, dafür kann man sie
aber erst Montag kaufen! K. hält Sonntagsfeier, obwohl es be-
hördlich nicht mehr geboten ist, auch viele andere Laden halten
offen, nur den seinigen schließt er, schließt ihn mit einer Waare,
deren ganzer Wert der Tag, ja die Stunde ist, läßt die Sonntags-
nummern 20 Stunden lang müßig unter Verschluß liegen und
verkauft sie dann altgebacken um 2 kr. teurer ! !
Ich bitte Sie also mir drei meiner Deutschen Zeitungs-
Feuilletons mitzubringen und zwar: Häuslicher Narrenabend,
Sonntag, den 9. Februar, ferner die zwei neuesten Pichler-
Feuilletons vom Feiertag und dem heutigen Sonntag. Jedes in
zwei Exemplaren.
Und da es immer gut ist, einen Geldbrief zu vermeiden,
wo man sich persönlich berührt, so bitte ich den Doktor, auch
das Honorar von 50 fl. zur persönlichen Übergabe an mich mit-
zubringen.
Jetzt weiß ich gar nichts mehr, als daß ich mich auf Ihre
Ankunft freue ! Leben Sie recht wohl und theilen Sie meine Grüße
zwischen Ihnen und dem Doktor, aber so, daß Jedes statt der
Hälfte das Doppelte bekommt.
Der Ihrige Ferd. Kürnberger.
- 12 —
Gnädige Frau!
Ich bitte demnach an Lipperheides zu schreiben. Ich kann
leider nicht Ihnen folgen, sondern nur dem Kürnberger. Wenn
ich schreibe, so schreibe ich nicht, was Ihnen einfällt, sondern
was dem Kürnberger einfällt, und wenn ich handle, so kann ich
eben auch nur Kürnbergerisch handeln. Die Eisenbahn ist mir
unter allen Umstünden ein Attentat auf die Menschenwürde und
daß der Mensch stundenlang keine andere Freiheit hat, als die
der Augen, bleibt mir immer zu wenig. Nachts (wo ich nicht
schlafen kann) auch noch auf diesen einzigen Sinn zu verzichten
und gar nichts zu sein, als ein Packet Fleisch-Transport, ist nicht
Kürnbergerisch. So hält denn auch mein Trinkbedenken, wenn
nicht vor Ihnen, doch vor dem Kürnberger Stich, — kurz, ich
könnte mich nur wiederholen und schweige daher, umsomehr als
die gefaßten Entschlüsse und Willensmeinungen eines mündigen
und zurechnungsfähigen Menschen überhaupt nicht discutirbar
sind, sondern nur ad notam genommen werden können.
Bitte demnach an Lipperheide zu schreiben. Ich habe mich
gestern, gleichzeitig mit meinem Schreiben an Sie, für die Mitte
Juni in Bregenz bei Robert Byr und Alfred Meißner angemeldet.
— Ich werde Sie nicht im »Florian«, sondern am Bahnhof er-
warten. Möge Landesausschuß und Politik nicht alle Gratzer
Stunden consumieren. Ich machte erst gestern wieder einen Spazier-
gang, - nur auf 3/< Stunden im Umkreis meines Hauses, kaum
so weit, als Sie von Ihrem Haus zu Fuß zum Schwender brauchten,
und wie ich dabei in Bergen, Wäldern und Wiesen und unter den
reizendsten Nah- und Fernsichten schwelgte, ließ ich mich im
Geiste fortwährend von Ihnen begleiten. Da würden Sie fühlen,
warum man nach Gratz geht, dachte ich mir. Es ist nicht einmal
ein Nachmittags-, nur ein Abendspaziergang und ist mehr als
Weidlingau und die Brühl! Und zwar ohne Wagen, ohne daß
sich ein einzigesmal ein Rad umzudrehen brauchte!
Beste Grüße auf freudenreiche mündliche Wiederholung in
48 Stunden!
Der Ihrige
Gratz, Mittwoch 28. Mai 1879. Ferd. Kürnberger.
— 13 —
Gedichte
Von Else Lasker- Schüler
Siehst du mich —
Zwischen Erde und Himmel?
Nie ging einer über meinem Pfad
Aber dein Antlitz wärmt meine Welt
Von dir geht alles Blühen aus.
Wenn du mich ansiehst,
Wird mein Herz süß.
Ich liege unter deinem Lächeln
Und lerne Tag und Nacht bereiten
Dich hinzaubern und vergehen lassen,
Immer spiele ich das eine Spiel.
Und suche Gott
Ich habe immer vor dem Rauschen meines
Herzens gelegen
Und nie den Morgen gesehen
Nie Gott gesucht.
Nun aber wandele ich um meines Kindes
Goldgedichtete Glieder
Und suche Gott.
Ich bin müde vom Schlummer
Weiß nur vom Antlitz der Nacht.
Ich fürchte mich vor der Frühe
Sie hat ein Gesicht
Wie die Menschen, die fragen.
Ich habe immer vor dem Rauschen
Meines Herzens gelegen
Nun aber taste ich um meines Kindes
Gottgelichtete Glieder.
* *
*
788
— 14 —
Aphorismen *)
Von Karl Kraus
Der christlichen Ethik ist es gelungen, Hetären
in Nonnen zu verwandeln. Leider ist es ihr aber auch
gelungen, Philosophen in Wüstlinge zu verwandeln.
Und gottseidank ist die erste Metamorphose nicht
ganz so verläßlich.
*
Der Ausweg: Wenn die Menschen für die Er-
findung eines Vehikels Ideale und Leben geopfert
haben, nimm das Vehikel, um den Leichen zu ent-
fliehen und den Idealen näher zu kommen!
*
Die Hysterie der Weiber gleicht dem Schimmel,
der sich auf Dinge legt, die lange in feuchtem Raum
eingesperrt waren: man ist leicht geneigt, ihn für
Schnee zu halten.
Eine Moral, welche aus der Gelegenheit ein
Geheimnis gemacht hat, hat auch aus dem Geheimnis
eine Gelegenheit gemacht.
*
Die Moral sagte: Nicht herschauen! Damit war
beiden Teilen geholfen.
*
Die Liebe des Geschlechts ist in der Theologie
eine Sünde, in der Jurisprudenz ein unerlaubtes Ver-
ständnis, in der Medizin ein mechanischer Insult, und
die Philosophie gibt sich mit so etwas überhaupt
nicht ab.
*
Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des
Gedankens.
Von einem, der auf die Jungfräulichkeit seiner
*) Aus dem .Simplicissimus'.
— 15 —
Angebeteten schwor, fand ich es nicht merkwürdig,
daß er sich das einreden ließ, sondern daß er sich
das einreden ließ.
Die Frauenseele =
x2 + J/31-4-20 + 4-6 -(4X2)+y2+2xy _^3 + Q,41)
(x + y)* — 3-8 + 6-6-2
Glossen
Von Karl Kraus
Es ist erfreulich zu sehen, wie unbeirrbar — trotz einer
»Chinesischen Mauer« - derQlaube des Publikums an die Mission der
, Fackel' sich zu meinem Schreibtisch Bahn bricht. Eine und dieselbe
Post brachte mir: eine Beschwerdeschrift, unterzeichnet von mehreren
Leuten, Lehrern, Beamten und sonstigen Standespersonen, über
die Grobheit eines Försters, der dem Pintsch einer Dame in der
Sommerfrische auf den Fuß trat, so daß die Dame aufschrie,
worauf der Förster mit der Tötung des Hundes, der ihm über-
haupt unsympathisch war, drohte, so daß die Dame in Ohnmacht
fiel, so daß die Herren nicht wußten, was sie machen sollten, und
den Beschluß faßten, es der , Fackel' zu sagen. Ferner: die Zu-
schrift eines Bäckers, die mit den mir unvergeßlichen Worten be-
ginnt: »Entschuldigen Sie meine Freiheit! Ich habe soeben in
Erfahrung gebracht, daß Sie unerschrocken jede Wahrheit, welche
das Publikum interessiert, vor die Öffentlichkeit bringen und er-
laube mir . . .«, und die mit dem lockenden Versprechen schließt,
daß »sehr viele Sachen ans Tageslicht kommen« werden. Dann:
die Mahnung eines Ungeduldigen, es sei schon höchste Zeit,
daß sich die .Fackel' für den Kampf um den Direktorsposten
bei der Kreditanstalt interessiere. Endlich : die Klage eines
Luftschiffers: »Obwohl ich seit Erscheinen der , Fackel' so ziemlich
deren sämtliche Nummern gelesen und was noch mehr ist, gekauft
16
habe, bin ich doch bisher nicht in der Lage, mir ein Urteil über
Ihr aviatisches Glaubensbekenntnis zu bilden« . . . Nun, wenn ich
die Erwartungen der Leser auch nicht immer zu erfüllen im Stande
bin, so werde ich doch stets bereit sein, die Distanz, in der
ich zurückbleibe, zu bekennen.
* *
*
Nun haben wir von einem amerikanischen Philantropen
das Modell jenes großen fossilen Reptils erhalten, das unter dem
Namen Diplodocus Carnegiei bekannt ist. Spät, aber doch. Eine
Anzüglichkeit ist darin nicht zu erblicken ; denn London, Paris
und Berlin haben längst ein solches Modell. Der Diplodocus be-
zieht sich also nicht auf unsere Rückständigkeit, vielmehr bezieht
sich unsere Rückständigkeit auf den Diplodocus. Jedenfalls ist es
erfreulich, wenn man ausging, ein Luftschiff zu suchen, und einen
Diplodocus findet. Carnegie wußte, wo uns der Schuh gedrückt
hat; >sein Herz«, sagte der Überbringer des Diplodocus einem
Interviewer, »ist stets den Bedürftigen zugewendet«. Er wird mit
Bettelbriefen aus allen Teilen der Welt überschwemmt.
* *
•
Die »Findigkeit der Post« ist eine angeborne Eigenschaft.
Ich habe lange nicht an sie glauben wollen. Denn daß die Post
eine populäre Persönlichkeit findet, wenn ein scherzhafter Zeichner
statt der Adresse das Konterfei auf eine Postkarte gesetzt hat,
ist nicht weiter erstaunlich. Die Post dieses malerischen Landes
verweilt gern bei einem Bildel und läßt sich's eben auch ein wenig
Kopfzerbrechen kosten, wenn nur am andern Tag im .Extrablatt'
der Ruhm unter die populäre Persönlichkeit, den scherzhaften
Zeichner und die findige Post verteilt wird. Kürzlich aber
bekam ich einen Expreßbrief aus Stuttgart, und dieser Fall war
es, der mich wirklich an die Findigkeit der Post glauben lehrte.
Wäre das Kuvert einfach mit meinem Namen und der Adresse
»Wien« versehen gewesen, traun, die Post hätte nicht lange ge-
fackelt und wie in zahllosen anderen Fällen auf mich geraten.
Die Sache war aber nicht so einfach, sie war vielmehr außer-
ordentlich kompliziert, und dennoch gelang es der Post, mir den
Brief zuzustellen. Er war von Stuttgart am 2. Oktober abends
abgeschickt worden und ich hatte ihn am 3. Oktober, Sonntag,
um 8 Uhr abends erwartet. Statt dessen bekam ich ihn aber erst
am Montag nachmittags. Dieser Eilbrief war achtundvierzig
17
Stunden von Stuttgart nach Wien gegangen. Ein einfacher Brief
wäre rascher zugestellt worden. Aber ein einfacher hätte eben
nicht die Sorgfalt der Behandlung verdient, die dem Expreßbrief
zuteil wurde. Er war nämlich statt »Wien, I. Elisabethstraße«
»Wien, IV. Elisabethstraße« adressiert worden. Die Post ließ sich
das nicht zweimal sagen. Sie war so gewissenhaft, den Eilbrief
nicht in die Elisabethstraße, sondern in den IV. Bezirk zu diri-
gieren. Dort rannte der Eilbrief träger auf und ab und suchte die
Elisabethstraße. Der Adressat war bekannt, aber von der Straße
wußte man im ganzen Bezirk nichts. Aufruf erfolglos. Schon
wollte der Briefträger den Vermerk hinsetzen: Straße unbe-
kannten Aufenthalts oder verreist oder gestorben. Da kam ihm
der rettende Gedanke, den Brief in meiner früheren Wohnung,
die ja im gleichen Bezirk liegt - was eben auch den Irrtum des
Absenders erklärt — zu hinterlegen. Dort erfuhr er, daß ich nach
dem I. Bezirk, Elisabethstraße übersiedelt sei, und richtig, am
4. Oktober nachmittags traf der Brief bei mir ein. Der Post ist
kein Vorwurf zu machen. Sie hatte kein Mittel unerschöpft gelassen,
die Elisabethstraße im IV. Bezirk zu eruieren. Eine solche war
unauffindbar, und so mußte sich die Post wohl oder übel an den
Adressaten halten. Ein Eilbrief ist ein gut Ding, das Weile braucht,
und die Findigkeit der Post ist ein Dogma, an das fortan auch
ich glaube. Man kann ihr Hindernisse in den Weg legen, so viele
man will, sie findet doch zum Ziel. Und wenn man ihr die Be-
stellung eines Expreßbriefes zumutet, auf dem die ganz korrekte
Ortsangabe: Wien bei Linz stünde, sie würde zuerst bei Linz suchen
und dann doch schnurgerade den Weg nach Wien gehen. Auch
wenn niemand in der Näheist, der ihr durch Zurufe: Feuer, Feuer!
vorwärts hilft. Diesmal habe ich, während der Eilbote den vierten
Bezirk nach der Elisabethstraße absuchte, viel Geld an Telegramme
verschwendet, die durch das Ausbieiben des Eilbriefes notwendig
wurden. Der Staat, der Filou, ersetzt es mir nicht. Ich habe eine
lange Geduld. Aber das sage ich: wenn mir nicht die Postbüchel
am Neujahrstag pünktlich zugestellt werden, schlage ich Lärm!
* •
•
Dia fürchterlichste Tortur, die die Presse bereit hat, ist die
Mechanik des Nachdrucks. Ein geheimnisvolles Schneeballsystem
ermöglicht heute eine Verbreitung der Dummheit, die früher auch
nicht einmal geahnt worden wäre. Schreibt ein kleiner Wiener
— 18
Schmock über die ziemlich gleichgiltige Tatsache der Schließung
eines Kaffeehauses, das zufällig auf derselben Stelle stand, auf der
einst das sogenannte > Literaturcafe« gestanden war. Die Beziehung
des Kaffeegenusses zur literarischen Produktion, seit jeher über-
schätzt, hat längst ihre Humorhaftigkeit eingebüßt, sie besteht seit
dem Ende jenes Cafe- Oriensteidl überhaupt nicht mehr, und das
Schicksal der drei lyrischen Kommis, die nunmehr wirklich aus
dem Cafe Reil auswandern müssen, bewegt keinen Menschen auf
dem weiten Erdenrund. Aber Zeilenhonorar läßt sich daraus
schlagen. Man zitiert wieder einmal die Stirnlocke des Herrn Bahr,
die längst nicht nur ihre Berechtigung, sondern auch ihre Aktualität
verloren hat — der Mann liebt jetzt eine Melange aus Andreas
Hofer und Wotan — , und läßt um seinen Tisch sich >die jungen
Talente scharen, die ein für allemal die Vergangenheit über Bord
geworfen hatten«. >Da saßen Artur Schnitzler, Richard . . .«, dann
kommen die Probleme des Lebens, die dort »gelöst« wurden, der
bekannte Absynth, von dem noch nie ein Glas in einem Wiener
Kaffeehaus ausgeschenkt wurde, und schließlich die »nachdrängende
junge Generation«. Zuletzt — o tempora — saßen hier: »Paul
Wertheimer, Raoul . . .« und nicht etwa, »um eine Tasse Kaffee zu
trinken, sondern um über Literatur zu reden«. Nun, das ist zum
Kotzen, wenn man's nur einmal liest. Was geschieht aber? Das
Unglück will, daß der Schmock ausnahmsweise so ehrlich war,
meine »Demolierte Literatur« — hätte ich sie nie geschrieben ! —
zu nennen. Lieber bestohlen werden! Denn ein ebenso gewissen-
haftes Bureau schickt mir seit drei Wochen täglich Ausschnitte
aus sämtlichen deutschen und österreichischen Blättern sämtlicher
Haupt- und Provinzstädte. Und nun sieht mein Blick zum
hundertsten Mal die Stelle, auf der Paul Wertheimer saß, und ich
male mir aus, wie die Kunde allmählich über ganz Deutschland
und Österreich kriecht: In Dresden, Düsseldorf, Bremen, Nürnberg,
Breslau, Hannover, Frankfurt und Bromberg, in Pilsen, Gablonz
und Morchenstern, überall wissen sie es bereits: »das Ende eines
Literaturcafes« ist gekommen, und er saß darin, und natürlich
nicht, um eine Tasse Kaffee zu trinken, sondern . . . Das Aus-
schnittbureau arbeitet unermüdlich, die Post kann kaum nach-
kommen und in jeder Stunde keuchen die Boten und bringen mir
neue Beweise von der Unersättlichkeit des deutschen Literatur-
interesses. Und ich ewiger Querulant habe mich durch all die
19 -
Zeit beklagt, daß nichts von dem, was hierzulande geschaffen
wird, über die Grenze dringe!
Ein Zirkular, das zufällig in meine Hände kam, gibt über
deutsche Literaturverhältnisse prägnante Auskunft:
Der ergebenst gefertigte Verleger und Herausgeber der Zeitschrift
hat in Erfahrung gebracht, daß arn morgigen Sonnabend in L.
unter dem Namen eine »Wochenschrift« auf dem Plan erscheinen
wird, die in erster Linie einem Zwecke dienen soll, nämlich: den
Unterzeichneten »moralisch zu vernichten«.
Damit nun diesem Blatte und allen, die von ihm hören, von
vornherein einigermaßen der Beweis erbracht werde, daß wir seinen
Ursprung leidlich genau kennen, sei von ihm folgendes verkündet:
Chefredakteur des ist Herr K. P., genannt W. Das ist
aber derselbe W., der
erstens: von uns wegen verschiedener Geldunterschlagungen
und Betrügereien neulich der Staatsanwaltschaft angezeigt werden
mußte; der
zweitens: als Redakteur aus unserem Betriebe nicht bloß
deswegen ausscheiden mußte, weil er uns immerfort beschwindelte,
sondern weil er außerdem an einer ekelhaften Krankheit (nämlich der
»Krätze«) erkrankt war, so daß es niemand in seiner Nähe aushalten
konnte, bezw. wollte ; und der
drittens: als Chefredakteur des neulich ins Untersuchungs-
gefängnis eingelieferten G. m. b. H. Dr. L. & Co. aller Welt den Beweis
erbrachte, daß er für Geld zu jedem Bluff zu haben ist.
Verleger des ... ist Herr W. K., früher »Chef« einer Firma in
der . . . straße Nr. . . ., jetzt, nachdem Herr K. selber fallierte, Pro-
kurist der gleichen Firma, über deren Wert jede Auskunftei nähere
Angaben macht. Herr K. saß bereits im Frühjahr 1909 wegen Wechsel-
geschichten in Untersuchungshaft. Er ist ein Freund von H. R., der
erst neulich in Berlin hinter schwedischen Gardinen saß.
Kapital-Schieber des ... ist — über die Brücke des H. R.
hinweg — der ehemalige Verlagsbuchhändler J., von dem ich unter
Beweis stellen kann
erstens: daß er dreimal mit Gefängnis und auch mit fünf
Jahren Ehrenrechtsverlust vorbestraft ist; daß er
zweitens: von verschiedenen Seiten verdächtigt wird, Meineide
geschworen und zu solchen Schwüren dritte angestiftet zu haben ; und
daß er sich
drittens: trotzdem öffentlich wiederholt seines allerintimsten
Verkehrs mit dem Staatsanwalt Herrn Dr. M. rühmte, demselben Herrn
Staatsanwalt, der mich neulich im Zusammenhang mit der
F. 'sehen Mordsache in Untersuchungshaft nahm.
Das besagt alles und dürfte jeden anständigen Menschen dazu
20
bestimmen, mir in diesem neuesten Kampfe mit mehr oder minder
sauberen Feinden die alte Treue zu bewahren.
Hochachtungsvoll und ergebenst
Dr. jur. A. P.
Verleger und Herausgeber des .Deutschen Kampfes'.
In ,Az ujsäg' (Budapest, 26. September) ist ein Aufsatz von
Franz Herczeg über den Roman »Drut« von Bahr Hermann er-
schienen, der die Affaire Hervay behandelt. Ein Leser übersendet
mir die Übersetzung des folgenden Passus:
>Der Verfasser beendet an dieser Stelle seinen Roman, die
Wirklichkeit spann aber den ihren weiter. Der Wiener Karl Kraus
kommentierte seinerzeit mit einer in Feuer und Galle getauchten Feder
die scheußliche Gerichtsverhandlung, in der die gelehrten kaiserlichen
Richter mit verzweifelter Anstrengung der gequälten Frau auf den Kopf
beweisen wollten, daß sie eine .Vergangenheit' habe. Die steirischen
Puritaner warfen ihr vor, daß sie ein Badezimmer besessen hätte;
die in Jägerwäsche gekleidete Mürzzuschlager Tugend aber entrüstete
sich über die Seidenjupons der Frau v. Hervay. Schließlich
mußte man sie doch freilassen. In der ganzen Hetze spielte die
Staatsgewalt und die Gesellschaft wirklich eine schändliche Rolle.
Der Staat benahm sich so grausam und tölpelhaft v/ie ein wild
gewordener Stier. Er ermordete einen Menschen und beschmutzte das
Leben einer Frau, um sich dann mit dem Bewußtsein der wohlerfüllten
Pflicht zu trollen. Von dem Benehmen der Gesellschaft sprechen wir
lieber nicht. So viel sei genug: Menschen, die häufige Gäste des Hauses
Hervay waren, gerieten in einen heulenden Freudentaumel, als sie die
.schöne Baronin' inmitten von Bajonetten sahen. Zu bemerken ist, daß
niemand von der Vernichtung der Hervays Nutzen hatte. Die Täter
taten alles selbstlos, nur der aufregenden Hetze zu lieb. Unter dem
Schlagwort der moralischen Reinheit wurde losgeschlagen; es war aber
weder Moral, noch Reinheit im Spiele, sondern sadistischer Schmutz.«
Dr. Sigwart Graf zu Eulenburg
Helene Gräfin zu Eulenburg
geb. Staegemann.
Vermählte.
Liebenberg Leipzig
den 21. September 1909.
Dazu bemerkt das .Neue Wiener Journal' :
Wir müssen gestehen, daß Fräulein Helene Staegemann ziemlich
vorurteilslos und couragiert ist, wenn sie es riskiert, in die etwas an-
rüchig gewordene Familie des Liebenbergers hineinzuheiraten.
Künftige Kulturhistoriker werden den Jammer unserer Zeit
21
vielleicht in die Formel fassen, daß auf hundert Federn kaum eine
Hundspeitsche kam.
»Seit 13 Jahren zum Doktor der gesamten Heilkunde pro-
moviert, sehe ich mich wieder vis-ä-vis de rien< — so klagt mir
einer. Ein Pumpbrief? Nein, der Schmerzensschrei eines Mannes,
der den Ehrgeiz hat, mit den wissenschaftlichen. Neuerungen
Schritt zu halten, aber einsehen muß, daß jeder neue Tag seine
Schulweisheit beschämt. Was ist denn nur wieder geschehen?
Herr v. Bethmann-Hollweg war in Wien, und der Vertreter der
, Neuen Freien Presse' hat ihn im Hotel Imperial besucht. Auf
dreimaliges Läuten ist dort pünktlich der »Schatten Bismarcks<
erschienen. Nachdem dies geschehen war, sprach der neue Reichs-
kanzler »von der großen Vervollkommnung der Presse«. Und mit
vollem Recht. Denn der Vertreter der .Neuen Freien Presse' hat
eine wissenschaftliche Entdeckung gemacht. »Die Netzhaut der
in einem sanften Bogen zugeschnittenen Augen«, schrieb er am
nächsten Tag, »ist von der Anstrengung beim Lampenlicht bis tief
in die Nacht hinein gerötet.« Einem unserer Mitarbeiter ist es also
gelungen, die Netzhaut des Reichskanzlers ohne Augenspiegel zu
untersuchen, und die Wissenschaft erfährt wieder einmal aus der
Tagespresse, was sie zu wissen hat.
Fragmente aus einem Zeitungsbericht:
»Josef Pullitzer wanderte vor mehr als vierzig Jahren als sieb-
zehnjähriger Jüngling aus Ungarn nach Amerika ein, und er war
nicht nur mittellos, sondern — er erzählte dies sehr oft selbst —
Analphabet. Nur den deutsch-jüdischen Jargon konnte
er in hebräischen Lettern schreiben ... Er wurde Reporter
bei der »Westlichen Post' . . . und war bald Chefredakteur und
Teilhaber des deutschen Blattes. Später gründete er ein englisches
Blatt in St. Louis, und bald darauf lenkte er die amerikanische
Journalistik durch die Gründung des New-Yorker ,World' in
neue Bahnen.«:
09
Ein Schauspieler faßte den verzweifelten Entschluß, aus der
Kritik zu lernen. Er hatte den Galomir in >Weh dem, der lügt«
gespielt und mit dem unbestimmten Gefühl, daß sich manches
noch besser machen ließe, den Morgen erwartet. Man brachte ihm
zwei Zeitungen. Da las er: »Als Galomir, der lallende Trottel mit
Helm und Schwert, übertrieb Herr L. mehr als ausgiebig«. Und :
»Herr L war so diskret, wie es der Galomir erlaubt«. Man brachte
ihm zwei andere Zeitungen. Da las er: > Anders mimte Herr L.
den Galomir. Er faßte ihn als das vielgesuchte Zwischenglied auf:
zu vierfüßig für einen Menschen und zu idiotisch für einen
Affen. Er schwelgte in einer übermäßig breit gedehnten seriös-
naturalistischen Soloszene, in Tierlauten und -Grimassen wildester
Sorte, und war von einer humoristischen Grauslichkeit, die sich
weit vom Stil des klassischen Verslustspiels entfernte«. Und: »Eine
schwere Aufgabe war Herrn L. zugefallen, dessen blöder Galomir
dank kluger Mäßigung nicht nur erträglich, sondern fast sympathisch
wurde«. . . Wie der Schauspieler, der sich von der Kritik talsächlich
beeinflußen ließ, den Galomir das zweite Mal gespielt hat, hat
man nicht erfahren, weil zur zweiten Vorstellung von »Weh dem,
der lüjt« (einer muß es getan haben) keine Referatsitze aus-
geschickt wurden. Vielfach verlautet aber, daß das bekannte
Gedicht »Finster wars, der Mond schien helle« auf den Einfluß
zurückzuführen ist, den die Wiener Nachtredakteure auf den Mond
ausüben.
* *
»Wer lacht heute noch darüber«, rief eine Frauenrechtlerin
in der .Neuen Freie Presse', »wenn er hört, die Dame studiert
Medizin und jene Philosophie?« Ich!
Gegen den Mädchenhandel
Von Karl Kraus
In Wien versammelte sich die Internationale
Konferenz zur Bekämpfung des Mädchenhandels.
Nach dem Erapfangsabend im Hotel Bristol — dieses
23
Haus hat schon besseren Zwecken gedient — schrieb
eine Zeitung: »In den nächtlichen Straßen trafen die
Delegierten genügend Studienmaterial, freche Gemein-
heit und verkümmertes Elend, das vom Laster ein
armseliges Dasein fristet«. Das ist fast eine Indiskretion.
Die Privatangelegenheiten der Herren Kongreßteil-
nehmer gehen keinen Menschen etwas an. Uns hat
nur die öffentliche Tätigkeit der Herren zu beschäftigen.
Es sind, hieß es, »bekannte Streiter in dem Kampfe
gegen das schmähliche Gewerbe, das sich zur Nacht-
zeit in den Straßen breit macht oder sich in ver-
schwiegene Winkel des Lasters zurückzieht«. Ob die
Herren, die ja nach Wien als Fremde kamen, des-
gleichen taten oder sich mit einer oberflächlichen
Musterung des Studienmaterials begnügten, das darf
uns hier nicht bekümmern. Nur ihre Kongreßtätigkeit
ist von Belang. In den nächtlichen Straßen und in
den verschwiegenen Winkeln wird das Laster mit
den Geheimräten, Asketen und Statistikern schon
allein fertig. Wichtig ist nur, daß es sich am grünen
Tisch beschmutzen lassen muß und heutzutage gegen
die Übergriffe der Sittlichkeit wehrlos ist. So weit
haben wir es glücklich gebracht. Es traut sich ja
schon keine Kupplerin mehr, der Liga zur Bekämpfung
des Mädchenhandels beizutreten. Was ist die Folge?
Daß sich dort die Betschwestern und Blaustrümpfe
breit machen. Nun ist es der Natur ja herzlich
gleichgiltig, in welche sozialen Formen sich der ge-
schreckte Sexualtrieb flüchtet. Schon manche ver-
hinderte Schnepfe hat als Frauenrechtlerin zum
Kreuzzug gegen die Prostitution gepredigt. Und man
sollte doch nachgerade daran gewöhnt sein, die Ten-
denzen, die in einem Frauengehirn reifen, in keinem
Falle unabhängig vom übrigen Körper zu betrachten.
Eine Betätigung müssen die Weiber haben, und
wenn sie sich der Abschaffung der Prostitution
hingeben, so ist es noch die vernünftigste, weil
sie dabei mit der Hauptsache in Beziehung bleiben.
In der unerschrockenen Vorkämpferin, die dem Laster
— 24
in seine verschwiegenen Winkel nachgeht, ist hinter
der Form noch die Materialechtheit erkennbar. Solcher
Sozialpolitik ließe sichmit einer Umarmung beikommen.
Es dreht sich doch um den Brand, auch wenn die Wei-
ber nicht mehr brennen, sondern löschen wollen. Wie
anders die Männer, die gegen die Unsittlichkeit rüsten!
Sie sind keineswegs durch Geilheit zu entschuldigen;
denn die Geilheit .des Mannes ist kein kultur-
schöpferischer Faktor. Sie ist uninteressant, ob sie
sich nun in draufgängerischer Tatkraft oder in
eifernder Zurückhaltung auslebt. Nur Torheit kann
die beschämenden Exzesse erklären, zu denen sich
die Führer der Sittlichkeitsbewegung am hellichten
Tag zusammenfinden und die uns gewiß nicht
weniger belästigen, als die öffentliche Schaustellung
der Dinge, um deren Unterdrückung es jenen zu
tun ist. Der Mädchenhandel mag, wie jede andere
soziale Einrichtung, seine Auswüchse haben; ihn
einen Auswuchs nennen, bedeutet nichts anderes
als den Zuckerhandel verbieten zu wollen, weil das
Zuckerkartell korrupt ist. Ob das Geschäft, dessen
Ware die Menschen weniger als irgendeine andere
entbehren können, es an Reellität nicht mit jedem
bürgerlichen Betrieb aufnehmen kann, mag zweifel-
haft bleiben. Sicher ist, daß es sich neben den ide-
alen Angelegenheiten dieser Gesellschaft sehen las-
sen kann. Freilich, das Schicksal jener Ärmsten, die
aus der Karriere einer Phosphorarbeiterin gerissen
und in ein Freudenhaus geschleppt wurden, ist fürch-
terlich. Aber verdient das Schicksal der Mädchen, die
aus den heißen Träumen ihres jungen Lebens ge-
weckt, zum Altar geschleift und einem schweiß-
füßigen Vertreter erster Firmen auf die Reise mit-
gegeben werden, nicht auch seine Träne? Ist der
Mädchenhandel, bei dem Priester und Rabbiner hel-
fen, nicht seinen Kongreß wert?
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, HI. Hintere Zollanitsstraße 3
natürlichen
alkalischer
CARL GOLSDpRF^a^k^Ho/HePeVant
.^^ffr KrondorF.. Berlin.
Karlsbad, Budapest V. Wien PC.
Unternehmen für Zeitungsausschnitte
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versendet Zeitungsausschnitte über jedes gewünschte Thema.Man verlange Prospekte
■ i.ii -i in. ,i in.. -„■,.., "„.„-
Aufruf
betr. Veröffentlichung Liliencronscher Briefe
Im Einverständnis mit Frau Baronin Liliencron mache ich
als testamentarisch eingesetzter Verwalter des literarischen Nach-
lasses von Friedrich Detlev v. Liliencron darauf aufmerksam, daß
niemand außer der Baronin und mir das Recht hat, irgend
welche Manuskripte des Dichters zu veröffentlichen. Dies gilt ins-
besondere auch für seine Briefe, selbst für die kleinste Post-
karte. Da sie nach Form wie Inhalt ästhetischen oder literarhisto-
rischen Wert haben, aiso den sogenannten Schriftwerk-Charakter
aufweisen, sind sie der neueren Rechtssprechung zufolge urheber-
rechtlich geschützt; lediglich die Witwe des Dichters hat als
seine Gesamt-Erbin die Befugnis zur öffentlichen Verwertung.
Auch aus Gründen des sogenannten Persönlichkeitsrechte&s
hat einzig sie darüber zu entscheiden, inwieweit sich solche
ursprünglich privaten, bloß für den Empfänger bestimmten Schrift-
stücke jetzt vielleicht für die Öffentlichkeit eignen, gleichviel ob
ganz oder teilweise, ob urheberrechtlich geschützt oder nicht. Ich
ersuche also alle Besitzer von Briefen oder sonstigen ungedruck-
ten Manuskripten Liliencrons, sich wegen der Erlaubnis zur
Veröffentlichung — auch wenn es sich nur um Bruchstücke
handelt — entweder an die Baronin (Adresse: Alt-Rahlstedt bei
Hamburg) oder an mich (Blankenese bei Hamburg) zu wenden.
Jede unerlaubte Verwertung verbiete ich im
Namen der Erbin; dies umso strenger, als der Dichter selber
einen Abscheu vor der wahllosen Auskramung intimer Korres-
pondenzen hatte. Literarisch oder journalistisch achtbaren Wün-
schen werden wir selbstverständlich so sehr wie möglich entgegen-
kommen. Ganz besonders aber bitte ich auch solche Briefbesitzer,
die n i c h t mit der Absicht einer Veröffentlichung auf eigne
Hand umgehen, sjch unverzüglich mit uns in Verbindung zu
setzen. Denn wir bereiten eine Ausgabe Liliencronscher Briefe i n
dervom Dichter gewünschten Weise vor; und ich
leiste Sicherheit für jegliches Material, das man uns zur Prüfuncr
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Wien, VI. Mariahiiferstrasss 117
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DIE FACKEL
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Die , Fackel' erscheint in zwangloser Folge im Umfang j
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Inhalt der vorigen Nummer 287, 16. September: Die
Entdeckung des Nordpols. Von Karl Kraus. - An den unbe-
kannten Freund. Von Karl Borromaeus Heinrkh. — Aphorismen.
Von Karl Kraus. — Heilig ist d:e Leidenschaft! Von Karl
Hauer. — Meine Schriften. — Begräbnis. Von Detlev von
Liliencron.
Herausgeber und . - dakteur Karl Kraus
Druck von'Jahoda & Sit; III. Hintere Zollamtsstr. 3
T
Nr. 289 25. OKTOBER 1909 XI. JAH]
DIE FACKEL
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INHALT:
Luftgaukler. Von Karl Knaus. — Aus dem Papier-
korb. Von Karl Kraus. — Der Schatten. Von Otto
Stoessl. — Bekannte aus dem Variete. Von Karl
Kraus. — Glossen. Von Karl Kraus.
PREIS DER EINZELNEN NUMMER 30 HELLER
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Berlin -Haiensee, Katharinenstraße 6, entgegen.
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durch den Verlag gegen Einsendung des Betrages zu beziehen.
Die Fackel,
Nr. 289 25. OKTOBER 1909 XI. JAHR
Luftgaukler
Von Karl Kraus
Herr Isidor Singer wird es also sein, der uns
das Fliegen gelehrt hat. Es gibt Vorstellungen, die
einem die ganze Entwicklung verleiden können. Auch
wir werden unsere Luftschiffe haben, aber immer
wird es heißen, daß wir es Herrn Isidor Singer ver-
danken. Ich würde keinen Komfortable benützen,
wenn ich wüßte, daß Herr Isidor Singer das Unter-
nehmen begünstigt. Ich täte es nicht. Die Öster-
reicher aber lieben den Fortschritt und es geniert
sie nicht, wer ihn ihnen beigebracht hat. Soeben
erst hat ihre Polizei Gehvorschriften erlassen, und
sie werden pünktlich gehen lernen. Und schon wollen
sie auch fliegen. Da verschreibt sich Herr Isidor
Singer einen Luftballon aus Graz und zeigt den
Wienern, wie mans machen muß. Über ein gestürztes
Einspännerroß kamen wir nicht hinweg, der Taxa-
meter ward hier Ereignis, und ein Automobil
hinderte den Verkehr. Nun aber fordert die ,Zeit'
die rückständigen Abonnenten zur Erneuerung
Österreichs auf, und siehe da, wir fliegen. Nichts liegt
mir ferner als ein Vorurteil in aviatischen Dingen.
Ich kann vielleicht einen Ble'riot von einem Renner-
Buben unterscheiden. Aber es ist möglich, daß der
Unterschied zwischen unseren heimischen Aeronauten
und den Renner- Buben wirklich darin besteht, daß jene
sachverständig sind und diese bloß fliegen können. Daß
diese bloß Akrobaten sind und jene Knockabouts. Wo-
von ich aber etwas verstehe, das ist die Mischung aus
Wichtigmacherei und Feschität, die in der Vorfüh-
rung der Grazer Artistenfamilie durch den Herrn
Isidor Singer zu spüren ist. Das ist das Betragen
eines Zeitungsadministrators, der aus Unfähigkeit
zum Protektor des vaterländischen Fortschritts wird,
und jene bodenlose Gemütlichkeit, die neben einem
»Xandi« und einem »Toli« auf einmal auch einen Isi ge-
währen läßt. Unsere Geduld ist schließlich kein Han-
gar für eine Reklamesucht, die in Strebersdorf landet !
Und in der Erwartung des Herrn Ble'riot können wir
die Vordringlichkeit, mit der uns die Erkenntnisse
aus der Kleinen Luftschiffgasse offeriert werden, ge-
trost ablehnen. Der Kaiser hätte sich nicht dazu
bestimmen lassen, der Produktion der »Renner-Buben«
beizuwohnen, wenn er gewußt hätte, daß es sich
viel mehr um eine Produktion zweier havarierten
Zeitungseigentümer handeln würde, die auf Erden
nicht genügend Abonnenten haben und darum mit
der Luft das Geschäft machen wollen. Der Kaiser
hätte diese Leute keiner Ansprache gewürdigt, wenn
er geahnt hätte, welch eine spekulative Anwendung
das Dichterwort: Es soll der Singer mit dem König
gehen, am andern Tag zu gewärtigen habe. Und es
ist gar kein Zweifel, daß der Generaladjutant des
Kaisers nicht in einem Schreiben an die ,Zeit' »mit
besonderem Vergnügen die sich ihm bietende Gele-
genheit ergriffen hätte, um Euer Hochwohlgeboren
meiner vollkommensten Hochachtung zu versichern,
in der ich mich zeichne als des Herrn Professor er-
gebenster Graf Paar«, wenn er von den Rekords
der unterschiedlichen ,Zeit'-Prozesse Kenntnis gehabt
hätte. Damit er aber wenigstens nachträglich erfahre,
von welcher Art das Blatt sei, durch dessen Hände
eine kaiserliche Spende geht, damit ferner die Luft-
schiffe des Stolzes sich nicht allzu hoch versteigen, und
damit schließlich der Erkenntnis gedient sei, daß es
bei einer Zeitung noch immer mehr auf Original-
berichte als auf Luftballons ankomme, möge hier das
folgende Dokument Raum finden:
Wir sind gegen literarische Piraterie, die gegen uns verübt
wird, ziemlich abgehärtet und verschmähen es, über , jeden zu unserer
Kenntnis gelangenden Fall solcher Art gleich ein großes Geschrei zu
erheben. Mitunter wird uns aber so keck mitgespielt, daß uns doch
die Geduld reißt und wir uns, weniger im eigenen Interesse, als viel-
mehr in dem des journalistischen Anstandes, bemüssigt fühlen, einzu-
schreiten. Ein solcher Fall liegt neuestens vor, er betrifft die Wiener
Tageszeitung ,Die Zeit'. Schon vor einigen Jahren haben wir der
Redaktion der ,Zeit' Vorhaltungen darüber machen müssen, daß sie
immer wieder Originalberichte der .Vossischen Zeitung' ohne Quellen-
angabe, ja als »eigene« Meldungen veröffentliche, erzielten aber damals
nur verlegene Ausflüchte. In den letzten Wochen hat nun die ,Zeit'
zahlreiche unserer Konstantinopeler Telegramme, die ihr offensichtlich
von einem Berliner Mitarbeiter drahtlich übermittelt worden waren,
wörtlich übernommen und sie ihren Lesern als ihre eigenen Telegramme
vorgesetzt, indem sie sie mit einem Konstantinopeler Datum versah,
sie ferner ausdrücklich als ihre Privattelegramme bezeichnete und zur
Vollendung der Täuschung obendrein einen Halbmond als Kor-
respondentenzeichen vorsetzte. Die .Zeit' erhob einst bei ihrer
Gründung den Anspruch, eine neue Moral in die Wiener Presse hinein-
tragen zu wollen ; man sieht auch an diesem Beispiel, wie das Blatt
dieser von ihm angekündigten Aufgabe gerecht wird.
.Vossische Zeitung', Berlin, 7. August 1908
Aus dem Papierkorb
Von Karl Kraus
Und wenn der geistige Unflat des neuen
Deutschland eimerweise auf den Markt geschüttet
wird, man befaßt sich doch immer wieder gern mit
jenen seltenen Büchern, die nicht erscheinen. Wie
stehts, so fragt man, mit den gesammelten Schriften
Ludwig Speidels? Es ist, als ob der Journalismus
die wertvollste Beute, die er je errafft hat, nie mehr
herausgeben wollte. Grauenhaft, zu denken, daß es
für einen Künstler, den der Tag als Geißel der Un-
sterblichkeit gefangen hielt, auch nach dem Tod
keine Befreiung geben soll. Er starb, aber aus dem
Sarg der Zeitlichkeit, in dem er gelebt hatte, durfte
er nicht auferstehen. Und kein deutscher Verleger
findet sich, der den Journalisten den Schatz ent-
risse, den sie so sorglich hüten, weil er ihre ange-
stammte Armut verraten könnte. Nie zuvor und nie
seither hat die Sprachkunst eine ähnliche Gastrolle
auf den Schmieren des Geistes gespielt. Das Leben
Speidels mag die Presse als einen Zwischenfall emp-
finden, der störend in das von Heine begonnene
Spiel trat. Er schien es mit dem leibhaftigen Sprach-
geist zu halten; er lud ihn an Feiertagen auf die
Stätte der schmutzigsten Unterhaltung, damit er
sehe, wie sie's treiben. Nie war ein Kollege bedenk-
licher als dieser. Wohl konnte man mit ihm Parade
machen; aber sein Lebenswerk, führte man es heute
vor, es brächte jene Demütigung, die man damals
eßlöffelweise als Stolz einnahm. Man hat ihm die
Unsterblichkeit des Tages, wie er sein Feuilleton
nannte, gegönnt; aber eine Sammlung seiner Feuilletons
könnte den Tag der Unsterblichkeit einläuten. Und
die Journalisten handeln pietätvoll, berufen sich auf
seine Bescheidenheit, die ihm eine Buchausgabe ver-
sagte, und gehen hin und schenken uns ihre eigenen
Bücher.
•
Denn es ist das böse Zeichen dieser Krise: der
Journalismus, der die Geister in seinen Stall getrieben
hat, erobert ihre Weide. Markierte Personen, die jahre-
lang unter dem Strich gelebt haben, drängen sich in
die gute Gesellschaft. Tagschreiber möchten Autoren
sein. Es erscheinen Feuilletonsammlungen, an denen
man nichts so sehr bestaunt, als daß dem Buchbinder
die Arbeit nicht in der Hand zerfallen ist. Brot wird
aus Brosamen gebacken. Was ist es, das ihnen Hoff-
nung auf die Fortdauer macht? Das fortdauernde
Interesse an dem Stoff, den sie sich »wählenc. Wenn
einer über die Ewigkeit schwätzt, sollte er da nicht
gehört werden, so lange die Ewigkeit dauert? Von
diesem Trugschluß lebt der Journalismus. Er hat
immer die größten Themen und unter seinen Händen
kann die Ewigkeit aktuell werden; aber sie wird
ihm auch ebenso leicht wieder inaktuell. Der Künstler
aber gestaltet den Tag, die Stunde, die Minute.
Sein Anlaß kann zeitlich und lokal noch so begrenzt
und bedingt sein, sein Werk wächst umso grenzen-
loser und freier, je weiter es dem Anlaß entrückt
ist. Es veralte im Augenblick: es verjüngt sich in
Jahrzehnten. Was vom Stoff lebt, stirbt vor dem Stoffe.
Was in der Sprache lebt, lebt mit der Sprache. Wie
leicht lasen wir jenes Geplauder am Sonntag, und
nun, da wirs aus der Leihbibliothek beziehen können,
vermögen wir uns kaum durchzuwinden. Wie schwer
lasen wir die Sätze der , Fackel', selbst wenn uns
das Ereignis half, an das sie knüpften. Nein, weil
es uns half! Je weiter wir davon entfernt sind, desto
verständlicher wird uns, was darüber gesagt war. Wie
geschah dies? Der Fall war nah und. die Perspektive
war weit. Es war alles vorausgeschrieben. Es war
verschleiert, damit ihm der neugierige Tag nichts
anhabe. Nun heben sich die Schleier.
*
Dawider vermag die wertverschiebende Tendenz
des Journalismus nichts auszurichten. Er kann den
Uhren, die er aufzieht, Garantiescheine für ein Sä-
kulum mitgeben: sie stehen schon, wenn der Käufer
den Laden verlassen hat. Der Uhrmacher sagt, die
Zeit sei schuld, nicht die Uhr, und möchte jene
zum Stehen bringen, um den Ruf der Uhr zu retten.
Er macht die Stunde schlecht oder schweigt sie tot.
Aber ihr Genius zieht weiter und macht hell und
dunkel, obschon das Zifferblatt es anders will. Wenn
es zehn schlägt und elf zeigt, können wir im Mittag
halten, und die Sonne lacht über die gekränkten
Uhrmacher.
*
Daß doch alle Überhebung der Mechanik, die
sich mit dem Ruhm sozialer Nützlichkeit nicht be-
scheiden will, die Naturnotwendigkeiten nicht zu
>richten« vermag! Die Journalisten versichern
einander, ihre Werke seien unsterblich, aber nicht
— 6 —
einmal die Versicherung bleibt erhalten, wiewohl sie
wahrlich Anspruch darauf hätte. Daneben hat ein
Geheimnis die Kraft, sich selbst in aller Mund zu
bringen. Österreich ist das Land, wo am lautesten
gesprochen wird und wo die Geheimnisse am strengsten
gewahrt werden. Es ist das Land, in dem Pestzüge
veranstaltet und Tropfsteinhöhlen entdeckt werden.
»Dabei stellte es sich heraus, daß man es nicht mit
einer der vielen unbedeutenden Höhlen, wie sie im
Kalkgebirge häufig vorkommen, sondern mit gewal-
tigen unterirdischen Räumen, die sich stundenweit
ins Innere des Berges erstrecken, zu tun habe. Die
Höhle führt zunächst so regelmäßig wie ein Eisen-
bahntunnel durch festes Gestein horizontal in den
Berg und kann bis zur Tiefe von dreihundert Metern
ohne jede Gefahr von jedermann begangen werden.
Auch weiterhin sind die Schwierigkeiten des Ein-
dringens nicht erheblich und stehen gar nicht im
Verhältnis zu dem wunderbaren Anblick, der sich
dem Beschauer bietet. Ein Spitzbogengewölbe von
unabsehbarer Höhe umschließt herrliche Tropfstein-
bildungen. Auf dem Boden liegen ganz absonderlich
geformte Gebilde aus Kalzit und noch nicht erstarrter
Bergmilch. An den Seiten wänden finden sich zarte
Figuren von weißer und blauer Struktur, Berg-
kristall und Eisenblüte. Die Forscher drangen
stundenweit gegen die Mitte des Berges vor und
konnten in den Gängen und Stollen kein Ende
finden . . .« Ist dies die Sprache der Höhlenkunde
oder der Literaturforschung? Wir sind andere Sehens-
würdigkeiten gewohnt: Festzüge, die das Auge der
Zeitgenossen blenden wie ein Gebilde aus Wunder
und Krida.
*
Kein Zweifel, Herr Felix Saiten besitzt das
riesigste Sortiment der Monarchie. Er ist Kommerzial-
rat geworden. Bedeutet das nicht die Unsterblichkeit
in diesen Kreisen? Oder bedeutet die Unsterblichkeit
in diesen Kreisen etwas anderes? In einer Berliner
Revue, der , Schaubühne', war davon zu lesen. Ich
habe mir's gemerkt, denn es ist mein Fluch, mich
mit den Kleinigkeiten abzugeben, die diese Zeit zu
Größen macht. Herr Saiten hat eine Feuilleton-
sammlung erscheinen lassen und der Kritiker erweist
Ludwig Speidel die Ehre, seiner bei diesem Anlaß
zu gedenken. Man kann sagen, daß Speidel gut bei
dem Vergleich wegkommt, denn es wird ihm eine
Ähnlichkeit mit einem Teil Saltenscher Wesensfülle
zugeschrieben, die auch noch den ganzen Sarcey nebst
den Herren Bahr und Muther in sich schließe und
durch welche die Formel der Madame de Stael: c'est
un esprit neuf et hardi . . ., für »einen andern
Dichter- Kritiker«, nämlich Lessing, erdacht, erst
»lebendige Wahrheit geworden« sei. Ich sehe die
, Schaubühne* gern. Nicht nur, weil mir — die Aus-
schließlichkeit des Theaterinteresses und die Ver-
wissenschaftlichung des Tinterltums zugegeben —
mancher Beitrag Freude gemacht hat, sondern auch
weil ihr Notizenteil eine gute Handhabe bietet,
sich jeweils über den Stand des psychologischen
Schmocktums in Deutschland zu informieren. Dabei
lassen sich namentlich die Fortschritte überblicken,
welche die subtilen Persönlichkeiten,, die in den
Wiener Redaktionen nicht recht reüssieren konnten,
auf Berliner Boden machen. Der Journalismus in
Wien bringt's über den Geschichtenträger und Ge-
bärdenspäher nicht hinaus. Er ist Amüseur oder
Beobachter. In Berlin darf er's mit der Psychologie
halten. Nun ist es das Verhängnis allen Geistes aus
zweiter Hand, daß sein Unwert dort leichter in die
Augen springt, wo er sich der schwereren Leistung
vermessen möchte. Der Plauderer ist gewiß eine der
schalsten Kreaturen, die in unserem geistigen Klima
fortkommen. Aber er hängt immer noch eher mit
dem schöpferischen Wesen zusammen als der
Beobachter und vollends der Psychologe, die bloß
den Hausrat der Chuzpe benützen müssen, den die
technische Entwicklung des Geisteslebens ihnen in
— 8
die Hand gespielt hat. Der Amüseur sticht durch
eine wertlose Begabung von der Geschicklichkeit
des Beobachters ab, so wie sich dieser wieder von
der wertlosen Bildung des Psychologen vorteilhaft ab-
hebt. Das sind so die Grundtypen des geistigen Elends,
zwischen denen natürlich ebensoviele Varietäten
Platz haben, als die organische Welt des Geistes
Gelegenheiten zum Abklatsch bietet. Nah beim
Beobachter steht der Ästhet, der durch Liebe zur
Farbe und Sinn für die Nuance ausgezeichnet ist
und an den Dingen der Erscheinungswelt so viel
noch wahrnimmt, als Schwarz unter den Pinger-
nagel geht. Er kann aber auch mit dem Psycho-
logen zu einer besonderen Art von feierlichem Re-
portertum verschmelzen, zu jenem zwischen Wien
und Berlin, also in Prag beliebten Typus, der aus
Zusammenhängen und Möglichkeiten zu neuen Sehn-
suchten gelangt und der in schwelgerischen Adjektiven
einbringt, was ihm die Natur an Hauptworten versagt
hat. Bei dem jähen Übergang, den gerade dieser
Typus von der kaufmännischen Karriere in die
Literatur durchmacht, wäre ein Dialog wie der fol-
gende nicht bloß kein Zufall, sondern geradezu die
Formel für die Komplikationen eines fein differen-
zierten Seelenlebens: »Hat Pollak aus Gaya bezahlt ?<
>Das nicht, aber er hat hieratische Gesten. c
•
Oder zum Beispiel: »Es gibt Tagesschriftsteller,
deren expansiver Wille die aktuelle Einfallslinie in
die Sphäre des Unendlichen und Ewigen schwingt«.
Und diesen scheint, wenn ich den Text richtig ver-
stehe, Herr Saiten zuzugehören. Soweit es in solchen
Dingen auf den expansiven Willen ankommt, dürfte
der Mann in der , Schaubühne' recht haben. Der ex-
pansive Wille, der die Persönlichkeit von Westungarn
nach Wien oder direkt nach Berlin schleudert, ver-
mag manches. In Wien sichert er einem ungemein
anstelligen Beobachter, der vor ein paar Jahren noch
von der »Erfindung des Dampfes und der Elektrizität«
9 -
sprach und heute bereits für die Luftschiffahrt schwärrat,
sein »unsterblich Teil«, macht ihn zum Rekomraandeur
der modernen Kultur, läßt seine Seele, ja wahrhaftig
seine Seele, »scharf gespannt unter den leisesten Vibra-
tionen der Strömungen unsrer Gegenwart erbeben« und
macht sie zur »willigen Resonanz für alles Große und
Schöne der neuzeitlichen Promethiden«.In Berlin selbst
macht er — der expansive Wille — einen schlauen
Theaterkassier zu »einem unserer feinsten Kultur-
menschen«. Es ist gar kein übler Zufall, daß die
zweispaltige , Schaubühne' just neben der Entdeckung
des Herrn Saiten auch für die Offenbarung der
Wesensechtheit des Herrn Reinhardt Platz hat. Nein,
es genügt eben nicht, den Dampf und die Elektrizität
zu erfinden, man muß sie auch entdecken, wenn anders
die Menschheit den Glauben an sie nicht verlieren soll.
Herr Reinhardt ist kein Schriftsteller, sondern ein
Theaterdirektor. Aber der expansive Wille hätte ihn
ebenso zum Schriftsteller machen können, und er
hätte auch als Schriftsteller seinen Mann gestellt und
sich auch in dieser Karriere einen Koch für sechs-
tausend M. halten können. Es ist mir peinlich, das
sagen zu müssen; denn von Herrn Reinhardt ist in der
, Schaubühne* nur gerade deshalb die Rede, weil ihn ein
Schmierfink angegriffen hat. Aber ich sage es auch
nur deshalb, weil ihn ein Schmierfink verteidigt. Ich
brauche ihn übrigens lediglich als Beispiel für eine ge-
lungene Willensexpansion und es fällt mir nicht ein,
bei diesem Anlaß dem Gastmal des Trimalchio nahe-
zutreten, durch das sich die Berliner Dramaturgie jetzt
durchmessen muß. Ganz Deutschland macht lange
Zähne, und ich muß warten, bis die , Fackel' in ganz
Deutschland gelesen wird, um zu sagen, was nur
jene angeht, die es heute nicht hören würden.
•
In diesen Tagen, da Herr Bahr nicht nur Dal-
raatien erobert, sondern auch die Erneuerung Öster-
reichs durchgesetzt hat, da gegenüber den For-
derungen des Verlags S. Fischer (Willensexpansion
— 10 —
Budapest — Berlin) Naehgiebigkeit ein Gebot der
Klugheit war und am Wiener Hofe die Friedens-
partei siegte, in diesen Tagen ist es von nicht zu
unterschätzender Wichtigkeit, der vermittelnden
Mission des Herrn Saiten zu gedenken. Ist er doch
wie kein zweiter Feuilletonist in Österreich mit der
habsburgischen Tradition verwachsen. Die Intimität,
die ihn an allen Geschicken des Erzhauses teilnehmen
läßt, so daß die ,ZehV als das erste Blatt in der Lage
war, Leopold Wölflings Vorgeschichten zu publizieren
und seine Fhotographie im Depeschensaal auszustellen,
diese hohe Kennerschaft hat ihn auch dazu befähigt,
über die Rangserhöhung der Fürstin Hohenberg ein
kompetentes Wort zu sagen. Erstaunlich war da
vor allem die Vorurteilslosigkeit, die einen in der
höfischen Sphäre heimischen Feuilletonisten sein be-
dingungsloses Ja zu der Eheschließung des Thron-
folgers sprechen ließ: »Wir unterscheiden nicht so
genau, rechnen nicht nach, daß die Choteks kaum
zweihundert Jahre lang die Grafenkrone tragen, wägen
die Vorrechte der Ebenbürtigkeit nicht allzu sorg-
fältig ab«. Bereit, das Familieninteresse den staat-
lichen Rücksichten unterzuordnen, erkennt er, daß
> diese Ehe andauernd ein Ereignis bleibte und daß
sie »wichtig bleibt für uns in Österreich, für unsere
Gegetawart wie für unsere Zukunft«: . Freilich mußte
er einsehen, daß eine Komtesse Chotek nicht Erz-
herzogin von Österreich werden kann und warum
sie es nicht werden kann. Aber mit ehrlicher Teil-
nahme hat er »den Weg gemessen, den sie seit ihrem
Hochzeitstag zurückgelegt hat: Fürstliche Gnaden . . .
Durchlaucht . . . Herzogin . . . Hoheit . . .«, und kann
heute, zurückblickend, von den Schwierigkeiten
sprechen, von dem »unendlichen Aufwand an Takt
und Taktik, an Energie und Widerstandskraft«, den
es gekostet haben mag. »Wir haben's nicht gewußt;
aber jetzt erkennen wir's«, sagt er schlicht, mit ver-
haltener Empfindung, um sich dann erst in er-
schöpfender Aufzählung das Herz einer Herzogin zu
— 11 —
erleichtern. Wir haben's nicht gewußt. »Merken jetzt
erst, daß es keineswegs etwas Selbstverständliches
war, wenn usw.« »Erinnern uns jetzt erst, was es zu
bedeuten hatte, daß der Erzherzog mit seiner Frau
jahrelang im Burgtheater nur eine gewöhnliche Loge
einnahm, und was es bedeutet, daß er jetzt mit ihr
in der Hofloge Platz nimmt.« Rose Bernd durfte be-
kanntlich überhaupt nicht mehr ins Burgtheater, aber der
Seufzer »Was muß die gelitten haben I« liegt uns auch
im vorliegenden Fall nahe. »Es hat neun Jahre ge-
dauert«, sagt Saiten nicht ohne Bitterkeit; »es mag
schon nicht leicht gewesen sein.« Nu juju, — nu
neenee . . . Und dabei weiß man nicht einmal, »wie
das Wesen dieser Frau ist«, kann »nur vermuten,
daß sie ungewöhnliche Eigenschaften besitzt, eine
starke und eigenartige Persönlichkeit ist.« Und in
den Grenzen der Vermutung kann man wieder nur
raten. »Hinter all dem mag eine große Kraft des
Wollens sein, eine eiserne Festigkeit des Charakters,
oder eine unwiderstehliche Güte, oder eine tausend-
fältige Weisheit des Lebens, oder eine geniale Feinheit
der Instinkte, oder auch Urwüchsigkeit, oder selbst
völlige Passivität, Zielbewußtsein oder gelassenes Ver-
trauen auf das Glück. Wir wissen es nicht.« Der
suchende Geist resigniert vor den letzten Dingen.
Wer löst das Problem der Herzogin von Hohen-
berg? »Das berechtigte Interesse ist dieser Frau
stürmisch zugewendet«: wird sie hervortreten, wird
sie nicht hervortreten? Wir wissen es nicht. »Vielleicht
ist jetzt der Kampf vorüber. Wir vermögen ja auch das
nicht zu beurteilen; wissen nicht, was noch geschehen
muß, damit die Frau des Thronfolgers auch äußerlich
all die Rechte üben darf, die sie, menschlich ge-
nommen usw.« Mit einem Wort, wir sehen, daß wir
nichts wissen können. Also hoffen wir! »Sie wird und
sie muß den größten Einfluß und die erste Stimme haben,
dereinst beim Kaiser.« Und wenn sie auch nicht seinen
Titel teilen wird, »die Kinder, die zu unserem künftigen
Monarchen Vater sagen, nennen sie: Mutter«. So
— 12
entläßt uns der tief pessimistische Denker doch mit
einem gemütvollen Hinweis auf die Entwicklung.
Freilich nicht ohne mit einer aus seiner Weltanschauung
geholten Maxime zu schließen: >Der Herzogin von
Hohenberg gehört die Zukunft Österreichs an. Aber
kein Mensch weiß, was die Zukunft bringt. c . . .
Dieses ist Herr Felix Saiten. Man sagt, seine Seele
sei eine willige Resonanz für alles Große und Schöne
der neuzeitlichen Promethiden.
Aber tun wir einem tüchtigen Menschen nicht
Unrecht. Ziehen wir ihn aus der Unsterblichkeit
zurück und lassen wir ihn hienieden sich nützlich
machen. Scheiden wir endlich die soziale Funktion
des Journalismus von den Müßigkeiten der Literatur.
Kein besseres Beispiel kann uns solche Einsicht
empfehlen. Der beste Journalist Wiens weiß über
die Karriere einer Gräfin wie über den Aufstieg eines
Luftballons, über eine Parlamentssitzüng wie über
einen Hofball zu jeder Stunde das Wissenswerte aus-
zusagen. In Westungarn kann man nachts Wetten ab-
schließen, daß der Zigeunerprimas binnen einer halben
Stunde mit seinem ganzen Orchester zur Stelle sein
wird; man läßt ihn wecken, er tastet nach der Fiedel,
weckt den Cymbalschläger, alles springt aus den
Betten, in den Wagen, und in einer halben Stunde
gehts hoch her, fidel, melancholisch, ausgelassen,
dämonisch und was es sonst noch gibt. Das sind un-
erhörte praktische Vorteile, die nur der zu unter-
schätzen vermag, der die Bedürfnisse der Welt nicht
kennt oder nicht teilt. In Bereitschaft sein ist alles.
Wenn nur die Welt selbst nicht ungerecht wäre! Sie
sagt, einer sei der beste Journalist am Platz, und er ist
es zweifellos. Sie sagt aber nie, einer sei der bedeu-
tendste Bankdisponent. Und doch dient er ihr so gut
wie jener, und steht den Müßigkeiten der Literatur
genau so fern.
— 13 —
Mit den perfekten Feuilletonisten ließe sich
leben, wenn sie es nicht auf die Unsterblichkeit ab-
gesehen hätten. Sie wissen fremde Werte zu plazieren,
haben alles bei der Hand, was sie nicht im Kopf
haben, und sind häufig geschmackvoll. Wenn man
ein Schaufenster dekoriert haben will, ruft man nicht
einen Lyriker. Er könnte es vielleicht auch, aber er
tut's nicht. Der Auslagenarrangeur tut's. Das schafft
ihm seine soziale Position, um die ihn der Lyriker
mit Recht beneidet. Auch ein Auslagenarrangeur
kann auf die Nachwelt kommen. Aber nur, wenn der
Lyriker ein Gedicht über ihn macht.
Die Grenzen der Persönlichkeit scheint indeß
auch der Berliner Psychologe zu spüren. Saiten führe
»nie über das Sicht- und Hörbare hinaus in das Reich
der Mütter«. Ein Mangel, den man zum Beispiel dem
Willi Handl nicht nachsagen könne. Ein andermal
weiß man aber in Berlin aucH wieder die Spannweite
der Persönlichkeit zu erfassen. Jede künstlerische
Äußerung trage von selbst — wie wahr! — dasZeichen
der innern Eigenart, > durch das der Kunstsinnige trotz
mancher Gemeinschaft einen vollgültigen Temers
von einem anerkannten Breughel und einen - guten
Saiten von einem echten Polgar unterscheidet«. Ins
Reich der Mütter aber führen Handl und etwa
noch Willi Shakespeare. Jenem bin ich bereits in
einer Würdigung begegnet, die unser Psycholog
dem Lebenswerk des Feuilletonisten Hevesi ange-
deihen ließ. Damals hob Ferdinand Kürnberger viel
Ehre auf, denn es hieß, zwischen Kürnberger und
Handl könne man noch »Stammbäume legen«. Um
ihn aber, Hevesi, »ist die große Stille; er trägt seinen
Anfang und Ausgang in sich«. Dies nun möchte ich
nicht so ganz unterschreiben. Herr Hevesi ist ein
älterer Herr, der vom jüngsten Nachwuchs abstammt
und sich immer weiter entwickelt. Er hat mehr Ein-
fälle, als seinen Jahren ziemt, was entschieden ein
14
Vorzug wäre, wenn er nicht auch mehr Bindrücke
hätte, als er verarbeiten kann. So muß er manchmal
einen Kalauer unterdrücken, sehr zum Schaden der
augenblicklichen Wirkung des Feuilletons- und ohne
durch solche Abgeklärtheit seinen Büchern zu nützen.
Denn sein Stil ist zwar prickelnd, aber obschon Soda-
wasser den Vorteil bietet, daß man es auch stehen
lassen kann, so schmeckt es darum doch nicht wieder,
wenn man es nach Jahren wieder trinkt. Ein Flaneur
älteren Stils, den die Muse über und über mit Konfetti
beworfen hat und der sich nun schüttelt und mit
kurzem Atem die Freude hervorpustet, daß er bei
solchen Unterhaltungen noch mittun darf, wobei er
der Losen eine ganze Menge von Fremdwörtern,
griechischen Zitaten und Fachausdrücken nachwirft.
Denn er ist kein Spielverderber, aber ein Polyhistor,
Sein Humor ist von einer Frische der Senilität, die
wieder auf den Nachwuchs ansteckend wirkt, und
seine Weisheit ist hüpfende Wissenschaft. Wenn wir
aber dem Berliner Psychologen glauben wollen, so
liegt der Kernpunkt seines Wesens in dem »Vagieren
zwischen den Zwielichtgierden des Bluts und den
Zwitterstimmungen der Seelec. »Sein Assozionc —
ein Fremdwort, das selbst Herrn Hevesi unbekannt
ist — werfe seltsame Schnörkel. »Sonnensystem und
Bazillus« seien in seinem Hirn »bloß zwei Gedanken
verschiedener Stärke, aber nicht verschiedener Art.
Auf überirdischer Höhe schwinden die Unterschiede
zwischen Welt und Spinne, Stern und Sternchen auf
einem Stern, und beide werden nur Spielball einer
göttlichen Phantasie. Er hat das große Gelächter
über Leben und Tod, Jehovah und Menschlein . . .«
So sah ich unsern Hevesi nie. Nicht einmal damals,
als er einer verstorbenen Ballberichterstatterin die
Charakteristik nachrief: »Dämonische Automatik des
modernen Reportertums, in einer das Aparte streifenden,
oft im Exklusiven sich bewegenden Sondersphäre«.. .
i
15 -
Der ihn hauptsächlich auf dem Gewissen hat,
ist Herr Hermann Bahr, der hierzulande noch die Jugend
jeden Alters verdorben hat. Die »dampfenden Jüng-
linge« aber, die er seinerzeit entdeckte, sind längst
Journalisten geworden, die überall Kritiken über
Herrn Bahrs Bücher unterbringen können, und das
neue Österreich ist fertig. »So viele Stimmen im
Staate sein mögen, aus allen dringt nur ein Ruf:
der Jugend werde Kraft, Mut, Freiheit! Nur ein
Gefühl pulst in unserem Österreich: eine freie,
starke, ehrliche Jugend erstehe unserer Zukunft!«
Der Starke, der es zur Einführung des Bahrschen »Buchs
der Jugend« sagt, ist jener Zeuge, der bei meiner Ver-
urteilung im Prozeß Bahr-Bukovics ohnmächtig wurde.
Zuerst verließ ihn die Erinnerung, später auch die Be-
sinnung. Ich hatte mich, ohne ihn zu kennen, seiner
angenommen und sein Autorenerlebnis als typischen
Fall besprochen. Ich hatte behauptet, ihm sei von
der Theaterdirektion ein Ehrenwort nicht gehalten
worden. Drei Zeugen, die» es aus seinem Mund gehört
haben wollten, stützten die Behauptung. Er sagte,
er könne sich nicht erinnern. Im Gerichtssaal wurde
vom beeideten Kläger die Aufführung des Stückes
versprochen. Es ist bis heute nicht aufgeführt.
Fast zehn Jahre sind es her. Er wird sich nicht
erinnern können. Aber er will ein neues Österreich
und eine Jugend, die Kraft und Mut hat. Das
sind berechtigte Ansprüche. Wie sich Herr Bahr ihre
Erfüllung denkt, zeigt er in dem Buch, das eben
jenen typischen Vertreter des neuen Österreich be-
geistert hat. Es enthält eine Vorrede, die an ein
zweiundeinhalbjähriges Kind gerichtet ist und ihm be-
stätigt, daß es sich von den österreichischen Mächten
noch nicht habe kirre machen lassen. Der kleine Karli
hätte nämlich vor Herrn Bahr, als er auf Besuch kam,
einen »schönen Diener« machen sollen. Er aber wollte
nicht (aha!) und seine »Nänä« war bös darüber. Herr
Bahr war begeistert. »Mach keinen Diener! Nie sollst
du und niemandem den Diener machen!« Natürlich,
789
— 16
meint Herr Bahr, sind darüber die Nänäs alle sehr
bös, denn die Nänäs glauben ja noch, die Macht in
Österreich zu haben. »Aber die Nänäs werden ver-
trieben werden, und keiner wird einen schönen Diener
machen, dann werden aus euch Menschen werden.
Auf diese warte ich. Und mein ganzes Sein und
Tun ist immer nur ein solches Warten auf die
menschlichen Menschen in Österreich. Beeilt euch
doch ein bißchen, beeilt euch heranzuwachsen! Ich
möchte so gern erleben, daß eine Jugend kommt, die
mich erkennt und spricht: Seht, das ist der, der auf
Österreich gewartet hatl Denn, wenn dir die Nänäs
sagen, daß ich ein schlechter Österreicher sei, ist
das eine Lüge«. Nachdem er nun noch dem kleinen
Karli — dem Sohn des Gründers der »Wiener Werk-
stätte« — erzählt hat, daß Österreich in den Künsten
stark genug sei, es mit allen Völkern aufzunehmen,
schließt er: »Habt den Mut zu Österreich! Seit Jahren
rufe ich hinaus: Habt den Mut zu Österreich!« So
steigt diese Anrede von eirfer herzigen Symbolik zu
den erschütternden Tönen eines ganz alten Atting^
hausen empor. Was werden aber die Nänäs dazu sagen,
daß man die zweieinhalbjährigen Kinder auffordert,
sich ans Vaterland, ans teure anzuschließen? Man
mag begierig sein, wie sie sich daraufhin entwickeln.
Oh, ich sehe es kommen. Mit drei Jahren fangen sie
an, Feuilletons zu schmieren. Mit vier bringen sie
ihre ersten Stücke an. Zehn Jahre warten sie auf die
Auffführung. Mit zwanzig fallen sie im Gerichtssaal
um. Dann aber gehen sie hin und haben den Mut
— zu Österreich. Karli! Karli! Ich kenne dich nicht
mehr.
I
— 17 —
Der Schatten
Von Otto Stoessl
Es steht ein Mann in seiner Kraft,
Eisen in Paust und Willen.
Und was er schafft,
Das äfft ein Feind im Stillen,
Der steht und schlägt mit Antwortschlag
Den Reim auf was da werden mag,
Auf Herz fällt Haß, auf Liebe Leid,
Kalt hat heiß und schwarz hat weiß gefreit.
Ein Paaren schlimmer Gatten:
Ein Mann und Mannes Schatten.
Bekannte aus dem Variete*)
Von Karl Kraus
Nur ein schmales Plätzchen ist dem Variete geblieben, um
seinen Spiegel aufzustellen, der die großen Sonderbarkeiten des
Lebens reiner spiegelt als das Theater die kleinen Regelmäßig-
keiten. Denn das Leben will vom Leben nichts wissen und von
der Kunst nichts anderes, als was es ohnehin schon weiß. Daß
aber zweimal zwei am Ende doch fünf sind, ist eine jener Erfahrungen,
bei welchen dem Rechner die Pulse stocken. Das Theater erspart sie
ihm. Es befriedigt seine Neugierde, während das Variete sein
Wissen enttäuscht. Das Theater kitzelt, das Variete peitscht. Das
Theater bietet Handlung und Meinung, die der Durchschnitts-
mensch fast so notwendig zum Leben braucht wie die Nahrung :
rauchlosen Unterhalt des Gehirns. Im Theater darf bloß ge-
schwitzt werden, wie vor jeder höheren Offenbarung. Die Ge-
heimnisse des Varietes bleiben in eine Wolke gehüllt. Man kann
sie mit dem Messer schneiden, aber man kommt nicht durch.
Was sich hier abspielt, ist ganz danach angetan, dich zu beun-
ruhigen. Du kannst es nicht nachmachen. Und spendest schließlich
eine kalte Bewunderung, die sich mehr der heilen Glieder freut
als daß sie sich der trägen Glieder schämte. Dies Übermaß er-
schreckt dich, ermuntert dich nicht. Dieser halsbrecherische Humor
*) Aus dem .Simplicissimus'.
— 18
macht dich nicht munter, sondern beklemmt dich, als ging's dir
selbst an den Hals. Treibt es das Schauspiel noch so bunt,
>sie spaßen nur, vergiften im Spaß, kein Ärgernis in der Welt«,
kann Hamlet den besorgten Nachbar trösten. Wo viel Worte
gemacht werden, ist Zeit, zwischen Tat und Spiel zu unterschei-
den. Akrobaten aber und Clowns spielen jenseits der Grenze unserer
Möglichkeiten und bieten darum schon im Spaß das Ärgernis.
Daß zwei übereinander purzeln und auf die Nase fallen, das ist
ein Humor, zu derb für unsern Geschmack und zu dürftig für
unsern Verstand. Wir sagen, es sei ein kindisches Spiel, weil
seine tiefere Bedeutung uns beleidigt.
Ein Humor, so grundlos wie wir selbst. Nichts stellt er
dar als uns selbst. Also alles, was wir nicht wissen. Er läßt uns
Familie spielen, ehe er uns ins Leben stößt. Eine erstklassige
Akrobatentruppe tritt auf. Ist das Wesen der Sippschaft in Freud und
Leid sinnfälliger darzustellen? Wie hier alles doch, vom erwachsenen
Sohn bis zum jüngsten Schößling beiträgt, den Eltern ein sorgen-
freies Alter zu sichern ! Mit berechtigtem Stolze sieht das Mutter-
auge im Hintergrund auf die Tochter, von der man lange be-
fürchtet hat, sie werde es über den Sautperilleux nicht hinaus-
bringen, und die heute bereits durch einen dreifachen Saltomortale
für ihr Leben ausgesorgt hat, während der leichtsinnige Schwieger-
sohn unaufhörlich die Welle schlägt. Russische Tanzfamilien waren
mir stets unsympathisch, weil ich die tiefe Kniebeuge beim Laufen
als einen übertriebenen Beweis slawischer Schicksalsergebenheit
auffaßte. Aber unter dem Gesichtspunkte des Familienlebens brachte
ich auch diesen Produktionen Verständnis entgegen und ich
stellte mir gerne vor, daß im Kaukasus die Kinder wippend zur Welt
kommen, auf das bereit stehende Podium springen und den Tanz ums
Dasein aufnehmen, für den sich die Eltern nicht mehr elastisch
genug fühlen. Sicherlich ist kein künstlerischer Beruf so mit dem
Wesen seines Trägers verwachsen wie der des Akrobaten. Kommt
er von Kräften, so bleibt ihm immer die Geste, die dem kundigen
Auge verrät, daß er einst in besseren Tagen Hanteln gestemmt
hat. Kommt er aber in Lebensumstände, die es ihm ermög-
lichen, endlich zu genießen, nachdem er so lange nur gearbeitet
hat, dann kann es geschehen, daß ihn plötzlich eine tiefe Nostalgie
befällt. In Offenbachs lieblicher > Prinzessin von Trapezunt« wird
gezeigt, wie eine Artistenfamilie sich aufführt, wenn sie unglücklicher-
— 19 -
weise den Haupttreffer gemacht und die Baronie erlangt hat : der Herr
Sohn kann nicht anders als über den Tisch springen, wenn er sich
auf den Stuhl setzen will, und der Alte wird dabei betreten, wie
er heimlich in die Küche schleicht und Feuer frißt. Das Familien-
leben droht in Fransen zu gehen, und es findet sich erst wieder,
bis sie alle zusammen wieder auf dem Podium stehen.
Draußen aber stürmt das Leben mit seiner Unrast
und seinen Gefahren. Die Knockabouts treten auf. Ward das
Wesen der Familie, mit ihren Vorzügen und ihren Fehlern, an
der Solidarität einer Akrobatentruppe erkennbar, so eröffnet die
Leistung der Knockabouts tiefere Perspektiven. Hier steht nicht
mehr der Bruder dem Bruder nah, hier steht der Mensch dem Men-
schen im Wege. Der Blutsverwandte kann ein Auge zudrücken,
wenns einmal auf dem Trapez schief geht. Aber hier offenbart
sich der menschliche Charakter dem erbarmungslosen Auge des
Nebenmenschen. »Oh, lieber Freund, was machen Sie hier?«
beginnt es, und mit Püffen und Knüffen endet es. Am Hintern
seines Nächsten zündet einer sein Streichholz an. So ist das Leben.
Einer will Bier trinken. So bohrt er seinen besten Freund an und hält
ein Gefäß unter die so entstandene Öffnung. Was ist der Mensch!
Taugt er zur Maschine nicht, mag er kaput gehen. Wir volti-
gieren über alle Widerstände der Materie, wir schwingen uns in
die Luft, nichts scheint uns unerreichbar, und am Ende wären
wir wirklich die Sieger über das Leben, wenn wir nicht
im letzten Moment über einen Zahnstocher stolperten. Der
Knockabout — das ist der Triumph der. maschinellen Kultur :
Hurtigkeit, die nicht vom Fleck kommt, Zweckstreberei, die ein
Loch in die Luft macht. Der Komfort aber ist mit aller Huma-
nität der Neuzeit ausgestattet, und wenn es praktisch ist, einem
Menschen den Schädel einzuschlagen, so ist es doch wieder fein-
fühlig, ihn dabei zu fragen, ob er es bemerkt hat. Er könnte es
übersehen haben, denn im Gemetzel der Automaten fließt kein
Blut. Der Knockabout stellt uns alle zusammen dar. Sein Humor
ist grundlos, wie wir selbst es sind. Er hat Wirkung ohne Ur-
sache, wie wir selbst von nirgendwo kommen, um fortzuschreiten.
Sein gewalttätiger Humor umfaßt die ganze Tragik unserer Zweck-
beflissenheit, und das Riesenmaß seiner Gesten hat kein Vorbild in
einem einzelnen Lebenstypus.
Nur einer friedlichen Abart des Knockabout ist jeder
20 —
von uns schon begegnet. Sie gleicht ihm aufs Haar, bis zu dem
Punkt, wo er seine Lebensauffassung mit der Hacke durchzusetzen
beginnt. Bis dahin ist er bloß der Mann, der weitläufig wird,
um nur ja keine Umstände zu machen, einer, der die Berge
kreißen läßt, um der Oeburtshelfer einer Maus zu sein, und der
viel Lärm macht, wenn er eine Omelette bereitet, weil er wie alle
anderen Künste selbstverständlich auch die Kochkunst aus dem
FF versteht. Sein Lebensmotto ist die Versicherung: »Das werden
wir gleich haben !< Das Resultat seiner Bemühungen ist aber,
daß wir es nicht nur nicht gleich, sondern daß wir es überhaupt
nicht haben, ja, daß wir es noch weniger haben als vor seiner freund-
lichen Intervention. Wenn du ein Wimmerl hast, das dich nicht ge-
niert, so zieht er ein Pflaster aus der Tasche und du hast am andern
Tag einen Karbunkel. Der Knockabout ist edel, hilfreich und gut. Er
schlüge dir die Schädeldecke ein, um deinen Kopfschmerz weg-
zubringen. So radikale Mittel wählt er im Leben freilich nicht. Er
hat es auf dein Wohl abgesehen, aber er erzwingt es nicht mit
Gewalt. Wenn du an Hühneraugen leidest, so gibt er dir den Rat,
dir das Bein amputieren zu lassen, aber er legt in so verzweifelten
Fällen nicht selbst die Hand an. Der Knockabout ist entgegen-
kommend und praktisch. Aber wenn er dir entgegenkommt, weiche
ihm aus, die Vereinfachung des Lebens, die er sich und dir ansinnt,
erfordert Aufwand und viel Qeduld. Er trägt zehn Westen auf dem
Leib und erspart sich deshalb, sie zu wechseln. Er ist der Mann des
»omnia mea mecum porto«. Nun bedeutet es gewiß eine der größten
Schwierigkeiten des Lebens, im Kaffeehaus einen Brief schreiben zu
wollen. Aber ist der arme Teufel nicht viel bedauernswerter, der
Papier, Füllfeder, Löschpapier, Siegellack und Marken mit sich
und für die Erneuerung dieses Inventars immer Sorge tra-
gen muß? Schnupfen bekommen ist fatal. Aber viel schlimmer
denke ich mir die Selbstkasteiung, immer ein Mittel gegen
Schnupfen bei sich zu haben, weil einmal der Fall eintreten könnte,
daß man Schnupfen bekommt und die Apotheke geschlossen ist.
Und das Schlimmste dabei ist, daß jener, der zu solcher Vorsicht
inkliniert, zuverlässig auch ein Mittel gegen Kopfschmerzen, eines
gegen Zahnweh und etwa auch eins gegen Magendrücken sich zu-
ziehen wird, weil es eben ein ganz lächerlicher Optimismus wäre,
zu glauben, daß Schnupfen die einzige Gefahr ist, die den Men-
schen bedroht, wenn die Apotheke geschlossen ist. Der Knock-
— 21 —
about bepackt sich mit Dingen, die überflüssig sind, so lange sie
nicht notwendig sind. Schafft es ihm bloß der Trieb der Selbst-
erhaltung? Gewiß nicht. Er hat die Eigenschaft, sich den
Menschen wohlgefällig zu machen. Da aber in der Fülle
der Gelegenheiten Irrtümer unterlaufen können, darfst du
dich nicht beklagen, daß dir einmal gegen Zahnweh das Mittel
gegeben wird, das eigentlich für Magendrücken bestimmt war.
Auch die Eile, dir das Mittel anzubieten, ehe du noch die Schmer-
zen hast, könnte einen Mißgriff entschuldigen. Der Knockabout
streift die Asche von seiner Zigarre mit der Kleiderbürste ab und
läßt sie auf deinen Anzug fallen. Denn er hat selbstverständlich
eine Kleiderbürste bei sich, und wenn sein Kleid rein ist, wozu
sollte man sie sonst verwenden? Mit Kleidern weiß er überhaupt
umzugehen. Er macht sich sofort erbötig, dir deinen Koffer
zu packen, wenn du nur den Wunsch äußerst, auf Reisen zu
gehen. Oh, das werden wir gleich haben ! sagt er, denn er hat
eine Methode, die Kleider so zu legen, daß sie ein Jahr lang im
Koffer bleiben können, ohne zum Schneider wandern zu müs-
sen. Aber du begehst eben den Fehler, sie nicht ein Jahr
lang im Koffer zu lassen, sondern schon nach einem Tag
herauszunehmen, und wunderst dich dann, daß sie vollständig
zerknittert sind und zum Schneider wandern müssen. Der
Knockabout ist der Mann der Übertreibungen, aber er behält
nur deshalb nicht recht, weil die Leute so kleinmütig sind, sie
nicht wörtlich zu nehmen. Sonst würde er zweifellos reüssieren.
Er hat einen praktischen Zweck im Auge und ist bereit, ihm
alle unwichtigeren Interessen unterzuordnen. Wenns finster wird,
zündet er das Haus an, um sich bei der Lektüre nicht die Augen
zu verderben. Er ist durchaus der Mann der Resultate, die um
nichts bedeutungloser sind, weil sie auf Kosten unserer Gesund-
heit, Ehre, Freiheit oder wirtschaftlichen Wohlfahrt erzielt wurden.
Der Knockabout ist der Fortschritt. Wahrlich , er verschluckt
Kamele, aber keine Mücke bleibt in seinem Sieb!
Wenn er gezeigt hat, daß das Leben ein grober Unfug ist,
der mit dem Tod nicht schwer genug gestraft wird, tritt ein
Philosoph auf die Szene, ders ganz anders treibt. Der Jongleur
hat das Leben hinter sich. Was muß er alles durchgemacht haben,
ehe er so weit kam, nämlich zu sich selbst. Er keucht keinem
Zweck entgegen und spielt mit den Dingen. Er lebt im
— 22
sichern Port der Skepsis, hantiert mit zehn Bällen und weiß, daß
einer wie der andere ist. Mißlingt ein Wurf, so hat er eine
wundervoll resignierte Miene und wendet das Malheur zum Trick.
Viele Illusionen können ihm nicht mehr zerstört werden, und im
Bedarfsfalle hat er immer eine andere bei der Hand. Bis ein
Teller herunterkommt, hat er noch Zeit, ein Messer hinaufzuwerfen,
und findet stets einen gedeckten Tisch. Er ist ein Sonderling. Mit
Weibern gibt er sich längst nicht mehr ab. Die Erfahrungen der
Liebe haben ihm die Nase abgefressen, aber sein Verstand ist
ganz geblieben. Ihm ist so viel geschehen, daß ihm zu gesche-
hen fast nichts mehr übrig blieb.
Im Spiegel des Varietes wird uns bei unserer Menschen-
ähnlichkeit bange. Darum wird ihm der Platz streitig gemacht,
und Tiere und Schauspieler, die von allen Seiten eindringen,
sollen uns darüber beruhigen, daß wir doch bessere Menschen
sind. Das Variete kämpft einen Verzweiflungskampf. Mit den
boxenden Känguruhs könnte es paktieren, aber die Librettisten
sind ein Pfahl in seinem Fleische. Ein Kalauer weckt die Lebens-
freude der versammelten Intelligenz, die sich vor dem kindi-
schen Spiel der Akrobaten, Clowns und Jongleure fürchtet. Der
Geschmack des Publikums hilft ihm zur Flucht. Hier wie allerwärts
klauben sich die Qourmands die Fliegen aus dem Honig.
Glossen
Von Karl Kraus
Ich glaube, es wird sich allmählich so herausstellen, wie
ich es in dem Augenblick gesehen habe, als die Nachricht von
der Entdeckung des Nordpols durch Herrn Cook eintraf: Er hat
das Bedürfnis der Welt nach einem Nordpolentdecker entdeckt und
einfach getan, was zu tun war. Er hat das richtige Wort zur richtigen
Zeit gesprochen. Hätte er gesagt, daß er aus Christiania komme,
wäre ihm niemand hereingefallen. Da er sagte, er käme geradenwegs
vom Nordpol, umarmten sich die Menschen zweier Hemisphären.
— 23 —
Allmählich wird sich's herausstellen, daß es so ist. Für die feuille-
tonistische Begabung, die ich ihm nachrühmte, hat er inzwischen
die Belege beigebracht. Die Artikelserie »Die Eroberung des
Nordpols« erschien gleichzeitig im .Newyork Herald' und in der
,Neuen Freien Presse', aber da zeigte es sich doch, daß man der-
gleichen in beiden Redaktionen ohne jede arktische Vorschulung
besser getroffen hätte. Ein Femlletonist soll ein Feuilletonist sein,
und wenn man über Gegenden, die man nicht kennt, zu schreiben
hat, dann soll man besser gar nichts von ihnen wissen, weil eben
auch schon das geringste Maß von Fachkenntnis dem Schwung der
Darstellung hinderlich ist. Man kann aus dem Cafe des Westens
Petersburger Briefe für das .Berliner Tageblatt' schreiben, und da
schadet es schließlich nicht, wenn man Land und Leute von
früheren Gelegenheiten aus Bjalystok kennt. Was aber Herr Cook
über den Nordpol liefert, hätte unser Zifferer, ohne Schlittenhunde
einzuspannen — und diese vorbereitende Handlung kann man
Herrn Cook nicht bestreiten — , zweifellos viel besser getroffen.
Man lese nur nach, wie er dem größten Ereignis, an das die
Welt bisher glaubte, gerecht wird. Der große Tag ist da, er
fühlt — jetzt oder nie:
. . . Die melancholischen Hunde peitschten sich mit den Schweifen
und liefen rascher. . . . Obgleich sie viel vom munteren Bellen und Heulen
der ersten Tage eingebüßt hatten, so unterbrachen sie (loch zuweilen
noch die totenstille Frosteinsamkeit mit ihrem urwüchsigen Konzert. . . .
Unsere abgemagerten, erfrorenen, verbrannten, verrunzelten Antlitze
glichen Landkarten, auf denen alle Strapazen der Reise eingegraben
waren. . . . Die Eiszapfen an Augenbrauen und Wimpern trugen zur Er-
höhung der dekorativen Wirkung bei. . . . Wir mußten fortwährend die
größten Anstrengungen machen, diese Fenster der Seele offen zu halten. . . .
Und nun schildert Herr Cook, wie das Auge über farben-
glänzende Ebenen zu tanzenden Horizonten schweifte, und macht
die auffallende Bemerkung, daß »je mehr wir uns dem Pol näher-
ten, desto lebendiger die Einbildungskraft spielte«. Gewöhnlich
pflegt bei solchen Geschichten das Gegenteil der Fall zu sein. Aber
hören wir nur, was weiter geschah :
Am 19. April um 8 Uhr morgens lagerten wir auf einem male-
rischen alten Eisfeld, umgeben von mächtigen Eiswällen, auf die wir
leicht hinaufklettern konnten, um häufigen Ausguck zu halten. Das Zelt
wurde aufgeschlagen, die Hunde mit ein paar Klumpen Pemmikan zum
Schweigen gebracht. In unserer Brust entzündete sich das edle Feuer
der Begeisterung aufs neue an einem mächtigen Topf heißer Erbsensuppe
und ein paar Schnitten gefrorenen Fleisches. Dann badeten wir uns in
- 24
den belebenden Sonnenstrahlen, welche die schneidend kalte Luft durch-
drangen. Es war ein wundervoller Tag. . . . Die Eskimos waren bald
in tiefen Schlaf versunken, den einzigen Trost in ihrem harten Leben.
Aber ich blieb meiner Gewohnheit gemäß wach, um Positionsbestimmungen
auszuführen. Die Längenbeobachtungen ergaben 94 Grad 3 Minuten
westlicher Länge. . . . Mein Herz tat vor Freude einen Sprung, und
ohne daß ich es wollte, weckte meine Aufregung Etukishuk. Ich erzählte
ihm, daß wir in zwei Märschen den »Tigi Shu« (den großen Nagel)
erreichen könnten. Etukishuk weckte Ahwelah mit einem
kräftigen Puff. Sie stiegen zusammen auf einen Eiswall und suchten
durch das Fernrohr nach dem großen Nagel. Sie konnten sich die Erd-
achse nicht ohne eine bedeutungsvolle räumliche Marke vorstellen. Ich
versuchte ihnen zu erklären, daß der Pol für das Auge nicht wahr-
nehmbar sei, daß seine Lage nur durch wiederholten Gebrauch ver-
schiedener Instrumente ermittelt werde. Das befriedigte ihre Neugier und
sie brachen in Freudenhurras aus. Zwei Stunden lang tanzten und
sangen die Burschen wie die Wilden. Es war das erste Zeichen
von Freude und geistiger Erregung, das sie seit einigen Wochen gezeigt
hatten. . . . Wir brauten eine große Kanne Tee, bereiteten eine famose
Pemmikansuppe, gönnten uns ein Extradessert von Biskuit und füllten
uns mit allen diesen guten Dingen so weit an, als es die Rücksicht auf
die uns noch bevorstehende Fastenzeit erlaubte. Die Hunde, die in
den Freudenchorus mit einstimmten, erhielten eine Extraration
Pemmikan. Ein paar angenehme Ruhestunden wurden noch im Zelt ver-
bracht, dann erfolgte der Aufbruch zum Pol. Wir glühten alle in Fieber-
hitze. . . . Unser Enthusiasmus hatte die Hunde angesteckt. Sie stürmten
in einem Tempo vorwärts, das es mir schwierig machte, den richtigen
geraden Kurs nach Norden einzuhalten. Die Augen durchsuchten den
Horizont nach einer Maike, welche die Nähe des Polarzentrums
bezeichnen könnte, aber nichts Außergewöhnliches ließ sich erblicken. . . .
Nur durch unsere freudigen Augen gesehen, gewann das gewohnte Bild
einen neuen Nimbus. Das waren goldene Ebenen zwischen purpurnen
Mauern, die mit vergoldeten Zinnen gekrönnt waren. ... Während
die Eskimos sangen und die Hunde heulten, brachen wir am
21. April um Mitternacht auf. Die Hunde sahen imponierend und
vornehm aus, als sie an diesem Tage einherkamen, während
Etukishuk und Ahwelah. obgleich dürr und abgemagert, eine Würde
zur Schau trugen, gleich den Helden der größten Männer-
schlachten, die jemals mit bemerkenswertem Erfolge ausgefochten
wurden. Wir fühlten uns alle in das Erobererparadies versetzt. . . .
Der Boden unter unseren Füßen erschien uns fast geweiht. Als der
Schrittzähler 14V2 Meilen wies, kampierten wir und schliefen ruhig
in dem Gefühl, daß wir uns auf der Erdachse drehten. . . .
Etukishuk und Ahwelah verbrachten den Tag in beschaulicher Ruhe,
aber ich schlief nur wenig. Mein Ziel war erreicht, der Ehrgeiz meines
Lebens erfüllt. Wie hätte ich in einem solch überwältigenden Momente
zu schlafen vermocht I Der Traum der Nationen war verwirklicht. Wir
hatten im Rennen der Jahrhunderte gesiegt. . . .
— 25
Nun, die Eskimos behaupten das Gegenteil. Wohl gaben
sie einander einen kräftigen Puff, aber das soll sich nur auf die
Erzählungen des Herrn Cook bezogen haben. Denn Herr Cook
sei umgekehrt, als er auf offenes Wasser stieß. Und inzwischen hat
auch der Bergführer vom Mount Mac Kinley eidlich bekräftigt,
daß der höchste Punkt, den Herr Cook damals erreicht hat, noch
mehrere tausend Fuß vom Gipfel entfernt gewesen und das Tage-
buch den Bedürfnissen, nicht den Erlebnissen angepaßt worden
sei. Und ein Photograph hat beeidet, daß die Photographien in
geringer Höhe aufgenommen worden seien. Herr Cook tat solchem
Einwand gegenüber, was er gegenüber dem großen Nordpol-
zweifel tat. Er riet, eine Expedition auf den Gipfel zu ent-
senden, dort werde man die von ihm hinterlegten Aufzeichnungen
finden. Es ist aber auch in diesem Falle nicht ganz sicher, daß
man die unbequemste Methode wählen wird, um Herrn Cook das
Gegenteil zu beweisen. Es ist sogar möglich, daß man ihm bedeuten
wird, endlich andere Witze zu machen. Schließlich reißt auch der
Dummheitdie Geduld. Die Newyorker Damen freilich müssen es nicht
bereuen, Herrn Cook abgeküßt zu haben. Denn erstens kommt bei
einem so reellen Zweck, wie es das Küssen ist, die wissenschaftliche
Würdigkeit des Petenten nicht in Frage, und zweitens entbehrte
das Vorbringen nicht der lyrischen Begründung. Es sind Heineische
Stimmungen, die das Erlebnis des Herrn Cook auslöst. Die
Eskimos behaupten, daß er und der Nordpol nicht zusammen-
kommen konnten, weil das Wasser zu tief war. Und die Schlitten-
hunde bellten so laut . . .
Zur Hebung des Fremdenverkehrs. Herr Hermann
Bahr, um seine Meinung über dieses alle Geister bewegende
Problem befragt, schrieb die Antwort:
. . . Gebt den Leuten von der Kunstschau die Mittel, ein
Gartentheater nach ihrem Sinn zu machen ! Führt einen Monat lang
uns auf! Den ganzen Schnitzler, den- ganzen Hofmannsthal,
den ganzen Schönherr, Beer-Hofmann und michl Und statt
auf uns zu schimpfen, sagt den Fremden: ,Das ist das Beste, was
wir haben, und in dieser Art können Sie nirgends was besseres
sehen I'« ...
Ein Traum verwirklicht sich, die Wiener kriegen einen
Fremdenverkehr. Das Einfachste war zu tun, und nun glückt die
— 26 —
Sache. Die Engländer strömen massenhaft nach Wien : man be-
kommt den ganzen Beer-Hofmann zu sehen!
Herr Nordau, der eben in vollster körperlicher Frische
seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert hat, schrieb den Satz:
. . . Aber kaum hatte Schack ihn fallen lassen, als ein anderer
Veiehrer erschien, Dr. Konrad Fiedler aus Leipzig, der ihn zwanzig
Jahre lang, bis zu seinem Tode, gegen alle nüchternen Sorgen ver-
teidigte, alle Prosa des Lebens von ihm abwehrte, nicht nur seine
gemeine Notdurft versah, sondern usw. Fiedler verlangte von ihm
nichts im Austausch . . .
Nun, so einem alten Ritter kann schon auch einmal etwas
Menschliches passieren. Sprechen wir weiter nicht davon. Übrigens
hat ihm der Qratulant der ,Neuen Freien Presse' bestätigt, daß
er als Kunstkritiker »den Fachmann ganz hinter dem Weltmann
verschwinden läßt«. Das ist wahr, denn Herr Nordau ist gewiß
noch immer eher zimmerrein als kunstverständig. Der rüstige
Jubilar hat erst kürzlich die Dichtung Mallarmes für das »Wort-
gesabber eines blödsinnigen Faselhanses« erklärt, und der Jargon
des Herrn Nordau läßt ihn gewiß als Weltmann erscheinen,
sofern man die >Welt« als zionistisches Organ auffaßt. Mit Recht
meint der Qratulant, die Montaignesche Devise >Que sais-je?«
lasse sich auf keinem seiner Werke anbringen, denn >das feine
Lächeln der Skepsis erhelle nie das Antlitz dieses Schriftstellers,
dem die naturwissenschaftliche Erkenntnis usw.« Sehr richtig!
»Que sais-je« nicht, aber eine Übersetzung: Weiß ich?
Norddeutsche Blätter bringen unter dem Titel »Preßgemein-
heit« die folgende Notiz:
Kurzlich war folgende Anzeige in den Zeitungen zu lesen:
Dr. Sigwart Graf zu Eulenburg
Helene Gräfin zu Eulenburg
geb. Staegemann.
Vermählte.
Liebenberg Leipzig
den 21. September 1909.
Dazu bemerkte das .Neue Wiener Journal':
>Wir müssen gestehen, daß Fräulein Helene Staegemann ziemlich
vorurteilslos und couragiert ist, wenn sie es riskiert, in die etwas an-
27
rüchig gewordene Familie des Lisjaenbergers hineinzuheiraten.« Karl Kraus
meint in der .Fackel' anläßlich dieser erstaunlichen Rüpelei mit Recht:
Künftige Kulturhistoriker werden den Jammer unserer Zeit vielleicht in
die Formel fassen, daß auf hundert Federn kaum eine Hunds-
pe itsch e kam.
Ebenso ging vor einiger Zeit die Rede des Grafen Sternberg
aus der , Fackel' in die deutsche Presse über, und die Blätter
machten dazu Bemerkungen wie die folgende:
Auf diese furchtbaren Anklagen, die selbst durch Sternbergs
Persönlichkeit nichts an Wucht verlieren, hat das angegriffene Weltblatt
bisher mit keiner Silbe geantwortet. Sollte Herr Benedikt warten wollen,
bis sich einer findet, der diese Verteidigung in Form eines bezahlten
Inserates einfordert?
Die norddeutsche Presse kennt den Mann nicht. Er ist für
Geld zu keiner ehrlichen Regung zu haben.
Sie hatte sich also zu den Ideen der Heilsarmee bekehrt.
Das ließ man angehen. Reklame oder Religion? Komödie oder
Ekstase? Man schwankte lange. Da stellte es sich heraus, daß ein
Leutnant der Heilsarmee im Spiele sei. Die Wahrheit lag also,
wie überall, auch hier in der Mitte. Und da sich somit ergab, daß
die Dame gesund sei, so blieb nichts übiig, als sie ins Irrenhaus
zu sperren.
Während die ,Zeit' die Renner-Buben hoch leben läßt, ist
die ,Neue Freie Presse' unaufhörlich damit beschäftigt, der Lage
der Deutschen in Österreich aufzuhelfen. Vor allem beklagt sie die
Zurücksetzung, welche sich die deutsche Sprache hierzulande gefallen
lassen muß. Und von einem Angeklagten schrieb sie neulich: »Er
versuchte auch, sich durch ein stets bei sich führendes Rasier-
messer das Leben zu nehmen«. Es ist bezeichnend, daß dieser
Mann Dworzak heißt und offenbar kein Deutscher ist. Aber
nichts als Not und Tod an allen Enden. »Von Pulitzers
Verwandten«, hieß es gleich in der benachbarten Spalte, »konnte
sich niemand zum Begräbnis einfinden. Pulitzers Gattin, die
in Amerika lebt, ist vor einigen Monaten gestorben«. Wiederum
bezeichnend; denn von einem Pulitzer haben wir neulich
gehört, daß er Analphabet war und sich erst den deutsch-jüdischen
28 —
Jargon aneignete, ehe er Chefredakteur einer großen Zeitung
wurde. Was aber die deutsche Sprache anlangt, so schrieb der
Chefredakteur der .Neuen Freien Presse' die Erkenntnis nieder :
>. . . das heißt die deutsche Sprache geradezu zum Paria machen
und sie unter die übrigen Landessprachen her abstoßen. < Und
das heißt wiederum: sie ist jetzt dort angelangt, wo der
Schreiber steht und wo die Landessprache der Herren Benedikt
und Pulitzer gesprochen wird. Nun wollen sie ihr auch noch
durch eine stets bei sich führende Feder das Leben nehmen.
* •
•
Eine immer bereite Legende wartet nur den Tod der Dichter
ab, um im Land herumzuerzählen, sie seien Hungers gestorben,
während die Librettisten in Fülle leben. Damit möchte die Legende
das Volk gegen die Herren Leon, Bodanzky, Dörmann, Stein und
Jakobsohn aufhetzen und ihnen die Freude am Schaffen vergällen.
Es wird ihr nicht gelingen. Umso weniger, als ihr jetzt auch von
maßgebender Seite aufs Maul geschlagen wurde. Im , Neuen Wiener
Journal', das sonst nur berufen wäre, sozusagen die Interessen der
dem Redaktionsverbande angehörenden Schöpfer der neuen Werke
der leichten Muse zu vertreten, veröffentlich^ der Kürnberger-
Biograph selbst eine Erinnerung zum dreißigsten Todestag, deren
Schlußpassus geeignet ist, jener aufrührerischen Legende den
Garaus zu machen und das Volk auch bezüglich der Einkommens-
verhältnisse jener Autoren, die nicht Libretti geschrieben haben,
zu beruhigen:
>Und dann sprach noch Oskar Falke, der Abgeordnete, ein
Jugendfreund Kürnbergers, der seine Hinterlassenschaft zu ordnen hatte.
.Wien hat oftmals vergessen', sagte er, ,was es an Kürnberger besessen ;
jetzt weiß es, was es an ihm verloren.' Kränze und Palmzweige, auch
von den fernen Freunden und Verehrern des Dichters, schmückten das
Grab. — Kürnberger ist nicht, wie man häufig hört, mittellos gestorben.
In seinem Tagebuch sind im Jahre 1879 allerdings nur 170 fl. 41 kr.
als Vermögen eingetragen. Aber er hatte Angloaktien bei Oskar Falke
deponiert, die durch eine günstige Konstellation noch knapp vor seinem
Tode um 1200 fl. verkauft werden konnten. Den größeren Teil davon
haben freilich die Spital- und Begräbniskosten wieder verschlungen.
Aber immerhin : diese literarhistorische Unrichtigkeit sollte einmal
berichtigt werden. <
Na alstern !
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3
N
^ Karlsbad, l
31?^ natürlicher»
W& alkalischer
JAUERBRUNN
CARL GOLSDORF-jg^k.dc.HoFlleFeranr
d, Budapest V. Wien PC 7^>^^ Krondo rf. Berlin .
Unternehmen für Zeitungsausschnitte
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versendet Zeitungsausschnitte über jedes gewünschte Thema.Man verlange Prospekte
Um zahlreichen Wünschen weiblicher Leser und
männlicher Leserinnen zu entsprechen :
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x + y)2_3-8 + 6-6-2 7 (U °6 + U 4°"
Ferdinand Kürnbergers gesammelte Werke
werden in 8 Bänden herausgegeben und sollen binnen
2 Jahren vollständig vorliegen. — Als erster Band wird noch im
Oktober dieses Jahres die vergriffene Sammlung politischer
Feuilletons: >Siege!ringe« erscheinen, die in einem Anhang
wesentlich vermehrt werdefl soll. — Die Einteilung
der Gesamtausgabe in 8 Bänden ist folgende: 1. Band:
Politische und kirchliche Feuilletons (»Siegelringe«). 2. Band:
Literarische und dramaturgische Feuilletons (> Literarische Herzens-
sachen*). 3. Band: Touristische und vermischte Feuilletons. '
4. Band: >Das Schloß der Frevel«, Roman. 5. Band: >Der
Amerikamüde«, Roman. 6. Band: Novellen (u. a. »Das Gold-
märcrnn«). 7. Band: Novellen (u. a. »Der Haustyrann«). 8. Band:
Tagebücher, Aphorismen, Gedichte. — Wie bei der textlichen
Gestaltung möglichste Vollkommenheit erstrebt wird, so 00II auch
die buchtechnische Ausstattung mustergültig sein. Der Preis
würde trotzdem möglichst niedrig angesetzt. — Alle, die das
Zustandekommen dieser Ausgabe fördern wollen, werden gebeten,
ihre Subskriptionserklärung möglichst bald an den unterzeichneten
Herausgeber oder Verleger zu senden ; eventuell mit dem Namen
des Buchhändlers, durch den das Werk bezogen werden soll. Ein
Verzeichnis der Subskribenten erscheint im letzten Band.
Otto Brich Deutsch Georg; Müller Verlag
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weiße Kultur oder: Warum in die Ferne schweifen? Von Karl
Kraus. — Briefe Ferdinand Kürnbergers. — Gedichte. Von Else
Lasker-Schüler. — Aphorismen. Von Karl Kraus. — Glossen.
Von Karl Kraus. - Gegen den Mädchenhandel. Von Karl Kraus.
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Zum hundertfünfzigsten Geburtstag Schillers
und zum fünfzigsten der > Concor dia<
Von Otto Weininger*)
In so schlechte Gesellschaft man sich leider
heute begibt, wenn man an das Ansehen dieses
Namens tastet, indem hauptsächlich er es ist, gegen
welchen die Schuljungen- Opposition der Modernen
wider alle offiziellen Größen der Historie sich richtet,
so sollte diese Furcht doch nicht dazu verleiten,
Schiller für einen wahrhaft bedeutenden Menschen
zu erklären, ihn für mehr zu halten, als einen extrem
begabtenMann und zugleich den tüchtigsten Jour-
nalisten, den die Welt bisher gesehen hat. Diese
Wertung läßt sich mit wenigen Worten begründen;
das übrige ist in Otto Ludwigs > Dramatischen Studien«
nachzulesen.
Schillers einzige Größe ist darin zu erblicken,
daß er die Tragödie vollkommen ruiniert hat: sie hat
sich noch lange nicht davon erholt. Die Helden seiner
Dramen haben nie die geringste innere Vergangenheit;
einzig der »Fiesco«, sein bestes und wohl darum von
den Literaturgeschichtsschreibern so schlecht behan-
deltes Stück, weniger bereits die »Jungfrau von
Orleans« könnten als Ausnahme in Betracht kommen.
Er selbst ist so völlig ohne Verständnis für Probleme
i m Menschen, es fällt ihm sowenig ein, den Mord
oder -die Liebe, den Erkenntnistrieb oder die Eitelkeit,
die Herrschsucht oder die Opferwilligkeit irgendwo
*) Die Abhandlung Ȇber Friedrich Schillere die in Weiningers
nachgelassenem Band »Über die letzten Dinge« enthalten ist.
wahrhaft ernstlich zum Vorwurf einer Dichtung zu
machen, daß er vielmehr stets die »größere Hälfte«
aller Schuld »den unglückseligen Gestirnen« zuschreibt.
Damit ist das Schicksal seiner Dichtung besiegelt
und Schiller das Urteil gesprochen. Die Konstellation
der Gestirne ist relativ zum Menschen immer Zufall,
und sie kann selbst bei Schiller nur in die alier-
äußerlichste Verbindung mit der Handlung treten.
Der Zufall ist das absolut Atragische, auf ihn
baut sich gerade das Lustspiel auf. Es gehört der
ganze Waffenlärm der beredten Schillerschen Heroen
dazu, um die Erkenntnis zu übertäuben, das hier die
entgegengesetztesten Dinge überhaupt, Fatum und
Zufall, verwechselt werden. Ist es nicht kläglich, einen
Don Carlos an einem überlegenen Spionage- System
scheitern, einen Wallenstein an einer äußeren, nie
wiederholten Schuld zugrunde gehen zu lassen (daß
er einmal einen ehrgeizigen Soldaten in einer allzu-
ungeschickten Weise als Mittel für seine Pläne be-
nutzt hat)? Diese Dichtung das größte Drama der
Deutschen? Eine spannende Intrigue, wie in allen
Schillerschen Stücken, ein hohler diplomatischer
Klapperapparat, keine kosmische Gegensätzlichkeit,
bilden ihr Getriebe. Es sind keine Spuren eines
inneren Kampfes an Schillers Personen wahrzu-
nehmen, sie atmen eine verdammt verdächtige Ob-
jektivität, aber nicht die Naivetät alles dreifach aus-
gedehnten Natürlichen, sondern die Anämie flächen-
hafter Schatten; als ob sie nichts vom Herzblut des
Dichters empfangen hätten; Schiller ist im Grunde
ein Epiker und kein Dramatiker, oder es mangelt
ihm wenigstens, was der Dramatiker vom Lyriker
übernehmen kann: die Subjektivität des Helden.
Hier sind nicht ein Unbegrenztes und Begrenztes im
Menschen entzweit, hier steht nicht die geistige
mit der sinnlichen Welt im Kampfe. Es ist im
Grunde nur die Tücke und die Gemeinheit der
Außenwelt, welcher der Held schließlich zum Opfer
fällt. Darüber beklagt sich Schiller noch in seiner
letzten, völlig phraseologischen und das Laster der
Rachsucht verherrlichenden Dichtung, dem »Teil« : »Es
kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es
dem bösen Nachbar nicht gefällt. c Den Feind in der
eigenen Brust, die Einsamkeit und ihre Schrecken,
das Schicksal im Menschen, scheint Schiller kaum
gekannt zu haben. Die »Braut von Messina« hat den
»König Oedipus« schlecht nachgeäfft; was diesem
seine Größe und seine alles überragende Wirkung
verleiht, ist ja nur die Einbeziehung des Zufalls
in die Schuld, die der Held selbsttätig vollzieht,
der höchste Heroismus des Nicht- Entlastet- Sein-
Wollens, der jede Entschuldigung verschmäht.
Merkt man übrigens nicht, wie gänzlich seicht,
wie ametaphysisch Schillers Dramen sind? — »Aber
die Gedichte!« wird man einwenden; »sind sie nicht
eher zu philosophisch?«
Was ist es doch, das an jenen Gedichten so
beleidigt? Es ist das Verletzende an Schiller über-
haupt, es ist seine Freude im Chor, in der Herde;
sein ganz ungeniales Glücksgefühl, gerade in der
Zeit zu leben, in der er lebte;*) seine willige Selbst-
begrenzung innerhalb der Geschichte, sein befriedigter
Zivilisationsstolz. Er hat recht eigentlich den Dünkel
des Europäers und den verlogenen Enthusiasmus des
Fortschrittsphilisters begründet — Eigenschaften,
deren vollgültige Repräsentanten heute zumeist Juden
sind, auch wenn sie von Schillers Namen sich loszu-
sagen erklären. Was tiefere Menschen von Schiller
immer abstoßen sollte, was Goethe trotz Schillers
Zudringlichkeit in der Annäherung, wie im Begreifen-
Wollen, von diesem stets in so großer Entfernung
gehalten hat, ist jener voraussetzungslose Opti-
mismus in ihm, kein transzendent-religiöser, kein
nach dem Herausbrechen aus der Zeit verlangender,
kein des Gottesvertrauens voller, sondern ein
*) Wenn man es zu wörtlich nicht nimmt, muß man Hebbel
Recht geben: >Schiller ist ein Verdienst des großen französischen
Kaisers. < (Anm. d. Autors.)
immanent-historischer Optimismus; ein Optimis-
mus, der sich freut, wenn die Menschheit um tausend
Jahre älter geworden ist, und begeistert die Addition
in seinen Kalender einträgt; ein Optimismus, der
nichts hofft, sondern selbst in seinen Hoffnungen
schon gesättigt ist, weil ihm die Erscheinungen nicht
das Mittel sind, um zu den Symbolen durchzudringen,
sondern die Symbole ihm njir die Erschei-
nung sollen verschönern helfen. Darum ist
Schiller nicht sehnsüchtig, sondern nur sentimen-
tal, wenn die Erscheinung mit der Idee nicht kon-
gruiert.*)
Er ist so auch der eigentliche Schöpfer des
Asthetentums, das unter den modernen Juden die
meisten Anhänger zählt: es flüchtet vor aller Tiefe,
oder heuchelt Tiefe, um den Schein sich retten zu
können. Schiller ist der eminent unerotische Mensch;
und niemand sowenig wie er Dichter des Einsamen,
niemand so ganz wie er Dichter der Familie. Und
neben der ungeheueren technischen Routine seiner
Werke ist es diese verlogene Vergoldung des Philister-
tums, diese raffiniert-künstliche Weihe des Alltags-
lebens (>Die Glocke«), aus dessen Perspektive er alle
geschichtlichen Erscheinungen erblickt, um sie zum
Hintergrunde des bürgerlichen Idylls zu machen,
welche zu seiner Popularität das meiste beigetragen hat.
Hierdurch erst wird das Bild Schillers vervoll-
ständigt. Seine Philosophie ist so monistisch wie
seine Dichtung, seine Weltanschauung sowenig
tragisch wie seine Tragödien. Er ist der Typus jener
Menschen, die auf die Gründe des Seins gekommen
zu sein glauben, bloß weil sie seine Abgründe nie
empfunden haben. Schillers Kantianismus ist ein
pures Mißverständnis; leicht konnte er den Pflicht-
begriff ins Lächerliche ziehen und die Kantische
Ethik dort verspotten, wo sie am tiefsten ist. Denn
die Resignation der Vernunftkritik verwandelt sich
*) Die Sentimentalität ist noch mehr jüdisch als weiblich ; sie ist
der Weltschmerz der Schmöcke. (Anm. d. Autors.)
bei ihm zur Süffisance der Immanenz, und die teilt
er mit dem stets positivistisch veranlagten Judentum;
nicht ohne Grund war auch er Antisemit.
Einen Journalisten durfte ich ihn mit Grund
nennen. Denn er ist dem Journalismus durch seine
Versatilität verschrieben, die ihn in » Wallen steins
Lagere goethisch, bald darauf wieder romantisch,
nun griechisch, nun shakespearisch sein läßt; und
daß er gewisse Gedichte und vieles aus dem »Teil*
bloß nach Erzählungen Goethes über Italien und die
Schweiz abfassen konnte, das ist eben der stärkste
Beweis für meine Meinung, daß er nicht aus eigenstem
Erleben heraus singen mußte, sondern in raffinierter
und affektierter Steigerung anderen, was sie geschaut
hatten, nachleben konnte. Was ihn aber endgültig
zum Journalisten stempelt, ist die Rührseligkeit, die
von einem tragischen Geschehnis schwätzt, wenn ein
Mensch auf der Gasse überfahren wird; und es ist
vor allem eben jene Bindung an den Tag und die
Stunde, jene Philistrosität, die sich am kosmischesten
gestimmt dann fühlt, wenn ein Jahrhundertwechsel
vor sich geht. In Schiller haßt die journalistische
Moderne nur sich selbst.
Balzac*)
Von Otto Stoessl
Indem uns das Kunstwerk sein »Dies bin ich«
oder sein »So seid ihr« entgegenhält, erweckt es in
uns jenes Menschheitsgefühl, das unser höchstes Er-
lebnis, unser eigentliches Schicksal, die Religiosität
der »eistigen Menschen einer entgötterten Erde be-
*) Bemerkungen anläßlich der deutschen Ausgabe der »Mensch-
lichen Komödie < (Leipzig, Inselverlag).
— 6
deutet. Die Urformen dieser subjektiven und objek-
tiven dichterischen Offenbarung sind Lyrik und Epik.
Beide machen die 'Welt als Ordnung und umfassende
Einheit sichtbar und leuchtend. Das schöpferische
Vermögen ist sonnenhaft wie das Sehen selbst. Die
allwissende Gerechtigkeit der Sprache nennt darum
den Dichter auch »Seher«. Der subjektive Schöpfer
blickt in sich und erschließt aus der Unendlichkeit
seines Innern das Wesen der Welt, er ist >anschaulich«,
der objektive sieht von sich ab, er »schaut an«.
Zu diesen objektiven, anschauenden Darstellern
gehört Balzac.
Der elementare, innerlich gehaltene, schon
durch die Mystik des Rhythmus zwingende Vers
der alten epischen Gesänge fällt mit der rhap-
sodischen Unmittelbarkeit des poetischen Wirkens.
Der »Seher« legt das Purpurgewand des Priesters
ab, ohne auf den Gemütsreichtum seiner Weihe zu
verzichten. Aber es gibt freilich feine Schattierungen
dieser Herablassung zur Prosa, welche das not-
wendige demokratische Übel des modernen Erzählers
bedeutet. Balzacs Sprache gewinnt wie die Mimicry
von Tieren das Ansehen seiner Umwelt, sie paßt
sich ihrem Stoff an und wird — seiner objektiven
Natur gemäß — so sachlich wie ein Gerät des Ge-
brauchs. In dieser Zweckgestaltung der Sprache war
Balzac wie in seinen Motiven der erste neue Epiker
der neuen Zeit. Wer aber den Herzschlag einer Prosa
als ihre poetische Rechtfertigung vornehmen kann,
wird auch in der seinen zuweilen jenes unsachliche
Wunder der elementaren persönlichen Notwendigkeit,
jene Urkraft erbrausen hören, die mit ihrer inneren
Rhythmik, ihrem auffliegenden Pathos den Dichter
ausmacht, zwingt, hervortreibt. Da scheint ein Haupt,
das abgewandt in die Weite sah, uns plötzlich anzu-
schauen. Im erzählenden Stil gibt es unvergeßliche
Momente, wo der Erzähler all das Warum des Er-
zählens durch einen solchen Blick aufs ergreifendste
verständlich macht.
7 —
Inhalt und Wirkung seiner Gestaltungen haben
die bleibende Gemeingültigkeit der epischen Art.
Balzac geht aus dem Prankreich der Restauration
hervor, aus dem wilden Werden einer unbekannten
Ordnung. Neue soziale Kategorieen werden durch
Revolution und Empire zusammengefaßt und herauf-
geführt. Das Ergebnis: Kapital und Maschine er-
obern den Erdkreis ohne Waterloo, ohne Napoleon.
Der Zeitgeist ist kein Genie, der Sieg der Masse
sticht allen Binzelwert aus. Es beginnt die Epoche
der papierenen Vertretbarkeit, des ausgleichenden
Verkehres. Die Gesellschaft wird aus ihren bisherigen
Gruppierungen und Gebieten gerissen und zu neuen
Vereinigungen gedrängt, in neuen Existenzformen
erweisen sich neue Gaben der Anpassung, welche
neue Charaktere erzeugen, gleichsam eine neue
psychologische Flora und Fauna in einem neuen
geistigen Klima. Die Umwandlung erfolgt unter der
steten Gegenwirkung der vorhandenen Organisationen.
So wird mit dem gegebenen sozialen Material des
monumentalen historischen Aufbaues der neue er-
richtet, wie man im alten Rom die Marienkirche über
den Minervatempel stellte und mit den Säulen der
antiken Heiligtümer die neuen stützte. Maschine,
Kapital, Verkehr, Demokratie, vier Namen für eine
Sache, schaffen in einem fieberhaften Unmaß das
moderne Stadtungeheuer Paris. Dort wird dieser
Prozeß einer unwillkürlichen Neubildung wie in
einem Reagenzglase sichtbar. Das weite Land draußen
kennt die unsterblichen natürlichen Kategorieen der
primitiven Ordnung: den Bauer, Jäger, Hirten, den
Handwerker, den großen Grundherrn, der die irdische,
die Kirche, welche die geistige Schutzhand über
diese Gesellschaft hält. Das Land behauptet mit der
Zähigkeit des Naturgegebenen den wirkenden frucht-
baren Widerspruch gegen das fressende Unwesen
Stadt. Innerhalb dieser Gegensätze rundet sich alles
Leben zum Schicksal. Die Stadt bedeutet Bewegung,
das Land Ruhe. Vermischung und Ausgleichung
setzen in der städtischen Demokratie ein und schlagen
gegen den Konservatismus von draußen ihre
Maschinenpranken, als gelte es, selbst die Gewohn-
heiten der Jahreszeiten zu zernichten, das Surrogat
kniet sich dem Produkt wie ein Alp auf die Brust.
Das sind die ungeheuren epischen Elemente
des neuen Dichters, des ersten und größten der
neuen Erde. Er hat die Dämonie dieser Gegensätze
mit jener schöpferischen Anschauung durchdrungen,
die den Dichter göttlich macht und mit jenem ruhe-
vollen Mitgefühl, dessen Lust der Anschauung und
Notwendigkeit der Gestaltung das höchste Maß von
Macht bedeutet, das im Leben überhaupt zu ver-
geben ist. Diese Fülle von Figur wird ihrem irdischen
Gefäß zum Schicksal, das Epos hat seine angestammte
Funktion einer umfassenden Erkenntnis und darstel-
lenden Schlichtung, es ist selbst eine soziale Aufgabe.
Balzac hat sie vollendet, er war, wie nur einer der
ewigen Erzähler, der Herr der Dinge: er gab dem
Chaos Ordnung, indem er es als Ordnung wahrnahm,
er erhellte es und schied Tag von Nacht, Feste von
Wasser. Und alles dies mit der schlichten, sachlichen,
freilich romanisch durchdringenden Klarheit der
Prosa. In seinem Gehirn dünkt uns die ganze Erfahrung
der Menschheit bis in die mikroskopischen Einzel-
heiten versammelt, das gehorsamste Gedächtnis bietet
sie dem fordernden Augenblick und sie erscheinen
selbstverständlich und wunderbar, wie am ersten
Tag. Er kennt zum Beispiel die Finten eines Wechsel-
protestkreislaufes, eines Zivilprozeßverfahrens, einer
Börsenspekulation bis in ihre äußersten Möglichkeiten
ebenso genau, wie die Schliche der Spionage und
die Methoden der Gauner. Er weiß, daß wer einmal
im Bagno die Kette geschleift, auch in der Freiheit,
wenn auch unmerklich, das ehedem gefesselte Bein
nachzieht. Er setzt das Verfahren des Buchdrucks
und die Arten der Papiergewinnung auseinander.
Die Wirksamkeit einer komplizierten technischen
Arbeit ist ihm gleich deutlich, wie der Mechanismus
des Denkens und Fühlens und er sieht das Ineinander-
greifen der menschlichen Regungen, welche sich vor
sich selber verbergen, wie das offene Räderwerk einer
Maschine. Immer wieder machen überraschende, doch
selbstverständliche Einzelheiten für die untrügliche
Wahrheit des Ganzen Beweis und dies mit einer Einfalt,
die über ihre Genialität gleichsam zu lächeln scheint,
wie dem schöpferisch Erhabenen eben Bewußtheit
und unwillkürliches Walten des Gefühls in eine
Lebenskraft zusammenfließt. Seine Helden sehen wir
noch heute in unseren Städten um Troja und Helena
kämpfen trotz einem Odysseus und Achill. Politik,
Kunst, Lebensgenuß, Spielerleidenschaft, Weiberlist,
Intrigue, Verbrechen, Karriere, Adel, Schönheit, Ehr-
geiz, Leichtsinn, Habsucht sind in einer Reihe ewig
typischer Gestalten verkörpert, deren Erlebnisse
ineinander verschlungen, doch deutlich heraustreten,
wie das Muster in einem Gewebe. Eine Einsicht, die
viel wunderbarer scheint als die Erfindung, faßt mit
der zartesten Sicherheit das wesentliche Problem
jedes Charakters.
Die Schicksale der Männer schreiten durch
Reihen von Weibern hin, der Glanz von Schönheit,
von lustvollem Weiberfleisch, von sinnlicher Freude
und Freiheit macht einen verwirrenden Vordergrund
aus, von dessen Pracht die schroffen Geschehnisse
sich unheimlich absetzen. Die Fülle dieser Weiber-
welt unter, neben, über der männlichen wird gleich-
wohl aufs deutlichste umrissen durch die genial ver-
einfachende Überzeugung: Das Weib ist in allem
Tun, Wollen und Denken durchaus vom Geschlecht
bedingt, von jenem Schöße, der zur Lust und zur
Mutterschaft gemacht, seinen ewigen Funktionen
zustrebt. Alles Erlebnis der Frau ist ihrer Natur,
ihrer Lebensquelle zugewandt und es gibt nur
mannigfache Verschwisterungen zweier Schicksale:
der Mutter und der Geliebten. Aber welcher Blick
für diese Abschattungen! Er zeigt einmal die Mutter
zweier Söhne. Der eine ist ein kindlich reiner
— 10
Künstler, der andere ein ruchloser Schurke. Die
Mutter hängt ihr ganzes Herz an den mißratenen,
eben weil er ihrer mehr bedarf, und der um ihre
Liebe verkürzte Sohnv versteht als schöpferischer
Mensch auch aufs innigste dieses schmerzliche Muß
der Mutterschaft. Auf der anderen Seite die Kurtisane,
dazwischen alle Lebensstufen der weiblichen Natur
und überall der Heroismus des Geschlechtes als die
reine Blüte des Instinkts. Er zeigt ein andermal
das Martyrium einer verdorbenen Kurtisane, die ein
zweites, wahreres, weil willentliches Magdtum ge-
winnt, um es zu opfern, einer raffinierten Weltdame
letzte Lust der erfundenen und darum höheren
zweiten Unschuld. Er sagt gelegentlich über ihren
Blick: »es war einer jener Blicke, die eine blonde
Frau brünett erscheinen lassen c und in einem Scherze
formuliert er, was den Frauenzimmern das Genie des
Mannes bedeutet, indem er eben diese Weltdame, da
sie den scheuen Handkuß eines Dichters empfängt,
sich nach dieser Probe »von der Literatur sehr viel
versprechen« läßt.
Alles Männliche aber nimmt gleichsam vom
Haupte seinen Ausgang und ist vielfältig wie das
Denken selbst.
Er fesselt jeden Mann an sein typisches Sckicksal
und die Zahl der ewig sinnbildlichen Ereignisse läßt sich
nicht einmal beiläufig angeben, denn seine Komposition
kennt keine Nebenfiguren und keine unentschiedenen
Konflikte, sondern schließt in ihrer ineinandergreifen-
den Gliederung die Probleme aller Berufe, Stände,
Individuen zusammen, wie steinerne Pfeilerbündel,
die das Gewölbe tragen. In eine Erzählungsreihe
tritt der junge Provinziale, der Paris erobern will,
von einem Verbrecher gefördert, von Frauengunst
getragen und von der eigenen Haltlosigkeit
endlich gestürzt wird. Gleich steht ihm der ungeheure
Missetäter zur Seite, welcher von der Einsicht eines
Gottes zum Weiberfeind bestimmt wird, denn wenn
das Genie des Verbrechens die endgiltige Verneinung
11
der Gesellschaft bedeutet, muß es von der Natur
selbst zur Unfruchtbarkeit verdammt sein. Und auf
die Spuren dieses erhabenen Ungeheuers tritt wieder
der lauernde Spion, auf ihn folgt der Richter und
erlebt an seinem Objekte seinen tragischen Konflikt,
indem der Richter nicht Diener einer absoluten,
sondern einer relativen Gerechtigkeit bleibt, kein
zwingendes, sondern ein letzten Endes willkürliches,
relatives, bezwungenes Gesetz verwaltet, so daß der
Schutz der ihm anvertrauten Ordnung zuweilen die
Befreiung des Schuldigen, nicht die Strafe verlangt.
Der Einzelne setzt das Recht des Stärkeren selbst
gegen das Gewissen des Gesetzes durch. Es gibt
eine Legitimität des solidarischen Unrechts. Und in der
gleichen epischen Reihe stehen die Verwicklungen
der Politik und Verschwörungen ; Ehrgeiz und Hab-
sucht liegen wie Spinnen auf der Lauer; das Leben
der Menschen vergegenwärtigt die allgemeine furcht-
bare Priedlosigkeit der ganzen Natur, die fortgesetzte
Vernichtung zu ihrer Erneuerung verlangt. So kehren
auf wechselnden Schauplätzen verwandte Ereignisse
wieder, kein Geschehen mündet ins Leere, kein Faden
verliert sich, vielmehr reicht jeder in die Ferne und
die Anschauung ist so vollkommen, daß sie im Keim
der Gegenwart den künftigen Baumriesen der Ent-
wicklung vorherbestimmt und nichts Folgenloses
auch nur denken kann. Balzac spricht vom Journa-
lismus, der aus einem Beruf eine Eigenschaft ge-
worden ist und durchdringt diese Pest des Gedankens
so ganz, daß uns heute ein Schauer überläuft, da wir
erleben, was er voraussah. Es ist, als zeigte eine
Hand aus dem Grabe.*)
Und inmitten des gewaltigen Stromes von
Handlung und Erscheinung blitzt wie tausendfältige
Sonnenbilder im Wasser, Erfahrung in unvergeßlichen
Worten auf. Nur eines dieser unzählbaren Worte will
*) Siehe die Komposition von Zitaten in Nr. 283/84 der .Fackel'.
Anm. d. Herausgeb.
- 12
ich wiederholen: »Die Macht beweist sich selbst ihre
Kraft nur durch den seltsamen Mißbrauch, daß sie
irgend eine Absurdität mit den Palmen des Erfolges
krönt und zwar dem Genie zum Spott, der einzigen
Kraft, die die absolute Macht nie erreichen kann.«
Diese Erfahrung, in einem Satz eine Welt
ergreifend, war in diesem einzigen Manne einer
Kraft gesellt, welche der ungeheuren Organisation
des Lebens eine künstlerische des Abbildes entgegen-
hielt, deren Geist und Reichtum der Wirklichkeit
gewachsen war, ja sie zu übertreffen scheint.
Es ist die Erhabenheit der epischen Sendung:
sie kommt aus ihrem Tag, aber sie überholt ihn
durch die Macht ihrer Anschauung und ordnenden
Erkenntnis um eine Ewigkeit. Die Dichtung ist dem
Leben so weit voraus, wie die Menschheit dem
Menschen. Solcher Flug hat Balzac über seine Zeit
getragen.
Aphorismen *)
Von Karl Kraus
Die Kunst des Schreibenden läßt ihn auf dem
Luftseil einer hochgespannten Periode nicht schwan-
ken, aber sie macht ihm einen Punkt problematisch.
Er mag sich des Ungewohnten vermessen ; aber jede
Regel löse sich ihm in ein Chaos von Zweifeln.
•
Den Polen wurde die Weltgeschichte zum Exe-
kutionsgericht. Aber sicher nur, weil sie einen Ter-
min versäumt, einen Gang unterlassen, eine Formalität
nicht erfüllt haben. Die Pfändungskosten waren
größer als die Schuld.
Jede Art von Erziehung hat es darauf ab-
") Aus dem .Simplicissimus'.
— 13
gesehen, das Leben reizlos zu machen, indem sie
entweder, sagt, wie es ist, oder daß es nichts ist. Man
verwirrt uns in einem fortwährenden Wechsel, man
klärt uns auf und ab.
*
Humanität ist das Waschweib der Gesellschaft,
das ihre schmutzige Wäsche in Tränen auswindet.
Meine Bücher
Im Juristischen Literaturblatt' (Bd. XXI, Nr. 8,
Berlin, 15. Oktober), dem kritischen Zentralorgan der Rechtswissen-
schaft ist ein Artikel über »Sittlichkeit und Kriminalität«
von einem mir unbekannten Autor erschienen. Es verdient
erwähnt zu werden, daß der Herausgeber des Juristischen Literatur-
blattes', in welchem so meiner Kritik der Sexualjustiz zugestimmt
wird, »Geheimer Ober-Regierungsrat und vortragender Rat im
Ministerium des Königl. Hauses« ist. In Österreich hat noch kein
einziges Juristenblatt, nicht einmal das sozialdemokratische, den
Mut gehabt, den sogenannten Fachleuten die Lektüre des Buches zu
empfehlen, wiewohl gerade jetzt die sogenannte Strafgesatzreform
die Rehabilitierung der alten Schande verheißt. Pfui über unsere
Juristen, Sozialdemokraten, Fachleute, Reformer u. s. w.; u. s. w. !
Die Besprechung lautet:
Sieht man sich die kleine Zahl der heutigen Kulturmenschen an,
so bemerkt man an ihnen einen Konservativismus eigener Art. Der
Künstler — und welcher Kulturmensch hätte nicht etwas vom Künstler
— ist ja im Grunde immer konservativ: er hat an allem, sei es im
landläufigen Sinne schlecht oder gut, seine menschliche Freude und
bringt deshalb für umstürzende Veränderungen wenig Interesse auf. Die
Fabel vom Radikalismus des Künstlers ist aus einer Verwechslung der
seelischen Labilität mit der Seele des Künstlers entstanden. Hatte aber
noch Hebbel einen Konservativismus, der einen starken Einschlag von
Disziplin und Patriarchentum aufwies, so ist die erhaltende Tendenz
unserer Jüngsten durchaus individualistisch gerichtet. Man ist nicht
umsonst durch Nietzsche hindurchgegangen. Und dieser konservative
Individualismus ist ästhetisierender Art. Man hat nicht umsonst Oskar
Wilde kennen gelernt. Das Leben ist so paradox, daß man Paradoxe
braucht, um es einzufangen.
Wir verlieren also langsam unsere Gewichtigkeit. Das ist für
— 14 —
Schulmeister — und der zweite Deutsche ist ja ein Schulmeister —
eine fürchterliche Angelegenheit, für Menschen aber, die außer Sozial-
politik auch noch anderes kennen, das Leben heller zu rhachen, eine
recht erfreuliche Tatsache.
Einer der Hauptführer gegen Gewichtigkeit und Demokratie —
ist beides eigentlich nicht dasselbe? — ist heut der Wiener Karl Kraus.
Man würde ihn beleidigen, hieße man ihn einen Feuilletonisten - dazu
hat der Mann zu viel Geist und ist zu wenig »geistreich«. Er hat so ewige
Worte geprägt wie dies: >Die Demokratie teilt die Menschen in Arbeiter
und Faulenzer. Für solche, die keine Zeit zur Arbeit haben, ist sie
nicht eingerichtet.« Man kann in weniger Worten nichts Treffenderes
beibringen.
Nun veröffentlicht Kraus dies Buch über Sittlichkeit und Krimi-
nalität, das ich mit größtem Vergnügen hier anzeige. Es sind lose Auf-
sätze, die vordem in der .Fackel' — dem Blatte von Kraus — erschienen
sind. Sie richten sich sämtlich gegen die Überspannung der Sexual-
justiz, die in der Tat zu den unangenehmsten Erscheinungan unserer
öffentlichkeitstollen Zeit gehört. Unter allen Umständen sollte der
Kriminalist sich das Buch vornehmen. Er wird oft genug erschrecken
über die Formulierungen des Verfassers, aber er wird doch nirgends
reiche Anregung vermissen. Wenn Kraus z. B. behauptet: »Ein Sittlich-
keitsprozeß ist die zielbewußte Entwicklung einer individuellen zur all-
gemeinen Unsittlichkeit, von deren düsterem Grunde sich selbst die
erwiesene Schuld des Angeklagten leuchtend abhebt«, so klingt das
zunächst ungeheuer lästerlich. Man wird aber beim Nachdenken finden,
daß hier ein sehr gesunder Gedanke, wenn auch in recht starker
Zuspitzung, vorliegt.
Daß Kraus dabei das Kind durchaus nicht mit dem Bade aus-
schüttet, sagt folgender Satz: »Der Gesetzgeber, der heue so ahnungslos
am Geschlechtsleben herumstümpert, könnte sich wohl nützlich machen,
wenn er ins freie Feld der Lust die Vogelscheuche des Paragraphen
stellte, aber nur um drei Rechtsgüter zu schützen: die Gesundheit, die
Willensfreiheit und die Unmündigkeit.«
Sehr schlecht kommt bei Kraus die Gerichtspsychiatrie fort, sie
sei von allen Gesellschaftsspielen das unterhaltendste. Man wird fragen:
Kommt denn überhaupt etwas gut fort bei dem Verfasser? O ja — die
freie Menschlichkeit, die nicht nach Pöbelwünschen und Pöbelinstinkten
fragt. Und so steckt denn in der Schrift am Ende trotz der mangelnden
»Gewichtigkeit« ein prächtiger Ernst. Was manchen Deutschen besonders
verwundern wird.
Berlin. Adolf Grabowsky.
,Die neue Generation' (V. 11., Berlin, November) bringt
die folgende Besprechung:
Der Herausgeber der Wiener .Fackel' reproduziert hier die
schärfsten und unterhaltsamsten Stücke seiner Essaykunst. Man glaube
nicht, daß es sich nur um eine brillante Glossierung von Lokaltratsch
oder Sensationsprozessen handle. Hinter diesem atemberaubenden Stil,
diesen wirbelnden Paradoxen erbaut sich eine Weltanschauung im besten
15
Sinne, die gesamte Wesenheit einer Individualität, die in der Tat mehr
Farbnuanzen zu sehen weiß, als das bloße Lokalkolorit. Man wird
finden, vielleicht wo man's am wenigsten vermutet, daß sich plötzlich
eine Weite auftut, die sich dahinaus erstreckt, wo wir alle nichts als
Menschen sind. Das erzeugt ein Gefühl, das ich nicht definieren kann;
eine gewisse Sicherheit, ein Erfülltsein bei dem ewigen Tasten nach
Wahlverwandtschaft. Diese Befriedigung ist die höchste, die uns ein
Buch gewähren kann.
Dr. Alfred Kind.
*
Über »Sprüche und Widersprüche« brachte das Lite-
rarische Echo' (XII. 3., Berlin, 1. November) einen Essay von
Felix Stössinger unter dem Titel »Spruchweisheit«, dem auch
Proben aus dem Buch und ein Porträt beigegeben waren. Dieser kriti-
schen Arbeit, die vor der Wiener Auffassung wieder dadurch be-
glaubigt wird, daß man angibt, dem Kritiker persönlich völlig
ferngestanden zu haben, danke ich vor allem die Genugtuung,
eine der größten Gemeinheiten abgewehrt zu sehen, die je
von der journalistischen Blutrache an meinen Geisteskindern ver-
übt wurden. Ein Herr Otto Weiß, >dessen humorvolle Gasthaus-
studien den Lesern der , Münchener Neuesten Nachrichten' gewiß
noch in angenehmer Erinnerung sind« und der überhaupt einer
der banalsten Menschen zu sein scheint, die es zur Zeit in
Deutschland gibt, hat ein Aphorismenbuch unter dem Titel
»So seid Ihr!« herausgegeben und erntet dafür in allen
Literaturrubriken wie auf ein Signal just die Anerkennung,
die das triste Pack, das sie redigiert, über höheren Auftrag
mir vorenthält. Aber nicht mein Anspruch auf eine Meinung, die
wertlos genug ist, um verschleudert zu werden, sondern der An-
blick besudelten Kunstwerts treibt mich zum Protest. Daß Romane
von Reportern geschrieben werden, daran hat man sich allmählich
gewöhnt; die journalistische Versauung des Aphorismus ist uner-
träglich. Schließlich kann man in der Nordsee baden, auch wenn
einer einmal hineingespuckt hat. Wer aber wollte unter der
gleichen Voraussetzung ein Glas Quellwasser trinken? Die ,Neue
Freie Presse' offeriert trotzdem das Buch des Herrn O. W.
und bekundet bei dieser Gelegenheit ein tiefes Verständnis für
das Genre. >Je kürzer gefaßt, desto treffender sind die Apho-
rismen«. Wie wahr! Als Beleg dafür zitiert sie den folgenden des Herrn
Weiß: »Im Leben wird oft besser Komödie gespielt, als auf der
Bühne«. Wie wahr! Und Herrn Georg Brandes hat es
— 16 —
direkt dazu begeistert, Herrn Weiß eine Vorrede zu schreiben.
>Gewiß einer der berufensten Beurteiler dieser Literaturgattung«,
bemerkt die ,Neue Freie Presse'. Wie wahr! Daß sich Herr Brandes,
der immerhin bessere Tage gesehen hat, wenn man bedenkt, daß
Nietzsche und Ibsen sich für alle Zeiten durch ihre Verbindung
mit ihm befleckt haben, daß also Herr Brandes sich nicht selbst
unerhört schäbig vorkommt und anstatt Selbstmord zu begehen,
hingeht und Herrn Weiß eine Vorrede schreibt - das ist das
Sensationelle an dem Fall. Dieser alte Rekommandeur ist tiefer
gesunken, als es eigentlich erlaubt ist. Er hat der Welt gute Sachen
aufgeschwätzt; das war seine Mission. Was er heute tut, ist nur
mehr ein Verrat an den Renommeen, die er begründen half. Man
sollte ihm die Provision geben und ihn hinauswerfen. Oder man
wird es noch erleben, daß er für Weiß mehr erreicht, als für
Ibsen. Ich fürchte ohnedies, daß ihm jener persönlich näher steht.
Weißens Lebensanschauung wird nun in dem Essay des literarischen
Echo' gewürdigt, der zum Schluß auch ein Aphorismenbuch
von Arno Nadel bespricht. Er beginnt mit den Sätzen:
In einer Aphorismensammlung suche ich den Abdruck einer
Persönlichkeit oder Weltanschauung. Innerlich zusammenhanglosen Ge-
dankensplittern fehlt der Boden des Charakters, Der Verfasser stammt
wahrscheinlich ans Meggendorf oder ist ein Epigone von Wilde und
Shaw oder redet kluge Dinge wie tausend andere Deutsche, die im
Gegensätze zu ihm die Mühe scheuen, alles niederzuschreiben, was
ihnen ein- und ausfällt. . . .
Im Aphorismus ist Sprache und Gedanke ineinander ver-
schmolzen. ... Er verschlingt Voraussetzung und Beweis in sich und
tritt dem Leser als Behauptung gegenüber. Die Sprache aber gibt erst
dem Gedanken die Geschlossenheit, aus der er die Fähigkeit zur selbst-
ständigen Existenz schöpft, und der Gedanke wiederum muß so tief in
die Sprache gedrungen sein, daß beide ein ineinander verschränktes
Hysteron-Proteron bilden, daß die Sprache ebensosehr Formulierung des
Gedankens ist, als der Gedanke aus der Sprache gerissenes und ge-
griffenes Produkt. Im Aphoristen soll deswegen die Klarheit des
Denkens die Form der Sprache, die Klarheit der Sprache die Form des
Denkens befruchten.
Von den Spruchbüchern, aus denen ich die Gesetze des Apho-
rismus abstrahierte, ist die Sammlung von Otto Weiß am minderwer-
tigsten. An und für sich bestände kein Grund, das Buch überhaupt zu
erwähnen, schiene es nicht für Deutschlands geistige insanity sympto-
matisch. Jener tiefe Denkersinn, der sich in Friseur- Witzblättern mit
schlauen Dackeln, schnoddrigen Gardeleutnants, saufenden Studenten,
eleganten Dienstboten und verliebten Hochzeitspaaren befaßt, betastet
dumm und unverfroren geistiges Leben und wagt ein beschämendes
— 17 —
Abbild seiner Wichtigtuerei ein Konterfei der Menschen zu nennen:
So seid Ihr! Mit gleichem Recht schreibt ein Schuljunge unter seine
Kritzeleien den Namen seines Lehrers, nur daß er aus einem positiven
menschlichen Naturtrieb handelt, während für die Autorschaft und den
Druck dieser Banalitätssplitler bloß negative Gründe mitgesprochen
haben. Herr Weiß hänselt die Kultur wie ein Schusterjunge die
Passanten oder redet gescheit wie eine Zimmervermieterin, stößt die
Nase des Lesers durch Gedankenstriche und Sperrdruck auf seine
> ironischen« Pointen und erleichtert durch ein Register die Stichproben,
über welche Begriffe er das Albernste gesagt haben mag.
Es folgen Beispiele. Dann:
Die Feder gewechselt, einen tiefen Atemzug, .und ich versuche,
Karl Kraus zu charakterisieren,
Wie viele in Deutschland kannten bis vor wenigen Monaten
diesen jungen Österreicher, der sich seit zehn Jahren in der .Fackel'
mit der Presse schlägt oder, da er konsequent totgeschwiegen wird,
besser gesagt, auf die Presse losschlägt. (Eine besondere Schrift über
Karl Kraus hat der Wiener Schriftsteller Robert Scheu soeben im Verlage
von Jahoda & Siegel in Wien erscheinen lassen.) Bald zertrümmert er
mit dem Pathos eines elementar Leidenden das geistig-sittliche Bürger-
milieu und wirft wie Polyphem mit Felsblöcken um sich; dann setzt er
wie ein Panther dem Feind in den Nacken und saugt ihm das Blut aus
dem Genick, bis er zusammenbricht; wie ein Kätzchen die Maus
zwischen die Zähne nimmt, sie kratzt und mit den Krallen ohrfeigt, sie
bis zum letzten Athemzug herumschleudert, so spielt er mit der Ohn-
macht des Gegners, ohne ekelhaft, oder grausam zu wirken, weil jeder
ein artistisches Vergnügen an dem sprudelnden Witz und der sprung-
bereiten Lauer findet, in die Blößen seine Klauen zu schlagen. Mitten
in die Analyse des Menschen leitet das Bild des Kämpfers, der in sub-
jektivster Weise Distanz empfindet und Distanz wahrt. Er schießt nicht
mit Kanonen nach Spatzen und mit Bolzen nach Adlern, sondern legt sich
die Taktik des Kampfes so zurecht, wie er das Pathos des Stiles nach
der Wirkung der Eindrücke anschlägt. So kann ihm ein vielleicht ge-
ringer Anlaß das Oebrflll des verletzten Löwen entlocken, während ihn
ein tieferes Problem kaum zur Satire aufstachelt. Es ist also schwer,
eine so vielflächige Persönlichkeit in wenigen Sätzen zu charakterisieren.
Sie ist zu groß, um sic> in eine Formel sperren zu lassen, und scheint
jeder Klassifizierung zu spotten. In die Erkenntnis einer Seite klingt die
Dissonanz anderer Saiten hinein, und jagt man einem greifbaren Punkte
nach, so schwillt er an, zeigt sich vielfach zusammengesetzt, wie ein
Molekül aus Atomen. Kraus läßt sich wahrscheinlich nicht auf einen
Grundstoff zurückführen, weil seine wahre Art der Kampf zwischen
mehreren Grundstoffen ist. Daraus erklärt sich auch seine polemische
Natur, die wahrscheinlich polemisch mit und feindlich gegen sich selber
ist. Kraus ist ein durchaus realer Mensch, der unter den Realien leidet
und sie deshalb wütender und mannhafter als heute ein anderer
Deutscher bekämpft. Ich habe oft einen sentimentalen Satz oder eine
träumerische Stimmung oder eine utopistische Forderung von ihm erwartet.
290
18
Aber diese Regungen schweigen in ihm, obgleich sie nicht immer ge-
schwiegen haben werden. Die klugen Augen, die so viel sagen, weil
sie so viel verschweigen wollen, sind trüb umflort wie die eines
Menschen, der zu elementar empfindet, um den zertrümmerten Träumen
melancholisch nachzuschwärmen. Kraus muß kämpfen, weil der Kampf
sein Element ist, und der Kampf ist sein Element, weil die Satire sein
Wesen fundiert. Er ist zu gesund, um an Enttäuschungen zugrunde zu
gehen, trafen sie ihn auch härter als andere. Ihn erweckte der Zusammen-
stoß mit dem Leben zum pathetischen Satiriker, weil er sich aus seinen
Träumen riß und die Kämpfernatur in ihm auftischte. Ein Schwächerer
wäre Don Quixote geworden, dem der klare Blick fehlt, das Leben zu
begreifen, das Leben zur Waffe zu schmieden und mit ihr die Riesen zu
erschlagen, ob sie nun Windmühlen sind oder nicht. Der Satiriker mit
Ethos wird Pathetiker, der Bourgeois sinkt zum Witzbold herab. Das
unterscheidet Swift von Saphir. Und Kraus stammt zweifellos aus dem
Geschlechte des Iren. Daß er also seinen Witz zur Waffe gegen die
natürlichen Feinde seiner Seele erhebt, zeugt schon für den wahren
Wert seines Menschentums. Ginge er ironisch über die Widersacher
hinweg, so empfände er sie wohl gar nicht feindlich, sondern posierte
nur Neid und Haß gegen Mächte, mit denen sich billig streiten läßt.
Der Grundunterschied zwischen ihm und den meisten feuilletonistischen
Gesellschaftskritikern besteht nun in seinem eingewurzelten Haß gegen
die Gesellschaft und dem tiefen Zwang, unter der Gesellschaft zu leiden.
Kraus ist ferner kein Pessimist, denn er zweifelt nicht am Leben,
sondern preist seine Herrlichkeit und flucht der Dummheit und Massen-
verblödung, die aus dem Paradies ein Irrenhaus, aus der Landschaft
einen Acker, aus der Kunst eine Volksbelustigung gemacht hat. Das
Leben meiden? Nein — es leben: und deswegen Kampf den Feinden
der Lebensherrlichkeit. Und hier entwickelt sich nun der grausame
Humor, daß seine eingewurzelte Waffe die Gesellschaft fesselt, daß die
vielen nicht namentlich Getroffenen (betroffen sind natürlich alle) an ihm
Gefallen finden und seinen Witz zum Zeitvertreib genießen. Und so
stachelt ihre Impotenz, seine Sprachkunst zu begreifen (in Klammer: er
sollte sie übrigens weniger beredt preisen, sondern sie für sich wirken
lassen; Dummköpfe überzeugt seine Selbstverhimmelung doch nicht), so
stachelt sie ihn also wieder zum Ekel und Kampf auf und entfesselt
seinen Witz, wodurch er diesen Lebenskreis beschließt. Den Menschen
Kraus erklärt des weiteren seine Zusammensetzung aus Sensibilität und
urkräftigem, elementarem Lebenswillen. Das überfeinerte Empfinden
sträubt sich gegen die blasse, schale Farbe, die das Leben durchtränkt
hat. Wie sich das Auge und das Ohr nach sattem Kolorit und vollen
Harmonien sehnt, so verlangt ^lie Seele Größe und Wahrheit und voll-
kommene Entfaltung der brach gehaltenen Lebensmächte. Sein Kultur-
verlangen ist durchaus rein und groß, das Licht der Sonne, in dem der
elementare Mensch leben muß, ist auch die Nahrung für ihn, den Ver-
feinerten und Zarten, der die Natur anders, sehnsüchtiger sucht, sie
aber genießen möchte und kann. Daraus ergibt sich das Leid über den
Zwang, unter den er das Leben gestellt sieht. Wo ein anderer lacht,
schrickt er zusammen, wo ein anderer genießt, ekelt es ihn, wo ein
— 19 —
anderer richtet, blickt er auf in gläubiger Bewunderung. Sein Glücks-
gefühl stillen weniger befriedigende Eindrücke der Außenwelt als ver-
miedene Berührungen mit ihr. Ein anderer verwünschte das Leben;
er aber kann es nicht übersehen und muß es erleben. Er muß sich in
diesen Trubel von Dummheit und Häßlichkeit stürzen, sich gegen die
Lebensäußerungen des Kleinbürgertums wehren, weil sie ihn zu tiefsten
Erlebnissen und tragischen Erschütterungen aufrütteln. Wenn man seine
Schriften liest, wundert sich mancher, daß dieser scharfe Kopf, der die Bildung
haßt, weil er das Denken vergöttert, keine tieferen Probleme berührt und
die vorletzten und letzten Gründe nicht näher zu kennen scheint. Hier ent-
puppt sich aber der tragische Konflikt zwischen seinem Können und Müssen.
Gewiß ist Kraus kein philosophischer Kopf, aber er kann es nicht sein,
obgleich er es könnte. Die Schale des Lebens ist für ihn das Leben,
durch die er nicht dringen kann. Sein Wille zum Leben wird von seinen
mimosenhaft feinen Nerven umstrickt, die ihn zwingen, die Torheit zu
sehen, statt sie zu überwinden. Vor ihm wächst ein Wall turmhoch
empor und umschließt ihn, wohin ihn auch sein Angstgefühl treibt: Rettung
vor der Zivilisation, sie ist unmöglich zu ertragen! Wie über die Welt-
ordnung schreiben, wenn er über die bürgerliche nicht hinwegkommt?
Das sind tiefe Probleme, an die er gekettet ist und aus denen ihn kein
Sturm losreißt. Stürmt das Leben um ihn, so stemmt er sich ihm nur
noch wütender entgegen und sucht den Jammer zu stillen, der aus der
Gigantomachie tönt. Und empfindet das Leben, je tieferen Jammer es
erweckt, um so gewaltiger, brutaler. Da dringt aber wieder sein Positivis-
mus durch, und er, der noch eben gegen Mensch und Nebenmensch,
Moral, Polizei, Familie, Psychiater, Politik, Presse, Dummheit, Kunst-
pfuscher und Feuilletonisten kämpfte, läßt aus dem Lärm die tiefe
Sehnsucht nach Größe und Macht, Persönlichkeit und Recht auf Ein-
samkeit durchdringen. Da zeigt sich, daß alles, was er bekämpft, dem
Elementaren feind ist, und daß sich das Elementare zum Sensiblen wie
Praxis zur Theorie, wie Tat zur Sehnsucht verhält. Dadurch, daß die
beiden Grundfaktoren des Kosmos: Können und Wollen in ihm ver-
einigt sind, entsteht der große Kampf seines Innern, der von Jahr zu
Jahr immer machtvoller tobt und doch in unfruchtbarem Jammer eines
unglücklich Konstruierten verlaufen muß.
Die Sprüche und Widersprüche enthüllen nicht das ganze Bild
des Menschen. Natürlich ist jeder Satz ein Abbild seines Charakters,
wie auch die Samenzelle eine Trägerin der ganzen Art ist. Aber man
muß doch einige Jahrgänge der .Fackel', dieses amüsantesten, kulturellsten,
europäischsten Kunst- und Witzblattes kennen, um zu dem Hasser und
Schwärmer ein Verhältnis zu gewinnen. Die jungen Leute in Wien
haben ihre Krausjahre, wie sie ihre Bahrjahre und wie die Berliner ihre
Kerr- und Hardenjahre haben. Die Aphorismen und Glossen dieses
Buches, auf das ich nur noch kurz eingehen kann, so daß der Schrift-
steller Kraus hier nicht mehr erschöpfend gewertet werden kann, standen
im .Simplicissimus' und haben dort auf mich wenigstens keinen sonder-
lich günstigen Eindruck gemacht. Es fanden sich eine Unmenge lustiger
Bemerkungen und allerlei Glossen, über die man lachte und dachte;
aber das Profil fehlte. Das haben sie in der neuen Zusammenstellung
- 20 —
gewonnen. Man erkennt die Gesetze, nach denen der Autor das Leben
richtet, und sieht seine lebhafte, bewegliche Art, Probleme darzustellen
und zu entwickeln. Man erkennt den Ursprung manches Wortes, das
aus dem vorhergehenden herausgewachsen ist, und findet manche
Brillanten wieder, die aus dem Geschmeide früherer Aufsätze ausge-
brochen sind. Man bewundert die Kunst, eine Weltanschauung in einen
Satz zu pressen, und empfindet deren Formulierung als endgültig. Man
fühlt den unterirdischen Zusammenhang der Worte, die Blasen gleichen,
auf einer Wasserfläche treibend. Kraus kann zweifellos seine An-
schauung an einem konkreten Fall erschöpfend erörtern, aber
zweifellos könnte er nicht seine Philosophie als abstraktes Lehr-
gebäude aufführen. Er wendet die Weisheit metaphorisch zum
Witze, der meistens mit einem Sprachwitz identisch ist. Aber
von den Feuilletonepigonen, die er famos >Wanzen aus Heines
Matratzengruft« nennt, scheidet ihn die tiefe Kluft seiner Persönlichkeit.
Oft liebt er es, gleichbedeutende Wörter gegeneinander auszuspielen,
Teile von stabilen Phrasen auseinanderzubiegen oder durch kleine Ver-
schiebungen des Tonfalles oder der Ordnung zwerchfellerschütternde
Wirkungen auszulösen. Witz und Stil und Gedanke und
Stoff u n d C h a r a k t e r s i n d a u f s engste verwachsen.
Wie das Leben sein künstlerischer Vorwurf ist, so
hebt er das Alltagsdeutsch, manchmal journalistischen
Sprachgebrauch zu seinem Stil empor. Deswegen ist seine
Sprache so leicht, flüssig, körperlos, der Rede nachgeformt. Aber zu
ihr verhält sie sich wie der Konversationston der Schauspieler zu dem
im Zimmer. Mit seinem Wesen füllt er die Sprache aus, gibt ihr
lebendige Biegsamkeit, weiche Grazie, feurigen Rhythmus, der dem
Leser vorausjagt. Schon anfangs erwähnte ich sein Distanzierungsver-
mögen. Dieses überträgt er auch in seinen Stil, indem er ihn im Pathos
durch Substantivierung der Begriffe und Relativsätze zu einer an Shake-
speare geschulten Geschlossenheit verhärtet. Dann neigt aber Kraus auch
zur Manier und zum Schwulst, der aus Überkonzentration entstanden
ist. Die Adern sind zu eng um das Blut gespannt. Wie dem auch sei,
wo man sein Buch aufschlägt, finden sich tief gedachte oder tief emp-
fundene Worte, intuitive Gedanken, Esprit und Selbstbewußtsein, das
dem Leser ins Gesicht lacht, Witz, der ihn herzhaft lachen macht. Und
wenn man nun bedenkt, daß dieser Mann elf Jahre in prachtvoller Ent-
wicklung und Vervollkommnung ridendo verum dich, und so wenige
sehen, daß sein Lachen blutendes Leid verbirgt, begreift man erst den
Reichtum und die. Tragkraft seiner Menschlichkeit.
Foigt eine Besprechung der (leider recht belanglosen)
Nadel'schen Aphorismen mit vielfachen Beziehungen auf mein
Buch. Nur gegen die parenthetische Kritik der >SeIbstver-
himmelung« möchte ich mich wehren. Das bin ich einem
so verständigen Beurteiler schuldig. Daß ich Rezensionen ab-
drucke, ist Notwehr. Daß ich sie über mich selbst schreibe,
ist tiefere Rücksicht. Ich spreche nie von mir, sondern
21 -
immer an mir von der Sprache. Ich habe nie einen Satz
über mich geschrieben, ohne selbst noch an diesem Stil-
problematisches zu erörtern. Ich bin nur das nächstbeste Beispiel
für mich. Das nächste, wie ich selbst zugeben muß, das
beste, wie auch mein Kritiker zugibt. Von den Nadel'schen
Aphorismen, die er ausgewählt hat, möchte ich einen — mit
Weglassung des platten Abschlusses — zitieren: »Goethe hat viel
über sich geschrieben: weil ihm nur das Geschriebene als rechtes
Eigentum galt, weil er seinen Entwicklungsgang an sich für wert-
voll genug hielt, um durch dessen Darstellung den Menschen zu
dienen, und endlich, um einer Entstellung seiner Persönlichkeit
vorzubeugen . . .« Das muß jedem zustehen, der's tut. Es tut's
keiner, der's nicht darf. Ich sagte einmal, daß, »wer mit einer
Sache verschmolzen ist, immer zur Sache spricht und am meisten,
wenn er von sich spricht«. Daß, »was sie Eitelkeit nennen, jene
nie beruhigte Bescheidenheit ist, die sich am eigmen Maße prüft
und das Maß an sich, jener demütige Wille zur Steigerung, der
sich dem unerbittlichsten Urteil unterwirft, welches stets sein
eigenes ist. Eitel im schlechten Sinne wäre eine Frau, die nie in
den Spiegel schaue.«
Glossen
Von Kar! Kraus
Der Nigger, den Herr Peary mitgenommen hat, stellt sich
soeben der Welt, die noch immer nicht genug hat, als dritten
Nordpolentdecker vor. Ich sei, gewährt mir die Bitte
Die Entdeckung des Nordpols ist überhaupt eine passende Ehrung
fürs Schillerj^hr. Der große ideale Bauchaufschwung der Mensch-
heit, Aeonen, Regionen, wo keine Menschen wohnen etc. Nur daß
im großen Fortschrittsballabile zum Schluß ein Nigger auftritt,
der der weißen Menschheit fletschend die weißen Zähne zeigt,
paßt nicht ganz ins Programm. Wenn du entdecken Pol, ich auch
— 22 —
entdecken Pol — und die eben noch in den idealsten Sphären
schwelgende Andacht plumpst in die Drastik einer erstklassigen
Varietenummer hinunter. Herr Cook, ein Anführer der Menschheit,
wurde bereits aus einer wissenschaftlichen Versammlung hinaus-
geworfen, und das Ende wird sein, daß es zwischen Herrn Peary
und seinem Neger zur engeren Wahl kommt. Dieser ist
im Vorteil; denn während Herr Peary sich bloß auf die Zeugen-
schaft eines unzuverlässigen Negers berufen kann, kann sich
der Neger auf die Zeugenschaft eines bewährten Arktikers
stützen. Was mir selbst dabei einen Heidenspaß macht,
ist die Beobachtung, wie jetzt sämtliche Olossenschreiber, über
welche die deutsche und österreichische Presse verfügt, satirische
Expeditionen gegen den Nordpol ausrüsten. Am ersten Tage, da
die ganze papierne Welt noch im heiligen Glauben brannte,
erkannte ich die satirische Nichtigkeit des entdeckten und die
satirische Realität des nicht entdeckten Nordpols. Heute spielen sie
sich alle als Entdecker des Nordpolhumors auf. Man vergleiche,
was dieselben Federn vor zwei Monaten geschmiert haben. Man
lese meine getreue ,Wiener Allgemeine Zeitung' — im Schiller-
jahr muß man sie von der gemeinen Zeitung für Alle wohl
unterscheiden — , deren vorlaute satirische Jugend manchmal An-
schauungen produziert, die sie nach Lektüre der , Fackel' dann
doch wieder zurückziehen muß. Woran sollen sich die Leser der
, Allgemeinen Zeitung' halten? Ach, wie hat sich nur das Bild des
Herrn Cook in diesen paar Wochen verändert! »Er lügt wie der
Satan«, sagten die Eskimos, als sie die Behauptung des Herrn
Cook vernahmen, er habe mit ihnen den Nordpol erreicht. Die
Eskimos glauben also wenigstens an den Satan. Woran aber sollen
die Juden glauben ?
»Und wenn die bürgerliche Gesellschaft wirklich daran
vergessen haben sollte, daß in Zeiten der schwersten politischen
Not Journalisten die einzigen waren, die das Amt der Volksver-
tretung geführt haben, so erachten wir es umsomehr als unsere
Pflicht, die Erinnerung an die Tage der Gründung der ,Con-
cordia' hochzuhalten. Der Journalistengeneration, die heute dem
Volke täglich seine geistige Nahrung bietet, schweben
andere Ideale vor, als es jene waren, die einst die Gründer der
,Concordia' bewegten. Aber wir dürfen und wollen nicht daran
23 -
vergessen, daß sie es waren, die uns den Weg geebnet, auf dem
wir vorwärts schreiten . . .«
•
Die ,Neue Freie Presse' spricht von einer >vox alterae
partis«. Nun, zu den Berufen, die ein Journalist verfehlt hat, muß
nicht unbedingt auch der eines Lateinprofessors gehören, und da
man auch an das bischen Latein vergessen hat, das man auf der
Schulbank lernte, so mag man froh sein, daß man wenigstens ein gutes
Deutsch schreibt. Und in diesem Sinne wollen wir auf dem einmal
betretenen Wege vorwärts schreiten. Denn wie sagt doch Schiller,
in dessen Zeichen wir jetzt wieder einmal die Schauspieler zur
Gratismitwirkung an einer Vorstellung zu Gunsten unserer eige-
nen Wohltätigkeit — Concordia soll ihr Name sein — pressen,
wie sagt er doch so treffend: Mut zeiget auch der Mameluk, Ge-
horsam ist der Schmuck jener, die nicht dem Redaktionsverbande
eines liberalen Blattes angehören.
*
Der bekannte Neu-Österreicher Hermann Bahr schreibt im
Feuilleton des »Berliner Tageblatts':
>Wir freuen uns zu wenig über die Menschen, welche wir haben,
und über die Werke, die sie tun. Das denk' ich mir immer und
denk mir's jetzt wieder, so oft ich an die zwei Prachtbuben denke,
die Rennerbuben in Graz. War' das in England oder Frankreich ein
Tumult, wenn sie so zwei hätten, die Welt würde davon hallen! . . .
Pindar hat geringere Helden angesungen, d'Annunzio hätte die zwei
mit dantesken Oden verbrüht, in England wären sie durch öffentliche
Spenden schon für ihr ganzes Leben versorgt .... Es gibt jetzt zwei
Buben in Österreich, über die man sich freuen kann.<
Also wohl gemerkt, nicht die Herren Bahr und Burckhard
sind gemeint, sondern die Rennerbuben. (Schon bei dem Wort
wird mir übel). Doch — pardon, wir sind im Schillerjahre — das
Unglück schreitet schnell. In derselben Nummer, auf der anderen
Seite, bemerkt die Redaktion des »Berliner Tagblatts':
>Das Schauspiel, das die Rennerbuben dem Wiener Publikum
bieten, wird immer kläglicher .... Unser Wiener Korrespondent tele-
graphiert uns : Gestern wollte der Ballon wieder nicht fliegen. — Die
Polizei verbot einen weiteren Aufstieg. Siehe das Feuilletons
•
»Gehören wir doch zusammen!« sagte der österreichische
Ministerpräsident auf dem Fest der Presse von der Regierung und
den Journalisten. Gehören schon zusammen!
24
Berechtigte Interessen
Ich werde um die Aufnahme der folgenden
Erklärungen ersucht:
Durch Vertrag vom 21. Jänner 1909 wurde Herwarth Waiden
als Reorganisator und Redakteur der Deutschen Bühnen-Genossen-
schafts-Zeitung engagiert, die auf seinen Vorschlag den Namen
,Der neue Weg4 erhielt.
Durch einen Vertragsbruch des Genossenschaftspräsidenten
Hermann Nissen wurde Herwarth Waiden am 14. Februar 1909
unter Mitteilung einiger mühselig zusammengesuchter Scheingründe
entlassen.
Am 12. März 1909 erschien ein von mir und einigen
anderen Schriftstellern angeregter Protest, der Waldens Diskredi-
tierung durch die unwissende und unfähige Leitung der Bühnen-
genossenschaft in den Augen einer schlecht unterrichteten Öffent-
lichkeit paralysieren sollte.
Am 15. März 1909 kam auf Anregung der Genossenschaft
deutscher Bühnenangehöriger zwischen ihrer Leitung und Herwarth
Waiden ein sogenannter Vergleich zustande, durch den Herwarth
Waiden sämtliche Forderungen bewilligt wurden, die er nach
seiner Entlassung gestellt hatte.
Jeder Einsichtige stellt fest: Falls Herwarth Waiden sich
während seiner Tätigkeit auch nur das Geringste hätte zu Schulden
kommen lassen, wäre es die Pflicht der Genossenschaftsleitung
gewesen, ihm nicht den kleinsten Teil seiner Ansprüche zu be-
willigen.
In der Delegierten-Vorversammlung vom 8. April 1909
wurde der Präsident Nissen wegen der Entlassung Waldens
zur Rede gestellt. Die Verhandlung war nicht öffentlich
und der Wortlaut der Nissenschen Rechtfertigung wurde nicht
bekannt. Aber schon am nächsten Tage ergab sich aus Munkeln,
Tuscheln, Anspielungen, Andeutungen und versteckten Fragen,
daß Nissen in dieser Versammlung über Waiden Mittei-
lungen gemacht hatte, die ihn als im höchsten Grade schuldig
hinstellen sollten. So viel des Näheren zu erfahren war, stellten
diese Mitteilungen, falls Nissen sie nicht beweisen konnte, Ver-
leumdungen im Sinne des § 187 D. Str.-G.-B. dar. Anstatt aber
seine Vorwürfe, wie es die Pflicht eines anständigen Menschen
ist, klar und deutlich zu formulieren, beging der Präsident der
Genossenschaft die Feigheit, durch versteckte Andeutungen den
Anschein zu erwecken, als habe Herwarth Waiden sich in seiner
Geschäftsführung unlauterer Manipulationen schuldig gemacht.
Herr Nissen hatte früher gegenüber einer schweren Belei-
digung durch den Intendanten a. D. Dr. Bürklin auf dessen
gerichtliche Belangung öffentlich verzichtet, weil der Beleidiger
vermutlich den Schutz des § 193 D. Str.-G.-B. (Wahrnehmung
berechtigter Interessen) in Anspruch nehmen werde.
25
Da Herr Waiden befürchten mußte, daß Nissen gegenüber
seinem (Waldens) Vorwurf der Verleumdung sich wiederum auf
jenen, seinein Gegner zustehenden § 193 berufen, also eine ge-
richtliche Aufdeckung des Tatbestandes vermeiden würde, erhob
ich in einem an alle Delegierten versandten Zirkularschreiben
gegen Herrn Nissen den Vorwurf der Lüge und Verleumdung.
Obwohl Herr Nissen wußte, daß mir der Schutz des § 193
nicht zustand, obwohl er wußte, daß mein Angriff wegen der
beleidigenden Form unbedingt zu einer Verurteilung führen
mußte, hat er mich nicht verklagt. Statt dessen erschien im
.Neuen Weg' eine lendenlahme Erklärung, worin der Zentral-
ausschuß der Genossenschaft bemerkte, man werde auf derartige
> Schreibereien« nicht eingehen. Daß ihr Präsident auf den öffent-
lichen Vorwurf der Lüge und Verleumdung nicht reagiert, blieb
durch diese harmlose Charakterisierung meines schweren Vorwurfs
den Genossenschaftern unbekannt.
Daraufhin erhob Waiden gegen Nissen die Beleidigungsklage.
Er wußte zwar, daß Nissen mit ziemlicher Sicherheit der Schutz
des § 193 zustehe, hoffte aber, daß Nissen sich nicht auf diesep
Paragraphen berufen werde, und wollte auf keinen Fall das tun,
was Nissen im Falle Bürklin getan hatte.
In der gerichtlichen Verhandlung vom 16. Oktober 1909
hat sich Nissen auf den Schutz des § 193 berufen. Das Gericht
hat ihm den Schutz der Wahrnehmung berechtigter Interessen zu-
erkannt, und Nissen hat es wiederum durchgesetzt, sich einer
gerichtlichen Aufdeckung der Wahrheit zu entziehen.
Ich stelle fest:
Herwarth Waiden sowohl wie ich haben bis jetzt alles getan,
um eine gerichtliche Klarstellung zu erreichen.
Nissen hat bis jetzt alles getan, um einer gerichtlichen Klar-
stellung aus dem Wege zu gehen.
Allen jenen nun, die nicht bereit sind, unter dem Deckmantel
der Humanität Vertragsverletzungen, Verleumdungen und Wahr-
heitsunterdrückungen zu begehen oder zu dulden, lege ich
die Fragen vor:
Wenn Nissen im Recht ist, warum hat er Waldens Forde-
rungen., befriedigt? Warum verteidigt er sich im Geheimen, scheut
er die Öffentlichkeit; sucht er noch jetzt die Gründe der Entlassung
geheim zu halten; geht er jeder gerichtlichen Klarstellung, die
Waiden wünscht, aus dem Wege. Warum ist gegen Waiden bei
seiner Entlassung keiner jener schweren Vorwürfe erhoben worden?
Ist keinem einzigen der Delegierten aufgefallen, das Nissen ihnen
Dinge mitgeteilt hat, die er selbst erst nach der Entlassung
erfahren haben konnte? Daß Nissen ihnen keinen einzigen jener
lächerlichen Entlassungsgründe genannt hat, die Waiden am
14. Februar bekanntgegeben wurden?
Der Orts- Verband des Deutschen Theaters hat mich für den
kommenden Delegiertentag zum Delegierten gewählt. Ich irre mich
wohl nicht, wenn ich befürchte, daß man wie bisner mit den
— 26
unwürdigsten Mitteln dagegen kämpfen wird, daß durch mich die
Wahrheit an den Tag kommt. Ich werde trotzdem mit allen
Mitteln des menschlichen Anstands an der Aufdeckung der Wahrheit
arbeiten. Das sittliche Niveau derer, die mich dafür mit dem
leisesten Worte tadeln, trägt alle Schuld. Daß die Affäre für die
im Kampfe gegen die Direktoren (die auch ich bekämpfe) stehende
Genossenschaft mehr als unerquicklich ist, weiß ich. Ich weiß
auch, daß die Leitung der Genossenschaft mehr verdecken will,
als einen von einer humanitären Anstalt begangenen beispiellosen
Rechtsbruch. Aber gerade aus diesem Grunde werde ich jetzt, als
Delegierter, zu überzeugen versuchen, daß durch Verschleierung
skandalöser Ereignisse und Zustände mehr Unglück angerichtet
wird, als durch Aufdeckung der Wahrheit, die nur den wenigen
zum Schaden gereicht, die sich ihr widersetzen.
Da ich wie bisher eine gerichtliche Verhandlung wünsche,
wiederhole ich:
In der Delegierten-Versammlung vom 8. April 1909 hat der
Präsident der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger in
Beziehung auf Herrn Herwarth Waiden verschiedene Tatsachen
Behauptet. So weit sie wahr sind, handelt es sich um die not-
wendigen und selbstverständlichen Maßnahmen eines Organisators
und Redakteurs, die Herr Nissen mit dem Pathos eines dem
Verlags- und Redaktionswesen fremd Gegenüberstehenden auf-
gebauscht hat. Sonst hat Herr Nissen in dieser Versammlung Tatsachen
behauptet, die geeignet sind, Herrn Herwarth Waiden verächtlich
zu machen, in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen und
seinen Kredit zu gefährden. Er hat es wider besseres Wissen getan.
Berlin. Rudolf Blümner.
Es ist mir peinlich, mich mit der Person des für mich
völlig interesselosen Herrn Hermann Nissen fortgesetzt beschäftigen
zu müssen. Nur seine gegenwärtige Eigenschaft als Präsident der
Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger zwingt zur Beachtung
seiner Tätigkeit. Soweit sie mich betraf, bestand sie in einem Vertrags-
bruch. Da mir nach dem Vorgefallenen die Lust zu einer weiteren
durch die Gerichte zu erzwingenden Zusammenarbeit mit Herrn
Nissen abging, nahm ich einen Vergleich an, der meine Forde-
rungen völlig befriedigte. Trotzdem beliebte es Herrn Nissen, in
einer üeheimversammlung der Delegierten der Genossenschaft
Deutscher Bühnenangehöriger unwahre Tatsachen über mich zu
verbreiten. Dies wurde durch meine Beleidigungsklage neuerdings
festgestellt. Statt den Wahrheitsbeweis für seine Behauptungen zu
erbringen, versteckte sich Herr Nissen sorgsam hinter den § 193
des Deutschen Strafgesetzbuches (Wahrnehmung berechtigter Inter-
essen). Gründe zu meiner Entlassung als Schriftleiter des ,Neuen
Wegs' waren nie vorhanden. Sie mußten also erfunden werden.
. Gegenüber der Taktik des Herrn Nissen, die ganze Ange-
legenheit auf ein geschäftliches Gebiet zu schieben, betone ich :
Nur die ernste literarische Haltung des ,Neuen Wegs' führte zur
27
»Katastrophen Wiewohl sie durch Vorverhandlungen und Ver-
trag beschlossen war. Zur Leitung eines offenbar gewünschten
Familienblattes hätte ich mich nie erboten. Meine Mitarbeiterliste
lag dem Präsidium vor. Sie wurde anstandslos gebilligt. Konnte
ich ahnen, daß Herr Nissen nie etwas von Strindberg, Lublinski,
Wied, Scheerbart u. s. w. gelesen hatte? Von diesen Autoren enthielten
die drei von mir redigierten Nummern des ,Neuen Wegs' Beiträge.
Sie gefielen Herrn Nissen nicht. Und deshalb wurde ich entlassen.
Ich kann kein Pathos gegenüber diesen Tatsachen aufbringen.
Aber etwas Humorvolles soll doch * noch den alten Weg in die
Öffentlichkeit finden, weil es charakteristisch für die Tätigkeit des
Herrn Nissen ist. Ich hatte für die zweite Nummer des ,Neuen
Wegs' einen Beitrag von Rene Schickele >Am Grabe Coquelins<
angenommen. Die Veröffentlichung wurde mir (vertragswidrig)
»untersagt«, mit der Motivierung, sie beleidige den deutschen
Schauspielerstand. Drei Wochen später erschien der Essay in der
,Neuen Rundschau' (seinetwegen war eine halbe Auflage des
,Neuen Wegs' eingestampft worden). Und im neunten Heft des
,Neuen Wegs' wird der Essay aus der , Neuen Rundschau' zum
größten Teil abgedruckt! Aber noch nicht genug. Der Beitrag
war in Form einer Rede eines deutschen Schauspielers gehalten
und schloß mit den Worten: »Solche Selbstverständlichkeiten
sprach ein deutscher Schauspieler am Grabe Coquelins«. Die
Redaktion des ,Neuen Wegs', der ein sogenannter »Überwacher«
beigesellt ist, hielt die Rede für wirklich gehalten und
fügte hinzu: »Rene Schickele bemerkt in der ,Neuen Rundschau'
Heft 3: Die Franzosen sehen erstaunt auf den Deutschen, der
sich in solchen Selbstverständlichkeiten entlud. Wir freuen uns,
daß Herr Scbickele u. s. w.« Man war also auf dem Präsidium
der Meinung, daß die ,Neue Rundschau' Reden irgendeines Schau-
spielers abdruckt und der unterzeichnete Autor eine gleichgiltige
Bemerkung dazu macht.
Diese Herren waren berufen, meine redaktionelle Tätigkeit
zu »überwachen«. Ich kann kein Pathos dazu aufbringen. Aber wie
schützt man sich gegen die »Wahrnehmung berechtigter Interessen« ?
Berlin. Herwarth Waiden.
Die berechtigten Interessen der Verleumdung
und die unberechtigten Interessen der Ehre: das ist
ein spannendes Kapitel der deutschen Justiz. Be-
rechtigt sind die Interessen des Brotgebers, der einen
Angestellten grundlos beschuldigt. Er ist ein un-
erbittlicher Altruist, denn er bewahrt seine Berufs-
genossen vor Schaden, selbst um den Preis der
Existenz des Angestellten. Wer im öffentlichen In-
teresse ein Wort zu viel gesagt hat, wird verurteilt,
— 28 —
weil öffentliche Interessen keine berechtigten In-
teressen sind. Er mischt sich in Dinge, die ihn nichts
angehen. Geschäftliche Interessen aber machen
jede Verleumdung straflos. In Österreich ist solche
Grenzbestimmung der Ethik dem freien Ermessen
der Geschwornen überlassen; in Deutschland ist sie
durch Entscheidung des Reichsgerichts den gelehrten
Richtern vorgeschrieben. Derlei Justizkatastrophen
spornen mich längst nicht mehr zur Hilfeleistung,
weil ich mich bei dem Glauben an eine Weltord-
nung, der man ein paar Schurken und ein paar
Dummköpfe glücklich exstirpiert hätte, nicht mehr
beruhigen könnte. Immerhin ist meine Erinnerung
an die Tage des Glaubens stark und wertvoll genug,
um fremder Klage Raum zu geben, wenn der Mensch,
den ich dem >Übelstand« geopfert sehe, der Beach-
tung wert ist. Herr Herwarth Waiden ist es. Er macht
im Stillen Musik und Lärm für die Musik der An-
dern. Er hat den »Verein für Kunst« gegründet und
hat von einer großen Fähigkeit, sich zu begeistern,
und von einem kleinen Besitz an Nervenkraft und
sonstigen Lebensgütern nichts für sich behalten, um
alles an die undankbare Aufgabe zu wenden, den
Künstlern zu einem Publikum, an die trostlose Auf-
gabe, einem Publikum zu den Künstlern zu verhelfen.
Die literarische Propaganda der Tat, die ein Handwerk
der Routiers und Schwindler geworden war, hat durch
ihn ihre Ehre wiedergewonnen. Aber die Ehre dieses
Ehrlichen sollen wir einem Komplott formalistischer
Geistlosigkeit und standesbewußter Bosheit geopfert
sehen. Das wollen wir nicht. Und wollen eintreten,
wo eine luderige Berichterstattung es versäumt hat,
die Polgen juristischer Mechanik durch die laute
Feststellung gutzumachen, daß der Freispruch des
Beleidigers durch keinen Wahrheitsbeweis erfolgt ist.
Jener Herr, der die verbürgerlichende Tendenz des
deutschen Schauspielerstandes vertritt, scheint es
für weniger erstrebenswert zu halten, daß seine Berufs-
genossen eine Ehre erhalten, als daß sie sie straflos
- 29
anderen nehmen dürfen. Und er weiß sich bei solcher
Ambition der Unterstützung der deutschen Presse
sicher. Denn dieser genügt es, daß die deutschen
Schauspieler in Furcht vor dem letzten Nachtreporter
aufwachsen, und sie läßt es hingehen, wenn sie
dafür gegen einen Künstler frech werden. Die Leute,
die >Komödche« spielen, sind Bürger geworden
und haben somit alle Prärogativen des Bürgers.
Sie verachten die Narren, die für die Kunst leben
und von ihr nicht leben können. Sie verachten
die Kolleginnen, die für die Liebe leben und sich
die Toiletten durch eine Prostitution erwerben, die
beiläufig hundertmal ehrenvoller, gesünder und natur-
gemäßer ist als das soziale Bewußtsein von Männern,
die den schäbigsten Revolverjournalisten >Doktor«
titulieren. Die Sittlichkeit ist es, in der jetzt ein
Komödiant einen Pfarrer lehren könnte. Aber darum,
weil man heute vor ihnen die Wäsche nicht mehr
in Sicherheit bringt, sondern ihnen im Gegenteil das
sächsisch-ernestinische Hauskreuz umhängt, sollten
sie nicht üppig werden und in der Wahrung berech-
tigter Interessen es nicht zu weit treiben. Noch gibt
es faule Äpfel, und wir könnten einmal Lust ver-
spüren, sie gegen Leute, die in Delegiertenversamm-
lungen verständlicher sprechen als auf der Bühne,
unter dem Schutze des § 193 hervorzuholen.
Karl Kraus.
Wer war denn dabei? Was ist denn dabei!
0
Von Karl Kraus
Der Geheimrat v. Leyden soll wegen jener
Affäre, in der etlichen Berliner Kapazitäten ein ge-
wisser Übereifer im Streben nach Erweiterung ihrer
Klientel nachgewiesen werden konnte, diszipliniert
30 —
worden sein. In Wien liegen die Verhältnisse anders.
Da die Hebung des Fremdenverkehrs eine Herzens-
sache der Wiener Bevölkerung ist, so würde keine
medizinische Instanz dem Herrn Professor Noorden
einen Vorwurf machen, wenn er der Anziehungskraft,
die schon sein Name ausübt, etwa noch durch Zutreiber
ein wenig nachhelfen wollte. Ich habe nie einen der aus
Warschau eintreffenden Schnellzüge auf dem Perron
des Nordbahnhofs erwartet und darum nie feststellen
können, ob unter den von den Lohndienern aus-
gerufenen Gasthöfen sich auch das Sanatorium des
Herrn Noorden befindet. Ich bin aber davon über-
zeugt, daß es nicht der Fall ist. Denn abgesehen von
der Selbstlosigkeit der Hotelportiers und Fremden-
führer, die auch einem andern Wirtsgeschäftgelegentlich
etwas zukommen lassen, scheint mir die Insertion allein
vollkommen auszureichen, um den Ruf der Wiener
Wissenschaft im Ausland zu verbreiten. Zumal die
auf dem Noordenbahnhof ankommenden Fremden
dürften sich einer Empfehlung der , Neuen Freien
Presse* nicht unzugänglich zeigen, und selbst jene
unter ihnen, die das Grand Hotel und das Hotel
Imperial bereits kennen, werden heute nicht zögern,
dem Cottage-Sanatorium den Vorzug zu geben. Denn
während die Gäste jener anderen hygienischen
Institute bloß in die Fremdenliste des , Fremdenblatts'
kommen, haben die Passagiere, die im Hotel
des Herrn Professors Noorden absteigen, Aussicht,
im redaktionellen Teil der ,Neuen Freien Presse*
genannt zu werden. Was abgesehen von den teuren
Preisen, den Konzerten und der gelegentlichen teil-
nahmsvollen Erkundigung des Herrn Noorden nach
dem Stuhlgang gewiß eine große Annehmlichkeit ist.
Leider wird diese nicht von allen Reisenden gewürdigt,
und während sich zum Beispiel der akademische
Senat und sogar das Gremium der Hoteliers längst
mit einem Etablissement abgefunden haben, das als
den höchsten Komfort der Neuzeit eine weltstädtische
Reklame bietet, haben sich einige Patienten
— 31 —
entschlossen, sich bei mir über die Unverschämt-
heit zu beschweren, mit der man ihre Namen
ohne ihre Erlaubnis in die Zeitung setzte. Es hat
sich nämlich ereignet, daß die Bezeichnung > Sana-
torium« auch ein paar Kranke anlockte, die mit der
Absicht, ihr Leiden vor Vätern, Söhnen, Bräuten,
Freunden oder Feinden zu verbergen, sich in eine
Heilanstalt zurückziehen wollten, um dort ihre
Genesung abzuwarten und dann zu ihrer alten
Lebensweise wieder zurückzukehren. Sie hatten
aber ihre Rechnung, auf deren Höhe sie ja ge-
faßt waren, ohne den Wirt gemacht, der das Cottage-
Sanatorium leitet. Sie wurden entdeckt, die ,Neue
Freie Presse' hatte ihre Namen in der wöchentlichen
Besucherliste veröffentlicht. Ich habe diesen Patienten
den Rat erteilt, künftig ihre Krankheiten auch vor
den Ärzten zu verheimlichen, weil sie nur dann sicher
sein könnten, daß das ärztliche Berufsgeheimnis gewahrt
wird; diesmal aber die gerichtliche Anzeige zu erstat-
ten, weil ich nämlich der Ansicht bin, daß ein Arzt
nicht nur über die Art der Erkrankung seines Klienten,
sondern auch über die Tatsache der Erkrankung
das Maul zu halten hat. Wir in Wien haben es vor
ein paar Monaten erlebt, wie Sanatoriumsleiter,
Samariter und dergleichen Mitarbeiter der liberalen
Presse sich ihrer Diskretion rühmten und die
Fälle andeuteten, an denen sich diese bewährt hatte.
Wir sind also gegen die Zumutungen der ärztlichen
Ethik schon ein wenig abgehärtet. Die Veröffent-
lichung der Patientenliste eines Sanatoriums aber
dürfte wohl selbst das ortsübliche Maß medizinischer
Moral insanity übersteigen. Der Meldezwang in den
Gasthöfen wird manchmal lästig genug empfunden,
und bei aller Einsicht, daß die Polizei eine Kontrolle
der Hochstapler braucht, dürfte man nicht immer von
einer Publikation seines Namens in der Fremdenliste
erbaut sein. Muß aber der Kranke, der sich in eine Mast-
kur zu Herrn Professor Noorden begibt, es
sich gefallen lassen, daß am nächsten Tag die Be-
— 82 —
völkerung einer Großstadt teilnahmsvoll nach seinem
Leidenslager blickt? Die medizinischen Instanzen,
die in Berlin über die Ehre der Wissenschaft zu
wachen haben, beurteilen Ansehen und Alter jener,
die sich an ihr versündigen, nicht als Entschuldigung,
sondern als Vermehrung der Schuld. Hier in Wien,
wo die Welt schon auf dem Krepierstandpunkt
geboren ist und wo man sich vor jeder neuen
Häßlichkeit mit einem >Eh schon alles wurscht< oder
»Was ist denn dabeiU auf die andere Seite legt, um
weiter zu schnarchen, hier wäre die Enthüllung eines
Systems von Patientenschacher kaum einen akademi-
schen Rülpser wert. Was ist denn dabei 1 Und daß
die Alma mater eine Pensionsmutter ist, welche die
Kunden, die sie einlangt, auch noch ausruft, ist uns
keine erhebliche Sensation. Die einzige Regung, die
sie weckte, wäre das Bedauern, daß wir nicht auch
die Namen der Krankheiten in der Zeitung zu lesen
bekommen. Denn die Menschen dieser Stadt sind auf
das Genanntwerden eingerichtet. Nicht die wenigen
von großem Wuchs, die da leben und sterben, ohne
daß die kleine Chronik von ihnen Notiz nimmt. Aber
die vielen, die dabei sind, wenn Herr Bl^riot fliegt,
oder sonst etwas geschieht. Wer war denn dabei?
fragen wir, und alle, alle, ob Ärzte oder Patienten,
werden dann genannt. Die Frau Pinkeies trug ein
taillor-made-Kleid und eine Toque ä la Turque, und
der kleine Advokat mit dem Doppelnamen — für den
Fall, daß der eine durch einen Druckfehler ver-
stümmelt wird — war auch dabei. Immer ist er dabei,
wenns einen Fortschritt der Menschheit zu erringen
gilt, immer, immer, und wenn darob die große Flucht
der Menschheit vor dem Fortschritt anheben wird,
ist er dabei, und alles, was nicht Namen hat, aber
genannt wird. Was ist denn dabei!
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3
JiljP marürlicher
W/m alkalischer
*§AUERBRUNN
"CARL GOLSDORF«^k»k.ujc.HoFlieFeränr
Karlsbad* Budapest V. Wien K 7^. KrondorF.^ Berlin.
Unternehmen für Zeitungsausschnitte
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versendet Zeitungsausschnitte über jedes gewünschte Thema.Man verlange Prospekte
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räum, sondern auf eine bestimmte Anzahl von Nummern 1
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I 1 1 1 1 II ii II I I I 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 m 1 1 1 M
Inhalt der vorigen Nummer 289, 25. Oktober : Luft-
gaukler. Von Karl Kraus. - Aus dem Papierkorb. Von Karl
Kraus. - Der Schatten. Von Otto Stoessl. — Bekannte aus
dem Variete. Von Karl Kraus. — Glossen. Von Karl Kraus.
mnim>t»t>iin>iMi»n>(M »»««««»»»««»«»««
Kraus
utsstr. 3
iNUVCMDCK ItfUU
AI. JrxflK
HERAUSGEBER:
KARL KRAU
INHALT:
Sie gehören zusammen! — Sie gehören nicht
zusammen ! — Der Giftmord, die Moral und
der Postverkehr. — Glossen. — Schrecken der
Unsterblichkeit. Sämtliche Beiträge von Karl
Kraus.
PREIS DER EINZELNEN NUMMER 30 HELLER
ERSCHEINT IN ZWANGLOSER FOLGE
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durch den Verlag gegen Einsendung des Betrages zu beziehen.
Die Fackel
Nr. 291 30. NOVEMBER 1909 XI. JAHR
Sie gehören zusammen!
Von Karl Kraus
Die »Concordia«, der Verein gegen Verarmung
und für Bettelei, hat also richtig dank der sinnigen
Erfindung, sich am gleichen Tag in die Welt zu
setzen, den größeren Teil der Schillerehren ab-
bekommen. Ihr Präsident, jener emeritierte Börsen-
redakteur des Herrn Benedikt, von dem das geflü-
gelte Wort stammt: »Ich lass' mich nicht länger
sekieren, ich geh, ich hab' genug !<, hielt eine Fest-
rede, in der er ausdrücklich dementierte, daß der
Idealismus tot sei, und rief: »Sind denn
die Menschen, denen die Errungenschaften der
Freiheitskämpfer in den Schoß fielen, wirklich alle-
samt dem reinen Eigennutz, der nackten Selbstsucht
Untertan? Ich wage es, die Frage zu verneinen . . .
Ich bestreite entschieden, daß die neue Generation
dem herzlosen Materialismus verfallen sei«. Man
blicke nur um sich. Im Leitartikel und im Feuilleton
zeige sich »neben vollendeter Darstellung stupendes
Wissen, Scharfsinn, sprühender Geist, Liebreiz und
feinster Geschmack. Selbst kleine Tagesnotizen sind
oft literarische Kabinettsstücke, die den Meister der
Sprache, die den Dichter verraten«. Auf diese Eröff-
nung hin konnte sich der Ministerpräsident Freiherr
v. Bienerth, den man unter den Anwesenden be-
merkte, nicht länger zurückhalten. Er rief aber nicht
etwa: »Ich hab' genug!«; wie er denn auch in seiner
amtlichen Tätigkeit noch immer jener Gefühlsregung
ausweicht, die sich in dem Entschluß ausdrücken
— 2 —
ließe: »Ich geh'!«. Im Gegenteil. Er ließ ein Lied
auf die Wiener Presse aus der Kehle dringen, von
dem er in seiner Anspruchslosigkeit gewiß glaubte,
daß es Lohn sei, der reichlich lohnet. Aber er hatte
die Rechnung ohne den Wirt gemacht, der ihm noch
draufzahlte. Wie mag er überrascht gewesen sein,
als er schon am nächsten Tage sich extra be-
lohnt und als genialen Staatsmann in eben jenen
Blättern gefeiert sah, die ihm bis dahin auch nur
die bescheidensten Fähigkeiten abgesprochen hatten.
Wahrlich, er hatte ein Recht, zu sagen, die »Con-
cordia« zähle heute »zu den stolzesten Schöpfungen
des Mutualismus in Österreich«. (Stürmischer Beifall).
Wohl, er hatte ein Recht zu behaupten, »das ganze
öffentliche Leben der Epoche« sei »auf Publizität auf-
gebaut«. Und wahre Publizität werde heute »fast nur
noch durch die Presse vermittelt, lebe nur in der
Presse und durch die Presse«. Zweifellos. Denn was
nützt es dem Herrn v. Bienerth, daß das Gerücht
von seinen staatsmännischen Fähigkeiten im Wege
des Tratsches christlichsozialer Hausmeisterinnen
verbreitet wird? Wenns in der Judengasse nicht
kolportiert wird, also nicht schwarz auf weiß
zu lesen ist, kann eine österreichische Regie-
rung mit den schönsten Talenten Pleite machen.
Darum muß ein österreichischer Minister von Zeit
zu Zeit die Gelegenheit wahrnehmen, der »Neuen
Freien Presse* zu sagen, daß er ohne sie nicht
regieren könne, ja, wenns sein muß, daß er ohne
sie nicht frühstücken könne. Und von Zeit zu Zeit
muß ein österreichischer Minister sich genau so ge-
bärden, als ob er der bekannte Schabbes-Goi wäre, jener
Funktionär, den die liberalen Redaktionen sich halten,
damit er an hohen Festtagen die den Redakteuren
unerlaubten Handlungen für sie verrichte, oder solche,
die sie selbst nur mit geringerer Autorität verrichten
könnten. Wenn es nun die Unschuld des Hilsner oder
— 3 —
die Denkmalswürdigkeit Heines gilt, genügt in der
Regel Herr Pötzl als Eideshelfer oder sonst ein boden-
ständiger Jochanaan, den der Redaktionsherodes in
der Zisterne schmachten läßt, bis er eines Tages — doch
nicht den König von Cappadocien meint. Die ,Neue
Freie Presse' verschreibt sich für solche Zwecke
einen arischen Hofrat und fünf Ärzte, die eidlich be-
gutachten. Jetzt aber haben Siemes alle zusammen bis
zum Ministerpräsidenten gebracht, der bei einem so
außerordentlichen Anlaß, wie dem des fünfzigsten Ge-
burtstages des Journalistenvereins, der berufene
Mann ist, der Welt zu sagen, daß der Reinertrag der
kulturellen Entwicklung der » Concor dia« zufällt. Daß
die deutschen Dichter und alle anderen abhängigen
Kaufleute, Musikanten und Komödianten mit ihrem
Glückwunsch aufwarten, ist gar nichts. Solche Heer-
schau bietet auch die Präsenzliste eines gewöhnlichen
Concordiaballes oder der Inhalt seiner Damenspende.
Daß ein Gerhart Hauptmann, bekanntlich »Deutsch-
lands erster Dichter«, die Concordia die »große
Kulturträgerin« nennt, ist auch noch nicht viel, und
nicht einmal, daß er sich ihren sprachlichen An-
regungen dankbar erweist, indem er »das Wachsen
und Blühen der Concordia aufrichtig beglückwünscht«.
Auch ist es noch immer kein Ereignis, daß Herr
Bernhard Shaw, der schon bald den Trebitsch wird
ins Deutsche übersetzen können, die feinsinnige Be-
merkung macht, er beglückwünsche die Concordia
»nicht, weil sie sechzig Jahre alt ist, sondern weil
sie ihre Jugend mit jeder neuen Journalistengeneration
erneuert« ; nicht ohne die Pointe hinzuzufügen, je
jünger sie sei, desto besser verstehe sie seine Stücke.
(Der Schäker!) Und nicht einmal die Carmen Sylva
macht mit ihrem Sprüchlein das Kraut fett, wiewohl
ihr so wirtschaftliche Abwechslung in ihrem Dichter-
leben immerhin gut anschlüge. Ja, selbst der Archivar
Albert Josef Weltner, der wie der gute Krondorfer
nie auf unserra Geburtstagstische fehlt, dürfte mit
seinen Versen das Selbstbewußtsein der »Concordia«
noch nicht wesentlich gehoben haben. Nichts, was sie
nicht schon hundertmal gehabt hätte. Aber ein öster-
reichischer Ministerpräsident, christlichsozialer Sym-
pathien dringend verdächtig, der unter sie tritt und
ihr faustdicke Liebenswürdigkeiten sagt — das konnte
sie brauchen. Er suchte nach Genossen der Schmach.
Er langte sichtlich nach Teilnehmern der Situation,
deren peinliche Neuheit er fühlte. Er redete sich auf
die Epoche aus, er berief sich auf die Entwicklung,
er appellierte an das Schicksal, er holte Tod und
Teufel herbei, um nicht so ganz nackt unter den
Reportern zu stehen. Da verfiel er auf die
Wissenschaft. Hat sich die nicht längst schon mit
der Presse kompromittiert? Jawohl, »selbst die Wis-
senschaft«, sagte Herr v. Bienerth, »erkennt die Presse
heute als den ebenbürtigen jüngeren Bruder an, der
ihre Geistesschätze in Scheidemünze umprägt und
in Verkehr bringt«, und wies in sinniger Weise darauf
hin, daß die feierliche Versammlung von Geschichten-
trägern sich im Pestsaal der Akademie der Wissen-
schaften breitmache. Versteht sich, auch der große
Bruder ist auf Reklame angewiesen, und wie stünde
der Herr Professor Noorden mit seiner Wissenschaft
da, wenn ihm die ,Neue Freie Presse' nicht die
Patientenliste abdruckte und wenn man nicht heute
auch die Geistesschätze nach,einem bestimmten Tarif in
Verkehr zu bringen vermöchte. Wobei freilich
bemerkt werden muß, daß die Annahme des Minister-
präsidenten, daß dergleichen gegen Scheidemünze zu
erreichen sei, noch immer eine gewisse Geringschätzung
der Presse bedeutet. Davon können sich die offiziel-
len Herren eben doch nicht ganz freimachen. Und
wenn sie die Presse selbst so dringend brauchen wie
der Herr v. Bienerth. Er bekannte seine Notdurft mit
wohltuender Aufrichtigkeit, ja, er nahm sich kein
— 5 —
Blatt vor den Mund, als er allen Blättern
zum Munde sprach. Er begann damit, von
den »großen Schwierigkeiten« zu erzählen, die
man ihm jetzt in der österreichischen Politik mache,
und drückte die Überzeugung aus, daß das »erlösende
Wort« bald gesprochen würde. »Von dieser Zuversicht
erfüllt, bin ich gerne der freundlichen Einladung
gefolgt, in Ihrer Mitte zu erscheinen.« Am nächsten
Tag schon stand das erlösende Wort in den Zeitungen.
Es war ein Erfolg, als ob Herr v. Bienerth die An-
trittsvisite des Debütanten in den Redaktionen mit einem
einzigen Bückling nachgeholt hätte. Der Wunsch,
daß sämtliche Bureaux, in denen die Chefredakteure
sitzen, nur einen hintern Aufgang hätten, schien
erfüllt zu sein. Der Ministerpräsident sollte erfahren,
daß er nicht zu viel gesagt habe, als er der Wiener
Presse außer Geschmack und Anmut auch die »Be-
weglichkeit« nachrühmte, die in ihren Spalten lebe,
und hervorhob, es sei »das Wunderbare an ihr, daß
sie selbst die Wunden heilt, die sie schlägt«. Sie tat
es. Aber sie konnte nicht anders. Der Herr hatte ihr
Komplimente angetan, auf die auch die anständigste
Person hereingefallen wäre. Er hatte sogar alle Ver-
dächtigungen ihrer Unschuld abgewehrt, um sie
dranzukriegen. Und er hatte beteuert, daß gerade
die Schönheitsfehler, die man ihr immer vorwerfe,
einen erotischen Reiz auf ihn ausüben. Was ent-
schuldigte er nicht alles! »Selbst der Plural der
Majestät, den der Journalist anwendet«, rief er, »ist
nicht der Ausdruck von Stolz oder Überhebung,
sondern nur ein Zeichen der Hingebung und des
Entsagens, denn in diesem ,Wir' opfert der einzelne
sein ,Ich' auf und läßt seine Persönlichkeit, seine
Individualität ganz im Wesen des Blattes aufgehen,
dem er dient.« Gewiß ist diese Bordelltreue ein sym-
pathischer Zug; aber ich möchte den Wert der Persönlich-
keiten und Individualitäten nicht wägen, die das Zeug
— 6 —
dazu haben, sich der Lebensaufgabe einer geistigen
Madame Riehl unterzuordnen. Liegt Vergewaltigung
der Menschenwürde vor, geht es wirklich um den
Verzicht auf Ruhm und Nachruhm, wie Herr
v. Bienerth meint, dann hinaus mit einer Regierung,
die anstatt die Gitterstäbe des publizistischen Lebens
zu brechen und eine strenge Untersuchung an-
zuordnen, solchem System öffentlich das Wort
redet 1 Natürlich haben wiederum, wie damals, ein
paar Beamte den Vorteil gehabt, indem sie gratis
zur Liebe gekommen sind. Pfui Teufeil > Generatio-
nen stiller Arbeiter und Diener am Wortec, sagte
dieser Ministerpräsident, »sind dahingegangen, und
die Presse ist immer höher gewachsen«. Natürlich,
die Bordellmütter sind umso reicher geworden, je
widerspruchsloser ihre Opfer sich ausnützen ließen.
So und nur so fasse ich die stille Dienerschaft am
Wort auf. Denn daß Herr v. Bienerth meinen Apho-
rismus kennt, der das Wesen des Sprachkünstlers in
die nämliche Formel faßt, will ich nicht glauben. Er
wird doch nicht auch noch meine Gedanken, durch
die ich die Distanz des Künstlers vom Journa-
listen abstecke, zur Verherrlichung des Journalismus
verwenden wollen? Wehe ihm! Daß die Presse durch
den »immer großartiger werdenden Nachrichtendienst
ein unlösliches Band um Völker und Staaten schlingt«,
mag er ihr nachsagen. Wenn den Bau der Welt
sonst nichts zusammenhält, mir kanns recht sein.
Einstweilen scheint aber der Nachrichtendienst nicht
die Völker untereinander, sondern bloß die Regierungen
und die Redaktionen zu verbinden. Gehören wir doch
zusammen 1 sagte Herr v. Bienerth, als er beim Fest
der Presse erschien; und damit hat er wahrlich eine
Wahrheit ausgesprochen, die jenes erlösende Wort
ist, auf das die Schwierigkeiten der Politik, aber
auch die Beschwerden der Kultur gewartet haben 1
Sie gehören nicht zusammen!
Die folgende Gegenüberstellung enthält wie durch ein
Wunder alle Sätze, die von den beiden Staatsmännern über das-
selbe Thema gesprochen worden sind :
v. Bienerth: v. Bistnarck:
Was die Zeitungen über mich
schreiben, das ist Staub, den ich
mit der Bürste abwische, das ist
mir gleichgiltig. Ich lege nur Wert
auf die Geschichte, was die später
über mich sprechen wird. (1890)
In ihrem gegenwärtigen Zu-
stand gewährt die Tagespresse
weder für die Regierung noch für
die politische Bildung der Be-
völkerung einen Nutzen, vielmehr
das Gegenteil. (1873)
Wenn jemand in einem anonym
geschriebenen Brief verleumdet, so
hält man das im allgemeinen für
eine ehrlose Beschäftigung; wenn
jemand aber in gedruckten Blättern
verleumdet, ebenso anonym, so ist
es »Freiheit der Presse«, für die
einzutreten ist gegen jedermann,
der sich gegen diese Verleumdung
wehren will. (1885)
Ich war der Meinung, daß die
Regierung nicht fehlen dürfe, wenn
eine angesehene Vereinigung hei-
mischer Publizisten ein so bedeut-
sames Jubiläum begeht.
Gehören wir doch zusammen,
ergänzen wir doch einander, und
diese Gemeinsamkeit, die uns an
Werktagen verbindet, darf auch an
Festtagen nicht versagen.
Der ernste und ehrliche Journa-
list von heute strebt nicht, über
sich selbst hinauszuwachsen, er
tritt im Gegenteile genügsam zu-
rück, bescheiden fügt und ordnet
er sich ein . . . Ein reiches ur-
sprüngliches Lebenswerk taucht
auf diese Art nicht selten in Namen-
losigkeit unter, für die es keinen
zeitlichen und keinen Nachruhm
gibt. So mancher schafft da sein
ganzes Leben, spricht täglich zu
den Lesern seines Blattes, aber
sein Name wird vielleicht dann
zum erstenmal genannt, wenn seine
Augen sich geschlossen haben.
So sind Generationen stiller Ar-
beiter und Diener am Worte dahin-
gegangen, und die Presse ist immer
höher gewachsen. Aus dem gei-
stigen und materiellen Leben unserer
Zeit läßt sich die Zeitung gar nicht
mehr wegdenken. Man kann sagen,
das ganze öffentliche Leben der
Epoche ist auf Publizität aufgebaut.
Wir haben uns gegen die Autori-
tät des Gedruckten erst allmählich
abstumpfen können, und das ist
namentlich seit 1848 gelungen;
bis dahin hatte für einen großen
Teil der Bevölkerung alles Ge-
druckte seine besondere Bedeutung;
jeder, der auf dem Lande nur ein
Amtsblatt las, hielt das Gedruckte
— 8 —
Wahre Publizität aber wird heute
fast nur noch durch die Presse
vermittelt, lebt nur in der Presse
und durch die Presse.
Sie ist es auch, die durch ihren
immer großartiger werdenden Nach-
richtendienst ein unlösliches Band
um Völker und Staaten schlingt
und diese einander näher bringt.
Das ist eben die große, völker-
vereinigende Sendung der Journa-
listik, eine Sendung, der sich gleich
bedeutsam ihre Aufgabe als das
rege kritische Gewissen der Zeit
zugesellt.
Gewiß ist auch die Presse wie
alles Menschenwerk unvollkommen,
aber das ist das Wunderbare an
ihr, daß sie selbst die Wunden
heilt, die sie schlägt.
für wahr, ungeachtet des üblichen
Sprichworts: er lügt wie gedruckt;
es wird vielleicht auch dahin
kommen, zu sagen: er lügt wie
telegraphiert.
(1869)
Denn gegen den Mißbrauch, der
mit diesem Beförderungsmittel ge-
trieben wird, sind bisher die
wenigsten Leute noch auf der Hut;
sie denken nicht an den Reichtum
von Geldmitteln, der es jemandem
möglich macht, zum Telegraphieren
aller in drei bis vier Sprachen über-
setzten Tendenzlügen in verschie-
denen Weltstädten Lektoren zu be-
zahlen . . . (1869)
Es wird in unseren Zeitungen
zu viel auf Sensationelles gesehen,
als ob alle Tage so etwas passieren
müßte ... Da setzt er (der Korrespon-
dent) sich dann hin und berät sich
mit seiner Phantasie oder er macht
sich an auswärtige Gesandschaften,
die ihn natürlich gern mit Nach-
richten versehen, welche ihren
Zwecken entsprechen. (1875)
. . . Verdrehungen, zum großen
Teil in der ohne Zweifel patrioti-
schen Absicht, das Ausland auf die
Abwege der Regierung aufmerksam
zu machen . . . (1863)
Sie (die Presse) hat die drei letzten
Kriege veranlaßt. Die dänische zwang
den König und die Regierung zur
Einverleibung Schleswigs, und die
österreichische und die süddeutsche
hetzte gegen uns, die französische
hat zur Verlängerung des Feld-
zuges beigetragen. (1877)
Jedes Land ist auf die Dauer
doch für die Fenster, die seine
Presse einschlägt, irgend einmal
verantwortlich. (1888)
- 9 -
Große Anforderungen werden
heute an den Journalisten gestellt,
dafür aber wird ihm die Genug-
tuung zuteil, daß sein Werk
immer mehr im allgemeinen *n
Geltung und Bedeutung gewinnt.
Die Gedanken, die Einfälle, die
Pläne, die seines Geistes eigen
sind, werden in dem Augenblicke,
da sie in Druckerschwärze erscheinen,
zum Gemeingute . . .
Indem jede Meinung zum Worte
gelangt, ist ein freier Wettkampf
der Ideen möglich.
Selbst die Wissenschaft erkennt
sie als den ebenbürtigen jüngeren
Bruder an . . . Die Zeitung wirkt
als die tagtäglich sich fortsetzende
Schule der Erwachsenen.
Ich fürchte sehr, Sie werden
mir den Vorwurf machen, daß ich
viel zu viel von der Presse im all-
gemeinen und viel zu wenig von
unserer heimischen Presse spreche.
Ich gestehe offen, daß ich diesen
Fehler nicht ohne Absicht begehe,
denn, wenn ich von unserer heimi-
schen Journalistik sprechen soll,
so empfinde ich einige Verlegen-
heit . . .
Ich würde mich aber einer Unter-
lassung schuldig machen, wollte
ich nicht der höchst erfolgreichen
charitativen Tätigkeit unserer Presse
gedenken . . .
Die >Concordia< zählt heute zu
den stolzesten Schöpfungen des
Mutualismus in Österreich.
Denn manches, das in den
Zeitungen steht, ist denn doch
wahr, wenn auch nicht alles.
(1869)
Druckerschwärze auf Papier,
(1888)
Es gibt kaum eine absichtliche
Entstellung, kaum eine Verdrehung,
die in dieser Sache von der Presse
nicht geübt worden wäre . . .
(1863)
Die Zeitungen sind gegenwärtig
kein Bildungs-, sondern ein Ver-
bildungsmittel, das keine Begünsti-
gung verdient. (1873)
Wenn jemand wie ich weiß, wie
die Freiheit der Presse von prin-
zipienlosen gebildeten Männern,
die den Wert der Wahrheit kennen
oder doch kennen sollten, benützt
werden kann, wie unendlich ge-
fährlicher muß es dann sein, einen
solchen Spielraum einem unerzo-
genen und nicht unterrichteten
Volke zu gewähren. (1887)
Es dürfte in der ganzen Monar-
chie von der höchsten Wichtig-
keit sein, unsere Mitbürger so schleu-
nig als möglich vor dieser moralis-
chen Brunnenvergiftung durch die
Presse zu schützen. (1850)
Mir aber ist es klar, daß wir
heruntergekommen sind; das, was
das Schwert uns Deutschen gewon-
nen hat, wird durch die Presse
wieder verdorben. (1881)
- 10 —
Ich kenne keinen anderen Beruf,
der an seine wahrhaftigen Be-
kenner einen solchen Anspruch
von Opfermut und Entsagungskraft
stellt, wie der journalistische. Der
Beruf der Publizisten gleicht dem
Baume, der nicht für sich blüht
und grünt, dessen Frucht und
Schatten immer andere genießen.
An der Wiener Presse besonders
wird allerorten die große tech-
nische Vollendung anerkannt, der
Geschmack, die Anmut und Be-
weglichkeit, die in ihren Spalten
leben, der Eifer, womit sie bestrebt
ist, die Koryphäen des geistigen
Lebens heranzuziehen und in den
Dienst der Volksaufklärung zu
stellen.
Es gereicht mir zur Genugtuung,
Ihnen zu den großen Errungen-
schaften die wärmsten Glückwünsche
und die aufrichtige Anerkennung der
Regierung aussprechen zu dürfen.
Sie befindet sich zum großen Teil
in den Händen von Juden und
unzufriedenen Leuten, die ihren Le-
bensberuf verfehlt haben. (1862)
Die Presse ist hier in Wien
schlimmer, als ich mir vorgestellt
hatte, und in der Tat noch übler
und von böserer Wirkung als die
preußische. (1864)
Sie begreifen, daß ich jetzt von
der Presse nur noch mit ironischer
Geringschätzung rede. (1890)
Der Giftmord, die Moral und der Postverkehr
(Situationsbericht vom 26. November)
Von Karl Kraus
Die Bevölkerung ist in größter Erregung. Sie bestürmt die
Presse, die gleichfalls in größter Erregung ist, mit Anfragen und
die Polizei, die nicht nur in größter Erregung ist, sondern auch
>fieberhaft arbeitet«, mit Vorschlägen. Alles ist auf den Beinen,
alles nimmt den Mund voll, alles Interesse ist jener Rubrik des
öffentlichen Lebens zugewendet, wo die kriminellen Bilderrätsel
stehen: »Ein Offizier macht einen Brief auf. Wo ist der Mörder?«
5
JUU/M' f *{m*U<a/
— 11 —
Die bekannte Unterstützung, die die Polizei vom Publikum erfährt,
wenn es sich darum handelt, einen zu fangen, hat diesmal ihren
besondern Sporn. Es geht jeden an. Aber nicht, weil jeder in
Gefahr schwebt, einen Giftbrief zu bekommen - er braucht ja
die Pille nicht zu schlucken — , sondern weil in so aufgeregten
Zeiten jeder in Gefahr schwebt, als Giftmörder verhaftet zu
werden. Schließlich hat jeder Mensch ein Merkmal, das die
Diktyloskopen, Schriftgelehrten und Pharisäer in den Spuren des
Täiers gefunden haben. Zur Zeit, da ein stadtbekannter Mörder
einen Havelock trug, ging es allen an den Kragen und alle
wurden erwischt, die das Kainszeichen dieser Kleidung trugen. Jetzt
hat der Polizei jemand gesagt, daß der Mensch irrsinnig sein
müsse, der solche Dinge tut, wie sie jener Giftmörder getan hat.
Die Fdge davon ist, daß sie in die Irrenanstalten eindringt, um
den Mö-der zu suchen, und die Insassen, die bisher nur von
Psychiatern beobachtet waren, nun auch der Obhut der Detektivs
unterstellt Weil bei einem Mörder Irrsinnsverdacht vorliegt, lenkt
sie den Mordverdacht auf die Irrsinnigen. Es könnte immerhin
sein, daß ein Internierter Urlaub bekommen hat, um die Giftbriefe
aufzugeben. Aber auch jener Teil der österreichischen Bevölkerung,
der auf freiem Fuß ist, muß sich stündlich von dem Arm der
Gerechtigkeit gestreift fühlen. Es herrscht die bange Spannung
einer Schulstunde. Und dabei ist es nicht so sehr die Frage, wer
drankommen wird, die alle Gemüter bewegt, als die Erwartung,
die sich so oft einer Klasse bemächtigt, wenn einer etwas ange-
stellt hat, der sich nicht melden will, und die Untersuchung auf
einem toten Punkt steht: Einer muß es gewesen sein, und wenn
er sich nicht freiwillig meldet, bleibt die ganze Bevölkerung hier!
Wenn wir aber ein gutes Gewissen haben und die Sache
ohne Erregung betrachten, so können wir sagen, daß sich uns
in dieser Giftmordsensation vor allem drei Faktoren aufdrängen:
Herr Stukart, die Sittlichkeit und die findige Post.
Die Sittlichkeit ist eigentlich wie immer die Hauptsache.
Allgemeine Entrüstung herrscht über den Elenden, der einen
Giftmord nicht einfach beging, sondern >in das Schellenkleid
der Zote und in die Form eines derben erotischen Spasses<
kleidete. Man kanns gar nicht aussprechen, welchem Zwek die
— 12 —
Pille zugedacht war, wenn sie nicht eben eine tötliche Wirkung
gehabt hätte. Die andeutende Moral findet zwar auch den Gift-
mord als solchen anstößig, aber näher geht ihr der >aphrodisische
Zweck«, dem der Täter die Pillensendung empfahl und den
man zwar im Annoncenteil, aber nicht im Leitartikel erläutern
darf. Nicht der vergiftete Pfeil, aber daß Eros der Absender
war, beunruhigt die Gemüter. Die Aussicht auf Erhöhung der Potent,
die ein Blick in den Annoncenteil ohne poetische Umstände
eröffnet, wird im Leitartikel passend umschrieben. >Er wüllte
in der Vorstellung herum, wie gerade Lebensgier die UngUck-
lichen mitten aus der Hoffnung auf berauschenden Genuß in das
Verderben hineinreißen wird. Er sah in der Phantasie, wie diese
armen Menschen, von der Lockung gereizt, das Unbekanrte zu
versuchen, noch von Zärtlichkeiten träumend sich auf dem Boden
in Schmerzen winden u. s. w.« Der Offizier, dem's geschah,
muß aber gegen den Verdacht, als ob er das Mittel nötig gehabt
hätte, in Schutz genommen werden. Offenbar nahm er es nicht zur
Hebung der Manneskraft, sondern um zu sterben. »Er hat sich
vielleicht um den Inhalt der Gebrauchsanweisung gar nicht ge-
kümmert oder nur achtlos, wie das jedem geschehen kann, darüber
hinweggelesen und, ohne zu denken und ohne sich des Zwecks
bewußt zu sein, die verhängnisvolle Pille, die von Oblaten
verhüllt war, geschluckt.« Also gewiß nur, weil er sie für tötlich
hielt und ohnedies sterben wollte. Die Pille war von Oblaten verhüllt,
er konnte daher nicht ahnen, daß sie ein gemeines Aphrodisiakum
sein könnte. Hätte er das geahnt, er hätte sie nicht geschluckt, son-
dern mit Entrüstung zurückgewiesen. Wofür hielt er sie? Im ersten
Moment hatten wir angenommen, er habe sie geschluckt, weil er
sich ihres tötlichen Zwecks nicht bewußt war. Warum hätte er
sie aber schlucken sollen, wenn er sich auch ihres aphrodisischen
Zwecks nicht bewußt war? Nein, es wird nicht gelingen, ihn zu
entschuldigen. Er hat im vollen Bewußtsein, daß die Pille als
ein Mittel gegen Männerschwäche offeriert wurde, gehandelt,
und er hat sie vielleicht nicht nur trotz, sondern wegen dieses
Wissens geschluckt. Die Moral müßte ihn verurteilen. Aber sie
sucht nach Argumenten für seine Entlastung. »Diese Auffassung«
(daß er an ein Aphrodisiakum auch nicht einmal gedacht habe),
- 13 --
sagt sie, »hat die größte Wahrscheinlichkeit. Der junge Mann
hatte eine Braut und schrieb gerade an sie, als das Unglück ge-
schah. Er war sicher in diesem Augenblicke weit davon entfernt,
sich auf Spässe einzulassen, die seinem ganzen Wesen und der
Würde, die ihm nachgerühmt werden, widersprachen.« Spässe?
Die Hebung der Manneskraft ein Spaß ? In Widerspruch zur
Manneswürde? Die Tatsache, daß er eine Braut hatte und an sie
gerade schrieb, als ihm das Mittel ins Haus kam, ein Beweis
gegen die Möglichkeit, daß er sich einer aphrodisischen Lockung
zugänglich zeigte? Aber schon ist ein weiterer Beweis zur Stelle.
»Auch der Diener berichtet, daß sein Herr den Abend bei der
Lampe zu Hause zubringen wollte, und dieses Symptom beweist,
daß der arme Hauptmann kaum ahnte, was in der Gebrauchs-
anweisung enthalten war, als er mechanisch eine der auf seinem
Schreibtische vor ihm liegenden Pillen in den Mund nahm.« Es
ist in der Natur eines Symptoms gelegen, daß es nicht ganz
verläßlich ist. Daß einer bei der Lampe sitzt, ist bloß ein An-
zeichen dafür, daß er eine Gebrauchsanweisung nicht liest, immer-
hin aber ein Beweis, daß er sie kaum liest. Sicher aber ist, daß
ein ernster Mensch eher eine Pille, die ihm der Briefträger bringt,
mechanisch in den Mund nehmen als den Brief lesen wird,
der ihr mitgegeben war. Jedenfalls ist die Schärfe der Unter-
suchung bemerkenswert, die gegen den verstorbenen Haupt-
mann geführt wird. Den hat man. Und die Symptome, Spuren,
Beweise für seine sittliche Lebensauffassung sind wichtiger als die
Anhaltspunkte, die man etwa auf der Suche nach dem Mörder
findet. Ein Giftmord eröffnet den Verdacht, daß die Moral ver-
letzt worden sei, es besteht die Aussicht, daß man endlich einmal
hinter so etwas kommt, und Presse, Polizei, der gesamte General-
stab der Moral sind am Werke, den Tatbestand zu verschleiern
und den Schuldigen herauszuhauen.
Die einzige Post, jene Institution, die den Ruf der Findigkeit
vor der Polizei voraus hat, scheint sich durchaus für die Überführung
jenes Unbekannten zu interessieren, der an den Hauptmann nicht nur
eine unsittliche Zumutung gestellt, sondern ihn auch ermordet
hat. Man soll unserer Post nicht nachsagen, daß sie sich damit
begnügt, Giftbriefe an die Adressaten richtig zu befördern. Ihre
__ 14 —
Findigkeit bewährt sich auch in der Ermittlung des Absenders.
Wie sollte sie aber diesen, da er sich doch vorsichtshalber nicht
auf dem Kuvert unterschreibt, anders herauskriegen, als durch eine
Eigenschaft, die sie vor allem auszeichnet, nämlich durch ein vor-
zügliches Physiognomiengedächtnis? Unsere Post ist imstande, sich
an jeden Aufgeber, der an ihren Schalter tritt, zu erinnern. In
den Hauptstädten anderer Staaten pflegt diese Eigenschaft der
expedierenden Beamten in der Fülle der Gesichte, die ein riesiger
Parteienverkehr mit sich bringt, zu verkümmern. Bei uns bleibt ein
Vorfall, wie die Übergabe eines Briefes am Schalter, noch lange
im Gedächtnis des Beamten haften, und wenn die friedliche Ruhe
eines Postamts nicht gerade durch das Fangerlspiel der Tele-
graphistinnen — ich hatte neulich meine helle Freude an solcher
Übung jugendlichen Frohsinns — unterbrochen wird, so bedeutet
gewiß ein Mann, der acht Pakete bringt, eine so starke Abwechslung,
daß seine Erscheinung noch lange den Gesprächsstoff in den
beteiligten Kreisen bildet. Man höre nur, was die Funktionäre
jenes berühmten Postamts erzählten, als die Polizei darauf bestand,
daß sie ihre Beobachtungen aus den letzten Wochen zu
Protokoll gäben:
Der Amtsdiener Born, der beim Auflegetisch stand, sah den
Fremden kommen und sagte: >Was bringen S' denn da für einen
Haufen?« Der Fremde sagte: »Es sind ja nur acht Stück«, legte sie
auf den leeren Tisch hin und entfernte sich. Die Manipulantin Fräulein
Posselt sowohl wie der Amtsdiener Born haben also den Mann gesehen,
und als der Unbekannte fort war, entspann sich folgender Dialog: Fräulein
Posselt: »Was muß denn das für ein Sportsmann sein mit seinen ge-
scheitelten Haaren und seinen lichten Gamaschen?« Born: »Ausschauen tut
er wie ein Engländer.« Fräulein Posselt: »Was sind denn das für Briefe?«
Born: »An lauter Offiziere, 's is überall was drin.« Fräulein Posselt:
»Wahrscheinlich eine Überraschung zu Leopoldi.« Dann bekam Fräulein
Posselt die Briefe in die Hand und sah, daß einige vollständige Haus-
adressen hatten, andere nur die Bezeichnung »Wien«. Der Giftbrief an
den unglücklichen Hauptmann Mader aber war, wie sie durch die zu-
fällige Erinnerung an ein nebensächliches Detail beim Kartieren be-
stimmt weiß, in die Hainburgerstraße, also in die Wohnung adressiert.
Wenn es gelingt, durch solche Unterstützung des Mörders hab-
haft zu werden, so wird es ein Verdienst unserer Post sein, um das sie
etwa die Berliner Post beneiden könnte. Je geringer der Parteien-
verkehr, desto größer die Aussicht, eine Partei zu entlarven, die
— 15 —
Böses im Schilde führt. Daß aber die Absendung von Oiflbriefen
durch eine Aufhebung der ganzen Institution wesentlich erschwert
würde, unterliegt keinem Zweifel. Postämter, in denen Nestroysche
Unterhaltungen geführt werden, könnte man zwar aus Pietät be-
stehen lassen; sie sind ganz herzig und bewähren sich schließlich
in ihrer Art. Aber es ist eine alte Wahrheit, daß die Eisenbahn-
katastrophen von den Eisenbahnen kommen, und ich kann es mir
darum nicht versagen, auch aus dieser Sphäre einen Nestroyschen
Dialog zu zitieren, nämlich einen echten, in dem das Neuartige dieses
Verkehrsmittels nicht anders zum Ausdruck kommt, als die posta-
lische Sensation der acht Pakete in jenem Gespräch:
Ignaz : Na, du wirst Augen machen, Vetter, wannst auf die
Eisenbahn kommst. — Peter: Ich furcht' mich a bisserl vor die
Dampfkessel und vor die Lokomotiver. — Frau Zaschelhuberin aus
Neustadt: Fürchten vor der Eisenbahn? — Peter: Ja bei mir is es 's
erste Mal, Sie scheinen zwar eine resolute Frau zu sein, aber 's erste
Mal werd'n Sie Ihnen auch g'forchten haben. — Frau Zaschelhuberin:
Fahren Sie mit nach Neustadt? — Peter: Bitt' untertänig, nur nach
Brunn. — Frau Zaschelhuberin: O das is nix, da is kein Tunnel aufm
ganzen Weg .... Wenn Sie einmal den schauerlichen Tunnel bei
Gumpoldskirchen werden passiert haben ... — Ignaz: Das is was
Außerordentliches.
So richtig nun die Polizei handelt, wenn sie die Aussagen
der Postbeamten ernst nimmt, denen die Abwicklung des Parteien-
verkehres starke Erlebnisse bringt, so richtig es eben ist, sich auf die
Findigkeit der Post in der Eruierung des Absenders zu verlassen,
so verfehlt ist es, ihre Einrichtungen selbst zur Grundlage einer
Untersuchung zu machen. Denn wenn ein Giftmord verübt wird,
kommen nicht nur erotische Mißbräuche, sondern etwas noch viel
Schlimmeres au den Tag: die Schlamperei. Eine einzige
unter den vielen Zuschriften aus dem Publikum, mit denen
die Affäre uns gepeinigt hat, hat einen tieferen österreichischen
Sinn. Der Einsender macht nämlich darauf aufmerksam, daß bei den
polizeilichen Forschungen immer angenommen wurde, daß die
Giftbnefe zu einer bestimmten Stunde aus den Briefsammeikästen
ausgehoben worden seien. »Ich habe jetzt schon mindestens fünf-
bis sechsmal festgestellt, daß der mir zunächst liegende Sammel-
kasten in der Titlgasse statt um 8 erst um V2IO, statt um 10 erst
nach V412, statt um 12 erst nach >/< oder V22 Uhr und so weiter
291
— 16 —
immer etwa um 1 oder IV2 Stunden nach der vorgeschriebenen
Zeit ausgehoben wurde. Kann dergleichen nicht auch in anderen
Bezirken vorkommen?« Auf die Frage, wann ein Zug eintrifft,
wird einem in Österreich bekanntlich die Antwort: »So um a elfe
kommt er gern.« Wenn nun ein Unglück geschah und die Behörde
sich bei der Untersuchung auf den Fahrplan verließ, so kann es
leicht passieren, daß ihre ganze Mühe umsonst war. Solche Über-
raschungen brächten freilich zwar einen Sheilock Holmes um den
Ruhm, aber nicht Herrn Stukart. Er arbeitet fieberhaft. Und wenn ihn
das Qedächtnis der Postmanipulantin im Stich läßt, so wendet er
sich an eine Qraphologin. Diese stellt fest, daß die Schrift in den
Begleitbriefen der Giftsendungen die »eines jungen, gesunden,
untersetzten Mannes von blühendem Kolorit und sympathischem
Aussehen sei<. Stimmt mit den Beobachtungen der Postmanipu-
lantin. Nur daß der Mörder untersetzt war, hatte sie nicht bemerkt.
Aber das sieht man eben nicht bei einem oberflächlichen Blick auf
die Statur, sondern erst beim genauen Studium der Schrift. »Er
scheint sich in bescheidenen pekuniären Verhältnissen zu bewegen,
ist sparsam im Hause, nach außen jedoch bemüht, zu repräsen-
tieren.« Stimmt, ein Offizier »Sein Auftreten ist bescheiden, aber
sicher und selbstbewußt.« Ein Offizier! »Bemerkenswert ist seine
Vorliebe für Häuslichkeit und eingezogenes Leben.« Auch das
läßt darauf schließen, daß das Fräulein Poppee die Ansicht teilt,
der Mörder sei ein Offizier. »Sein Beruf bringt es mit sich, daß
er ein vorzüglicher Zeichner ist. Der Beruf ist technischen Wissen-
schaften sehr naheliegend.« Stimmt! Er schreibt »abreiszen« mit
»sz«: die Qraphologin schließt daraus, daß er ein Ungar sei.
Auf die nächstliegende Vermutung, daß er lichte Gamaschen
trage, ist sie nicht verfallen. Trotzdem braucht man es nicht zu
bereuen, daß man sie befragt hat. In Österreich herrscht das
gesunde Prinzip, daß bei der Fülle von Reklame, die durch ein
Ereignis ins Verdienen gebracht wird, alle Berufe beteiligt werden.
Wenn Zyankali verschickt wurde, werden die Apotheker interviewt,
um »Kola-Dultz« anzupreisen, die Professoren kommen zum
Handkuß, die Ärzte geben Ratschläge, die Advokaten machen
Vorschläge, das Publikum stellt Beobachtungen an, die Polizei
arbeitet fieberhaft: warum sollte gerade das Fräulein Poppee mit
- 17
leeren Händen ausgehen? Ein Bankdirektor stirbt an einer Tapeten-
vergiftung und sein Tod wird zur Tapeziererreklame. Der Grundsatz
alles österreichischen Denkens: >Lass'n verdienen!« Die Öffentlich-
keit dieses Landes ist in fortwährender Bewegung. Es ist das
lebhafte und malerische Treiben, das sich auf einem alten Stück
Gorgonzola abspielt.
•
In letzter Stunde: Es ist der Polizei trotz energischer Un-
tersuchung un<f der Aufwendung eines beispiellosen Scharfsinns
gelungen, des Täters habhaft zu werden. — Ein präterierter General-
stäbler: kein anderer konnte es sein; der Fall war nicht schwierig.
Aber wenn er selbst nicht einmal heiklig gewesen wäre: ehe man sich
entschließt, einen unter siebzig zu finden, sucht man ihn unter sieben
Millionen. Die Polizei macht es sich nicht gern so leicht, wie es ihr
die Mörder machen. Sie ist dankbar, aber sie streckt den Arm erst
aus, nachdem sie eine Woche lang fieberhaft gestikuliert hat. Dann
liegt alles vor Bewunderung auf dem Bauch, und das Antlitz des Herrn
Stukart glänzt wie die Sonne, die es an den Tag bringt.
Glossen
Von Karl Kraus
Der Angeklagte sagte, die Statthalterei habe ihm das Zeug-
nis ausgestellt, seine Fabrik sei eine Musterfabrik. »Wie wenig das
Urteil begründet war« — sagt der Angeklagte — »haben die Kata-
strophe und deren schauerlicher Ausgang bewiesen.« Und nun
erzählt er:
Die Gründe der Katastrophe sind: Ich wollte das Materialmagazin
auf dem Boden anlegen — allgemeines Schütteln des Kopfes. Ich sagte:
»Ich baue einen Schacht, der mit dem übrigen Dachboden nicht in Ver-
bindung steht.« — »Nein, das ist ausgeschlossen«, war die Antwort.
Ich : »Wenn Sie mir das schon nicht gestatten, erlauben Sie mir den
Bau eines Magazins längs der Feuermauer.« Daraul keine Antwort.
»Gehen wir in die Keller hinunter!« Hier waren die Herren ganz ent-
zückt. »Da, der Keller ist das geeignetste Magazin.« Und gerade durch
die Einlagerung im Keller war die Möglichkeit der Katastrophe eigentlich
gegeben. Das war es, was der Fabrik den Charakter einer Menschenfalle
gab, und ich saß in meiner Fabrik auf einem Vulkan. Diese behörd-
lichen Anordnungen haben die Katastrophe verschuldet ... Ich mache
die Behörde hier von diesem Platze verantwortlich . . .
Präs. : Sie haben also selbst erkannt, daß beim Bau etwas nicht
18
in Ordnung ist. Wenn Sie gescheiter waren, als die Behörden,
dann war es, ich muß schon so sagen, gewissenlos, daß Sie
doch den Betrieb eröffneten. — Angekl. (achselzuckend): Es ist leichter,
nachher zu urteilen. Ich kann doch nicht beurteilen, ob der Bau richtig
ist, wenn die Sachverständigen dies sagen. — Präs. : Daß Ihnen erlaubt
wurde, das Fabriksgebäude mitten in der Stadt anzulegen, war doch
nur ein Entgegenkommen dem Gewerbe und der Industrie gegen-
über. Man hat Ihnen gestattet, was eigentlich nicht hätte
gestattet werden dürfen. — Angekl.: Für mich wäre es vorteil-
hafter gewesen, wenn man mir kurzweg erklärt hätte, der Bau genüge
nicht, die Fabrik entspreche baulich nicht ihren Zwecken. — Präs. : Sie
brauchen, da man Ihnen gegenüber nachsichtig gewesen ist, nicht so
sehr auf die Behörde hinzuhauen.
Es ist gewissenlos, in Österreich gescheiter als die Behörden
zu sein, und es ist undankbar, auf sie hinzuhauen, wenn durch
ihr Entgegenkommen eine Katastrophe herbeigeführt wurde. Ver-
waltung und Gericht: Man kann sich in Österreich alles richten
und es gibt noch Richter in Österreich . . . Wieder ein gutes
Stück Tradition, das ich da im Fluge der Zeitungslektüre er-
hascht habe.
* *
Womit sich die Herren Richter die Zeit vertreiben.
(Ein Abenteuer im »Moulin Rouge«.) Eine der Pikanterie
nicht entbehrende Betrugsanzeige beschäftigte gestern den Straf richter
des Bezirksgerichtes Josefstadt Bezirksrichter Dr. Bilek. Die derzeit
im Etablissement »Moulin Rouge« gastierende Tänzerin Lola F.,
eine hübsche, üppige Blondine, soll nach einer von dem in
Triest wohnhaften Kaufmann Rachumin erstatteten Strafanzeige ihn
um den Betrag von siebzehn Kronen unter der listigen Vor-
spiegelung betrogen haben, ihm ihre Gunst zu schenken. In dem
Bestreben, »Wien bei Nacht« kennen zu lernen, wurde er von einem
Geschäftsfreunde in das Vergnügungsetablissement »Moulin Rouge« ge-
führt, woselbst es ihm bald sehr gut gefiel. Es entspann sich zwischen
der Tänzerin und dem Triester Kaufmann eine sehr angeregte Unter-
haltung, und die Tänzerin nahm aus der Geldbörse des Kaufmannes mit
dessen Zustimmung einen Betrag von 17 Kronen, wogegen (gegen
dem daß) sie ihm den Schlüssel zu ihrer Wohnung übergab. Bald
verschwand jedoch in einem unbewachten Moment die Tänzerin auf
Nimmerwiedersehen, und der Fremde aus Triest hatte das Nachsehen.
In seinem Zorn erstattete er gegen die Tänzerin eine Betrugsanzeige,
die auch zur Erhebung der Anklage führte. Zu der Verhandlung war
die Angeklagte erschienen und bestritt entschieden, den Anzeiger
betrogen zu haben, denn sie habe ihm nichts versprochen. Die siebzehn
19
Kronen habe sie von ihm dafür erhalten, daß sie ihm an seinem Tische
Gesellschaft leistete. Der Richter beschloß, zur vollständigen Aufklärung
der eigenartigen Angelegenheit den Anzeiger in Triest im
Requisitionswege vernehmen zu lassen, und vertagte zu
diesem Zwecke die Verhandlung.
Später wurde die Tänzerin freigesprochen, und Herr
Rachumin hatte schon wieder das Nachsehen. Aber es ging nicht
an, ihm dieses Vergnügen sofort zu verschaffen, und deshalb
mußten zuerst Akten beschmiert werden. Die Herren behaupten nicht
mit Unrecht, daß sie überbürdet seien. Denn sie müssen auch noch
»Kopf oder Adler« spielen. Zum Exempel:
Zwei 15jährige Schusterbuben Josef B. und Franz M. waren vor
dem Bezirksgericht Leopoldstadt wegen Hasardspiels angeklagt, weil
sie mit einem dritten Kollegen auf einer Wiese im Prater »Kopf oder
Adler < gespielt hatten. Der eine hatte vier, der andere sechs Heller bei
sich. Der Richter sprach beide Jungen frei, da nicht ein Hasardspiel
angenommen werden könne, das geeignet sei, das wirtschaftliche
Verderben der Spieler herbeizuführen.
Wie lange wird noch Kopf oder Doppeladler gespielt
werden? Es sollte ein verbotenes Spiel sein, weil der Einsatz
groß und die Chance gering ist. Und der Kopf gewinnt nie.
* *
*
Herr Moriz Benedikt beginnt seinen Nachruf für Herrn
v. Taussig mit den folgenden Sätzen:
Theodor v. Taussig ist heute gestorben. Aus dem Mittelstande
hervorgegangen, schloß er die Augen in den Prachträumen eines Bank-
palastes und lebte den größten Teil des Jahres in einer Villa, die, auf
der Höhe des Küniglberges gelegen, ein Merkmal der Land-
schaft von Hietzing geworden ist. Die Natur war ihm sehr wohl-
gesinnt und hat ihn zu solchen Erfolgen gut ausgestattet. Er hatte
einen schlanken Körper, der über die mittlere Größe hinausgewachsen
war und dessen eleganter Schwung selbst an der Vorstufe zum höheren
Alter nicht durch Ansatz schwerer Leiblichkeit verdorben wurde.
Anders, begreif ich wohl, als sonst in Menschen köpfen
malt sich in diesem Kopf die Welt.
Wenn er aber von ungarischer Politik spricht, beginnt er:
Auf seidenem Bette ruht Franz Kossuth. Ein seidener Baldachin
ist über seinem Lager gespannt, seidene Vorhänge fließen an den Seiten
herunter, und all die seidene Pracht, die beim Tapezier zu bestellen ist,
umgibt ihn. Weich sind die Federn, worauf sein krankes Bein ausge-
streckt ist, weichlich die Luft im Zimmer und von allerlei Wohlgerüchen
20 —
durchzogen — Vor diesem Bette sind in den letzten Monaten die ungarischen
Staatsmänner oft gesessen. Vielleicht sind manche darunter, die, erzogen
in der Waldesluft der von den Ahnen vererbten Güter, die Freuden, die
ein Parfümerieladen verschaffen kann, nicht mögen. . . . Alle haben
jedoch diese Gefühle unterdrückt und sind zu dem kranken Handels-
minister gekommen. . . . Die ungarische Politik begegnete sich mit den
höfischen Ansichten in der gemeinschaftlichen Überzeugung, daß der
von Gliederreißen schwer geplagte Kossuth einen geradezu entscheidenden
Gefechtswert habe.
Sonderbarer Schwärmer!
Es ist ein pietätvoller Usus bei der ,Neuen Freien Presse', daß
die Hinauswürfe, die dem Herausgeber doch manchmal widerfahren,
getreulich in den Nachrufen quittiert werden, in denen die hinaus-
werfende Persönlichkeit beschrieben wird, sobald sich hinter ihr
die Tür des Lebens schließt. Darauf mußte auch Herr v. Taussig
vorbereitet sein, und er kann sich heute gewiß nicht dagegen
wehren, daß der Leitartikel mit Poesie anfängt und mit Perfidie
aufhört. Die Stachelkränze mit Immortellen (zwischendurch mit
Stilblüten bespickt), das sind nun einmal die Kondolenzen eines
volkswirtschaftlichen Journalisten, der gern am Schmerz teilnimmt,
wo er an den Freuden nicht beteiligt war. Es ist etwas
Eigenes um die Wahrheiten am frischen Qrab, die aus dem
innern Drang der Heuchelei kommen. Man soll ihnen nicht
wehren. Was man aber den Hinterbliebenen ersparen könnte, sind
jene Aufrichtigkeiten, die einem Nachrufer wider seine bessere
Absicht entfahren. Es ist ein Malheur, daß man einem Rabbi-
ner nicht genau sagt, was er zu sprechen hat. So konnte es
geschehen, daß am Grabe des Herrn v. Taussig Herr Oüdemann
eine Charakteristik des Mannes gab, die er offenbar für die Quint-
essenz alles dessen hielt, was in solchen Fällen zum höchsten
Preise — ich bitte das nicht mißzuverstehen — des Toten gesagt
werden kann. Wenn sie aber in einer antisemitischen Zeitung
gestanden hätte, hätte man sie für die schärfste Kritik des sozialen
Begriffes Taussig gehalten. Der Oberrabbiner sagte nämlich: »Die
Qlaubensangelegenheiten betrieb er mit einem Ernst, als ob es
— 21 —
Oeschäfte wären, während er die Geschäfte mit einer Gewissen-
haftigkeit verwaltete, als ob es sich um Glaubensangelegenheiten
handeln würde.«
Man kann schließlich auch die Inhaltsangabe von Richard II.
telegraphieren.
Berlin, 13. November. Josef Kainz setzte als Richard II. sein
Gastspiel im Königlichen Schauspielhause fort. Diese Tragödie, in der
Shakespeare so eindringlich auf die Hinfälligkeit aller irdischen Größe
hinweist, indem er zeigt, daß ein König, wenn man ihn seiner Macht
entkleidet, ein unglücklicher Mensch ist . . .
Der Berliner Telegraphenbeamte wird schön gestaunt haben.
Er machte Herrn Paul Goldmann darauf aufmerksam, daß im
Satz von dem seiner Macht entkleideten König die Pointe fehle,
nämlich die Fortsetzung: »während ein Moderner, selbst wenn
er einen Bettler sich in einen König verwandeln ließe, ihn
damit noch nicht zum glücklichen Menschen machen würde«.
Aber Paul Goldmann wehrte ab. Die ,Neue Freie Presse'
habe bloß gewünscht, vor allen anderen Blättern den Inhalt von
Richard II. zu erfahren.
Was sich alles in Wien begibt, wenn man einmal eine Woche
nicht da ist. >Drei aus der Steiermark« haben sich zusammen-
getan, um den Wienern ihre Dichtungen vorzulesen. Es ist zu
hoffen, daß der berühmte Buchtitel des Herrn Bartsch nach dem
Muster der zwölf kleinen Negerlein eine noch weitere Reduzierung
erfährt. Jetzt waren's zwar nur mehr drei, aber sie sind Heimat-
künstler. Und von denen kommen immer noch zwölf aus der Steiermark
auf ein Dutzend. Der eine las eine >Schnurre«. Das brauchen wir
nicht. Der andere war »fidel«. Wir sind es nicht. Und der dritte,
ach der dritte, war der Sohn des »steirischen Klassikers«, des
Rosegger, aus dessen Augen bekanntlich der Schalk blitzt. Auch
an dem Sohne wurde diese Erscheinung wahrgenommen. Das war
also Graz. Aber auch Prag stellt seine Heimatkünstler, und darum
blieb uns eine Vorlesung des Herrn Hugo Salus nicht erspart. Der
ist wieder einer von einer ganz andern Rass'. Fern von jeder Schnurrig-
— 22
keit und mehr jenem Schmerz hingegeben, der darum nicht kurz-
weiliger wirkt, weil er schon tausendjährig ist. >Man kennt die
sympathische Art dieses Poeten.« Ich hatte gewettet, daß in den
Referaten das Wort »nachdenklich« vorkommen werde. Natürlich
hätte ich diese Referate auch schreiben können, wiewohl ich fern
von der Vorlesung weilte. Etwa so: >Es war die anmutigste
Sprechstunde eines Frauenarztes« (Herr Salus ist nämlich ein
solcher und las natürlich in einem Frauenverein). >Die lyrische
Seele ordinierte. Und manches duftige Frauengeheimnis fand in
dieser müden Stimmung lyrischer Boudoirs seine Lösung. Salus
fühlt den Puls der Unverstandenheit, fängt ihn gleichsam in zarten
Rhythmen ein. Ein bisserl preziös, wie eben auch dieses Prag
schon, so zwischen der weicheren Wiener Anmut und deutscher
Ernsthaftigkeit seine preziöse Note hat. Aus der nachdenklichen
Stimmung dieser Versreihen, wie ,Kornfeld' und , Abendreigen'
(ich will nur rasch bemerken, daß diese Namen keine Prager
Firmatafel bedeuten), führen Sehnsuchten in dem Adagio des
Entsagens zu klareren Qedankenketten, die sich zum lyrischen
Qeschmeide schlingen, wenn Salus in dem Gedicht ,Die alte
Uhr' uns den Ablauf des Daseins gibt. Salus trifft die lyrische
Wirkung, die das empfänglichere Nervensystem der Frau
auch von seinem Äußeren empfängt: nur die Krawatte, die nicht
die schlamperte Nuance der älteren Lyrik liebt, bringt auf den
ersten Blick eine gewisse Enttäuschung. Aber diese schulmeisterliche
Schlichtheit ist vielleicht eine hübsche Pointe. Hugo Salus ist der
Lyriker der Frauenseele, die auch in Prag auf den Erlöser wartet.«
Nun, bin ich nicht ein Ästhet? Sollen's mir nachmachen! . . .
Aber was sehe ich: in derselben Spalte, in der ein Arzt als Lyriker
gewürdigt wird, die Darstellung eines fürchterlichen Spitalsjammers!
Man höre nur. »Mit einem Liedervortrage des Herrn Paul Schmedes,
der für den erkrankten Dr. Lulek einsprang, endete der musikalische
Teil der Feier. Da auch Fräulein Ritscher aus Berlin abgesagt
hatte, mußte Hofschauspieler Löwe zur Freude des Publikums so
lange Gedichte von Schiller vorlesen, bis endlich Fräulein
Hannemann vom Deutschen Volkstheater eintraf und die Vor-
lesung Schillerscher Poesie fortsetzte.« Es war also keine Eisen
bahnkatastrophe mit den unter Trümmern Wimmernden, Ver-
23
wundeten und Rettern, sondern nur eine Schillerfeier, bei der alles
rennet, rettet, flüchtet. Sie war von dem bekannten Idealisten
Großmann in der Freien Volksbühne veranstaltet worden. Um
einem dringenden Bedürfnis abzuhelfen. In einem andern Saale
ging's gleichfalls stürmisch zu. Dort »bestritt« HerrGregori »beide
Programme allein«, »mischte sogar Novitäten des Vortragstisches
hinein« und »riß« zu wiederholtenmalen »hin«. Wohin? . . . Aber
es geht viel vor, wenn man einmal eine Woche nicht da is*
Schrecken der Unsterblichkeit
Von Karl Kraus
Denn er war unser. Nämlich der Herren
Minor, Kalbeck, Bettelheim, Blumenthal, Holzbock,
Lothar u. s. w. Sie werden hervorkriechen, ich
ahnte es, sie werden hervorkriechen. Wenn ein
Denkmal renoviert wird, kommen unfehlbar die
Mauerasseln und die Tausendfüßer ans Licht und
sagen: Denn er war unser 1 Es sind die Leichenwürmer
der Unsterblichkeit. Und was Schillers Andenken mit
Fug verkleinert, es ist die leichte Möglichkeit solcher
Patronanz. Sein Stoffliches war so sehr das Stoffliche
aller Welt, daß sich die schwärmerische Impotenz
ihm blutsverwandt glaubt, daß sich die Lebensblind-
heit, die nur den Blick »gen Himmele richtet, die
Taubheit, die nur auf Sphärenmusik eingestellt ist,
und alles Nichts, das sich durch ideales Streben
präsentabel macht, an seinem Ehrentag geschmei-
chelt fühlt. Was immer in Deutschland in seines
Nichts durchbohrendem Gefühle krepieren müßte,
— 24
wenn ein Dichter gefeiert wird, lebt auf, wenn dieser
Dichter gefeiert wird. So daß es ungeheuer schwer
hält, durch die Schatzkammern der Banalität, die
diesem Dichter vor allem andern den Zuspruch der
Nachwelt verschafft haben, zu seinem wahren Kunst-
gehalt vorzudringen. Denn hinter ihm, vor ihm,
neben ihm liegt, was uns alle bändigt, das Gemeine.
Ja, einen Aufwand übermenschlicher Gerechtigkeit
verlangt die Pflicht, dahinter zu kommen, daß
Schiller besser war als sein Ruf. Wo sind die
Nerven, die, stündlich von den Schmarotzern des
Wahren, Guten und Schönen beleidigt, sich zur Ruhe
solcher Untersuchung bequemten? Im Kampf gegen
sein Gefolge, und möge dabei auch Schiller selbst
verletzt werden, wirkt man für sein Andenken .am
sichersten. Wenn an ihm ein Unsterbliches ist, so
wird es erst erstehen, wenn die Unsterblichkeit
erledigt ist, die ihm zweifellos eine glückliche Mi-
schung von Minderwertigkeiten errungen hat. Ehe
wir von dem Künstler reden wollen, muß unbedingt
auch nur die entfernteste Möglichkeit beseitigt sein,
daß vor einer Schillerbüste ein Männergesangsverein
Aufstellung nimmt. Daß mir sein zweihundertster
Geburtstag vor solchen Zwischenfällen bewahrt bleibe !
Und daß bis dahin überhaupt alle kompromittierenden
Beziehungen zwischen einem Genius und den ge-
stärkten Vorhemden aufgehört haben — das walte
Gottl
Bis zu diesem Termin werden die Herren, die
sich heute noch als Kostgänger des Schillerschen
Ruhmes lästig machen, ja reichlich Gelegenheit haben,
selbst die Unsterblichkeit zu erwerben. Besser, es
gelingt ihnen durch die Kraft ihrer Reklame und
durch die Ausdauer, mit der sie hinter Särgen ge-
laufen sind, als daß der Typus noch weiter das
Gesichtsfeld der Mitlebenden verunziere oder gar
bei späteren Dichterehrungen anwesend sei. Denn es
25
ist dringend zu wünschen, daß die Leute, die, sobald
von Kunst die Rede ist, das Wahre, Gute und Schöne
zu berufen beginnen, die mit den Idealen auf dem
besten Fuß stehen und bei der Anrufung Schillers
das Himmelsgewölbe eindrücken, endlich zur Ruhe
kommen. Was will das Pack? Wenn Schiller bloß
die Verse gedichtet hätte: »Und wirft ihn unter den
Hufschlag seiner Pferde — Das ist das Los des
Schönen auf der Erde! <, so wäre ja die Aufregung noch
begreiflich. Aber so? Warum rückt denn diese ganze
freiwillige Feuerwehrbegeisterung aus, wenn Schiller
Geburtstag hat? Warum begeht man dieses himmel-
schreiende Unrecht an Wildenbruch, der doch all
das in noch viel handlicherer Form bietet, was ein
deutsches Herz zu Schiller zieht, und der doch auch
in der Fürstengruft begraben liegt? Was bestimmt
die Turnvereine, uns den Ausblick auf Schiller zu
verstellen? Muß denn ein Dichter erst hundertfünf-
zig Jahre alt sein, um der allgemeinen Anerkennung
jener teilhaftig zu werden, die bloß der Gedanke
berauscht, daß es so etwas gibt, wie das Teilhaftig-
werden der allgemeinen Anerkennung? Lebt nicht
ein Lauff? Steht er nicht auch schon mit einem Fuß
in der Fürstengruft? Und wäre dieser armselige
Reichtum an Idealen nicht schließlich sogar durch
Herrn Paul Wilhelm der Jugend zu bieten, wenn sich
ein Kultusministerium entschlösse, einen neuen Gym-
nasialklassiker zu kreieren? Diese Jugend, die mit
ein bißchen Schall fürs Leben versorgt ist, wird ja erst
bei einer Revision ihrer Begeisterungen lebens-
überdrüssig !
Da muß man aber doch sagen, daß der einzige
ehrliche Kulturfaktor im deutschen Sprachbereich der
Burgtheaterdirektor Hofrat Schienther ist. In stür-
mischer Zeit, da ihn die Demissionsgerüchte nur so
umschwirren, wohnt er am Schillertag, unter der
Devise: die Lebenden fordern ihre Rechte, der
26
Berliner Premiere eines Werkes der Herren Kadel-
burg und Presber bei. Pur die Wochentage muß
auch gesorgt sein. Dagegen wohnten der Schillerfeier
im Königlichen Schauspielhause, wie der Beiwohner
Holzbock meldet, einige » Kollegen des großen
Dramatikers Schillere bei, nämlich die Herren
Lindau, Blumenthal, Philippi, Lubliner, Zobeltitz, Max
Bernstein u. s. w. Nichts stelle ich mir aufreibender
vor als die Repräsentationspfltchten, die so eine
Berliner Saison an die deutschen Dichter stellt. Eine
Zeitungsnotiz vom selben Tage und im Stil der
Berichte über die Schillerfeier spricht wieder von
dem »Ereignis im Berliner Gesellschaftsleben c,
welches das Diner bedeutet habe, >mit dem
der Kommerzienrat Jacob seine Wiedergenesung
von schwerer Krankheit feierte. Die Literatur
war vertreten durch Lindau, Blumenthal, Fulda,
Zobeltitzc Ach, eine einfache Verhebung, wie sie
im Zeitungsbetrieb so häufig vorkommt, hat die
Verwechslung verschuldet. Natürlich sollten die
Herren Lindau, Blumenthal, Fulda, Zobeltitz bei der
Schiller feier als schlichte Vertreter der Literatur erschei-
nen und bei der Jacobfeier als die Kollegen des großen
Kommerzienrats. So weit sind die beiden Welten,
in denen unsere Zeitgenossen leben: Schiller und
der Kommerz, nicht von einander entfernt, daß der
Irrtum nicht begreiflich wäre. Finden wir sie doch
geradezu vereint in der Tätigkeit des Herrn Felix
Holländer, der als Dramaturg des Herrn Rein-
hardt nicht nur mit den großen Dramatikern,
sondern auch mit den Kommerzienräten Fühlung
hat, und schon deshalb berufen war, den Kunden
des Passage- Kaufhauses mit einem Vortrag über
Schiller aufzuwarten. Die entscheidende Anregung
zu diesem Entschlüsse mag freilich das Gerücht
gegeben haben, daß Schiller sich irgendwo selbst als
Kollegen des großen Kommerzienrats deklariert hat,
— 27 —
nämlich in dem bekannten Vers: Euch, ihr Götter,
gehört der Kofmich.
»Wie sagt doch Schiller . . .« Alle jene, die so
anfangen, wenn sie zur Quelle ihre Banalität führen
wollen, müssen erst vom Schauplatz des deutschen
Geisteslebens weggeputzt werden, ehe wir uns über-
haupt wieder in ein Verhältnis zu Schiller setzen
lassen. Was sie an ihm anbetungswürdig finden,
sind Ideen, die als Phrasen gestorben sind, wenn sie
nicht als Phrasen geboren wurden. Wenn seines
Geistes Blut in ihnen lebte, so gerann es und taugte
nicht zum Lebenssaft nachkommender Geister. Von
einer Gebärde der Verzückung, die wir als Erbe
bewahren, würde unsere Kultur auf die Dauer
ein klägliches Dasein führen. Was die Schillerfeierer
der Jugend einimpfen wollen, kann in Wahrheit
nicht das sein, was wir ihm zu danken haben.
Schlimm stünde es um Deutschland, wenn wir mit
diesem Schutt einer zu den Sternen emporgereckten
Voraussetzungslosigkeit, wenn wir mit den Trümmern
dieser baufälligen Wolkenkratzer der Empfindung durch
die Jahrhunderte wirtschaften wollten. Wenn nur erst
Schiller als Ofenschmuck des deutschen Heims ent-
fernt ist, kann er noch als Revolutionär in das
deutsche Heim zurückkehren und die züchtige Haus-
frau, die drinnen waltet, zum Erröten bringen, ja
selbst Laura am Klavier an die Tage erinnern, da
er noch die Brüste des Weibes > Halbkugeln einer
bessern Weite genannt hat. Damals nämlich, als noch in
keinem Haushalt der Zitrone saftiger Kern zu
populär-philosophischen Vergleichen gepreßt wurde;
da noch nicht des Zuokers lindernder Saft die herbe
Kraft des Dichters zähmte, noch nicht des Wassers
sprudelnder Schwall seinem Temperament sich ver-
mischt hatte, und überhaupt der Punsch des Lebens
ganz anders zubereitet wurde. 0, damals lohte noch
ein Moralhohn und tobte so laut, daß er heute selbst
— 28 —
die Peiertagsglocke übertönen könnte, daß er die
ministeriellen Redner verstummen, die Säkularfresser
sich erbrechen und alle jene sich bekreuzigen ließe,
die im überkommenen Glauben ihr >denn er war
unsere beten. Was heute in Deutschland an Schiller
glaubt, an ihn »voll und ganz« glaubt, sind die
Leeren und Halben. Die den Gipfel der Poesie
darin erblicken, daß sich alles reimt, und vor allem
Leben auf Streben. Denen der Portschritt eine
Wandeldekoration ist, vor der sie staunend stehen
bleiben. Alle Maulaffen der Zivilisation und alle
Dunkelmänner der Freiheit. Alles Ungeziefer des
Ruhms: Germanist, Schöngeist und Reporter; Toten-
gräber, Tausendfüßer und Holzbock. Alle, die sich
ihrer Persönlichkeit erst bewußt werden, wenn sie die
Menschheit ans Herz drücken, und vor dem Sturz
ins Chaos nur bewahrt bleiben, wenn sie einen
Verein gründen. Pastoren, Sozialdemokraten, Schla-
raffen, Mitglieder des Vereins »Flamme«, Mitglieder
des Vereins »Glocke«, überhaupt Mitglieder. Nicht
Männer, sondern Obmänner. Alle, die da sagen, daß
für das Volk das Beste gerade gut genug sei, oder
alle, die da sagen, daß uns die Kunst erheben soll,
und überhaupt alle, die da sagen, was alle sagen. Sie
sind es, die nur eine Frage frei haben an das
Schicksal, nämlich die: »Wie sagt doch Schiller?«
Hätte er sie geahnt, hätte er sie heraufkommen sehen,
wie sie die Kultur umwimmeln, wie sie mit ihren Platt-
köpfen an seinen Himmel stoßen und mit ihren
Plattfüßen seine Erde zerstampfen, so daß kein
Entrinnen ist vor der Allgewalt ihrer Liebe — er hätte
sich die Unsterblichkeit genommen!
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda 8c Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3
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Inhalt der vorigen Nummer 290, 11. November 1909:
Zum hundertfünl Schillers und zum fünfzigsten
der >C: ■. Von Otto Weininge r. — Balzac. Von Otto
- Aphorismen. Von Karl Kraus. — Meine Bücher.
ossen. Von Karl Kraus. — Berechtigte Interessen. Von
Rudolf Blümner, Herwarth Waiden und Karl Kraus. -
Wer war denn dabei? Was ist denn dabei? Von Karl Kraus.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur Kar! Kraus
Druck von Jaboda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsttr. 3
Nr. 292 17. DEZEMBER 1909 XL JAHF
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KARL KRAU
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Sämtliche Beiträge von Karl Kraus
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Die Fackel
NR. 292 17. DEZEMBER 1909 XI. JAHR
Cyankali
Von Karl Kraus
Dreißig Millionen Zeitungsleser — oder wieviel
nach der letzten Volkszählung herauskommen —
sind vergiftet, die Analphabeten haben es im Wege
mündlicher Überlieferung von den Abonnenten er-
fahren, und der Täter ist noch immer nicht festgestellt.
Wohl hat man dem Volkswillen, der zu jeder Mord-
tat auch einen Mörder braucht, den Gefallen getan
und mit dem Oberleutnant Hofrichter einstweilen
den vakanten Posten besetzt. Aber >die Bevölkerung<,
die man sich trotz vielfachen nationalen und kon-
fessionellen Meinungsverschiedenheiten als eine Ein-
heit vorstellen muß, mit der man zu rechnen hat,
schüttelt den Kopf. Sie war acht Tage lang in
höchster Erregung, die dadurch noch erhöht wurde,
daß ihr »die Behörde« — vorgestellt durch die Einheit
des Herrn Stukart — durch die Zeitungen versichern
ließ, daß sie fieberhaft arbeite. Dann entschloß man
sich, zur Erholung von den ausgestandenen Strapazen
nach Linz zu reisen und den Oberleutnant Hofrichter
zu verhaften. Ist es ein Wunder, daß jetzt auch die
Bevölkerung das tat, was in solchen Fällen, wenn
ein Mensch gefangen wird, immer geschieht: daß sie
nämlich »aufatmete« ? Wenn aber die Bevölkerung
aufatmet, so wird die Luft schlechter. Dieses Zu-
standes, in dem die Spannung eines Kolportageromans
— 2 —
dem elegischen Bedauern weicht, daß die Gerech-
tigkeit nicht das Lynchen erlaubt hat, hatten wir
uns nicht allzulange zu freuen, und es stellte sich
heraus, daß die Verhaftung des Oberleutnants Hof-
richter dem Befinden der Bevölkerung nichts genützt
hatte. Im Gegenteil. Die Temperatur war wieder
gestiegen und sie wurde jetzt dadurch erhöhl, daß
nicht mehr die Polizei fieberhaft arbeitete, son-
dern hinter den Mauern der militärischen Autorität
der Prozeß seinen schleichenden Fortgang nahm. Daß
keine Bulletins mehr ausgegeben werden, trägt bei die-
ser Krankheit zur Verschlimmerung des Zustandes
bei. Gut informierte Zeitungen können höchstens
mit der Meldung aufwarten, daß sich der Bevöl-
kerung Unruhe »bemächtigt« habe. Wo die Krankheit
steckt, wer Arzt ist, wer Patient, weiß man nicht.
Man fühlt nur, daß es geraten ist, Bierbänke zu
meiden und Zeitungen nicht in die Hand zu neh-
men, um vor Ansteckung sicher zu sein. Die Bevöl-
kerung, die ich persönlich mir in Österreich nicht als
Einheit, sondern als ein Vereinskomitee vorstelle, beste-
hend aus : dem Lohnfuhrwerker Anderle, dem Devo-
tionalienhändler Chramosta, dem Rauchfangkehrer
Maloja, dem Gemischtwarenverschleißer Bösbauer,
dem Realitätenbesitzer Dalmata, dem Bürger HrnzMrä,
dem Abonnenten des Deutschen Volksblattes Sigurd
Waclawicek und dem alten Abonnenten der Neuen
Freien Presse Siegfried Gollerstepper — die Bevöl-
kerung also findet, daß die Kautelen für eine geordnete
Rechtsprechung in der Militärjudikatur nicht gege-
ben seien. Hieß es früher »Aufhalten!«, so heißt es
jetzt »Auslassen!«, beides ist österreichisch, aber die
Servierkellner der österreichischen Sensationen, die
durch ein Gedränge hindurchkommen wollen, rufen
in jedem Falle: »Sauce (sprich Ssosss) bitte!« Kau-
telen sind das, worauf sich hierzulande »fehlen«
reimt. Weil nämlich zu den unveräußerlichen freiheit-
— 3 —
liehen Gütern der Menschheit die Verteidigung durch
den jungen temperamentvollen Dr. Goller (den Sohn
jenes alten Abonnenten der Neuen Freien Presse)
gehört. Da nun das Barreau von der Sensation
nichts abschöpfen kann, da die Aussicht, daß die
Bevölkerung um ein Plaidoyer kommt, unverrückbar
feststeht und auf das heftigste Klopfen an der Tür
eines Militärgefängnisses die Frage: »Nix zu ver-
teidigen ?c ohne Antwort bliebe, so meldet sich
wenigstens an jedem Tage ein anderer Hofrichter-
advokat zum Wort, in dessen Kanzlei ein Zeuge er-
schienen ist, der den Offizier da und dort gesehen oder
nicht gesehen hat. Hätte der Zeuge Wesentliches
zu sagen, so dürfte der Advokat, der das Glück
hat, nicht die Redaktionen vor dem Militärgericht
verständigen; aber es bleibt zweifelhaft, ob die
wertvollste Angabe ihn zu solcher Zeugenvertretung
vermöchte, wenn auch sie ein Geheimnis der Militär-
judikatur bleiben müßte. Solange die Polizei die
Sache in Händen hatte, war sie sich der Ver-
pflichtung bewußt, von dem amerikanischen Ver-
mögen an Reklame, das ein solcher Fall ins Ver-
dienen bringt, an alle Faktoren abzugeben, und
keine Graphologin ging unbeschenkt von ihrer Schwelle.
Jetzt ist es, als ob ein Vanderbilt, der eben noch
sein Geld auf die Straße geworfen hat, das Fenster
zugeschlagen und Schmecks! gesagt hätte — Alles
steht mit offenen Händen da und schreit nach Öffentlich-
keit des Verfahrens. Die Nachrichtenschnorrer rennen
mit dem Kopf gegen eine stumme Wand. Wenn der
Bosniak, der vor der Zelle steht, verriete, wie oft
er Hofrichter sich schneuzen gehört hat — was
immer noch eine subjektiv gefärbte Darstellung sein
könnte — , er wäre der publizistische Held des Tages.
Als ob man nicht selbst diese Dinge erfinden könnte 1
Als ob es nicht umständlicher wäre, sie zu erfahren
als zu schreiben. Man begreift die Gewissenhaftig-
— 4
Keit wirklich nicht, die auf Authentisches geht. Man
begreift nicht, warum sich das , Extrablatt' Zwang
antut und nicht endlich mit dem Tagebuch Hof-
richters herausrückt. >Hofrichter als Mietpartei«, Hof-
richter als Stammgast, Hofrichter als Billardspieler:
es geht ja bei einigem guten Willen. Und dankens-
wert sind die bildlichen Darstellungen. Die Apo-
theke, in der Hofrichter die Chininpulver machen
ließ; in der Tür rechts der Provisor Schmetter er: ja,
ja, so muß sie und so muß er aussehen! Die Apotheke,
in der Hofrichter die Oblaten kapseln kaufte; in der
Tür links der Provisor Katzwendl: so haben wir
uns ihft vorgestellt. Die Papierhandlung, in der die
Schachteln gekauft wurden, und daneben — zum
Unterschied — die Papierhandlung, in der die Kuverts
gekauft wurden. Aber dannl »Der Postamtsdiener, der
die Giftbriefe aushob« : nun, man trauts ihm zu. Der
Blick hat etwas Starres, auf ein Ziel Gerichtetes, als
ob er mit einem Ruck einen Postkasten entleeren
könnte, in dem Giftbriefe sind. Den hätte man also
auch. Wie man das Opfer des Giftmords hat. Ferner
haben wir noch den Regierungsrat Stukart. Daß wir
aber auch den Oberleutnant Hofrichter haben, das
bedeutet vielleicht keinen ganz so guten Fang und
es ist jenes Faktura, auf das sich gerade die heftigsten
Zweifel der Bevölkerung konzentrieren.
Wo alle Indizien stimmen, ist im Strafprozeß
noch immer Raum für einen Irrtum. Das ist keine
neue Erkenntnis. Je kleiner der Verdachtskreis ist,
in dem die Indizien spielen, desto geringer ist
die Möglichkeit eines Irrtums. Wenn auf der
Ringstraße ein Mord geschah — trotzdem kein Wach-
mann in der Nähe war — und der Mörder von
Passanten gesehen und »agnosziert« wurde, so wäre
die absolute Identität seines Rocks mit dem Rock des
Verdächtigten noch kein Schuldbeweis. Wenn aber
unter siebzig Generalstäblern einer in der harmlosesten
5 —
Absicht alle die Handlungen gesetzt haben soll, die
auch zur Ermordung eines Kameraden geführt haben,
so ist die Indizienfläche mit der Verdachtsfläche
kongruent und es bleibt keine leere Stelle für Zufall
und Irrtum. So stand die Angelegenheit, ehe sich
herausstellte, daß die Indizien, die Herr Stukart fand
und deren Gediegenheit er sich zu einem Inter-
viewer rühmte — ein Fall, der selbst im Ausland
besprochen wurde und ebenso dringend der Unter-
suchung bedarf wie der Fall Hofrichter — , ehe sich also
herausstellte, daß diese Indizien viel eher eine Kritik
vertragen als eine Anpreisung im Odol-Stil. Heute
kann nur mehr von einer annähernden Ähnlichkeit
der Handlungen des Offiziers und der Voraus-
setzungen des Giftmordes die Rede sein. Und
gerade diese Beobachtung müßte die Behörde, die
jetzt den Fall übernommen hat und die durch Tra-
dition und ein veraltetes Gesetz vor den Verlockun-
gen der Reklame geschützt ist, auf die Fährte einer
neuen Möglichkeit führen: daß die »Annäherung« der
begleitenden Umstände eine künstlich hergestellte
ist (»Wie-Giltmord«). Von einer Person hergestellt,
die — unweit dem Verdachtskreis wirkend — die
Verrichtungen des Oberleutnants Hofrichter, seine
Schachtelmanipulationen, seine Hundspillenexperi-
mente gekannt, seine Reise nach Wien ver-
folgt hat; den Giftmord ausgeführt, die Polizei irgend-
wie an die Linzer Adresse verwiesen, so dem
Hauptmann Mader ein zweites Opfer gesellt
und in der entfachten Sensation die eigene Spur
verwischt hat. Es ist doch wahrscheinlicher, daß der
Ruf Hofrichters als »Bastler« einen Kombinator an-
gelockt, als daß seine Bastlertätigkeit ihn selbst auf
die Idee gebracht habe, unverdächtig morden oder
sich gegen den Verdacht durch eine plausible Erklärung
seines Tuns verteidigen zu können? Was man für sein
zurechtgelegtes Alibi hält, könnte doch weit eher
— 6 —
die Falle sein, die ihm der andere gelegt hat, indem
er in ein vorhandenes Milieu die Tat stellte. Gegen
die Schuld Hofrichters spricht die unwahrscheinliche
Dummheit, mit seinem notorischen Handwerkszeug
einen Giftmord zu verüben und zu hoffen, daß er
dem Verdacht durch Harmlosigkeit begegnen könne.
Oder es wäre überschlau, auf offener Straße einen
Mord zu begehen und damit zu rechnen, daß man
ihm eine solche Dummheit nicht zutrauen werde. So
gewitzt ist weder ein Mörder, der's anlegt, noch
die Polizei, die es durchschaut. Man halte sich an
die simple Schlauheit eines Menschen, der mit der
Bedenklichkeit der Hofrichterschen Manipulationen
rechnet und die Polizei von ihrer Identität mit den
Vorbereitungen des Giftmords überzeugt. Diese Dosis
Schlauheit, nicht die Oblaten sind es, womit ein
Giftmord verübt wird. Es ist viel weniger wahr-
scheinlich, daß Hofrichter die gegebene Harmlosigkeit
benützt hat, um dem Verdacht zu entgehen, als daß
ein anderer die gegebene Bedenklichkeit benützt hat,
um Hofrichter verdächtig zu machen und selbst aus
dem Spiel zu bleiben. Einer schaufelt eine Grube,
ein Mörder weiß das, legt seine Leiche hinein, am
nächsten Morgen kommt der Mann mit der Schaufel,
und wird verhaftet. Weil er eine Schaufel hat und
meinetwegen die Grube sein Werk ist. Aber ist dann
die Polizei nicht selbst hineingefallen? Es soll sogar
vorkommen, daß den besten Patrioten falsche Doku-
mente über einen echten Vaterlandsverrat in die Hände
gespielt werden. So dumm sind die Männer mit der
Schaufel nicht, daß sie sich ihrer nicht entledigen,
wenn sie einen Leichnam verscharrt haben, und daß
sie sich schon Wochen vorher mit dem Werkzeug
sehen lassen. Aber so schlau sind die Mörder, daß
sie eine vorhandene Grube benützen und den Mann,
der mit der Schaufel vorübergeht, schuldig werden
lassen. Die Indizien im Fall Hofrichter stimmen wirklich
gerade so genau, daß der Oberleutnant der Täter
sein kann: das wäre vielleicht der Beweis dafür,
daß ein anderer der Täter sein muß. Jener müßte
es nur dann sein, wenn er die Absicht gehabt hätte,
es der Polizei leicht zu machen. Aber dann hätte er
wohl auch noch das Geständnis großmütig zugelegt.
Es ist nicht zu leugnen, daß die Handlungen Hol-
richters mit der Tat zusammenhängen, aber so,
daß der Zufall der Übereinstimmung von einer Ab-
sicht benützt erscheint. Wenn die militärische Ge-
richtsbarkeit sich vornimmt, auf die täuschende
Ähnlichkeit der Handlungen Hofrichters und der
Vorbereitungen des Mörders zu achten, so wird ihr
die exkulpierende Kraft der Beweise zu imponieren
beginnen.
Nur glaube man nicht, daß die Bevölkerung,
der noch immer täglich der Puls gefühlt wird, einer
stillen Gerechtigkeit nicht einen geräuschvollen Justiz-
irrtum vorzöge. Was sie an dem geheimen Ver-
fahren auszusetzen findet, ist die Heimlichkeit, nicht
das Verfahren. Man lasse sich doch nicht durch die
liberalen Phrasen zum Wahn bekehren, daß hier
wirklich der Drang einer höheren Gesittung und
nicht die Wut über einen an der spannendsten
Stelle abgebrochenen Kolportageroman das Wort führt.
Die Militärjudikatur hat vor dem Zivilgericht
wenigstens den Vorteil, daß sie einen Beschuldigten vor
der moralischen Lynchjustiz der Zeitungsleser bewahrt.
Im Falle Hofrichter hat sie ohnedies Konzessionen ge-
macht und sich ein paar spannende Kapitel abhandeln
lassen. »Die Pastorstochter von Hermannstadt oder:
Der Brief in der Grüfte und »Mit einem roten Roserl
im Schnaberl«. Hier muß ein Romanzier die Justiz
beraten haben. Es ist nicht zu glauben, daß ein
Jurist es war, der das Vorleben des Oberleutnants
auf Cyankali untersucht und den Tod seiner herz-
kranken Braut verdächtig gefunden hat. Das leichen-
— 8
schänderische Moment, das in die Untersuchung
hineinkam, ist unbedingt die Eingebung eines Mannes,
der dafür sorgt, daß die Vorlesung bei der Haus-
meisterin genußreich ausfällt (»und herein trat der
Attache" — sprich Attache — , der aus einer sehr
dischtinkerten Familie stammte. Auf dem Katafalke —
lies Katasalke — brannten viele Kirzen«). Eher
traue ich schon die Untersuchung des Vorlebens auf
Erotik einer österreichischen Behörde zu. Das Mäderl
mit dem Roserl im Schnaberl ist nicht nur vom
, Extrablatt' interviewt, konterfeit und zur Be-
lohnung seiner Tugend mit Namen und Adresse ver-
ewigt worden, sondern scheint wirklich auch in der
Untersuchung eine Rolle gespielt zu haben. Ja, es
macht sogar den Eindruck, als ob man den Ober-
leutnant Hofrichter, selbst wenn sich herausstellen
sollte, daß er der Ermordung des Hauptmanns
Mader fernsteht, wegen eines erwiesenen Hotelaben-
teuers unschädlich machen woDte. Hier erkenne ich
mein Österreich wieder. Hier grinst es unter der Spitz-
marke »Hofrichter als Don Juan«. Aus dem Satz :
»Es tritt da ein stark sinnliches Moment in seinem
Charakter zutage«, tönt uns die Stimme des Votan-
ten entgegen, der etwa — unter atemloser Spannung des
Auditoriums — einem Mörder die Worte zuruft: »Sie
sollen einmal eine außereheliche geschlechtliche Be-
ziehung gehabt haben. Antworten Sie auf die Frage!«
(Bewegung). Man hat in dem Mann, der ein Mädchen
auf dem Linzer Bahnhof erwartete, einen Mädchen-
händler vermutet. Jetzt vermutet man in ihm einen Gift-
mörder. Das sinnliche Moment wird »durchaus nicht als
unwichtig« betrachtet, weil daraus, wenn schon nicht ge-
rade der Giftmord, so doch die Kenntnis der Mittel
zur Hebung der Manneskraft hervorzugehen scheint.
Einer wollte ein Mädchen auf dem Bahnhof erwar-
ten: da war schon vor ihm ein Detektiv zur Stelle! Das
Mädchen ging beruhigt ins Hotel. Auffallend ist, daß
— 9 —
der Mann einen halben Liter süßen Rotwein bestellte
und ein großes Stück Mandelbrot einem Paket ent-
nahm. »Kaum, daß der Mann aber das Weinglas für
mich eingeschenkt hatte, klopfte es an der Tür. Ich
atmete erleichtert auf, da ich wußte, daß es der
Polizeiagent Pelikan war.t Nicht jedes Mädchen
hält so rein. Der Don Juan warf ihr einen scharfen,
stechenden Blick zu und wurde hierauf zur Polizei
gebracht. »Es war der Oberleutnant Hofrichter.«
Später kam der Polizeiagent wieder, »kostete vor-
sichtig von dem Wein und dem Mandelbrot und
nachdem er sich überzeugt hatte, daß nichts Schäd-
liches darin war, griffen wir herzhaft zu, so daß das
Mandelbrot rasch verzehrt war«. Nachdem die Be-
hörde auf diese Art die Untersuchung der be-
denklichen Speise zu Ende geführt hatte, reiste
das Mädchen nach Wien zurück. Sie war vor
Vergiftung, ja sogar vor Verführung dank der
Umsicht jenes wackeren Schiffskapitäns bewahrt
worden, der rechtzeitig die Polizei verständigt hatte,
und dem das Mädchen, wie es sagt, nie vergessen
wird, was sie ihm zu danken habe. Nun wäre es noch
immer möglich, daß der geheimnisvolle Mann, der so
Böses im Schilde führte, damals den Namen Hofrichters
mißbraucht hat. Zuzutrauen wäre ihm auch das! Wa-
rum nicht: ein Mensch, der ein Mädchen aufs Zimmer
führt? Aber die Behörde hat ein untrügliches Beweis-
mittel in der Hand. Das Mädchen gibt ausdrücklich
an, sie habe das Bild Hofrichters im , Extrablatt*
gesehen und »sofort den Mann erkannt, der sie nach
Linz gelockt hat« .Vorsicht shalber begab sie sich auch zur
Schwiegermutter des Offiziers und fragte sie, »ob ihre
Tochter von dem damaligen Streiche ihres MannesKennt-
nis gehabt habe « . Die Frau verneinte dies a ber un d » schien
dem Vorfalle selbst keine besondere Bedeutung beizu-
messen«. Was sagt man I Sie war vielleicht nicht einmal
dankbar für die Vervollständigung der Vorlebensfakten
- 10 —
ihres Schwiegersohnes. Ja, gegenüber dem Gravamen,
>daß derOberleutnant,dessen glücklichesEhelebenin den
lockendsten Farben geschildert wird, nach verhältnis-
mäßig so kurzem Ehestande schon Schleichwege der
Liebe geht und sich in ziemlich komplizierte galante
Abenteuer einläßu, hatte sie am Ende gar eine ver-
zweifelte Gebärde des Abscheus. Vor einer Publizistik,
die es niederschreibt, vor einer offiziellen Moral, die
darin afierredet. Vor dieser ganzen polizeihündischen
Gesinnung, die, einmal losgekoppelt, in der wilden Jagd
auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines
Beschuldigten nicht mehr Halt macht. Zu jedem
Mordverdacht findet sich in Österreich mindestens
eine Falschmeldung in irgendeinem Hotel, in dem
der außereheliche Beischlaf zwar versucht, aber nicht
ausgeübt wurde. Und so überzeugt ist jeder Öster-
reicher von seiner Verpflichtung, ein »Detail« beizu-
stellen, daß es dem Kameraden nichts verschlägt, den
Beschuldigten anzuschwärzen, und sogar dem Gegner
nichts, ihn reinzuwaschen. Dem einen war er ein
Streber, dem andern war er immer unsympathisch, und
der dritte versichert einem Interviewer, daß Hofrichter
»desSchwiranaens unkundig« war: »damals bat er mich,
über die Sache Stillschweigen zu bewahren, was ich
auch bis heute getan habe«. Aber um keinen Tag
länger! Ein Sarajevoer Blatt fühlt sich verpflichtet,
einen Brief Hofrichters preiszugeben, der aus dem
besten kameradschaftlichen Gefühl entstanden, An-
griffe gegen hochgestellte Personen enthält, mit dem
Giftmord nichts zu tun hat, aber für den Schreiber
noch Konsequenzen haben wird, wenn er als Absen-
der der Giftbriefe längst rehabilitiert sein wird. Das
Motiv der reinen Infamie ist für die meisten Zeugen
einer Kriminalsensation ausschlaggebend. Was bleibt
von Hofrichter noch übrig, wenn er kein Mörder
ist? »Wißt, mein Nam' ist hin, zernagt vom
gift'gen Zahne des Verrats! . . .« Seine Frau wird unter
— 11
lern Grauen dieser Wochen Mutter. Sie glaubt ihm
ien Mord nicht: vielleicht trifft sie der Klatsch, der
sich zwischen einem Hotelzimmer und einer Gruft
spinnt, ins Herz. Warum müssen Familien gemordet
Verden, wenn einer eines Mords beschuldigt ist ?
Die Infamie ist zwecklos, man kann sie nur zurück
/erfolgen und stößt auf die Dummheit. Die natürlich
auf das Zustandekommen von »Beobachtungen« einen
noch größeren Einfluß hat als auf die Lieferung von
Details aus dem Vorleben. Typisch ist die Figur des
Linzers, der zu der Polizei mit der Angabe rennt,
vor einiger Zeit habe sich ein Offizier nach Adressen
von »Gottscheern« — auch eine österreichische In-
stitution — erkundigt, weil er tags vorher von einem
solchen um zehn Kronen zu wenig herausbekommen
hatte: Gottscheer haben bekanntlich Schachteln und
Giftpillen werden auch in Schachteln versendet . . . ;
sofort erscheint ein Bericht unter der Spitzmarke :
»Hofrichter sucht Gottscheer«. Wir leben in einem
angenehmen Land. Die Geburt eines neuen Öster-
reich wird stündlich erwartet. In Prag haben sie
einen Giftmörder gehabt, einen Chemiker, der einer
Frau für ihren Mann Bromkali als Beruhigungsmittel
empfahl. Indizium : ein Brief, der verloren ging und
der Polizei übergeben wurde. Daraufhin siebzigstün-
diger Transport in Fesseln von Czernowitz nach Prag,
vier Wochen Untersuchungshaft — für Prager Ver-
hältnisse genug. Folgen : Publizität eines Liebes-
verhältnisses, Ehescheidung etc. Wenn sich also
die Polizei auch manchmal irrt, ganz umsonst be-
müht sie sich nie. Zwischen Wien und Linz, auf
der augenblicklich gefährlichsten Strecke des Reiches,
wird noch viel zu holen sein.
Die Indizien des Herrn Stukart gleichen
den Beweisen des Herrn Cook: sie werden jetzt
überprüft und wenn auch nicht der richtige
Nordpol entdeckt sein sollte, aus dem Familienleben
— 12
der Eskimos erfuhr die Welt doch manches Wissens-
werte. Der Unterschied ist nur der, daß uns die arktischen
Enthüllungen zwar auch langweilen, daß sie aber
doch nicht dermaßen ruinös für die Betroffenen und
so demoralisierend auf die Interessenten wirken, wie
die Abwicklung einer Mordaffäre. Zuerst ist bloß
die Gewinnsucht aufgewiegelt, und der Preis von
zweitausend Kronen für den ehrlichen Entdecker recht-
fertigt noch die Erhebung eines wirtschaftlich
darniederliegenden Volkes. Aber dann verliert die
Bestialität ihre Entschuldigung und sinkt zu einem
idealen Interesse für die Sache selbst herab. Weil
ein Menschenleben vernichtet wurde — Tötung eines
Fahrlässigen — , wütet die Sensation gegen alle
Lebensgüter, gegen das Kind im Leib der Mutter
und gegen die Leiche, di« im Sarg liegt. Den ge-
heimen Wunsch so vieler Österreicher, ihre Vorder-
männer aus dem Weg geräumt zu sehen, hat ein
einziger in Tat umgesetzt. Man verdankt ihm die
Entdeckung, daß es eine Eigenschaft der Streberei
gibt. Sonst ziehen wir aus dieser Affäre keinen
geistigen Gewinn. Die Dummheit im Zustand der
Ruhe lastet schwer genug auf diesem Lande; wenn
man sie durch Kolportageromane aufregt, wird's
ungemütlich. Die Behörden sollten solche Literatur
verbieten und nicht verfassen. Es wäre besser, wenn
kein Giftmord geschähe. Der moralische Schaden, der
durch die Verfolgung entsteht, ist größer als wenn
man den Täter in des Teufels Namen entkommen
ließe. Schließlich hat's einer getan, und dreißig
Millionen sind vergiftet.
— 13 —
Asa foetida
Von Karl Kraus
Im Schwurgerichtssaal des Wiener Landesgerichts wird jetzt
ein Prozeß aufgeführt, dessen Autorschaft in verschiedenen
offiziösen Noten verwischt wird. Herr Oberlandesgerichtsrat Wach,
selbst Verfasser mancher schlechten Volksstücke — »Ein heuriger
Has<, wenn ich mich recht erinnere und anderer — , leitet die
Mise en-scene. Auf dem Zettel steht der Name Friedjung. Hinter
diesem Pseudonym aber verbirgt sich ein Autor, der im, Fremden-
blatt' so eindringlich versichern läßt, es sei kein politisches Spektakel,
daß man ihm seinen Wunsch, uns \om Gegenteil zu überzeugen,
gern erfüllt. Daß die Annexion Bosniens, jenes Stück, bei dem die
Kassen Österreichs gestürmt wurden, von ihm war, wird er viel-
leicht eher einmal dementieren wollen. Während man aber in jedem
andern Theater schon während der Vorstellung sein Urteil ab-
geben darf, ist es nicht gestattet, über die Kraft der Beweismittel,
die hier produziert werden, eine Kritik laut werden zu lassen. Nur
den Autor und die Mitspieler unsympathisch zu finden, kann die
Theaterhausordnung nicht verwehren. Jener selbst hat ja, noch ehe
er die Annexion in Szene setzte, die Kritik befragt. Er war damals
noch Baron. Aber selbst von einem Baron eingeladen zu werden, war
für die Chefredakteure der großen Wiener Zeitungen Ehre genug,
sie kamen und es ist bis heute nur zweifelhaft geblieben, ob er mit
Hilfe dieser Bandenführer Serbien bekämpfen oder mit Hilfe dieser
Orientalen die orientalische Frage lösen wollte. Immerhin erreichte
er die Zustimmung der Presse zur Annexion. Und niemals habe,
so behaupten die Neider, Bismarck so viel Lob für die Einigung
Deutschlands empfangen als jener für die Annexion Bosniens. Aber
Österreich habe auch mehr als die Kosten von 1866 für den zwei-
fachen Gewinn zahlen müssen, der aus der Tat resultiere: Was
früher Okkupation hieß, heiße jetzt Annexion, was früher Baron
Aehrenthal hieß, heiße jetzt Giaf Aehrenthal. Ob das Nachspiel zur
Kriegsgefahr, das jetzt im Wiener Schwurgericht aufgeführt wird,
einen noch besseren Erfolg haben wird, ob es also zum Vorspiel
einer größeren Sensation taugen könnte, wird sich ja zeigen.
Über die Kraft der europäischen Beweismittel datf im Zuge des
Verfahrens nicht gesprochen werden. Ich für meine Person unter-
scheide übrigens nicht so genau zwischen Serben, die in Kroatien
14 —
serbisch sprechen, und Kroaten, die in Serbien kroatisch sprechen,
wozu noch die Serbo-Kroaten kommen, die in Kroatien ungarisch
und die Kroato-Serben, die in Ungarn kroatisch sprechen, na und
so weiter. Kurzum, wir leben in einem Milieu, in dem ein
Mann namens Stefanovic entweder Bandenführer oder Ministerial-
sekretär sein kann, und ich würde mich, schon damit den fort-
währenden Verwechslungen vorgebeugt wird, im Ernstfall für die
Ausbrennung des Balkans bis Bodenbach entscheiden. Bis dahin
hat's freilich noch lange Weile, die passend mit patriotischen
Ausführungen des Herrn Dr. Friedjung ausgefüllt werden könnte.
Herr Dr. Friedjung ist der größte lebende Historiker. Aber ich
bin davon überzeugt, daß die Historie die kleinste lebende Wissen-
schaft ist. Was Herr Dr. Friedjung im Oerichtsaal vorbringt, hat
in der Länge und Tiefe etwa das Maß eines Leitfadens für Mittel-
schulen. Er sagt nicht: »Als die Mobilisierungsordre kam«, son-
dern: »Als unser greiser Monarch Tausende und Abertausende
unserer Brüder und Söhne zu den Waffen rief«. Dabei läßt er in
dem, was er spricht, kein Interpunktionszeichen aus. Seine Diktion
ist hin und wieder von wohltuenden Maximen gewürzt. So bin ich
überzeugt, daß er dem Grafen Aehrenthal zu der Annexion mit
den Worten geraten hat: »Frisch gewagt, ist halb gewonnen«. Ich
wünsche ihm, daß sein Prozeß nicht schlechter ausfällt, als ein Wagnis,
und daß er Recht behält, wenn er sich bei dem Lachen der
Kläger denkt: »Wer zuletzt lacht, lacht am besten«. Denn wenn
sich herausstellen sollte, daß echte Bomben mit falschen
Dokumenten gefüllt waren, so würde der Trost »Ehrlich währt
am längsten« nur eine geringe Entschädigung für die von
ihm aufgewendete patriotische Mühe bedeuten. Er war nicht
immer für Österreich und für die ,Neue Freie Presse'; aber
man kann nicht sagen, daß er sich aus unlauteren Motiven zur
schlechteren Überzeugung bekehrt hätte. Er ist wahrscheinlich besser
als der Angeklagte dieses Prozesses. Als der Mitspieler dieser
patriotischen Veranstaltung, in welcher ein Herr Chlumecky die
Treue verletzt, zu der ein Bestecher so gut verpflichtet ist wie der
Bestochene, und in der der Vorsitzende den von Österreich ver-
ratenen Herrn Supilo des Ehrenwortbruches beschuldigt und es
den Herren Mitklägern »überläßt, ob sie weiter mit ihm verkehren
wollen«. Die Frage, wer Herrn Chlumecky, den Nachkommen eines
- 15 —
alten Qschaftlhubergeschlechtes, dazu ermächtigt hat, für Öster-
reich aus eigener Tasche zu bestechen, wird nicht gestellt. Herr
Chlumecky ist Verwaltungsrat des ,Lloyd' und einer der zahllosen
Herausgeber der österreichischen Rundschau'. Er hat das unbe-
streitbare Verdienst, daß diese angesehene vaterländische Revue
jetzt auf allen fünfundvierzig Lloyddampfern aufliegt, so daß sich
die Passagiere nur mehr durch die Seekrankheit vor den Gefahren
der Langeweile retten können. Er hätte besser getan, die zwei-
hundert Kronen aufzuheben ; Herr Supilo war damit nicht zu
halten, und die .Österreichische Rundschau' kanns brauchen. Der
Oberlandesgerichtsrat Wach, der die journalistischen Verhältnisse
bisher nur aus der Theater- und der Qerichtssaalrubrik gekannt
hat, erfährt bei dieser Gelegenheit auch, wie die Politik gemacht wird.
Trotzdem würde er es nicht glauben, daß außer Herrn Supilo in
Österreich noch jemand bestochen wird. Und wenn er es selbst
glaubte, gegen die Verbrecher, die Staatsgelder für die Presse und
für die Lieferung hochverräterischer Dokumente verwenden, brächte
er keine judizielle Entrüstung auf. Wenn nun die serbischen Zeugen
sagen, daß die Dokumente echt sind, droht ihnen die Verhaftung
wegen Hochverrats, wenn sie sagen, daß sie falsch sind, wegen
Meineids. Und der Beweis, daß Herr Supilo sechstausend Dinars
von Serbien bekommen hat, ist durch den Beweis erbracht,
daß er von Österreich zweihundert Kronen und — nach
der Quote - von Ungarn fünf Gulden bekam. Er hat also
vor zehn Jahren für einen Pappenstiel Serbien an Österreich
verraten, und darüber können sich die Patrioten nicht genug ent-
setzen. >Er soll für die Taxe eines Lohnkutschers für die Politik der
Regierung geschrieben haben« — Herr Moriz Benedikt sagt es mit
Geringschätzung. Der Präsident aber wendet ein Pathos auf, als ob der
erste Fall von Preßkorruption entdeckt worden wäre, und es fehlte
nicht viel, so hätte er auch zu diesem Punkt seine stereotype Be-
merkung gemacht: Meine Herren, wir sind hier in Wien! . . . Und
es ist doch, wie man auch aus dieser Affäre wieder ersieht, nicht
einmal ein so großes Vergnügen, hier in Wien zu sein.
16
Rhabarber
Von Karl Kraus
»Die Berufungsklage des Herrn Herwarth
Waiden gegen das erstinstanzliche Urteil
auf Freispruch unseres Präsidenten wurde
am 30. November vor der ersten Straf-
kammer des Königl. Landgerichts II,
Berlin, verhandelt. Der Beklagte Nissen
wurde wiederum freigesprochen und Waiden
zur Tragung der Kosten verurteilt.«
,Der neue Weg', amtliche Zeitung der
Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöri-
ger, 4. Dezember 1909.
Das in Deutschland Mögliche — wie einem
Echten und Gerechten mitgespielt wurde und wie
es kam, daß ein Komödiant einen Richter lehrte —
muß noch einmal erzählt werden. Es ist eine win-
zige Affäre, die im kleinsten Druck der Tagespresse
ihr Dasein fristet, und doch laufen in ihr alle Fäden
zusammen, die sich einem auf die Brutalität des
Lebens Unvorbereiteten zum Strick verdichten. Denn
das Leben schämt sich noch immer nicht, den Fibel-
pessimisraus, daß das Unrecht auf allen Linien siegt
und der Gerechte leiden muß, zu bestätigen. Wohl, weder
der ahnungslose Spaziergänger noch der Ziegelstein
können etwas dafür, daß sie miteinander in Berüh-
rung kommen. Aber es gibt eine Organisierung des
täppischen Zufalls, und das ist die soziale Welt. Man
gehe nicht auf die Gasse. Man setze den Acheron
nicht für künstlerische Interessen in Bewegung. Man
reize den Pöbel nicht durch den Versuch, für die
Verbreitung kultureller Werte sich die Haut vom
Leib zu schinden. Man lasse sich nicht von Herrn
Hermann Nissen, Präsidenten der Deutschen Bühnen-
genossenschaft und Besitzer von mehr Orden, als
unbedingt nötig ist, als Redakteur des ,Neuen
Wegs* anstellen, um einen Horizont, der
eben noch Kontrakte und Repertoirs umschließt, mit
- 17 -
literarischen Rätseln zu illuminieren. Denn das, was
wir wollen, und das, was die andern wollen, ob sie
nun Schauspieler sind oder andere Bürger, ist nicht
vereinbar. Durch keinen Kontrakt der Welt. Und
jeder, der geschlossen wurde, war brüchig, ehe er
gebrochen war. Berechtigt war die Enttäuschung
dieser Theaterleute, als sie die Literatur sahen, von
der sie so viel schon gehört hatten. Berechtigt der
Widerstand, nutzlos die Bekehrung. Berechtigt die
Interessen der Indolenz, vermessen aller selbstlose
Eifer. Lassen wir die geistigen Werte nur in der
schwersten Verpackung liegen: ihr Aroma wird
durchdringen, wenns nach hundert Jahren noch
Nasen gibt. Gegen den Stockschnupfen der Zeit
können wir nicht an, und wenn wir mit Knüppeln
gegen ihn losgingen. Genug des Opfers, wenn
wir schreiben, malen, Musik machen. Tragen
wir nicht fremde Kreuze 1 Herr Herwarth Waiden,
Musiker, wollte sich auch nicht einen Splitter von
allen denen entgehen lassen, die heute in Deutsch-
land getragen werden. Er hat fünf Jahre lang in
Berlin den »Verein für Kunst« geleitet, er büßte
an Freiheit, Vermögen und Gesundheit für das,
was andere zeitgenössische Künstler dem Publikum
angetan hatten. Aber die begehrlichen Konsumenten
finden, es sei nicht genug, und dursten nach
seiner Ehre.
Nun, es ist eine so beispiellose und doch so
beispielhafte Gräßlichkeit, die dieser vorzügliche
Mensch erlebt, daß ich ihn darum bedaure und
beneide. Denn er kann damit nichts anfangen, seine
Kunst, dereu Reinheit hinter der Kunstpolitik alle
Kenner mit tiefster Rührung erfüllt, kann bei dem
Handel nicht gewinnen, während meine Qualbereitschaft
so schöpferisch, so sehr ein Teil von meiner Kraft ist, daß
ich, wo's an eigener Bedrängnis fehlt, übernehme,
wessen ich von fremden Sorgen habhaft werden kann.
Man unterschätze diesen Drang nicht, indem man
v92
lt
ihn etwa als Altruismus wertet. Ich hülfe meinem
Nächsten nicht, wenn ich, was ihm widerfuhr, nicht
als einen Insult empfände, der mir als dem mündi-
gen Zeugen der Begebenheit angetan wurde. Man
sehe sich vor, so lange ich lebe. Man rechne damit,
daß die Schlechtigkeiten, die einer an dem andern
begeht, sich nur zu leicht mir zu den Projektions-
bildern gestalten, in denen ich den Teufel an die
Wand male. Man kann mit mir, der an seinen eige-
nen Miseren nicht immer beteiligt ist, fertig werden.
Aber ich bin nicht gesonnen, mir das gefallen zu
lassen, was mich nichts angeht! Diese Schwäche, die
als Reiz empfindet, was in ihrem Gesichtsfeld
sich begab, und diese Phantasie, die den Ein-
druck auf eine Welt überträgt, deren Teilnahms-
losigkeit nur wieder ein Reiz ist, die Beziehung fort-
zusetzen: zu solch unseligem Verein sind meine
Fähigkeiten gebunden, um als fortwirkende Drohung
der Gesellschaft zu nützen. Meine Trophäen sind
die Unterlassungen, wo selbst die Schrecken des
jüngsten Tags nicht mehr imstande wären, gute Hand-
lungen durchzusetzen. Wenn einer nur nachdrück-
lich genug es ausspricht: ich will es nicht miterleben,
was die Leute in Amt und Würde dem Menschen-
gefühl und dem Menschenverstand ansinnen, so muß
ihm die Schande der Zeugenschaft erspart bleiben.
Und wenn einer nur sagt, daß er so paradigmatische
Taten als Reizmittel brauche, dann warnt und wirkt
er in die Allgemeinheit. Ich sage, daß ich diesen
Herwarth Waiden bedaure, weil's ihm geschah, und
beneide, weil's ihm geschah. Denn die Fälle sind
selten, in welchen man einen so runden Überblick
über die Chancen eines Lebens hat, worin sich uns der
große Krumme in den neuen Weg stellt oder sich
in die tausend kleinen Krummen spaltet, die alle
Auswege besetzt halten: Standesbewußte Schau-
spieler, gesetzeskundige Juristen, informierte Redak-
teure — man weiß doch wenigstens, woran man ist.
— 19 -
Herwarth Waiden wußte es Jahre lang nicht. Er
hat geglaubt, daß das Leben so einfach sei: man
lebt für die Kunst, zahlt, drauf und weiter kann einem
nichts passieren.
So einfach ist aber das Leben im allgemeinen und in
Deutschland im besondern nicht.Nachdem er binnen zehn
Tagen den Ehrgeiz des Herrn Hermann Nissen nach der
Literatur befriedigt und mit jener unerhörten Über-
bietung physischer Möglichkeiten, die sich nur durch
den Glauben an die Sache entlohnt weiß, aus dem
trostlosen Theaterzettelblatt den ,Neuen Weg' ge-
schaffen hatte, beschlossen die literarischen Gönner, sich
das nicht gefallen zu lassen. Das ewige Einerlei einer so-
zialen Gesinnung, zu der sie gegenüber den tyrannischen
Theaterdirektoren gezwungen sind, konnte hier ein-
mal durch die Gelegenheit unterbrochen werden,
sich als Brotgeber vor der Literatur zu fühlen.
Man konnte sich sie leisten, man wollte sie auch
prüfen. Der >Überwacher<, der Herrn Waiden an die
Seite gegeben war, fing an, sein Geschäft ernst zu
nehmen, und immer lauter, gleich dem bekannten Volks-
gemurmel, das auf der Bühne durch Wiederholung
des Wortes >Rhabarber« erzeugt wird, begann sich
jene Stimmung zu regen, in der man sich
fragt, wie man für sein Geld dazu komme, Strind-
berg und die Publikationen des Nietzsche - Archivs
zu lesen. Wenngleich dieser Luxus durch die Er-
sparnisse reichlich hereingebracht war, die der neue
Redakteur im Druck und in der Expedition ein-
geführt und durch die er einer grotesken Wirtschaft
redigierender Laien ein Ende gemacht hatte — der
Chor von Heldenspielern, Bonvivants und Intri-
ganten war nicht mehr zu besänftigen. Sie hätten
Herrn Herwarth Waiden ehrfürchtig gegrüßt, wenn
er bloß der Mann gewesen wäre, der die Notizen in
den , Lokalanzeiger' bringen oder durch Kulissen-
plaudereien gefährlich werden kann; sie hätten
seine Stücke protegiert, sie hätten ihn zum
— 20 —
* Doktor c jpromo viert. Aber so, da er's mit Strind-
berg hielt, war seine Position erschüttert. Herr
Nissen, der Präsident, trat vor, prüfte die drei Nummern
und sagte: Raus! Und dies mit einem so dramati-
schen R, wie es auch in dem Wort > Kontraktoruch« schon
lange nicht enthalten war, und so effektvoll, daß die
deutsche Literatur erschrak und die Rehabilitierung des
mißhandelten und in seiner Existenz getroffenen Redak-
teurs unter deutlichen Zischlauten besorgte. Lilien-
cron, Heinrich Mann, Dehmel, Altenberg, Morabert, Holz,
Lublinski, Paul Ernst, Bang, Blümner, Frau Förster-
Nietzsche und viele andere, schrieben jeder der Fähig-
keit, der Ausdauer und dem Opfermut dieses seltenen
Menschen, dem das Kunstleben Berlins so viel zu
danken und dem Herr Hermann Nissen schon damals
so viel abzubitten hatte, ein Ehrenzeugnis. Die Deutsche
Bühnengenossenschaft läßt sich unter dem Hochdruck
eines Schamgefühls, das erst durch Druckerschwärze
emporgetrieben ward, zur Bewilligung sämtlicher
Ansprüche Waldens, zur Bezahlung eines Pönales herbei,
wie es dem Geschädigten von jedem Zivilgericht zuer-
kannt worden wäre, und Rhabarber beginnt sich nun-
mehr gegen den Präsidenten selbst zu kehren. Dieser,
in der > Geheim Versammlung« zur Rede gestellt, ist
sichtlich nicht verlegen. Ja, meine Herren — 1 Der Grund
der plötzlichen Entlassung — — Und dann kommen
Worte, und dann kommt ein kräftiges Pfui, das aber
nicht Herrn Hermann Nissen gilt, sondern dem Ab-
wesenden. Was in der Versammlung gesprochen
wird, wird hinter den Kulissen besprochen. >Hören
Sie mal, das was Nissen zu den Delegierten gesagt
hat « »Wie ist das? Waiden soll « »Ich
habe gehört, Nissen hat in der Versammlung
den Fall so dargestellt, als habe Waiden «
»Wenn einer von mir sagte, was Nissen von Waiden
gesagt hat, dann würde ich hingehen und ihn mit
der Reitpeitsche ins Gesicht hauen.« »Sie müssen
unbedingt Nissen verklagen, denn man erzählt sich
— 21 —
in sämtlichen Schauspielerkreisen, Sie hätten <
Rhabarber, Rhabarber Das Gemurmel wendet
sich wieder eregen den Andern, es wird laut und
lauter und erhebt sich schließlich zu einer Anklage,
die mit klaren Worten sagt: Der Präsident der
Bühnengenossenschaft, Hermann Nissen, hat den
Schriftsteller und Komponisten Herwarth Waiden der
Unterschlagung beschuldigt.
Wenn er eine Uhr jetzt gehen hörte, er wüßte,
daß es ein böser Traum sei, und scheuchte gleich dem
Träumer Rustan, der auf Lebenskämpfe ausging, mit
der Hand den vorgestellten Schrecken von der
Stirne. Aber diesem da sollte sich das Spiel der Ge-
fahren zur endlosen Folter fortsetzen. Denn es gibt
noch Richter in Deutschland. Herwarth Waiden ver-
klagt den Beleidiger und erwartet von der Beweis-
führung, daß jene Öffentlichkeit, in welcher die An-
schuldigung gehört, kolportiert und wieder gehört
wurde, die Tatsachen erfahren werde, durch die sie
widerlegt wird. Verletzt ist mit der Ehre das
Gefühl kultureller Distanz; die Abwehr gilt der Be-
leidigung und mit ihr der Zumutung, die einen
Menschen von solcher Beschaffenheit, den Träger
solcher Interessen, den Mann, den ein geistiges Vor-
leben vor der Diskussion ethischer Selbstverständ-
lichkeiten schützt, auf das Niveau eines Ehrenhandels
hinabzerrt. Zu der maßlosen Gräßlichkeit zwingt, einer
tatsachendurstigen Gesellschaft zu beweisen, daß er
kein frauduloser Kommis sei, wenngleich das Schicksal
Herrn Hermann Nissen als Chef über ihn gesetzt
habe. Aber die Qual einer solchen Rehabilitierung
muß übernommen sein. Schon die eigene Neugierde
drängt zu einem Prozeß, der das Rätsel lösen
wird, wie jener Brotgeber zu solcher Anschuldigung
kommen konnte. Das Gericht erster Instanz erkennt zu
Recht, Hermann Nissen werde von der Anklage
freigesprochen, weil er in Wahrnehmung berechtigter
Interessen gehandelt habe. Ein Beweis über den
— 22 —
Sachverhalt wurde nicht zugelassen; die Kosten trägt
der Kläger. Das ist furchtbar. Denn nun werden die
Leute, die bloß die schluderigen Notizen der Tages-
presse lesen, davon überzeugt sein, Herr Nissen habe
den Wahrheitsbeweis erbracht ; daß der Preispruch
aus formalen Gründen erfolgt ist, wird man nicht erfah-
ren. Aber ist denn diese heillose Praxis der deutschen
Beleidieungejustiz auf den Fall anwendbar? Wenn
ein Arbeitgeber den Genossen vor einem ihm verdäch-
tigen Angestellten warnt, so handelt er in berechtigtem
Interesse und ist nicht verpflichtet, die Wahrheit
der üblen Nachrede zu erweisen. Aber wenn schon
die Auffassung des Reichsgerichts richtig wäre, daß
Ehre und Existenz des Angestellten hinter dem Profit
des Brotgebers stehen und daß es außer den geschäft-
lichen Interessen keine berechtigten Interessen in der
deutschen Welt gibt; wenn diese Überzeugung
schon ihre ethische Weihe haben soll: war
sie denn auf den Fall Walden-Nissen anzuwenden?
Hat hier der Arbeitgeber seine Aufschlüsse über die
Vertrauenswürdigkeit des Angestellten den Berufs-
genossen im Vertrauen gemacht, und nicht mit
dem vollen Bewußtsein, daß sie aus einem Kreis von
hundert Ohren in eine Welt von zehntausend
Mäulern übergehen werden? Ist eine Versammlung
von Delegierten der Deutschen Bühnengenossenschaft
nicht eine Versammlung von Leuten, die im Zwischen-
akt hundert Ensembles mit Neuigkeiten versorgen
können? Erscheint in der Theaterperspektive nicht
die Ehre oft verkürzt, wächst in jenen Kreisen das
Gerücht nicht schneller, ist dort der Verdacht nicht
das Stichwort der Verleumdung? Hat nicht Herr
Nissen selbst einmal den Ausspruch getan : »Semper
bleibt aliquid haeret« ? Und um Himmelswillen, wenn
schon das Interesse dieses Angeklagten, unwahre
Dinge zu behaupten, ein berechtigtes war, wenn es
schon nicht Strafe verdient hat, wie ist es möglich,
daß ein Gericht nicht wenigstens das Bedürfnis des
23 — -
Klägers nach dem eigenen Freispruch anerkennt
und den Wahrheitsbeweis durchführt? Herwarth
Waiden legt Berufung ein. Die zweite Instanz läßt
den Beweis zu, erkennt zu Recht, er sei durchaus
mißlungen, von einer Unterschlagung könne nicht die
Rede sein, das Gegenteil dessen, was Herr Nissen
behauptet hat, sei erwiesen. Aber Nissen werde
freigesprochen, weil er in Wahrnehmung berechtigter
Interessen und im guten Glauben gehandelt habe. Denn
die Aufzeichnungen des Herrn Waiden seien im buch-
halterischen Sinne so inkorrekt, daß Herr Nissen
den Verdacht gewinnen und ihn im Kreise der
Genossen äußern durfte. Die Kosten trägt der Kläger.
Herwarth Waiden könnte sich nun dabei be-
ruhigen, daß man von der irdischen Gerechtigkeit
nicht mehr verlangen kann, als sie bei so gutem
Glauben zu geben imstande ist. Daß er als Redakteur
und nicht als Buchhalter engagiert war, hätte man
ihr etwa noch beibringen können. Und daß Herr
Nissen, wenn er schon nicht wider besseres Wissen
unwahre Behauptungen aufgestellt hat, doch in un-
verantwortlicher Weise die Gelegenheit umging, sich
das gute Wissen zu verschaffen. Denn die Gelegenheit
war ihm geboten. So wie sie mir geboten ist, der zu
solcher Wissenschaft nicht verpflichtet ist und der
in diese öde Tatsächlichkeit nur hinuntersteigt, um
den Rhabarber zum Schweigen zu bringen, der sich
nach der zweiten Instanz erst recht gegen den
Kläger erhebt. So muß denn gesagt werden: Daß
beim Abschluß des Vergleiches zwischen Herrn
Waiden und der Bühnengenossenschaft gegenseitig
die Loyalität der Parteien festgestellt wurde. Daß dies
geschah, nachdem Herr Nissen die Dinge, die Herrn
Waiden belasten sollten, erfahren haben mußte und
bevor er sie in der Delegiertenversammlung zur
Sprache brachte. In Wirklichkeit hat er nichts
erfahren, was es ihm verwehrt hätte, die Loyalität
des andern Teils zu bestreiten; was es ihm gewiß
— 24 -
verwehrt hätte, ihm auch nur den kleinsten Teil
seiner Ansprüche zu bewilligen. In Wirklichkeit
mußte er bei der oberflächlichsten Prüfung der Belege
von dem Gegenteil dessen überzeugt sein, was er
nachträglich behauptete, und nur, wenn er das
Material überhaupt nicht angesehen hat, war es
möglich, daß ihn die Tatsache, daß zwei Angestellte
der Redaktion ihren Gehalt für Februar reklamiert
haben, den Verdacht der Unterschlagung schöpfen
ließ. Ein solcher Verdacht hätte ihn zur Unter-
suchung treiben müssen, nicht zur Anklage. Und der
gute Glaube, mit dem er ihn unter Diskretion an die
große Glocke hängte, hätte ihm in jedem andern Staat
nicht den Freispruch, sondern eine schwere Arreststrafe
eingetragen. Am 27. Februar und am 10. März haben die
beiden Angestellten ihre Forderungen geltend gemacht
und der Genossenschaft die Verträge übergeben, die sie
mit dem Redakteur geschlossen hatten. Wenn Herr Nissen
sich die Sache überhaupt angesehen hat, so mußte er
damals wissen, daß die Leute von Mitte Jänner ange-
stellt waren und daß die Genossenschaft Herrn Waiden
die Jännergehalte nicht gezahlt hatte. Er mußte
damals wissen, daß Herr Waiden laut Vertrag vom
18. Jänner das Recht hatte, zwei Personen mit einem
Gehalt von 100, beziehungsweise 50 Mark anzustellen.
Waiden selbst waren fünfhundert Mark zugestanden,
und er bezog diesen Gehalt für den Monat Jänner,
zu dessen Beginn — vor der Vertragsfertigung
— er bereits offiziell arbeitete. Die beiden An-
gestellten, deren Verträge vom 18., beziehungs-
weise 21. Jänner lauteten, waren vom 15. Jänner
an tätig. Die erste Zahlung für die beiden leistete
die Genossenschaft am 1. Februar. Die Redaktions-
sekretärin hatte vertragsgemäß nebst dem Gehalt An-
spruch auf Vergütung der Überstunden, so daß sie
für die Jännerhälfte 64 Mark zu bekommen hatte.
Der Inseratenbeamte hatte als Gehalt und Ersatz
für Auslagen 113 Mark zu fordern. Herr Waiden
— 25 —
zahlte also 177 Mark aus, mehr, als er von der
Genossenschaft für diesen Zweck bekam. Herr
Nissen behauptet nun, er habe nicht gewußt, daß
das Personal schon im Jänner angestellt gewesen
sei, sein guter Glaube sagte ihm, dies sei erst vom
1. Februar der Fall gewesen, und er habe die 150 Mark
für den Februar gezahlt. Was Herr Nissen pränumerando
leistete — wiewohl man doch nicht wissen konnte, ob
sich der Gehalt nicht durch Überstunden und der-
gleichen erhöhen werde — , verwendete Herr Waiden
postnumerando für die zweite Jännerhälfte. Und er
konnte sich keine Quittungen über den Gehalt Februar
geben lassen, sondern mußte kaufmännisch korrekt
auf Jänner quittieren lassen. So war ihm die Ge-
nossenschaft nur mehr 27 Mark statt 177 Mark
schuldig. Konnte Herr Nissen den Verdacht fassen,
so konnte guter Wille ihn überzeugen, daß er Wahn-
witz sei. Gegen den guten Glauben des Herrn Nissen,
der eine Leichtfertigkeit bedeuten würde, die mindestens
so sträflich ist, wie die böse Absicht, sprechen fast
dieselben Tatsachen, die für die gute Ehre des Herrn
Waiden sprechen. Noch einmal: Erstens hatte Herr
Waiden laut Vertrag das Recht, die Beamten spätestens
am 18. Jänner, also noch immer vierzehn Tage vor dem
Termin anzustellen, an dem der gute Glaube des
Herrn Nissen beginnt. Ferner, die erste Nummer des
,Neuen Wegs' erschien am 29. Jänner. Inserate für
diese Nummer waren bereits vorhanden — am 25.
war Herrn Nissen brieflich mitgeteilt worden, daß für
mehr als 8000 Mark Inserate gewonnen seien — , und es
war einleuchtender Weise gerade am Anfang eine unge-
heure Korrespondenz zu bewältigen. War Herr Nissen
so sehr im guten Glauben, daß er auch annahm,
Herr Waiden habe die administrativen Geschäfte
und die Akquisition von Inseraten selbst besorgt?
So sehr überschätzt selbst ein Mime, der sich als
Brotgeber fühlt, nicht die Arbeitskraft seines Ange-
stellten, so sehr unterschätzt selbst Herr Nissen nicht
26 —
die geistige Persönlichkeit seines Gegners, daß er
ihn dieser Leistung für fähig hält. Drittens: Am
10. März wandte sich die Sekretärin an die Genossen-
schaft und ersuchte um ihren Gehalt für Februar.
Sie schrieb den Brief auf Anraten des Herrn Waiden
selbst, der am 14. Februar »entlassen« war. Am
12. März wurde sie ersucht, ihren Vertrag einzu-
senden. Am 15. März spätestens hatte also Herr
Nissen nichts mehr zu glauben, sondern mußte
wissen, daß sie vom 18. Jänner angestellt war. Auf
ihren letzten Brief erhielt sie keine Antwort. Offen-
bar hatte es Herr Nissen bereits vorgezogen, sich
allen Gelegenheiten zu entziehen, die ihm eine
Information über die Sache verschaffen konnten.
Bin Blick hätte ihm gesagt, daß die Genossen-
schaft Herrn Waiden die Gelder für die Jännerhälfte
nicht übergeben hatte, und daß er also nicht nur
berechtigt, sondern verpflichtet war, das am 1. Februar
übergebene Geld auf Jänner anzurechnen. Seine
Bücher sind nur Aufstellungen über die Einnahmen
und Ausgaben, die sämtlich mit Quittungen belegt
waren. Diese Quittungen, aus denen die Gehalts-
zahlung für Jänner klar hervorgeht, waren in Händen
der Genossenschaft. Wenn Herr Waiden nicht jene
buchhalterischen Fähigkeiten besitzt, die das Gericht
von einem Komponisten derDaphnislieder verlangt, und
wenn Herr Nissen ein Recht hatte, sich nicht aus-
zukennen, so mußte er von Herrn Waiden Aufschluß
verlangen, ehe er ihn beschuldigte. Hatte er ein
Recht auf den Verdacht, so hatte er die Pflicht,
sich von dessen Absurdität zu überzeugen. Er
muß aber ein berechtigtes Interesse gehabt haben, jeder
Gelegenheit der Erkundigung aus dem Wege zu
gehen. Er hat vielleicht nicht wider besseres Wissen
gehandelt; aber er hat am Ende absichtlich die
Möglichkeit vermieden, es sich anzueignen. Er hat
vielleicht in doloser Fahrlässigkeit gehandelt, als er
am 9. April in der Geheimversammlung aufstand und
— 27 —
sagte, Herr Waiden habe den Leuten Gelder »nicht
abgelieferte: denn sie hätten sieh »nochmals« an die
Genossenschaft gewandt. Diese Tatsache allein konnte
ihn bei einiger Prüfung darüber aufklären, daß sie
Grund für den gegenteiligen Schluß sei. Herr Nissen
prüfte nicht, sondern behauptete. Wenn ich aber einem
Menschen den Beweis unter die Nase halte, daß ich
kein Einbrecher bin, und er nießt, und behauptet
hierauf, ich hätte eingebrochen, so scheint mir ein
solcher Gutgläubiger viel strafwürdiger zu sein, als
der ehrliche Lügner. Wenn aber dann die deutschen
Gerichte >zum Wohlsein« sagen, dann helfe Gott!
Er helfe uns von einer Gerechtigkeit, die den
Redakteur eines künstlerischen Satirenblattes wegen
Beleidigung der Urheber einer Grubenkatastrophe
auf sechs Monate ins Gefängnis schickt und einen
Menschen, der einem Armen die Existenz untergräbt,
berechtigte Interessen zuerkennt. Er zeige einem Ehr-
lichen den Weg, aus dieser Misere zu entkommen,
aus diesem Gestrüpp von Paragraphen und Tücke
sein Ehrenkleid zu retten, damit er nicht unbekleidet
vor dem Pöbel erscheine. Diese prinzipielle Rechts-
verlassenheit ist wahrlich schlimmer als der Justiz-
irrtum, durch den ein Unschuldiger wegen Giftmords
verurteilt werden könnte. Einer hat gemordet, einer
nur kann fremde Schuld büßen, aber alle sind in
Erregung und die stoffliche Sensation, die hier die
Justiz liefert, ist Glück und Gewähr der Ver-
einzelung. Wir sind Leser, und es geht uns nicht ans
Leben. Dort sind wir Menschen, und es geht uns an die
Existenz. Gegen Cyankali kann man sich schützen.
Nicht vor Rhabarber. Hier muß der Unschuldige
daran glauben, weil der andere den guten Glauben
hat. Ist es nicht tragisch, wie die Gesetzlich-
keit Wohltat und Plage schon unter den Mit-
lebenden vertauscht? Berechtigt sind die Interes-
sen des Mannes, der mit Unrecht und Leichtfertig-
keit beschuldigt und in einer Intimität von Hundert,
— 28 —
aus der hundert Wege in die Öffentlichkeit führen.
Nicht berechtigt sind die Interessen des Be-
schuldigten, wenigstens die gerichtliche Feststellung
der Wahrheit, wenn schon nicht die Bestrafung des
Zweiflers, zu erlangen. Wären sie berechtigt, so
würden sie nicht so viel Geld kosten. Der Arme,
den die Nachrede in der Wurzel seines wirt-
schaftlichen Lebens trifft, muß dafür zahlen, daß
es ihm nach langer Qual gelungen ist, die Un-
wahrheit der Nachrede festzustellen. Der grundlose
Angriff ist berechtigt, die berechtigte Notwehr
ist kostspielig. Und ihr Erfolg von zweifelhaftem
Wert. Denn der Chor hört und spricht nur
das Wort »Freispruch«. Das läßt sich wieder
mit einem dramatischen R aussprechen, wie es
noch nie gehört worden ist. Und man freut sich
etwa noch der Feststellung, daß die Aufzeichnungen
»inkorrekt« geführt waren. Man sagt beim Theater
»Rhabarber« und es klingt wie Gemurmel, man sagt
Unordnung und es klingt wie Betrug. Daß das
Gericht die äußere Form der schriftlichen Arbeiten
des Herrn Waiden zur Entschuldigung des überbür-
deten Herrn Nissen bemängelt hat, wird gern mit einer
schlechten Sittennote verwechselt. Es sind also »doch
Inkorrektheiten vorgekommen«, sagen sie, und das
Gerücht wächst wie ein Ferienbart und die Ehre geht
ab wie Schminke, und der schwergekränkte Herr
Nissen ist rehabilitiert. Der Ungeheuerlichkeit der
Tatsache, daß ein solcher Prozeß zu Ende geführt
und der Kläger mit den Kosten für seine Ehren-
rettung belastet werden kann, verschließt sich das
Gefühl dieser für Menschenrechte kämpfenden
Theaterdemokratie. Ihr Präsident zieht nicht nach
der vollständigen Abführung seines Verdachts,
nach der klaren Feststellung, daß sein Gegner
kein Betrüger ist, den abscheulichen Vorwurf zurück
und macht dem Unfug durch anständigen Ausgleich
ein Ende. Nein, er heimst den schmählichen Gewinn
29 —
eines formellen Freispruchs ein, zieht mit strahlen-
dem Gesicht von dannen und verkündet in seinem
Amtsblatt das Ergebnis, ohne mit einem Wort der
Ehre des Gegners zu gedenken. Und steht am andern
Tag wieder vor der Delegiertenversammlung und wird
nicht mit einem tosenden Pfui zur Tür hinausgeworfen,
sondern mit einem heilkräftigen Rhabarber der Begei-
sterung und mit Berufung auf Schiller in seiner Würde
bestätigt. Ein »warmherziger Anwalt des Schauspieler-
standes« steht auf und verkündet, »da der Präsident
noch in der letzten Zeit vielen Angriffen ausgesetzt
gewesen sei, so spreche er aus, daß die deutschen
Schauspieler nach wie vor Herrn Nissen für ihren
besten und geeignetsten Vertreter halten. Wir ver-
ehren in unserem Präsidenten nicht nur den Prä-
sidenten, sondern auch den Menschen!« Langan-
haltender, sich immer wiederholender Beifall folgt
diesen Worten, Nissen verneigt sich dankend . . . »Ich
sage Ihnen nur soviel, wenn nur der kleinste Teil
von dem, was Nissen über Waiden gesagt hat, nicht
wahr ist, so muß Nissen mit Schimpf und Schande
davongejagt werden«, hatte einer hinter den Kulissen
gesagt, und ein anderer: » dann würde ich hin-
gehen und ihn mit der Reitpeitsche ins Gesicht
hauen !«
Soll er es tun? Soll er sich wirklich von einer
Justiz, die ihm die Hilfe versagt und selbst die Bitte
teuer berechnet, auf den Weg einer noch kostspieligeren
Notwehr drängen lassen? Ich gebe ihm den Rat,
jene ultima ratio zu wählen, die das vornehmste und
billigste von allen Mitteln ist, die eine dürftige soziale
Ordnung unsereinem an die Hand gegeben hat: die
Verachtung. Wenn er nicht genug davon hat, ich
liefere sie ihm zentnerweise. Möge er sich ferner noch
dabei beruhigen, daß er nach diesem Preispruch des Herrn
Nissen immerhin die Möglichkeit hat, jeden Charakter-
darsteller oder Naturburschen, der jetzt die Beschul-
digung aufgriffe, als einen Verleumder, als Beleidiger
— 30
wider besseres Wissen auch von einem deutschen Gericht
verurteilen zu lassen. Die besten Männer des geistigen
Deutschland haben ihn ihrer dankbaren Achtung ver-
sichert, Nietzsches Schwester hat erklärt, daß sie ihr
Versprechen, Briefe des Bruders oder Publikationen
des Archivs im ,Neuen Weg' zu veröffentlichen, an
die Person des Herrn Herwarth Waiden geknüpft
habe, alle Menschen, die deutsch Geschriebenes lesen
können, sind einig darüber, daß sie in ihm einen
ernsten Helfer moderner Geistesbildung und nicht
einen betrügerischen Kommis zu sehen haben: er
wird es ertragen können, daß die Herrschaften, die
in Dresden den »Giesecke« verkörpern oder in Prankfurt
den Posa hinlegen, ihn mit stiller Geringschätzung
betrachten.
Nur wehe, wenn sie sie laut werden lassen I
Die Gefahr ist nämlich die, daß ich, wie gesagt, ein
sehr reizbares Naturell habe und in solchen Dingen
nicht mit mir spaßen lasse. Daß ich unter keinen
Umständen gesonnen bin, den Skandal fortsetzen zu
lassen, daß sich Ensembles gegen den Geist aufspielen
und einen Schriftsteller malträtieren, weil er ihnen
einmal die Ehre erwiesen hat, sie zu höheren Inter-
essen führen zu wollen. Daß ich kulturelle Distanzen,
die durch prozessuale Verbindungen verwischt werden,
wieder herstellen kann 1 Wie mir zu Ohren gekommen
ist, hat man die erste Warnung, die ich ergehen
ließ, als eine »Beleidigung des Standesbewußtseins«
empfunden, und sich mit einem mäßigen Rhabarber
gegen die , Fackel' gekehrt. Ich möchte nun dem
Standesbewußtsein raten, sich mir außer Hörweite zu
bringen. Ich habe in meinem Leben nebst vielen
Personen und Ständen auch schon ganze Nationen,
Rassen und Zeitalter beleidigt, . es kommt mir nicht
darauf an, und ich lasse mich durch die Empfindlich-
keit der Betroffenen in den Operationen, die
ich für heilsam und unvermeidlich halte, nicht
stören. Wenn's weh tut, daß ich die Prostitution
— 31
der Theaterfrauen für eine ethisch höhere Betätigung
ansehe, als das Verhalten von Männern, die einem
Revolverjournalisten »Grüß Gott, Doktorc! sagen,
wenn es einem Standesbewußtsein weh tut,
daß ich Weiber, die Weiber sind, für wertvollere
Menschen halte als Männer, die Weiber sind, so muß
sich eben das Standesbewußtsein narkotisieren lassen,
damit es für die Wahrheiten, die ich auszusprechen
habe, unempfindlich werde. Dann will ich aber gleich den
Nerv abtöten und sagen: Daß ich das ganze soziale
Getue der Schauspieler für hundertmal weniger
wichtig halte, als ihr Benehmen auf der Bühne.
Daß wir von der Sozialpolitik des Theaters genug
haben. Daß alle Organisierung, alle Verbürgerlichung
dem Wesen der Schauspielkunst auf eine peinliche Art
widerstreitet. Daß der Schauspieler, der außerhalb der
Bühne nach Menschenrechten und Gedankenfreiheit
brüllt, unglaubhaft ist und daß er der erste wäre, sie
zu verweigern, wenn ein Schriftsteller ihn darum
bäte. Zurück mit der Rolle des schlichten Arbeit-
nehmers, der doch sofort den Brotgeber hervorkehrt, wo
er sich wirtschaftlicher Überlegenheit bewußt ist!
Ich habe den Schauspielern immer das gegeben, was
ihrer ist, und habe durch Jahre für sie gegen die
Unterdrückung gekämpft, der sie ihre künstlerische
Existenz ausgeliefert haben; ich habe versucht ihnen
Mut gegen die Notizentyrannen zu machen, und ihnen
bewiesen, daß ich für die wahren Nöte ihres Standes
mehr Gefühl habe als die Agitatoren, die ihnen ein
soziales Bewußtsein einreden und ethische Ideale
aufbürden möchten. Sie aber ließen sich auf den
Konkordiaball zu Paaren treiben und aller Eifer,
ihnen die Furcht vor der Druckerschwärze auszu-
reden, die sie schon als Eigenschaft im Blute tra-
gen, war umsonst. Ich habe ihre Herrschaft der
Szene anerkannt und gegen den kunstfeindlichen
Glauben gewirkt, der Schauspieler sei ein Diener
des Autors. Größenwahn, Eitelkeit, Reklamesucht,
32 —
Applaus bedürfnis — alle die Laster, an denen die Jour-
nalisten zu Satirikern werden, wenn sie sie zufällig nicht
züchten, habe ich als Tugenden des Schauspielers
gerettet und ihren Tadel als die Blindheit einer
naturfremden Kritik enthüllt, die dem Menschen
den Sauerstoff verübeln wollte. Ich war durch-
aus bemüht, die besonderen Bedingungen der
besondern Welt zu erkennen und sie zu ehren, in-
dem ich ihre Werte von den Maßen der andern
Welt verschont wünschte. Übergriffe, durch die sie
sich selbst herabsetzt, «weise ich zurück. Schau-
spieler, die außerhalb der Bühne den Geist als ihren
Kommis behandeln möchten, jage ich in die Garde-
robe zurück. Einen Präsidenten der Deutschen
Bühnengenossenschaft, der in dem standesgemäßen
Trachten nach bürgerlicher Ehre sie erst einem
andern abschneiden muß, erkläre ich ihrer für ver-
lustig. Und wenn er noch immer keine Ruhe gibt, dann
garantiere ich ihm dafür, daß im Chor der litera-
rischen Wortführer Deutschlands ein Rhabarber los-
gehen wird, daß ihm Hören und Sehen vergeht
und daß er mit jenem Gestank vom Thron seines
Reiches scheidet, mit dem er schon einmal von einem
Hoftheater geschieden istl Ich will doch sehen, ob wir
uns in der sozialen Entwicklung des Schauspielerstandes
auf die Sicherheit unserer Wäsche gar so viel zugute
tun müssen, aber dafür unsere Ehre verstecken sollen,
wenn der Ruf ertönt: Die Komödianten kommen 1
Denn sie haben es weit gebracht, sind Bürger ge-
worden und könnten am Ende behaupten, daß wir
ihnen die Wäsche gestohlen haben.
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus
Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3
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alkalischer
AUERBRUNN
CARL GÖLSDORF«s&£k* k.ujc. HqFlleFer anr
Karlsbad, Budapest V. Wien IX .^JffiS^ KrondorF. Berlin .
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OBSERVER, Wien, I. Concordlaplatz Nr. 4 (Telephon Hr. 128C
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Von KARL HAUER
(Nebst einem Anhana über Pornoaranhiel
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Bureau für Österreich :
Wien, VI. Mariahilferstrasse 117
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erscheint in zwangloser Folge im Umfang |
von 16—32 Sei!
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Für Ößterreich-Ungurn: 18 Nummern, portofrei K 4 50
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Inhalt der vorigen Nummer 291, 30. November 1909:
ii zusammen! — Sie gehören nicht zusammen! — Der
Giftmord, die Moral und dr r Postverkehr. — Glossen. - Schrecken
der Unsterblichkeit. Sämtliche Beiträge von Karl Kraus.
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Herauseeber und verantwortlicher Redakteur Karl Kr nn <
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F32
Nr. 270-
292
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